Der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung beendeten vierzig Jahre Trennung von Bundesrepublik und DDR. Diese
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German Pages 354 [358] Year 2017
Table of contents :
INHALT
Thomas Großbölting / Christoph Lorke:
Vereinigungsgesellschaft. Deutschland seit 1990
I. IDENTITÄTEN UND KOLLEKTIVE SELBSTBILDER
Ralph Jessen:
Das Volk von 1989 als Praxis, Projektion und Erinnerungsort
Irene Götz:
Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989.
Die Suche nach neuen deutschen Selbstbildern und Identitäten
Angela Siebold:
Wie die Geschichte an die Gegenwart heranrückt. Die deutsche
Historiographie und ihr Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit
Sabine Kittel:
Gedächtnis und ›Post‹-Gedächtnis. ›Stasi‹-Erzählungen zwischen
Vergessen, Verschleiern und Erinnern
II. WIRTSCHAFT, POLITIK UND GESELLSCHAFT
Rüdiger Schmidt:
Die ökonomische Seite der Freiheit. Die Bürgerrechtsbewegung
und das ›Volkseigentum‹
Marcus Böick:
Vom Werden und Vergehen einer (post-)revolutionären Arena.
Die Treuhandanstalt in der Umbruchs- und Übergangsgesellschaft
Ursula M. Dalinghaus:
A Question of Value(s). Money, Currency Unions, and the Re-Making
of Post-Unification Identities
III. HINTERLASSENSCHAFTEN UND AUFARBEITUNG
Kerstin Brückweh:
Unter ostdeutschen Dächern. Wohneigentum zwischen Enteignung,
Aneignung und Neukonstituierung der Lebenswelt in der langen
Geschichte der ›Wende‹
Markus Goldbeck:
Vergangenheit als politische Ressource. Das Beispiel der Stasi-
Unterlagen-Behörde (BStU) im Kontext der ›Stasi-Debatte‹
Lilith Buddensiek:
Ein Recht auf Einsicht? Die Debatte um den Zugang
zur ›eigenen‹ Stasi-Akte
Nina Leonhard:
Einschluss durch Ausschluss. NVA-Offiziere und die
Gedächtnispolitik der Bundeswehr im Vereinigungsprozess
IV. SOZIALE UND INDIVIDUELLE ORDNUNGSENTWÜRFE
Christoph Lorke:
Von alten und neuen Ungleichheiten.
›Armut‹ in der Vereinigungsgesellschaft
Anja Schröter:
Unabhängige Frauen. Geschlechterverhältnisse und Ehegattenunterhalt
in der ostdeutschen Scheidungspraxis 1980 bis 2000
Teresa Tammer:
Coming out in die deutsche Einheit. Vom Aufbruch
und Abschied der DDR-Schwulenbewegung
Ines Langelüddecke:
Über das Schweigen reden. Brandenburgische Dörfer
von der Gutsherrschaft bis in die Gegenwart
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
NASSAUER GESPRÄCHE
DEUTSCHLAND SEIT 1990 WEGE IN DIE VEREINIGUNGSGESELLSCHAFT Herausgegeben von Thomas Großbölting und Christoph Lorke
Franz Steiner Verlag
DEUTSCHLAND SEIT 1990
NASSAUER GESPRÄCHE DER FREIHERR-VOM-STEIN-GESELLSCHAFT Band 10 Herausgegeben von der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V., Schloss Cappenberg Geschäftsstelle: Karlstr. 33, 48147 Münster www.freiherr-vom-stein-gesellschaft.de
DEUTSCHLAND SEIT 1990 WEGE IN DIE VER EINIGUNGSGESELLSCHAFT
Herausgegeben von Thomas Großbölting und Christoph Lorke
Franz Steiner Verlag
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INHALT Thomas Großbölting / Christoph Lorke
Vereinigungsgesellschaft. Deutschland seit 1990
I.
9
IDENTITÄTEN UND KOLLEKTIVE SELBSTBILDER Ralph Jessen
Das Volk von 1989 als Praxis, Projektion und Erinnerungsort
33
Irene Götz
Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989. Die Suche nach neuen deutschen Selbstbildern und Identitäten
51
Angela Siebold
Wie die Geschichte an die Gegenwart heranrückt. Die deutsche Historiographie und ihr Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit
75
Sabine Kittel
Gedächtnis und ›Post‹-Gedächtnis. ›Stasi‹-Erzählungen zwischen Vergessen, Verschleiern und Erinnern
II.
97
WIRTSCHAFT, POLITIK UND GESELLSCHAFT Rüdiger Schmidt
Die ökonomische Seite der Freiheit. Die Bürgerrechtsbewegung und das ›Volkseigentum‹
119
6 INHALT
Marcus Böick
Vom Werden und Vergehen einer (post-)revolutionären Arena. Die Treuhandanstalt in der Umbruchs- und Übergangsgesellschaft
139
Ursula M. Dalinghaus
A Question of Value(s). Money, Currency Unions, and the Re-Making of Post-Unification Identities 161
III.
HINTERLASSENSCHAFTEN UND AUFARBEITUNG Kerstin Brückweh
Unter ostdeutschen Dächern. Wohneigentum zwischen Enteignung, Aneignung und Neukonstituierung der Lebenswelt in der langen Geschichte der ›Wende‹
187
Markus Goldbeck
Vergangenheit als politische Ressource. Das Beispiel der StasiUnterlagen-Behörde (BStU) im Kontext der ›Stasi-Debatte‹
213
Lilith Buddensiek
Ein Recht auf Einsicht? Die Debatte um den Zugang zur ›eigenen‹ Stasi-Akte
225
Nina Leonhard
Einschluss durch Ausschluss. NVA-Offiziere und die Gedächtnispolitik der Bundeswehr im Vereinigungsprozess
IV.
243
SOZIALE UND INDIVIDUELLE ORDNUNGSENTWÜRFE Christoph Lorke
Von alten und neuen Ungleichheiten. ›Armut‹ in der Vereinigungsgesellschaft
271
Anja Schröter
Unabhängige Frauen. Geschlechterverhältnisse und Ehegattenunterhalt in der ostdeutschen Scheidungspraxis 1980 bis 2000
295
Teresa Tammer
Coming out in die deutsche Einheit. Vom Aufbruch und Abschied der DDR-Schwulenbewegung
313
INHALT 7
Ines Langelüddecke
Über das Schweigen reden. Brandenburgische Dörfer von der Gutsherrschaft bis in die Gegenwart
333
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
350
Thomas Großbölting / Christoph Lorke
VEREINIGUNGSGESELLSCHAFT Deutschland seit 1990
A
ls im Rahmen der Feierlichkeiten zum Tag der deutschen Einheit 2016 in Dresden einige hundert Zaungäste die Auftritte von Bundeskanzlerin und Bundespräsident sowie weiteren Spitzenpolitikern mit lautstarken Pfiffen und ›Volksverräter‹-Rufen quittierten, war die Hoffnung auf die schönen Bilder in ungetrübter Festlichkeit jäh verflogen. An jenem Tag sollten unter dem Motto ›Brücken bauen‹ die Erfolge und Errungenschaften des vereinten Deutschlands seit 1990 in Erinnerung gerufen werden. Doch vieles davon ging in der aggressiven Stimmung gellenden Protestgetöses unter. Auch wenn laut einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap die deutliche Mehrheit der Deutschen Verbalattacken solcher Art ablehnte, blieb dennoch ein fader Beigeschmack nach diesem 3. Oktober. Und das nicht nur, weil immerhin noch 15 Prozent der Befragten – 22 Prozent im Osten, 13 im Westen Deutschlands – derartige Aktionen als »angemessen« einschätzten.1 Vielmehr werden in diesem Zusammenhang weiterführende Fragen aufgeworfen, die nicht zuletzt mit den ›Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes‹, kurz: der ›Pegida‹-Bewegung in Zusammenhang stehen. Auch wenn deren Ursprung in Dresden zu verorten ist, greift es wohl zu kurz, ihre Anhänger allein als postsozialistisch traumatisierte, von diffusen Ängsten und einem besonderen Verlierergefühl getriebene Akteure, ja die Bewegung insgesamt als Ausdruck einer spezifisch ostdeutschen Unzufriedenheit zu fassen. Auch in verschiedenen westdeutschen Städten gibt es kleinere Ableger. Doch dass ›Pegida‹ ein mehrheitlich ostdeutsches Phänomen ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Daneben scheint sich die mittlerweile empirisch mehrfach erhärtete Annahme zu verstärken, dass Ängste vor Verände1 N. N., Umfrage: Pöbeleien in Dresden nicht in Ordnung, http://www.mdr.de/sachsen/dresden/
dimap-umfrage-proteste-dresden-102.html [10.10.2016].
10 Thomas Großbölting / Christoph Lorke
rungen im Allgemeinen und ›dem Fremden‹ im Besonderen sowie Demokratieund Europaskepsis im Osten der Bundesrepublik offenbar besonders ausgeprägt sind. Neben den aktuellen Entwicklungen im Rahmen des gesellschaftlichen und demographischen Wandels und den damit verbundenen Verunsicherungen scheinen sich in diesen Protestformen auch Ereignisse und Erfahrungen im und mit dem vereinten Deutschland zu artikulieren. Neben eher allgemein gehaltenen Befürchtungen hinsichtlich erwarteter Verteilungskonflikte stehen indirekt eben auch ganz spezifische Fragen um Werte und Identitäten zur Disposition. Es scheint, als seien die Themen Diktaturerfahrung sowie der Einfluss mittelbarer wie unmittelbarer Folgen der Wiedervereinigung auf heutige Problemlagen akuter denn je.2 Die Vereinigung beider deutschen Staaten sucht historisch ihresgleichen: Die gesellschaftliche und politische Transformation des ehemaligen SED-Staates in Demokratie und Kapitalismus, die parallel alle Gesellschaftsbereiche erfasste, verlief insgesamt friedlich und mit enormer Geschwindigkeit, sie erforderte aber auch radikale, in kürzester Zeit zu vollziehende Umorientierungen.3 Im Osten Deutschlands waren die Veränderungen für viele Menschen grundstürzender und umfassten verschiedenste Bereiche, angefangen von der Arbeitswelt, über Familie und Sprache, bis hin zum Wertehaushalt und individuellen wie kollektiven Identitäten. Die Heftigkeit und Plötzlichkeit der Umbrüche, die für nicht wenige mit Verlusterfahrungen wie Arbeitslosigkeit und sozialen Abstiegserfahrungen einhergingen, sowie die oft als Kränkung empfundenen Herabstufungen und Entqualifizierungen, aber auch das Ende sozialer Beziehungen und die Infragestellung kollektiver Praktiken und Gewissheiten – all das wird wohl kaum folgenlos geblieben sein.4 Doch Unzufriedenheit mit der Einheit war mitnichten nur auf den Osten beschränkt. Insbesondere die finanziellen Herausforderungen sind als eine mentale Hypothek zu nennen, wie sie beispielsweise bei der Frage nach einer Abschaffung des Solidaritätsbeitrages bis heute von Zeit zu Zeit aktualisiert wird. Wenig verwunderlich fallen Urteile über die Einheit daher je nach sozialem Status, politischer Orientierung, generationeller Lagerung und Ost- bzw. Westherkunft auch völlig unterschiedlich aus. Zielformel war das Verfassungsgebot der Herstellung »gleichwertiger Lebensverhältnisse« (Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz). Das ›Wie‹ und ›Wann‹ indes trieb und treibt die Deutschen in Ost und West 2 Wolfgang Benz, Auftrumpfendes Unbehagen: Der politische Protest der Pegida-Bewegung,
in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), 9, S. 759–776; siehe ferner Lars Geiges / Stine Marg / Franz Walter, Pegida: Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft, Bielefeld 2015 sowie Karl-Siegbert Rehberg / Franziska Kunz / Tino Schlinzig (Hg.), Pegida. Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und »Wende«-Enttäuschung? Analysen im Überblick, Bielefeld 2016. 3 János Kornai, The Great Transformation of Central Eastern Europe: Success and Disappointment, in: Economics of Transition 14 (2006), 2, S. 207–244. 4 Wolfgang Engler, Von der arbeiterlichen Gesellschaft zur Marktwirtschaft. Der Umbruch der Arbeitswelt im Osten, in: Martin Sabrow / Alexander Koch (Hg.), Experiment Einheit. Zeithistorische Essays, Göttingen 2015, S. 75–93, hier S. 91.
VEREINIGUNGSGESELLSCHAFT 11
seit 1990 um, was zu den ›Gretchenfragen‹ des vereinten Deutschlands führt: Wie hält man es mit der Einheit? Ist die Vereinigung nun gescheitert oder geglückt? Wie verhält es sich mit der ›inneren Einheit‹ und wie weit ist sie, wenn sich das überhaupt messen lässt, bereits gediehen? Für eine grundsätzlich positive Bewertung stehen demgegenüber beispielsweise die Äußerungen der Ostbeauftragten der Bundesregierung Iris Gleicke. Ihrer Meinung nach spielt bei jüngeren Menschen in der Bundesrepublik das Thema Ost-West-Unterschiede »gar keine Rolle mehr«.5 Und auch in Umfragen in Ost wie West äußerten vier von fünf Befragten, die Vorteile der Vereinigung überwögen die Nachteile.6 Wohl kaum einer der Ostdeutschen will die DDR zurückhaben, so lässt sich konstatieren. Dies schließt aber keineswegs aus, bestimmte Elemente des staatssozialistischen Gesellschaftssystems wie die Bildung, das Gesundheitswesen oder alltagsspezifische Belange wie die vermeintliche soziale Nähe bis heute positiv zu bewerten. Nach wie vor bestehen teils erhebliche wirtschaftliche, politische, soziale, demographische und auch mentale Unterschiede zwischen dem Ost- und Westteil des Landes.7 Die Entvölkerung ganzer Landstriche trotz massiver Finanz- und Investitionsleistungen, Differenzen im Verdienst und Vermögen, in Wirtschaftskraft, Armutsgefährdungsquote und Arbeitslosigkeit, Kinderbetreuung, Familienformen und Geburtenrate sind hier ebenso zu nennen wie das zumindest bei einer jeweils größeren Minderheit grundlegende Desinteresse am ›anderen‹ Deutschland. Immerhin ein Fünftel der Westdeutschen ist noch nie im Osten der Republik gewesen.8 Auch wenn die Wege von Ostdeutschen nach 1990 wohl mindestens ebenso facettenreich9 waren wie die weit zerklüftete Erinnerungsland5 Siehe dazu das Interview mit Sinah Grotefels, Merle Tilk, https://www.bpb.de/dialog/ 213013/
deutsche-einheit-bei-den-jungen-leuten-spielt-das-thema-ost-west-gar-keine-rolle-mehr [12.10.2016]; vgl. ferner Die Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Deutschland 2014. 25 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit – öffentliche Vorstellung der Ergebnisse eines Forschungsprojekts. Sind wir ein Volk?, Berlin 2015. 6 Everhard Holtmann / Tobias Jaeck, Was denkt und meint das Volk? Deutschland im dritten Jahrzehnt der Einheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 33–34 (2015), S. 35–45, hier S. 36. 7 Siehe dazu im Überblick Statistisches Bundesamt (Hg.), 25 Jahre Deutsche Einheit, Wiesbaden 2015; ferner Everhard Holtmann / Tobias Jaeck u. a. (Hg.), Deutschland 25: Gesellschaftliche Trends und politische Einstellungen, Bonn 2015; Peter Krause / Ilona Ostner, Leben in Ostund Westdeutschland: Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010, Frankfurt a. M./New York 2010 sowie Manuela Glaab / Werner Weidenfeld / Michael Weigl (Hg.), Deutsche Kontraste 1990–2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt a. M./New York 2010. 8 Markus Decker, Agenten einer schwierigen Einheit. Ein Einleitungsessay, in: ders., Zweite Heimat: Westdeutsche im Osten, Berlin 2014, S. 13–27. Zur demographischen Entwicklung siehe etwa Günther Heydemann, »Blühende Landschaften« oder entvölkerte Landkreise? Die neuen Bundesländer zwischen Wachstums- und Schrumpfungsprozessen, in: Totalitarismus und Demokratie 6 (2009), 1, S. 87–100 sowie Andreas Willisch, Wittenberge ist überall. Überleben in schrumpfenden Regionen, Berlin 2012. 9 Siehe etwa Elisa Goudin-Steinmann / Carola Hähnel-Mesnard (Hg.), Ostdeutsche Erinne-
12 Thomas Großbölting / Christoph Lorke
schaft an die untergegangene DDR, so bleibt doch letztlich ein wichtiger Befund: Das Gefühl, ›Bürger zweiter Klasse‹ zu sein, empfand im Osten im Jahr 2009 noch fast jeder Zweite10 – und ein Motiv dieses Gefühls scheint nicht allein allein Ergebnis aktueller Problematiken, denn vielmehr von vergangenen, historisch gewachsenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu sein.
I.
Nach der Einheit: Deutungen, Befunde und Leerstellen aus einem Vierteljahrhundert
Langjährig eingeübte Verhaltensweisen und Wertdeutungen – und das gilt für den Westen Deutschlands gleichermaßen – wurden mit Mauerfall und deutscher Einheit nicht abgelegt. Stattdessen scheint das ›Unsicherheitregime‹ der frühen 1990er Jahre, der radikale soziale Wandel und das schlagartig-überrumpelnde Ende vertrauter Sicherheiten und unumstößlicher Wahrheiten im Zuge des Aufbruchs in eine »entsicherte Gesellschaft«11 tiefe Spuren hinterlassen zu haben. Gerade das ›Ankommen‹ im vereinten Deutschland gestaltete sich für viele in mancher Hinsicht schwer. Die Konjunkturen sowie Auf- und Umbrüche deutschdeutscher bzw. gesamtdeutscher Einheits- und damit Selbstverständigungsdebatten seit 1990 spiegeln das Changieren zwischen »Einheitslust und Einheitsfrust«12 eindrücklich wider. Recht bald schon war ein Ende der Umbruchseuphorie offenkundig. Angesichts der Unübersichtlichkeit, Sperrigkeit und ungeahnter Nebenfolgen verschiedener Übergänge setzte eine spürbare Ernüchterung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen ein. Neben die Vereinigungseuphorie trat rasch eine Grundstimmung der Verunsicherung.13 Zu den teilweise überzogenen Erwartungen, die auf beiden Seiten der früheren Mauer an die Machbarkeit der Einheit gerichtet waren, taten Fehler und Fehlinvestitionen in Ermangelung von Erfahrungswerten ihr Übriges und beförderten Verdruss.14 Erste Begegnungen zwischen Ost und West lösten Fremdheitsgefühle oder gar »Kommunirungsdiskurse nach 1989. Narrative kultureller Identität, Berlin 2013; Michael Hacker (Hg.), Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen, Berlin 2012; Karl Ulrich Mayer / Eva Schulze, Die Wendegeneration. Lebensverläufe des Jahrgangs 1971, Frankfurt a. M./New York 2009. 10 Siehe dazu beispielsweise Richard Schröder, Versöhnung – mit wem? Warum die Linke nicht ausgegrenzt ist, in: Der Spiegel vom 9.11.2009, S. 32 f. 11 Heinrich Best / Everhard Holtmann, Der lange Wege der deutschen Einigung. Aufbruch mit vielen Unbekannten, in: dies. (Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frankfurt a. M. 2012, S. 9–42, hier S. 9–16. 12 Hendrik Berth, Einheitslust und Einheitsfrust: Junge Ostdeutsche auf dem Weg vom DDRzum Bundesbürger. Eine sozialwissenschaftliche Längsschnittstudie von 1987–2006, Gießen 2007. 13 Vgl. zeitgenössisch bereits etwa Michael Müller / Wolfgang Thierse (Hg.), Deutsche Ansichten. Die Republik im Übergang, Berlin 1992. 14 Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 1143–1158.
VEREINIGUNGSGESELLSCHAFT 13
kations-«15 bzw. ›Kulturschocks‹16 und somit Missverständnisse und Irritationen aus. Dies wiederum sollte eine nicht zu unterschätzende Rückwirkung auf die Einheitswahrnehmung haben: So machte frühzeitig die Rede von der »unglücklichen Einheit«17 ebenso die Runde wie sich ›Osttrotz‹18 breitmachte. Fraglos noch bedeutender für den Vereinigungsdiskurs waren die immer stärker zutage tretenden Symptome einer »dualistischen Gesellschaft«,19 die sich zum Beispiel an den Aushandlungen (imaginierter) kollektiver Identitäten ablesen lassen und rasch öffentlich-medial für Furore sorgten. Es scheint, als habe die Vereinigungsöffentlichkeit im Modus der Selbstvergewisserung und Abgrenzung eben solche gesellschaftlichen Konstruktionen herbeigesehnt. Allen voran zeigte sich dies im komprimierten Gegensatzpaar des ›Jammer-Ossis‹ und – dem ›Wort des Jahres‹ 1991 – ›Besser-Wessis‹: auf der einen Seite der faule, unselbständige, lernunfähige wie -willige, larmoyant-bequeme, unsicher auftretende, provinzielle, ja schlicht fremdartig anmutende ›Ossi‹, auf der anderen der arrogant-angeberische, oberflächlich-unpersönliche, sich kolonisatorisch und selbstherrlich gebarende und permanent anmaßend auftretende ›Wessi‹.20 Diese ebenso schrillen wie wirkmächtigen Denkfiguren in ihren zahllosen Variationen bahnten sich seit den frühen 1990ern ihren Weg in die Feuilletons, entwickelten rasch Eigendynamiken und letztlich eine erstaunliche Langlebigkeit.21 Einen gewichtigen Beitrag daran hatten zweifellos die zahlreichen, diese Vergröberungen bedienenden Bücher, die häufig gar zu Bestsellern avancierten und damalige Stimmungen und Spannungen recht gut nachvollziehen lassen.22 Titel wie »BesserWessi« oder »It’s 15 Olaf Georg Klein, Ihr könnt uns einfach nicht verstehen. Warum Ost- und Westdeutsche
aneinander vorbeireden, München 2004, S. 73–90. 16 Vgl. die ethnologischen Annäherungen bei Wolf Wagner, Kulturschock Deutschland, Hamburg 1996. 17 Hans-Joachim Maaz, Das gestürzte Volk oder die unglückliche Einheit, Berlin 1991. 18 U. a. Daniela Dahn, Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit, Berlin 1996. 19 Alexandro Cavalli, Die deutsche Gesellschaft nach der Vereinigung aus der Sicht eines Europäers, in: Lars Clausen (Hg.), Gesellschaften im Umbruch. Verhandlungen des 27. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Halle an der Saale 1995, Frankfurt a. M./New York 1996, S. 552–562. 20 Vgl. etwa Thomas Ahbe, Die Konstruktion des Ostdeutschen. Diskursive Spannungen, Stereotype und Identitäten seit 1989, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 54 (2004), 41–42, S. 12–22. 21 Im Überblick Karl-Siegbert Rehberg, Ost – West, in: Stephan Lessenich / Frank Nullmeier (Hg.), Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2006, S. 209–233. 22 So die Aufzeichnungen der westdeutschen Arztgattin über ihre Erfahrungen in der ostdeutschen Provinz: Luise Endlich, NeuLand. Ganz einfache Geschichte, Berlin 1999; vgl. daneben aber auch Ingolf Serwuschok / Christine Dölle, Der BesserWessi, Leipzig 1991; Eberhard Panitz / Klaus Huhn, Mein Chef ist ein Wessi. Gedächtnisprotokolle 1992, Berlin 1992; Rolf Hochhuth, Wessis in Weimar: Szenen aus einem besetzten Land, München 1994; Thomas Roethe, Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl. Ein Plädoyer für das Ende der Schonfrist, Frankfurt a. M. 1999; Klaus Bittermann (Hg.), It’s a Zoni. Zehn Jahre Wiedervereinigung. Die Ossis als Belastung und Belästigung, Berlin 1999.
14 Thomas Großbölting / Christoph Lorke
a Zoni« sind Belege für die damals alltägliche Berichterstattung über die Unterschiede zwischen Ost und West. Das Denken und Handeln in Gegensätzen ist davon ohne Frage stabilisiert worden, ob bei den Themen Konsum, Sexualität, Normen und Wertvorstellungen, ob bezogen auf Lebensstile, Literaturvorlieben, Einstellungen zur Arbeit, Fernsehgewohnheiten und vielen anderen mehr. Die stete Präsenz des Ost-West-Vergleichs in der Vereinigungsöffentlichkeit und die rituellen Akte öffentlicher Klassifizierung und Deklassifizierung rekurrierten auf gängige Ordnungsvorstellungen und waren wichtige Bausteine der viel zitierten ›Mauer in den Köpfen‹. Hierdurch wurde die gedachte Spaltung zementiert, Vorurteile und Missverständnisse zusätzlich forciert.23 Gerade die ersten Jahre nach der Vereinigung verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit, wurden hier doch entscheidende Weichen gestellt. Die 1990er Jahre wurden etwa vom damaligen Herausgeber des Tagesspiegel Rudolph Herrmann als Jahre »zwischen Euphorie und Enttäuschung« beschrieben.24 War der direkte Einfluss der Vereinigung für die meisten Menschen aus dem Westteil des Landes vergleichsweise gering, so ist für die ›neuen‹ Bundesbürger Ende der 1990er Jahre eine »Transformation ohne Integration« konstatiert worden, die in vielen Teilbereichen bis heute »fragmentiert« oder »unvollendet« geblieben ist, einiges an Vereinigungskummer auslöste und wohl viel Unverdautes zurückließ.25 Als Reflex auf diese Entwicklungen nahm die vielzitierte ›Ostalgie‹-Welle genau in diesen Jahren ihren Anlauf, bevor sie kurz nach der Jahrtausendwende ihren Höhepunkt erreichte und inzwischen abgeflaut scheint. Wenn die Sozialwissenschaft gerade für das Ende der 1990er Jahre »die Rückwendung der Ostdeutschen zur DDR und die gleichzeitige Abwertung der Westdeutschen« diagnostizierte, so verweist das auf eine besondere »Form der Selbstbehauptung«, die vermutlich auch im Westen Formen der Indifferenz, des Desinteresses und der partiellen Abwendung vom Osten hervorrief.26 Angesichts der eingangs skizzierten höchst 23 Siehe etwa Britta Freis / Marlon Jopp, Spuren der deutschen Einheit. Wanderungen zwi-
schen Theorien und Schauplätzen der Transformation, Frankfurt a. M. 2001; Peter Steinbach, Deutschland vor und seit der Wende. Von der Kenntnis zur Anerkennung der Verschiedenheiten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 (1998), S. 24–30; Annette Simon, Die »innere Einheit« Deutschlands – Wunschvorstellung oder Zerrbild? Wechselseitige Fehlwahrnehmung und falsche Nostalgie, in: Das Parlament vom 22./29.10.1999; Karl Eckart / Konrad Scherf (Hg.), Deutschland auf dem Weg zur inneren Einheit, Berlin 2004. 24 Hermann Rudolphs, Das erste Jahrzehnt: Die Deutschen zwischen Euphorie und Enttäuschung, Stuttgart 2000. 25 Thomas Gensicke, Die neuen Bundesbürger: Eine Transformation ohne Integration, Opladen 1998; vgl. auch Ulrich Busch / Raj Kollmorgen, 25 Jahre Deutsche Einheit: Ostdeutschlands fragmentierte Integration, in: Berliner Debatte Initial 26 (2015); Ulrich Busch / Michael Thomas (Hg.), Ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit. Facetten einer unvollendeten Integration, Berlin 2015. 26 Detlef Pollack / Gert Pickel, Die ostdeutsche Identität – Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 48 (1998) 41–42, S. 9–23, hier S. 23. Siehe insgesamt zu den damaligen Debatten Thomas Großbölting, Zwischen »Son-
VEREINIGUNGSGESELLSCHAFT 15
aktuellen, politisch wie sozial äußerst sensibel wahrgenommenen Entwicklungen sollte gerade die ersten Jahre nach 1990 als eine Problemgeschichte von heute eine besondere historiographische Beachtung geschenkt werden. Gleichwohl hat die Geschichtswissenschaft dieses Thema bislang kaum aufgegriffen: Die DDR ist zwar einer der besterforschten Gebiete der europäischen Nachkriegswelt, wurde gar als »Bonanza historiographischer Zeitgeschichtsforschung«27 tituliert. Demgegenüber ist die Zeit nach 1990 nach wie vor weitgehend eine zeithistorische terra incognita. Bei der Betrachtung der Transformation dominieren nach wie vor soziologische, politik- und wirtschaftswissenschaftliche Betrachtungen, während sich historisch arbeitende Darstellungen bisher vor allem auf den politischen Vollzug der deutschen Einheit konzentriert haben. Eine multiperspektivische historische Vermessung des wiedervereinten Deutschlands steckt noch in den Kinderschuhen. Diese Leerstelle greift das vorliegende Buch auf und versteht sich als Beitrag zur Historisierung der deutschdeutschen Vereinigungsgesellschaft. Dazu analysiert die Publikation zentrale Diskurs- und Entwicklungsachsen jener Zeit, die aufeinanderprallenden Wertorientierungen und Vorstellungswelten, die gegenseitigen Beeinflussungen, Zuschreibungs- und Streitobjekte ebenso wie sie den Blick auf Bewältigungs- und Innovationspotenziale, Handlungsdynamiken und Strategien unterschiedlicher Akteursgruppen während des Umbruchs richtet. Mit dem Begriff der ›Vereinigungsgesellschaft‹ kann die mit diesen Entwicklungen verbundene Offenheit auf der Ebene diskursiver Verhandlung und prozessdynamischer Ausgestaltung einer im Zusammenwachsen befindlichen Gesellschaft prägnant charakterisiert werden, ohne dabei der Gefahr einer Verengung auf einen normativen ›End‹- oder Idealzustand zu unterliegen. Im Blick standen bislang die Folgen der wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Vereinigungsprozesse im Zuge der Anpassung an die Bundesrepublik, die insbesondere in den Vereinigungsbilanzen mit entsprechender Konjunktur im Fünf-JahresRhythmus aufgegriffen worden sind. Herausgeber waren Sozialwissenschaftler und Ökonomen, Historiker und nicht zuletzt Politiker aller Couleur, die sich zuerst fünf,28 nenallee«, »Schurkenstaat« und Desinteresse. Aporien im Umgang mit der DDR-Vergangenheit im wiedervereinten Deutschland, in: ders./Dierk Hofmann (Hg.), Vergangenheit in der Gegenwart: Vom Umgang mit Diktaturerfahrungen in Ost- und Westeuropa, Göttingen 2008, S. 109–122; vgl. auch Dietrich Mühlberg, Vom langsamen Wandel der Erinnerung an die DDR, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte, Frankfurt a. M./New York 2002, S. 217–251; Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: ders. (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 11–29 sowie zum Phänomen der ›Ostalgie‹ jüngst im Überblick Thomas Ahbe, Ostalgie. Zu ostdeutschen Erfahrungen und Reaktionen nach dem Umbruch, Erfurt 2016. 27 Hans-Peter Schwarz, Die neueste Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), 1, S. 5–28, hier S. 18. 28 Hier und in den folgenden Anmerkungen in chronologischer und alphabetischer Reihenfolge und ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Rudolf Hickel / Jan Priewe, Nach dem Fehlstart: Ökonomische Perspektiven der deutschen Einigung, Frankfurt a. M. 1994; Jürgen Goydke
16 Thomas Großbölting / Christoph Lorke
dann zehn,29 15,30 20,31 schließlich 2532 Jahre nach der Wiedervereinigung ganz verschiedenen Fragen der Einheit zuwandten. Diese Veröffentlichungen sind selbst (Hg.), Vertrauen in den Rechtsstaat. Beiträge zur deutschen Einheit im Recht, Bonn 1995; Robert Hettlage / Karl Lenz (Hg.), Deutschland nach der Wende: Eine Zwischenbilanz, München 1995; Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995; Klaus Steinitz (Hg.), Vereinigungsbilanz: Fünf Jahre deutsche Einheit, Hamburg 1995. 29 Roland Czada, Von der Bonner zur Berliner Republik. 10 Jahre deutsche Einheit, Opladen 1999; Karl Eckart / Eckhard Jesse, Das wiedervereinigte Deutschland – eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik?, Berlin 1999; Konrad Löw, Zehn Jahre deutsche Einheit, Berlin 2001; Günther Heydemann, (Hg.), Revolution und Transformation in der DDR 1989/90, Berlin 1999; Johannes Rau, Zehn Jahre danach. Wächst zusammen, was zusammen gehört?, Schwerin 1999; Martin Sabrow (Hg.), Grenzen der Vereinigung. Die geteilte Vergangenheit im geeinten Deutschland, Leipzig 1999; Eckhart von Vietinghoff (Hg.), 10 Jahre deutsche Einheit: Beiträge zum innerdeutschen Verhältnis, Hannover 1999; Werner Weidenfeld / Karl-Rudolf Korte (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit: 1949–1989–1999, Frankfurt a. M./New York 1999; Dieter Brümmerhoff (Hg.), Nutzen und Kosten der Wiedervereinigung, Baden-Baden 2000; Klaus von Dohnanyi, 10 Jahre Aufbau Ost. Versuch einer Zwischenbilanz, Hamburg 2000; Ullrich Heilemann / Hermann Rappen, Zehn Jahre Deutsche Einheit. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Essen 2000; Angela Merkel / Władysław Bartoszewski (Hg.), Europa und die deutsche Einheit. Zehn Jahre Wiedervereinigung: Bilanz und Ausblick, Freiburg 2000; Horst Möller, Die Überwindung der Teilung Deutschlands: Zukunftschancen in historischer Perspektive, St. Augustin 2000; Rolf Reißig, Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft: Bilanz und Perspektiven der Transformation Ostdeutschlands und der deutschen Vereinigung, Berlin 2000; Klaus Schroeder, Der Preis der Einheit. Eine Bilanz, München 2000; Andreas Wirsching (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung: Eine interdisziplinäre Bilanz, München 2000; Wolfgang Thierse (Hg.), Zehn Jahre deutsche Einheit: Eine Bilanz, Opladen 2000; Martin Sabrow (Hg.), Die Grenzen der Entgrenzung: Zehn Jahre Deutsche Einheit, Leipzig 2001; Wolfgang Schluchter / Peter E. Quint, Der Vereinigungsschock. Vergleichende Betrachtungen zehn Jahre danach, Weilerswist 2001; Zeitgeschichtliches Forum Leipzig (Hg.), Zehn Jahre deutsche Einheit, Berlin 2001. 30 Rainer Hufnagel / Titus Simon (Hg.), Problemfall Deutsche Einheit. Interdisziplinäre Betrachtungen zu gesamtdeutschen Fragestellungen, Wiesbaden 2004; Hannes Bahrmann / Christoph Links (Hg.), Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – eine Zwischenbilanz, Berlin 2005; Rainer Eppelmann (Hg.), Das ganze Deutschland. Reportagen zur Einheit, Berlin 2005; Helmut Meier (Hg.), Uneinige Einheit. Der öffentliche Umgang mit Problemen der deutschen Einheit, Berlin 2005; Helmut Schmidt, Auf dem Weg zur deutschen Einheit. Bilanz und Ausblick, Reinbek bei Hamburg 2005; Günther Heydemann (Hg.), 15 Jahre deutsche Einheit: Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen, Berlin 2006; Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006; Jürgen Weber, Illusionen, Realitäten, Erfolge. Zwischenbilanz zur Deutschen Einheit, München 2006; Gerhard Besier / Katarzyna Stokłosa (Hg.), 15 Jahre deutsche Einheit. Was ist geworden?, Berlin 2007; vgl. aber auch Ulrich Busch / Karl Mai / Klaus Steinitz (Hg.), Ostdeutschland zwischen Währungsunion und Solidarpakt II. Eine Retrospektive kritisch-alternativer Ökonomen, Berlin 2006; Siegfried Prokop (Hg.), Die unvollendete Einheit. Kolloquium zum 15. Jahrestag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik, Berlin 2006. 31 Eckhard Jesse (Hg.), Neues Deutschland: Eine Bilanz der deutschen Wiedervereinigung, Baden-Baden 2008; Manfred Görtemaker, Die Berliner Republik: Wiedervereinigung und Neuorientierung, Berlin 2009; Wilhelm Heitmeyer, Deutsch-deutsche Zustände. 20 Jahre nach dem Mauerfall, Bonn 2009; Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz: Eine wirtschaftliche Analyse der
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Teil der Diskussions- und Wahrnehmungsgeschichte der Vereinigung und in ihren Urteilen wichtige zeitgenössische Gradmesser des Urteilens über das Zusammenwachsen, weil sie sich zumeist mehr mit dem jeweiligen, sich an einem normativen Soll-Formel orientierenden Ist-Zustand abarbeiteten und dabei zwar eine Vielzahl griffiger Titel prägten, jedoch allzu oft die historische Genese, Prozesse, Dynamiken oder auch Kontingenzen verschiedener Konfliktfelder der Einheit nur wenig beleuchteten. Standen Bilanzen der 1990er und frühen 2000er Jahre vor allem unter dem Rubrum einer ›Vereinigungskrise‹, 33 so wurde dabei vor allem Trennendes betont und die Einheit als »Belastung und Belästigung«34 aufgefasst, während sich inzwischen eine gewisse Pragmatik eingestellt zu haben scheint. Frappierend an vielen dieser Arbeiten ist insgesamt: Erfolgten die Ausführungen 32
Deutschen Einheit, München 2009; Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009; Dagmar Schipanski (Hg.), Dreißig Thesen zur deutschen Einheit, Freiburg 2009; Andreas H. Apelt, Der Weg zur Wiedervereinigung. Voraussetzungen – Bedingungen – Verlauf, Berlin 2010; ders. (Hg.), Der Weg zur Deutschen Einheit: Mythen und Legenden, Berlin 2010; Jürgen Aretz (Hg.), 20 Jahre Deutsche Einheit, München 2010; Stefan Bollinger (Hg.), Vereint vereint? Das vereinte Deutschland im Widerstreit. Geschichte, Gegenwart, Geschichtspolitik 1949–1989–2009, Berlin 2010; Elmar Brähler / Irina Mohr (Hg.), 20 Jahre deutsche Einheit: Facetten einer geteilten Wirklichkeit, Gießen 2010; Dieter Grupp / Harald Schneider / Hans Woid (Hg.), Zusammengewachsen? 20 Jahre Deutsche Einheit, Bonn 2010; Tilman Mayer, 20 Jahre Deutsche Einheit. Erfolge, Ambivalenzen, Probleme, Berlin 2010; Fritz Piepenburg (Hg.), 20 Jahre nach dem Fall der Mauer. Die Wiedervereinigung Deutschlands – eine Bestandsaufnahme, Stuttgart 2010; Klaus Schroeder, Das neue Deutschland: Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört, Berlin 2010; Kurt Bohr / Arno Krause (Hg.), 20 Jahre Deutsche Einheit: Bilanz und Perspektiven, Baden-Baden 2011; Institut für Wirtschaftsforschung Halle (Hg.), 20 Jahre Deutsche Einheit: Von der Transformation zur europäischen Integration, Halle 2010; Statistisches Bundesamt / Andreas Bliemeister, 20 Jahre deutsche Einheit. Wunsch oder Wirklichkeit, Wiesbaden 2010; Heike Tuchscheerer, 20 Jahre vereinigtes Deutschland: Eine »neue« oder »erweiterte Bundesrepublik«?, Baden-Baden 2010; vgl. aber auch Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 2010; Lothar de Maizière, Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen. Meine Geschichte der deutschen Einheit, Freiburg 2010; Beatrice von Weizsäcker, Die Unvollendete: Deutschland zwischen Einheit und Zweiheit, Köln 2010. 32 Busch/Kollmorgen, 25 Jahre Deutsche Einheit; Busch/Thomas, Vierteljahrhundert; Jana Hensel / Thea Dorn / Thomas Brussig (Hg.), Sind wir ein Volk? 25 Jahre nach dem Mauerfall, Freiburg 2015; Jens Hartung / Irina Mohr / Franziska Richter (Hg.), 50 Jahre Deutsche Einheit. Weiter denken – zusammen wachsen, Bonn 2015; Paul-Josef Raue, Die unvollendete Revolution. Ost und West – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung, Essen 2015; Andreas H. Apelt / Hanns Schneider (Hg.), Alte Länder – neue Länder. Gemeinsame Perspektiven und Herausforderungen, Halle 2016; Andreas H. Apelt / Eckhard Jesse / Dirk Reimers (Hg.), Ist zusammengewachsen, was zusammengehört? 25 Jahre Deutsche Einheit, Halle 2016; Martin Sabrow (Hg.), Die schwierige Einheit, Leipzig 2016; Tom Thieme (Hg.), 25 Jahre deutsche Einheit: Kontinuität und Wandel in Ost- und Westdeutschland, Chemnitz 2016. 33 Kocka, Vereinigungskrise. 34 Martin Sabrow, Mythos Einheit? Die deutsche Wiedervereinigung als zeitgeschichtliche Herausforderung, in: ders./Alexander Koch (Hg.), Experiment Einheit. Zeithistorische Essays, Göttingen 2015, S. 9–25, S. 19.
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vonseiten west- wie ostdeutscher (Regierungs-)Politiker zumeist im Modus der Affirmation jüngerer politischer Entwicklungen (›Erfolgsmodell soziale Marktwirtschaft‹, ›Erfolgsgeschichte Einheit‹) sowie der nachträglichen Delegitimierung der untergegangenen DDR-Diktatur, war das Urteilen über die Einheit in wissenschaftlichen Publikationen viele Jahre vor allem eine westdeutsche Angelegenheit. Häufig wurden in diesen Bilanzierungen ›Gelingen‹ bzw. ›Misslingen‹ der Einheit normativ ausgeleuchtet und das Metanarrativ des westdeutschen ›Sonderwegs‹ in die Demokratisierung als selbstverständlicher Wertmaßstab zugrunde gelegt. In vielen dieser Bücher stand somit mehr über westliche Selbstbeschreibungen und Beobachtungstechniken als über den eigentlichen Untersuchungsgegenstand. So verwundert es kaum, dass zunächst weitgehend auf eine ›Fortführung‹ etablierter Forschungsansätze gesetzt wurde.35 War die Transformationsforschung stark von den auf Westdeutschland gerichteten Forschungsschwerpunkten und -inhalten geprägt, wurden die bewährten Herangehensweisen lediglich auf den Osten übertragen – methodisch, institutionell und letztlich auch in personeller Kontinuität.36 Durch die damit verbundenen Sichtweisen und Argumente – die Transformation galt gemeinhin als grundsätzlich konsistentes wie ›alternativloses‹ und zielgerichtetes, prinzipiell ›machbares‹ Projekt im Rahmen einer »nachholenden Revolution«37 – war eine entsprechende perspektivische Verengung gewissermaßen vorprogrammiert. Die Sollbruchstellen der Vereinigungsgesellschaft waren somit zumindest implizit markiert. Gleichzeitig war der Maßstab an das nun Folgende gelegt, an dem sich auch die Geschichtswissenschaft orientierte. Von Seiten der Zeitgeschichtsschreibung sticht dabei die umfassende Studie Andreas Rödders von 2009 heraus, die eine immense Darstellungskraft mit gedanklichen Engführungen verbindet, anhand derer sich die historiographischen Herausforderungen dieses Gegenstands zeigen lassen: Rödder lässt in der Untersuchung ostdeutsche Akteure eher unberücksichtigt, stattdessen konzentriert er sich auf die deutschlandpolitischen Erfolge Kohls und Genschers, die bis in die 1990er Jahre ausgestrahlt haben.38 Gemäßigte Alternativszenarien werden als unrealistisch, »das Einmünden der ostdeutschen Massenbewegung in eine West-dominierte Wiedervereinigung als weitgehend unausweichlich«39 beschrieben. Mit dieser Perspektive stellt das Buch eher die Regel als die Ausnahme dar, denn auch in anderen Darstel35 Stephan Weingarz, Laboratorium Deutschland? Der ostdeutsche Transformationsprozess
als Herausforderung für die deutschen Sozialwissenschaften, Münster/Hamburg u. a. 2003, S. 359. 36 Rolf Reißig, Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft. Bilanz und Perspektiven der Transformation Ostdeutschlands und der deutschen Wiedervereinigung, Berlin 2000, S. 124 sowie mit einer Phaseneinteilung S. 126–134. 37 Jürgen Habermas, Die nachholende Revolution, Frankfurt a. M. 1990. 38 Rödder, Deutschland einig Vaterland. 39 Konrad H. Jarausch, Rezension zu: Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung. München 2009, in: H-Soz-Kult, 28.09.2010, http://www. hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-14418 [12.10.2016].
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lungen werden die vermeintlichen Zwangsläufigkeiten der Übergangszeit kaum hinterfragt.40 Ein anschauliches Beispiel für die Gefahr unreflektierter Übernahmen von Deutungen sind zudem sprachlich-rhetorische Determinismen. Eine rasche Vollendung hin zur Einheit sei nicht zuletzt wegen des immensen Zeitdrucks »zwingend«, »irreversibel« und »alternativlos« gewesen, lautet etwa eine beliebte retrospektive Einschätzung.41 Mit Philipp Ther gesprochen gehörten Formulierungen wie diese zum »bis heute bestimmenden Erbe der Transformationszeit«,42 zu denen eine angemessene Distanz angezeigt ist. Davon abgesehen wurden Übergänge, Umbrüche und Wandlungen im Osten bislang allzu oft losgelöst von solchen im Westen beleuchtet. Erst in letzter Zeit werden die Entwicklungen auf beiden Seiten und ihre gegenseitige Beeinflussung verstärkt zusammengedacht, wahlweise unter den Schlagworten einer »Ko-Transformationen«,43 einer »doppelten Transformation«44 oder der »versetzten Transformationen«.45 Gemeint sind damit die Prozesse und Anpassungen, die sich mit zeitlicher Verschiebung einstellten, aber auch die Gleichzeitigkeit eines langfristigen globalen Strukturwandels und der kurzfristigen De-Industrialisierung mitsamt entsprechender (Langzeit-)Folgen auch für Westdeutschland, etwa hinsichtlich der Veränderung in der politischen Kultur, Fragen der Familienpolitik und Kinderbetreuung, der Schulbildung oder steigenden Kosten für die Sozialkassen.46 Diese Skizze lässt die Krux bei der Beschäftigung mit der Zeit nach 1990 erahnen: Der Mangel an Distanz und die Gefahr der Parteilichkeit, das zeigen die oben zitierten Beispiele eindrücklich, verweisen auf verschiedene methodische Imponderabilien und werfen weiterführende Fragen auf: Was ist eigentlich der thematische, theoretische und methodische Anspruch bei der Historisierung der Vereinigungsgesellschaft? Wie umgehen mit der Unabgeschlossenheit der Entwicklungen und der hochgradigen Revisionsanfälligkeit bisher erarbeiteter Befunde?
40 Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München
2012. 41 Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit, Frankfurt a. M. 1995, S. 315. 42 Philipp Ther, Rezension zu: Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, H-Soz-Kult, 17.07.2012, www.hsozkult.de/publicationreview/id/ rezbuecher-18056 [12.10.2016]. 43 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frankfurt a. M. 2014, S. 97 und 284 f. 44 Heinrich Best / Everhard Holtmann, Der lange Wege der deutschen Einigung. Aufbruch mit vielen Unbekannten, in: dies. (Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frankfurt a. M. 2012, S. 9–42, hier S. 11. 45 Frank Bösch, Geteilt und verbunden. Perspektiven auf die deutsche Geschichte seit den 1970er Jahren, in: ders. (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen, S. 7–37, hier S. 34–37. 46 Vgl. dazu den Beitrag von Winfried Süß, Soziale Sicherheit und soziale Ungleichheit in wohlfahrtsstaatlich formierten Gesellschaften, in: Bösch, Geteilte Geschichte, S. 153–194, hier S. 182.
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II. Die Vereinigungsgesellschaft historisieren: Herausforderungen und Fragehorizonte Unbestritten sind Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker, ob nun west- oder ostsozialisiert, allen voran Zeitzeugen der zu beleuchtenden Geschehnisse und durch die Nähe zu den Ereignissen der Gefahr fehlender Distanz ausgesetzt. Kehren wir die Perspektive aber um, dann kann die Nähe zum Untersuchungsgegenstand auch ein »Privileg«47 sein: Weil weiterhin drängende Fragen politischer, ökonomischer, sozialer, kultureller oder mentaler Provenienz – ob nun offen ausgesprochen oder eher latent vorhanden – unsere Einigungsdebatten bis heute flankieren, kann die Vereinigungsgesellschaft möglicherweise gerade wegen ihrer Nähe besser vergegenwärtigt werden als weiter zurückliegende Zeiten. Mit diesen Überlegungen verbinden sich ganz grundsätzliche erkenntnistheoretische Fragen der ›neuesten Zeitgeschichte‹48 bzw. der ›gegenwartsnahen Zeitgeschichte‹.49 Denn das historische Vermessen der postrevolutionären gesamtdeutschen Vereinigungsgesellschaft ist eine besondere Herausforderung für Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker: Die schiere Menge der kaum zu überblickenden Literatur und die kaum noch mögliche Trennung von Darstellung und Quelle ist dabei auffällig.50 Vor allem muss es das Ziel einer zeithistorisch kontrollierten wie methodisch fundiert arbeitenden, vereinigungssensiblen Geschichtsschreibung sein, ein bloßes Fortschreiben oder eine Replikation zeitgenössischer Leitnarrative – oder ihrer Gegenerzählungen – zu vermeiden und diese selbst als Bestandteile der damaligen intellektuellen Diskussionen zu historisieren.51 Die sorglose Reproduktion oder gar unkritische Zusammenfassung, Adaption und schlichte Aktualisierung damaliger Perspektiven, Argumentationen, Großdeutungen und Metanarrative gilt es zu umgehen und auch historisch zu verorten. In sozialwissenschaftlichen Arbeiten fehlen häufig die Betrachtung längerer Untersuchungs47 Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder,
in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), 2, S. 110–115, hier S. 115. 48 Schwarz, Zeitgeschichte. 49 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer, Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: dies. (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 9–36. 50 Vgl. hierfür die zur Verfügung stehenden Bibliographien: Dagmar Grote / Hermann Nink, Fünf Jahre deutsche Einheit: Auswahlbibliographie 1990–1995, Bonn 1995; Hendrik Berth / Elmar Brähler, Zehn Jahre deutsche Einheit. Die Bibliographie, Berlin 2000; Heinrich Best / Hanjo Gergs / Raj Kollmorgen u. a., Zehn Jahre deutsche Wiedervereinigung: Analysen und Deutungen, Bonn 2000; Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages (Hg.), Zehn Jahre deutsche Einheit: Auswahlbibliographie, Bonn 2000; Sozialwissenschaftliches Forschungszentrum Berlin-Brandenburg, 10 Jahre deutsche Einheit, Berlin 2000; Werner Pfennig, Bibliografie zum Deutschen Einigungsprozess, Berlin 2015. 51 Konrad H. Jarausch, Growing Together? Processes and Problems of German Unification, in: ders. (Hg.), United Germany. Debating Processes and Prospects, New York/Oxford 2013, S. 1–21.
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zeiträume sowie die Analyse von Prozess- und Strukturfaktoren.52 Stattdessen scheint neben einer Orientierung an auch eine kritische Distanz zu den Denkzusammenhängen und Interpretationslogiken, zur Heuristik und letztlich den Schlüssen sozial- wie politikwissenschaftlicher Gegenwartsdiagnosen geboten. Dies gilt des Weiteren auch für die zahlreich zur Verfügung stehenden Umfragen und Statistiken, die nicht allein Wissen produzierten, sondern ihrerseits als Konstruktionsleistungen mit jeweiligen Implikationen für das politische Tagesgeschäft gesehen und damit auf ihre Brauchbarkeit für die Zeitgeschichte befragt und jeweils decodiert werden müssen.53 In ähnlicher Weise müssen wir mit der instrumentellen Dimension sowohl der oben erwähnten Vereinigungsbilanzen, den zeitgenössischen journalistischen Analysen wie auch mit den zahllosen populär-publizistischen Titeln zum Thema umgehen, die unter plakativen Schlagzeilen eigene vereinigungskritische Deutungsangebote lieferten.54 Für die Vereinigungsgesellschaft sind in der Zeit nach 1989/90 fundamentale und konfliktbehaftete Selbstdeutungs-, Verständigungs- und Neujustierungsprozesse festzustellen: Sie reichen von wirtschafts-, sozial- und währungspolitischen Entscheidungen (Umtauschkurs, Treuhandprivatisierung, Lohn- und Rentenangleichung, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion) über die Thematisierung der jüngeren doppelt diktatorischen Vergangenheit und damit verbundenen geschichtspolitischen Implikationen bis hin zu eher lebensgeschichtlich und geschlechterbezogen relevanten Dimensionen, die zeigen, inwiefern auch private 52 Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter: Neue und alte Herausforderungen,
in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 3, S. 331–351, hier S. 347. 53 Zu diesen Überlegungen Kim Christian Priemel / Rüdiger Graf, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 4, S. 479–495, ferner Bernhard Dietz / Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), 2, S. 293–304; Lutz Raphael / Jenny Pleinen, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), 2, S. 172–195. Diese Frage wird für die Transformationszeit etwa von Philipp Ther aufgegriffen: Das »neue Europa« seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 6 (2009), 1, S. 105–114. 54 Etwa Michael Jürgs, Die Treuhändler. Wie Helden und Halunken die DDR verkauften, München 1997; ders., Typisch Ossi, typisch Wessi. Eine längst fällige Abrechnung unter Brüdern und Schwestern, München 2005; ders., Wie geht’s, Deutschland? Populisten. Profiteure. Patrioten. Eine Bilanz der Einheit, München 2008; Endlich, NeuLand; dies., OstWind. Nicht ganz einfache Geschichten, Berlin 2000; Manfred Leschke, Standortbestimmung: Ich Wessi – du Ossi, Mannheim 2003; Felix R. Mindt, Die Wahrheit über den armen Osten. Die Soli-Abzocke, Frankfurt a. M. 2003; Jens Bisky, Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet, Berlin 2005; Christa Luft, Wendeland. Fakten und Legenden, Berlin 2005; Uwe Müller, Supergau Deutsche Einheit, Berlin 2005; Olaf Baale, Abbau Ost. Lügen, Vorurteile und sozialistische Schulden, München 2008; Judith Borowski, Knietief im Osten. Reisen durch ein fremdes Land, München 2009; Klaus Huhn, Die Flachzangen aus dem Westen, Berlin 2011; Holger Witzel, Schnauze Wessi. Pöbeleien aus einem besetzten Land, Gütersloh 2012.
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Lebensentwürfe und jahrzehntelang eingeübte, bis dato unhinterfragte soziale Praktiken von der politischen Entwicklung kaum unberührt bleiben konnten. Hierunter zählen ganz alltägliche Begegnungen zwischen Ost und West, die völlig konfliktfrei verlaufen, aber eben auch mit (beidseitigen) Stereotypen verbunden waren und teils beträchtliche Verstörungen auslösen konnten – keineswegs nur in Grenzgebieten.55 Hierunter zählen ebenso tatsächliche oder imaginierte Degradierungs- (aber auch Aufwertungs-)erfahrungen und Honorierungen, Neuorientierungen im beruflichen oder nachbarschaftlichen Umfeld und in Bereichen des Konsums, der Freizeit sowie im Wertehaushalt, mithin abweichende, wenn nicht völlig unterschiedliche Wahrnehmungen im alltäglichen Umgang miteinander (Händeschütteln, Grußformeln, Dialekte usw.) und damit verbundenen Erfahrungen des ›Fremdseins‹. Gerade jene Begegnungen realer wie abstrakter Art sind es, die bisher einer tiefergehenden polyperspektivischen Historisierung harren. Dabei die doppelseitigen Aneignungs- und Lernprozesse, aber auch diejenigen des Einübens demokratischer, parlamentarischer, sozialstaatlicher Praktiken als kaum zu überschätzende Veränderungs- und Anpassungsleistungen nicht zu berücksichtigen, wäre schlechterdings und nicht nur in historiographischer Hinsicht gleichbedeutend damit, eine Vielzahl gerade ostdeutscher Geschichten in einem zeithistorischen Gesamtnarrativ einer ›geglückten‹ Einheit nur unvollständig oder gar nicht wiederfinden zu können. Dies hätte auch entsprechende Rückwirkungen auf Geschichtspolitik, Medien und vor allem auf den Bereich der historisch-politischen Bildung, also zur schulischen wie außerschulischen Wissensvermittlung zur (Post-)DDR-Geschichte.56 Grundsätzlich muss eine historische Positionsbestimmung der Vereinigungsgesellschaft Übergänge in verschiedenen Bereichen fokussieren – Übergänge, die im Rückblick und mit Abstand zum Geschehen »sprunghaft, erratisch und auch widersprüchlich verlaufen« sein konnten.57 Mit dem Begriff der »Übergangsgesellschaft« hat der Historiker Jürgen Danyel diejenige Phase der Entwicklung bezeichnet, »in der die Auflösung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Institutionen der untergegangenen DDR einherging mit der schrittweisen Etablierung einer am Vorbild der Bundesrepublik orientierten Verfassungs-, Wirtschafts- und Institutionenordnung.« Danyel spricht anschaulich von einer »Art Schwebezustand, in der das Alte noch nicht völlig verschwunden war und das Neue sich erst allmählich zu etablieren begann.«58 Dabei stellt sich dem 55 Vgl. hierzu Daphne Berdahl, Where the World Ended. Re-Unification and Identity in the
German Borderland, Berkeley 1999. 56 Siehe für didaktische Perspektiven etwa Saskia Handro / Thomas Schaarschmidt (Hg.), Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im geschichtskulturellen Diskurs, Schwalbach/Taunus 2011. 57 Everhart Holtmann, Signaturen des Übergangs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 29 (2009), S. 3–9. 58 Jürgen Danyel, Alltag Einheit: Ein Fall fürs Museum!, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), 33–34, S. 26–35, v. a. S. 30 f., http://www.bpb.de/apuz/210546/alltag-einheit-ein-fall-fuers-
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Historiker und der Historikerin unweigerlich die Frage, wie weit diese Übergänge zeitlich zu fassen sind und welche Rolle der Zäsur 1989/90 zukommt. Beim Blick auf die ›alte‹ Bundesrepublik waren einschneidende Veränderungen wie Globalisierung und Europäisierung, des sozialen Wandels und der Digitalisierung, aber auch die Flexibilisierung der Arbeitswelten und anderes mehr schon weit vor Revolution und Wiedervereinigung im Gang und setzten das ›Modell Deutschland‹ unter Druck. Dazu lassen sich die längst eingetretene Krise westeuropäischer Wohlfahrtsstaaten, aber auch die allmähliche Ablösung keynesianischer Ordnungsmodelle von neoliberalen Anschauungen nennen. Viele politische, wirtschaftliche oder soziale Entwicklungen, die in den 1990er-Jahren eine neue Intensität erreichten, hatten ihre Ursachen und Vorgeschichten bereits deutlich vorher, ob (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, Strukturwandel, die Brüchigkeit des sozialstaatlichen Konsenses oder auch der Asylgesetzgebung. Insofern wurde die deutsche Vereinigungssituation des Jahres 1990 von Auswirkungen globalen Wandels überlagert.59 Gerade mit Blick auf die strukturelle Schwäche mancher westdeutscher Regionen drängt sich letztlich zwangsläufig die Frage auf, inwiefern der gesamtdeutsche Sozialtypus des ›Modernisierungsverlierers‹ nicht in der Zwischenzeit mit dem Sozialtypus des ›Einheitsverlierers‹ interferiert,60 diesen relativiert und somit quer zur konventionellen Ost-West-Dichotomie liegt. Diese Entwicklungen voneinander zu trennen oder auch Anfangs- oder Endpunkte dieser Übergänge bestimmen zu wollen, ist methodisch wohl weder zielmuseum [12.10.2016] sowie den dazugehörigen Ausstellungskatalog: ders., Alltag Einheit: Porträt einer Übergangsgesellschaft, Berlin 2015; vgl. aber auch für eine andere Begriffsverwendung die auf eine gleichnamige Komödie von Volker Braun zurückgehende Ausstellung: Akademie der Künste Berlin, Übergangsgesellschaft. Porträts und Szenen 1980–1990, Berlin 2009. 59 Christoph Kleßmann, »Deutschland einig Vaterland«? Politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2009), 1, S. 85–104. Insgesamt zu den skizzierten Entwicklungen Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Frankfurt a. M. 2015, bes. S. 96–102; systemvergleichend Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht. Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008. Siehe außerdem für die Entwicklungen in Westdeutschland Knud Andresen / Ursula Bitzegeio / Jürgen Mittag (Hg.), »Nach dem Strukturbruch?«. Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er-Jahren, Bonn 2011 sowie als Fallstudie Wolfgang Hindrichs, Der lange Abschied vom Malocher. Sozialer Umbruch in der Stahlindustrie und die Rolle der Betriebsräte von 1960 bis in die neunziger Jahre, Essen 2000; übergreifend auch Niall Ferguson (Hg.), The Shock of the Global. The 1970 s in Perspective, Cambridge 2010 sowie Ther, Neue Ordnung. 60 Siehe allen voran Willisch, Wittenberge; daneben auch Alexander Reinberg, Geringqualifizierte: Modernisierungsverlierer oder Bildungsreserve, in: Beate Zeller / Rolf Richter / Dominique Dauser (Hg.), Zukunft der einfachen Arbeit. Von der Hilfstätigkeit zur Prozessdienstleistung, Bielefeld 2004, S. 61–75; Christoph Moser, Beschäftigungschancen für Geringqualifizierte in einfachen Dienstleistungstätigkeiten, Frankfurt a. M. 2004; Gerhard Bosch / Claudia Weinkopf (Hg.), Low-wage Work in Germany, New York 2008; Heinz Bude / Thomas Medicus / Andreas Willisch (Hg.), ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft, Hamburg 2011.
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führend noch möglich. Zwar ist es durchaus überzeugend, die Mitte der 1990er Jahre als einen wichtigen Markstein zu sehen, hatte sich doch hier die ›Atemlosigkeit‹ der ersten Jahre nach der Vereinigung gelegt, waren die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft oder aber auch der institutionelle Um- bzw. Wiederaufbau etwa im Bereich der öffentlichen Verwaltung weitgehend abgeschlossen, kehrte insgesamt eine gewisse Beruhigung ein.61 Mit genau so viel Berechtigung könnten aber auch die erheblichen Einschnitte um das Jahr 2000 angeführt werden, je nachdem, ob eher Belange innenpolitischer Natur (die Bundestagswahl 1998 und der damit verbundene Regierungswechsel zu Rot-Grün) oder globaler Reichweite (die Terroranschläge vom 11. September 2001) betrachtet werden. Mithin wäre es durchaus einleuchtend, sozialpolitische Einschnitte hervorzuheben, etwa mit Blick auf die Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes im Jahr 2005 (›Agenda 2010‹). Die hier knapp umrissene Offenheit des Endes hat auch eine Entsprechung in die andere Richtung: Werden die 1970er und 1980er Jahre in der Regel in der geschichtswissenschaftlichen Betrachtung zusammengefasst,62 so ist auch mit Blick auf die Vereinigungsgesellschaft der Vorschlag mit einiger Plausibilität von umfassenden, zäsurübergreifenden Übergängen auszugehen, die den deutsch-deutschen Vereinigungskontext begleiteten, von ihm beschleunigt, verzögert oder vielleicht gar nicht oder nur kaum tangiert worden sind. Ob verflochtene Umbrüche seit den 1970er Jahren,63 eine »lange Geschichte der ›Wende‹«64 oder die von Marcus Böick und Angela Siebold angedachte »multiperspektivische Varianz- und Kontextgeschichte langer Übergänge«: Es herrscht Einigkeit darüber, das Epochenjahr 1989/90 weniger als Ende oder Anfang zu sehen, sondern seinerseits in laufende Entwicklungen einzuordnen.65 Indem der vorliegende Band die Vereinigungsgesellschaft in ihrem Davor und Danach thematisiert und damit die ›klassische‹ Zäsurschwelle zu relativieren
61 Danyel, Alltag Einheit. 62 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitge-
schichte seit 1970, 2. Aufl., Göttingen 2012; dies., Vorgeschichte. 63 So der Name einer Tagung am ZZF Potsdam im Herbst 2014 (Verflochtene Umbrüche. Westund Ostdeutschland im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts), http://www.hsozkult.de/event/id/ termine-26325 [12.10.2016]; siehe hierfür den Sammelband Bösch, Geteilte Geschichte. 64 Vgl. das ebenfalls am ZZF Potsdam situierte, von Kerstin Brückweh betreute Projekt »Die lange Geschichte der »Wende«. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989«: http://zzf-pdm.de/site/mid_3682/ModeID_0/EhPageID_1831/1085/default.aspx [12.10.2016]. 65 Marcus Böick / Angela Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: Deutschland Archiv 1 (2011), S. 105–113; siehe zudem Alexander Kraus / Christoph Lorke, Vor dem Aufbruch. 1988 als vergessenes Jahr, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), 24–26, S. 40–46, hier mit Verweis auf Konrad H. Jarausch, der eine De-Teleologisierung gängiger Narrative forderte, um historiographisch eben nicht zwangsläufig auf den Fluchtpunkt 1989 hinauszulaufen, was durchaus in beide Richtungen gilt.
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gedenkt, werden diese Überlegungen aufgegriffen und anhand von verschiedenen Fallbeispielen vertieft. Wird die Vereinigungsgesellschaft modernisierungstheoretisch als ›Laboratorium‹ verstanden, in der es zu Aushandlungsprozessen zwischen verschiedenen Akteuren über unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe kam, dann müsste nach den Koordinaten und Bestimmungsfaktoren jeweiliger Übergänge auf verschiedenen gesellschaftlichen Terrains gefragt werden.66 Indem die einzelnen Beiträge des vorliegenden Bandes verschiedene und gezielt ausgesuchte, exemplarisch bedeutsame ›Arenen des Übergangs‹ in den Blick nehmen, wird der Vielfalt und der Überlappung verschiedentlicher Ereignis- und Debattenstränge jener Jahre Rechnung getragen. Der Systemwechsel von Diktatur zu Demokratie war zwangsläufig mit einer Fülle von Konfliktfeldern (›Arenen‹) verbunden, die einerseits die Wandlungen selbst betrafen, andererseits aber auch die zeitgenössische wie nachträgliche Ausdeutung und Aushandlung dieser Konfliktfelder berührten. Insbesondere die auseinandersetzungsreiche Phase der frühen Vereinigungsgesellschaft lässt sich anschaulich mittels des konflikttheoretischen Arena-Modells beschreiben. Indem ›Arena‹ als »politischer Handlungsraum« verstanden wird, innerhalb dessen Akteure »mittelfristig stabile Interaktionen« entfalten, wird unser Blick geschärft für besondere und prominent verhandelte Themen.67 Der Arena-Begriff kann hier als Metapher für ein Spielfeld verstanden werden, auf dem öffentlich agierende ›Sprecher‹/›Kommunikateure‹ aus Politik, Wissenschaft oder Medien, das Zeitgeschehen kommentieren und sich auf bestimmte Themen konzentrieren, während das ›Publikum‹ dieses auf den Galerien verfolgt.68 Der Vorteil dieses Ansatzes ist, damit in gesamtdeutscher Perspektive die damaligen Orientierungs-, Anpassungs- und Suchbewegungen sowohl ost- als auch westdeutscher Akteure ernst zu nehmen und bei gleichzeitiger Distanzierung zum Gegenstand auf verschiedenen Feldern (›Arenen‹) zu analysieren. Auf diese Weise wird es möglich, die zeitgenössischen Wahrnehmungsweisen aus umkämpften Ausdeutungen in ihrer ex post mitunter vernachlässigten Offenheit und Kontingenz (sowie ihre zeitgenössische Bewältigung) abzubilden und wirkmächtige kollektive zeitgenössische (wie aktuelle) Deutungsachsen auf ihre Prägekraft als Identitäts-, Ordnungs- und vor allem auch Distinktionskategorie der Vereinigungsgesellschaft hin zu untersuchen.69
66 Dierk Hoffmann / Michael Schwartz / Hermann Wentker, Die DDR als Chance. Desiderate
und Perspektiven künftiger Forschung, in: Ulrich Mählert (Hg.), Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema, Berlin 2014, S. 23–70, hier S. 63. 67 Thomas Jakobi, Akteurzentrierter Institutionalismus und Arenen-Konzept in der Mitbestimmungsforschung. Zum theoretischen Rahmen eines Forschungsprojekts, Frankfurt a. M. 2007, S. 24. 68 Friedhelm Neidhardt, Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, in: ders. (Hg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Opladen 1994, S. 7–41, hier S. 7. 69 Marcus Böick, Manager, Beamte und Kader in einer Arena des Übergangs. Eine Ideen-,
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Eine zeithistorisch methodisch gesicherte und interdisziplinär offene Sicht auf die Vereinigungsgesellschaft unter Einbeziehung historisch arbeitender soziologischer oder ethnologischer Forschung vermag es außerdem, die einzelnen Übergänge weniger auf retrospektiv verklärende, affirmative und nicht kontroverse Geschichten von Automatismen, Zwangsläufigkeiten und Unausweichlichkeiten zu reduzieren. Im Gegensatz dazu können die Ambivalenzen und facettenreichen Irrungen wie Wirrungen des Einigungsgeschehens noch stärker als bislang in ihren historischen Bedingtheiten ausgeleuchtet werden. Aufgabe einer Zeitgeschichte der Vereinigungsgesellschaft muss es darüber hinaus sein, aus Sicht der Zeitgenossen Entscheidungsoptionen und Weggabelungen, Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte (Reinhart Koselleck), Wunschvorstellungen und konkrete Umsetzungsschwierigkeiten einzubeziehen, um Vorstellungen von scheinbaren Unabwendbarkeiten, Unvermeidbarkeiten und Unumkehrbarkeiten einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Eine solcherart in den Blick genommene, sich in vielfachen Umbruchssituationen befindliche Vereinigungsgesellschaft mit zentralen ›Arenen des Übergangs‹ und den mit ihnen verbundenen sozialen und kommunikativen Praktiken vermag die problembehafteten, häufig widersprüchlichen und in vielerlei Hinsicht bis heute nachwirkenden Prozesse des gesellschaftlichen Zusammenwachsens beider deutschen Staaten zu illustrieren. Diese Perspektive kann aber kaum dazu dienen, nach dem ›Erfolg‹ der Integration west- und ostdeutscher Spezifika zu fragen oder gar mit dem erhobenem Finger auf die Kalamitäten der Einigung zeigen. Im Gegensatz dazu gilt es den Blick darauf zu richten, wo, wann, warum, in welchem Umfang und von wem befeuert bestimmte ›Arenen‹ überhaupt entstanden sind. Eine analytisch-wissenschaftliche, konstruktiv-skeptische Historisierung der (frühen) Vereinigungsgesellschaft insbesondere solcher Themen, die bislang nur sporadisch und vor allem aus den jeweiligen zeitgenössischen Diskussionen heraus thematisiert worden sind, kann dabei Vielfalt und Langfristigkeit, Widersprüchlichkeit und Kontingenz, Geschichte und Gegenwart jener Jahre stärker hervortreten lassen. Ohne Zweifel wäre es reizvoll, die dreifache Transformation, nämlich die zur Demokratie, zur stabilisierten Staatlichkeit und zur Marktwirtschaft,70 auch in einen internationalen, vor allem osteuropäischen Vergleich zu stellen. Die vorliegenden Beiträge ziehen die Entwicklung in anderen osteuropäischen Staaten immer wieder zur Erhellung der Entwicklung in Deutschland heran, leisten aber keinen systematischen Vergleich. Im Vordergrund stehen stattdessen zeitliche Längsschnitte zur deutsch-deutschen Geschichte über die Zäsur von 1989 hinOrganisations- und Erfahrungsgeschichte der Treuhandanstalt und ihres Personals, 1990–1994, unveröff. Manuskript der Dissertation, Einleitung, S. 65 ff. 70 Claus Offe, Varieties of Transition. The East European and East German Experience, Cambridge 1997; zu Vergleichsaspekten jüngst Raj Kollmorgen / Wolfgang Merkel / Hans-Jürgen Wagener (Hg.), Handbuch Transformationsforschung, Wiesbaden 2015; Ther, Neue Ordnung; Günther Heydemann / Karol Vodicka (Hg.), Vom Ostblock zur EU: Systemtransformationen 1990–2012 im Vergleich, Göttingen 2013.
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aus. Dass dabei im Lichte transnationaler Geschichtsschreibung eine nationalgeschichtliche Engführung mitnichten das Ziel sein kann, versteht sich von selbst.71 Doch mit einer allzu eiligen Einnahme des komparativen Blicks würden die oben aufgeworfenen Fragen letztlich wohl nur unzureichend beantwortet werden. Außerdem verstellte dies den Blick auf die Zeit vor dem Mauerfall und somit den gemeinsamen Vorspann, der sich aus der Konkurrenzsituation sowie dem ständigen Aufeinander-Bezogen-Sein konstituierte. So sind ohne die Einbeziehung der Vorgeschichten beider Teile die Problemlagen des gesamtdeutschen Heute wohl kaum zu verstehen.72 Im Sinne der ausgeführten methodischen Prämissen nehmen viele der Beiträge des Bandes ihren Ausgangspunkt in Ostdeutschland bzw. der früheren DDR und analysieren von dort aus die Entwicklungen in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen – das gilt für die genuin (zeit-)historisch wie auch die historisch arbeitenden ethnologischen oder soziologischen Beispiele. Und damit sehr unterschiedliche ›Arenen‹ der Vereinigung. Zwar werden schwerpunktmäßig politische, soziale, kulturelle und diskursive Entwicklungen Ostdeutschlands als Ausgangspunkt genommen, diese aber unter dem Aspekt der Bedeutung für das frisch vereinigte Deutschland hin ausgelotet. Die verschiedenen Herangehensweisen an exemplarische Problemzonen der gesamtdeutschen Umbruchsgesellschaft deuten zweierlei an: zum einen die gleichzeitige Orientierung wie Abgrenzung zu den sozialwissenschaftlichen gegenwartsorientierten Nachbardisziplinen und ihren Interpretationsangeboten, zum anderen auch einen Wandel des historischen Materials sowie eine methodische Vielfalt, sei es durch genuin historische, textzentrierte Verfahren, ethnographische Erkundungen oder Interviews. Im ersten Teil dieses Buches – Identitäten und kollektive Selbstbilder – diskutiert Ralph Jessen in seinen begriffsgeschichtlichen Ausführungen über den ›Volks‹-Begriff zeitgenössische wie aktuelle Aneignungen und erinnerungskulturelle Implikationen. Wenn heute etwa Anhänger von ›Pegida‹ auf ihren Demonstrationen ›Wir sind das Volk‹ skandieren und damit heftigen Widerspruch nicht nur unter ehemaligen DDR-Bürgerrechtlern auslösen, wenn Forderungen seitens der AfD nach einer Revitalisierung des belasteten Begriffs ›völkisch‹ laut werden, zeigt sich, wie hochgradig umkämpft und geschichtspolitisch sensibel der Erinnerungsort des ›Volkes‹ bis heute ist. Nicht weniger brisant ist das Verhältnis der Deutschen zum Nationalen, ja ›Volk‹ und ›Nation‹ können zweifellos zu den Schlüsselsymbolen der politischen Religion in der Vereinigungsgesellschaft gezählt werden. Indem Irene Götz in ihren Erkundungen die Gründe für die Rewie Denationalisierungsschübe der Vereinigungsgesellschaft erörtert, berührt das 71 Mit stark westdeutscher Ausrichtung Alexander Gallus / Axel Schildt / Detlef Siegfried
(Hg.), Deutsche Zeitgeschichte – transnational. Göttingen 2015; fast gänzlich ohne DDR-Bezug ist auch der Band von Sonja Levsen / Cornelius Torp (Hg.), Wo liegt die Bundesrepublik? Vergleichende Perspektiven auf die westdeutsche Geschichte, Göttingen 2016. 72 So auch Bösch, Geteilt und verbunden, S. 21.
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damit tiefliegende Fragen um Identität und nationalem Selbstverständnis – Fragen, mit denen sich das junge wiedervereinigte Deutschland in vielfacher Weise auseinandersetzen musste, nicht nur dann, als Fremdenfeindlichkeit und Gewalt gegen AusländerInnen oder die Asylgesetzgebung zu bestimmenden innenpolitischen Themen wurden. Ebenfalls mit Reflexionen zur (neuen) deutschen Rolle nach 1989/90 befasst sich Angela Siebold, und zwar bezogen auf die vorliegenden historiographisch-methodischen Überlegungen zu eben jener Zäsur. Dabei fällt der Umgang mit dem Epochenjahr zwar insgesamt recht unterschiedlich aus, doch es wird auch deutlich, wo ›blinde Flecken‹ und künftige Fragestellungen gegenwartsnaher Zeitgeschichte zu verorten sind, keineswegs nur auf die (historiographische) Auseinandersetzung mit dem Epochenjahr bezogen. Dass die ›Stasi‹ nicht nur ein wirkmächtiger kollektiver Bezugspunkt beim Sprechen über die jüngste Vergangenheit war, sondern auch individuell-private und bis heute nachwirkende Adaptions-, Erinnerungs- und Vergessensformen mit einschloss, darauf beziehen sich Sabine Kittels Überlegungen zum Verhältnis von Gedächtnis und ›Post‹-Gedächtnis. Unter dem Rubrum Wirtschaft, Politik und Gesellschaft beleuchtet zunächst Rüdiger Schmidt die Aushandlungsmodi der Bürgerrechtsbewegung, die wiederum vieles aussagen über die zeitgenössische Ahnung eines Utopieverlusts sowie über das Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Gemeinnutz. Um Werthaltungen geht es auch im Artikel von Ursula M. Dalinghaus, die sich mit den mentalen Folgen der Währungsunion auseinandersetzt. Die Frage des neuen wie alten Geldes hatte immensen identitätskonstituierenden Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und verweist auch auf Verlusterfahrungen vieler Ostdeutscher nach 1990. Von vermögens- und eigentumsrelevanten Belangen handeln auch die beiden folgenden Beiträge: Während Marcus Böick die Treuhandanstalt als eine ganz wesentliche und hochgradig emotional besetzte ›Arena‹ der Übergangsgesellschaft begreift, an deren Beispiel sehr anschaulich bis heute andauernde identitätsbezogene Konfliktlagen zwischen Ost- und Westdeutschen nachvollziehbar werden, nähert sich Kerstin Brückweh im Teil Hinterlassenschaften und Aufarbeitung der vermögensrechtlichen Dimension des Umbruchs. In ihren Mikrostudien lassen die verschiedenen Formen der Aneignung und Neuverhandlung von (Wohn-) Eigentum zahlreiche irritierende Momente des Zusammenkommens Ost-West erahnen. Der Abschnitt wendet sich sodann den geschichtspolitischen wie erinnerungskulturellen Gesichtspunkten der frühen Vereinigungsgesellschaft zu. Eine der fundamentalen Weichenstellungen der postsozialistischen Aufarbeitungslandschaft war zweifellos die Einrichtung der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) am 3. Oktober 1990. Ihre Funktion im Kontext der ›Stasi-Debatte‹ im Besonderen sowie bei der diktatorischen Vergangenheitsbewältigung im Allgemeinen diskutiert Markus Goldbeck ebenso wie Lilith Buddensiek, die die Debatte um Akteneinsichtnahme einer genaueren Sezierung unterzieht und damit das Verhältnis individueller Akteure zu Vergangenheitserfahrung und Gegenwartsentwürfen
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beschreibt. Nina Leonhard schließlich dokumentiert die beim Zusammengehen von NVA und Bundeswehr ausgelösten gedächtnispolitischen Verwerfungen und weiß nicht nur nachzuweisen, warum bei ostdeutschen Begegnungen mit dem ›Fremden‹ Regeln, Denk- und Handlungsgewohnheiten sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart Geltung beanspruchten, sondern auch, inwiefern berufliche Degradierungen ganz neue Spannungslinien hervorrufen konnten. Im vierten und letzten Teil werden soziale und individuelle Ordnungsentwürfe betrachtet. Christoph Lorkes Aufsatz widmet sich dabei der gesellschaftlichen Konstituierung und Kommentierung von ›Armut‹. Diese Diskussionen und Aushandlungen enthielten zwar in vielerlei Hinsicht Tradiertes beider deutschen Staaten, wurden aber vor dem Hintergrund völlig neuer sozialpolitischer Problemfelder und sozialstaatlicher Herausforderungen überformt und vereinigungsspezifisch aktualisiert. Herausforderungsreich war die Vereinigungsgesellschaft ebenfalls in lebensgeschichtlicher Hinsicht. Nicht wenige ostdeutsche Familien waren durch Arbeitsplatzverlust oder Wohnortwechsel mit einschneidenden Umbrüchen konfrontiert, Paarbeziehungen auf den Prüfstand gestellt. Scheidungen gab es auch bereits vor 1989/90 – was jedoch neu war am Trennungsverhalten in der (ostdeutschen) Umbruchsgesellschaft und welche rechts- wie geschlechtergeschichtlichen Aspekte daran abzulesen sind, das diskutiert Anja Schröter in ihrem Aufsatz. Mit konfliktbehafteten Begegnungen zwischen Ost und West beschäftigen sich die beiden letzten Beiträge. Während Teresa Tammer anhand der DDR-Schwulenbewegung das Werden und die ›Westwerdung‹ einer ostdeutschen Initiative vorstellt, wendet sich Ines Langelüddecke dem Aufeinandertreffen (westdeutscher) Gutsbesitzer und (ostdeutsch-einheimischer) Dorfbewohner zu, die gerade im Schweigen einiges über den Gegenüber und letztlich die Präsenz lokaler Vereinigungserfahrungen auszusagen vermögen. Der vorliegende Band ist das Ergebnis der Tagung ›BRDDR – Arenen des Übergangs in der Vereinigungsgesellschaft‹, die vom 4. bis zum 6. November 2015 auf Gut Siggen in Ostholstein im Rahmen der Reihe ›Nassauer Gespräche‹ stattgefunden hat. Ohne die ideelle und materielle Unterstützung der Freiherr vom Stein-Gesellschaft e.V. wäre die Durchführung dieser Veranstaltung nicht möglich gewesen. Besonders danken möchten wir deren damaligen Geschäftsführenden Präsidialmitglied Prof. Dr. Bernd Walter, der sich sofort von der Veranstaltungsidee begeistern ließ. Sylvia Monzel von der Freiherr vom Stein-Gesellschaft e.V. hatte die Veranstaltung organisatorisch-logistisch mit vorbereitet, dafür danken wir herzlich. Der Alfred-Toepfer-Stiftung danken wir nicht nur für die großzügige finanzielle Unterstützung der Veranstaltung, sondern auch für die Möglichkeit, das Seminarzentrum auf Gut Siggen nutzen zu dürfen, wo wir eine fantastische Arbeitsatmosphäre und ideale Rahmenbedingungen vorgefunden haben. Für Letzteres sei vor allem Herrn Kai Brodersen bedankt. Vor Ort haben außerdem Hans-Ulrich Thamer, Michael Schwartz, Eva Schäffler, Massimiliano Livi und Philipp Ebert die Diskussionen durch ihre anregenden Diskussionsbeiträge bereichert. Schließlich ist auch ein großer Dank an den Steiner-Verlag und
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insbesondere Katharina Stüdemann und Harald Schmitt für die Begleitung der Drucklegung dieses Bandes auszusprechen. Last but not least danken wir den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen des Lehrstuhls, die die Aufsätze Korrektur gelesen und mit wichtigen Anmerkungen versehen haben: Marvin Becker, Niklas Costa, Anne Kluger, Fabian Köster und Lisa-Marie Pohl. Münster im November 2016
I. IDENTITÄTEN UND KOLLEKTIVE SELBSTBILDER
Ralph Jessen
DAS VOLK VON 1989 ALS PRAXIS, PROJEKTION UND ERINNERUNGSORT
W
er über das Volk im Kontext der Friedlichen Revolution von 1989 nachdenkt, wird an den Eröffnungssatz in Christa Wolfs Roman »Kindheitsmuster« erinnert: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen«.1 Wir sind das Volk – das war die Selbstermächtigungsformel der Demonstrationsbewegung von 1989. 25 Jahre danach versuchte sich eine »gespenstische Minderheit«2 (Friedrich Schorlemmer), ein »Zombie von 1989«3 (Jennifer Stange) an einer Wiederaufführung in Dresden, Leipzig und anderswo: Wir sind das Volk tönte es bei jeder ›Montagsdemonstration‹ von ›Pegida‹ und jedes Mal gab es den Bürgerrechtsveteranen einen schmerzhaften Stich: »Ihr sprecht für keine Freiheitsbewegung / Ihr seid deren Schande / Schämt euch« – haben Bernd Gehrke, Thomas Klein, Reinhard Schult und einige Dutzend weiterer ›Neunundachtziger‹ die ›Pegida‹-Marschierer im Dezember 2014 abgekanzelt.4 Da ist Herzblut im Spiel, da geht es um die Deutungshoheit über die Geschichte und auch um das eigene Selbstbild. Bevor aber Schandstrafen verhängt, Schamrituale gefordert oder Untote gebannt werden, sollte man sich doch lieber an Christa Wolfs zweiten Satz halten: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal ver1 Christa Wolf, Kindheitsmuster. Roman, 5. Aufl., Darmstadt 1980, S. 9. Einzelne Abschnitte
dieses Aufsatzes greifen zurück auf Ralph Jessen, Die Montagsdemonstrationen, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 466–480. 2 Friedrich Schorlemmer, Ihr seid nicht das Volk!, in: Der Freitag vom 11.02.2015, https://www. freitag.de/autoren/der-freitag/ihr-seid-nicht-das-volk [14.09.2015]. 3 Jennifer Stange, Deutschland ganz in Schwarz-Rot-Gold gehüllt, in: Neues Deutschland vom 17.01.2015, http://www.neues-deutschland.de/artikel/958762 [14.09.2015]. 4 Kerstin Ahrens u. a., »Weihnachtsgruß von Neunundachtzigern« 25 Jahre nach dem Mauerfall. PEGIDA – Nie wieda!, in: die tageszeitung vom 22.12.2014, http://www.taz.de/!5025521/ [11.09.2015].
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gangen«, schrieb sie und fuhr dann fort: »Wir trennen es [das Vergangene] von uns ab und stellen uns fremd.« – Gerade weil die Vergangenheit in der Gegenwart fortwirkt und wir als Zeitgenossen Teil der Geschichte sind, die wir beschreiben, sollten wir versuchen, uns diese Geschichte ›fremd‹ zu machen, auf Distanz zu gehen, von außen zu schauen, so gut das eben geht, kurz: Historisierung zu betreiben. Nur wenn dies halbwegs gelingt, haben wir eine Chance, den politischen Gebrauch der Begriffe durch Geschichtsmythen und Geschichtspolitik kritisch zu dekonstruieren. Und das ist bei einem so voraussetzungsreichen, historisch beladenen Grundbegriff der politisch-sozialen Sprache5 wie dem Begriff des Volkes dringend nötig. Die räumliche und zeitliche Distanznahme zu den jüngsten Deutungskämpfen erleichtert deren Historisierung: Einige Kilometer südlich von Bonn liegt in idyllischer Lage hoch über dem Rhein ein Denkmal zur Erinnerung an den Vormärz-Dichter Ferdinand Freiligrath, dem vor ein paar Jahren eine zusätzliche Schrifttafel beigegeben wurde, auf der es heißt: »Ferdinand Freiligrath / 1810– 1876 / Dichter der Spätromantik und der Revolution von 1848 / Wir sind das Volk / Dieser Vers aus seinem Revolutionsgedicht / Trotz alledem / wurde 1989 zum Volksruf in der DDR / der zur Wiedervereinigung führte.« Der »Verschönerungsverein Oberwinter«, der diese Tafel im Jahr 2010 aufstellen ließ, verbindet »1989« also mit »1848« und postuliert eine lange Demokratie- und Freiheitstradition: das freiheitsdurstige Volk, das sich gegen die absolutistische bzw. diktatorische Obrigkeit auflehnt. Wer sich noch an die linken Barden Ernst Busch, Hannes Wader und Wolf Biermann erinnert, kennt deren populäre Interpretationen des Freiligrath-Liedes und seine letzte Strophe, in der es heißt: »Wir sind das Volk, die Menschheit wir / Sind ewig drum, trotz alledem!«6 Das Volk, das die universellen Menschheitswerte von Freiheit und Fortschritt repräsentiert – das ist die historische Referenz, die mit der Widmungstafel am Denkmal beschworen wird. Dass diese Interpretation mit der ursprünglichen Idee des rheinischen Freiligrath-Denkmals gar nichts zu tun hat, ist zu erkennen, wenn man ein paar Meter weiter auf den »Rolandsbogen« stößt, den pittoresken Überrest einer mittelalterlichen Burg auf einem Felsen über dem Rhein. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde er zum Inbegriff der Rheinromantik, die viel zur Popularisierung eines essentialistischen, historisch-kulturellen Begriffs vom Wesen des deutschen Volkes beigetragen hat. Als der »Rolandsbogen« 1839 einstürzte, engagierte sich Freiligrath enthusiastisch für dessen Wiederaufbau, der schon 1840 erfolgreich abgeschlossen wurde. Der Elan des Wiederaufbauprojekts speiste sich aus der sogenannten ›Rheinkrise‹ von 1840, die durch die Forderung Frankreichs ausgelöst worden war, den Rhein zu seiner Ostgrenze zu machen. Diese Krise löste 5 Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-
sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1–8, Stuttgart 1972–92. 6 Ferdinand Freiligrath, Trotz alledem!, in: ders., Neuere politische und sociale Gedichte. Erstes Heft, Köln 1849, S. 62–65, hier: S. 65.
DAS VOLK VON 1989 ALS PRAXIS, PROJEKTION UND ERINNERUNGSORT 35
einen mächtigen nationalistischen Schub in den deutschen Staaten aus: Der Wiederaufbau des »Rolandsbogens« (1840) war wie das martialische Lied von der »Wacht am Rhein« von Max Schneckenburger (1840) und das »Lied der Deutschen« von Hoffmann von Fallersleben (1841) Teil einer emphatischen, auf Einheit und aggressive Abgrenzung gerichteten Beschwörung der deutschen Nation und des deutschen Volkes. Die nationale Mission Freiligraths und das nationale Volk waren es auch, die mit der Errichtung des Freiligrath-Denkmals im Juni 1914 gewürdigt wurden, zwei Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Erst knapp einhundert Jahre später fügte die Gedenkplatte zu 1989 eine demokratische Traditionsspur hinzu. »Invention of tradition«, könnte man mit Eric Hobsbawm sagen.7 Die doppelbödige Denkmalsgeschichte wird hier nicht erwähnt, weil sich tatsächlich ein historischer Zusammenhang zwischen Freiligraths Gedicht und dem Leipziger Volksruf von 1989 nachweisen ließe. Wir sind das Volk ist 1989 neu erfunden und nicht zitiert worden. Aber aus der rheinischen Episode lassen sich drei Ausgangsüberlegungen für das Folgende entwickeln: Erstens ist der Volksbegriff seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit sehr unterschiedlichen, z.T. gleichzeitig existierenden Inhalten aufgeladen worden, so dass es keine ›eindeutige‹ oder ›richtige‹ Bedeutung des Volkes gibt – schon bei Freiligrath ist das revolutionäre Volk nur schwer vom nationalen Volk zu unterscheiden. Zweitens haben sich praktisch alle politischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts zur Legitimation ihre gegensätzlichen Ziele aus dem vielschichtigen Bedeutungsvorrat der Volkssemantik bedient. Drittens war und ist die konkurrierende Nutzung dieser Semantik wiederum Gegenstand kontroverser Erinnerungspraktiken und geschichtspolitischer Kontroversen, in denen es um integrierende Symbole und hegemoniale Geschichtsnarrative geht, die den Raum legitimer Deutungen, den Raum des ›Sagbaren‹, von den als illegitim angesehenen Aneignungen abgrenzen. Der folgende Essay folgt in seinem Aufbau diesen drei Linien: Ich beginne mit einer kurzen Inspektion der Begriffsgeschichte des Volkes, schließe einige Beobachtungen zur Verwendung der Volkssemantik im Jahr 1989 an und befasse mich dann mit der Erinnerung an und dem Kampf um die Deutungshoheit über das Volk im vereinten Deutschland nach 1989.
I.
Volk als ›Geschichtlicher Grundbegriff‹ der politischen Sprache des 19. und 20. Jahrhunderts
Wer ist das Volk? Was ist ein Volk? Eigentlich sind diese Fragen falsch gestellt, da es ein Ding namens Volk weder gab noch gibt. Niemand kann das Volk oder ein Volk als ein Objekt studieren wie ein Haus, einen Gesetzestext oder die Einwohnerschaft eines Staates, die man anhand der Bevölkerungsstatistik beschreiben 7 Eric J. Hobsbawm / Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1984.
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kann. Volk ist ein Begriff der modernen politischen Sprache, mit dem kollektive Identitäten konstruiert werden, d. h. generalisierte Zugehörigkeitskonzepte, die an Menschen herangetragen werden, die diese für sich akzeptieren oder auch nicht und die zu anderen Zugehörigkeitskonzepten – Bürgerin, Arbeiterklasse, Jude, Europäer, Studentin, 68er, 89er usw. – in einem uneindeutigen, historisch wandelbaren Verhältnis stehen. Der Begriff Volk kann der Selbstbeschreibung von Kollektiven dienen, er kann aber auch zur Fremdbeschreibung genutzt werden. Wie die Nation, mit der der Begriff in einem engen diskurshistorischen Zusammenhang steht, lässt sich das Volk mit Benedict Anderson als eine »imagined community«, als eine erfundene Gemeinschaft, definieren und historisieren.8 Auf diese Weise lässt sich der Wandel des Volksbegriffs und seiner politischen Wirkmächtigkeit über die Zeit verfolgen und mit anderen historischen Prozessen wie der Nationalstaatsbildung oder dem Wandel politischer Herrschaftsordnungen in Verbindung bringen. Volk ist ein Deutungskonstrukt zur Herstellung kollektiver Identitäten, das zudem immer auch eine normative Komponente hat. Im Anschluss an Abi Warburg könnte die Rede vom Volk als eine hochwirksame »Pathosformel« der politischen Rede in der Moderne bezeichnet werden.9 Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war die am meisten verbreitete Vorstellung vom Volk die des einfachen Volkes. Volk waren die Angehörigen der unteren Stände und die außerständischen Gruppen, der Pöbel, das gemeine Volk, von dem der Adel, das gehobene Bürgertum und der Klerus zu unterscheiden war. Erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann sich diese Konnotation tiefgreifend zu ändern. Reinhart Koselleck hat die Hauptrichtungen dieses Wandels in seiner Studie zur Begriffsgeschichte von Volk und Nation beschrieben und dabei von der Demokratisierung, Politisierung, Ideologisierung und Verzeitlichung des Volksbegriffs gesprochen.10 Mit »Demokratisierung« meinte er, dass der Begriff Volk langfristig seinen partikularen, auf eine ständische Teilgruppe der Bevölkerung eingegrenzten Bedeutungskern verlor und tendenziell die Angehörigen des gesamten Staatsvolkes erfasste. Er wurde zu einem integrierenden Oberbegriff, der alle Stände und Klassen, Regierte wie Regierende einschließen sollte, zumindest dem Anspruch nach. »Wir sind ein Volk, von Einem Namen und Sprache« schrieb Friedrich Carl v. Moser schon 1766.11 In den deutschen Staaten haben dabei seit Herder die Vor8 Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origins and Spread of Na-
tionalism, London, 2. Aufl., 1991. 9 Vgl. Martin Sabrow, Pathosformeln des 20. Jahrhunderts. Kommentar zu Christian Geulen, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Onlineausgabe 7 (2010) 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1–2010/id=4666 [22.06.2016]. 10 Reinhart Koselleck u. a., Art.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Otto Brunner / Werner Conze /ders. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7 (Studienausgabe), Stuttgart 2004, S. 141–431. 11 Friedrich Carl v. Moser, Von dem deutschen Nationalgeist (1766) [ND: Selb 1976], S. 5; zitiert nach Koselleck, Volk, S. 151.
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stellung einer sprachlichen und kulturellen Konstituierung des deutschen Volkes und die Gleichsetzung von Volk und Nation eine wichtige Rolle gespielt. Das zum eigentlichen Kulturträger überhöhte Volk stand im Fokus der Vorstellungen von der deutschen Nation. Die »Politisierung« des Volksbegriffs bezog ihren Schub aus der grundlegenden Infragestellung der traditionellen Formen und Legitimationsweisen politischer Herrschaft durch die amerikanische und französische Revolution. Das als Träger der Nation gedachte Volk wurde immer mehr zum Bezugspunkt politischer Legitimitätsvorstellungen. Am meisten ausgeprägt war dies in republikanisch-demokratischen Konzepten der Souveränität, die das Volk zur alleinigen Legitimationsquelle politischer Herrschaft machten und damit dynastisch und religiös legitimierter monarchischer Herrschaft die Legitimität bestritten. Aber auch konstitutionell-monarchische Verfassungskonzepte kamen nicht mehr ohne Bezug auf das Volk aus und spätestens im 20. Jahrhundert, nach Ende des Ersten Weltkrieges, wurde Volk zum »unentrinnbaren Legitimationstitel allen politischen Handelns«.12 Dies öffnete den Weg zur »Ideologisierung« des Volksbegriffs, wenn man darunter versteht, dass die Vorstellung vom Volk in übergreifende Denk- und politische Ordnungsmodelle integriert wurde. Eine solche Ideologisierung kann man schon in der romantischen Überhöhung des Volkes als Quell der Nationalkultur sehen. Mit der erfolgreichen Etablierung des Volkes als primäre Referenzgröße politischer Legitimitätsvorstellungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte seine Ideologisierung im Kontext der unterschiedlichen politischen Lager ein. Alle Parteien beriefen sich darauf, dessen wahre Interessen zu vertreten und der Begriff stieg zu einem der beliebtesten Bestimmungsworte der politischen Sprache auf: Von der Volksbücherei über die Volksküche, das Volksbad, das Volkssparen zur Volkspartei etc. Während die Demokratisierung des Volksbegriffs also eher auf die Konstruktion einer übergreifenden kollektiven Identität ausgelegt war, wirkten Politisierung und Ideologisierung eher differenzierend oder desintegrierend, freilich ohne die Vorstellung aufzugeben, mit den jeweiligen partikularen Gruppen das wahre Volk identifiziert zu haben. Schließlich machte der Volksbegriff – so Koselleck – seit dem späten 18. Jahrhundert einen Prozess der »Verzeitlichung« durch und gewann den Charakter eines in die Zukunft gerichteten Erwartungsbegriffs, der auf eine kommende und erstrebte Ordnung verwies: Die Deutschen sollten eine Nation und ein einiges Volk werden, oder – anderes gewendet – das Volk solle zur Herrschaft kommen und eine gerechte Ordnung errichten. Das Schlagwort vom Völkerfrühling aus dem frühen 19. Jahrhundert brachte diese dynamische Zukunftsorientierung ebenso zum Ausdruck wie die nationalsozialistische Propagandaformel vom Volk im Werden. Auch der 89er-Slogan Wir sind ein Volk war ein solcher Erwartungsbegriff. 12 Koselleck, Volk, S. 394.
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Im Ergebnis etablierte sich das Volk als ein Leitbegriff der politischen Sprache des 20. Jahrhundert, bei dem vier Bedeutungsstränge teils konkurrierten, teils konvergierten: Zum einen ein nationaler Volksbegriff, der auf die Vorstellung vom deutschen Volk als einer sprachlich-kulturell definierten Gemeinschaft zurückging. Diese Vorstellung verband sich vielfach mit dem Konzept des Volkes als einer Abstammungsgemeinschaft, die auch im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht eine wichtige Rolle spielte.13 Ab dem späten 18. Jahrhundert durchzog diese Volksvorstellung die Debatten, die sich um die Überwindung der politischen Zersplitterung der deutschen Staatenwelt drehten, und grundierte die nationale Bewegung seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Davon ist ein politischer, auf den Staat bezogener Volksbegriff zu unterscheiden, der sich aus dem Konzept der Volkssouveränität ableitete. Das souveräne Staatsvolk galt danach als die letztinstanzliche Legitimationsquelle politischer Herrschaft, wie es die Weimarer Reichsverfassung 1919 in ihrem Artikel 1 festschrieb: »(1) Das Deutsche Reich ist eine Republik. (2) Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.« Im Grundgesetz der Bundesrepublik und der 1949er Verfassung der DDR finden bzw. fanden sich ähnliche Legitimationsformeln.14 Die politische Linken, zunächst die Sozialdemokratie, nach 1919 insbesondere die KPD, verband den Volksbegriff mit dem Konzept des Klassenkampfes und gab dem Volk damit eine sozial exklusive Tönung, die z.T. an die ältere Bedeutungsschicht vom gemeinen Volk anschloss. Als wahres Volk galten die unteren Schichten, die Arbeiterklasse, die ausgebeuteten Volksmassen, deren historische Mission unter Führung der kommunistischen Partei die Überwindung der kapitalistischen Klassenherrschaft war. Dieser geschichtsphilosophisch aufgeladene Volksbegriff war letztlich darauf angelegt, alle gesellschaftlichen Gruppen aus dem Volk auszuschließen, die nicht »objektiv« dem »Fortschritt« dienten. In diesem Sinne definierte das SED-offiziöse »Philosophische Wörterbuch«: »Volk im politisch-soziologischen Sinne ist eine historische Kategorie. Sie umfasst alle jene Klassen und sozialen Schichten der Gesellschaft, die daran interessiert und objektiv dazu fähig sind, den gesellschaftlichen Fortschritt zu verwirklichen. Die anderen Klassen oder Schichten oder Teile von diesen, deren Interessen gegen den historischen Fortschritt gerichtet sind, gehören in diesem Sinne nicht zum Volk, sondern zur Kategorie der Volksfeinde.«15 Auf der extremen Rechten kam es dagegen zur rassistischen Essentialisierung des Volksbegriffs, der nach 1933 ein Kernideologem des NS-Regimes war. 13 Rogers Brubaker, Citizenship and nationhood in France and Germany, 6. Aufl., Cambridge
2002; kritisch dazu: Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001. 14 Art. 1 (2) Weimarer Reichsverfassung; Art. 20 (2) Grundgesetz; Art. 3 (1) Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7.10.1949. 15 Art. Volk, in: Georg Klaus / Manfred Buhr (Hg.), Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 11. Aufl., Leipzig 1964, S. 1269.
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Dies begann in den 1890ern mit der Ausbreitung rassistischer, antisemitischer Vorstellungen in völkischen Kreisen, die dem deutschen Volk Besonderheiten wie eine spezifische Führer-Gefolgschafts-Hierarchie und eine ›blutmäßige‹ Abstammungsqualität zuschrieben, die z. B. Juden radikal aus dem deutschen Volk ausschloss. Die rassistische Exklusion ging mit der Vision einer homogenisierten Volksgemeinschaft einher, deren Suggestionskraft gerade darin lag, die vom sozial exklusiven Volksbegriff der radikalen Linken beschworene Klassenspaltung zu überwinden. Der ›Andere‹, der auszuschließende Volksfremde, wurde rassistisch identifiziert, war aber auch Gegenstand aller möglichen Verschwörungstheorien, die dunkle volksfeindliche Mächte imaginierten: von den ›Wallstreet-Juden‹ bis zu den ›Asphaltliteraten‹ der Weimarer Republik und den ›Volksverrätern‹ der ›Systemparteien‹. Trotz dieser auseinanderlaufenden Konnotationen zeigten die unterschiedlichen Volksbegriffe allerdings weiterhin signifikante Gemeinsamkeiten: Bemerkenswert ist erstens ihre durchweg affirmative Aufladung. Wer vom Volk redete, meinte dies positiv. Nur noch selten griffen politische Sprecher im 20. Jahrhundert auf die abwertende Konnotation im Sinne von Pöbel oder gemeinem Volk oder Mob zurück, die im 19. Jahrhundert durchaus noch präsent war. Zweitens ist die im Volksbegriff angelegte Spannung zwischen Inklusion und Exklusion hervorzuheben. Wer vom Volk redet, spricht implizit oder explizit immer auch von denen, die der gedachten Gemeinschaft nicht angehören. Die Unterscheidung zwischen Wir und Ihr ist im Volksbegriff angelegt, auch wenn die Zugehörigkeitskriterien und die Semantik der Ab- und Ausgrenzung wechseln, je nachdem, ob soziale (unten vs. oben), nationale (Deutsche vs. Nicht-Deutsche), politische (Volk vs. Obrigkeit), rechtliche (Volk im Sinne von Staatsangehörigen vs. Ausländer) oder rassistische (das biologisch verstandene Volk vs. andere ›Rassen‹) Ein- und Ausschlusskriterien mit dem Volksbegriff verbunden werden. Mit dieser Inklusions-Exklusions-Struktur hängen drittens Loyalitätserwartungen zusammen. Wer dem Volk zugerechnet wird, sieht sich politisch-moralischen Verhaltenszumutungen ausgesetzt, denen er oder sie sich nicht ohne weiteres entziehen kann. Hierauf beruhen aggressive Exklusionsbegriffe wie die des Volksfeindes, des Volkbetrügers oder des Volksverräters, die sowohl von oben nach unten als auch umgekehrt von unten nach oben adressiert werden können und jene bezeichnen, die diesen Loyalitätserwartungen angeblich nicht entsprechen. Zusammengenommen – vierter Punkt – machten diese Eigenschaften den Volksbegriff im 19. und 20. Jahrhundert zu einem sehr machtvollen, aber politisch polyvalenten Identifikationskonzept. Seine Integrationskraft beruhte gerade in Konflikt- und Krisenzeiten darauf, dass es partikulare Zugehörigkeitsvorstellungen (z. B. nach sozialer Klasse, Region, Konfession oder Generation) zu überwölben beanspruchte, dass es inhaltlich vage und damit offen für alle möglichen Projektionen blieb und dass es mit starken emotionalen und moralischen Gehalten und Symbolen aufladbar war.
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Hier ist nicht die Gelegenheit, um die Rolle der Volkssemantik in der politischen Sprache beider deutscher Staaten im Detail zu verfolgen. Nur so viel: Nach 1949 griffen Ost und West auf den national konnotierten Volksbegriff und das politische Konzept der Volkssouveränität zurück. Beide Staatsgründungsprojekte traten mit dem konkurrierenden Anspruch auf, authentischer Ausdruck des Volkswillens zu sein. Vor allem die politische Sprache der frühen DDR wurde in den 1950er Jahren mit Volksbezügen geradezu überschwemmt: Volkskammer, Volksarmee, Volkspolizei, Volkssolidarität und Dutzende weitere Komposita wurden erfunden oder reaktiviert.16 Dahinter stand der Versuch, zur Legitimation der SED-Diktatur das emotionale Bindungspotential der ethnisch-national konnotierten Volksgemeinschaft heranzuziehen, die wie bei einem Palimpsest unter der klassenkämpferischen Rhetorik lag. Auch in der Bundesrepublik spielte die Volkssemantik in den 1950er Jahren noch eine erhebliche Rolle, rückte aber seit den 1960er Jahren immer weiter in den Hintergrund. Eine mit der politischen Terminologie der DDR vergleichbare Fülle an Volkskomposita war ohnehin nicht zu finden. Insgesamt kann man konstatieren, dass das Volk in der Bundesrepublik seine Schlüsselrolle bei der Konstruktion kollektiver Identitäten seit den 1960er Jahren parallel zum sukzessiven Bedeutungsverlust der Nation zum Gutteil eingebüßt hat. Als Honecker im Zusammenhang mit der Zwei-Nationen-Theorie das Volk der DDR entdeckte, kam niemand im Westen auf die Idee, ein Volk der Bundesrepublik auszurufen,17 – aber auch vom deutschen Volk war nicht mehr oft die Rede. Zeitweise hat im Westen der Gesellschaftsbegriff eine ähnliche Rolle wie früher der Volksbegriff gespielt, seit den 1980er Jahren auch in der Wendung von der Zivilgesellschaft, ohne dessen Integrations- und Emotionalisierungskraft auch nur annähernd zu erreichen.18
II. Die Volkssemantik im Jahr 1989 Die Nutzung der Volkssemantik im Herbst 1989 wird meist in einem Zweiphasenmodell beschrieben: Zunächst etablierte sich der plebiszitäre Massenruf Wir sind das Volk als Leitmotiv der Demonstrationsbewegung, dann wurde er durch die nationale Formel Wir sind ein Volk abgelöst, die den Weg zur staatlichen Ein16 Vgl. Herbert Bartholmes, Das Wort »Volk« im Sprachgebrauch der SED. Wortgeschichtli-
che Beiträge zur Verwendung des Wortes »Volk« als Bestimmungswort und als Genitivattribut, Düsseldorf 1964. 17 Gerhard Naumann / Eckhard Trümpler, Der Flop mit der DDR-Nation 1971. Zwischen Abschied von der Idee der Konföderation und Illusion von der Herausbildung einer sozialistischen deutschen Nation, Berlin 1991. 18 Vgl. Gabriele Metzler, Demokratisierung durch Experten? Aspekte politischer Planung in der Bundesrepublik, in: Heinz-Gerhard Haupt / Jörg Requate (Hg.), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, ČSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 267–287.
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heit ebnete. Die Vorstellung, dass sich beide Parolen quasi nahtlos ablösten, ist freilich mehr ein Ergebnis der nachträglichen Erinnerungspolitik und der Fokussierung auf die deutsche Einheit als eine angemessene Beschreibung der Ereignisse von 1989. Am Anfang der neuen Protestsemantik stand nicht das Volk, sondern das Wir: »Wir wollen raus«, »Wir bleiben hier«, »Wir sind keine Rowdys« – dies waren die Parolen der Leipziger Demonstrationsbewegung im September 1989, mit denen sich die Entstehung eines neuen kollektiven Selbstbewusstseins ankündigte, das sich in Abgrenzung zur Staatsmacht definierte.19 Mit Wir sind das Volk wurde dann ab dem 2. Oktober 1989 die Formel gefunden, die diese Abgrenzungssemantik (Wir vs. Ihr) mit dem starken Identifikationsbegriff des Volkes verband. In der face-to-face-Öffentlichkeit des Straßenprotestes konstituierten sich Zusammengehörigkeitsbewusstsein und politische Programmatik zugleich. Das lässt sich an der Evolution der Parolen gut verfolgen: »Wir wollen raus« artikulierte die Einzelforderung nach Reisefreiheit; »Wir bleiben hier« implizierte eine weitreichende Programmaussage, nämlich den Anspruch zu bleiben und die Verhältnisse zu ändern; Wir sind das Volk definierte eine kollektive Protestidentität und lieferte mit der Anrufung der Volkssouveränität eine Fundamentallegitimation des Protests. Zu Recht gelten die vier Worte als die zentrale Selbstermächtigungsformel der Herbstbewegung, die zugleich dem SED-Regime seine Legitimität grundsätzlich bestritt. Die Genese der national konnotierten Formel Wir sind ein Volk war bekanntlich komplizierter. Erstmals nachweisen kann man sie auf einem Flugblatt, das während der legendären Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 verteilt wurde, als das SED-Regime vor der angedrohten ›chinesischen Lösung‹ des Konflikts zurückschreckte und den definitiven Verfall seiner Autorität besiegelte. Es enthielt einen von lokalen Oppositionsgruppen unterzeichneten Appell zur Gewaltfreiheit, der sich an die Demonstranten und die Staatsmacht zugleich richtete.20 Das Kollektiv, an dessen Einigkeit hier appelliert wurde, war das Volk der DDR. Das Wir, das beschworen wurde, waren alle DDR-Bürger, gleich ob Demonstranten, Polizisten oder Repräsentanten des SED-Regimes, die gewaltlos miteinander umgehen sollten. Bezeichnenderweise fand diese integrative, ›DDRnationale‹ Wendung keine Resonanz im weiteren Demonstrationsgeschehen. Es bleibt also dabei, dass der Satz Wir sind ein Volk erst nach der Maueröffnung am 9. November erfunden wurde und sich in der Sprache der politischen Öffentlichkeit etablierte. Allerdings wurde er kaum im Sprechchor auf der Straße genutzt (dagegen stand schon die Schwierigkeit, das Wort ein als Zahlwort statt 19 Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008, S.
114. 20 »Wir sind ein Volk! Gewalt unter uns hinterläßt ewig blutende Wunden!« hieß es in dem von drei lokalen Bürgerrechtsgruppen unterzeichneten »Appell«, der am 9. Oktober 1989 in Leipzig verteilt wurde. Faksimile in: http://www.jugendopposition.de/index.php?id=1832 [24.8.2016].
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als unbestimmten Artikel zu skandieren), sondern eher als geschriebener und massenmedial verbreiteter Text. Der Medienübergang ist signifikant: Er zeigt die Verschiebung vom horizontalen performativen Kontext der Straße mit ihrer faceto-face Kommunikation zu einer medial gestützten, eher vertikalen Massenkommunikation, in der wenige Sprecher eine starke Rolle spielen können. Und diese starken Sprecher, die die Formel Wir sind ein Volk lancierten und verbreiteten, kamen aus der Bundesrepublik. Am 11. November, zwei Tage nach dem Mauerfall, schrieb die Bild-Zeitung: »,Wir sind das Volk‹ rufen sie heute – ›Wir sind ein Volk‹ rufen sie morgen!«21 Der Satz vom einen Volk wurde in den folgenden Tagen von der CDU-Bundesgeschäftsstelle in Bonn aufgenommen und über Aufkleber und Plakate auch in der DDR verbreitet. Trotz dieses Aufwands hat der Satz als Demonstrationsparole im Dezember 1989 keine zentrale Rolle gespielt – zur populären Chiffre der nationalen Wende in der Revolution wurde eher die Zeile aus der ungesungenen DDR-Hymne: »Deutschland, einig Vaterland«. Seit Ende Oktober 1989 erschien der Volksbegriff immer häufiger auf den Transparenten der Montagsdemonstranten.22 Hier kann man genauer verfolgen, welcher Sinn ihm zugewiesen wurde und wie sich diese Bedeutungszuweisungen verschoben. Bis Anfang Dezember dominierte die Konnotation der Volkssouveränität, die gegen die diktatorische Obrigkeit zur Geltung gebracht wurde: Wendungen wie »Volkes Wille«, »das Volk ist die Macht«, »freies Volk«, »Volksentscheid«, »Volksvernunft« oder »Kraft des Volkes« zeigen dies an. Am 13. November kam die nationale Dimension hinzu, als ein »Volksentscheid zur Wiedervereinigung« gefordert wurde – charakteristischerweise stand aber auch hier noch das Motiv der Volkssouveränität an erster Stelle. Das nationale Volk tauchte auf einem Transparent am 20. November auf (»Ein deutsches Volk, ein Vaterland«) und das eine Volk zuerst am 4. Dezember und dann auf mehreren Transparenten am 11. Dezember. Jetzt hatte die nationale Konnotation das antidiktatorische Motiv auf den Transparenten auch quantitativ verdrängt. Vor diesem Umschwung von der antidiktatorischen zur nationalen Konnotation des Volkes gab es Anfang Dezember eine kurze, aber wichtige Zwischenphase, in der der Volksbegriff in einer dritten Bedeutung genutzt wurde: Jetzt betrat das Volk als das betrogene Volk die Bühne. Am 4. Dezember 1989 klagte eine Flut von Transparenten die Herrschenden in aggressiver, moralisierender Sprache als »Volksbetrüger« an, als »Parasiten« und »Verräter«, die »das Volk verachtet« hätten. Hintergrund dieser Wendung waren der vollständige Autoritäts21 Herbert Kremp, »Wir sind das Volk«, rufen sie heute / »Wir sind ein Volk«, rufen sie mor-
gen, in: Bild-Zeitung vom 11.11.1989; Vanessa Fischer, »Wir sind ein Volk«. Die Geschichte eines deutschen Rufes, in: Deutschlandradio, Länderreport vom 29.9.2005, http://www.dradio. de/dkultur/sendungen/laenderreport/421153/ [17.06.2016]. 22 Vgl. zum Folgenden die umfangreiche, chronologisch geordnete Sammlung der Texte von Sprechchören und Transparenten, die während der Leipziger Montagsdemonstrationen genutzt wurden: Wolfgang Schneider, Leipziger Demontagebuch, Leipzig 1990. Vgl. auch die Sammlung bei Bernd Lindner, Die demokratische Revolution in der 1989/90, Bonn 1998.
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verfall der SED-Führung nach der Maueröffnung und vor allem die zahlreichen Gerüchte über Machtmissbrauch und Privilegien der alten Nomenklatura: Am 1. Dezember hatte der Volkskammer der erste Bericht eines Untersuchungsausschusses vorgelegen, der über die pseudofeudale Jagdleidenschaft der Parteielite, ihre luxuriösen Häuser und die privilegierte Versorgung mit Westwaren informierte.23 Zahlreiche Verschwörungstheorien machten die Runde. In der Formel vom »betrogenen« und »verachteten« Volk, in der Rede von »Schmarotzern«, »Parasiten« und »Verrätern« blitzte die moralische Essentialisierung des guten und wahren Volkes auf, das von dunklen Mächten missbraucht und hintergangen wurde.24 Diese Welle der Empörung war jener Moment des Herbstes 1989, in dem die Semantik unverhüllt auf die essentialistische, exkludierende Aufladung des Volkes zurückgriff, die von der radikalen Rechten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf unterschiedliche Weise bis zum Exzess propagiert worden war. Dabei spielte die moralisierende Skandalisierung des ›Betrugs‹ und des ›Verrats der da oben‹ für die Selbststilisierung des Volkes zum Opferkollektiv eine wichtige Rolle. Je verworfener, verkommener und verlogener die herrschende, aus dem Volk auszuschließende Elite war, desto eher konnten man sich als betrogenes und damit unschuldiges und unverantwortliches Opfer imaginieren – auch die über zwei Millionen SED-Mitglieder. Im Herbst und Winter 1989 wurde die auf Ausschluss, Rache und Feinderklärung setzende Dynamik des exklusiv-moralisierenden Volksbegriffs vor allem dadurch aufgefangen, dass sich kurz darauf der moderat nationale, auf staatliche Einheit fokussierte Erwartungsbegriff vom einen Volk durchsetzte. Damit war allerdings die andere Bedeutungsebene des Volkes nicht aus der Welt geschafft, sondern eher überdeckt worden. In der »Vereinigungskrise«25 der 1990er Jahre wurde sie vor allem im ostdeutschen Rechtsradikalismus wieder sichtbar, später in den ›Hartz IV‹-Protesten von 2004 und seit 2014 in der ›Pegida‹-Bewegung. Als Zwischenbefund lässt sich festhalten, dass in der Bewegung des Herbstes 1989 alle Sinnebenen präsent waren, mit denen der Volksbegriff in der neueren deutschen Geschichte aufgeladen worden war, dass dabei aber eine klare Gewichtung festzustellen ist: Im Vordergrund stand die Idee des souveränen Staatsvolkes, die letztlich auf die europäische Aufklärung und die Verfassungsrevolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts zurückging. Diese wurde seit Ende November, Anfang Dezember 1989 durch die nationale Konnotation des einen Volkes, die auf staatliche Vereinigung setzte, weniger abgelöst als vielmehr ergänzt: Die relativ häufig zu hörende Forderung nach einem Volksentscheid über die Wiedervereinigung 23 Martin Sabrow, Die Wiedergeburt des klassischen Skandals: Öffentliche Empörung in der
späten DDR, in: ders. (Hg.), Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004, S. 231–266; Volker Klemm, Korruption und Amtsmißbrauch in der DDR, Stuttgart 1991. 24 Vgl. die Parolen der Sprechchöre und Transparente der Leipziger Montagsdemonstration vom 4.12.1989 in Schneider, Demontagebuch, S. 140–141. 25 Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995.
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verband beide Ebenen. Der ›Run‹ auf die staatliche Einheit trug schließlich auch dazu bei, dass die exklusiv-essentialistische Konnotation des Volkes, die in der moralischen Panik Ende November, Anfang Dezember fassbar wurde, zunächst nur eine geringe Rolle spielte. 26
III. Die Erinnerung an das Volk von 1989 Das Volk von 1989 ist Geschichte. Aber es ist eine umstrittene Geschichte. So, wie im Volksbegriff verschiedene Bedeutungen stecken, und so, wie die Anrufung des Volkes im Herbst 1989 widersprüchlich und mehrschichtig war, so unterschiedlich waren und sind die Erzählungen und Bilder vom revolutionären Volk, die die Erinnerungskultur der 1990er und 2000er Jahre prägten. Drei Erzählstränge sind zu unterscheiden: Erstens die Erinnerung der beteiligten Akteure, zweitens geschichtspolitische Narrative und drittens die Aneignung der Geschichte des Volkes von 1989 im populären und populistischen Protest. Eine erste Schicht der Erinnerung liegt auf der Ebene des »kommunikativen Gedächtnisses« der Zeitgenossen – um einen Begriff von Aleida Assmann aufzunehmen. Unter den vielfältigen Erinnerungen an den Herbst 1989 sind hier zwei wichtige Varianten zu unterscheiden. Zahlreiche ehemalige Teilnehmer der Herbstdemonstrationen vom September und Oktober 1989 erinnern sich an emotional hoch aufgeladene Befreiungserlebnisse. »Ich richte mich immer wieder an meinen eigenen Erinnerungen an die Montagsdemos auf«, berichtete 1991 rückschauend eine Teilnehmerin. »Für mich persönlich war der größte Moment der, als ich ganz allein, ganz für mich durch die Menge gelaufen bin und erst leise und dann immer lauter gerufen habe: ›Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!‹ Ich weiß noch, das war in der Nähe vom Bahnhof. Ich habe Polizei gesehen, aber keine Angst gehabt. Ich habe mich stark gefühlt und die Arme hochgerissen und mir die Seele aus dem Leib geschrien.«27 Die Volksparole wird in dieser Erzählung zur Chiffre individuellen Selbstbewusstseins im Kontext einer kollektiven Selbstermächtigung und gleichzeitig zum Symbol einer körperlich ausagierten Grenzüberschreitung: Der Lauf in der Menge, die Überwindung der Angst, erst das leise Rufen, dann das enthemmte Schreien: Die Anrufung des Volkes als Katalysator einer existenziellen Durchbruchserfahrung. Eine andere Erinnerungsgeschichte erzählen jene ostdeutschen Intellektuellen, die darauf gesetzt hatten, dass das souveräne Volk eine neue, gute DDR errichten werde, und die die nationale Wende im November 1989 mit Unver26 Karsten Timmer zieht in seiner Studie Parallelen zur »grande peur« in der französischen
Revolution. Karsten Timmer, Vom Aufbruch zum Umbruch: die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000, S. 314–324. 27 Bernd Lindner / Ralph Grüneberger (Hg.), Demonteure. Biographien des Leipziger Herbst, Bielefeld 1992, S. 51. Vgl. auch Jessen, Montagsdemonstrationen, S. 467 f.
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ständnis und z.T. Verachtung kommentierten. Stefan Heym, einer der prominenten Redner der Berliner Kundgebung vom 4. November 1989, hatte zwei Tage später im Magazin Der Spiegel gejubelt: »Hurra für den Pöbel« und die ostdeutschen Demonstranten mit den Revolutionären von 1789 und 1848 verglichen.28 Schon im Dezember hat er dann den Zug zur Einheit abschätzig kommentiert und 2000 meinte er in einem taz-Interview auf die Frage, warum der ›Dritte Weg‹ 1989 gescheitert sei: »Er ist gescheitert, weil die psychologische Kriegsführung des Westens die Losung ›Wir sind das Volk‹ umkehrte in ›Wir sind ein Volk‹. Das war gesteuert. Ebenso wie gesteuert war, dass es plötzlich diesen Überfluss an schwarzrotgoldenen Fahnen gab. … Zu viel ist aus dem Westen an Slogans, falschen Anschauungen, falschen Leitartikeln den Menschen aufgeprägt worden, als dass sie korrekt nachdenken und selber feststellen könnten, wie das da war mit dieser DDR und woran es gelegen hat, dass alles so kam, wie es kam.«29 – Aus der intellektuellen Begeisterung über das unerwartet revolutionäre Volk war die Enttäuschung über das manipulierbare Volk und sein ›falsches Bewusstsein‹ geworden, die sich nicht nur bei dem schillernden Stefan Heym, sondern auch in Teilen der ehemaligen Bürgerbewegung zu einer Erzählung von der verratenen und verlorenen Revolution verdichtete.30 Neben einer fulminanten Überschätzung der eigenen Rolle sind hier kräftige Spuren eines teleologischen Geschichtsverständnisses zu finden, wonach das Volk doch bitte sehr seine historische Mission zu erfüllen habe. Von den Erinnerungserzählungen der Zeitgenossen sind die sinnstiftenden Inszenierungen und Narrative von Massenmedien und Politik zu unterscheiden. Auch hier ist es nicht möglich, im Einzelnen zu rekonstruieren, wie die staatliche Geschichtspolitik den Umbruch von 1989 in das nationale Geschichtsnarrativ eingeschrieben hat. Es können nur drei charakteristische Phänomene angesprochen werden. Zunächst lässt sich konstatieren, dass die politische Geschichtserzählung den antidiktatorischen Volksprotest meist stromlinienförmig auf die nationale Einheit zulaufen lässt. Das ist auch an der eingangs zitierten Inschrift beim Freiligrath-Denkmal zu sehen: »Wir sind das Volk … wurde 1989 zum Volksruf in der DDR, der zur Wiedervereinigung führte«. Den Grundtenor gab schon der Bundespräsident bei einer Rede am 7. Oktober 1990 vor: »Mit seiner ersten öffentlichen Rede in der früheren DDR hat … Richard von Weizsäcker … in Leipzig die Rolle der Friedens- und Bürgerrechts-Bewegung im Osten Deutschlands für die Wiederherstellung der deutschen Einheit gewürdigt.«31 Die antidiktatorische, demokratische Volksbewegung wird anerkannt, der Fluchtpunkt der Erzählung ist
28 Stefan Heym, Hurra für den Pöbel, in: Der Spiegel 45 vom 6.11.1989, S. 30–31. 29 Interview mit Stefan Heym, in: die tageszeitung vom 18.3.2000. 30 Vgl. die Artikel im Band von Bernd Gehrke / Wolfgang Rüddenklau (Hg.), »… das war doch
nicht unsere Alternative«. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Münster 1999. 31 Weizsäcker in Leipziger Nikolai-Kirche. Bundespräsident kam am 41. Jahrestag der Gründung der DDR, in: Westfälische Rundschau vom 8.10.1990.
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aber die Einheit der Nation. Und erst diese Erinnerungspolitik hat die Wendung von dem einen Volk zur kanonischen Formel gemacht. Das lässt sich an Politikerreden studieren, oder auch an der Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin, über dessen Leiterzählung ein Kritiker vor einiger Zeit notierte: »Von der Varusschlacht bis zur Wiedervereinigung bietet sie trotz der Fülle an Objekten eine letztlich auf einen Punkt … hinauslaufende … Erzählung. … Der Parcours durch zwei Jahrtausende endet mit einem klaren Statement: ›Wir sind ein Volk!‹«32 Zweitens zeigt sich, dass die Fokussierung der offiziellen Erinnerung auf das eine Volk zwar das nationale Leitmotiv der staatlichen Einheit aufnahm, zugleich aber auch die Möglichkeit zu einer Rhetorik der Anerkennung und der Inklusion eröffnete. Erster Adressant dieser Inklusionsrhetorik waren in den 1990er Jahren und danach natürlich die Ostdeutschen, deren friedliche Revolution als fundamentaler Beitrag zur deutschen Demokratietradition gewürdigt wurde. Den Ostdeutschen insgesamt sei keine Verantwortung für das in der DDR geschehene Unrecht aufzubürden, stellte Bundespräsident Roman Herzog 1998 fest, denn »die DDR heute als Unrechtsstaat zu bezeichnen, heißt nicht, ihre Bevölkerung in Mithaftung zu nehmen. Im Gegenteil: Sie war das Opfer.«33 Hier wird in abgemilderter Form die populistische Unterscheidung zwischen dem Volk als Opferkollektiv und der aus dem Volk ausgeschlossenen Täterelite aufgegriffen, die auch im Herbstprotest von 1989 bald latent, bald manifest präsent war. In einer bemerkenswerten Variante hat Bundespräsident Christian Wulff diese Anerkennungsrhetorik in seiner Rede zum 3. Oktober 2010 aufgegriffen und erweitert, als er das eine Volk nicht nur als Inklusionsformel auf die Deutschen in der DDR bezog, sondern ausdrücklich auch auf die Einwanderer: »›Wir sind ein Volk!‹ Dieser Ruf der Einheit muss eine Einladung sein an alle, die hier leben. … Mit einem so verstandenen »wir« wird Zusammenhalt gelingen – zwischen denen, die erst seit kurzem hier leben, und denen, die schon so lange einheimisch sind, dass sie vergessen haben, dass vielleicht auch ihre Vorfahren von auswärts kamen. … Natürlich spielt es eine Rolle, woher einer kommt. Es wäre schade, wenn das nicht so wäre. Aber die entscheidende Botschaft dieses Appells lautet: Wir sind Deutschland! … Ja: Wir sind ein Volk.«34 Die nationale Volksrhetorik hat sich hier recht weit von der kulturellen und ethnischen Aufladung gelöst, die ihr lange anhaftete; 32 Manuela Bauche u. a., Versteckt und verharmlost – Kolonialgeschichte im Deutschen His-
torischen Museum Berlin, in: berlin-postkolonial, http://www.berlin-postkolonial.de/cms/index. php?option=com_content&view= article&id=29:unter-den-linden-2-dunter-den-linden-2-deutsches-historisches-museumeutsches-historisches-museum&catid=10:mitte [11.6.2014]. 33 »Wir sind nicht das Volk«. In der Heldenstadt Leipzig hielten die DDR-Oppositionellen durchaus selbstkritisch Rückschau, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.6.1998. 34 Christian Wulff, »Vielfalt schätzen – Zusammenhalt fördern«. Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 in Bremen, http:// www.bundespraesident.de/SharedDocs/ Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2010/10/20101003_ Rede.html [24.8.2016].
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die Erinnerung an das eine Volk von 1989/90 wurde zur Integrationsbotschaft in der Einwanderungsgesellschaft. Dritter Punkt: Das eingangs vorgestellte Freiligrath-Denkmal hat bereits anklingen lassen, dass die Volkssemantik Möglichkeiten zur Konstruktion langer historischer Kontinuitäten eröffnet. Die Hinweise auf Ferdinand Freiligrath oder auf Georg Büchner – in dessen Drama »Dantons Tod« von 1835 die Ambivalenz der Volksanrufung viel prägnanter zum Ausdruck kommt als in Freiligraths Freiheitspathos35 – sind Versuche historischer Sinnstiftung, die 1989 in eine zweihundertjährige Geschichte scheiternder, aber am Ende gelingender Anläufe zur Demokratie und staatlichen Einheit stellen. Der schon zitierte Roman Herzog hat dies in einer Rede von 1998 betont, als er die Massenbewegung von 1989 »wie die Revolution von 1848 zum Fundus demokratischer Traditionspflege« zählte.36 Seit 2009 gibt es auch im »Freiheitsmuseum« im Schloss Rastatt, das auf eine Anregung des Bundespräsidenten Gustav Heinemann zur Erinnerung an die 1848er Revolution zurückgeht, eine Abteilung: »Wir sind das Volk: Freiheitsbewegungen in der DDR 1949–1989.«37 Das Volk von 1989 wird hier zum sinnstiftenden Fluchtpunkt einer anderen, einer guten Geschichte der Deutschen. Und schließlich zu jener Form der Erinnerung an das Volk von 1989, die bei den meisten Beobachtern auf das größte Unbehagen stößt: der Wiederaufführung des Volkes im populistischen Protest. Wie die ›Montagsdemonstrationen‹ als Protestformat wurde auch der Leitbegriff der Herbstbewegung – Wir sind das Volk – seit den neunziger Jahren immer wieder von unterschiedlichen politischen Akteuren für eigene Zwecke genutzt. In mehreren Fällen führte dies zu heftigen geschichtspolitischen Debatten um die Legitimität und z.T. auch zu juristischen Auseinandersetzungen um die Legalität dieser Aneignungspraktiken. Im April 2002 wollten Neonazis in Leipzig unter dem Motto »Gegen Repression und linke Gewalt – für Demonstrationsfreiheit. Wir sind das Volk« demonstrieren. Dem Leipziger Oberbürgermeister gelang es zusammen mit einigen ehemaligen Herbstaktivisten zwar, die Parole markenrechtlich schützen zu lassen. Das städtische Ordnungsamt scheiterte allerdings vor dem Verwaltungsgericht mit dem Versuch, den Neonazis die Verwendung der Losung Wir sind das Volk mit dem Argument zu verbieten, diese »verletze das sittliche Empfinden der Leipziger Bevölkerung.«38 Da der Volksbegriff so deutungsoffen ist, lässt er sich mühelos in 35 »Wir sind das Volk, und wir wollen, daß kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo
im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!« Georg Büchner, Dantons Tod, 1835 [ND: Stuttgart 1995], Erster Akt, 2. Szene. 36 »Wir sind nicht das Volk«. In der Heldenstadt Leipzig hielten die DDR-Oppositionellen durchaus selbstkritisch Rückschau, in: Süddeutsche Zeitung vom 24.6.1998. 37 http://www.bundesarchiv.de/erinnerungsstaette/dauerausstellung/ [20.6.2016]. 38 »Wir sind das Volk«. Leipziger OB will das Motto der 89er-Revolution patentrechtlich schützen lassen, in: Die Welt vom 26.3.2002; Neonazi-Demonstration. Richter gestatten die Parole »Wir sind das Volk«, in: Frankfurter Rundschau vom 15.7.2003. Nach Auslaufen des Markenschutzes kam es 2013 zu einer Neuauflage dieses bizarren Streits, als sich eine obs-
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ganz gegensätzliche politische Kontexte integrieren. Das ist aus der Perspektive einer normativen Geschichtskulturpflege ein Dilemma, das freilich durch Tabuisierung und den zweifelhaften Rekurs auf die Sittlichkeit nicht aufzulösen ist. Als weniger anstößig galt ein Jahr später – 2003 – die Mobilisierung des Volksbegriffs von 1989 bei den Protesten gegen den Irakkrieg der USA. »Wir sind das Volk. Wir wollen keinen Krieg« stand auf den Transparenten, die bei den montäglichen Protestumzügen im Winter und Frühjahr 2003 durch Leipzig getragen wurden.39 Wie immer, wenn die Wir sind das Volk-Formel zitiert wurde, sollte plebiszitäre Legitimität des Protests suggeriert werden. Das Zitat wurde in diesem Falle als glaubwürdig angesehen, weil es um den Frieden und nicht um Neonazismus ging, aber auch, weil Christian Führer, Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche, den Umzügen mit seiner Person die nötige Authentizitätsaura verlieh, obwohl der Protest gegen den Irakkrieg mit dem Sturz der SED-Diktatur nicht das Geringste zu tun hatte. Deutlich größere Resonanz fand die Wiederaufführung des Volkes bei den ›Hartz-IV‹-Protesten im Jahr 2004. Von Magdeburg ausgehend erfasste der montägliche Protest Hunderte von Städten, mit klarem Schwerpunkt in den ostdeutschen Ländern. Allein in Leipzig sollen Ende August 2004 an die 60.000 Menschen marschiert sein. »Weg mit Hartz IV – Das Volk sind wir!« hieß jetzt der Slogan der spontanen Bewegung, die über Wochen die politische Diskussion in Atem hielt.40 Auch jetzt wurden scharfe Einwände erhoben: Politiker der Regierungsparteien und der CDU machten den Demonstranten zum Vorwurf, die »Botschaft von 1989« werde »instrumentalisiert«. Joachim Gauck nannte den Rekurs auf 1989 »töricht und geschichtsvergessen« und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement sah eine »Beleidigung der historischen Montagsdemonstrationen«.41 Und schließlich die ›Pegida‹-Bewegung: Hier mischten sich die Aneignung historischer Protestidentität (Wir sind das Volk) mit plebiszitärer Rhetorik (Forderung nach Volksentscheiden über Einwanderungspolitik), einem ethnisch-religiös begründeten, exklusiven Volksverständnis und einer aggressiv-populistischen Rhetorik des ›Volksbetrugs‹ und ›Volksverrats‹. »Dass Pegida … die Freiheitsparole der Friedlichen Revolution benutzt, ist unerträglich,« konstatierte kure rechtsradikale Gruppe ihrerseits – erfolglos – die Markenrechte auf die Losung sichern wollte. Patentstreit. Rechte verlieren Markenrecht an »Wir sind das Volk«, in: Die Welt vom 27.11.2013; Michael Bartsch, Wem gehört die Revolution? Die Stadt Leipzig streitet sich mit Rechtspopulisten um die Wortmarke »Wir sind das Volk«, in: die tageszeitung vom 14.10.2013. 39 Andrea Hentschel, »Wir sind das Volk. Wir wollen keinen Krieg«, in: Generalanzeiger vom 2.4.2003. 40 Jessen, Montagsdemonstrationen, S. 470. 41 Ostdeutsche Politiker kritisieren Montagsdemos gegen Hartz IV, in: Agence-France-PresseMeldung vom 15.8.2004; Birgitt Poetzsch, Immer wieder montags: Sehnsucht nach Freiheit, Angst vor Armut: Um den Begriff »Montagsdemonstrationen« ist ein heftiger Streit entbrannt, in: Bonner General-Anzeiger vom 10.8.2004; Weiter Streit um »Montagsdemonstrationen«. Gauck nennt Begriff »töricht und geschichtsvergessen«, in: Associated Press Worldstream – German vom 9.8.2004. Hierzu auch Jessen, Montagsdemonstrationen, S. 470.
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die Geschichtsredaktion der ZEIT am 18. Dezember 2014 und fragte empört: »Bürgerrechtler, warum schweigt Ihr?«42 – Deren Antwort in der tageszeitung ist einleitend schon zitiert worden. Leider fiel sie wenig überzeugend aus. Nicht nur wegen der ahistorischen Selbstgerechtigkeit, mit der die ›Neunundachtziger‹ ›Pegida‹ vorhielten, es gäbe heute keinen Grund zum Protest, wenn man sich nur damals für ihren antikapitalistischen ›Dritten Weg‹ entschieden hätte.43 Nicht nur, weil ihr Pamphlet auf irritierende Weise an die berüchtigte Publikumsbeschimpfung erinnert, mit der der SED-Poet Kurt Barthel, genannt Kuba, Ende Juni 1953 die Aufständischen dazu aufgefordert hatte, sich gefälligst für den »schändlichen Mittwoch« des 17. Juni zu schämen.44 Wenig überzeugend ist die Antwort auch und vor allem, weil sie am Geschichtsmythos von 1989 strickt, statt die Widersprüchlichkeit der Volksanrufung in der ostdeutschen Revolution nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, die eben nicht nur Freiheit, Toleranz und Weltoffenheit meinte. Oben war schon die Leipziger Montagsdemonstrantin von 1989 zitiert worden, die so eindrucksvoll erzählte, wie sie den Ruf Wir sind das Volk als existenziellen Befreiungsakt erlebt hatte. Liest man in den Erinnerungen dieser Frau weiter, taucht plötzlich ein ganz anderes Volksverständnis auf: »Von dieser Begeisterung ist ja leider jetzt kaum noch etwas zu spüren«, meinte sie im nächsten Satz. »… Der größte Fehler meiner Meinung nach ist der, daß sie von Anfang an in die neuen Bundesländer so viele Ausländer reinstecken.« Gegen Polen, Tschechen und Ungarn habe sie eigentlich nichts einzuwenden, »das sind Europäer. Aber bei den Jugoslawen fängts schon an. Die und die Rumänen, das sind für mich Muschkoten. Genauso wie die Araber, wenn die sich hier breitmachen, da wollen die eine Moschee haben.«45 Die Zugkraft der Volksrhetorik beruhte damals wie heute auf ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit und Ambivalenz. Das revolutionäre, obrigkeitskritische Volk und das ethnisch exklusive deutsche Volk können in der Praxis politischer Mobilisierung nahtlos ineinander übergehen. Mit geschichtspolitischer Tabuisierung und Mythenbildung ist dem nicht beizukommen. Die ›Pegida‹-Marschierer, die auf die Parole von 1989 zurückgriffen, wollten ja dreierlei erreichen: Erstens beschworen sie die Fiktion eines ethnisch und kulturell homogenen Volkes, das gegen ›das Fremde‹ zu verteidigen sei. Zweitens eigneten sie sich eine historisch legitimierte Widerstands- und Opferidentität an und drittens aktualisierten sie ein autoritär-populistisches Gegnerstereotyp des ›wir hier unten, die da oben‹, das die Obrigkeit für das eigene Wohlergehen ver42 Maximilian Probst u. a., Bürgerrechtler, warum schweigt Ihr?, in: Die Zeit vom 18.12.2014. 43 Siehe dazu die Kritik von Martin Jander, Wer riecht nach dem Provinzmief hinter der
Mauer?, in: Publikative.org vom 16.1.2015. 44 Vgl. Fußnote 4. Kurt Barthel [Kuba], Wie ich mich schäme!, in: Neues Deutschland vom 20.6.1953, S. 3: »Schämt ihr euch auch so, wie ich mich schäme?« rief Barthel den Demonstranten des 17. Juni zu und fuhr fort: »Da werdet Ihr sehr viel und sehr gut mauern und künftig sehr klug handeln müssen, ehe euch diese Schmach vergessen wird.« 45 Lindner/Grüneberger, Demonteure, S. 51 f.
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antwortlich macht und der Politik Verrat vorwirft. Die Pointe dieser Erinnerungspraxis liegt darin, dass es sich nicht um eine »miese Geschichtsfälschung« handelte, sondern dass all dies neben dem »Freiheitskampf«46 auch zur Geschichte der ursprünglichen Montagsdemonstrationen gehörte.47 Und noch eine letzte Beobachtung in diesem Zusammenhang: Es ist auffällig, dass diese Aneignungsversuche auf die Selbstermächtigungsformel Wir sind das Volk zurückgreifen, nicht aber auf das eine Volk, das ja eigentlich unter besonderem Nationalismusverdacht steht. Es ist die plebiszitär-antiobrigkeitliche Konnotation des Volkes, die herbeizitiert wird, um die Exklusivität des deutschen Volkes einzufordern, während Bundespräsident Wulff die Rede vom einen Volk zur Inklusionsformel in der Einwanderungsgesellschaft umgedeutet hat. Die Vielfalt der Erinnerungen an das Volk von 1989 hat auch damit zu tun, dass die großen Homogenitätssehnsüchte, die im Schlüsselbegriff des Volkes zusammenlaufen, nur für einen kurzen historischen Moment in Erfüllung gingen. Die Montagsdemonstrationen waren der Ort, an dem sich die atomisierten Individuen der durchherrschten Gesellschaft wieder als kollektiv handelnde, autonome Subjekte wahrnehmen konnten. Sie waren die performative Voraussetzung für die Selbstkonstituierung des Volkes als Souverän, der die fiktive Identität von Volk und Herrschaft aufkündigte, so dass erst die Legitimitätsfassade und dann die Autorität der SED-Diktatur zusammenbrachen. Die scharfe Gegenüberstellung beider Seiten enthielt zugleich ein Moment der Selbstentlastung, da alle Verantwortung für die vergehende Diktatur den aus dem Volk ausgeschlossenen Herrschenden zugewiesen wurde. Auf dem Höhepunkt der Bewegung im Spätherbst 1989 kam es dann zu einer kurzzeitigen Verschmelzung plebiszitärer und nationaler Homogenitätsvisionen. Mit dem spektakulären Erfolg der Bewegung im Herbst 1989 war freilich auch der magische Moment des Volkes vorüber. Die Homogenitätsfiktion ließ sich nicht in die heterogene, postmoderne Gesellschaft des vereinten Deutschland hinüberretten. Je mehr Konturen die Zivilgesellschaft bekam, desto rascher löste sich das Volk wieder auf. Ähnliches ließe sich über das eine Volk sagen, das dem staatlichen Vereinigungsprozess so großen Schub gegeben hatte.48 Das Volk von 1989 ist ein umkämpfter Erinnerungsort. Heroisierung, geschichtspolitische Symbolik und ideologische Instrumentalisierung treffen aufeinander. Das liegt nicht nur an den unterschiedlichen Erinnerungen an 1989, sondern an den Ambivalenzen des Volksbegriffes selbst.
46 So ein Kommentar zur Verwendung von Wir sind das Volk während der Anti-Hartz-IV-Pro-
teste 2004: »Wer Begriffe dieses heroischen Freiheitskampfes heute in der Agitation gegen eine Kürzung der Sozialhilfe verwendet, begeht miese Geschichtsfälschung.« Andreas Unterberger, Von Montag bis Montag, in: Die Presse vom 10.8.2004. 47 Jessen, Montagsdemonstrationen, S. 471. 48 Jessen, Montagsdemonstrationen, S. 479–480.
Irene Götz
DIE WIEDERENTDECKUNG DES NATIONALEN NACH 1989 Die Suche nach neuen deutschen Selbstbildern und Identitäten
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n den letzten 25 Jahren haben sich in Deutschland – wie im übrigen Europa – neue Diskurse um nationale Identitäten herausgebildet.1 Zum einen zeig(t)en sich in Politik und Medien allenthalben Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Vermittlung europäischer und transnationaler Leitbilder. Und dennoch, häufig als Gegenbewegung gegen die Europäische Union oder auch gegen die in Europa entstandenen Einwanderungsgesellschaften, finden sich zum anderen Neu- oder Rückbesinnungen auf nationale oder regelrecht nationalistisch gewendete Rhetoriken und Inszenierungspraktiken. Dies machen gegenwärtig die Demonstrationen von ›Pegida‹ mit ihrem Rekurs auf die Rufe der Wendezeit »Wir sind das Volk!« besonders augenfällig. Rechter Nationalismus und Rassismus finden hier unter dem Symbol der deutschen Flagge und mit dem hier pervertierten freiheitlich-bürgerschaftlichen Leitspruch der ›friedlichen Revolution‹ ihren viel debattierten Ausdruck.
1 Die im Folgenden dargestellten Thesen, Argumente und Beobachtungen entstammen meiner
europäisch-ethnologischen Habilitationsschrift: Irene Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen, Köln 2011. In dem hier vorliegenden Essay können naturgemäß manche Argumente lediglich ›gesetzt‹ und nicht ausführlicher belegt – vieles nur gestreift und angedeutet – werden. So sei hier eingangs pauschal auf diese im Böhlau Verlag erschienene Monografie verwiesen, in der die unten referierten Diskursanalysen über einschlägige Identitätsdebatten und Formen der Wiederentdeckung des Nationalen genau mit weiteren Quellen belegt werden und sich überdies ethnografische Beobachtungen im Alltag, etwa zu Jubiläumsfeiern in Berlin oder zu Ausstellungen, detailliert beschrieben finden.
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Insbesondere seit den 1990er Jahren hatten Politik, Medien und Wissenschaft2 – inzwischen sieht man, zu Unrecht – Fragen der nationalen Identität als obsolet und den Nationalstaat als überkommenes Auslaufmodell betrachtet, das angesichts des vereinigten Europas und der Globalisierung allmählich neuen transnationalen Denkformen und Institutionalisierungen weichen werde. Einerseits führten die Prozesse der verdichteten transnationalen Verflechtungen von Politik, Wirtschaft und Medien sowie die Deregulierung der europäischen Wohlfahrtsstaaten tatsächlich in den letzten beiden Dekaden verstärkt zu Denationalisierungsprozessen3 staatlicher Politik, zu einer Entmachtung ehedem staatlicher Organe, zur Privatisierung ehemals staatlicher Sozialleistungen sowie nicht zuletzt zur Entgrenzung der Volkswirtschaften mit ihren längst nicht mehr national verortbaren Großbetrieben und Organisationen. Die Mobilität von Menschen wie auch von Produktionsstätten und Produkten hat in einem kosmopolitischer gewordenen Alltag nationale Verortungen und Bekenntnisse oft unmöglich und auch unnötig gemacht. Andererseits und zugleich oft gerade als Gegenbewegung gegen die Diffusion und Diffusität sich transformierender oder auflösender traditioneller Ordnungen, Identitäten und herkömmlicher Sicherheiten finden sich Debatten um die Bestimmung einer ›Leitkultur‹ oder nationaler Identitätspolitik sowie regelrechte rechtsorientierte Renationalisierungsprozesse und aggressive Formen der Schließung und Exklusion im gesellschaftlichen Raum. Dieses gegenwärtige Nebeneinander von postmigrantischer Offenheit und national(istisch)en Vorstellungen von einer zu verteidigenden kulturellen/ethnischen ›Essenz‹ des Deutschen im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger belegte auch eine 2014 vorgestellte Studie »Deutschland postmigrantisch. Gesellschaft, Religion, Identität«. Demnach seien die »Kriterien des Deutschseins« mittlerweile »offen und exklusiv zugleich«. Weiter hieß es darin: »Deutschsein kann heutzutage erlernt und erworben werden, im Vergleich dazu spielen angeborene Merkmale eine geringere Rolle.«4 Diese repräsentative Umfrage be2 Siehe zu meiner diesbezüglichen Forschungskritik Irene Götz, Zur Konjunktur des Nationa-
len als polyvalenter Vergemeinschaftungsstrategie. Plädoyer für die Wiederentdeckung eines Forschungsfeldes in der Europäischen Ethnologie, in: Zeitschrift für Volkskunde 107 (2011), 2, S. 129–154. 3 Denationalisierung lässt sich dadurch kennzeichnen, dass der herkömmliche Nationalstaat einen Teil seiner Aufgaben an neu geschlossene Verbünde (z. B. Vereintes Europa, transnationale Wirtschaftsunternehmen, bürgerschaftliche Organisationen) abgibt, oder auch dadurch, dass seine imaginierte kulturelle Homogenität durch eine sich verändernde Zusammensetzung und definitorische Bestimmung von ›citizenship‹ aufgebrochen wird. Siehe auch Michael Zürn, Was ist Denationalisierung und wieviel gibt es davon, in: Soziale Welt 48 (1997), S. 337–360. 4 »Wichtig ist vor Allem die Fähigkeit, deutsch sprechen zu können (97 Prozent) sowie der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit (79 Prozent). Trotzdem finden immerhin 37 Prozent der Bevölkerung weiterhin, dass deutsche Vorfahren wichtig sind, um Deutscher sein zu können.« Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (Hg.), Deutschland postmigrantisch I. Gesellschaft, Religion, Identität. Erste Ergebnisse. Autorinnen und Autoren Naika Foroutan, Coşkun Canan, Sina Arnold, Benjamin Schwarze, Steffen Beigang, Do-
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stätigte überdies, wie weit sich das neue nationale Selbstbild und die von einer Mehrheit geäußerte starke Identifikation mit Deutschland entfernt haben von dem antinationalen Habitus, der in der weiteren Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre vorherrschte. In dieser Zeit hatte sich, außer im politisch ultrarechten Lager und in den Vertriebenenverbänden oder im begrenzten Kontext internationaler Sportwettkämpfe, eine generell skeptische Haltung einer »nationalen Identität« gegenüber durchgesetzt. Und nicht zuletzt wies die repräsentative Umfrage darauf hin, dass dieses neue positive Nationalgefühl zu großen Teilen in der Wiedervereinigung den Ausgangpunkt nahm: Sie stellt für 49 Prozent der Bevölkerung das zentrale historische Ereignis dar, welches Deutschland heute am besten beschreibt. Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sind hingegen kaum mehr prägend für das Selbstbild (16 Prozent), und der Holocaust wird nur von 0,5 Prozent der Befragten genannt. Das widerspricht der jahrelang zementierten Wahrnehmung, Deutschland würde sich nur in einer negativen Identität wahrnehmen und könne dadurch nicht positiv mit seiner nationalen Identität umgehen.5
Im Folgenden soll skizziert werden, inwiefern in Deutschland die Wiedervereinigung (neben der starken Einwanderung vor 25 Jahren), tatsächlich in vielerlei Weise den zentralen gesellschaftspolitischen Kontext darstellte, in dem in einer Art Initialzündung neue Debatten um nationale Leitbilder, Erinnerungsarbeit und Identitätsfragen geführt und alte Symboliken wiederentdeckt sowie neue entworfen wurden. Dabei ist dieser Rückbezug auf das lange Zeit überwunden geglaubte oder tabuisierte nationale Zeichenrepertoire weitaus facettenreicher und komplexer, als es die aktuellen rechten Nationalismen und bis in die mittleren Sozialschichten hineinreichenden Ressentiments gegenüber Migranten, insbesondere muslimischen Glaubens, vordergründig nahelegen – 38 Prozent der Bevölkerung waren laut der zitierten Berliner Studie im Jahr 2014 demnach der Meinung, »wer ein Kopftuch trage, könne nicht deutsch sein«.6 Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989 bedeutet auch, dass sich Leitbilder, Diskurse und Inszenierungen des Nationalen modernisiert und ausdifferenziert haben, und dies sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der oft popkulturellen Formen, in denen sie präsentiert werden. Die komplexen Prozesse dieser Wiederentdeckung werden im folgenden Beitrag zunächst für den einschlägigen Kontext der Wiedervereinigung deutlich gemacht. Auf die deutsch-deutsche Einigung folgten in Politik und Alltag Diskurse um (ost-/west-)deutsche Identitäten, um Erinnerungs- und Symbolpolitik in einem nun um die neuen Bundesländer erweiterten Deutschland, in dem unterschiedlich erfahrene oder interpretierte rina Kalkum, Berlin 2014, https://junited.hu-berlin.de/deutschland-postmigrantisch-1/ (letzter Zugriff 09.03.2016), S. 6 f. 5 Ebd., S. 6. 6 Ebd.
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Vergangenheiten integriert und präsentiert werden mussten. Zum Schluss wird ein ebenfalls neueres Phänomen skizziert, das der Ethnologie Jonas Frykman für Schweden bereits vor über 20 Jahren als dort längst etablierte Praxis alltäglicher Nutzungen der nationalen Zeichen beschrieben hatte7: die »Informalisierung« des Nationalen im Kontext Lifestyle und Marketing, wie sie sich etwa in Nation Branding-Kampagnen zeigt, die in Deutschland dann auch seit den 1990er Jahren zu einem entspannteren und alltäglicheren Umgang mit dem nationalen Zeichenrepertoire beigetragen haben.
I.
Vor der Folie der ›inneren Einheit‹: zwei Gesellschaften, zwei quasi-ethnische Gruppen
Mit der Wiedervereinigung, einem für Deutschland und weit darüber hinaus epochalen Ereignis, ging eine Trendwende hin zu einer Neubewertung des Nationalen und seiner Symbole einher, auch weil in ihrem Gefolge die Nachkriegsordnung und das Selbst- und Fremdbild Deutschlands sich nachhaltig zu verändern begannen. Zunächst, als die deutschen Flaggen auf den Straßen auftauchten, unmittelbar im Kontext der Wende, hielten die lange eher tabubehafteten Begriffe ›Volk‹, ›Vaterland‹, ›Nation‹, ›Nationalstolz‹, ›Nationalbewusstsein‹ oder auch ›deutsch‹ verstärkt Einzug in den öffentlichen Sprachgebrauch. ›Wir sind das Volk‹, so skandierten die Demonstranten auf den Straßen der DDR im Vorfeld des Mauerfalls, als sich aus den Reformideen der Bürgerrechtsgruppen binnen weniger Wochen im Herbst 1989 eine Massenbewegung auf den Straßen formierte. Hier wurde aus dem Weckruf eines bürgerschaftlichen Widerstands der Ruf: ›Wir sind ein Volk!‹8 ›Volk‹ meinte in dieser Zeit manchmal ›ethnos‹, das durch eine gemeinsame ›Abstammung‹, Sprache und Geschichte verbundene Volk, das vierzig Jahre getrennt gewesen war; manchmal ging es vor allem um das republikanische ›demos‹, die Bürger, die sich auf den Straßen in einer ›friedlichen Revolution‹ von der DDR-Herrschaft befreiten; allerdings war diese ›Revolution‹ der Bürgerinnen und Bürger mindestens in den ersten zehn Jahren nach der Wende ein medial eher unterbelichteter Diskursstrang. Das Verständnis des Volkes als ›ethnos‹ dominierte. Insbesondere die Frage der Nations(neu)bildung des, wie es im Vereinigungsjubel zunächst hieß, einen Volkes, das jetzt »zusammenwachsen« dürfe und müsse, beschäftigt(e) die deutsche und auch die ausländische Öffentlichkeit.9 Die ›innere Einheit‹ war das Schlagwort, in dem sich diese Zielperspektive verdichtete. Im Diskursfeld um die ›innere Einheit‹ war häufig wieder die über7 Siehe Jonas Frykman, The Informalization of National Identity, in: Ethnologia Europaea 25
(1995), 1, S. 5–15. 8 Vgl. dazu den Beitrag von Ralph Jessen in diesem Band. 9 Siehe die einschlägigen Diskursbelege bei Götz, Deutsche Identitäten, S. 137–144.
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kommene Imagination von der eigentlich homogenen Volks- und Kulturnation die Folie der Argumentation. Dies ließ sich gerade auch dort beobachten, wo in der Wissenschaft wie in der öffentlichen Meinung von der ›einen Nation‹ mit ›zwei Gesellschaften‹10 die Rede war, von einer Nation, in der zwei Arbeitskulturen, zwei Sprachen11, zwei Welt- und Geschichtsbilder12 herrschten. Wie der Politikwissenschaftler Hans-Joachim Veen es zuspitzte, habe sich in den 1990ern auf der Suche nach der ›inneren Einheit‹ für die Forschung ein nahezu unbegrenztes Feld eröffnet. Kein Bereich der menschlichen Existenz bleibt davon ausgenommen: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, politische Kultur und Alltagskultur, Mentalitäten, Werthaltungen, Konsum- und Freizeitverhalten sowie individuelle und kollektive Psyche – alles im Ost-West-Vergleich. Selbst das Liebesleben der West- und Ostdeutschen wird zum Prüfstand der inneren Einheit.13
Entsprechende Defizit-und Differenz-Diskurse spiegelten sich auch in den Medien. Es war vor allem die dominante westliche Presse, die das stereotype Bild über den Osten prägte und die Ostdeutschen zu einer eigenen quasi-ethnischen Gruppe machte.14 Die seit Beginn der 1990er Jahre in allen großen westdeutschen Tages- und Wochenzeitungen erscheinenden Reportagen vermittelten so z. B. das Bild von den »Fremden im eigenen Land«; und auch die westdeutsche Wissenschaft näherte sich gerne mit einem »fremden Blick« durchaus »herablassend« den ostdeutschen Lebensläufen als psychisch deformierten, »klinischen Fällen«.15 Solche Darstellungen (siehe Abb. 1) exotisierten den ›düsteren‹ und 10 Siehe ebd.; siehe auch z. B. Werner Kudera, Eine Nation, zwei Gesellschaften? Eine Skizze
von Arbeits- und Lebensbedingungen in der DDR, in: Maria S. Rerrich (Hg.), Die Arbeit des Alltags. Beiträge zu einer Soziologie der alltäglichen Lebensführung, Freiburg 1993, S. 133–159; siehe auch Klaus Schroeder, Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Stamsried 2006. 11 Siehe z. B. Ruth Reiher / Rüdiger Läzer (Hg.), Von ›Buschzulage‹ und ›Ossinachweis‹. OstWest-Deutsch in der Diskussion, Berlin 1996. 12 Siehe z. B. Werner Weidenfeld (Hg.), Deutschland. Eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993; siehe ferner die auf Interviews mit Arbeitern basierende Studie von Bernd Faulenbach / Annette Leo / Klaus Weberskirch, Zweierlei Geschichte. Lebensgeschichte und Geschichtsbewußtsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland, Essen 2000. 13 Hans-Joachim Veen, Einheit, Einheit über alles, in: Die Zeit vom 7.6.2001, S. 11. 14 Siehe zur Dialektik der Selbst- und Fremdethnisierung stellvertretend für viele weitere Medienartikel dieser Zeit den Kommentar von Wolf Wagner, Das Quasi-Volk. Die Ethnisierung der Deutschen nimmt zu, in: Freitag vom 26.5.2000, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ das-quasi-volk [21.07.2016]. 15 Diese bewertenden Zitate entstammen der folgenden Rezension: Martin Ahrends, Verpasste Schangse. Ostdeutsche Lebensläufe, im Visier der westdeutschen Wissenschaft, sehen traurig aus, in: Die Zeit vom 22.3.2001, S. 19. Er bespricht das Produkt einer »Expedition zu einer ›fremden Ethnie‹« (Vorwort des rezensierten Bandes), die der aus dem Westen stammende Professor Manfred Clemenz mit seinen Studierenden zehn Jahre lang in den neuen Ländern
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Abb. 1: Expedition in ein unbekanntes Land. Spiegel-Titel, Der Spiegel Nr. 34, 21.8.2000.
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›grauen‹ Alltag im Osten16 als eine Art Reliktgebiet, in dem sich insbesondere die gemeinhin als deutsch geltenden Tugenden wie Ordnung und Untertanentum sowie Intoleranz hartnäckig gehalten hätten. Dies seien Sekundärtugenden, die nun der Integration in die individualisierte Kultur der ›alten‹ Bundesländer entgegenstünden, die Errungenschaften der alten Republik sogar gefährdeten. Insbesondere Indizien für die typisch ostdeutsche Ausländerfeindlichkeit und den typisch ostdeutschen Neonazismus, wie sie auch in den 1990ern fester Bestanteil von Heterostereotypen über Ostdeutschland geworden sind,17 wurden immer wieder gesucht und gefunden.18 Entsprechende Entwicklungen im Westen dagegen, wenngleich diese geringer ausgeprägt sein mögen, wurden weniger demonstrativ herausgestellt. Im Zuge dieser tendenziösen Medienberichte war der vom Westen enttäuschte, um ein neues Selbstbewusstsein kämpfende Ossi als neue Figur geboren und der Wessi, der selbstbewusste, bisweilen arrogant wirkende große Bruder aus dem Westen, sein dominantes und besserwisserisch erscheinendes Gegenstück. Den medialen Berichten und jährlichen Allensbach-Umfragen zufolge konturierten sich »Ossi« und »Wessi« jedoch in erster Linie einerseits durch die gegenwärtigen neuen Erfahrungen in einem neuen Alltag und einem neuen, noch unvertrauten politischen System und andererseits durch wechselseitige Abgrenzung. Die Vielfalt in der Einheit, wie sie in Deutschland Tradition hat, erhielt nun – neben der ebenfalls im Osten wiederbelebten – regionalen Gliederung in Bundesländer eine neue Komponente: Der bis dato oft konstruierte Gegensatz zwischen dem Süden und dem Norden wurde durch die sich schnell verbreitenden ost- und westdeutschen Selbst- und Fremdbilder im öffentlichen Diskurs wie im Alltagsgespräch zumindest vorübergehend in den Hintergrund gedrängt. Die
unternahm. Die Ergebnisse legte er nun in Form von lebensgeschichtlichen Porträts, von ihm selbst als »ethnologischer Bericht, als Bericht über eine untergegangene Kultur« (Vorwort) bezeichnet, vor. Siehe Manfred Clemenz, Wir könnten nicht besser klagen. Ostdeutsche Lebensläufe im Umbruch, Berlin 2001. 16 Siehe z. B. Gabriele Goettler, Deutsche Bräuche. Ermittlungen in Ost und West, Frankfurt a. M. 1994. 17 Unter dem Titel »Deutschland, peinlich Vaterland« veröffentlichte z. B. das Süddeutsche Magazin (6.10.2000, 28–32) plakative Auszüge aus englischsprachigen Reiseführern, die ostdeutsche Städte als »Zentren neonazistischer Skinheads« stigmatisieren. 18 Siehe zum Beispiel die Alltagsberichte des damaligen Spiegel-Autors Matthias Mattussek über diese »typisch deutschen Tugenden« im Osten (»Das rote Gespenst«, in: Der Spiegel 10/99, S. 22–33, hier 26; sowie »Sehnsucht nach dem Totalitären«, in: Der Spiegel 11/99, S. 46–60). Über die Gefahr, dass »Intoleranz, Deutschtum und Untertanentum« vom Osten her die alte Bundesrepublik »überschwemme«, siehe Cordt Schnibben, Der neue kalte Krieg, in: Der Spiegel 1993, S. 154–173. Siehe z. B. zu Fremdenfeindlichkeit und rechter Gewalt in der ostdeutschen Jugendkultur eine SZ-Serie mit einschlägigen Reportagen unter dem Titel »Eine rechte Kulturrevolution im Osten? Gesinnung statt Gewalt« (z. B. Süddeutsche Zeitung vom 26.11.1998, S. 3; dies. vom 23.11.1998, S. 3).
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ostdeutsche Schriftstellerin Rita Kuczynski brachte es für die 1990er Jahre auf dem Punkt: So entstand paradoxerweise nach dem Ende der DDR eine kollektive Identität, die es zu DDR-Zeiten nie geben konnte: Eine Ost-Identität hatte den Niedergang der DDR zur Voraussetzung und war gegründet auf die gemeinsame Herkunft, auf den Anfängerstatus als Neu-Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Die Westdeutschen hatten es da sehr viel einfacher. Sie brauchten sich bei ihrer Identitätsfindung im vereinten Deutschland vorerst nur geographisch abzugrenzen.19
Die in den späten 1990er Jahren in Interviews zu ihren Identifikationen, zu Selbst- und Fremdbildern befragten 20 Ostdeutschen eines von mir mit geleiteten Forschungsprojektes20 belegen, dass die Selbstverständnisse sowie die regionalen Identifikationen weitaus kontextgebundener, komplexer und ambivalenter gewesen sind, als es die vielen Umfragen zu den Befindlichkeiten in Ost- und West nahelegten, die das Bild der ›Deutschen zweiter Klasse‹21 in den 1990er Jahren lange Zeit als ›Ostphänomen‹ festschrieben. Die aus den Interviews erstellten Fallstudien zeigen jedoch auch, wie sich diese Identitäten tatsächlich als neue Bezugsgrößen der Selbstverortung durch die Erfahrungen und Diskurse der Nachwendezeit und auch in Abgrenzung zu den Westdeutschen bzw. dem neuen politischen und kulturellen System entwickelten und verfestigten. Alle von uns befragten Ostdeutschen hatten die gesellschaftlichen Umbrüche im Kontext der Wiedervereinigung im Unterschied zu den dreißig westdeutschen Befragten – wenngleich aus sehr unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhängen heraus und in verschiedener Form – als biografische Krise oder zumindest als Zeiten starker Umorientierungszwänge erfahren, wenngleich sie in materieller Hinsicht, wie sie selbst betonten, relativ gesehen, eigentlich nicht zu 19 Rita Kuczynski, Vereint und dennoch durch Welten getrennt. Von der Schwierigkeit, eine
Deutsche in Deutschland zu sein, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.2.1999, S. 15. 20 Die Ergebnisse des von der VW-Stiftung finanzierten Forschungsprojektes, das auf zweiphasigen Tiefeninterviews aufbaute, finden sich in folgender Publikation: Harro Honolka/ Irene Götz, Deutsche Identität und das Zusammenleben mit Fremden. Fallanalysen, Opladen 1999; siehe des weiteren Irene Götz (Hg.), Bilder vom Eigenen und Fremden. Biographische Interviews zu deutschen Identitäten, Münster 2001. Siehe auch Götz, Deutsche Identitäten, S. 253–321. 21 Dieses Motiv der Identifizierung als Ostdeutscher durch eine Marginalisierungserfahrung oder -zuschreibung wurde durch entsprechende Umfragen immer wieder herausgestrichen. So fühlten sich laut einer vom Frankfurter Sigmund-Freud-Institut und der Leipziger Universität in Auftrag gegebenen Umfrage die Bürger in den neuen Ländern im zehnten Jahr der deutschen Einheit wesentlich pessimistischer und unzufriedener mit ihrem Leben als die Menschen in den alten Bundesländern. Sie äußerten sich vor allem in den Bereichen Arbeit, Einkommen und Gesundheit unzufriedener als die befragten Westdeutschen; siehe den Bericht zu dieser Studie [Anonymus]: Westdeutsche in vielen Bereichen zufriedener. Ostdeutsche fühlen sich als ›Bürger zweiter Klasse‹, in: Berliner Zeitung vom 2.7.1999, S. 7.
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den Wendeverlierern gehörten. Die von den Interviewten aufgegriffenen identifikativen Angebote und neuen Solidaritäten, mit denen sie als Bewältigungsstrategien auf diese Krisenerfahrung reagierten, waren sehr unterschiedliche. Im Folgenden sollen ein paar Beispiele wenigstens angerissen werden. Die zur Zeit der deutsch-deutschen Vereinigung 33-jährige Sekretärin Victoria C.22 vertrat im Interview stärker als alle anderen Befragten ihre ausgeprägte und von ihr selbst auch positiv bewertete ostdeutsche Identität. Das Bewusstsein, Ostdeutsche zu sein, hatte ihre frühere Identifizierung mit dem »ganzen Deutschland« Mitte der 1990er Jahre weitgehend ersetzt. Nach persönlichen Erfahrungen als »Deutsche zweiter Klasse« – womit sie das gängige Diskursmotiv direkt aufgriff – plädierte sie für eine stärkere Solidarisierung der Ostdeutschen untereinander, um den dominant auftretenden »Wessis« eigene Werte und Symbole einer bewahrenswerten ostdeutschen Kultur entgegenzusetzen. Im Vergleich zu diesem Fall, der vorführt, wie auf Fremdethnisierung durch einschlägige Diskurse und Praktiken die trotzig-selbstbewusste Selbstethnisierung folgen kann, reagierte eine ältere Interviewpartnerin aus Potsdam in geradezu gegensätzlicher Weise auf die öffentlichen Debatten der späten 1990er Jahre. Die zum Zeitpunkt des Interviews im Jahr 1999 sechzigjährige Ärztin fühlte sich einerseits prinzipiell schon immer als »Gesamtdeutsche« – die Wende stellte, so gesehen, keinen Bruch dar –, andererseits wurde auch ihr das Etikett »ostdeutsch« in verschiedenen Situationen bereits zuvor, von Verwandten in Schweden oder auf Reisen in die Tschechoslowakei, als defizitärer Status zugeschrieben. Sie selbst begriff jedoch darüber hinaus die Sozialisation in eine »DDR-Kultur« selbst als Handicap, um sich im Westen erfolgreich zu behaupten. Auf diese Erfahrungen reagierte sie, indem sie das virulente Diskursmotiv der anzustrebenden »inneren Einheit«; aufgriff; eine »Ost-Identität« solle, wie sie betonte, keinesfalls kultiviert werden.23 Ausführlich porträtiert wurde des Weiteren eine ehemalige Parteifunktionärin, die die Wendezeit im Alter von 33 Jahren als existentiellen »Überlebenskampf« und Phase der vollständigen Umorientierung erlebte. Sie lehnte einerseits nach dem Zusammenbruch der DDR – des sozialistischen Staates, an den sie von Kindheit an glaubte – für sich selbst jede Form der Identifizierung mit einem »Kollektiv« ab; bei ihr mischten sich jetzt linke antinationale Einstellungen in der Tradition des offiziellen DDR-Leitbildes und postnationale Ideale von einer grenzenlosen, offenen Gemeinschaft von Individuen mit einem Misstrauen gegenüber der neuen, größer gewordenen Bundesrepublik als einem westlich-kapitalistischen Staatsgebilde. Andererseits ging bei ihr in der Wendezeit die Ableh-
22 Siehe Götz, Deutsche Identitäten, S. 299–303. 23 Siehe ebd., S. 303–306; siehe auch Beate Rätz, Frau Jacob. ›Kriegskind‹ – ›DDR-Kind‹ –
Identifikations(t)räume, in: Götz (Hg.), Bilder vom Eigenen und Fremden, S. 17–28.
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nung insbesondere einer Zuordnung zu »den Deutschen« mit einer verstärkten Beachtung der »jüdischen Familienwurzeln« Hand in Hand.24 Bei einem weiteren Fall aus unserem Sample25 handelt es sich um einen gelernten Druckereiarbeiter, dessen zentrales Bezugssystem der Vorwendezeit, die evangelische Kirche, nach der Wende nicht mehr die »Nische« war, die ihm Vertrauen, Sicherheit und Halt bot. Bei dem jungen Mann, dem zur Wendezeit mit 18 Jahren die Welt noch offen stand, war auffällig, dass er seine neu entdeckte regionale Identität als Sachse betonte, wohingegen bei ihm wie bei den meisten unserer ostdeutschen Befragten die nationale Selbstverortung gering ausgeprägt war. Auch er hatte wie alle Mitglieder dieser Gruppe rasch nach der Wende eine sehr ambivalente Haltung gegenüber der neuen Bundesrepublik als politischem System entwickelt. Diese Haltung spiegelt sich in den Meinungsumfragen der 1990er Jahre bis heute generell wider. Ausblickend auf die Entwicklung dieser Debatten und Identifikationsprozesse in den letzten Jahren, lässt sich die Verfestigung einer Tendenz erkennen, nach der der Osten längst vor allem stereotyp mit Arbeitslosigkeit und Neonazismus, verödenden Landschaften und Strukturproblemen in Verbindung gebracht wurde. Er ist immer wieder als der unterlegene, abgehängte Teil Deutschlands etikettiert worden, wofür vielfältige Daten, Statistiken, Fakten und O-Töne von verdrossenen Menschen als Beleg dienten, die angeblich nichts von der Politik hielten, sich ›ostalgisch‹ an den DDR-Alltag ihrer Jugend erinnerten oder im Falle der Jüngeren, Mobilen in den Westen zogen. Viele Studien und Medienberichte zogen im Jubiläumsjahr 2009/10 in sozioökonomischer Hinsicht wie bezüglich des fehlenden »Einheitsgefühls« eine noch weitgehend negative Bilanz.26 Eine anlässlich des 25jährigen Mauerfall-Jubiläums im Herbst 2014 veröffentlichte repräsentative Allensbach-Studie27 argumentierte jedoch, dass Ostdeutsche und Westdeutsche sich zwar nicht in den objektiven materiellen Lebenslagen, aber in den subjektiven Werteempfindungen und Lebenszielen inzwischen stark angenähert hätten. Auch die Vorstellung eines ostdeutschen Sonderbewusstseins oder die in den letzten 25 Jahren immer wieder geäußerte Vorstellung, ›Bürger zweiter Klasse‹ zu sein, nimmt nach dieser Studie – vor allem in der jüngeren Generation – offensichtlich ab. 24 Siehe ausführlich Götz, Deutsche Identitäten, S. 307–312, sowie Irene Götz / Andrea Kölbl,
›Ich wollt‹ nicht bei den Deutschen stehen‹. Engagement für Ausländer als Bewältigungsstrategie von Wende-bedingten Identitätskrisen, in: Kurt Dröge (Hg.), Alltagskulturen in Grenzräumen (Oldenburger Beiträge zur Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas 4), Frankfurt a. M., S. 349–372. 25 Siehe ebd.; siehe auch Götz, Deutsche Identitäten, S. 312–319. 26 Siehe ebd., bes. S. 333–342. 27 In der Studie »Wertewandel Ost«, die das Institut für Demoskopie Allensbach durchführte, befragten die Meinungsforscher rund 1.500 Ostdeutsche sowie rund 1.100 Westdeutsche zu ihren Einstellungen, Lebenssituationen und Zukunftserwartungen. Auszüge sind online einzusehen unter: http://www.zebra.de/index.php?id=129 [10.03.2016].
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II. Identitätsdebatten als Einheitskitt – die ›deutsche Geschichte‹ als politisches Argument Gewissermaßen im Zuge dieser konflikthaften Spaltungen und Positionsbestimmungen im neuvereinigten Deutschland gewann das Nationale in Form von regelrechten Identitätsdebatten eine neue Bedeutung. Gerade angesichts der stereotyp behaupteten und auch im Alltag zu beobachtenden Integrationsschwierigkeiten der Ostdeutschen und der wechselseitigen Entfremdungen zwischen West und Ost wurde in Politik und medialer Öffentlichkeit einem neu zu entwickelnden Nationalgefühl große Bedeutung beigemessen. So wurde ›nationale Identität‹, bis in die 1980er Jahre in der BRD und der DDR außerhalb der Sportarenen in der offiziellen Politik ein Tabuthema, unter verschiedenen neuen Prämissen ein Reflexionsgegenstand. Neben der Frage der ›inneren Einheit‹ ging es vor allem auch auf der politischen Bühne darum, Deutschland nach der Wiedervereinigung aus dem Schatten der Nachkriegszeit herauszuheben und als verlässlichen Partner ›in Europas Mitte‹, wie ein weiteres Diskursmotiv lautete, zu positionieren. So entdeckten Politiker verschiedener Couleurs, Journalisten und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens im Kontext der deutsch-deutschen Vereinigung – und der zeitgleich erstarkenden Einwanderungsdebatte – verschiedene Fragen neu. Diskutiert wurde zum Beispiel, ob eine nationale Identität der Deutschen notwendig und demnach zu entwickeln und zu pflegen sei. Ein positiver, ›gesunder‹ Patriotismus fungiere doch auch als ›Einheitskitt‹ und die selbstbewusste Rückbesinnung auf die ›integrative Kraft‹ einer »Leitkultur« biete gerade den Immigranten die nötige Orientierung und den nötigen Integrationsanreiz. Dies waren die Positionen der konservativen, rechten Parteien. Andere – insbesondere die Anhänger der Grünen und Linksliberale – argumentierten, dass der Begriff der Identität und die Identitätsdebatten überflüssig oder sogar gefährlich seien, weil sie ethnischen Ausgrenzungen und Bekenntniszwängen Vorschub leisteten. Wieder andere fragten, ob diese Identität zu schwach oder zu stark ausgebildet, beziehungsweise als Gegenstand der Debatte über- oder unterbewertet sei. Schließlich wurde diskutiert, ob die deutsche Identität eine verfassungspatriotische und/oder traditionalistisch-kulturalistische, eine gemeinsame oder noch immer geteilte sei oder sein solle.28 Größere Besorgnis erregte der schon zu Beginn der 1990er Jahre in die mittleren Schichten hineinreichende rechte Nationalismus und Rassismus. In Analogie zur brandaktuellen Debatte wurde damals auch von den Sozialwissenschaftlern gefragt, ob die sich mit Mölln, Solingen und Rostock-Lichtenhagen verbindende Gewalt gegen Asylbewerber und die sich ausbreitende Ausländerfeindlichkeit mit gesellschaftlicher Desintegration in Folge drohender Abstiegsprozesse von Teilen der Bevölkerung, zumal in Ostdeutschland, schlüssig in Verbindung brin28 Siehe die Diskursbelege bei Götz, Deutsche Identitäten, S. 145–150.
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gen ließen. Trotz – oder genauer wegen – der eingangs beschriebenen Denationalisierung (und Deregulierung) staatlicher, politischer und ökonomischer Strukturen waren extremistische Renationalisierungstendenzen auf dem Vormarsch. Damit einher gehende xenophobe Haltungen breiteten sich allerdings nicht nur in den sozial unterprivilegierten Milieus, sondern zunehmend auch bei den Wendegewinnern im bürgerlichen Milieu aus.29 Linksliberale Wissenschaftler und Politiker sahen in diesem rechtsextremistischen Nationalismus, der dann vor allem im Osten die Jugend als kulturelle und politische Bewegung eroberte, die das Vakuum der niedergegangen sozialistischen Organisationen ersetzte, nur gewissermaßen die Spitze eines Eisbergs. Als Indikator für eine weiter reichende Renationalisierung in der Mitte der Gesellschaft wurde vor allem die unerwartete Konjunktur der Nation in Feuilletons, Talkshows und Symposien, ihre »Enttabuisierung als analytische[r] Kategorie«, gewertet.30 So warnte der Zeithistoriker Konrad H. Jarausch vor einem »nationale[n] und machtpolitische[n] Ansatz einer affirmativen Grundhaltung zur Vergangenheit«31. Besonders unmittelbar zeigte sich diese beispielsweise, wenn politische Entscheidungen weiterhin – vom Kosovo-Einsatz der deutschen Bundeswehr bis zur Debatte um das Verbot der embryonalen Stammzellforschung32 – mit der ›besonderen deutschen Geschichte‹ moralisch legitimiert wurden. Solche affirmativen Rückbezüge auf ›die besondere Verantwortung als Deutsche‹ im Sinne einer eigenwilligen, von tagespolitischen Interessen bestimmten Reinterpretation des ›deutschen Sonderwegs‹ folg(t)en meist als Reaktionen auf globale Verpflichtungen oder Forderungen – beispielsweise der Europäischen Union oder der international vernetzten Forschung –, die deutsche Alleingänge besonders legitimationsbedürftig erscheinen ließen. Im Falle des Kosovo-Einsatzes der Bundeswehr bezogen sich die Gegner auf das Narrativ von der ›besonderen deutschen Verantwortung‹, um sich dem internationalen Druck, sich zu beteiligen, zu entziehen. Doch auch die Befürworter der deutschen Beteiligung argumentierten mit der ›deutschen Geschichte‹. Sei29 Siehe die Ergebnisse von Wolfgang Kühnel, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus.
Korrelate sozialer Deprivation und politischer Unzufriedenheit?, in: Hans Bertram (Hg.), Ostdeutschland im Wandel. Lebensverhältnisse – politische Einstellungen, Opladen 1995, S. 207–229. 30 Konrad H. Jarausch: Normalisierung oder Re-Nationalisierung? Zur Umdeutung der deutschen Vergangenheit, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), 4, S. 571–584, hier S. 576 ff. 31 Ebd. S. 576. 32 So sprach sich im Jahr 2001 die damalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin vor der Bundestagsentscheidung zur umstrittenen Embryonenforschung gegen den Import embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken aus und begründete ihre ethischen Bedenken mit den Lehren aus dem Nationalsozialismus, u. a. mit Verweis auf die Euthanasie. Der 60. Jahrestag der Wannseekonferenz, der unmittelbar bevorstand, solle eine Mahnung sein, diese deutsche Sonderrolle im internationalen Forschungskontext nicht aufzugeben. Siehe den Artikel [Anonymus]:Differenzen über den Import von Stammzellen im Kabinett, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.1.2001, S. 6.
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nerzeit fehlte in keinem Politiker-Statement und keinem Leserbrief die Berufung auf Formeln wie beispielsweise die folgenden: »besondere Verantwortung als Deutscher«; »von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen lassen«; »als geschichtsbewußter Deutscher schäme ich mich […]«; »deutsche Kollektivschuld«.33 In solchen Debatten wurde der in der Nachkriegszeit omnipräsente Fokus deutscher Geschichtsschreibung, der Nationalsozialismus und insbesondere Auschwitz einmal mehr zur moralischen Legitimationsinstanz, was heftige Kritik hervorrief.34 Die Moralisierung und Trivialisierung von Geschichte im Sinne einer ›Gedächtnisindustrie‹ stellte zum Beispiel Ulrich Speck 1999 pointiert in einen Zusammenhang mit den identitätspolitischen Richtungskämpfen über die Konturen, Grenzen und Geschichtsinterpretationen des künftigen Deutschland. Das Verhältnis zum ›Dritten Reich‹ und seiner massenhaften Menschenvernichtung steht im Zentrum des politisch moralischen Selbstverständnisses der alten Bundesrepublik, gleich neben dem Grundgesetz.
Zwar galt der Holocaust weiterhin als »Gründungsverbrechen des demokratischen Deutschland«,35 doch stellte sich in der sich neu formierenden Berliner Republik die Frage, inwieweit der Nationalsozialismus eine veränderte Rolle für das Selbstverständnis dieses wiedervereinigten Landes auf der Suche nach Identität stiftenden Geschichtsbildern einnehmen sollte.36
III. Neue deutsche Selbstbilder – Verdichtung und Beschleunigung der Erinnerungsanlässe Der Publizist Jan Ross kommentierte 1999 diese sich immer rascher ablösenden einschlägigen Debatten, die sich vor der großen Millenniumsfeier nochmals häuf33 Siehe zur Instrumentalisierung nationaler Rhetorik im Kontext des Kosovo-Krieges Götz,
Deutsche Identitäten, S. 185–195. Meine punktuelle Analyse von Leserbriefen bezieht sich insbesondere auf die Süddeutsche Zeitung vom 29.3.1999, S. 15; sowie vom 3./4./5.4.1999, S. 11. Hier vor allem wurden vereinfachte Gleichsetzungen als Argumente bemüht: Hitler und Milosevic, die Konzentrationslager hier und dort, gestern und heute. Inwieweit außerhalb des eher liberalen Lagers, das den Leserkreis der SZ bildet, anders argumentiert wurde, wäre einer weiterführenden Untersuchung wert. 34 Siehe z. B. Jan Ross, Kosovo-Konflikt und die Osterweiterung des deutschen Bewußtseins, in: Die Zeit vom 17.6.1999, S. 11; auch Ulrich Speck, Zum öffentlichen Gebrauch der Shoah in Deutschland, in: Merkur 2 (1999), S. 121–127. 35 Ulrich Beck, Der militärische Euro. Humanismus und europäische Identität, in: Süddeutsche Zeitung vom 1./2. 4.1999, S. 8. 36 Siehe Speck, Zum öffentlichen Gebrauch der Shoah. Neben diesem nationalen Bezugsrahmen der Geschichtsdeutung zeigte sich seit den 1990er Jahren jedoch auch situativ eine europäische oder sogar universalistische Rahmung von Erinnerung, siehe hierzu Daniel Levy / Natan Sznaider, Der Holocaust. Erinnerung im globalen Zeitalter, Frankfurt a. M. 2001.
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ten, als Auftakt einer neuen »Berliner Republik«. Nach Ross waren die Diskussionen, insbesondere um das Holocaust-Mahnmal in Berlin oder auch der Streit zwischen dem Schriftsteller Martin Walser und dem damaligen Zentralratsvorsitzenden der Juden Deutschlands, Ignaz Bubis, über den Umgang mit den NS-Verbrechen letztlich auch als eine Auseinandersetzung um eine sich breitmachende »Schlussstrichmentalität« und als Versuch einer Rückkehr zur »Normalität«, zu einem »neuen Selbstbewusstsein« am Jahrtausendende in der neuen Republik, zu bewerten.37 Von einem solchen neuen deutschen Selbstbild – bzw. der Suche nach einem angemessenen Umgang mit Geschichte als tragfähiger Säule desselben – künden auch die zahlreichen Jubiläen seit Mitte der 1990er Jahre. Dank dieser Jubiläen und Gedenktage nahm ein hier rituell begangenes Erinnern zu, beschleunigte sich weiter, fächerte sich thematisch auf und wurde überdies breiteren Öffentlichkeiten einsichtig. Hatte es doch neben der jüngeren deutschen Geschichte – 50 Jahre Kriegsende (1995), Jahrestag der Befreiung von Auschwitz (seit 199638), 50 Jahre Bundesrepublik (1999), 60 Jahre Wannseekonferenz (2002) – jetzt auch eine jüngste Geschichte als zusätzlichen Bezugsrahmen erhalten: zehn Jahre Mauerfall (1999), zehn Jahre Wiedervereinigung (2000) oder auch 40 Jahre Mauerbau (2001) waren weitere symbolische Erinnerungsorte, die in immer kürzeren Abständen zur Auseinandersetzung mit Fragen der nationalen Identität und nationalen Selbstrepräsentation Anlass gaben, und dies nicht nur im Feuilleton und den akademischen Zirkeln der Fachwissenschaften, sondern auch in Rundfunkund Fernsehdokumentationen sowie im Alltag vor Ort, in Volkshochschulseminaren, in Leserbriefen, oder in Ausstellungen.39 Das Haus der Geschichte in Bonn und Leipzig oder das Deutsche Historische Museum in Berlin wurden zu populären nationale Institutionen, die mit Ausstellungen wie z. B. über die »Mythen der Nationen«40 oder über den Holocaust41 und 37 Ross, Kosovo-Konflikt, S. 11. Wie z. B. in den Diskussionen um den Bau des Holocaust-
Mahnmals war in diesem öffentlichkeitswirksam geführten Streit die Funktionalisierung des Holocaust als »Moralkeule« ein kontrovers behandelter Punkt. Martin Walser hatte diesen provokanten Begriff in seiner Dankesrede für den Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 11.11.1998 in der Frankfurter Paulskirche verwendet, siehe http:// www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/juedisches-leben-18-walser/-/id=2847740/did=14696510/ nid=2847740/1mo0ai3/index.html [21.07.2016]. 38 Im Jahr 1996 wurde der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz (27. Januar) auf Initiative des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog offizieller deutscher Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Die Vereinten Nationen erklärten den 27. Januar im Jahr 2005 zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts. 39 Belege siehe Götz, Deutsche Identitäten, S. 167 ff. 40 Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) unter Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20.3. bis 9.6.1998, Berlin 1998. 41 Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums anlässlich des 60. Jahrestages der Wannsee-
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immer wieder zu Ost-West-Unterschieden und -gemeinsamkeiten42 den nationalen Bezugsrahmen für Geschichtsbetrachtung zwar in ein weiteres gesamteuropäisches Bezugsfeld stell(t)en, aber eben doch zunächst primär zur Ausbildung eines Bewusstseins für das nationale Eigene in seiner historischen Dimension beitragen woll(t)en. Dass sich die mit vielfältigen Medien operierenden Jubiläums-Inszenierungen von Geschichte an ein breiteres Publikum richten, zeigt nicht zuletzt auch die Flut von »Oral History«43, die zu diesen Anlässen veröffentlichten Erinnerungsberichte der »kleinen Leute« an ihren Kriegsalltag oder an ihr Leben im durch die Mauer geteilten Deutschland, fern der »Brüder und Schwestern« im anderen Teil der Nation – Erfahrungen, mit denen sich jede/r in der so konstituierten Erinnerungsgemeinschaft identifizieren kann oder können soll. Als beispielsweise im Jahr 1999, zunächst noch vor dem Mauerfall-Jubiläum und der großen Millenniumsfeier das 50jährige Bestehen der Bundesrepublik begangen wurde, bot sich die Gelegenheit, ein neues Deutschlandbild zu zeichnen und zugleich positiv besetzte Alltagssymbole als Identifikationsobjekte anzubieten. Die große bundesdeutsche Jubiläumsausstellung im Berliner Gropius-Bau setzte sie in Szene, die Aufbauleistungen der »jungen Bundesrepublik«: VW Käfer, die D-Mark und Ludwig Ehrhards Soziale Marktwirtschaft als Garant für Sicherheit und Wohlstand – und vor allem das Grundgesetz.44 Entsprechend zeigten buntbebilderte Extrabeilagen in allen Tageszeitungen die Stationen von ›50 Jahren BRD‹, sie vermittelten Berichte über Verfassungsfeiern und ausgewählte, positiv besetzte Erinnerungsorte der Nachkriegsgeschichte (so erinnerten sie etwa an die ›Helden von Bern‹ und andere wichtige Fußballsiege). Internetseiten und Verfassungsschauen der Regierung, über das Internet veranstaltete Schülerwettbewerbe zur Auseinandersetzung mit den Highlights der Nachkriegsgeschichte, Kabarett- und Theaterveranstaltungen, Ausstellungen, Ringvorlesungen an den Universitäten, Unterrichtsmaterial für die Schulen, Buchpublikationen Konferenz in Zusammenarbeit mit: Stiftung Topographie des Terrors, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Ort: Kronprinzenpalais 17.1.–9.4.2002, siehe auch das umfangreiche Begleitprogramm mit Vorträgen, szenischen Darstellungen, Filmen, Führungen und Zeitzeugengesprächen in H-Soz-u-Kult, 11.1.2002. 42 Z. B. Dieter Vorsteher (Hg.), Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder Rituale und Symbole der frühen DDR. Buch zur Ausstellung des DHM vom 13.12.1996 bis 11.3.1997, Berlin 1996; siehe auch: Rosmarie Beier (Hg.): Aufbau West Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit. Buch zur Ausstellung des DHM vom 16.5. bis 12.8.1997, Berlin 1997. 43 Siehe z. B. die Fernsehserien von Guido Knopp, der historische Dokumentation mit Zeitzeugenberichten und fiktionalen Spielfilm-Sequenzen kombiniert und ein eigenes, höchst populäres Genre geschaffen hat. 44 Manfred Rexin (Hg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Wege der Deutschen 1949–1999. Ausstellung Deutsches Historisches Museum Berlin. Haus der Geschichte der BRD Bonn. Kunst und Ausstellungshalle der BRD Bonn (23.5. bis 3.10.1999 im Martin-Gropius-Bau), Reinbek 1999.
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und Nachkriegs-Erinnerungsberichte, aber auch Briefmarken (siehe Abb. 2) und Telefonkarten trugen ausgewähltes Wissen um die ›junge Bundesrepublik‹, deren Ikonen und Leitvorstellungen, in den Alltag hinein.45 Mit Hilfe dieser ein überwiegend positives (West-)Deutschlandbild zeichnenden Erinnerungsmotive konnte in diesem Feierkontext die dunkle Zeit davor – Ausschwitz – aus der Dominanz verdrängt werden, die sie im öffentlichen Gedächtnis der vergangenen 50 Jahre innegehabt hatte. Zur 50-Jahr-Feier der neuen, geläuterten BRD, und 10 Jahre nach deren Erweiterung um die ostdeutschen Neubürgerinnen und Neubürger gab es jetzt einen neuen Gründungsmythos: die Verabschiedung des freiheitlichen Grundgesetzes 1949. Deutschland benötigte, gerade um sich in Europa nach der Wiedervereinigung als verlässlicher demokratischer Staat zu positionieren, einen solchen Gründungsmythos, der ihn an die Seite der anderen westlichen Nationen stellt. Außerdem wurde hier die Überlegenheit des westlichen Staats- und Wirtschaftsmodells gegenüber der in diesem Kontext weniger repräsentierten DDR-Nachkriegsgeschichte gefeiert – in der Ausstellung im Gropius-Bau bildete die DDR-Geschichte lediglich eine kurze, marginale Sackgasse.
IV. Nation Branding: Die Nation als Marke Wurde die deutsch-deutsche Vereinigung für viele Ostdeutsche auch eine Zeit biografischer Krisen und Umorientierungen, so war es auch gesamtgesellschaftlich eine Umbruchszeit, in der alte Symbole und mit diesen auch Geschichtsbilder ausgetauscht wurden – in den Städten wurden die sozialistischen Helden von ihren Denkmalsockeln geholt, Straßen wurden umbenannt –, und es wurden neue Symbole generiert. Unter den neu entdeckten Vereinigungssymbolen war vor allem die Nationalflagge. Während die Flagge in der ›antinationalen‹ weiteren Nachkriegszeit höchstens zu offiziellen Staatsanlässen gezeigt worden war, war jetzt ein Bann gebrochen. Hinzu kam die gewonnene Fußballweltmeisterschaft 1990. Von da an entwickelten sich die Nationalfarben im Laufe der 1990er Jahre vom Symbol der friedlichen Wiedervereinigung des ›einen Volkes‹ zu einem auch informell im Alltag gebrauchten Symbol. Die im Flaggenmeer leuchtenden Fanmeilen und Fußballarenen zu Weltmeisterschaften sind spätestens seit dem ›Sommermärchen‹ der WM 2006 ein auch in Deutschland bekanntes Phänomen. Das Nationale hat sich also in den 1990er Jahren, vor allem auch im Kontext der internationalen Sportwettkämpfe informalisiert, festivalisiert und pluralisiert. Für diese Veränderungen der deutschen Selbstrepräsentation, die das Nationale zum Alltagssymbol für jedwede Feierlichkeit oder Produktwerbung nutzbar werden ließ, sind nicht zuletzt auch die Nation Branding-Kampagnen einflussreich gewesen, die von neuartigen Netzwerken aus Politik, Medien und 45 Belege bei Götz, Deutsche Identitäten, S. 178–184.
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Abb. 2: Briefmarkensammelheft »50 Jahre Deutsche Mark«, hg. von der Deutschen Post, 4 DIN-A-5-Seiten mit eingelegter 1DM-Kursmünze und vier gestempelten Sondermarken »1 Deutsche Mark« (Entwurf Ernst Jünger, München), Erstausgabe 19.6.1998, sowie einer gestempelten Marke »Ludwig Ehrhard 1897–1977« (Entwurf Ernst Jünger), Ausgabetag, 4.2.1997.
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Abb. 3: Die Berliner Love Parade als Vermittlerin eines neuen Deutschlandbildes, Ausstellungsmotiv der Londoner Werbeagentur Wolff Olins im Kontor-Haus, Berlin, Friedrichstraße 8.–17. Januar 1999, Foto: Irene Götz.
Wirtschaftsverbänden organisiert werden. Die jährlichen Feiern zum Tag der Deutschen Einheit, die Mauerfall-Jubiläen und insbesondere die Fußballweltbzw. Europameisterschaften oder auch der Eurovision Song Contest sind hier beliebte Kontexte der nationalen Selbstinszenierung und des Produktmarketing, das auf die Aura nationaler Zuschreibungen setzt. Mit dem Nationalen lassen sich längst wieder Produkte verkaufen. Und die Nation selbst wird als Marke inszeniert. Werbeagenturen verpassen den alten europäischen Nationalstaaten ein neues Image. Nicht mehr das alte, nazistische, angestaubte Deutschlandbild, nicht mehr nur die Traditionen der ›Dichter und Denker‹, sondern eben auch neue modische Helden und Heldinnen aus dem Kontext Lifestyle und Pop – die Werbeagenturen bemühten sich, das Bild Deutschlands als Erlebnisgesellschaft und Wirtschaftsstandort hipper, jünger, attraktiver zu machen. Am bekanntesten ist wohl die multimediale Kampagne »Du bist Deutschland« geworden, die, unmittelbar nach der Bundestagswahl 2005 gestartet, sofort zur ›prime time‹ 17 Millionen Menschen über alle großen Fernsehkanäle erreichte.46 Mit ihr wurden die Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung 46 Siehe für eine Zusammenstellung wichtiger Informationen und der häufig geäußerten Kri-
tikpunkte an dieser Kampagne den entsprechenden Wikipedia-Eintrag, http://de.wikipedia.org/ wiki/Du_bist_Deutschland [10.03.2016].
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Abb. 4: Inszenierung des »New Beatle« auf einer Ausstellungs-Stellwand der Nation Branding-Kampagne von Wolff Olins, Kontor-Haus, Berlin, Friedrichstraße 8.–17. Januar 1999, Foto: Irene Götz.
(»Agenda 2010«) legitimiert. Schmackhaft gemacht werden sollte das Konzept der Eigeninitiative als Basis eines jetzt aufzubauenden neuen Gemeinschaftssinns. ›Frag nicht, was das Land Dir geben kann, sondern was Du dem Land geben kannst‹, so lautete die Devise. Hier wird, während der Sozialstaat und die Arbeitsmarktpolitik im Sinne des deregulierten und aktivierenden Staates umgebaut werden, die Mutation des fordistischen Angestellten zum postfordistischen Unternehmer seiner Selbst gefordert. Nation Branding dient als Führungs-, oder besser, Selbstführungsinstrument. Diese Nation Branding-Kampagnen waren in Deutschland bereits in den 1990er Jahren vereinzelt zu beobachten, nahmen im Kontext der neuen Selbstbeschreibungs- und Positionierungsversuche Deutschlands in Europa nach der Wiedervereinigung ihren Anfang. Eine solche in den 1990er Jahren noch ausgesprochen ungewohnte Selbst-Werbung Deutschlands bedurfte offensichtlich zunächst des Blickes ›von außen‹. Eine britische Werbeagentur – Wolff Olins –, die bis dahin vor allem große Firmen der Automobilindustrie beraten hatte, sollte Deutschlands Image in einer multimedialen Kampagne zu einer pfiffigen Marke für den europäischen Markt aufpolieren. Gerade angesichts der offenen Grenzen nach Europa müssten in Deutschland neue, frischere nationale Symbole her, müsse die wiedervereinigte Republik endlich ihr verstaubtes Image als Land der Biertrinker und Nazis aufgeben,
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Abb. 5: Deutschland als globale Marke. Ausstellungsmotiv der Londoner Werbeagentur Wolff Olins im Kontor-Haus, Berlin, Friedrichstraße 8.–17. Januar 1999, Foto: Irene Götz.
um sich im Reigen der selbstbewussten europäischen Nationen behaupten zu können, so argumentierte die im Auftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens operierende britische Werbeagentur: »Eine neue Regierung, eine neue Hauptstadt, ein neues Jahrtausend. Wie sieht das Gesicht des neuen Deutschland aus – daheim und in der Welt?« Mit diesem rhetorisch gefeierten Grenzübertritt in eine neue raumzeitliche Dimension begründete die Agentur im Jahr 1999 ihre Image-Kampagne, die mit einer im Touristen-Mekka Berlin-Mitte gezeigten Ausstellung und entsprechenden Fernsehsendungen sowohl nach innen als auch vor allem nach außen wirken sollte.47 Die Agentur präsentierte die Berliner »Love Parade« als neues Symbol eines gar nicht mehr »abgeschotteten«, »langweilig«soliden Deutschlands. Neben solchen internationalen Events waren es vor allem Mode-Ikonen wie Claudia Schiffer und formschöne Lifestyle-Produkte ›Made in Germany‹ – wie zum Beispiel die Retro-Version des VW-Käfer, der Beatle –, die hier zu Sinnbildern für eine junge weltoffene Erlebnisgesellschaft stilisiert wurden (siehe Abb. 3, 4). Diese Kampagne ist ein Beispiel dafür, wie die Grenzöffnung und Konkurrenz politisch eng zusammenwachsender Nachbarn neue diskursfähige semantische Belegungen des Nationalen hervorbringt – eine bislang in der deutschen Forschung wenig beachtete Form der Renationalisierung im Kontext Lifestyle 47 Die hier abgedruckten Zitate entstammen den Texttafeln der Ausstellung, die vom 8. bis
17.1.1999 im Kontor-Haus, Berlin Friedrichstraße, gezeigt wurde und der Vor-Ort-Bestandteil der ZDF-Kampagne war, die dann in der Sendung »Total Global«, ausgestrahlt am 10.1.1999, ausführlich vom Aspekte-Moderator Wolfgang Herles vorgestellt wurde.
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und Pop. Dieser Versuch eines symbolpolitischen ›nation re-building‹ bedeutete in diesem Fall auch zugleich ein ›building Europe‹. Ganz konform zu diesem gängigen Diskurs einer doppelten Identitätsbildung, der die nationale Identität in einer neuen europäischen aufgehoben sehen wollte, spricht die Werbeagentur in ihrem Ausstellungstext von einer »Sowohl als Auch-Logik des Einschließens: Nicht Vielfalt ODER Einheit, sondern Vielfalt UND Einheit.«48 Es gelte die regionale Vielfalt der Nationen im Zuge der fortschreitenden europäischen Einigung angemessen herauszustellen. Für den größeren europäischen Bezugsrahmen wurden vertraute Symbole verfremdet, etwa das Schwarz-Rot-Gold, das im Logo und Leitmotiv der Agentur mit dem europäischen Blau fröhlich schwungvolle Farbenspiele eingeht. Sie wurden auf diese Weise, durch formale und inhaltliche Erweiterungen oder Verbindungen mit anderen Symbolen, mit dem Europa-Gedanken harmonisiert und kompatibel gemacht. Nicht nur das Schwarz der Nationalfarben weicht hier dem freundlicheren Blau, sondern auch die rechteckige Form der streng nacheinander angeordneten Farben Schwarz und Rot und Gold löst sich in diesem Logo, das wie im Falle der Love Parade-Darstellung den Bild-Montagen und gezeigten Objekten beigefügt wurde, in beliebig variierbare, elastische Bildmotive auf. Blaurotgold ist in der Ausstellung etwa die knautschige Startnummer Joschka Fischers, der als damaliger wendiger »Marathonmann« stellvertretend für den neuen mobilen Politkertypus steht, oder die schwungvolle Kolorierung der Reichstagskuppel, die von einer in der schwarzen Berliner Nacht blaurotgold leuchtenden Flagge geziert wird (Abb. 5). In solchen Kampagnen kreier(t)en Agenturen und Medien eine hybride euro-nationale Kultur, zusammengesetzt aus umgedeuteten oder umarrangierten alten nationalen Traditionen und neuen Sinnbildern.49
V. Fazit Wiederentdeckung des Nationalen heißt im Falle des vereinigten Deutschlands nicht einfach die Wiederbelebung traditionaler Versatzstücke aus dem nationalen Zeichenrepertoire des 19. Jahrhunderts, sondern sie verbindet sich vielmehr mit neuen oder neu gedeuteten Geschichtsbildern, identifikativen Überzeugungen und regionalen Verortungen. Auf der Suche nach neuen deutschen Selbstbildern und Identitäten verbindet sich das Nationale auch mit neuen Helden mit oft kurzem Verfallsdatum, wenn es um Sportler oder Medienstars geht. Das Nationale 48 Ebd., siehe auch Götz, Deutsche Identitäten, S. 209–216. 49 Auch in anderen Ländern, z. B. in England, hatten Ende der 1990er Jahre multimediale
Kampagnen zur Imagegestaltung der Nation Konjunktur, insbesondere über die Inszenierung eines zukunftsorientierten, scheinbar die alten Klassengegensätze überwindenden und ökonomisch potenten New Britain im »Millennium Dome«. Siehe dazu Silke Meyer, Cool Britannia: Zur Konstruktion des Nationalen im Millennium Dome, London, in: Zeitschrift für Volkskunde 101 (2005), 1, S. 49–68.
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kommt gerade hier in ästhetischen Spielarten daher, wie etwa bei den Produktinszenierungen der Nation Branding-Kampagnen. In Deutschland, wie in vielen Ländern Europas, lässt sich in den letzten 25 Jahren demnach ein vielfältiger und auch informell gewordener Umgang mit nationalen Selbst- und Fremdbildern in Politik und Alltag beobachten. Zu nennen sind hier, besonders augenfällig, das fröhliche Flaggezeigen in den Fußballarenen, aber auch ernste Debatten um ›Leitkultur‹, wie sie Ende der 1990er Jahren eine besondere Konjunktur in Wahlkampzeiten hatten,50 und die Debatten um nationale Identitätsbestimmung in einem wiedervereinigten Einwanderungsland, in dem weiterhin das »kulturelle Erbe« der Einwanderer wie der Ostdeutschen zu integrieren ist. Zu denken ist – im Zusammenhang der Neupositionierung dieses wieder einflussreichen Staates in Europa – an Jubiläen und Einheitsfeiern, an Ausstellungen und neu gegründete Museen und Gedenkstätten, die zur Auseinandersetzung mit den beiden prominenten Bezugspunkten deutscher Erinnerungskultur herausfordern. Dies sind die NS-Geschichte und in jüngerer Zeit zunehmend auch die Suche nach einer ausgewogenen Präsentation der DDR zwischen Diktaturgeschichte und persönlichem Alltagserleben.51 Zu denken ist überdies auch an ein Revival des Wirtschaftspatriotismus, an Kampagnen, die die Nation mit ihren Produkten und Ideen als spezifische Marke und Standort im europäischen Staatenreigen positionieren. Der in der Nachkriegszeit vorherrschende antinationale Diskurs wird jedenfalls spätestens in den 1990er Jahren von einer Konjunktur der nationalen Thematik abgelöst. Seit Beginn der 1990er Jahre nimmt in Deutschland wie im übrigen Europa ein handfester, ökonomisch gegründeter, neuer, rechter Nationalismus zu, der gerade in Zeiten der Eurokrise nationale Eigeninteressen gegen die Europäische Union in Anschlag bringt. Man denke an die Argumentationen der Europa-Gegner, etwa an die neue rechte Partei AfD. Angesichts der unzufriedenen ›Wutbürger‹, die gegenwärtig auf Deutschlands Straßen für die Verteidigung des ›christlichen Abendlandes‹ und gegen islamische Einwanderer votieren, stellt sich generell die Frage, inwieweit die Enttabuisierung des Nationalen in den letzten 25 Jahren nicht auch den Boden dafür bereitet hat, dass gegenwärtig in völkisch-nationalistischen und extremistischen Formen ›gegen die Fremden‹ Flagge gezeigt werden kann. Das Nationale bleibt weiterhin vielschichtig – es ist wie im 19. Jahrhundert, in der Zeit der Nationalbewegungen, ein Symbolkomplex und eine Ideologie, die sich an unterschiedlichste Probleme anlagern und mit allen möglichen politischen oder ökonomischen Zielen verbinden lässt. Je nach dem verband sich der nationale Bedeutungskomplex damals (wie zur Wendezeit) mit dem freiheitlichen ›demos‹-Begriff oder er war stärker am ›ethnos‹-und nationalen Einheitsstreben orientiert. Jedoch erscheinen in der Wiedervereinigungsgesellschaft das funktio50 Siehe Götz, Deutsche Identitäten, S. 216–222. 51 Siehe Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009.
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nale Spektrum, die Kontexte und die emotionalen und kognitiven Rollen sowie die medialen, ästhetischen Repräsentationen, in denen nationale Diskurse und Praktiken sich nach 1990 zeigen, noch weitaus pluraler geworden zu sein. Jedenfalls sind sie in einer ›postnationalen Gesellschaft‹ keinesfalls bedeutungslos geworden.
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eit Erfindung der Zeitgeschichte als historische (Sub-)Disziplin wird um die Frage gestritten, ob es einer zeitlichen Distanz bedürfe, um Vergangenes geschichtswissenschaftlich untersuchen zu können. Selbstverständlich sollten methodische Aspekte darüber entscheiden, ob die Historisierung eines Ereignisses oder eines Phänomens gelungen ist. Dennoch taucht – sowohl in der Forschung als auch im populären Umgang mit Geschichte – immer wieder die Position auf, nur das sei historisch zu behandeln, was schon lange vorbei und irgendwie abgeschlossen, also eben »Geschichte« sei. So verwundert es nicht, dass zeithistorische Darstellungen zur deutschen Geschichte lange mit dem Jahr 1990 schlossen, als die deutsche Zweistaatlichkeit ein Ende fand und somit – besonders aus Perspektive der Politikgeschichte, die ja in der Zeitgeschichte eine prominente Position einnimmt – ein großes Kapitel beschlossen war. Das, was danach kam, bedurfte somit auch noch keiner expliziten wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Wer sich dagegen mit der Zeit ab 1990 beschäftigte, sah sich nicht selten einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Freilich beförderten die Jahre 1989/90 grundlegende Wandlungen in der deutschen Zeitgeschichte, nicht nur, aber besonders mit Blick auf die Politikgeschichte. Einen Endpunkt stellten sie allerdings nicht dar, vielmehr einen Übergang hin zu einer Zeit, die noch viele Fragen offen lässt, die aber zugleich mittlerweile über ein Vierteljahrhundert andauert. Umso erfreulicher ist es, dass die Scheu der zeithistorischen Disziplin vor der gegenwartsnahen Zeitgeschichte in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen hat: In zunehmender Zahl sind nun Werke zur deutschen oder europäischen Geschichte erschienen, die den Anspruch einer Überblicksdarstellung haben, und die nicht mit den Jahren 1989/90 enden.
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»Eine Geschichte der Gegenwart – ist das möglich?« fragt Andreas Rödder in seinem jüngst erschienen Buch mit dem Titel »21.0«1 – Ja, möchte man angesichts jüngerer Publikationen antworten, anscheinend ist das nun möglich. Die jüngste Zeitgeschichte ist nicht nur salonfähig geworden, sondern liegt sogar im Trend: Wohl noch nie in der deutschen Geschichtswissenschaft ist der Gegenwartsbegriff so häufig und titelgebend gebraucht worden wie in den vergangenen Jahren: Neben Andreas Rödder schrieben in den vergangenen Jahren Manfred Görtemaker, Edgar Wolfrum, Hartmut Kaelble, Eckart Conze, Heinrich August Winkler, Axel Schildt und Detlev Siegfried die Geschichte »bis in die« oder »bis zur Gegenwart«. Andreas Wirsching hat die Geschichte »unserer Zeit« geschrieben, Michael Gehler schrieb sie »bis heute«. Frank Bösch untersuchte die »Umbrüche in die Gegenwart«, Morten Reitmeyer und Thomas Schlemmer »die Anfänge der Gegenwart«. Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael und Thomas Schlemmer befassten sich zudem mit der »Vorgeschichte der Gegenwart«.2 Die selbstbewusste Haltung der HistorikerInnen gegenüber dem Verhältnis von Geschichte und Gegenwart hat sich nun also in der deutschen Historiographie so weit etabliert, dass sie sich in großen Synthesen und Überblicksdarstellungen zur Zeitgeschichte Deutschlands niederschlägt. Diese Darstellungen werden im Folgenden genauer in den Blick genommen. Denn es stellt sich die Frage, mit welchen Begriffen und Narrativen die Jahre nach 1989/90 rückblickend gedeutet wurden. Das ist nicht zuletzt deshalb relevant, da die hier hinzugezogenen Darstellungen nicht nur einen Überblicksanspruch formulieren, sondern auch über eine hohe Deutungsautorität unter Studierenden, Dozierenden und geschichtsinteressierten Laien verfügen, sie also auch als Nachschlage- oder Grundlagentexte über die Geschichte Deutschlands verstanden werden können. Ausgewählt wurden also Publikationen aus der deutschsprachigen Zeitgeschichtsforschung, welche die deutsche Geschichte als Überblick auch für die Zeit nach dem Mauerfall behandeln.3 Ob die Zeit vor 1989 analysiert wurde und 1 Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2015, S. 11. 2 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael / Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der
Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016; Morten Reitmayer / Thomas Schlemmer (Hg.): Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014; Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 9 (2012), 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1–2012/id=4421 (29.9.2015), Druckausgabe: S. 8–32. Zur vollständigen Angaben der übrigen Titel vgl. Anmerkung 3. 3 Besonders berücksichtigt wurden (in der Reihenfolge des Erscheinens aufgelistet): Manfred Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999; Konrad H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945–1995, München 2004; Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006; Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007; Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart,
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ob die Schwerpunkte dort eher auf der Geschichte West- oder Ostdeutschlands lagen, war für die Auswahl ebenso unbedeutend wie die Frage, ob die deutsche Geschichte separat oder als Teil einer europäischen Geschichte erzählt wurde.4 Überblicksdarstellungen, welche in der Zeit vor 1989 den Schwerpunkt auf die DDR-Geschichte legten und diese als ost- oder gesamtdeutsche Geschichte in den 1990er Jahren fortsetzten, konnten indes nicht gefunden werden.5 Ebenso vermisst werden zeithistorische Überblicksdarstellungen, welche nicht von Männern verfasst wurden. Die hier in den Blick genommenen Autoren erfuhren zudem ihre wissenschaftliche Sozialisierung hauptsächlich in der Bundesrepublik Deutschland, teilweise auch in den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Frage nach der Bedeutung einer zu Zeiten des Kalten Krieges vielleicht prägenden ›westlichen‹ Standortgebundenheit sowie deren Reflexion liegt daher auf der Hand.6 Ziel der folgenden Ausführungen war es jedoch in erster Linie, sich mit dieser Auswahl der Frage zu nähern, auf welche Weise die Geschichtswissenschaft in Deutschland die Geschichte ihres eigenen Landes seit der deutschen Einheit benennt, interpretiert und strukturiert. Schwerpunktsetzungen, Begriffe, Deutungen und Periodisierungen spielen also im Folgenden eine zentrale Rolle. Ziel ist München 2009; Axel Schildt / Detlev Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, Michael Gehler, Deutschland. Von der Teilung zur Einigung. 1945 bis heute, Wien/Köln/Weimar 2010; Constantin Goschler / Rüdiger Graf, Europäische Zeitgeschichte seit 1945, Berlin 2010; Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014; Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart, München 2015; Rödder, 21.0. Hier nicht enger behandelt, aber nennenswert aus der Politikwissenschaft: Klaus Schroeder, Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung, München 2006; Eckhard Jesse (Hsg.), Neues Deutschland. Eine Bilanz der deutschen Wiedervereinigung, Baden-Baden 2008. Internationale Forschungsarbeiten wurden vereinzelt hinzugezogen. 4 Aus globalgeschichtlicher Perspektive hier wichtig zu nennen: Akira Iriye / Jürgen Osterhammel (Hg.): Geschichte der Welt. 1945 bis heute. Die globalisierte Welt, München 2013. 5 Die einschlägigen Monografien zur DDR-Geschichte bzw. zum Ende der DDR enden alle spätestens mit der deutschen Einheit, so z. B. Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009; Erhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München/Zürich 2008; Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Herrschaft und Alltag in der DDR 1971–1989, Berlin 2009; Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949–1990, München 1998. Bei Wolfgang Schuller findet sich eine abschließende Reflexion über die Bedeutung der Jahre 1989/90 für die deutsche Geschichte: Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution 1989, Berlin 2009. Eine kurze Studie von Stefan Wolle blickt immerhin aus dem Jahr 2009 zurück auf die DDR-Geschichte: Stefan Wolle, 20 Jahre nach der Friedlichen Revolution in der DDR. Studie von Stefan Wolle zu Alltag und Umbruch in der DDR 1989 aus Anlass der öffentlichen Veranstaltung des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer am 26. Juni 2009 in Berlin, Berlin 2009. 6 Vgl. hierzu auch Peter Hoeres: Gefangen in der analytisch-normativen Westernisierung der Zeitgeschichte. Eine Kritik am Konzept der Zeitbögen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015) 3, S. 427–436, hier: S. 427 f.
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dabei nicht ein systematischer Vergleich der hier thematisierten Werke, sondern eine allgemeine und aufgrund der hier gebotenen Kürze bisweilen exemplarische Annäherung an die Tendenzen und dominierenden Sichtweisen der deutschen Historiographie auf die Geschichte Deutschlands und Europas nach 1989/90.
I.
Gründe für den Aufstieg der »Gegenwartsgeschichte«
Die Vor- und Nachteile eines frühen historischen Blicks auf die Zeit, die gerade nicht mehr als Gegenwart, wohl aber als »Epoche der Mitlebenden« bezeichnet werden kann, hat bereits Hans Rothfels im Jahr 1953 mit Blick auf die NSVergangenheit vorgetragen.7 Im Kern hat sich an seiner Argumentation nichts geändert: Während die biographische Nähe zum Untersuchungsgegenstand das Problem in sich birgt, noch keine (vermeintlich) abgeschlossene Geschichte erforschen zu können, so ermöglicht sie jedoch auch gerade eine bessere Kenntnis über die zu erforschenden Jahre und ein höheres Maß an Empathiefähigkeit. Auch auf die Besonderheiten der Quellenlage ging Rothfels in seinem Beitrag ein. Aus heutiger Sicht hinzufügen ließen sich höchstens noch zwei Aspekte: Erstens weisen aus technologischer Sicht Quellenproduktion, -archivierung und -zugänglichkeit vor allem hinsichtlich der jüngsten Vergangenheit Besonderheiten auf.8 Zweitens hat sich die Bandbreite der als relevant anerkannten Quellen in der Geschichtswissenschaft aufgrund methodologischer Perspektivenweiterungen stark verbreitert.9 Diesen zweiten Aspekt kann und sollte sich gerade die jüngste Zeitgeschichtsforschung zu Nutze machen. Woher kommt aber nun dieses auffällig breite Umdenken hin zur gegenwartsnahen Historiographie? Die Annäherung der HistorikerInnen an die Gegenwart hat erstens innerdisziplinäre, zweitens äußere Gründe, welche die Rolle der Geschichtswissenschaft in Öffentlichkeit und Gesellschaft betreffen. Zum erstgenannten Bereich gehören sechs miteinander verwobene Ebenen: erstens die Tatsache, dass die jüngste Zeitgeschichte ein neu zu erschließendes Forschungsfeld darstellt, zu dem noch wenig publiziert worden ist.10 Zweitens hat 7 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953),
S. 1–8. 8 Vgl. z.B. Kiran Klaus Patel, Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), 3, S. 331–352. 9 Vgl. hierzu exemplarisch: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte – Theorien, Praxis, Schlüsselwörter, Frankfurt a. M. 2001; Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2006, aber auch z. B. der Einfluss der alltagsoder mediengeschichtlichen Ansätze in der historischen Forschung. 10 Dissertationen existieren jedoch mittlerweile einige, welche zeithistorische Fragestellungen im Zusammenspiel von West und Ost nach 1989 untersucht haben, etwa zur deutsch-deutschen Geschichte: Marcus Böick, Manager, Beamte und Kader in einer Arena des Übergangs. Eine Ideen-, Organisations- und Erfahrungsgeschichte der Treuhandanstalt und ihres Personals, 1990–1994, Diss. Bochum 2015. Zum ost-westlichen Wechselverhältnis im europäischen Rah-
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die methodische Diskussion um eine Geschichte »nach dem Boom«, welche in den 1970er Jahren beginnt und über die Zeit um 1989 hinausgeht (beziehungsweise von dieser oft völlig unberührt bleibt), diesen Prozess gefördert. 11 Drittens wird in der Zeitgeschichtsforschung immer stärker anerkannt, die Geschichte als »Problemgeschichte der Gegenwart« zu betrachten, also explizit von den Fragen und Herausforderungen der Gegenwart ausgehend historisch zu forschen.12 Die methodischen Fragen der jüngsten Zeitgeschichtsforschung wurden in den vergangenen Jahren viertens hinsichtlich ihrer möglichen disziplinären Abgrenzung zu den Sozialwissenschaften diskutiert. Damit einher ging und geht die Forderung nach einer Historisierung der Wissensbestände aus den gegenwartsorientierten Nachbardisziplinen der Zeitgeschichte.13 Fünftens ist die Forschung zur Zäsur 1989 mittlerweile so weit vorangeschritten, dass die Notwendigkeit, sie nicht nur in ihrem abschließenden, sondern auch in ihrem auslösenden Charakter zu untersuchen, nicht mehr in Frage gestellt wird:14 Zu Beginn war die Zäsur vorwiegend als Abschluss einer Geschichte untersucht worden (Ende der DDR, Ende des geteilten Deutschlands, Ende des Kalten Krieges, Ende der bipolaren Weltordnung). Diese Perspektive hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Nun stellt sich vermehrt die Frage, welche Aufbrüche, Neuerungen, aber auch langfristigen Kontinuitäten diese Zeit des beschleunigten Wandels ausmachten. Auf diese Perspektive folgt schließlich sechstens mittlerweile eine Diskussion um die mögliche Periodisierung der nachfolgenden Zeit, etwa anhand einer Zäsur ›9/11‹15 oder der Rolle der Wirtschafts- und Finanzkrise zwischen 2008 und 2011.16
men: Angela Siebold, ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengenraums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven, Paderborn 2013. Zum deutsch-deutschen Verhältnis mit Schwerpunkt vor 1989 siehe z. B. Christoph Lorke, Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt a. M. 2015. 11 Vgl. hierzu v. a. Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Lutz Raphael / Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; Frank Bösch, Umbrüche in die Gegenwart. 12 Bei der »Problemgeschichte der Gegenwart« geht es also gerade darum, dass heutige Probleme eine historische Vorgeschichte und ihre Ursachen nicht nur in gegenwärtigen Dimensionen haben. Zum Begriff vgl. Raphael / Doering-Manteuffel, Nach dem Boom, S. 25 mit Bezug auf: Hans-Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993) 1, S. 98–127, hier: S. 124. 13 Vgl. u.a. Rüdiger Graf / Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011) 4, S. 479–508. 14 Vgl. hierzu u. a. Marcus Böick / Angela Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: Deutschland Archiv 44 (2011), 1, S. 105–113. 15 Vgl. z.B. Manfred Berg, Der 11. September – eine historische Zäsur?, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 8 (2011), 3, S. 463–474. 16 So z. B. Wirsching, Preis der Freiheit, S. 392.
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In der zweiten, äußeren Dimension spiegelt die historiographische Schwerpunktverlagerung einen habituellen Wandel innerhalb der historischen Zunft wider. Dieser demonstriert eine ablehnende Haltung gegenüber einer Gelehrtenwissenschaft, die sich als exklusive und elitäre Forschung im Elfenbeinturm versteht. Stattdessen sollten, so die Vorstellung, HistorikerInnen mit Hilfe des Gegenwartsbezugs erstens die Relevanz der Geschichtswissenschaft für die Gesellschaft und damit zweitens ihre Legitimität auch außerhalb der Wissenschaft stärken. Dies geschehe drittens im Dialog mit außeruniversitären Wissensvermittlern, der verstärkt etwa unter dem Schlagwort der Public History gesucht wird.17 Viertens soll hierdurch auch die eigene Präsenz etwa in Printmedien oder im Fernsehen gestärkt werden. Mit diesem Wandel einher geht die Auseinandersetzung der HistorikerInnen mit konkurrierenden Akteuren bezüglich der gesellschaftlichen Deutungshoheit über zeithistorische Phänomene. ZeithistorikerInnen sind, das verwundert nicht, selten die ersten, die sich mit einem Phänomen beschäftigen. Wagen sie sich an ein Thema heran, so ist dieses in der Regel bereits von Journalisten (Sachbücher), von Zeitzeugen (Memoiren, Biographien), von Intellektuellen und Philosophen (Essays) sowie von Sozialwissenschaftlern (Fallstudien, Umfragen, Datenerhebungen) bearbeitet worden. Der in der Regel nachfolgenden historischen Forschung liegt damit ein großer Vorteil, aber auch eine Gefahr zugrunde: Einerseits kann sie sich bereits auf eine zeitgenössische Debatte und auf formulierte Deutungen beziehen. Andererseits besteht die Gefahr, dass sie sich zu stark an diese zeitgenössische Narrativen anlehnt und den Blick für eine kritische Historisierung verliert.18 Hier verbinden sich die äußere und die innerwissenschaftliche Dimension der »Gegenwartsgeschichte«: Der kritische Umgang mit zeitgenössischen oder von außen herangetragenen Narrativen stellt eine besondere Herausforderung dar, der es in der jüngsten Zeitgeschichtsforschung insofern noch aufmerksamer zu begegnen gilt, als dass sie häufig in den Denkweisen der ForscherInnen selbst verankert sind. Die Historizität der Narrative muss deshalb unter einem hohen Maß an kritischer Selbstreflexion erkannt werden. Die Standortgebundenheit der Geschichtswissenschaft ist hier besonders virulent: HistorikerInnen schreiben die Geschichte ihres eigenen Landes und über die Zeit, in der sie selbst wissenschaftlich sozialisiert wurden.
II. Ereignisse, Themen und Strukturen einer Zeitgeschichte nach 1989/90 Über die wichtigen Themen und Ereignisse der Zeit nach 1989/90 herrscht in der Historiographie auf den ersten Blick weitgehend Einigkeit. Am Anfang ste17 Zum Begriff der Public History und seiner Entwicklung siehe Irmgard Zündorf, Zeitge-
schichte und Public History, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, http://docu pedia.de/zg/Public_History?oldid=106468 [letzter Zugriff: 29.03.2016]. 18 Vgl. hierzu auch die Forderungen von Graf/Priemel, Zeitgeschichte, S. 507–508.
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hen der »Zusammenbruch«19 oder die »Erosion des Ostblocks«,20 welche das »Ende der Zweiteilung der Welt«21 einläutete. Nach diesen »Umwälzungen«22 in Europa waren aus Sicht der meisten Darstellungen zur jüngsten Zeitgeschichte ähnliche Ereignisse prägend: Für den deutschen Kontext ist hier besonders das Ende der Regierungszeit Helmut Kohls und der Beginn der rot-grünen Regierung als Einschnitt zu nennen. Letzterem wird als »rot-grünes Projekt« häufig der Charakter einer Ausnahmeerscheinung zugeschrieben.23 Weiterhin spielen die Herausforderungen der »doppelten Vergangenheitsbewältigung« und das neue Selbstverständnis des geeinten Landes eine Rolle. Auf Ebene der Europäischen Union bekommen der Maastricht-Prozess, die Einführung des Euro und die EUOsterweiterung große Aufmerksamkeit. Außerdem behandeln alle hier genannten Darstellungen die Balkankriege als wichtiges Thema für die Zeit nach 1989. Damit verbunden steht häufig das Narrativ einer neuen Gewaltgeschichte, die sich auch im Rechtsradikalismus im vereinten Deutschland der frühen 1990er Jahre niederschlage. International stehen die New Yorker Anschläge vom 11. September 2001, der internationale Terrorismus sowie die damit verbundenen nachfolgenden Kriege im Fokus der Aufmerksamkeit. Langfristige Prozesse und prägende Themen der Zeit zeigen sich den Darstellungen gemäß zudem in der Finanz-, Wirtschafts- und Immobilienkrise, in der Digitalisierung und der technologischen Entwicklungen sowie allgemein im überzuordnenden Phänomen der Globalisierung. Unklar bleibt jedoch häufig, wann und womit die bisherigen Darstellungen zur jüngsten Zeitgeschichte enden. Welche Diagnosen und Einschnitte, welche Problemstellungen und Ausblicke können einen zumindest vorläufigen Schlusspunkt setzen? Es ist überflüssig zu betonen, dass das Erscheinungsdatum der hier untersuchten Werke dabei eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Dennoch versuchen besonders diejenigen Darstellungen, welche sich explizit und ausführlich mit der Zeit nach 1989/90 beschäftigen,24 eine Periodisierung vorzunehmen. Wichtige Binnenzäsuren der Zeit ab 1989 bilden in der Zusammenschau vor allem der Regierungswechsel 1998,25 die Anschläge auf das World Trade Center 2001 sowie bei jüngeren Publikationen die beginnende Finanzkrise um 2008. In einigen Z. B. Wirsching, Preis der Freiheit, S. 27. Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 1093. Wolfrum, Geglückte Demokratie, S. 457. Ebd., S. 451 und 505; Gehler, Deutschland, S. 288. Vgl. zum Begriff des ›Projekts‹ den politikwissenschaftlichen Band von Christoph Egle / Tobias Ostheim / Reimut Zohlnhöfer, Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998–2002, Wiesbaden 2003. 24 Winkler, Geschichte der Gegenwart; Rödder, 21.0; Wirsching, Preis der Freiheit; Ther, Neue Ordnung. 25 Edgar Wolfrum, welcher der rot-grünen Regierungszeit eine ganze Monographie gewidmet hat, begründet die Bedeutung dieser Zäsur unter anderem damit, dass bei der Bundestagswahl 1998 zum bisher ersten Mal eine »amtierende Regierung vollständig abgewählt« worden ist. Nicht zuletzt dadurch sei die zeitgenössische Sensibilität für die Wahl als bedeutender Ein19 20 21 22 23
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Fällen wird die Zäsur 1989 hierbei als Beginn einer Übergangszeit betrachtet, die historiographisch anhand eines zweiten Einschnitts ihr Ende findet.26 Der häufig verwandte Begriff der Gegenwart, die den Schlusspunkt der Darstellung setzen soll, ist hier allerdings unbefriedigend, denn er bietet keine methodische Antwort auf die spezifischen Herausforderungen einer gegenwartsorientierten Geschichtswissenschaft. Alternative Zugänge zu eher chronologisch und ereignisorientiert gegliederten Darstellungen bieten diejenigen Bände, die sich der Geschichte Deutschlands als Teil einer europäischen Geschichte zuwenden. Da hier eine ereignisgeschichtliche Strukturierung aufgrund der Komplexität des Untersuchungsgegenstands schwer fällt, wird häufig eine thematische, systematische Struktur vorgeschlagen. Damit geht zwangsläufig ein methodischer Perspektivenwechsel einher. Es könne bei der europäischen Geschichte nicht darum gehen, so Rüdiger Graf und Constantin Goschler in ihrem Buch zur europäischen Zeitgeschichte, an Stelle einer abgeschlossenen Nations- nun eine solche Europageschichte zu schreiben.27 Ebenso reiche eine »Addition von Geschichten, die in Europa spielen«, nicht aus.28 Die von den beiden Autoren geforderte »Geschichtsschreibung in europäischer Perspektive«, die immer wieder auch über die Grenzen des Kontinents hinausgehen sollte, kann allerdings mit Blick auf die Zeit nach 1989/90 nur dann gewinnbringend sein, wenn sie mit Europa dezidiert den Westen und den Osten meint und den Anspruch der Multiperspektivität ernst nimmt. Ebenfalls eine themenbezogene Struktur wählt Hartmut Kaelble in seiner »Sozialgeschichte Europas«. Dabei kombiniert er beide Wege, einerseits kontinuierliche Prozesse über mehrere Jahrzehnte zu untersuchen, andererseits aber das Jahr 1989 als trennende Strukturierungsvorlage zu setzen.29 Für die Sozialgeschichte relevant sieht er die Zäsur als das Ende »der ideologischen und wirtschaftlichen Teilung Europas«,30 aber auch in West und Ost unterschiedlich stark gesellschaftliche Wandlungen nach der Zäsur.31 Auch die Darstellung des deutsch-amerikanischen Historikers Konrad Jarausch weicht von einem politikgeschichtlichen Schwerpunkt ab. Sie hat zum Ziel, den umfassenden Wandlungsprozess zu beleuchten, welcher sich in Deutschland hinsichtlich der politischen
schnitt vorhanden gewesen. Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013, S. 11. 26 So am prominentesten bei Karl Schlögel, der die Zeit zwischen dem Mauerfall und den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center als »Epoche zwischen zwei Bildern« beschreibt. Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang, München/Wien 2002, S. 9. 27 Goschler/Graf, Europäische Zeitgeschichte, S. 221 28 Ebd., S. 222. 29 Leider führt er nicht weiter aus, in welchem Fall er sich weshalb für welchen Weg entschieden hat. Vgl. Kaelble, Sozialgeschichte Europas, S. 12. 30 Ebd., S. 19. 31 Vgl. ebd., S. 417 f.
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Kultur und der Wertvorstellungen vollzogen hat.32 Jarausch, dessen Buch im Jahr 2004 erschien, lässt seine Untersuchung in einem längeren Ausblick nach der Zeit 1989/90 im Jahr 1995 enden.33 Er stellt somit nicht den Anspruch, bis in die (unmittelbare) Gegenwart zu schreiben, endet aber auch nicht mit dem politikgeschichtlichen Ende der deutschen Zweistaatlichkeit. Der thematischen Gliederung folgt somit allerdings für die Zeit nach 1989/90, wie in vielen anderen Darstellungen auch, lediglich ein längerer Ausblick, der aktuelle Herausforderungen umreißt.34
III. Übergangsnarrative nach der »Raumrevolution« 35 In allen untersuchten Darstellungen ist zumindest implizit eine räumliche Strukturierung des Untersuchungsgegenstands vorhanden. Dabei überwiegt die Sichtweise, dass sich die bestehende Ordnung durch 1989/90 grundlegend gewandelt habe. Allerdings wenden sich hier, aber auch allgemein nur wenige HistorikerInnen der Rolle von Raumkonzepten in der historischen Forschung explizit zu.36 Sie gilt es künftig zu stärken. Wünschenswert wäre etwa eine deutliche Kritik an der wissenschaftlichen Tauglichkeit von begrifflichen Raumdeutungen wie der ›Weltordnung‹ oder der Begriffe ›Ost‹ und ›West‹ zur Beschreibung komplexer Prozesse. Stattdessen sollte die Reflexion des Begriffs als jeweils historisch wandelbarer Ausdruck zeitgenössischer Ordnungsbedürfnisse im Vordergrund stehen, der die zeitgenössische Wirkmacht durchaus berücksichtigt, ohne sie zu übernehmen.37 Zum Wandel durch 1989 existieren zahlreiche politisch motivierte Narrative, welche anlassbezogen eingesetzt werden. Besonders zwei dieser Narrative tauchen auch in der zeithistorischen Historiographie auf. Demnach habe erstens ein Wandel von einer bipolaren zu einer multipolaren Welt stattgefunden. Zweitens müsse Deutschland (immer wieder) mit seiner starken Stellung innerhalb Euro32 Jarausch, Die Umkehr, S. 8–10. 33 Auch Charles S. Maier schließt seine Geschichte vom Ende der DDR im Jahr 1995: Charles
S. Maier, Dissolution. The Crisis of Communism and the End of East Germany, Princeton 1997. 34 Ebd., S. 351–369. 35 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt a. M. 2006, S. 25. 36 Hier vor allem ebd. und ders., Die Mitte liegt ostwärts. Explizit das Phänomen der Mental Maps behandelt Ther, Neue Ordnung, S. 267–276. Gehler betont eine geopolitische Gewichtsverschiebung in Europa in Folge der EU-Osterweiterung. Michael Gehler, »Zentralmacht Europas«? Die Berliner Republik außer- und innerhalb der Europäischen Union, in: Michael C. Bienert u. a. (Hg.): Die Berliner Republik. Beiträge zur deutschen Zeitgeschichte seit 1990, Berlin 2013, S. 91–122, hier: S. 121. 37 Vgl. Claudia Kraft: Die Geschlechtergeschichte Osteuropas als doppelte Herausforderung für die »allgemeine Geschichte«, in: H-Soz-u-Kult 06.06.2006; http://hsozkult.geschichte.huberlin.de/forum/2006-06-005.pdf (besucht am 29.03.2016), S. 3.
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pas umzugehen lernen.38 Beide Narrative werden exemplarisch anhand zweier häufig verwandter Begriffe, der ›Vereinigungskrise‹ und der ›Berliner Republik‹, verdeutlicht: Mit dem ersten Narrativ einher geht die Annahme einer neuen Unübersichtlichkeit sowie einer regionalen Verschiebung von Konfliktlinien. Samuel Huntingtons Formel vom Clash of Civilizations ist hier einzuordnen, aber auch die Idee einer Dezentralisierung und Fragmentierung von Machtstrukturen durch beispielsweise transnationale Netzwerke (Ökonomie, Migration, Terrorismus). Die hier in den Blick genommenen Darstellungen orientieren sich überwiegend an diesem Narrativ. Die räumliche Unübersichtlichkeit verbindet sich dabei mit Vorstellungen von Verunsicherung und Orientierungsverlust. Damit verbunden wird beispielsweise das neue Aufkommen neuer Gewalt nach der sogenannten ›Friedlichen Revolution‹. Besonders die frühen 1990er Jahre stehen historiographisch häufig im Gegensatz zum »Triumph der Hoffnung«39 von 1989/90. Neben der Gewalterfahrung (rechtsradikale Anschläge, Balkankriege) hätten ökonomische Rückschläge und soziale Belastungen Ernüchterung und Enttäuschung in die Zeit nach der deutschen Einheit gebracht (Privatisierungen, Arbeitslosigkeit). Hierdurch gelingt es, sowohl zeitgenössische Versprechen wie das der »Blühenden Landschaften«40 durch Bundeskanzler Helmut Kohl aufzugreifen und zugleich die ereignisreiche Zeit um 1989/90 mit dem strukturell geprägten Krisennarrativ der 1970er und 1980er Jahre zu verknüpfen. Ein prominenter Begriff, der dies in der Historiographie aufgreift, ist der von der ›Vereinigungskrise‹. Er stammt von Jürgen Kocka, der damit eine im Jahr 1995 veröffentlichte Aufsatzsammlung überschrieb.41 Es ging ihm dabei neben dem Zusammenwachsen beider deutscher Staaten allgemein auch um die Annäherung der historischen Disziplin aus beiden deutschen Staaten.42 Manfred Görtemaker bezog sich auf den Begriff: Die ›Vereinigungskrise‹ zeige sich auch darin, dass in Deutschland nach 1990 »ein Staat, aber zwei Gesellschaften« existiert hät-
38 Drei weitere bekannte politische Narrative spielen (zumindest in der Bundesrepublik) his-
toriographisch keine bedeutende Rolle: Erstens die Vorstellung, es habe ein Wandel von einer bipolaren zu einer unipolaren Weltordnung stattgefunden, nach dem die USA die letzte verbleibende Supermacht seien. Zweitens die Haltung, es habe kein Wandel stattgefunden. Hier einzuordnen sind die Prognosen eines neuen Kalten Kriegs, die Trennung des europäischen Kontinents in ein »altes« und ein »neues« Europa sowie die Betonung einer neuen Bipolarität zwischen dem »Westen« und der »Islamischen Welt«. Ebenfalls politisch motiviert ist drittens die Betonung einer Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas, hin zu einem vereinten, freien Land oder Kontinent. 39 John Lewis Gaddis, Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte, München 2007, S. 331. 40 Vgl. Görtemaker, Bundesrepublik Deutschland, S. 768. 41 Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995. 42 Vgl. hierzu besonders Jürgen Kockas Aufsatz »Die Geschichtswissenschaft in der Vereinigungskrise«, in: ebd., S. 47–55.
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ten.43 Auch bei Ulrich Herbert taucht der Begriff auf.44 Demnach hätten mehrere krisenhafte Prozesse und Ereignisse aus den 1990er Jahren »in vielen Hinsichten ein Jahrzehnt der Überforderung« gemacht.45 Edgar Wolfrum dagegen benennt damit vor allem die Kosten der deutschen Einheit; so sei »die ›Vereinigungskrise‹ […] ökonomisch deutlich meßbar« gewesen, die »Kosten der Einheit« seien »falsch eingeschätzt worden.«46 Auch Heinrich August Winkler schreibt von der ›Vereinigungskrise‹: »Große Teile der ostdeutschen Bevölkerung reagierten erbittert auf die ›Vereinigungskrise‹«. Sie sei, so Winkler, »das deutsche Gegenstück zu der ›Transformationskrise‹ […], in die die Staaten Ostmitteleuropas nach 1989 gerieten.«47 Winkler betonte zugleich mit Verweis auf Gerhard A. Ritter, dass der Unterschied zu den Entwicklungen in den ostmitteleuropäischen Staaten vor allem darin bestanden habe, dass sich die Ostdeutschen stärker beklagt hätten.48 Die ›Vereinigungskrise‹ wurde mit weiteren Schlagworten in Verbindung gebracht und bediente so das Krisennarrativ von den Schattenseiten der deutschen Einheit. So ist etwa vom »Preis der Einheit«49 für den »Aufschwung Ost«, von der »Einheit und ihre[n] Kosten«50 oder den »Folgen und Lasten der Einheit«51 die Rede. Die Geschichte der Treuhand ist hierfür das Paradebeispiel, die Perspektive freilich mehr die der westdeutschen als der ostdeutschen Gesellschaft. Doch das Narrativ einer krisenhaften Entwicklung macht nicht an den deutschen Grenzen halt, es wurde auch für die allgemeine Beschreibung Europas und der Welt verwendet. So überschrieb Heinrich August Winkler das erste große Kapitel im vierten Band seiner »Geschichte des Westens« mit den Worten »Vom Triumph zur Tragödie. 1991–2001«.52 Zwar handelt es sich bei Winkler um eine chronologische Gliederung, dennoch suggeriert seine Zäsursetzung innerhalb der jüngsten Zeitgeschichte eine Wertung im Sinne einer Verschlechterung. Dieses Bild verschärft sich durch die weitere Struktur des Bandes: Kapitel zwei wird vom Terrorismus eingeleitet und endet in der Finanzkrise, das dritte Kapitel ist mit dem Titel »Das Ende aller Sicherheit: 2008–2014« überschrieben.53 Auch für Eckart Conze folgte auf die 1990er Jahre eine »Neue Unsicherheit«54: Massenarbeitslosigkeit, Terrorismus und Klimawandel zählte Conze hierfür auf und deutete die Begeisterung der Deutschen bei der Fußball-Weltmeisterschaft
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Görtemaker, Bundesrepublik Deutschland, S. 772. Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 1143 f. Ebd. Wolfrum, Geglückte Demokratie, S. 472. Winkler, Geschichte der Gegenwart, S. 63. Ebd. Conze, Suche nach Sicherheit, S. 775. Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 1127. Gehler, Deutschland, S. 363. Winkler, Zeit der Gegenwart. Ebd. Conze, Suche nach Sicherheit, S. 933.
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2006 »als unbewusste Reaktion auf wachsende Ängste und Verunsicherungen«.55 Als eine von drei großen »Tendenzen« unserer Zeit stellte auch Andreas Rödder den »Umgang mit Ungewissheit«56 heraus: »Als Treiber des Wandels lassen sich hauptsächlich drei Kräfte ausmachen: die technologisch-ökonomischen Entwicklungen, der herrschende Rahmen des Denkens, Redens und Handelns sowie Ereignisse, Krisen und externe Schocks.«57 Handelt es sich bei diesen Darstellungen um die Fortsetzung des bereits bestehenden Krisennarrativs der 1970er und 1980er Jahre? Oder spiegelt das Bestehen der Historiker auf dem Aspekt der Verunsicherung nicht auch eine Unsicherheit wider, wie sie uns als Zeitgenossen inne wohnt, wenn wir die eben unübersichtlicher erscheinende, noch nicht zu ordnende gegenwartsnahe Geschichte betrachten? Neben der Deutung der jüngsten Zeitgeschichte als Zeit der Verunsicherung taucht in der Historiographie das Narrativ des Bedeutungszuwachses Deutschlands nach 1989 auf; einerseits, erst in den vergangenen Jahren, über den europäischen Umweg, wie Andreas Rödder mit Blick auf die Euro-Schuldenkrise deutlich machte und der die »deutsche Stärke in Europa« andererseits zugleich als eines von fünf »historische[n] Muster[n] […], die wir mindestens seit dem 19. Jahrhundert kennen«, identifizierte58 Die Vorstellung von einem Europa dominierenden Deutschland und den damit verbundenen Herausforderungen erfuhr insgesamt eine große Aufmerksamkeit in der Zeitgeschichtsschreibung für die Jahre nach der deutschen Einheit.59 Besonders prominent wurde hierbei der Begriff der ›Berliner Republik‹ verwendet, um die Jahre nach der deutschen Einheit zu überschreiben.60 Dabei handelt es sich weder um einen analytischen, noch um einen offiziellen Begriff. Vielmehr stellt die ›Berliner Republik‹ eine zeitgenössische und nichtwissenschaftliche Deutung dar. Die Einführung des Begriffs wurde zunächst dem Journalisten Gunter Hofmann, der 1991 in der Zeit von einer ›Berliner Republik‹ schrieb,61 Ebd. Rödder, 21.0, S. 390–392. Ebd., S. 390. Rödder, 21.0, S. 379 und S. 386 f. Vgl. in diesem Sinne auch Hans-Peter Schwarz, Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994. 60 So z. B.: Görtemaker, Bundesrepublik Deutschland, Schlusskapitel: »Von der Bonner zur Berliner Republik«; Jarausch, Die Umkehr, Schlusskapitel: »Konturen einer Berliner Republik: Schlussbetrachtungen«; Wolfrum, Geglückte Demokratie, Schlusskapitel: »Herausforderungen und Chancen: Von der Bonner zur Berliner Republik 1990 bis heute«; Conze, Suche nach Sicherheit, Schlusskapitel: »Auf dem Weg in die Berliner Republik« (1990–2001); Gehler, Deutschland, Schlusskapitel: »Drei unterschiedliche Republiken: Bonn – Pankow – Berlin: Versuch eines Resümees«; Schildt/Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, vorletztes Kapitel: »Die politische Kultur der ›Berliner Republik‹«. Einige der Autoren setzen den Begriff als Quellenbegriff in Anführungszeichen, (nur) wenige reflektieren ihn explizit als solchen. 61 Vgl. Michael C. Bienert u. a., Die Berliner Republik und die zeithistorische Forschung. Einleitung, in: ders. u.a. (Hg.), Die Berliner Republik, S. 7–34, hier: S. 10. 55 56 57 58 59
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vor allem aber dem Journalisten Johannes Gross zugeschrieben, der 1995 ein Buch mit dem Titel »Die Begründung der Berliner Republik« veröffentlichte, in dem er die von ihm wahrgenommenen Unterschiede zwischen der west- und der gesamtdeutschen Bundesrepublik schilderte.62 Auch Jürgen Habermas berief sich 1995 auf den Begriff.63 Es folgte die politische Vereinnahmung, zunächst durch Ablehnung von Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Roman Herzog, später durch die Berufung Gerhard Schröders und Joschka Fischers auf die ›Berliner Republik‹, um einen politischen und generationellen Einschnitt anlässlich des Regierungswechsels 1998 deutlich zu machen.64 Nachfolgend an seine politische Verwendung wurden auch in der Zeitgeschichtsforschung Bücher und Kapitel mit dem Schlagwort der ›Berliner Republik‹ versehen.65 Zwar erfuhr das Schlagwort aus der Politikwissenschaft,66 aber auch aus der Zeitgeschichtsforschung auch Kritik, die sich vor allem daran störte, dass die Unterscheidung von ›Bonner‹ und ›Berliner Republik‹ eine verfassungsoder staatsrechtliche Diskontinuität suggeriere.67 Zugleich fand der Begriff jedoch auch Zuspruch: Mit ihm ließe sich eine bestimmte Periode der deutschen Zeitgeschichte benennen, welche sich inhaltlich von der Zeit vor 1989/90 abgrenze.68 Manfred Görtemaker sah den Beginn der ›Berliner Republik‹ bereits am 3. Oktober 1990. Der Terminus sollte für ihn »die Neuartigkeit des politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes, in dem die Bundesrepublik seit 1989/90 agiert«, verdeutlichen.69 Auch für Edgar Wolfrum sollte die ›Berliner Republik‹ als »ein symbolhafter Ausdruck verstanden werden: Dafür, daß sich die Bundesrepublik in Reaktion auf die Umwälzungen nach 1989 selbst verändert, weil sich ihre langfristigen Entwicklungsbedingungen gewandelt haben.« Zu diesen zählte Wolfrum unter anderem die deutsche Einheit, die Euro62 Zur Begriffsgeschichte Michael Weigl / Lars C. Colschen, Politik und Geschichte, in: Karl-
Rudolf Korte / Werner Weidenfeld (Hg.), Deutschland-TrendBuch. Fakten und Orientierungen, Opladen 2001, S. 59–94, hier: S. 71; Patrick Bahners, Begründerzeit. Johannes Gross als Glossator des Verfassungswandels im Übergang von Bonn nach Berlin, in: Bienert u.a, Berliner Republik, S. 181–200; Max A. Höfer, Die »Berliner Republik« als Kampfbegriff?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2001), 6–7, S. 27–30. 63 Jürgen Habermas, Aus welcher Geschichte lernen? 1989 im Schatten von 1945. Zur Normalität einer künftigen Berliner Republik [1995], in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, Kleine Politische Schriften VIII, Frankfurt a. M., S. 165–187. 64 Vgl. dazu ausführlich und auch zum Alternativbegriff »Dritte Republik«: Manuel Becker, Geschichtspolitik in der »Berliner Republik«. Konzeptionen und Kontroversen, Wiesbaden 2013, S. 19–22. 65 Vgl. z.B. Manfred Görtemaker, Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung, Berlin 2009, oder auch den Sammelband von Bienert, Die Berliner Republik. 66 Zur v. a. sozialwissenschaftlichen Diskussion, inwiefern sich die ›Berliner Republik‹ wissenschaftlich operationalisieren ließe, vgl. Becker, Geschichtspolitik, S. 22–29. 67 Z. B. von Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1999, S. 9. 68 So z. B. Michael C. Bienert u. a., Berliner Republik, S. 16 f. 69 Görtemaker, Berliner Republik, S. 9.
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päische Integration und Erweiterung sowie neue Kriege und den internationalen Terrorismus.70 Michael Gehler, der den Begriff der ›Berliner Republik‹ in seinem Werk allerdings zurückhaltend verwendet, betonte: »Die Berliner Republik baut im Wesentlichen auf den Grundpfeilern des westdeutschen Staates auf.« Wichtige Aspekte seien zudem der Souveränitätsgewinn auf internationaler Ebene, aber auch die Beteiligung der Bundesrepublik an militärischen Einsätzen.71 Dennoch konstatierte Gehler: Es entstand mit der Berliner Republik ein neues bundesdeutsches Staatswesen, nicht mehr vergleichbar mit der Bonner Republik, geschweige denn mit der DDR – dagegen beruhten Betrachtungsweisen wie ›50 Jahre Bundesrepublik‹ (1999) oder gar ›60 Jahre Bundesrepublik‹ (2009) auf Pseudokontinuitäten und Scheinkonstruktionen.72
Gehler verwies an dieser Stelle auch auf den Wandel der politischen Kultur.73 Diese und dabei vor allem die Selbstwahrnehmung des vereinten Deutschlands war auch für Konrad Jarausch zentral, der 2004 die Frage, »auf welchem Erbe das ›neue Selbstverständnis der Berliner Republik‹ aufbauen würde«, als »Schüsselfrage« bezeichnete.74 Stärker noch als an einer klaren Definition des Beginns der ›Berliner Republik‹ mangelt es allerdings an ihrer zeitlichen Begrenzung in die Gegenwart hinein: Das Ende bleibt offen und somit zeigt sich wieder einmal die Schwierigkeit, zeitgenössische Narrative auf die jüngst vergangene Zeit anzuwenden und der (fast noch) Gegenwart einen historisierenden Namen zu geben.75 Deutlich wird jedoch: Die Definition geschieht vor allem ex negativo: Die ›Berliner Republik‹ umschreibt das Ende der ›alten Bundesrepublik‹ im westdeutschen Rahmen und zu Bedingungen des Kalten Krieges. Hiermit spiegelt sich auch in der Historiographie die Schwierigkeit wider, die Lage der Bundesrepublik nach dem Ende der Ost-West-Teilung, wissenschaftlich zu benennen.76 Vielleicht übernahm auch deshalb der Großteil der Darstellungen den Quellenbegriff der ›Berliner RepubWolfrum, Geglückte Demokratie, S. 505. Gehler, Deutschland, S. 480 f. Ebd., S. 482. Ebd. Jarausch, Umkehr, S. 352. Auch über die Forschung Jarauschs hinaus wird der Begriff der ›Berliner Republik‹ in der US-amerikanischen Historiographie für die Beschreibung Deutschlands nach der Einheit verwendet, so z. B. bei Mary Fulbrook, A History of Germany, 1918– 2014: the Divided Nation, Chichester, 4. Aufl. 2014. 75 Michael Gehler erklärte sogar, dass sich der Beginn der ›Berliner Republik‹ nicht an einem konkreten Datum festmachen lasse, sondern dass sie »erst im Werden begriffen ist«. Gehler, Zentralmacht Europas, S. 91. 76 Vielleicht ist das ein Grund, weshalb Tony Judt sich dazu entschloss, die abschließenden Kapitel seiner Geschichte Europas mit »Das Ende der alten Ordnung« und »Nach dem Zusammenbruch« zu überschreiben, anstatt einen Begriff zu finden, der das, was neu ist, benennen soll. Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006. 70 71 72 73 74
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lik‹. Freilich ist dieser kritisch auf seinen analytischen Mehrwert hin zu hinterfragen. Denn dahinter verbirgt sich eine kontrovers geführte Debatte um Stabilität, neue Perspektiven und Machtansprüche des vereinten Deutschlands. Es handelt sich also durchaus um einen normativen Begriff, der jedoch von den Diskursteilnehmern mit sehr unterschiedlichen Attributen verbunden wurde.77 So schrieb etwa Manfred Görtemaker 1999 über die ›Berliner Republik‹: »Die Wende von 1989 brachte aber nicht nur den Untergang der DDR, sondern auch das Ende der ›Bonner Republik‹, die sich seit 1949 durch innere Stabilität, wirtschaftliche Prosperität und außenpolitische Berechenbarkeit ausgezeichnet hatte.«78 Hinsichtlich der jüngsten Forschungsergebnisse zur ›Krisenzeit‹ der 1970er und 1980er Jahre irritiert diese Sichtweise allerdings. In Verbindung mit dem Narrativ der ›Vereinigungskrise‹ kann der Begriff Gefahr laufen, eine Verklärung des (vermeintlich) Abgeschlossenen zu begünstigen. Diese Gefahr gilt auch für andere Bereiche: Allen hier genannten Narrativen ist gemein, dass sie die Grundannahme vermitteln, Deutschlands Selbstverständnis in der Welt und in Europa habe sich mit und durch die Zäsur 1989 grundlegend gewandelt. Dabei sollte aber beachtet werden, dass auch in der Forschung bereits vor 1989 mitunter heftig über die Identität Deutschlands gestritten wurde. Die Überbewertung der Zäsur 1989 hinsichtlich der kollektiven Identitätsfrage etwa kann suggerieren, dass die ›deutsche Identität‹ vor der deutschen Einheit eindeutig gewesen sei. Historiker und Sozialwissenschaftler verhandelten jedoch in den 1980er Jahren gerade die Frage, welche Identität Deutschland zur besonderen Zeit der Teilung zukommen könne.79
IV. Transnationalisierung und räumliche Ausweitung der Forschung Betrachtet man die Überblicksdarstellungen insgesamt, so lassen sich allgemeine Tendenzen feststellen, die im Folgenden kurz skizziert werden. So ist etwa im Laufe der Zeit eine Zunahme an transnationalen Perspektiven auf die Jahre nach 1989 zu erkennen. Während die früheren hier untersuchten Bände die Zäsur 1989 überwiegend im nationalen und teilweise noch im ost(mittel)europäischen Kontext deuteten, so etablierte sich in den letzten Jahren zunehmend die Sichtweise, dass dieses Jahr auch für ganz Europa oder gar auf globaler Ebene eine 77 Vgl. auch hierzu Bienert u. a., Berliner Republik, S. 10 f.; Weigl/Colschen, Politik und Ge-
schichte, S. 71 f. 78 Görtemaker, Bundesrepublik Deutschland, S. 787. 79 Vgl. u.a. M. Rainer Lepsius, Die Teilung Deutschlands und die deutsche Nation [1981], in: ders., Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1993, S. 196–228; Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970, Bonn 1997 [1988]; Wolfgang Mommsen, Wandlungen der nationalen Identität der Deutschen [1983], in: ders.: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München 1990, S. 55–86.
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bedeutende Rolle gespielt haben könnte. Überhaupt, so stellte Eckart Conze 2009 heraus, sei »Globalisierung […] zum eigentlichen Forschungsbegriff der gegenwartsnahen Geschichte geworden.«80 Selbst Axel Schildt und Detlev Siegfried benennen die Zeit nach der Zäsur 1989 in ihrer Kulturgeschichte »zwischen deutscher Einheit und Globalisierung«.81 Wie aber lässt sich diese Welt nach 1989 beschreiben? Ulrich Herbert stellt fest: »Nach 1989/90 wird die Welt polyzentrischer und die deutsche Geschichte weniger selbstbezüglich, in globaler Perspektive wohl auch unwichtiger, wobei es schwer ist, für eine solche Bewertung einen Maßstab zu finden.«82 So zeigt auch Herbert im Folgenden auf, dass sich die Entwicklung des Kalten Krieges hin zum Umbruch 1989/90 eben nicht allein aus nationalstaatlicher Perspektive erklären ließe. Der Rückgang deutscher Befindlichkeiten im Umgang mit der Zäsur 1989 tut in der Forschung not und gut. Besonders für die Forschung zum Osten Deutschlands besteht hier allerdings die Herausforderung, sich noch stärker transnationalen Themen zu widmen und somit ihre Berechtigung auch für die Zeit nach dem staatlichen Ende der DDR aufrecht zu erhalten.83 Die Diagnose eines Rückgangs nationaler Deutungen weist jedoch neben der historischen Erkenntnis auch eine methodologische Dimension auf – und beide sind miteinander verwoben: Nicht nur in der Geschichte, sondern in der Zeitgeschichtsschreibung selbst haben im vergangenen Vierteljahrhundert polyzentrische Blickwinkel und globale Dimensionen an Bedeutung gewonnen. Beide parallel verlaufenden Prozesse zu trennen – den der historischen und der historiographischen Globalisierung und Differenzierung dürfte schwierig werden. Paradigmatische Verschiebungen innerhalb der Wissenschaft haben eben auch Einfluss darauf, was in der Vergangenheit als zeitprägend wahrgenommen und erforscht wird. Weiterhin hat sich die Erkenntnis gestärkt, dass die Zäsur 1989 auch Auswirkungen auf Regionen außerhalb der direkt betroffenen Staaten gehabt haben kann. Diese wurde in den vergangenen Jahren vor allem unter dem von Philipp Ther geprägten Schlagwort der ›Kotransformation‹84 verhandelt und hat den Forschungsraum zur jüngsten Zeitgeschichte nach 1989 erheblich – räumlich wie auch perspektivisch – ausgeweitet. So lassen sich möglicherweise die westlich hegemonialen Schieflagen in der Historiographie und die dichotomen Kategorien von West und Ost für die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges durchbrechen. Auf die kritische Überprüfung des Transformationsbegriffs sollten weitere Neujustierungen, etwa der Begriffe Europäisierung oder Modernisierung folgen, die bis heute eine zu einseitige Stoßrichtung implizieren. Obwohl Konrad Jarausch Conze, Suche nach Sicherheit, S. 822. Schildt/Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, S. 471. Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 1092. So spielt beispielsweise im jüngst erschienenen Band zu Perspektiven der DDR-Forschung das Thema Verflechtung, Transnationalisierung und Globalgeschichte eine wichtige Rolle: Ulrich Mählert (Hg.), Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein neues Thema, Berlin 2016. 84 Ther, Neue Ordnung, S. 14. 80 81 82 83
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2004 auf die Unterschiede, also die »Asymmetrie ihrer [der Zäsur 1989, A. S.] Konsequenzen für Osten und Westen«85 verwies und Heinrich August Winkler noch 2015 von »Ostmitteleuropa auf dem Weg nach Westen«86 schrieb, wandelt sich diese Perspektive langsam, immerhin für den deutsch-deutschen Kontext: So fordern mehrere HistorikerInnen ein, den Schwerpunkt auf die verbindenden Elemente einer deutsch-deutschen, verflochtenen Beziehungsgeschichte zu legen.87 Wünschenswert wäre hier wiederum eine stärkere Berücksichtigung europäischer und transnationaler Perspektiven, welche verhindern könnten, dass aus der verflochtenen deutsch-deutschen Geschichte eine nachträglich konstruierte gemeinsame, gesamtdeutsche Geschichte wird, die es in vielen Gebieten so nie gegeben hat. Dabei muss selbstverständlich nicht immer eine klare Trennung von deutscher, europäischer oder globaler Dimension vollzogen werden. Es ist ein Zeichen der untersuchten Zeit, dass sich die nationale, europäische oder globale Geschichte nicht immer klar trennen lässt.
V. Stärkung der ökonomischen Dimension Während die deutsche Zeitgeschichte in den vergangenen Jahrzehnten stark politikgeschichtlich ausgerichtet war, so findet sich besonders in den Werken der letzten Jahre eine Zunahme vor allem ökonomisch relevanter Themen, bei denen, wie es Hans Günter Hockerts bereits 1993 gefordert hat, nicht die »problemlösende«, sondern die »problemerzeugende Dimension« im Vordergrund steht.88 Sie können somit als Vorgeschichte(n) der globalen Krisen der vergangenen Jahre gelesen werden. Schlagworte wie der Wirtschaftsliberalismus oder der »Sieg des demokratischen Kapitalismus«89, »die Gefahren des enthemmten Finanzkapitalismus«90, »Globalisierung und digitaler FinanzmarktKapitalismus«91, vom »globalen Turbo-Kapitalismus«92 sowie »dem ungebremsten und ungezügelten Finanzmarktkapitalismus«93 erhielten in den vergangenen 85 Jarausch, Umkehr, S. 347. 86 Winkler, Geschichte der Gegenwart, S. 92. Die Formulierung ist problematisch, wenn auch
Winkler damit auf den Westen als »normatives Projekt« rekurriert. 87 Vgl. hierzu besonders die eher unpräzise, aber dennoch beliebte Formel der »asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte«. Zum Begriff, der auf Christoph Kleßmann zurückgeht, vgl. Hermann Wentker, Deutsch-deutsche Geschichte nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2005), 1–2, S. 10–17, hier: S. 10. Themenbeispiele für diese Perspektive finden sich bei Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015. 88 Hans-Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993) 1, S. 98–127, hier: S. 124. 89 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 1139. 90 Ebd., S. 1251. 91 Conze, Suche nach Sicherheit, S. 821. 92 Ebd., S. 935. 93 Ebd.
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Jahren auch in den großen Darstellungen mehr Aufmerksamkeit. Sie folgten damit der These Anselm Doering-Manteuffels und Luth Raphaels, »daß die Herausbildung des digitalen Finanzmarkt-Kapitalismus die wichtigste und wirkmächtigste Kraft innerhalb des komplexen Wandlungsgeschehens bildet, das seit vier Jahrzehnten zu beobachten ist.«94 In den vergangenen Jahrzehnten hätten, so auch Eckart Conze, die Nationalstaaten an Bedeutung verloren und die Märkte (erheblich) an Macht zugewonnen.95 Neben der gegenwartsbezogenen Relevanz des Themas eignet es sich freilich auch, langfristige Kontinuitäten und strukturelle Veränderungen »nach dem Boom«96 und zugleich über die Zäsur 1989 hinweg zu betrachten. Sie erfordern zudem den Blick über den deutsch-deutschen Tellerrand: So werden langsam nicht nur die globalisierten Finanzmärkte, sondern zunehmend auch die Etablierung des Marktliberalismus in Ostmitteleuropa nach 1989 in vielerlei Hinsicht und mit all seinen Konsequenzen auch zu einem Bestandteil der deutschen und der westeuropäischen Geschichte.97 Häufig unbefriedigend ist demgegenüber noch der Versuch, das Phänomen der Globalisierung und die Zäsur 1989 in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, was sich daher in der Regel auf die Diagnose der räumlichen Ausweitung der New Economy auf Ostmitteleuropa beschränkt, wie unter anderem Eckart Conze herausstellt: »Politisch schuf der Zusammenbruch des Ostblocks eine wichtige Voraussetzung für den Durchbruch der Globalisierung.«98 Frank Bösch hat auf die Deutung verwiesen, der Osten Deutschlands habe in diesem Prozess als »›neoliberales‹ Experimentierfeld«99 gedient. Eine umfassende Untersuchung hierzu hat Philipp Ther besonders mit Blick auf Ostmitteleuropa vorgelegt.100 Auch in Andreas Wirschings »Geschichte Europas unserer Zeit« füllen die »Herausforderungen der Globalisierung« über 100 Seiten. Diese setzen sich neben der ökonomischen Dimension auch aus Themen zusammen, welche kollektive Identitäten und Migration, den Wandel des Politischen oder das Aufkommen der ›Wissensgesellschaft‹ betreffen.101 Durch die ausführliche Diskussion im Schlusskapitel misst Wirsching zudem der Finanz- und Wirtschaftskrise eine besondere Bedeutung bei.102
94 Anselm Doering Manteuffel / Raphael Raphael: Nach dem Crash. Vorwort zur zweiten Auf-
lage, in: dies.: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. Auflage, Göttingen 2012, S. 7–23, hier: S. 8. 95 Conze, Suche nach Sicherheit, S. 822. 96 Raphael/Doering Manteuffel, Nach dem Boom. 97 Vgl. z.B. Ther, Neue Ordnung, S. 328–330; Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 1211; Wirsching, Preis der Freiheit, S. 241–244. 98 Conze, Suche nach Sicherheit, S. 822. 99 Frank Bösch, Geteilt und verbunden. Perspektiven auf die deutsche Geschichte seit den 1970er Jahren, in: ders. (Hg.): Geteilte Geschichte, S. 7–37, hier: S. 15. 100 Ther, Neue Ordnung. 101 Wirsching, Preis der Freiheit, Kap. IV. 102 Vgl. Wirsching, Preis der Freiheit, S. 392–401.
WIE DIE GESCHICHTE AN DIE GEGENWART HERANRÜCKT
VI. Herausforderung: Die Bedeutung von 1989 systematisieren Tatsächlich hat sich ein methodischer Perspektivenwechsel in den letzten Jahren herauskristallisiert. Er zeigt sich vor allem dort, wo der Primat des Nationalstaats sowie die Dominanz der Politikgeschichte bewusst aufgebrochen wurden. Zugleich scheint ein Konsens darüber zu herrschen, dass die langfristige Historisierung der Zäsur 1989 und ihrer Folgejahre nötig ist. Was die Zäsur für die Geschichte bedeute, hat Ulrich Herbert zusammengefasst: 1989, so Herbert, verdichteten sich auch hier [wie bereits 1789, 1812, 1848/49, 1914 und 1945, A. S.] längerfristige Tendenzen, verbanden sich mit mittelfristigen Entwicklungen und kurzfristigen Ereignissen und entluden sich schließlich in einer Explosion, die tiefgreifende Erschütterungen bewirkte und langwirkende Veränderungen nach sich zog.103
Die Schlagworte der Verdichtung, Beschleunigung und Verflechtung tauchen nicht nur bei Herbert auf, sondern sind allgemeine Merkmale, wenn es darum geht, die herausragende Bedeutung der Jahre 1989/90 für die deutsche Geschichte (und darüber hinaus) zu beschreiben. Wünschenswert bleibt hier eine weitere Stärkung der Diskussion um die Zusammenhänge von langfristigen Änderungen und ereignisgeschichtlichen, punktuellen Einschnitten. Nach 1989/90, so der häufig zu vernehmende Tenor, sei die Welt eine ganz andere gewesen: Ein grundlegender Wandel durch die Ereignisse der Jahre 1989/90 wird hierbei implizit vorausgesetzt, aber selten explizit benannt. Ein Grund dafür sind noch immer bestehende Ungenauigkeiten im Umgang mit dem Zäsurbegriff. Dazu gehört zunächst einmal die klare Unterscheidung der Zeit um 1989 als Ereignisbündel, sowie als Zäsur und damit als analytisches Werkzeug.104 Zwar existieren mittlerweile theoretische Reflexionen über diese Frage.105 Es mangelt jedoch häufig an einer überzeugenden Übersetzung theoretischer Überlegungen in die konkrete empirische Arbeit. Dabei wirft gerade diese grundlegende Fragen auf: Was bedeutet eigentlich die Annahme eines verdichteten oder beschleunigten Wandels als Zäsur innerhalb des Untersuchungsgegenstands? In welchem Verhältnis steht die Zäsur zu Raumordnungen, zu parallel verlaufenen Prozessen und zu strukturellen Wandlungen? Wo erfüllt das Denkmodell der Zäsur eine heuristische Funktion und wo eher eine historiographische Strukturierungs- oder Periodisierungshilfe? Die von der 103 Herbert, Geschichte Deutschlands, S. 1091. 104 Im vorliegenden Text wird – mit Blick auf die deutsche Historiographie, da sich diese maß-
geblich an den ereignisgeschichtlichen Fluchtpunkten Mauerfall und deutsche Einheit orientiert – daher von den »Jahren 1989/90«, im ereignisgeschichtlichen europäischen oder globalen Rahmen von der »Zeit um 1989« gesprochen. Die Zäsur dieser Zeit wird übergreifend als »Zäsur 1989« bezeichnet. Vgl. zum Zäsurbegriff 1989 auch: Angela Siebold: 1989 – eine Zäsur von globaler Reichweite?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24–26 (2014), S. 3–9, hier: S. 3. 105 Vgl. z.B. Martin Sabrow: Zäsuren in der Zeitgeschichte, in: Frank Bösch / Jürgen Danyel (Hg.): Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, Göttingen 2012, S.107–130.
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historischen Zunft entwickelten Standpunkte zu solchen Fragen sollten in empirischen Darstellungen explizit und sichtbar gemacht werden. Die zeithistorischen Darstellungen sollten zudem einen besonderen Wert auf die Berücksichtigung verschiedener Perspektiven legen. Bisher sind hier noch Asymmetrien festzustellen. So ist eine häufige Lesart des Wandels um 1989 in der bisherigen Historiographie die schlichte räumliche Ausweitung im Westen bereits errungener Zustände auf Ostmitteleuropa, so zum Beispiel bei Andreas Rödder mit Blick auf die Europäische Integration: Die europäischen Staaten hatten in der gesamten Neuzeit mit Vorliebe Krieg gegeneinander geführt, um dem anderen etwas wegzunehmen oder um sich gegen die tatsächliche oder empfundene Bedrohung durch den jeweils anderen zu behaupten. Beides kulminierte im Zeitalter der Weltkriege, in denen Europa sich weitgehend selbst zerstörte. Nach 1945 vermochten es zunächst die Staaten Westeuropas, nach 1990 auch Ostmitteleuropas, von diesem Pfad abzukehren. […] Die eigentliche Erfolgsgeschichte der europäischen Integration nach 1989, im historischen wie im politischen Vergleich, war ihr Beitrag zur Stabilisierung des ostmittel- und südosteuropäischen Raums, soweit er in die Europäische Union einbezogen wurde; die Balkankriege oder der Krieg in der Ukraine fanden gerade nicht innerhalb der EU statt.106
Eine solche Deutung negiert erstens Kooperationen innerhalb der Ostblockstaaten wie auch weiter bestehende Aggressionen des Westens gegenüber dem Osten oder anderer Weltregionen zwischen 1945 und 1990; sie vernachlässigt zweitens Eigenleistungen des Wandels in Ostmitteleuropa oder bestehende Abhängigkeiten des Ostens gegenüber dem Westen; sie reduziert die Transformation auf Ostmitteleuropa und auf die dortige EU-Integration und spekuliert dabei, dass die Destabilisierung des Balkans oder der Ukraine durch eine EU-Aufnahme hätte verhindert werden können. Problematisch ist und bleibt eben die Adaption der bisherigen, westlich geprägten Perspektiven auf ganz Europa. In den Topf der »Vereinigungszeit« wird aber dann rasch auch ein von 1989 möglicherweise unabhängiger Wandel hineingezählt und beides miteinander vermengt. So schreiben beispielsweise Axel Schildt und Detlev Siegfried: »Seit der Epochenwende von 1989/90 ist die Bedeutung der Kultur in der deutschen Öffentlichkeit und Politik sehr stark angewachsen. Wichtige Gründe dafür lagen in der flächendeckenden Versorgung und Vernetzung der Bevölkerung mit elektronischen Kommunikationsmedien wie Internet und Mobiltelefon und in der schlagartig zunehmenden kulturellen Komplexität, die deutsch-deutsche Vereinigung und transnationale Zuwanderung mit sich brachten.«107
106 Rödder, 21.0, S. 382. 107 Schildt/Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte, S. 471.
WIE DIE GESCHICHTE AN DIE GEGENWART HERANRÜCKT
Auch hier überwiegt die Vorstellung, die hauptsächliche Veränderung habe durch einen Zugewinn an Entfaltungsraum für westliche Phänomene stattgefunden. In eine ähnliche Richtung gehen auch Lutz Raphael und Anselm Doering Manteuffel, für die der Zusammenbruch des ›Ostblocks‹ die Voraussetzung für eine weltweite Verbreitung der westlichen Kommunikationsmöglichkeiten gewesen sei.108 Hier und auch an anderen Stellen zeigt sich, dass in der deutschen Zeitgeschichtsforschung momentan zwei zentrale Phänomene herausgestellt sind, die sich unter den Schlagworten »nach dem Boom« und der Zäsur 1989 zusammenfassen lassen und hinter denen die Frage nach dem historiographischen Verhältnis von Struktur und Ereignis sowie von langen Linien und punktuellen Einschnitten steht.109 Zwar haben sich Anselm Doering Manteuffel und Lutz Raphael in ihrem Vorwort zur zweiten Auflage ihres Bandes dieser Frage konzeptionell zugewandt. Die Rolle, die ›1989‹ in ihrer Perspektive erhält, lässt sich darin zusammenfassen, dass die »technisch-wirtschaftliche Entwicklung im Westen« vor 1989 zum Niedergang des Kommunismus beigetragen habe (»maßgeblich mitverursacht«). Dessen Zusammenbruch müsse für die Forschungen aus der Zeit nach 1989 wiederum »als verstärkendes Element mitbedacht werden«.110 Diese Sichtweisen mögen zutreffen, lösen aber eine Herausforderung nicht: Die Phänomene ›1989‹ und ›Strukturwandel‹ systematisch miteinander zu verbinden und zugleich Westund Osteuropa gleichberechtigt zu erforschen, ohne die beiden Teile als ahistorische, starre Größen zu betrachten.111 Hinzu kommt noch die Herausforderung, die Philipp Ther benannt hat: Die Zeitgeschichtsforschung müsse differenzieren, was in Europa eine Folge der Umbrüche um die Jahre 1989/90 sei und was sich erst aufgrund der nachfolgenden »gesteuerten Transformation« entwickelt habe.112 Stärker berücksichtigt werden sollte zudem die Frage, inwiefern das Ende des Kalten Krieges und der europäischen Teilung sowie die deutsche Einheit auf parallel laufende Prozesse eingewirkt haben, ohne in direkter Beziehung zu ihnen zu stehen. So waren die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche um 1989/90 etwa in der Europapolitik Impulsgeber und strategisches Argument. Sie wirkten dabei mal hemmend (beispielsweise bei der Umsetzung des Schengener
108 Doering Manteuffel / Raphael, Nach dem Crash, S. 11. 109 Einen Vorschlag der erkenntnisleitenden Zusammenführung von Ereignissen und länge-
ren Entwicklungslinien hat Anselm Doering-Manteuffel 2004 unter dem Begriff der »Zeitbögen« formuliert. Peter Hoeres sieht innerhalb dieses Konzeptes wie auch in den hier thematisierten Darstellungen von Heinrich August Winkler und Ulrich Herbert allerdings »Probleme einer analytisch-normativen Westernisierung«. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014) 3, S. 321–348; Hoeres, Westernisierung der Zeitgeschichte, S. 427 f. 110 Ebd. 111 Vgl. u.a. Ther, Neue Ordnung, S. 277. 112 Ebd., S. 85.
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Abkommens) oder beschleunigend (z. B. bei der Einführung des Euro). Ähnliches ließe sich sicherlich für andere Politikbereiche feststellen. Die Sogwirkung des Jahres 1989 führt dazu, allzu vieles im Licht des Falls des ›Eisernen Vorhangs‹ zu bewerten. Vieles, was unsere Gegenwart prägt, hat aber mit dem Ende des Kalten Krieges nichts zu tun. Aber nur, wenn man die Zäsur 1989 systematisch integriert, lässt sich eine jüngste Zeitgeschichte über Deutschland und Europa überhaupt schreiben. Die jüngste Zeitgeschichte ist hoch komplex und ergebnisoffen. Sie trägt einen zeitlichen, räumlichen und perspektivischen Wandel in sich. Anhand der Diskussion um die langfristigen Wandlungen seit den 1970er Jahren und um die Zäsur 1989 steht sie vor der besonderen Herausforderung, Struktur und Ereignis in einer immer komplexer werdenden Welt systematisch zusammenzubringen. Das ist eine große Herausforderung und erfordert eine methodisch offensive Zeitgeschichtsforschung. Eine Historiographie, der es jedoch gelingt, West und Ost, sei es in Deutschland, in Europa oder aus globalgeschichtlicher Perspektive, überzeugend zusammenzubringen, trägt auch die Chance in sich, Erkenntnisse zu entwickeln, die über einen Vergleich hinausgehen und zugleich aber keine vereinheitlichende, gemeinsame Geschichte Gesamtdeutschlands dort konstruieren, wo sie nie existiert hat. Eine gegenwartsnahe Zeitgeschichte sollte dabei allerdings nicht insofern überstrapaziert werden, als dass die Geschichte nur von ihrem Ende her erzählt wird – einem Ende, dass sich in der jüngsten Zeitgeschichte ständig verschiebt und so eine kurzatmige Geschichtswissenschaft befördern kann. Unsere Zeit hat eine Geschichte, die erzählt werden muss und aufklären kann. Die Gegenwart kann Inspiration, sollte aber nicht Maßstab historischer Narration sein.
Sabine Kittel
GEDÄCHTNIS UND ›POST‹-GEDÄCHTNIS ›Stasi‹-Erzählungen zwischen Vergessen, Verschleiern und Erinnern
D
ie ›Erstürmung‹ und Öffnung der Archive des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR im Dezember 1989 bzw. Januar 1990 bestätigten die Ahnungen vieler Menschen.1 Der SED-Staat hatte seine Bürgerinnen und Bürger systematisch, umfassend und amtlich organisiert überwacht. Rasch setzte sich in der öffentlichen Wahrnehmung das Feindbild ›Stasi‹ als Hauptakteur des ›Unrechtsstaates‹ fest. Der Arbeiter- und Bauernstaat, der sich 40 Jahre lang als realsozialistische Volksdemokratie präsentiert hatte, ging bald als ›Stasi-Staat‹ in die Medien und die öffentliche Wahrnehmung ein.2 Als im März 1990 Bürgerrechtsgruppen anhand von ›Stasi‹-Akten den CDU-Politiker Wolfgang Schnur als langjährigen Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) der ›Stasi‹ entlarvten, verengte sich die Perspektive erneut; diese sowie weitere ›IM-Entlarvungen‹ individualisierten die Debatte weitgehend.3 Begriffe wie ›Spitzel‹, ›Denunziant‹ und ›Verräter‹ dominierten die mediale sowie private Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit. Die Diskussionen berührten damit auch moralische Fragen innerhalb der alten und neuen Gesellschaft, die nach dem Zerfall der Machtstrukturen und dem Niedergang einstiger Loyalitäten neu austariert werden mussten.4 1 Christian Booß, Vom Mythos der Stasi-Besetzungen, in: Deutschland Archiv 43 (2010), 1, S.
44–52. Ich danke Ruth Pope und Yannick Zohren für die Korrekturen und Alexander Kraus für freundliche Nachfragen und kritische Hinweise. 2 Am 1. Februar 1990 publizierte der Spiegel ein Sonderheft Spiegel Spezial 2/1990: 162 Tage Deutsche Geschichte. Das halbe Jahr der gewaltlosen Revolution. Darin findet sich ein Artikel zum »Stasi-Staat« mit ausführlichen Informationen zu Aufbau und Aktivitäten des MfS und der Formulierung »die Stasi als Staat im Staate«, http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecial/ d-52397639.html [24.06.2016]. 3 Jens Gieseke, Die Stasi 1945–1990, 3. Aufl., München 2011, S. 15. 4 Eva Horn, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007, S. 28.
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Die Auflösung politischer Selbstverständlichkeiten im Zuge der Transformation polarisierte die ostdeutsche Gesellschaft, wahrscheinlich die vereinigte Bundesrepublik im Gesamten. Bereits das Ende des SED-Regimes war gekennzeichnet durch hitzige Debatten um ›Täter‹ und ›Opfer‹, um ›Gut‹ und ›Böse‹ und um ›richtige‹ oder ›falsche‹ Politik. Diese Auseinandersetzungen über die moralische und ideologische Erneuerung der Gesellschaft repräsentierten den Weg der Etablierung neuer normativer Maßstäbe und in diesem Kontext auch neuer ›Erinnerungsgemeinschaften‹.5 Vor dem Hintergrund der offiziellen DDRVergangenheitsaufarbeitung und damit einhergehend einem neu ausgerichteten Erinnerungsdiskurs – einem »rethinking of history« mit veränderten politischen und moralischen Grundlagen der Gesellschaft – entwickelte sich ein ›Post‹Gedächtnis.6 Für die im engeren und weiteren Sinn mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) Verbundenen stellte sich dieser Prozess der Neuausrichtung unterschiedlich dar. ›Opfer‹ der ›Stasi‹ konnten nun anerkanntermaßen ihre oft tragischen Geschichten besprechen und öffentlich Wiedergutmachung einfordern. ›Stasi‹-Mitarbeiter und ihre Familien, wie auch vormals als ›systemtreu‹ zu bezeichnende Bürgerinnen und Bürger, sahen sich wiederum als ›Mitläufer‹, wenn nicht gar als ›Täter‹ stigmatisiert. Zuvor als selbstverständlich erachtete Entscheidungen, Handlungen und Denkweisen der früheren Machthaber standen auf dem Prüfstand. In diesem gesellschaftlichen Reflexionsprozess setzten sich erst mit zeitlicher Dauer neue Vergangenheitsbilder durch. Nicht alle Erinnerungen erhielten am Ende ihren Platz in der offiziellen Erzählung der Bundesrepublik, da sie sich nicht zur positiven Sinnstiftung der vereinigten Republik eigneten. Solche nunmehr negativ konnotierten Erfahrungen Einzelner wurden von ihren Erinnerungsträgern als ›toxisch‹ erlebt. Sie ›vergifteten‹ gewissermaßen die (unbeschwerte) Dazugehörigkeit am kollektiven Gedächtnis des vereinigten Deutschlands. Die im Zuge der Neuinterpretation der Vergangenheit entstandenen Erinnerungskonflikte sollen im Folgenden genauer untersucht werden. Es wird danach gefragt, welche Selbstbeschreibungen und welches Selbstverständnis der ›Stasi‹-Mitarbeiter nach dem Ende des MfS vorzufinden waren und sind. Des Weiteren wird ergründet, wie sich die Bilder und Charakterisierungen der ›Stasi‹ zu unterschiedlichen Zeitpunkten – wenige Monate nach dem Ende der DDR sowie mehr als zwanzig Jahre später – verschoben haben. Um diese und weitere Fragen zu behandeln, stehen im Blickfeld dieses Beitrags verschiedene lebensgeschichtliche Erzählungen bzw. Interviews, in denen die Tätigkeit für das MfS thematisiert wurde. Biografische Interviews ermögli-
5 Martin Sabrow, »Wende« oder »Revolution«? Der Herbstumbruch 1989 und die Geschichtswis-
senschaft, Vortrag in Potsdam, 02.04.2009, S. 14, http://www.zzf-pdm.de/Portals/images/default/ 09_04_02_Vortrag_Wende%20oder%20Revolution%20(Potsdam).pdf [24.06.2016]. 6 Peter Niedermüller, Der Mythos der Gemeinschaft: Geschichte, Gedächtnis und Politik im heutigen Osteuropa, in: Andrei Corbea-Hoisie u. a. (Hg.), Umbruch im östlichen Europa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis, Innsbruck 2004, S. 11–26, hier S. 16.
GEDÄCHTNIS UND ›POST‹-GEDÄCHTNIS 99
chen den wissenschaftlichen Zugang zu individuellen Verarbeitungsprozessen von Erfahrung anhand der Erschließung spezifischer narrativer Muster. Davon ausgehend, dass sich in biografischen Interviews – beeinflusst durch gesellschaftliche Debatten über die Vergangenheit7 – der Wunsch nach Selbstbeschreibung und Identität ausdrückt, eignen sich diese Lebenserzählungen bestens für die Analyse des ›Post‹-Gedächtnisses in der Transformationsgesellschaft. Lebensgeschichtliche Interviews erlauben auch eine Diagnose des ›toxischen‹ ›Stasi‹Gedächtnisses und der damit entstandenen Erzählfiguren. So kann die Untersuchung der verschiedenen Interviews ein Verständnis dafür hervorrufen, wie sich Erinnerung, Gedächtnis und Transformationsprozesse nach dem Ende des sozialistischen Regimes aufeinander beziehen.
I.
Gedächtnis, ›Post‹-Gedächtnis und ›Stasi‹-Forschung
Auf welche Weise sich in sozialen Zusammenhängen eine jeweils eigene Version der Vergangenheitserzählung entwickeln kann, beschrieb der Soziologe Maurice Halbwachs Mitte der 1920er Jahre mit seinem Konzept des »kollektiven Gedächtnis[ses]«.8 Das Gedächtnis, so Halbwachs, ist ein soziales Produkt, das durch Abgleichen und Austausch verschiedener Erinnerungen in gemeinsamen Gesprächen und innerhalb bestimmter sozialer Rahmen entsteht. Ein individuelles Gedächtnis kann es Halbwachs zufolge streng genommen nicht geben, da der Standpunkt der Gruppe die Richtlinie für das Individuum darstellt.9 Öffentliche und private Erinnerungen stehen in Bezug zueinander: Sie können sich gegenseitig widersprechen oder ausschließen und als Konflikterinnerung die Träger der Erinnerung stigmatisieren.10 Der Versuch, persönliche Erfahrungen mit offiziellen Varianten der Vergangenheitsrepräsentation in Einklang zu bringen, führt meist zu einer Art »Gedächtnislücke«:11 Von der offiziellen Erinnerungskultur abweichende Erfahrungen werden (nicht selten unbewusst) ›vergessen‹, ›erinnert‹, ›hinzugefügt‹, ›verschleiert‹ oder ›verschwiegen‹. Da zur Entwicklung der eigenen Identität die Erzählung einer kohärenten und positiven Geschichte ge7 Harald Welzer, Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001;
Ulrike Jureit, Identitätsarbeit. Ein Kommentar zu biographischen Erinnerungen in (post)sozialistischen Gesellschaften, in: Julia Obertreis/Anke Stephan (Hg.), Erinnerungen nach der Wende. Oral History und (post)sozialistische Gesellschaften. Remembering after the Fall of Communism: Oral History and (Post-)Socialist Societies, Essen 2009, S. 85–90. 8 Maurice Halbwachs. Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1991 [1985]. 9 Ders. Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985 [1966], S. 23. 10 Albrecht Lehmann, Reden über Erfahrung. Kulturwissenschaftliche Bewusstseinsanalyse des Erzählens, Berlin 2007; Ulrike Jureit, Authentische und konstruierte Erinnerung – Methodische Überlegungen zu biographischen Sinnkonstruktionen, in: WerkstattGeschichte 18 (1997), S. 91–101. 11 Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek b. H. 2000, S. 364 f.
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hört, kann die Selbstbeschreibung oftmals nur durch Auslassung oder Umschreibung problematischer lebensgeschichtlicher Episoden oder durch die Entfaltung einer Art »Trotzidentität« funktionieren.12 Mit der deutsch-deutschen Vereinigung erhielten das politische System des sozialistischen Staates und die DDR-Gesellschaft eine neue Vergangenheitsinterpretation, viele Ereignisse wurden in neuem Licht betrachtet. Die Machtverhältnisse waren durch den Systemwechsel auf den Kopf gestellt, viele DDR-Bürger waren gezwungen, sicher geglaubte Lebensentwürfe und Lebensplanungen neu auszurichten. Sie mussten im Zuge dieses Vorgangs eine »ethische Reflexion« der eigenen, sozialistischen Vergangenheit vollziehen und die Vergangenheit selbst neu denken, wie es der Ethnologe Peter Niedermüller auf den Punkt gebracht hat. Im Zuge dieses Überdenkens und Neubewertens hatten sie ein Post-›Gedächtnis‹ zu entwickeln, in dem die moralische und die politische Sinnhaftigkeit vorheriger Gewohnheiten, Handlungen – und letztendlich auch der persönlichen Erfahrungen – neu austariert werden mussten.13 Doch trafen in diesem Prozess der ›Geschichtsrenovierung‹ zwangsläufig konkurrierende Erinnerungen aufeinander. In dem Maße, wie sich die Vergangenheitsaufarbeitung der Bundesrepublik auf ›Stasi‹ und ›Unrechtsstaat‹ verdichtete, regte sich zugleich der Widerspruch ehemaliger DDR-Bürgerinnen und -Bürger. Das Leben in der DDR erschien in einem von ›Stasi‹ und ›Stasi-Staat‹ dominierten Erinnerungsdiskurs fremdbestimmt. Zudem machte eine solche Zuspitzung aus den Menschen in der DDR ein »Volk der Spitzel«.14 In den ersten Jahren nach dem Mauerfall entwickelte sich daher bei Vielen eine ›Trotzhaltung‹ gegenüber offiziellen Aufarbeitungsbestrebungen der DDR-Vergangenheit, die ihren Ausdruck unter anderem im Phänomen der ›Ostalgie‹ fand.15 Die Fixierung auf ›Stasi‹ und ›IM‹ in medialen, öffentlichen oder auch politischen Repräsentationen stand einer differenzierten Wahrnehmung der individuellen, biografischen Alltagserfahrung in der DDR entgegen. Wer zu DDR-Zeiten Teil der Staatssicherheit war, verschleierte meist Verantwortlichkeiten und Verbindungen – zumindest nach außen hin. Die für diesen Beitrag zusammengestellten Aussagen entstanden in verschiedenen Kontexten. Zwei Interviews wurden im Zusammenhang eines Oral History-
12 Anselma Gallinat / Sabine Kittel, Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit heute. Anth-
ropologische Überlegungen zu ostdeutschen Erfahrungen, Erinnerung und Identität, in: Thomas Großbölting (Hg.), Friedensstaat, Leseland, Sportnation. DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009, S. 304–328, hier S. 312. 13 Niedermüller, Mythos der Gemeinschaft, S. 17. 14 Großbölting, DDR als »Stasi-Staat«? S. 64 f. 15 Thomas Ahbe, Ostalgie. Zu ostdeutschen Erfahrungen und Reaktionen nach dem Umbruch, Erfurt 2016; Daphne Berdahl, Ostalgie und ostdeutsche Sehnsüchte nach einer erinnerten Vergangenheit, in: Thomas Hauschild (Hg.), Inspecting Germany. Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart, Münster 2002, S. 476–495.
GEDÄCHTNIS UND ›POST‹-GEDÄCHTNIS 101
Projektes zur Gegenwart der DDR-Vergangenheit geführt,16 eines fand im Zuge eines aktuell laufenden Forschungsprojektes zur ›Stasi an Westuniversitäten‹17 statt; weitere Aussagen sind zwei Publikationen aus den frühen 1990er Jahren entnommen, in denen MfS-Mitarbeiter interviewt wurden.18 Auch wenn es sich bei den letztgenannten publizierten Interviews zweifellos um eine durch die Autorinnen und Autoren der Studien bearbeitete Auswahl handelt, so lassen sich in diesen Texten gleichwohl eine Reihe von instruktiven Hinweisen für die erwünschte Auseinandersetzung finden. Die zu unterschiedlichen Zeitpunkten erhobenen Interviews beleuchten, auf welche Weise sich biografische Erzählungen vor dem Hintergrund differenter zeitlicher Rahmungen entfalten.
II. Frühe Erzählungen über die ›Stasi‹ Vermutlich in den Jahren 1991/92 interviewte die ostdeutsche Journalistin und Schriftstellerin Gisela Karau 14 ehemalige Mitarbeiter des MfS.19 Auch wenn die daraus hervorgegangene Publikation wenig über den Kontext der Studie verrät, da die Erzählungen kommentarlos aufeinanderfolgen, lässt doch die kurze Einleitung die Intention der Autorin erahnen. Der »verantwortungslose marktschreierische Umgang mit den Stasi-Akten« zum Zwecke der Wahrheitsfindung, so Karau, solle mithilfe dieser Veröffentlichung unterbrochen werden, schließlich lasse sich »[e]in Volk … nicht vollends in Opfer und Täter auseinanderdividieren«. Ihre einleitende Bemerkung öffnet den Blick auf das damalige geschichtspolitische Umfeld der Interviews. Bewegten doch in jener Zeit die vielen ›Entlarvungen‹ von ›Spitzeln‹ und ›Verrätern‹, die letztlich einer Evaluation moralischer Werte im vereinten Deutschland glichen, die Menschen. Die Unterscheidung insbesondere in ›Gut‹ und ›Böse‹ lenkte die Debatten. Karau ließ ihre Protagonisten im Dienste einer vermeintlichen Versachlichung erzählen: »Meine Aufgabe war 16 Das Forschungsprojekt »The socialist past today. The German Democratic Republic in pri-
vate, public and institutional discourse« wurde von 2007 bis 2008 an der Universität Newcastle upon Tyne mit Finanzierung des Economic and Social Research Council (ESRC) UK durchgeführt. Die Interviews wurden in zwei Städten desselben ostdeutschen Bundeslandes erhoben. 17 Das Forschungsprojekt »Spionage an der Universität. Wirken und Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit an westdeutschen Universitäten« wird seit 2015 an der WWU Münster, mit Finanzierung der VolkswagenStiftung durchgeführt. 18 Gisela Karau, Stasiprotokolle. Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern des »Ministeriums für Staatssicherheit« der DDR, Frankfurt a. M. 1992; Ariane Riecker u. a., Stasi intim. Gespräche mit ehemaligen MfS-Angehörigen, Leipzig 1990. 19 Gisela Karau, geboren 1932, war zu DDR-Zeiten besonders als Kinderbuchautorin bekannt. Nach dem Ende der DDR mischte sie sich als Journalistin sowie als Buchautorin vermehrt in Auseinandersetzungen der DDR-Vergangenheitsaufarbeitung ein. Siehe dazu http://www. literaturport.de/Gisela.Karau/ [24.06.2016]. Bislang wurde erfolglos versucht, den Nachlass Karaus, die 2010 verstorben ist, ausfindig zu machen; für Hinweise über einen möglichen Verbleib der Interviewtranskriptionen wäre ich dankbar.
102 Sabine Kittel
nicht, zu rechten und zu richten. Ich habe Fragen gestellt und Antworten bekommen und ich hoffe auf Leser, die an die Stelle von Pauschalurteilen Kenntnisse zu setzen bereit sind.«20 Die Erzählungen sind biographisch ausgerichtet. Alle Personennamen sind anonymisiert. In den Überschriften werden Dienstgrade und Betätigungsorte ohne weitere Spezifizierung genannt. Die Interviewpartner schilderten, wie und wann sie zum MfS kamen und welche Aufgaben sie dort erfüllten. Zudem sprachen sie über ihr familiäres Umfeld. Meist endeten die Darstellungen mit aktuellen Problematiken wie dem Gesundheitszustand, Arbeitslosigkeit oder erfolgter sozialer Umorientierung.21 Die Schilderungen lassen die damaligen Auseinandersetzungen mit dem MfS aufscheinen. Michael S. etwa, Jahrgang 1957 und laut Überschrift in der Untersuchungshaftanstalt Berlin Hohenschönhausen tätig gewesen, betonte besonders die ›Normalität‹ seines damaligen Antriebs – ein Hinweis darauf, dass es zum Zeitpunkt des Interviews eben nicht mehr als ›normal‹ betrachtet wurde. »Pionier, FDJ, Partei, ich wollte zu denen gehören, die etwas vorwärts bewegen«,22 reflektierte der Erzähler die wichtigsten Stationen seines politischen Engagements. Über seine ›Stasi‹-Tätigkeit äußerte er sich auf eher rechtfertigende Weise: »Ich war nicht der Auffassung, daß ich was mache, was anrüchig ist, man hatte eine ganz große Verantwortung und man war für die, wenn sie ein paar Wochen saßen, der einzige Gesprächspartner.«23 Der Wechsel von der ersten Person zur verallgemeinernden dritten lässt ahnen, dass der Interviewte dieser Selbstdarstellung offenbar selbst nicht recht traute, jedoch auf diesem Wege das einstige Handeln moralisch zu rechtfertigen versuchte. Der Hinweis, er sei für die Inhaftierten die einzige Ansprechperson gewesen, verschleiert zudem das Machtverhältnis von Häftling und ›Stasi‹-Mitarbeiter eklatant. Diese Selbstevaluation von Michael S., mit ›guten Absichten‹ auf der ›guten Seite‹ der ›Stasi‹ gewesen zu sein, entspricht der zahlreicher ehemaliger ›Stasi‹-Mitarbeiter in Karaus Publikation, die sich der Auseinandersetzung durch Euphemismen und Verklärung stellten. Etwa die Hälfte der von Karau Befragten nutzte dagegen das Interview, um ihre (vermeintlich) kritische Haltung zum MfS darzulegen und eigene Akzente zu setzen. Werner H., Jahrgang 1951, laut Überschrift in der Auslandsspionage tätig, grenzte sich gezielt vom Ministerium ab. Er sei im »sauberen Teil«, in der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A), beschäftigt gewesen, die »vor allem die politische Perspektive« im Blick hatte. »Ich habe das 18 Jahre gemacht, und wenn ich mich heute frage, ob ich zur Entspannungspolitik beigetragen habe, dann muß ich sagen, Ja. Und ich habe wunderbare Menschen kennengelernt, aus der BRD und
20 Karau, Stasiprotokolle, S. 8. 21 Eine ähnliche Vorgehensweise der Autorin findet sich in Gisela Karau, Grenzprotokolle.
Gespräche mit ehemaligen DDR-Offizieren, Frankfurt a. M. 1992. 22 Karau, Stasiprotokolle, S. 106. 23 Ebd., S. 108.
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aus der DDR.«24 Zufrieden erinnerte sich H. an den »Stress«, der eben zur Geheimdienstarbeit gehörte. Seine hermetische Erfolgsschilderung und Betonung der bedeutenden Resultate seiner Tätigkeit entspricht dem Selbstverständnis, das sich die HV A zum Zeitpunkt des Interviews selbst zugeschrieben hatte: Sie war, so die Selbststilisierung, ein ganz normaler Auslandsnachrichtendienst, der hocheffizient »Aufklärung« betrieben habe – im Gegensatz zum MfS und dessen problematischer »Abwehrarbeit«.25 Im Winter 1989/90 konnten die Mitarbeiter der HV A aufgrund einer solchen Argumentation erreichen, dass fast alle Unterlagen dieser Unterabteilung des MfS legal vernichtet wurden.26 Die Überhöhung der eigenen Tätigkeit zerbröselte in Werner H.s Erzählung allerdings, als er vom Ende der DDR und des MfS sprach. In seiner Retrospektive löste er sich letztlich ganz aus der Verbindung mit der ›Stasi‹: Bereue ich meinen Weg, meinen Beruf bis 1989? Nein und ja. Vieles habe ich erst nach der Wende erkannt. … Das heißt, ich bereue nicht das politische Engagement. Meine heutige Meinung zu Geheimdiensten: nutzlos. … Sonst wäre das im Herbst 1989 auch nicht so sang- und klanglos mit uns gegangen.27
Werner H. war zu jener Zeit fast vierzig Jahre alt. Dieser Tatsache entsprechend bezog sich sein Resümee auch auf seine persönliche Entwicklung: Das Land DDR und ich waren etwa gleichaltrig. … Für die historische Niederlage sozialistischer Ideen empfinde ich persönlich so etwas wie Verantwortung und Schuld. Die Gesellschaft, für die ich gekämpft habe, ist ja auch an ihren eigenen Übeln zugrunde gegangen und mit ihr eins ihrer widersprüchlichsten Organe.28
Seine Worte vermitteln Resignation, wie sie im Übrigen aus vielen Interviews von ehemaligen ›Stasi‹-Mitarbeitern hervorscheint, die zwischen Elitedenken und Abstiegserfahrung schwankten. Die Erzähler befanden sich zum Zeitpunkt des Interviews deutlich in einem Aushandlungsprozess; sie mussten ihre Arbeit und Verantwortungsbereiche erläutern, deren Zielrichtung und Methoden im vereinigten Deutschland gleichwohl als gescheitert und moralisch problematisch betrachtet wurden. Nicht ohne Grund bezeichnet Karau die Interviewpartner als ein »Heer der Ausgestoßenen«. Sie hatten sich zu DDR-Zeiten auf der ›richtigen Seite‹ befunden. Mit deren Ende mussten sie sich beruflich neu orientieren, einstige Sicherheiten standen nun plötzlich zur Debatte. Es ist daher nicht weiter ver24 Ebd., S. 126. 25 Mit einer solchen Argumentation sollte eine Distanzierung zum MfS geschaffen und die
HV A als eigenständige Behörde dargestellt werden. Vgl. Gieseke, Die Stasi, S. 209–214. 26 Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi Konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013, S. 351 f. 27 Karau, Stasiprotokolle, S. 130. 28 Ebd., S. 131.
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wunderlich, dass die Selbstdarstellungen zwischen Eigenlob und Kritik am MfS bzw. an der HV A hin und her schwankten. Das eigene Leben erschien angesichts der massiven Auseinandersetzungen und Anschuldigungen weitaus unschuldiger als die übermächtige, große Institution ›Stasi‹. Sarkastisch charakterisierte etwa Udo M., Jahrgang 1948, Major der Hauptabteilung II, das MfS als Institution ohne sinnvolle Funktion. Was unser Ministerium betrifft, so muss ich an die Sache mit dem Bären denken. Da gibt’s die Mär von einem König, der sich einen Bären anschafft. Und der Bär muss ja betreut werden, da schafft er sich einen an, der den Bären füttert. Nun wird der aber auch mal krank, also wird ein zweiter angeschafft … weil der mal Urlaub machen will, also wird ein dritter angeschafft. Dann haben sie überlegt, daß sie einen brauchen, der organisiert, wer wann arbeitet, also mußten sie einen Leiter haben. Da warn sie dann viere, irgendwann warn sie zehne, die haben alle für den Bären gearbeitet, und als der gestorben ist, da haben sie weitergemacht und es gar nicht gemerkt. Sie waren völlig mit sich selbst beschäftigt. So hat auch unser System funktioniert. Es wurden Einrichtungen geschaffen, und die Aufgabe der Leute bestand darin, ihre Existenz zu rechtfertigen. Es mußten Arbeitsergebnisse kommen, auch wenn die Arbeitsgrundlage nicht okay war.29
Mag der Spott gegenüber dem MfS auch berechtigt erscheinen, das Bild des Königs mit seinen Bären macht aus den ›Stasi‹-Mitarbeitern mehr oder weniger überzeugend ›banale‹ Rädchen eines selbstlaufenden Getriebes ohne Auftrag. Der Apparat hat in dieser Skizze die Übermacht gegenüber jeglicher persönlichen Verantwortung. So könnte es ein Geheimnis dieser Art der Vergangenheitserzählung sein, komplexe Zusammenhänge im Zuge der Transformation ideologisch zu entschärfen, Vorgänge zu vernebeln und dadurch mitteilbar zu machen. Da die Entstehungssituation der Befragungen nicht bekannt ist und die Interviews für die Drucklegung sicherlich bearbeitet wurden, scheint eine weitergehende Interpretation der Erzählungen allerdings wenig ergiebig.
III. Frühe Streitgespräche über die ›Stasi‹ Für eine andere Art der Dokumentation entschieden sich Ariane Riecker, Anett Schwarz und Dirk Schneider, zum Zeitpunkt ihres Interviewprojektes, Anfang 1990, Studierende der Journalistik in Leipzig. Die drei präsentieren eine dialogische, lebensgeschichtlich orientierte Befragung von zwölf MfS-Mitarbeitern und einer -Mitarbeiterin.30 Im Gegensatz zur unkommentierten Zusammenstellung der Interviews im Band Karaus lesen sich die 13 Befragungen der Autorengruppe 29 Ebd., S. 13. 30 Riecker u. a., Stasi intim. Unter den 13 Interviewten befindet sich eine Sekretärin. Die In-
terviewpartner sind durch ihre ehemalige Tätigkeit gekennzeichnet und allesamt namenlos. Als
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wie eine erinnerungspolitische Auseinandersetzung mit den abgesetzten Akteuren. Die Fragenden waren als kritisches Gegenüber während der gesamten Interviews präsent. Sie bohrten nach und hinterfragten verschiedentlich Aussagen der Erzähler. Wie Karau stellte auch das Autorenteam Riecker, Schwarz und Schneider hohe moralische Erwartungen an ihre Arbeit. Sie forderten von ihren Interviewpartnern Rechenschaft. »Unser Anteil konnte nur sein, Ehrlichkeit zu fordern, Rechtfertigung zu verhindern«, schrieben sie, »es wurde Wahrheit gesprochen. Wahrheit aus der Perspektive ehemaliger MfS-Mitarbeiter.«31 Welcher Sinn von ›Wahrheit‹ damit gemeint war, zeigt sich in den oftmals provokativen Fragen. Denn die Drei versuchten moralische Selbstevaluationen ihrer Interviewpartner zu ergründen, so etwa bei einem »Leiter einer Bezirksverwaltung«: »Sie wurden im Jahre ’89 zum General ernannt. Heute, ein Jahr später, sind Sie Invalidenrentner. Ist das ein Fluch?« Der so Befragte reagierte sachlich und angriffslustig zugleich, er sei sehr stolz über die Ernennung zum General gewesen, das sei auch kein Widerspruch zum aktuellen Gesundheitszustand. Jeder habe eben seine Aufgabe gehabt. Es waren die Zeiten … dann denke ich an den Superintendenten Magirius. Der sagte mir nach Gesprächen, bei denen er die Leitung innehatte: ›Herr General, das ist nun mal so im Leben. Jahrelang haben Sie ausgeteilt. Jetzt müssen Sie einstecken …‹ Für diese Worte habe ich mich bedankt. … Und ganz hinten in meinem Gehirn steht da die Frage: Vielleicht haben wir die Falschen bearbeitet. … Aber das kann die Geschichte zeigen. … Wir hätten in unserem Land einen besseren Weg gehen können. Mit vernünftigen Leuten. Da mache ich auch der Honecker-Führung einen Vorwurf.32
Der Zweifel an der »falschen« Moral thematisiert in gewisser Weise die Frage nach der eigenen Verantwortung, wird jedoch mit Verweis auf die Führungsriege ad acta gelegt – ohne übrigens den Führungsanspruch der Partei in Frage zu stellen. Nicht nur dieser »Leiter einer Bezirksverwaltung« verwies auf die »Honecker-Führung« als Hauptschuldige für den Niedergang der DDR. Die Hauptverantwortung wurde immer vor allem in der »Parteiführung« gesehen. So lamentierte etwa auch ein »Persönlicher Referent«, dass seine Tätigkeit das Leben der »Parteiführung« gestützt habe, sie seien »eine Korsettstange für Wandlitz« gewesen »ohne, »daß wir das gewußt haben«. »Haben Sie ein Schuldgefühl den Menschen hier im Land gegenüber«, wurde er vom Autorenteam herausfordernd gefragt.33 Der Erzähler antwortete getreu, dass er sich »von heute betrachtet« mit bestimmten Dingen, die das MfS gemacht habe, »nicht mehr idenletztes Kapitel, kommentarlos angehängt, findet sich zudem ein 14. Interview mit der Tochter eines ›Stasi‹-Mitarbeiters. 31 Ebd., S. 7. 32 Ebd., S. 220. 33 Ebd., S. 51.
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tifizieren« könne. Auf dezidierte Nachfrage nach Schuldgefühlen, fragte er sich weiter: »War das immer richtig, was ich gemacht habe … Da müsste ich jetzt alles einzeln durchgehen.« Doch auch diese Antwort schien den drei Fragenden nicht zu genügen: »Nein, wir meinen die Gesamtheit Ihrer Tätigkeit, diesem Teil Ihres Lebens. Können Sie heute ruhig schlafen?« Diese Art des Nachbohrens führte schließlich zu dem folgenden Satz: »Es gibt schon ein gewisses Schuldgefühl. Ich fühle mich aber nicht schuldig«, der Frust der Menschen sei »objektiv untermauert« gewesen – man habe einfach die falschen Menschen verfolgt, erwiderte der »Referent« grüblerisch. »Das sehe ich als idiotisch an, daß wir solchen Leuten hinterhergelaufen sind, statt die Potenzen zu nutzen.«34 So stellte der Befragte implizit weniger den Führungsanspruch der SED und die Verfolgung der Opposition in Frage, als vielmehr die Verfolgung der falschen Zielgruppe. Damit war im Rahmen der dialogischen Auseinandersetzung auch die Grenze der Befragung erreicht. Zwar wurde solcherart zu einer selbstkritischen Betrachtung der eigenen Rolle im MfS-System angeregt, doch erschien die daraus entstandene Erzählung – zumindest für das Autorenteam – unergiebig. Bei der Betrachtung der Interviews, 25 Jahre später, fallen neben den Inhalten und der intensiven Auseinandersetzung zwischen Interviewenden und Interviewten vor allem die ethischen Problemfelder auf, die in diesen Texten angesprochen wurden und in denen es immer wieder um Schuld und Verantwortung geht. Beide Publikationen zeigen, wie sehr sich die Erzählung über die ›Stasi‹ damals in einem Prozess der Ausformung befand. Noch war wohl nicht definitiv fixiert, welche Themen tatsächlich im ›Giftschrank‹ der DDR-Vergangenheit verbleiben sollten. Die ehemaligen ›Stasi‹-Mitarbeiter standen den Fragenden ›Rede und Antwort‹, sie versuchten ihr Handeln zu erklären und zu verteidigen. Die abgesetzten ›Ehemaligen‹ übten Kritik an der damaligen Struktur und gestanden ihre eigene Unfähigkeit, das Falsche zu erkennen, ein. Sie artikulierten dadurch eigene Zweifel am System, ohne sich unbedingt zu positionieren. Beide Publikationen bilden die Fragen der damaligen Zeit deutlich ab – und zeigen die Antworten auf, die die Einzelnen gefunden haben. Indem in der Öffentlichkeit über die vergangene Macht der ›Stasi‹ debattiert wurde, definierte sich auch das Selbstverständnis seiner Mitarbeiter und ihr Blick auf die Vergangenheit neu.
IV. Stasi-Erzählungen heute Die Interviews aus frühen Tagen spiegeln durch ihre zeitliche Nähe zu den Ereignissen Aushandlungsprozesse wider. Es scheint noch keine festgelegte ›Variante‹ der eigenen Person zu geben, sondern vielmehr verschiedene Ansätze der Überbrückung von ›Gedächtnislücken‹. Noch war vermutlich nicht gesichert, welches die ›toxischen‹ Bestandteile des ›Post‹-Gedächtnisses tatsächlich waren. 34 Ebd., S. 52.
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Interviews, die mit größerem zeitlichem Abstand entstanden, beinhalten erwartungsgemäß eine anders gelagerte Dynamik. Diese ›späten‹ Rückerinnerungen repräsentieren oft neue Einsichten beziehungsweise einen veränderten Blickwinkel auf die Vergangenheit. In den meisten Fällen haben sich Erzählmuster herausgebildet, die auch problematische Anteile in der Lebensgeschichte nicht aussparen.35 Die Historikerin Dorothee Wierling hat konstatiert, dass die ›Stasi‹ heute ein »nichtthematisierbarer Teil des Alltags« geworden ist.36 Ausdruck dafür sei ein Schweigen, das sich in Form von Verschweigen, Beschweigen bis hin zu einer Art Mystifizierung der ›Stasi‹-Vergangenheit äußere. Oftmals werde die ›Stasi‹ etwa als eine »normale« Behörde dargestellt, häufig betonten MfS-Mitarbeiter auch ihre ›ehrenwerten‹ Ziele. Solcherart Erzählmuster stehen Wierling zufolge in direktem Bezug zur politischen Wende.37 Im Rahmen des Forschungsprojektes zur ›Stasi an Westuniversitäten‹ befragte ich auch damalige Akteure.38 Hierbei stand die ›Stasi‹-Geschichte des jeweils Einzelnen im Vordergrund. Für die Interviews griff ich auf die Methode der ›narrativen Interviews‹ zurück, um den Interviewten die Möglichkeit zu geben, eine eigene Lebenserzählung zu präsentieren.39 Durch eine Erzählaufforderung mit einer möglichst offenen Fragestellung wurde den Interviewpartnerinnen und -partnern die Möglichkeit der Selbstpräsentation ihres Lebens gegeben; die Befragten konnten so persönliche Akzente setzen. Diese Vorgehensweise war für die spätere Analyse von großer Bedeutung, da anhand von Gewichtungen und Auslassungen einzelner Lebensabschnitte die Selbstbeschreibung der Interviewten nachvollzogen werden konnte. Erst im späteren Verlauf des Interviews stellte ich eigene Fragen, die unerwähnt gebliebene Themen betrafen.40 Einer der Interviewten war Peter Mandell, Jahrgang 1946.41 Er hatte 25 Jahre als Westspion für die HV A gearbeitet. Für seine Aktivitäten war er Mitte der 1990er Jahre wegen Landesverrats angeklagt und verurteilt worden. Der mir zuvor unbekannte Interviewpartner bot mir bereits bei der Begrüßung das ›Du‹ an. Ähnlich unkonventionell verlief das Interview, das etwas mehr als zwei Stunden
35 Dorothee Wierling, Die Stasi in der Erinnerung, in: Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit
und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 187–208, hier S. 193. 36 Ebd., S. 194. 37 Ebd., S. 195 ff. 38 Vgl. Fußnote 17. 39 Vgl. Fritz Schütze, Biographieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis 13/3 (1983), S. 283–293. 40 Zur Methodik der Interviewerhebung siehe Sabine Kittel, In der besseren Hälfte Deutschlands. Biographische Erinnerungen an soziale Gerechtigkeit und Solidarität in der DDR, in: Eva Maria Gajek / Christoph Lorke (Hg.), Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M. 2016, S. 253–274, hier S. 257. 41 Die im Beitrag genannten Namen der Interviewpartnerinnen und -partner wurden aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen anonymisiert.
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dauerte.42 Mandell ging auf die Eingangsfrage, »Wie kamst du in Kontakt mit der Staatssicherheit?« zunächst nicht direkt ein: Na ja da muss ich etwas ausholen. Ich stamme ja sozusagen vom Lande. … Die ersten vier Jahre [habe ich] in [Stadt] verbracht und hab noch sehr gute Erinnerung [daran]. Auf der einen Seite standen die Häuser noch, und in einem der Häuser hatten wir eine Wohnung, und auf der anderen Straße waren nur Trümmer. Und ein paar Häuser weiter waren auch die ganzen Gebäude in Trümmern. Und das sind so meine ersten Erinnerungen: Ich gucke aus dem Fenster und schau auf Trümmer, schau auf Leute die in Trümmern wühlen, schau auf ein durchgeschnittenes Haus, wo dann auf dem Etagenbetonabsatz, eine Familie hauste, die hatten dann eine Wäscheleine gespannt und Bettlaken rüber gehängt.
Mandell fuhr fort über die Kindheitserinnerungen und seine Familie zu sprechen. Der Vater war Kommunist. Er hatte in den 1930er Jahren in Berlin gelebt. Er war Musiker »in einer kommunistischen Musikkapelle« und lebte zur »Untermiete bei einer Jüdin«, erläuterte Mandell. Diese jüdische Frau riet seinem Vater, Deutschland zu verlassen, da ihn die SA suchte. Er wurde bei der Flucht gefasst und kam eine Zeitlang in Haft. In den späteren Jahren passte er sich an, gründete eine Familie, in die hinein Peter Mandell geboren wurde. Nach der Schule begann der Erzähler eine Ausbildung zum Schiffskoch, ging danach zur Marine. In dieser Zeit, so Mandell, entstand die Idee, zu studieren. Während seines Studiums engagierte er sich in verschiedenen linken Gruppen. Bei einem Besuch in Ostberlin lernte er die DDR kennen. Die Menschen dort hatten, wie der Erzähler begeistert beschrieb, »ein anderes soziales Bewusstsein. … Da ist offenbar irgendwas entstanden in den Köpfen«. Er wurde Mitglied in der Kommunistischen Partei, was er als logische Konsequenz der positiven Wahrnehmung des »realsozialistischen Deutschland[s]« darstellte. Nach etwa zwanzig Minuten erreichte Mandells Schilderung die ›wilden‹ 1970er Jahre. Nun wandte sich seine Erzählung der eingangs gestellten Frage zu: Wie war er in Kontakt mit der ›Stasi‹ gekommen? Die Anbahnung mit dem Geheimdienst war der Schilderung zufolge selbstbewusst: Er hatte von sich aus Kontakt mit der Militärspionage der DDR aufgenommen, um seine Dienste anzubieten. Auf die Begegnungen mit Vertretern des MfS ging er nicht weiter ein, sein Fokus lag auf den nun folgenden Schulungen bzw. Arbeiten im Auftrag der ›Stasi‹. Mitte der 1970er Jahre studierte er drei Monate in Moskau, wo er auch seine ideologische ›Grundausbildung‹ als Agitator erhielt. Er sei »noch kein ausgebildeter Agent« gewesen, betonte er. Im Auftrag der ›Stasi‹ – »oder HV A«, wie er präzisierte – war er erst nach Abschluss seines Studiums tätig. Die nun folgenden Geschichten seiner Aufträge beschrieben das ›Abenteuer Spionage‹. Er schilderte spannend, wie er an geheime Informationen des Verfassungsschutzes geriet, wie er diese regelmäßig in Toiletten verabredeter Fernzüge deponierte, 42 Interview mit Peter Mandell, 11. März 2015, Interview: Sabine Kittel.
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Funksprüche kodierte, Kontakt mit den Führungsoffizieren aufnahm und pflegte. Dabei präsentierte er eine Darstellung der gesammelten Schwierigkeiten über die Jahre hinweg, die er erfolgreich zu meistern wusste. Alles in allem, so könnte diese Erzählung zusammengefasst werden, war er für die HV A ein wertvoller ›Agent‹ gewesen. Nach der detaillierten Beschreibung dessen, wie er zur ›Stasi‹ kam und was er getan hatte, folgte die Erläuterung des ›Warum‹: Ich musste da einfach gegenhalten, gegen die damalige Situation. Da standen Warschauer Pakt und Nato bis an die Zähne gerüstet gegeneinander und ich kam ja vom Militär, ich wusste wie das militärische Denken ist. Ich [überlegt] ich hatte wirklich Sorge, also auch ganz persönlich Sorge, dass wieder so etwas passieren könnte, was ich als Kind in der [Straße] gesehen hatte. Und das war alles sehr präsent für mich.
Der erneute Verweis auf seine Kindheitserfahrungen lässt erahnen, welche Bedeutung Mandell dieser Erinnerung für das Verständnis seiner Biografie beimaß – ein Anker, der gleichsam als Erfahrungshorizont diente und seine Tätigkeit für die Auslandsspionage der DDR erklärte. Als er zu Beginn des Interviews gefragt wurde, wie es zur Zusammenarbeit mit der ›Stasi‹ gekommen war, wollte Mandell sein Leben ›von Anfang an‹ erzählen. Er zeigte auf, woher er kam und wohin er gegangen war. Die so erzählte kohärente Geschichte seines Lebens repräsentierte für ihn auch die Kontinuität seiner politischen Einstellung (sein Vater war ebenfalls Regimegegner) sowie der Integrität seines Handelns (Spionage aus moralisch gerechtfertigtem Antrieb). Dies zeigte zudem seine Auskunft zur Frage, warum er mit der ›Stasi‹ zusammengearbeitet hatte. Seine Antwort benannte besonders ethische Gründe, Geld war ihm hingegen »scheißegal. Ich hab‹ die Arbeit getan, weil es nötig [war] und nicht weil ich Geld dafür kriegte.« Fast durchgängig betont Mandell beim Erzählen, wie in diesem Zusammenhang, die ›hehren Ziele‹ seiner Aktivitäten für die ›Stasi‹. Die drei Monate Gefängnishaft, die er Ende der 1990er Jahre absitzen musste, bezeichnete er zwar als nicht einfach, doch sah er in ihnen auch »eine wichtige soziale Erfahrung«, die er jedem empfehlen würde. Den von ihm begangenen ›Landesverrat‹ bewertete er nicht als moralisches Fehlverhalten, obwohl ihn Mitte der 1990er Jahre ein bundesdeutsches Gericht wegen Spionage für die DDR zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt hatte. Das Resümee fällt wohl zwiespältig aus: »Ich war Verlierer in der Geschichte. … Gewinner war ich ja eigentlich nie. Ich hatte ja ein Doppelleben. Und dieses Doppelleben ist kein Gewinn, sondern eigentlich auch [unvollständig].« Mandells retrospektiver Blick auf das Leben als ›IM‹ ist stark durch ethisch und ideologisch geleitete Argumente hinsichtlich des eigenen Handelns untermauert. Der Erzähler schildert als erstes die zerbombten Straßen seiner Kindheit, Armut und Hunger als Folge des Krieges, er beschreibt bewundernd den kommunistischen Vater, dessen Widerstand und politische Aktivitäten sowie die Rettung durch die jüdische Vermieterin im Nationalsozialismus. Aus dieser Sammlung von erinnerungskulturell aufgeladenen Topoi lässt sich ein Subtext herausfiltern, der in
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etwa ›Nie wieder Faschismus‹ heißen könnte. Diese Aussage spiegelt das Erzählmuster des ›Antifaschismus‹ wider, das bereits den Gründungsmythos der DDR untermauerte und seinerzeit den sozialistischen Staat ideologisch legitimierte.43 Das Narrativ des ›Stasi‹-Mitarbeiters, der für den ›Friedenserhalt‹ gekämpft hat, konnte bereits in den frühen Interviews herausgestellt werden – es scheint, dass eine solche Erzählfigur die moralisch integren Ziele zu belegen vermag. Der Zeithistoriker Martin Sabrow hat verschiedene Typen der DDR-Erinnerung und damit auch verschiedene Erinnerungsgemeinschaften beschrieben, die sich seit der Jahrtausendwende vor allem in Ostdeutschland herauskristallisiert haben.44 Eine dieser Erscheinungsformen kennzeichnet er als ›sozialistisches Trotzgedächtnis‹, das sich durch Umdeutungen oder auch Relativierungen des SED-Staates auszeichnet. Obgleich Mandell nicht aus Ostdeutschland kommt, kann sein Umgang mit der ›Stasi‹-Vergangenheit genau diesem Typus zugeordnet werden. Er hat auf diese Weise offenbar einen Weg gefunden, die eigene Biografie angesichts der Debatte zu ›Stasi‹ und ›IM‹ in seinem Sinne zu erzählen.
V. (K)eine Erzählung über die ›Stasi‹ Dass das Thema ›Stasi‹ in biografischen Interviews über Alltagserfahrungen in der DDR selten aufgegriffen wird, ist angesichts der zahlreichen öffentlichen Debatten, die in Medien und Politik seit der deutsch-deutschen Vereinigung geführt wurden, ein Paradoxon. Doch lässt sich dies mit dem Bild vom ›Giftschrank‹ nachvollziehen. Dieser Sammlungsort problematischer Erinnerung hat für die Mitglieder der eigenen Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft (besonders im Familienkontext) eine soziale Funktion, da hier verschiedene bzw. abweichende Versionen der Vergangenheit ausgetauscht und miteinander in Einklang gebracht werden. Viele Informationen sind selektiv und können oftmals auch nur von ›Insidern‹ verstanden werden, Außenstehende erhalten nur zufällig Einblick in Geschichten. Einen solchen Zufall erlebte ich bei Kerstin Wagner, die mir im Rahmen eines Forschungsprojektes begegnete, das sich mit Bildern und Diskursen zur DDR-Vergangenheit befasste.45 Wagner arbeitete als Sekretärin in einer ostdeutschen Bildungseinrichtung.46 Sie war zum Zeitpunkt des Interviews 39 Jahre alt, verheiratet und hatte ein Kind. Wagner entstammte, wie sie im Laufe des Inter43 Rüdiger Schmidt, Sieger der Geschichte? Antifaschismus im »anderen Deutschland«, in:
Großbölting, Friedensstaat, S. 208–229. 44 Vgl. Martin Sabrow, Die DDR erinnern, in: ders. (Hg.), Erinnerungsorte der DDR. München 2009, S. 11–27. Sabrow verwendet den Terminus »Gedächtnis« im Übrigen nicht im Halbwachs’schen Sinne, sondern zur Charakterisierung der jeweiligen »Erinnerungsgemeinschaft« mit den ihr eigenen Narrativen. 45 Vgl. Fußnote 16. 46 Interview mit Kerstin Wagner, 30. August 2007, Interview: Sabine Kittel.
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views erzählte, einer Familie, die in den Strukturen der DDR fest verankert war. Auch diese Befragung fand mit der Methode des »narrativen Interviews« statt.47 Das ›Leitmotiv‹ ihrer Erzählung könnte als ›alles ganz normal‹ charakterisiert werden, zumal sie diese Normalität immer wieder explizit betonte. Die Familie lebte in Berlin, ihre Mutter arbeitete im »Exquisit-Handel«, ihr Stiefvater war »Fahrer beim Ministerium«. Sie selbst absolvierte in der DDR eine Ausbildung zum »Facharbeiter für Schreibtechnik«, bei der sie in verschiedenen Ministerien arbeitete. Zuletzt war sie als staatlich geprüfte Sekretärin in der Rechtsabteilung des Ministerrats tätig. Wagner beschrieb ihr Leben als ›normal‹ angepasst. Sie durchlief alterstypisch die gesellschaftlichen Organisationen in der DDR, genoss die großen, alle zwei Jahre stattfindenden Festivals der Jugend. Feste Regeln in ihrer Familie galten unter anderem dem ›Westfernsehen‹ und ›Westpaketen‹ – beides wurde strikt abgelehnt. Als die Mauer fiel, war Wagner zwanzig Jahre alt. Trotz großen Interesses überschritt sie nach dem Fall der Mauer zunächst nicht die Berliner Grenze, auch wenn es andere taten: »Man hatte eigentlich die Order, wir durften nicht fahren, weil wir ja nun, ich sag‹ mal, im Ministerium gearbeitet haben, im Ministerrat. Geht ja nun nicht.« Im Gegensatz zu einigen ihrer Kollegen wartete Wagner eine Woche, bis die DDR-Regierung das »Verbot aufgelockert [hatte], weil sie einfach gemerkt haben, das geht gar nicht.« Die offizielle Genehmigung erlaubte ihr einen Besuch in West-Berlin, eine Fahrt mit der S-Bahn zum ›Bahnhof Zoo‹. Schilderungen wie diese deuten die Anpassung Wagners an, die von ihr selbst nicht besonders hervorgehoben wurde. Ihre Geschichte stellte sie in einer entideologisierten und unpolitischen Art dar. Die Erzählerin lernte in den folgenden Wochen und Monaten den ›Westen‹ kennen, als Angestellte im öffentlichen Dienst siedelte sie nach der Vereinigung für einige Monate nach Bonn über; aus familiären Gründen wechselte sie 1992 die Arbeitsstelle. Bei unserer Begegnung lebte Wagner mit ihrer Familie in einem ostdeutschen Bundesland. Die freimütige Darstellung, aber auch die unpolitische Haltung der Erzählerin fielen besonders auf. Ihre Ehrlichkeit und ideologiefreie Erzählweise erschien mitunter fast naiv. Im Nachfrageteil, verschiedene Daten und Informationen waren für mich unklar geblieben, kam sie auf Ihren Ehemann zu sprechen, den sie im Interview nur kurz gestreift hatte: Also, der hat eigentlich auch einen richtigen regulären Beruf, mussten ja alle haben. Er ist Werkzeugmacher. … Und dann hat er im Prinzip, auch an der […] angefangen, bei der Polizei. Und dann diese Richtung, mit Personenschutz. Das war ja damals auch […].« So lautete die unklare Darstellung der Tätigkeit ihres Ehemanns. »So kurz vor der Wende, war das alles im Prinzip. Wir waren ja auch noch jung. Also, ich sag mal, er hat ja dann angefangen, sozusagen als ganz normaler Kraftfahrer und wollte auch in diese Richtung gehen, Personenschutz. Das war dann […]. … Alles […] kurz vorher, sagen wir mal 1989/90 dann nachher. Also, er hatte angefangen gehabt, und hat dann normaler Fahrer gemacht, 47 Schütze, Biographieforschung.
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musste die und den und den fahren, sag ich mal. … Also als Fahrer, als Fahrer für, für Regierungsleute sozusagen. Und dann kam es ja dann, Polizei dann, äh, dass er dann, äh, in die einzelnen Bereiche Personenschutz.
Mögliche Missverständnisse und potentielle Unklarheiten dieser langen Interviewsequenz konnten sicherlich deutlich werden: Während des Interviews blieben einige Teile der Beschreibung undurchsichtig – die bereitgestellten Informationen waren nicht nachvollziehbar. Wagner blieb des Öfteren im Vagen und verstrickte sich zuweilen in Ungenauigkeiten. Was sie schilderte, war offenbar nicht, was sie schildern wollte (konnte?). Die spätere Analyse des Textes brachte Aufklärung: Wagners Ehemann hatte beim Personenschutz der DDR gearbeitet, denselben Beruf hatte auch ihr Stiefvater. Beide waren also mit großer Sicherheit in der ›Hauptabteilung Personenschutz‹ des Ministeriums für Staatssicherheit tätig. Kerstin Wagner, die so offenherzig über die »Normalität« in der DDR erzählt hatte, verlor, so erschließt es sich im Nachhinein, ihre Unbefangenheit, als das Thema ›Stasi‹ aufzukommen drohte. Die freundliche, entpolitisierte, fast naiv wirkende Schilderung des Alltags ›normaler DDR-Bürger‹ konnte sie, so scheint es, nur durch Auslassung dieses Aspektes bzw. durch ›Gedächtnislücken‹ aufrechterhalten. Zu ihrer eigenen Normalität gehörte indes, dass der Ehemann wie auch der Stiefvater beim MfS beschäftigt waren. Da die Erzählung ihr in der Selbstdarstellung wenig akzeptabel schien, verlor sich dieser Teil ihrer Biografie im Diffusen: aus der ›Hauptabteilung Personenschutz‹ bei der ›Stasi‹ wurde daher ein neutraler »Personenschutz«, aus DDR-Ministern wurden »Regierungsleute« und auch das Jahr 1988 bezeichnete sie ungefähr mit 1989/90. Um es überspitzt auszudrücken, wurde dieser Teil zum ›toxischen Gedächtnis‹, das als Bestandteil des biografischen ›Giftschrankes‹ gewöhnlicher Weise nicht erzählt wird. Ob es bewusste Unterschlagung oder unbewusste Verschleierung dieser ›Stasi‹-Verbindung waren, kann indes nicht eruiert werden. Bewusste Ausblendung von Information betrieb dagegen Thomas Hauff bei seiner biografischen Erzählung.48 Hauff, der beim Ende der DDR 29 Jahre alt war, wuchs wie Wagner im »normalem« staatsloyalem Umfeld auf. Die Großmutter, so beschrieb Hauff, war immer schon »politisch links« gewesen, die Mutter arbeitete als Lehrerin, der Vater als Professor. Die Schwester war Leistungssportlerin, sie lebte im Sportinternat. Seine Familie charakterisierte er als eine mit »politisch korrektem roten Hintergrund«. Man hatte sich eingerichtet in dieser DDR. »Um 19 Uhr schauten wir ›Heute‹, dann ›Aktuelle Kamera‹ und dann was grad inter-
48 Interview mit Thomas Hauff, 3. August 2009, Interview: Sabine Kittel. Das Interview ent-
stand im Kontext der Forschung zu »Interpretationen der Vergangenheit. Eine Analyse der Erinnerung an die DDR 20 Jahre nach der Vereinigung«. Vgl. Sabine Kittel, Der Blick zurück zwischen Bedauern und Verdruss. Erinnerungen von Ostdeutschen an »ihre« DDR, in: Thomas Großbölting u. a. (Hg.), Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der kommunistischen Diktaturen in Europa und ihre Folgen, Essen 2010, S. 43–60.
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essant war«. Die Familie lebte in Potsdam-Babelsberg und zog später nach Berlin. Sein Umfeld beschrieb Hauff folgendermaßen: »Die Grenze war da, aber in drei Richtungen konnte man ja gehen«. Das Motto seiner Erzählung könnte als ›Nehmen und Zurückgeben‹ bezeichnet werden. Da Hauff keine »Abiturkarte gezogen hatte«, wie er es ausdrückte, absolvierte er eine Ausbildung zum Zerspaner,49 um später als »Nachwuchskader« zunächst Ausbilder und dann Betriebsdirektor zu werden. Seinem Leitmotiv folgend engagierte er sich als FDJ-Funktionär, beteiligte sich auch in der Betriebszeitung: »Der Staat bietet uns eine kostenlose Ausbildung und als Dank engagiert man sich für die Gemeinschaft«, so der Kommentar. Seine Militärzeit im Jahr 1980 leistete Hauff im Wachregiment »Feliks Dzierzynski« ab, das dem MfS unterstellt war, wie er anfügte. »Das alles war absurd«, erläuterte er relativierend, sie hätten immer irgendwo im Wagen gesessen und gewartet. Es sei über diese Zuteilung dankbar gewesen, da er ansonsten bei den Grenztruppen gelandet wäre. Diese Gewissheit blieb unkommentiert und von meiner Seite unhinterfragt. Wie der spätere Verlauf des Interviews zeigte, ist der Hinweis auf die ›Stasi‹ an dieser Stelle signifikant – da ansonsten seine besondere politische und ideologische ›Zuverlässigkeit‹, die für einen solchen Einsatz notwendig war, eher heruntergespielt wurde. Den geplanten Berufsweg konnte Hauff nicht ohne Hürden gehen. Nach seinem »Ehrendienst beim MfS«, so der Erzähler ironisch, begann er 1984 das Fernstudium zum Manager. Die dazu gehörende Parteischulung nahm er in Kauf, der Eintritt in die Partei etwa zur selben Zeit erfolgte daher »aus pragmatischen Gründen«. Erst als er sich in der späteren »Kaderplanung« ganz für die politische Schulung verpflichten sollte, verweigerte sich Hauff dieser staatlichen Lenkung. Er wurde nun degradiert und zurück in seinen Betrieb beordert, wo er wieder als Zerspaner arbeitete. In den letzten Jahren der DDR hatte sich sein Motto ›Nehmen und Zurückgeben‹ mehr und mehr in ein Minusgeschäft verwandelt. Erst die Minderung der Belegschaft im Betrieb – zahlreiche Kollegen flohen ab Sommer 1989 in den Westen – eröffnete ihm wieder die Möglichkeit, als Ausbilder zu arbeiten. Die Abwicklung seines Betriebs ermöglichte ihm die Fortsetzung der beruflichen Planung, zum Zeitpunkt des Interviews war er in der Managerschulung tätig. Mit beträchtlicher Offenheit sprach Hauff verschiedenste Themen an und zeigte die Bereitschaft, sich in der Erzählung seinen Lebensentscheidungen zu stellen. Gleichwohl brachte die zufällige Nachfrage nach dem Vater, über den er nichts erzählt hatte, Erstaunliches zutage. »Ja. … Mein Vater, er war Professor an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR. Potsdam-Babelsberg, und er war später dann Oberst bei der Staatssicherheit« war seine Antwort, begleitet von einem vieldeutigen Grinsen und anschließendem Schweigen. »Ihr Vater war bei der ›Stasi‹?«, so meine überraschte Nachfrage. »Ja, ich spreche an 49 Zerspanungsmechaniker waren/sind im Bereich der Metallfräsung und -drehung ausge-
bildet.
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sich gar nicht mehr darüber, dass er dort war. Dann geht bei den meisten sowieso gleich der Laden runter. Die wissen alles über mich und verstehen doch nichts. Das ist wie bei Kindern von Nazi-Verbrechern, man möchte sich auch schützen.« Die Methode des narrativen Interviews ist auf die Ergründung der ›Selbstpräsentation‹ der Erzählenden ausgerichtet.50 Auslassungen oder ›weiße Flecken‹ in den biografischen Darstellungen weisen auf besonders interessante oder problematische Aspekte der Selbstbeschreibung hin. So auch in diesem Fall, als meine Nachfrage eine neue Erzählung der Familiengeschichte eröffnete – und damit die besondere Problematik der Folgeerzählung belegte. Sein Vater, so erzählte Hauff nun, war seit dem (nebenbei erwähnten) Umzug nach Berlin »Hauptamtlicher Mitarbeiter« im MfS geworden. Seine Mutter, die er als »Lehrerin« bezeichnet hatte, arbeitete, wie zuvor auch der Vater, als Dozentin in der Akademie für Staatsund Rechtswissenschaft der DDR, einer hochpolitisierten ›Kaderschmiede‹ für die Führungskräfte im Staatsapparat und im diplomatischen Dienst. Und so kam es, dass Hauff, nachdem er die ihm problematisch scheinenden Zusammenhänge ›aufgedeckt‹ hatte, einen Blick hinter die zuvor präsentierte ›offizielle Familiengeschichte‹ zuließ. Er war der Sohn eines ›Stasi-Mannes‹, der eine Reihe von Ambivalenzen durchstanden hatte. »Aus Rücksicht« auf seinen Vater hatte er sich 1976 von seiner damaligen Freundin getrennt. Sie war eine nahe Verwandte des evangelischen Pfarrers Oskar Brüsewitz, der sich seinerzeit aus Verzweiflung und Protest gegen die »Unterdrückung der Kirchen in der DDR« öffentlich selbst verbrannt hatte.51 Diese Entscheidung zog ein tiefgreifendes familiäres Zerwürfnis nach sich. Es war das letzte Zugeständnis an den Vater, danach hatte er genug »zurückgegeben«. Fortan konnte er »machen was ich wollte« – er hatte sein »Opfer gebracht«; er hörte auf, »an den Staat [zu] denken«, so Hauff. Für die sich daraus ergebenden Dilemmata seines Vaters brachte er zwar Verständnis auf, die Konsequenzen für sein eigenes Leben wollte er jedoch nicht mehr tragen. Hauffs Erzählung verweist besonders durch die Wendung im Interviewprozess in die Richtung ›toxischer Erinnerung‹. ›Gift‹ war es für ihn, in der heutigen Zeit über seinen Vater, den Oberst beim Ministerium für Staatssicherheit, zu sprechen. Er verweigerte sich der Verantwortung für diesen Vater, der heute gemeinhin als ein ›Täter‹ betrachtet wird. Auch die Mutter, wenngleich weniger deutlich, blendete er aus seiner Erzählung aus, wurde doch auch sie nach dem Systemwechsel zur ›Täterin‹ oder mindestens ›Mittäterin‹. Durch Verschleierung der Geschichte seiner Eltern gelang es Hauff, die beiden vor der vermuteten Stigmatisierung als ›Verräter‹ zu schützen. Erst im zweiten Teil seiner Erzählung konnte er sein Unbehagen an allem, wofür die ›Stasi‹ stand, artikulieren. Auf ›staatsnahe‹ Eltern und Großeltern zu verweisen, war für den Interviewten kein Problem, auch die Erwähnung der Tätigkeit beim Regiment ›Feliks Dzier50 Zur Methode vgl. Schütze, Biographieforschung. 51 Vgl. Helmut Müller-Enbergs u. a., Das Fanal. Das Opfer des Pfarrers Brüsewitz und die
evangelische Kirche, Berlin 1993.
GEDÄCHTNIS UND ›POST‹-GEDÄCHTNIS 115
zynski‹ schien ihm wenig problematisch. Erst die Information der ›Täter‹-›Stasi‹Verbindung macht die Vergangenheit zu einer prekären Erzählung: An diesen Hinweis knüpfen sich moralische und ethische Fragen zur persönlichen (sozialistischen) Vergangenheit an, die nach dem Ende der DDR neu überdacht, in Frage gestellt und zu problematischer Geschichte wurden.
VI. Welche Zukunft hat ein ›Giftschrank der DDR-Erinnerung‹? Besonders die Erzählungen von Kerstin Wagner und Thomas Hauff belegen die Schwierigkeiten der Angehörigen in ›Stasi‹-Familien. Über ›Stasi‹ zu sprechen ist problematisch, da das Gegenüber offenbar »alles zu wissen« scheint und doch nichts »versteht«, wie es Hauff selbst ausdrückte. Der Wunsch, das eigene Leben als ›sinnvolle‹ und auch als ›moralisch integre‹ Einheit zu erzählen, wie es ein biografisches Interview ermöglicht, ist durch erinnerungs- und geschichtspolitische Debatten über den Charakter der DDR als ›sozialistische Diktatur‹ und die Fixierungen auf ›Stasi-Staat‹ kaum möglich. Wie die Beispiele zeigen, fällt es offenkundig schwer, angesichts der im Laufe der Jahre festgelegten Stigmatisierungen eine Biografie im Rahmen eines ›Post-Gedächtnisses‹ der DDR-Vergangenheit zu präsentieren. Bei der Darstellung der eigenen Lebensgeschichte wird diese automatisch in Bezug zu vergangenheitspolitischen Diskussionen gestellt und im Zuge dieser Selbstevaluation neu bewertet. Rasch werden daher zentrale Bestandteile der Biografie zu ›weißen Flecken‹. Die DDR-Vergangenheit der beiden Interviewten erscheint auf diese Weise gleichsam bereinigt und vor der Beurteilung von ›Draußen‹ geschützt. Verwerfungen innerhalb der Erinnerungsgemeinschaft kommen hierbei nur durch Zufall ans Licht. Die beiden Beispiele entschleiern daher wohl die ansonsten unsichtbar gebliebenen Alltagsrealitäten dieser spezifischen Erinnerung. Peter Mandells biographische Erzählung weist wiederum in eine andere Richtung, da er nicht Verschleierung, sondern dezidiert Erläuterung anstrebte. Seine Selbstevaluation, die Selbstbewusstsein und Handlungslogik repräsentiert, ist Ausdruck der Verarbeitung grundlegender moralischer Dilemmata wie auch geschichtspolitischer Argumentationen seit der deutsch-deutschen Vereinigung. Die Erläuterung seiner ›Spionage‹ baut er auf einen moralisch integren Begründungszusammenhang auf, der auf der Vergangenheit und seiner Herkunft basiert. Des Weiteren ist er bestrebt, den Antrieb seiner ›IM‹-Tätigkeit anhand übergeordneter Ideale (gerechte Gesellschaft, Antifaschismus) zu rechtfertigen. Das Interview mit Mandell lässt zudem die Narrative erkennen, mit denen die ›Stasi‹Erzählung im Laufe der vergangenen 25 Jahre ritualisiert wurde. Erzählmuster, wie die des ›antifaschistischen Kampfes‹, des ›Friedenserhalts‹ oder der ›ehrlichen‹, ›effizienten‹ geheimdienstlichen Arbeit, sind auch in den frühen Interviews mit ›Stasi‹-Mitarbeitern zu finden. Sie sind darüber hinaus in weiteren Beispielen nachzuvollziehen: etwa in der Selbststilisierung der ehemaligen Spione als
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›Kundschafter für den Frieden‹ in Publikationen ehemaliger HV A-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen.52 Im Fokus der Überlegungen standen ›Betroffenen‹-Erzählungen der anderen Art: Schilderungen von ›Tätern‹ und ›Täterinnen‹ sowie ihrer Angehörigen. Diese wurden beispielhaft auf ihre Aussagen und Präsentationsweisen hin untersucht, um anschließend die zeitliche Rahmung der Erzählungen nachzuvollziehen. Deutlich wurde, dass sich das ›Stasi‹-Gedächtnis nach dem Ende des politischen Systems – und im Zuge der ›Post-Erinnerung‹ – mehrfach neu formte und gegen die Folgeerzählungen der ›Stasi richtete. In den frühen Interviews lassen sich Aushandlungsprozesse und Abwägungen der eigenen Rolle im SED-Staat herausfiltern, die sich auf konkrete Aktivitäten beziehen. Die ehemaligen ›Stasi‹Mitarbeiter erläuterten ihre Entscheidungen und Handlungen und die damit verfolgten ideologischen Ziele. Sie argumentierten und hinterfragten dabei das eigene Vorgehen angesichts des offen gewordenen Misserfolgs der ›Stasi‹ und der Vorwürfe gegen das MfS. Sie befanden sich gewissermaßen im Dialog mit der Transformationsgesellschaft und dadurch weniger in der Vergangenheit als vielmehr in der Gegenwart. Die im offiziellen Aufarbeitungsprozess der Bundesrepublik als ›Verbrechen‹ klassifizierten ›Stasi‹-Aktivitäten veränderten allerdings zunehmend die Möglichkeit der Erläuterung, da sich die Mitarbeiter der ›Stasi‹ mehr und mehr als Kollektiv an den Pranger gestellt sahen. Die später geführten Interviews zeugen daher einerseits von Tabus in den Erzählungen, sichtbar in den Gedächtnislücken bzw. Verschleierungen familiärer Bezüge zur ›Stasi‹; andererseits dokumentieren die Erzählungen der späteren Zeit auch die erforderliche Überhöhung ideologischer Ideale der ›Stasi‹. Die Beispiele belegen den Vollzug der Neubewertung der Vergangenheit, hatte doch die moralisch-politische Reflexion der DDR- und ›Stasi‹-Vergangenheit in der Bundesrepublik inzwischen ein neues Vergangenheitsbild der DDR geschaffen und neue moralisch-politische Parameter für die Erzählungen der Zukunft kreiert. So festigte sich im Zuge des Transformationsprozesses eine Art universelle ›Stasi‹-Gedächtnisgemeinschaft, deren private (positive) Erinnerungen in Anbetracht aktueller Vergangenheitsdiskurse ›toxisch‹ erscheinen. ›Stasi‹-Erfahrungen von ›Stasi‹-Mitarbeitern und -Mitarbeiterinnen sowie deren Familienangehörigen fanden sich unversehens in einem persönlichen ›Giftschrank‹ wieder. In einem solchen Behältnis waren virtuell jene privaten Informationen versammelt, die aus politischen oder moralischen Gründen nicht mehr akzeptabel waren. Sie wurden daher verschwiegen oder heruntergespielt. Langfristig betrachtet werden diese ›normalen‹ Erinnerungen wohl einfach vergessen werden. 52 Als ›Kundschafter des Friedens‹ bezeichnen sich eine Reihe ehemaliger Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen des Auslandsgeheimdienstes der DDR. Siehe etwa Klaus Eichner / Gotthold Schramm (Hg.), Kundschafter im Westen. Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich, Berlin 2003; Gabriele Gast, Kundschafterin des Friedens, Frankfurt a. M. 1999.
II. WIRTSCHAFT, POLITIK UND GESELLSCHAFT
Rüdiger Schmidt
DIE ÖKONOMISCHE SEITE DER FREIHEIT Die Bürgerrechtsbewegung und das ›Volkseigentum‹
D
ass sich mit einem runden Tisch viel mehr verbindet als nur ein Möbelstück,1 an dem – je nach Umfang des Tisches – eine bestimmte Zahl von Personen Platz findet, um miteinander zu kommunizieren,2 wurde der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten erst bewusst, als in der DDR im Herbst 1989 Vertreter oppositioneller Gruppen Begegnungen am ›Runden Tisch‹ anregten, um zunächst unter sich, später auch unter Beteiligung der politisch Verantwortlichen über die elementare Krise, in die die DDR geraten war, zu beraten und nach Lösungsstrategien zu suchen. Im Gegensatz zu einem rechteckigen Tisch, an dessen Kopf die hierarchisch Erstplatzierten sitzen, weil sie über Einfluss verfügen und so – topographisch – auch die Deutungsmacht über die Tischgenossen reklamieren, handelt es sich beim runden Tisch, jedenfalls dem Anspruch nach, um einen herrschaftsfreien Ort, an dem alle Anwesenden gleich weit vom Mittelpunkt des Tisches entfernt sitzen. Insofern handelt es sich um eine präsentative symbolische Form, die den Teilnehmern der Runde unabhängig von »Rang und Stand« ergebnisoffene und gleichberechtigte Kommunikationschancen zu gewähren verspricht. Verbindet sich damit symbolisch und prozedural ein zum Ausdruck gebrachter egalisierender Sinn, ja auch die Absicht zur friedvollen Verständigung, so waren die Debatten an den Runden Tischen in der DDR doch von einer kontroversen Dynamik geprägt. Sämtliche Initiativen zielten auf eine Machtbegrenzung der Sozialisti-
1 Jörg Stoye (BStU, Außenstelle Magdeburg) danke ich für wichtige archivalische Hinweise,
meinen Kolleginnen Julia Bühner und Sandra Frühauf für die sorgfältige Textredaktion. 2 Bzw. im geselligen Rahmen auch Speisen und Getränke zu sich zu nehmen.
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schen Einheitspartei, ja im Grunde mehr noch: Es ging darum, endlich ›reinen Tisch‹ zu machen.3 Nachdem Bürgerrechtler – darunter Marianne Birthler, Werner Fischer und Markus Meckel – bereits im Frühjahr 1989 die Einrichtung von Runden Tischen in der DDR angeregt hatten,4 um so nicht zuletzt mit einem öffentlichen Signal auf die bei den Kommunalwahlen im Mai stattgefundenen Wahlfälschungen zu reagieren, ging der maßgebliche Impuls zur Gründung eines Runden Tisches im Sommer des Jahres von der Bürgerbewegung ›Demokratie Jetzt‹ aus.5 Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Initiative hatte der Theologe Wolfgang Ullmann (›Demokratie Jetzt‹) geleistet. Zudem verfügten die Gründer von ›Demokratie Jetzt‹ über Verbindungen zur polnischen Solidarność, wobei der Runde Tisch des östlichen Nachbarn der DDR in vielerlei Hinsicht als Ideengeber für die deutsche Bürgerrechtsbewegung zwischen Ostsee und Erzgebirge gewirkt hatte, so dass im Juli 1989 seitens der Oppositionsgruppen dazu aufgerufen wurde, auch in der DDR entsprechende Gesprächsrunden zu initiieren.6 Doch erst nach einer Phase der ›Vakanz‹ gewann die Bürgerrechtsbewegung im Zuge der Herbstdemonstrationen und angesichts der bevorstehenden Implosion des Regimes jene Dynamik, die schließlich dazu führte, die Anstrengungen zur Gründung Runder Tische zu intensivieren. Aus einem losen Bündnis verschiedener Oppositionsparteien, die Anfang Oktober 1989 gemeinsame Überlegungen zur Etablierung eines Runden Tisches in der DDR angestellt hatten, entstanden schließlich sogenannte Kontaktgruppen, die zwischen dem 30. Oktober und dem 1. Dezember wöchentlich tagten, um ihre politischen Aktionen aufeinander abzustimmen und weitere Koordinierungsmaßnahmen zu treffen.7 Wenngleich man im ›Neuen Forum‹ und in der ›Vereinigten Linken‹ zunächst eher mit Skepsis auf die Wirkungsmöglichkeiten eines Runden Tisches reagierte und demgegenüber eher das Konfliktpotential der Straße auszuschöpfen und zu dynamisieren suchte, fand die Idee nach 3 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2. Aufl., Bonn
2000, S. 890. 4 Die Geschichte der Bürgerbewegung in der DDR kann hier nicht en détail nachgezeichnet werden. Vgl. dazu den nützlichen Überblick von Karl Bruckmeier, Entwicklung der Bürgerbewegungen 1989–1991, in: Gerda Haufe / Karl Bruckmeier (Hg.), Die Bürgerbewegungen in der DDR und in den ostdeutschen Bundesländern, Opladen 1993, S. 9–28 und ders., Die Bürgerbewegungen der DDR im Herbst 1989, in: ebd., S. 29–77. 5 Vgl. hier und folgend Francesca Weil, Verhandelte Demokratisierung. Die Runden Tische der Bezirke 1989/90 in der DDR, Göttingen 2011, S. 45. 6 Mit dem polnischen Runden Tisch, der vom 6. Februar bis zum 5. April 1989 zusammenkam, wurde ein gewisser »Modell- und Symbolcharakter« für die runden Tische in der DDR und den osteuropäischen Staaten assoziiert. Konrad Weiß / Manfred Heinrich, Der Runde Tisch: Konkursverwalter des »realen« Sozialismus. Analysen und Vergleich des Wirkens Runder Tische in Europa, Köln 1991, S. 8. 7 Vgl. Ulrike Poppe, Der Runde Tisch, in: Martin Sabrow (Hg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 493 f.
DIE ÖKONOMISCHE SEITE DER FREIHEIT 121
»autorisierte[n] Gesprächsrunden« doch immer mehr Anklang.8 Auf Einladung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR trafen sich am 7. Dezember im Dietrich-Bonhoeffer-Haus9 in Berlin-Mitte 15 Vertreter von sieben Oppositionsgruppen.10 Von den Parteien des kurz zuvor aufgelösten ›Demokratischen Blocks‹ waren Repräsentanten der SED, der CDU, der DBD, der LDPD und der NDPD erschienen.11 Zwar war damit die »Machtkontrolle der Opposition erstmals institutionalisiert« worden, doch »als der Runde Tisch am 7. Dezember seine Arbeit aufnahm«, urteilt Ehrhart Neubert, »hatte in der Opposition bereits ein kräftezehrender Differenzierungsprozess eingesetzt, der ein einheitliches Handeln erschwerte«.12 Tatsächlich konnten die Vertreter des Zentralen Runden Tisches, die über keine politischen Entscheidungsbefugnisse verfügten, darüber hinaus keine Kontrolle über den Verwaltungsapparat ausüben konnten, gegenüber den politisch Verantwortlichen lediglich eine beratende Funktion wahrnehmen.13 Doch bestanden zwischen den Vertretern des Runden Tisches und der Regierung der DDR offenbar unterschiedliche Vorstellungen über die Form des Verfahrens, d. h. über zu treffende Regelungen, die geeignet schienen, die wechselseitigen Konsultationen zu institutionalisieren, wie überhaupt unklar zu sein schien, welche Kommunikationsinhalte thematisiert und welche Kommunikationswege eingeschlagen werden sollten. Zumindest seitens der DDR-Regierung schien man eher retardierend auf diese Problematik zu reagieren, zumal man den Runden Tisch nicht zu einer die Administration kritisch kontrollierenden ›politischen Bühne‹ bzw. »zweiten Kammer auf parlamentarischer Ebene«,14 schon gar nicht zu einer Art ›Nebenregierung‹ aufgewertet wissen wollte.15 Auf der anderen Seite mochten sich die Vertreter des Runden Tisches keineswegs mit einer zur Passivität verdammten Zuschauerrolle zufrieden geben.
8 Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, 2. Aufl., München
2009, S. 356. 9 Das Dietrich-Bonhoeffer-Haus wurde bis Ende Dezember für die ersten Sitzungen des Zentralen Runden Tisches als Versammlungsort genutzt, seit dem 27.12.1989 wurden die Zusammenkünfte im Festsaal des Schlosses Niederschönhausen fortgesetzt. 10 Sozialdemokratische Partei (SDP), Demokratischer Aufbruch, Demokratie Jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum, Grüne Partei und Vereinigte Linke. 11 Vgl. Weil, Verhandelte Demokratisierung, S. 48. Der sogenannte Demokratische Block war kurz zuvor aufgelöst worden. Ab der zweiten Sitzung kamen noch Vertreter der sogenannten Massenorganisationen (FDGB und VdgB) sowie des ›Unabhängigen Frauenverband[s]‹ hinzu. 12 Neubert, Geschichte der Opposition, S. 826 und S. 892. 13 Vgl. SAPMO, DY/16/823: Erklärung des Runden Tisches vom 7.12.1989. 14 Gerda Haufe, Die Bügerbewegungen im Jahr 1990, in: Haufe/Bruckmeier (Hg.), Bürgerbewegungen in der DDR, S. 95. 15 Parteiintern hatte Egon Krenz Ende November 1989 betont, dass er nicht gewillt sei, »die Macht über Verhandlungen am ›Runden Tisch‹ abgeben zu wollen«. Kowalczuk, Endspiel, S. 492.
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Am 2. Januar 1990 war die Zusammenarbeit zwischen der DDR-Regierung und dem Zentralen Runden Tisch Gegenstand einer Beratung, die Ministerpräsident Modrow mit Vertretern des Tisches führte, wobei »die Absicht bekundet [wurde], […] gemeinsam ein Klima der gegenseitigen Achtung und Vertrauensbildung zu schaffen«.16 Auf diese Weise war zwar ein Minimalkonsens hergestellt worden, in dem sich die beiden Parteien auf einen respektvollen Umgang untereinander geeinigt hatten; und es handelte sich hierbei gewiss um mehr als eine ›Äußerlichkeit‹, denn die Willensbekundung einer Regierung, die nach wie vor als Vertreterin einer – wenngleich inzwischen erheblich in die Defensive geratenen – Diktatur wahrgenommen wurde, aus einer bloß denunzierenden Rolle herauszufinden und einen respektvollen Umgang mit Vertretern der Opposition zu pflegen, war noch zur Jahreswende 1989/90 alles andere als selbstverständlich. Dass man sich deswegen aber schon bereit zeigte, den Vertretern des Runden Tisches auch auf Augenhöhe zu begegnen, scheint dessen ungeachtet fraglich. Zu ergänzenden Verabredungen, die darauf zielten, die politischen Kommunikations- und Handlungsflüsse aufeinander abzustimmen, war es jedenfalls nicht gekommen. Lediglich nichtssagend und dem selbstetikettierenden Verständnis folgend, »eine Regierung des Volkes« zu sein, hatte das Regime seine Absicht bekundet, »dem Zusammenwirken mit allen am Runden Tisch vertretenen Parteien und politischen Gruppierungen eine große Bedeutung« beizumessen.17 Doch erst mit der am 29. Januar 1990 gebildeten »Regierung der nationalen Verantwortung« waren die oppositionellen Kräfte mit je einem Minister ohne Geschäftsbereich in die Exekutive eingebunden worden.18 Der Zentrale Runde Tisch19 stellte es sich zur Aufgabe, die »Offenlegung der ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Situation in unserem Land« zu thematisieren, die Arbeit der Modrow-Regierung kritisch zu begleiten sowie Vorschläge zur Lösung der Krise zu unterbreiten, wobei die Tätigkeit »bis zur Durchführung freier, demokratischer und geheimer Wahlen« fortgesetzt werden
16 BA Berlin, DA/3/16: Information über das Zusammenwirken der Regierung der DDR mit
dem Zentralen Runden Tisch [ohne Datum]. 17 Laut der »Information über das Zusammenwirken der Regierung der DDR mit dem Zentralen Runden Tisch« hatten im Verlauf der Sitzungen 19 Regierungsmitglieder den Zentralen Runden Tisch konsultiert, stellvertretende Minister waren darüber hinaus zu jeweils unterschiedlichen Sachthemen eingeladen worden. Ministerpräsident Modrow war dreimal vor dem Runden Tisch aufgetreten. Seit dem 1. Februar 1990 war die Modrow-Regierung durch den stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats und seit dessen Berufung zum Minister ohne Geschäftsbereich auch durch Wolfgang Ullmann ständig vertreten. Vgl. ebd. 18 Vgl. Gerhard A. Ritter, Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk! Geschichte der deutschen Einigung, München 2009, S. 13. 19 Als Zentraler Runder Tisch (ZRT) wurde der Runde Tisch in Berlin bezeichnet, der für die gesamtstaatliche Ebene Zuständigkeit zeitigte. Darüber hinaus waren in der DDR eine Vielzahl von Runden Tischen auch auf der Ebene der Bezirke und Kreise und Kommunen eingerichtet worden.
DIE ÖKONOMISCHE SEITE DER FREIHEIT 123
sollte.20 Es war beabsichtigt, eine durch einen Volksentscheid zu legitimierende neue Verfassung auszuarbeiten.21 Darüber hinaus bildete, und zwar schon während der konstituierenden Sitzung am 7. Dezember 1989, immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Gegenwart des Ministeriums für Staatssicherheit das Thema der Sitzungen des Runden Tisches, zumal seinerzeit zu Recht angenommen wurde, dass sich das MfS der Artikulation und Durchsetzung oppositionell-demokratischer Ziele mit allen noch zur Verfügung stehenden Mitteln widersetzen würde. Manche Vorschläge, die Staatssicherheit zu entmachten, muteten indes allzu kurios an, etwa wenn »angeregt [wurde], dass geeignete Bürgerinnen und Bürger Patenschaften über ehemalige Mitglieder des MfS übernehmen«, um »zu deren Resozialisierung bei[zu]tragen«.22 Insgesamt beschäftigten sich 17 Arbeitsgruppen in 16 Sitzungen des Runden Tisches mit den anstehenden Reformaufgaben, die sich auf die Transformation von Staat und Parteiensystem sowie die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft richteten.23 Soweit es Überlegungen zur (Zukunft der) Ökonomie betraf, waren diese in weitere Konstellationen ›eingelassen‹ und ließen sich demzufolge gewissermaßen nur kontextabhängig, also im Zusammenhang mit anderen zu behandelnden Themenfeldern diskutieren. Sollten sich die Überlegungen zur Wirtschaftsreform auf ein konföderiertes, d. h. zwei (zunächst) durch eine Währungsunion miteinander verbundene Staaten, gar auf ein vereinigtes Deutschland richten oder auch weiterhin die Eigenstaatlichkeit der DDR voraussetzen?24 Zumal die Möglichkeit einer auch künftigen Autonomie der Gebiete östlich der Elbe in der Bundesrepublik übrigens nicht ohne Argwohn zur Kenntnis genommen worden waren. Einigermaßen konsterniert kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine Woche nach dem Mauerfall, dass das Thema der deutschen Einheit nicht dem »Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR« überlassen werden dürfe.25 Und sofern die Eigenständigkeit der DDR gewahrt werden würde: Sollte man sich am Modell der sozialen Marktwirtschaft orientieren oder doch eher an einer gegebenenfalls von ›verinselten‹ Marktelementen ›überzuckerten‹ sozialistischen Planwirtschaft festhalten? Wie sollte man es, wie in einem Positi-
20 Kowalczuk, Endspiel, S. 496. Mit Blick auf die »Offenlegung der ökologischen, wirtschaftli-
chen und finanziellen Situation« ist die gewählte Reihenfolge bemerkenswert, in der die Ökologie an erster Stelle rangiert. 21 Vgl. BA Berlin, DA/3/16: Ergebnisse der 16. Sitzung des Rundtischgespräches am 12.3.1990, Anhang 1, S. 8. Tatsächlich wurde der am 4. April 1990 der neu gewählten Volkskammer seitens der Vertreter des Runden Tisches überstellte Verfassungsentwurf vom Parlament nicht beraten. 22 SAPMO, DY 16/4069: Runder Tisch, 8. Sitzung, 18.01.1990, Vorlage Nr. 16: Beschlussantrag Grüne Partei / Demokratie Jetzt. 23 Vgl. BA Berlin, DA/3/16: Runder Tisch, 16. Sitzung, 12.3.1990: Schlussansprache. 24 Vgl. SAPMO, DY/16/823: Positionen des Runden Tisches für die Verhandlungen zwischen Ministerpräsident Modrow und Bundeskanzler Kohl am 13./14.2.1990. 25 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.11.1989.
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onspapier der Arbeitsgruppe Wirtschaft des Runden Tisches gefragt wurde, mit der »Herstellung der juristischen und ökonomischen Eigenverantwortlichkeit der Wirtschaftseinheit aller Eigentumsformen« halten – und wie sollte man dann mit dem konstituierenden Merkmal sozialistischer Planwirtschaft, also mit dem Volkseigentum umgehen?26
II Damit wurde ein spezifischer Kern historischer Kontinuität in der DDR angesprochen, der sich indes nicht voraussetzungslos thematisieren lässt. Wie ist es also zum Volkseigentum in der SBZ/DDR gekommen?27 Zwischen 1945 und 1948 sind in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands ca. 9.300 Industrieunternehmen sowie Gewerbe- und Handwerksbetriebe, Warenhäuser und andere selbständig geführte Betriebe mit 1.186.500 Beschäftigten enteignet worden.28 Zwecks Vorbereitung einer Übergabe der entsprechend des SMAD-Befehls Nr. 124 vom Oktober 1945 beschlagnahmten Vermögenswerte an die Verwaltungen der Länder und Kommunen sowie um eine abgestimmte Verwertung der sequestrierten Unternehmen und Betriebe zu gewährleisten, war seitens der Sowjetische Militäradministration am 29. März 1946 der Befehl Nr. 97 über die »Schaffung einer deutschen Zentral-Kommission für Sequester und Beschlagnahmungen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands« (ZDK) erlassen worden.29 Mit der auf Grundlage dieses Befehls veranlassten Bildung einer federführenden Instanz suchte die Besatzungsmacht zum einen, den Prozess 26 Runder Tisch, Arbeitsgruppe Wirtschaft, Positionspapier vom 29.12.1989, ebd. Vgl. dazu
auch den Beitrag von Kerstin Brückweh in diesem Band. 27 Ein Wort zur Terminologie: Beim Begriff des Volkseigentums handelt es sich um einen Terminus, der – so hatte es der stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Wirtschaftskommission Fritz Selbmann im Mai 1948 formuliert – als neugeschaffener »Eigentumsbegriff […] aus der Sphäre des bürgerlichen Rechtes herausgenommen worden« ist. Wenn hier und nachstehend im Text jeweils auf eine Einklammerung dieses oder damit assoziierter Deutungsbegriffe (Volkseigener Betrieb / Vereinigung Volkseigener Betriebe) durch Anführungszeichen verzichtet wird, so verbindet sich damit aus der Sicht des Antragstellers keine (nachträgliche) Billigung zeitgenössischideologisch bzw. semantisch fixierter Dogmen. Auf eine sich nur wiederholende Distanzbildung zum Begriff wird darum hier verzichtet. Zitat Selbmann in LHA Magdeburg, Rep. K 6, Wirtschaftsministerium, 7228: Aktenvermerk über eine Besprechung bei der Deutschen Wirtschaftskommission vom 14.5.1948. 28 Vgl. BA Berlin, DO 3, Zentrale Deutsche Kommission für Sequestrierung und Beschlagnahme, 14: Schreiben der ZDK an die Abteilung Presse und Information der DWK vom 4.9.1948. 29 LHA Magdeburg, Rep. K, Wirtschaftsministerium, 6543: Befehl Nr. 97 über die Schaffung einer deutschen Zentral-Kommission für Sequester und Beschlagnahmungen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands vom 29.3.1946. Vgl. zur Funktion der ZDK auch das Protokoll der Länderbesprechung bei der Zentralen deutschen Kommission für Sequestrierung und Beschlagnahme betreffend den Befehl Nr. 97 über die sequestrierten Vermögen vom 13.4.1946.
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der Vermögensbeschlagnahmungen zu systematisieren, zum anderen die Voraussetzungen für eine zentrale Wirtschaftsplanung in der SBZ zu forcieren.30 Es lassen sich in der Enteignungspolitik die Anwendungsdiskurse und die Operationalisierungsschritte eines Prozesses bündeln, der sequentiell unterschiedliche, aber jeweils aufeinander bezogene Handlungsebenen einschloss: Angefangen von der Erfassung der privat geführten Betriebe und ihrer Bewertung durch dafür eingesetzte Kommissionen über die Sequestrierung und anschließende Übernahme der Betriebe in treuhänderische Verwaltung bis zur Enteignung (oder Rückgabe an den Besitzer) reichte der Prozess einer Transformationspolitik, die damit aber noch nicht abgeschlossen war. Es folgte die administrative Unterstellung enteigneten Eigentums an die Ämter zum Schutz des Volkseigentums und schließlich die ökonomische Eingliederung dieser Unternehmen in den volkseigenen Sektor, wobei die verstaatlichten Betriebe im Zuge eines dezentralisierenden Prozesses der zonalen Verwaltung, den sog. landeseigenen Sektoren (Industriewerke) oder den Gemeinden als Kommunalwirtschaftsunternehmen (KWU) zur Nutzung übertragen wurden. Abgeschlossen wurde der Enteignungsprozess durch eine rechtlich kodifizierende Maßnahme, indem für die (jetzt) volkseigenen Betriebe eine entsprechende Grundbucheintragung vorgenommen wurde und vice versa das Besitzrecht des vormaligen Privateigentümers am Unternehmen bei den Grundbuchämtern gelöscht wurde. Die Umwandlung privaten Eigentums in Volkseigentum wurde auch nach 1948, wenngleich tendenziell abgeschwächt und weitgehend ohne propagandistisch-deklamatorische Effekte, bis in die frühen fünfziger Jahre fortgesetzt.31 Zum Zeitpunkt der Staatsgründung der DDR befanden sich zwar erst acht Prozent aller Industriebetriebe in den Händen des volkseigenen Sektors, der damit jedoch schon über vierzig Prozent der industriellen Produktionskapazitäten in der Sowjetischen Besatzungszone verfügte.32 In vielerlei Hinsicht lässt sich die Verstaatlichung privaten Eigentums als ein für die DDR unhintergehbarer Ausgangspunkt, ja als notwendige Machtbasis für die Diktatur der SED-Parteiherrschaft bewerten. 30 Vgl. Rüdiger Schmidt, »Es darf keine antikapitalistische Kampagne sein«: Zur Politik der
Zentralen Deutschen Kommission für Sequestrierung und Beschlagnahme in Sachsen-Anhalt, in: Thomas Großbölting / Roswitha Willenius (Hg.), Landesherrschaft – Region – Identität. Der Mittelelberaum im historischen Wandel. Festschrift für Mathias Tullner zum 65. Geburtstag, Halle/Saale 2009, S. 334. 31 Vgl. hier nur Monika Tatzkow / Hartmut Henicke, Steuerkrieg gegen Privatunternehmer. Enteignungsmethoden in der DDR im Zeitraum 1900–1953, in: Zeitschrift für offene Vermögensfragen 5 (1992), S. 254–261. 32 Vgl. Hannsjörg F. Buck, Formen, Instrumente und Methoden zur Verdrängung, Einbeziehung und Liquidierung der Privatwirtschaft in der SBZ/DDR, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. II/2: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, BadenBaden 1995, S. 1106.
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Sofern es die Zahl der Unternehmen betraf, war der private Industriesektor zwischen 1950 und 1955 zugunsten der volkseigenen Industrie um 22 Prozent geschrumpft, der Beschäftigungsanteil von 24 auf ca. 17 Prozent zurückgegangen.33 Im Jahr 1971 waren im Privatsektor lediglich noch 2,4 Prozent aller Beschäftigten tätig. Deren Produktionsleistung an der Gesamtwertschöpfung betrug etwas mehr als 1 Prozent.34 Im Frühjahr 1972 kam es schließlich zum endgültigen ›Aus‹ für die privat geführten Betriebe der Industrie und der Privatwirtschaft.35 Welche Gründe die SED-Führung letztlich bewogen haben mochten, innerhalb von nur wenigen Wochen eine radikale Auslöschung der Reste der Privatwirtschaft durchzusetzen, ist bis heute nicht völlig geklärt.
III Am Zentralen Runden Tisch hatten sich am 7. Dezember 1989 fünf bestehende Parteien und acht oppositionelle Gruppen zusammen mit Vertretern der Regierung versammelt.36 Keine dieser Kräfte, selbstredend auch nicht Volkskammer oder Regierung verfügte allerdings bis dahin über eine hinreichende Legitimation durch freie und demokratische Wahlen.37 Demzufolge verstand sich der Runde Tisch entsprechend seiner ersten Erklärung vom 7. Dezember 1989 als »Bestandteil der öffentlichen Kontrolle über die ökologische, wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung in unserem Land«, um »alle die Wirtschaft im Interesse der Bürger unseres Landes stabilisierenden Sofortmaßnahmen unter Wahrung sozialer Sicherheit und ökologischer Erfordernisse zu unterstützen sowie an Regelungen zur Einleitung von Wirtschaftsreformen mitzuwirken«.38
33 D. h. von 17.543 auf 13.782 Unternehmen. Vgl. die Tabelle 16 »Anzahl der privaten Industrie-
unternehmen und deren industrielle Bruttoproduktion von 1950 bis 1955« bei Wolfgang Mühlfriedel, Herausbildung und Entwicklungsphasen des »Volkseigentums«, Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. II/3: Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Baden-Baden 1995, S. 2270 sowie André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, S. 90. 34 Vgl. die Tabelle 3 »Änderung der Eigentumsverhältnisse in der Industrie der SBZ/DDR 1945 bis 1972« bei Buck, Liquidierung der Privatwirtschaft in der SBZ/DDR, S. 1105. 35 Vgl. Monika Kaiser, 1972 – Knockout für den Mittelstand. Zum Wirken von SED, CDU, LDPD und NDPD für die Verstaatlichung der Klein- und Mittelbetriebe, Berlin 1990 sowie Maria Haendcke-Hoppe-Arndt, Wer wusste was? Der ökonomische Niedergang der DDR, in: Deutschland Archiv 31 (1998), S. 588–602. 36 Siehe oben, Fußnote 7 und 8. 37 Vgl. Ritter, Wir sind das Volk!, S. 14. 38 SAPMO, DY/16/823, NDPD: Runder Tisch, Arbeitsgruppe Wirtschaft, Erklärung vom 7.12.1989.
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Noch kurz vor den Weihnachtsfeiertagen des Jahres 1989 war der Ministerrat der DDR in einem »Beschluss über Maßnahmen zur Stabilisierung volkswirtschaftlicher Prozesse und erste[n] Schritte[n] zur Ausgestaltung der Wirtschaftsreform« davon ausgegangen, dass der für 1990 aufgestellte Wirtschaftsplan »in vollem Umfang und der vereinbarten Struktur gemäß« realisiert werden könne.39 »Neue unbürokratische Lösungen«, so hieß es in diesem Beschluss vom 21. Dezember 1989, seien durch den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission »für die Planung ab 1991« auszuarbeiten;40 dies allerdings nicht voraussetzungslos, weil zuvor die »Ausarbeitung eines neuen Verfahrens in Planung und Bilanzierung« in Angriff genommen werden sollte und demzufolge zu diesem Zeitpunkt offenbar noch von einer grundsätzlichen Handlungsfähigkeit der DDR ausgegangen worden war. Der »Betrieb als sozialistischer Warenproduzent« bildete in diesem Konzept nach wie vor das Zentrum einer ihrem Anspruch nach vergesellschafteten Ökonomie, ergänzt durch »neue Formen der Mitbestimmung der Werktätigen« mit der Perspektive der »Entfaltung vielfältiger Formen des gesellschaftlichen, genossenschaftlichen und privaten Eigentums«.41 In einer solcherart gemischten Ökonomie unter Wahrung der Privilegierung des sozialistischen Betriebs glaubte man offenbar, unter der Direktive eines zwar regulatorischen, alles in allem aber elastischer reagierenden Staates zugleich die wirtschaftliche Dynamik bei Rückgewinnung der sozialen Integration sichern zu können. Jedenfalls partiell konnte der Beschluss des Ministerrats bei den Mitgliedern des Zentralen Runden Tisches mit Zustimmung rechnen, zumal die Arbeitsgruppe Wirtschaft in dieser Runde Anfang Januar 1990 ebenfalls ein Positionspapier verabschiedet hatte, das darauf zielte, »vorläufige Regelungen zur Teilnahme der Werktätigen an der Gründung und Führung der Unternehmen zu verabschieden«.42 Doch mehr und mehr verschärften sich in diesem Kreis die Differenzen zwischen jenen – beispielsweise hier Vertretern der SED (sie benannte sich am 4. Februar in PDS um) und der Vereinigten Linken –, die die politische Krise ausschließlich im Horizont, und das hieß auch: im Lösungshorizont der DDR zu thematisieren und zu operationalisieren suchten, und dort beispielsweise so unterschiedlichen Vertretern aus der Nationaldemokratischen Partei (NDPD) oder vom Arbeitskreis ›Demokratie jetzt‹, die mögliche Lösungsstra39 Eine Relativierung dieser geradezu abstrus anmutenden Zielvorstellung erfolgte später,
indem der Vorsitzende der staatlichen Plankommission beauftragt wurde, »ein Stabilisierungsprogramm auszuarbeiten«. Ministerrat der DDR, betr. Beschluss über Maßnahmen zur Stabilisierung volkswirtschaftlicher Prozesse und erste Schritte zur Ausgestaltung der Wirtschaftsreform vom 21.12.1989, ebd. 40 Ebd. Hier wurde mit Illusionen gespielt, die an der Realität völlig vorbeigingen. Vgl. zur desolaten ökonomischen Situation in der DDR die schonungslose Analyse (Februar 1990) von Wolfgang Stinglwagner, Schwere Zeiten für die DDR-Wirtschaft, in: Deutschland Archiv 23 (1990), S. 241. 41 Ebd., Kursive Hervorhebung im Zitat vom Verfasser. 42 SAPMO, DY/16/823, NDPD: Arbeitsgruppe Wirtschaft Runder Tisch vom 5.1.1990.
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tegien für die anstehenden Herausforderungen ausschließlich im gesamt- oder nationalstaatlichen Rahmen behandelt wissen wollten. So hatten die beiden Gruppierungen mit Blick auf die am 13. und 14. Februar 1990 zwischen Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Modrow bevorstehenden Verhandlungen vom Runden Tisch die Verabschiedung eines Entwurfs gefordert, der »allen weiteren politischen Entscheidungen ein Konzept des stufenweisen und vertraglich geregelten Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten« zugrunde legte.43 Sieht man an dieser Stelle davon ab, dass diese Position in vielerlei Hinsicht der initiierenden Zusammenkunft des Runden Tisches am 7.12.1989 widersprach, in der übereinstimmend erklärt wurde, »dass wir nur eine Politik unterstützen wollen, die die Eigenständigkeit unseres Landes wahrt«,44 so mag erstaunen, dass der NDPD-Vorsitzende Günter Hartmann, der als Vertreter des Runden Tisches eine Union beider deutscher Staaten strikt befürwortet hatte, sich tags später in einem Schreiben an die Unterstützer des Appells »Für unser Land« gewandt und erklärt hatte, dass er sich als Vorsitzender der NDPD zu der in dem Appell formulierten sozialistischen Alternative voll und ganz bekenne.45 Hierbei handelte es sich um ein klandestines Sowohl-als-auch, das möglicherweise einer Janusköpfigkeit geschuldet war, die es sich weder mit der einen, noch mit der anderen Seite verscherzen mochte, oder eben auch einer Ratlosigkeit, die ebenfalls auf der Tagung des Hauptausschusses der NDPD Mitte Januar 1990 zum Tragen gekommen war. Selbstevaluierend verstand sich die NDPD als »Volkspartei der Mitte«,46 was nur wenig aussagekräftig war, denn schon längst hatte der Begriff der Mitte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine realen sozialen Konturen verloren und war von einem Begriff der sozialen Beschreibung zu einem politischen Bekenntnisbegriff geworden.47 Hier wurde ein Weg »für unser Land« favorisiert, »der marktwirtschaftlich bestimmt ist«, ein Weg, »der aus Gründen sozialer Sicherheit« indes »Volkseigentum als gesellschaftliches Gemeineigentum in eigenverantwortlichen Betrieben und Kommunen sowie genossenschaftliches
43 Positionen des Runden Tisches für die Verhandlungen zwischen Ministerpräsident Modrow
und Bundeskanzler Kohl am 13./14. Februar 1990, Einreicher: NDPD, Demokratie Jetzt, ebd. 44 SAPMO, DY/16/823, NDPD: Runder Tisch, Arbeitsgruppe Wirtschaft, Positionspapier vom 7.12.1989. 45 »Voll und ganz unterstütze ich den Appell ›Für unser Land‹ und bekenne mich als Vorsitzender der National-Demokratischen Partei Deutschlands zu der darin enthaltenen sozialistischen Alternative, Günter Hartmann«, in: SAPMO, DY 16/4069: NDPD. 46 SAPMO, DY 16/3700, NDPD: Arbeitsprotokoll der achten Tagung des Hauptausschusses vom 17.1.1990. 47 Vgl. Rüdiger Schmidt, Kein Zeitalter der Extreme. Die Mitte als gesellschaftliches Leitbild in der Bundesrepublik, in: Eva Maria Gajek / Christoph Lorke (Hg.), Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M./New York 2016, S. 87.
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Eigentum« bevorzugte, zugleich aber »große Freiräume für Privatinitiative und Unternehmergeist gerade im Mittelstandsbereich« reklamierte.48 Diese Position war in mancher Hinsicht kompatibel mit derjenigen der Regierung Modrow, die am 23. Januar 1990 in einem »Bericht über die Lage der Volkswirtschaft und Schlußfolgerungen zur Stabilisierung« die »Entwicklung eines demokratischen, d. h. dem Volke verpflichteten Wirtschaftssystems« vage angedeutet hatte, das »sozialen und ökologischen Erfordernissen Rechnung« trage, »hohe Effizienz« gewährleiste »und für alle Eigentumsformen sowie private Initiative und Unternehmensgeist umfassende Entwicklungsmöglichkeiten« böte.49 Zwar schien das über eine Perspektive hinauszuführen, die sich ausschließlich an der linearen Erzählweise des bürokratischen Sozialismus orientierte, im Grunde glaubten die Wortführer in der SED/PDS aber wohl nach wie vor, lediglich stalinistische Fehlentwicklungen korrigieren zu müssen. Davon abgesehen hatte sich darüber hinaus ein Teil der Oppositionellen – auch am Runden Tisch – von einer utopischen Vorstellung, d. h. einem sogenannten Dritten Weg zwischen (sozialstaatlich gebändigtem) Kapitalismus und einem überwundenen Staatssozialismus leiten lassen.50 Vor dem Hintergrund dieser Denkbewegung ließ sich der Entwicklungsprozess der friedlichen Revolution gewissermaßen auch als ›rückspulende Revolution‹ lesen, die den Weg frei machte, um Versäumtes nachzuholen.51 So ging man im Einklang mit vielen theoretischen Strömungen des westlichen Marxismus hier davon aus, dass das leninistische Selbstverständnis der bolschewistischen Revolution von Anfang an den Sozialismus verfälscht, die Verstaatlichung anstelle einer demokratischen Vergesellschaftung der Produktionsmittel gefördert« und insofern maßgeblich »die Weichen gestellt habe für eine bürokratische Verselbständigung des sozialistischen Herrschaftsapparates«.52 Im Vergleich dazu trug eine alternative Transformationsperspektive dem Gedanken eines so gesehen auch geschichtsphilosophisch verletzbar gewordenen Reformsozialismus Rechnung, der am Runden Tisch von der ›Vereinigten Linken‹ vertreten wurde. Mochte man im liberal-rechtsstaatlich geprägtem Spektrum der Bürgerrechtsbewegung vor dem Hintergrund von vierzig Jahren DDR den industriellen Produktionssektor als ausgelaugtes Phänomen einer längst falsifizierten Ökonomie bewerten und den Bereich der Wirtschaft – übrigens auch den in der ›Programmatik‹ durchaus immer wieder resümierten Aspekt verstaatlichter und zu 48 SAPMO, DY 16/3700, NDPD: Arbeitsprotokoll der achten Tagung des Hauptausschusses
vom 17.1.1990. 49 SAPMO, DY 16/4222, NDPD: Ministerrat der DDR, Wirtschaftskomitee: Bericht über die Lage der Volkswirtschaft und Schlussfolgerungen zur Stabilisierung vom 23.1.1990. 50 Vgl. den Überblick von Martin Sabrow, Der vergessene »Dritte Weg«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 11 (2010), S. 6–13. 51 Jürgen Habermas, Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf. Was heißt Sozialismus heute?, in: ders., Die nachholende Revolution, Frankfurt a. M. 1990, S. 180. 52 Ebd., S. 183, kursive Hervorhebungen vom Verfasser.
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vergesellschaftender Produktionsmittel – eher im diffusen Licht einer noch zu regelnden normativen Praxis interpretieren, so schaute man bei der ›Vereinigten Linken‹ genauer hin. Das verband sich hier, wie bei den liberalen Bürgerrechtsbewegungen, durchaus auch mit der idealistisch avisierten Transformation lebensweltlicher Horizonte, wobei das Soziale, das Ökologische, ja auch Spuren des Basisdemokratischen, und zwar alles in allem noch unausformuliert, mehr in einem Nebeneinander ›katalogisiert‹ worden waren, als dass hier etwas zur ›Deckung‹ gebracht worden wäre. Aber aus der Perspektive der ›Vereinigten Linken‹ bildete die Produktions- und Distributionssphäre sowie die Eigentumsfrage doch den eigentlichen Kern eines emanzipativen Zukunftsentwurfs, der allerdings nicht voraussetzungslos, sondern unter dem Dach rechtsstaatlicher Ligaturen gedacht wurde, nämlich im Horizont »der politischen Demokratie, […] konsequenten Verwirklichung der ungeteilten Menschenrechte und freien Entfaltung der Individualität jedes Gesellschaftsmitglieds«.53 Elemente der Aufklärung verbanden sich hier mit den Visionen eines prototypischen historischen Materialismus, was eher an die marxschen Frühschriften als an die hermetische, d. h. auch bürgerliche Freiheitsspielräume ausgrenzende Ideologie des Kapital-Theoretikers erinnerte. Als sei in der DDR das »Wahre« in einem »Gehäuse der Hörigkeit« (Weber) nur verschüttet worden, ging es darum, die Aporien des bürokratischen Sozialismus zu ›entkrampfen‹ und dessen manipulativen Kern zu beseitigen, um so schließlich im Medium reflexiver Vermittlung die Antriebe, das Potential und die Wesenskräfte eines reformierten Sozialismus zu entfalten. Insofern sollten die Prozesse der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion in erneuerter Weise miteinander versöhnt werden. Dass dies die Eigenständigkeit der DDR voraussetzte, zählte fraglos zur unhintergehbaren Bedingung eines solchen Konzepts.54 Bereits Anfang September hatte sich ein Initiativkreis im sächsischen Böhlen auf die »Erarbeitung einer linken, sozialistischen Alternative im Geiste sozialistischer Demokratie und Freiheit« geeinigt.55 In der DDR, so hieß es im Gründungsaufruf, »sind die Gefahren eines Ausverkaufs an den Kapitalismus oder einer Militärdiktatur mit neostalinistischer Option durchaus real. […] Wir wenden uns entschieden dagegen, dass politbürokratische Unterdrückung durch kapitalistische Ausbeutung ›ersetzt‹ wird« und darüber hinaus »gegen die politische Einmischung des Westens über den Kanal der ›Wirtschaftskooperation‹«. Gegen die »Wirkungslosigkeit des sozialdemokratischen Wohlfahtsstaatsmodells« richtete sich die Perspektive auf die Schaffung »gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln als die vorherrschende […] Grundlage sozialistischer Vergesellschaftung«.56 53 54 55 56
BSTU, Archiv der Außenstelle Gera, MfS BV Gera, ZMA KD Gera, 004706, Bl. 86. Vgl auch Neubert, Geschichte der Opposition, S. 826. Vgl. BSTU, Archiv der Außenstelle Gera, MfS BV Gera, ZMA KD Gera, 004706, Bl. 85. Ebd., Bl. 88.
DIE ÖKONOMISCHE SEITE DER FREIHEIT 131
Vieles von dem, was in diesem und anderen Papieren unter dem Aspekt einer erneuerten sozialistischen Praxis und Gesellschaftsreform diskutiert wurde, wirkte auf die meisten Zeitgenossen in der DDR wohl eher abstrakt-hochtrabend, ja in vielerlei Hinsicht realitätsfern. Denn wer außer einem wohl überschaubaren Kreis von Intellektuellen ließ sich für ein solches ›Projekt‹, dem eine breite soziale Trägerschaft fehlte, seinerzeit noch gewinnen?57 Vielleicht schwang auch eine gewisse Enttäuschung darüber mit, dass es an Unterstützung aus den Betrieben mangelte.58 Gegen die auf Straßen und Plätzen skandierten erbarmungslos einfachen Problemlösungen à la »kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr«, musste sich jeder komplexe Argumentationsfaden jedenfalls schlicht als chancenlos erweisen.59 Und überhaupt: Wer mochte sich denn vor dem Erfahrungshorizont eines vierzig Jahre währenden Scheiterns noch für ein soziales Experiment erwärmen, wenn – so dachten zeitgenössisch (!) jedenfalls die Meisten – die Zukunft nicht in einem sich erst noch utopisch zu erschließendem ›Später‹, sondern einfach im Westen vorzufinden war?60 Jedenfalls hatten sich die Vertreter der »Vereinigten Linken« in einem Dissenspapier zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppe Wirtschaft des Runden Tisches Anfang Januar 1990 vehement gegen die »Herausbildung einer Marktwirtschaft« plädiert, weil dies der geltenden Verfassung widerspreche und demgegenüber »als Alternative zur bisherigen Kommandowirtschaft eine sozialistische Bedarfswirtschaft« favorisiert, in der nach einer erfolgten Verwandlung von Staats- in Volkseigentum auf der Produktionsebene die Betriebsräte »zu Instrumenten betrieblicher Selbstverwaltung entwickelt werden« sollten.61 Gefordert wurde darüber hinaus die »demokratische Wahl der Betriebsleitungen durch die Belegschaften« sowie das »Vetorecht der Gewerkschaften in allen die sozialen und Arbeitsbedingungen der Werktätigen betreffenden betrieblichen Entscheidungen«.62 Es kam noch einiges hinzu wie beispielsweise die Forderung nach der »Entwicklung von Formen der persönlichen und kollektiven 57 Bei der letzten Volkskammerwahl vom 18. März 1990 erreichte das Aktionsbündnis Verei-
nigte Linke lediglich einen Stimmenanteil von 0,18 Prozent. 58 Vgl. Kowalczuk, Endspiel, S. 469. 59 Das wurde durchaus auch innerhalb der »Vereinigte[n] Linke[n]« so resümiert: »Die Diskreditierung einer sozialistischen Perspektive durch das, was die hier Herrschenden zum Zerrbild dieses alten Kampfziels der Arbeiterbewegung verkommen ließen, hat bei der Mehrheit der Bevölkerung mehr Desillusionierung und Passivität als mutiges und problembewußtes Denken und Handeln bewirkt«. BSTU, Archiv der Außenstelle Gera, MfS BV Gera, ZMA KD Gera, 004706, Bl. 85. 60 Siehe zum Verhältnis bzw. sogar Gegensatz der »Masse des Volks« zu den Oppositionsgruppen, die sich als ›Programmparteien‹ »nicht abhängig machen wollten vom Druck der Straße« Detlef Pollack, Zur Rolle der alternativen Gruppen im Umbruchprozess der DDR, in: Deutschland Archiv 23 (1990), S. 1222. 61 SAPMO, DY 16/823, NDPD: Runder Tisch, Initiative Vereinigte Linke, Dissenspapier zu den Vorschlägen der Arbeitsgruppe Wirtschaft des Runden Tisches vom 3.1.1990. 62 SAPMO, DY 16/4221, NDPD: Vereinigte Linke, Antrag an den Runden Tisch zur Sicherung
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Beteiligung der Werktätigen an den wirtschaftlichen Ergebnissen«.63 Der hier ablesbare Trend zur Enthierarchisierung betrieblicher Organisationsformen wie zur Entbürokratisierung öffentlicher Dienste erinnerte zweifellos an rätedemokratische Vorstellungen. Doch evident war, dass die Analyse auf Erscheinungen fixiert blieb, die sich nach wie vor innerhalb des Horizonts der Arbeitsgesellschaft erschlossen, also nach wie vor das im Westen wie im Osten geläufige Modell der »fordistische[n] Normalbiographie« zugrunde legten.64 Im Grunde verband sich damit ein bis auf die Entstehung der Moderne zurückreichender Praxisbegriff, der dem technischen Fortschritt und der industriellen Arbeit in idealer Weise eine solidaritätserzeugende emanzipatorische Rolle zuwies. Im Rückgriff auf diese der Tradition des klassischen Marxismus verhafteten Perspektive wurden aber auch seitens der ›Vereinigten Linken‹ die auf wachsende Naturbeherrschung angelegten produktivistischen Konsequenzen der Moderne mehr oder weniger ungefiltert fortgeschrieben.65 Ganz ähnlich hatte sich das ›Neue Forum‹ von einem kapitalistischen Gesellschaftssystem distanziert und nicht zuletzt deswegen vehement gegen die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten Stellung bezogen.66 Wenngleich in einem Arbeitspapier »Wirtschaft und Ökologie« rasch Übereinkunft darüber erzielt werden konnte, dass »aus dem vormundschaftlichen Staat ein Rechtsstaat werden« müsse, hatte man sich künftigen ökonomischen Herausforderungen eher fragend zu nähern versucht. Zwar sollten die »Strukturen des gesellschaftlichen Eigentums« nicht angetastet werden, aber auf welche Weise »die persönliche Initiative und das Verantwortungsbewusstsein wirkungsvoller« angeregt werden könne, ja wie sich überhaupt »eine breitere gesellschaftliche Beteiligung an Grundsatzbeschlüssen« verwirklichen lasse, musste vorerst offen bleiben.67 Dies blieb ebenso wie in vielerlei Hinsicht unklar, wie man sich die der Werktätigeninteressen und zur Verwirklichung von Wirtschaftsdemokratie bei der Durchführung der Wirtschaftsreform, Vorlage Nr. 11/21, elfte Sitzung vom 5.2.1990. 63 SAPMO, DA 3/5: Beschlüsse des Runden Tisches vom 3.1.1990. 64 Tino Heim, Metamorphosen des Kapitals. Kapitalistische Vergesellschaftung und Perspektiven einer kritischen Sozialwissenschaft nach Marx, Foucault und Bourdieu, Bielefeld 2013, S. 584. 65 Vgl. Habermas, Nachholende Revolution und linker Revisionsbedarf, S. 189. 66 Vgl. BSTU, Archiv der Außenstelle Dresden, MfS BV Dresden, KD Löbau, 18167: Aufruf des Neuen Forums vom 1.10.1989, Bl. 1 und Bl. 2. Die Überlieferung zum »Neuen Forum« im Bundesarchiv ist marginal, so dass ich mich mit Blick auf die Positionen eines Teils der Bürgerrechtsbewegung hier auf Quellen beziehe, die zeitlich vor der Gründung des Runden Tisches entstanden und in den Beständen der BSTU archiviert sind. Es handelt sich hier um Mitschriften von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit, dem es gelungen war, inoffizielle Mitarbeiter in die Bürgerrechtsbewegung, u. a. ins »Neue Forum«, einzuschleusen. Vgl. dazu BSTU, Archiv der Außenstelle Suhl, MfS BV Suhl, BdL, 3165, Bl. 1. 67 Vgl. das Arbeitspapier »Offener Problemkatalog Wirtschaft und Ökologie«, ohne Datum [1989], Bl. 3–5, ebd.
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Amalgamierung unterschiedlicher Wirtschaftsformen zu denken hatte, denn die avisierte Perspektive eines »demokratischen Sozialismus, gekennzeichnet durch freie Marktwirtschaft« wirkte in der ›Programmatik‹ des ›Neuen Forums‹ ohne weitergehende Erläuterung nur seltsam leer und formelhaft; und die Absicht, sich »von der Kommandowirtschaft des Stalinismus« zu lösen, ohne sich künftig der »Ellbogengesellschaft einer M.[Margaret] Thatcher« auszuliefern, ließ viel Raum für Interpretationen.68 Ohne sich auf die eine oder andere Traditionslinie festlegen zu müssen, zeigte man sich damit ebenso anschlussfähig für einen wohlfahrtsstaatlichen Typ skandinavischen Musters wie für das sozialdemokratische ›Modell Deutschland‹ in der Bundesrepublik der siebziger Jahre oder für einen ›Dritten Weg‹ zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Ganz ähnlich mäanderte die Bürgerbewegung ›Demokratie Jetzt‹ zwischen Vorstellungen, die einerseits auf einen erneuerten Sozialismus in der DDR und demzufolge auf einen Weg zielte, der von der »Verstaatlichung zur Vergesellschaftung der Produktionsmittel« führen sollte, andererseits die Herstellung »neue[r] private[r] Eigentumsformen in Dienstleistung und Handel« begrüßte.69 Damit unterschieden sich die Stellungnahmen des ›Neuen Forums‹ oder von ›Demokratie jetzt‹ bzw. auch der Initiative ›Demokratie von unten‹ übrigens auch nur marginal von den Positionen anderer Bürgerrechtler,70 die sich bereits zur Gründung einer Partei entschlossen hatten und – wie beispielsweise die am 7. Oktober 1989 gegründete SDP – »eine ökologisch orientierte soziale Demokratie« favorisierten.71 Lassen sich insoweit in mehrfacher Hinsicht, und zwar bis in die Grundbegrifflichkeiten hinein, für die ›Fraktionen‹ der Bürgerrechtsbewegung Ähnlichkeiten und Überschneidungen ihrer Positionen konstatieren, so gab es davon abgesehen aber doch ganz unterschiedliche ›Verklammerungen‹, mittels derer die politischen Inhalte bzw. auch Begriffe zueinander in ein Verhältnis gesetzt wurden. Während hier stärker die liberalen Freiheitsrechte, i. E. die Abschaffung der Zensur und die Etablierung einer freien Presse sowie die Reisefreiheit mit – so unbestimmt das auch sein mochte – sozialen und ökologischen Forderungen, die schließlich im ›Programm‹ des ›Neuen Forums‹ auch auf »die Rettung der organisch gewachsenen städtischen und dörflichen Strukturen« zielten, verknüpft
68 BSTU, Zentralarchiv, MfS HA XVIII, 15319: Information zur Tagung des »Neuen Forums«:
Erfahrungen der Reformen in Osteuropa und die Wirtschaftsreform in der DDR unter Berücksichtigung der politischen Konstellation beider deutscher Staaten, 25.–26.11.1989. 69 BSTU, Archiv der Außenstelle Leipzig, BVfS Leipzig, Abt. XX, 2362, Bl. 4 und BSTU, Archiv der Außenstelle Rostock, MfS BV Rostock, Abt. XX, 1280: Positionspapier der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, Oktober 1989 [ohne Tagesdatum]. 70 BSTU, Archiv der Außenstelle Gera, MfS BV Gera, ZMA KD Gera, 004706: Bürgerinitiative »Demokratie von unten«. Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR, Bl. 2–3. 71 BSTU, Archiv der Außenstelle Dresden, MfS BV Dresden, KD Dippoldiswalde, 18124, Bl. 16.
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wurden, rückte weiter links das Produktionsparadigma und die Eigentumsfrage in das Zentrum der zeitgenössischen Debatte.72 Hatte die Vereinigte Linke entsprechend ihrer Programmatik für den Erhalt eines Volkseigentums plädiert, das – genau genommen – erst noch der Umwandlung von Staatseigentum in Volkseigentum harrte, so hatte die SED/PDS ihr Augenmerk weniger auf die VEB, sondern eher auf den ländlichen Raum gerichtet und war in der Sitzung des Runden Tisches am 19. Februar 1990 vehement dafür eingetreten, dass »die Ergebnisse der demokratischen Bodenreform unantastbar bleiben« und – mit der deutschen Einheit wurde offenbar bereits gerechnet – »in der Verfassung des künftigen einheitlichen deutschen Staates festgeschrieben werden«.73 Die Position der CDU war demgegenüber buchstäblich eindeutig und dennoch nicht im Mindesten greifbar: »Der Runde Tisch«, hieß es in einer Entschließung der Partei, »möge beschließen, die Eigentumsrechte von Bürgern der DDR zu gewährleisten«.74 Was mochte damit gemeint sein? ›Nur‹ der private Grundbesitz und die bewohnten Liegenschaften? Vielleicht das Bodenreformland, eventuell das industrielle Volkseigentum? Das blieb offen. Der Antrag der CDU wurde – übrigens auch mit den Stimmen der SED/PDS sowie den Voten der Vereinigten Linken angenommen. Er war ebenso eindeutig wie unbestimmt, so dass er sich – je nach politischer Überzeugung – mit unterschiedlichen Auslegungen füllen ließ. Überhaupt blieb vieles unpräzise, ja im Vagen, die Formulierungen zweideutig, wenn beispielsweise – ein beliebter Begriff – die »sozialistische Marktwirtschaft« thematisiert wurde, indes, ohne dass jedenfalls per definitionem die Eigentumsverhältnisse geklärt worden wären, kurz: Handelt es sich jeweils um vergesellschaftete Produktionsmittel, wo die Vertreter der unmittelbaren Produzenten mit anderen unmittelbaren Produzenten und ihren jeweils hergestellten Produkten auf einem freien Markt konkurrierten? Oder handelte es sich um private Eigentümer, die jenseits eines entsprechend den Wettbewerbsroutinen des Kapitalismus folgendem anarchischen Marktmechanismus den Prozeduren eines strenger regulierten sozial verträglichen Tauschverkehrs unterworfen sein sollten? Wieviel Plan vertrug der Markt, wieviel Markt der Plan?
72 Arbeitspapier »Offener Problemkatalog Wirtschaft und Ökologie«, ohne Datum [1989], Bl.
3–5, ebd. 73 SAPMO, DY 16/4222, NDPD: Vorlage Nr. 13/25, Antrag der PDS auf der dreizehnten Sitzung des Runden Tisches am 19.2.1990. 74 Vorlage Nr. 13/26, Antrag der CDU auf der dreizehnten Sitzung des Runden Tisches am 19.2.1990, ebd.
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IV Abgesehen von den Vertretern der Vereinigten Linken am Runden Tisch verfügten die Repräsentanten von ›Demokratie Jetzt‹, vor allem Wolfgang Ullmann, über profilierte wirtschaftspolitische Vorstellungen. Ullmann hatte seit Mitte 1989 mit dem Ingenieur Matthias Artzt sowie dem Physiker Gerd Gebhardt an Gesprächen über wirtschaftspolitische Fragen teilgenommen, die im November 1989 zur Erarbeitung eines Papiers mit dem Titel »Zukunft durch Selbstorganisation« mündeten.75 Darin wurde zwar grundsätzlich für das Privateigentum an Produktionsmitteln mit sozialer Bindung und eine marktwirtschaftliche Orientierung plädiert; dies allerdings mit der Absicht, »von dem vorhandenen Volkseigentum so viel wie möglich direkt den Bürgern der DDR zukommen zu lassen«.76 Die in diesem Kreis ventilierten Überlegungen schildert Matthias Artzt wie folgt: »Nun handelte es sich um die Auflösung der DDR. Und wenn die DDR aufgelöst wird, dann steht sofort zur Diskussion – wie bei einem Verein, der aufgelöst wird: Was geschieht mit dem Vereinsvermögen, einem Vereinsvermögen, das nicht individualisiert ist?«.77 Schließlich bestand auch die Befürchtung, dass sich Altkader kraft ihrer Verbindungen persönlich bereichern würden. »Aus dem Ziel einer Marktwirtschaft mit sozialer Bindung bei möglichst umfassender Zuteilung von volkseigenem Vermögen an die Bürger der DDR«, urteilt Wolfgang Seibel, »resultierten Überlegungen zur Institutionalisierung einer Art treuhänderischen Funktion, mittels derer das vom Staat gehaltene Volkseigentum in eine Rechtsform überführt werden sollte, die auch im Falle des Beitritts der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Bestand haben könnte«.78 Es mag kurios erscheinen, aber dabei handelte es sich um ganz ähnliche Überlegungen, die die SED im Frühjahr 1948 angestellt hatte, als seinerzeit mit Nachdruck daran gearbeitet wurde, die gerade erst institutionalisierten volkseigenen Betriebe bei den Grundbuchämtern eintragen zu lassen, um für den Fall der Gründung eines deutschen Einheitsstaats (noch in der Nachkriegszeit) auf der Argumentationsbasis eines nicht ohne weiteres rückgängig zu machenden rechtlichen Status quo den Bestandserhalt der VEB-Betriebe nach Möglichkeit zu garantieren. Seinerzeit sollten laut Befehl Nr. 76 der Sowjetischen Militäradministration vom 23. April 1948 betr. die Instruktion über das Verfahren der juristischen Eintragung von Betrieben, die »das Eigentum des Volkes darstell[t]en«, die Eintragungen in den alten Grundbüchern, die bis dahin den privaten Besitz 75 Vgl. Wolfgang Seibel, Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte 11 (2010), S. 35. 76 Ebd. 77 Marc Kemmler, Die Entstehung der Treuhandanstalt. Von der Wahrung zur Privatisierung des DDR-Volkseigentums, Frankfurt a. M./New York 1994, S. 72. Siehe dazu außerdem den Beitrag von Marcus Böick in diesem Band. 78 Seibel, Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR, S. 35.
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dokumentierten, vernichtet werden.79 Im Grunde handelte es sich dabei um einen administrativ von oben gelenkten Vorgang, den aus gegenüberliegender Perspektive beispielsweise die Bauern im Sommer 1789 während der grande peur oder auch 1848 mit der Erstürmung der gutsherrlichen Archive und der Vernichtung der seigneuralen Rechte mehr oder weniger blutig erledigt hatten. Indem man überliefertes Recht als sprichwörtlich verbriefte Schnittstelle zur aktuellen Realität auslöscht, löscht man die damit assoziierten, genauer: rechtlich kodifizierten Verbindlichkeiten aus. Allerdings stellte dieser Vorgang – 1948 – den Schlusspunkt einer treuhänderischen Verwaltung dar, unter das sequestriertes Vermögen seit dem Oktober 1945, intensiviert seit dem April 1946, gestellt worden war. Jedenfalls verfügte das administrative System seitdem nicht mehr über die Informationseingaben aus alter Zeit. Auf diese Weise ließ sich Mehrdeutigkeit – wem gehört was? – reduzieren. Die Überlegungen Ullmanns mündeten in eine Vorlage für die Sitzung am Runden Tisch, die einen »Vorschlag zur umgehenden Bildung einer Treuhandgesellschaft zur Wahrung der Anteilsrechte der Bürger mit DDR-Staatsbürgerschaft am Volkseigentum der DDR« enthielt.80 Der vorgelegte Entwurf enthielt konzeptionelle Überlegungen zu einer institutionell geregelten, genauer: treuhänderischen Zwischenlösung zwecks Sicherung des Volkseigentums. Vieles blieb unklar, denn es sollte neben dem Volkseigentum im Interesse einer marktwirtschaftlichen Produktionsweise eine Vielfalt weiterer Eigentumsformen parallel nebeneinander existieren, darunter auch »gesellschaftliches Gemeineigentum« an Produktionsmitteln.81 Doch welche Besitztitel fielen dann unter den Begriff Volkseigentum, welche unter »gesellschaftliches Gemeineigentum«? Blieb das Volkseigentum künftig beim bundesdeutschen Staat bzw. den Kommunen, denen als quasi-neutrale Instanz die Sorge für die Funktionsweise einer ›idealen Produktion‹ und eines ›gerechten Tausches‹ aufgebürdet werden würde? Und wie dachte man sich die normative Grundlage, nicht zuletzt auch die Funktionsdifferenzierung »gesellschaftlichen Gemeineigentums«, also wohl frei assoziierter selbstbestimmter Produzenten, die dem Horizont einer kapitalistischen Produktionsweise entzogen waren, sich aber nach Außen in den Wettbewerbsroutinen des Kapitalismus zu behaupten hatten? Jedenfalls dachte man an eine individuelle Aufteilung des Volkseigentums »im Sinne einer Privatisierung durch Verschenken«.82 Zu diesem Zweck war vor79 Bundesarchiv Berlin, DC 15, Deutsche Wirtschaftskommission, 830: Befehl des Obersten
Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland Nr. 76 betr. die ›Bestätigung der Grundlagen für die Vereinigungen und Betriebe, die das Eigentum des Volkes darstellen und Instruktionen über das Verfahren der juristischen Eintragung‹ vom 23.04.1948. 80 Vgl. Seibel, Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR, S. 35. 81 Ebd., S. 36. 82 Vgl. Olav Teichert, Die Treuhandanstalt im politischen und wirtschaftlichen Vereinigungsprozess Deutschlands, Magisterarbeit, Kassel 2001, S. 25.
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gesehen, ein Viertel des Volkseigentums in Form von Anteilsscheinen an die Bürger der DDR zu verteilen, die – so gesehen – ein knappes halbes Jahrhundert nach der Enteignung industriellen, aber nur verstaatlichten Vermögens, in den Genuss kommen würden, tatsächlich noch – und zwar gewissermaßen ›fünf vor zwölf‹ – Anteilseigner am Volkseigentum zu werden. Beabsichtigt war, die Ausgabe der Anteilsscheine durch eine zu gründende Treuhandanstalt vornehmen zu lassen. Der Aufbau einer Treuhand als Kapital-Holding erschien auch deswegen notwendig, weil nur so eine Rechtslücke ausgefüllt werden konnte, die – jedenfalls für das Volkseigentum – im Zuge einer Angliederung der DDR an die Bundesrepublik befürchtet wurde, weil in der Rechtsordnung der Bundesrepublik das Institut des Volkseigentums nicht vorgesehen war.83 Eine Treuhand würde demgegenüber als Kapitalgesellschaft nach bundesdeutschem Recht agieren können. Eine Arbeitsgruppe »Wirtschaftsreform« – dabei handelte es sich um einen ökonomischen Planungsstab, der dem Ministerpräsidenten Modrow zuarbeitete – hatte demgegenüber zur Jahreswende 1989/90 Überlegungen favorisiert, die Volkseigenen Betriebe in Gesellschaften mit beschränkter Haftung und in Aktiengesellschaften umzuwandeln. Das wäre auf der Basis eines Versäumnisses in der DDR-Gesetzgebung prinzipiell möglich gewesen, denn in der DDR war das reichsdeutsche GmbH-Gesetz von 1892 und das Aktiengesetz von 1937 nie außer Kraft gesetzt worden, so dass mit Blick auf Umwandlungen von VEB in GmbH oder AG die gesellschaftsrechtlichen Voraussetzungen vorhanden waren. Nachdem dem Ministerrat der DDR der Vorschlag zur Schaffung einer Treuhandgesellschaft von Wolfgang Ullmann vorgelegt worden war, wurde seitens der Regierung Modrow am 26. Februar 1990 ein Gesetzentwurf zwecks Gründung einer »Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums« vorgelegt, der aber den Vorschlag für eine Anteilsscheinregelung zugunsten der DDR-Bürger nicht aufnahm,84 demgegenüber eine Umwandlung von volkseigenen Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften vorsah.85 Doch blieb letztlich die Frage ungelöst: Was sollte prioritär behandelt werden? Nach wie vor die »verlässliche Direktionsgewalt gegenüber den Betreibern im Interesse der Letzteigentümer, also der Bürger der DDR« – oder immer noch des Staates?86 Oder aber die Handlungsfreiheit der Einzelunternehmen? Am 1. März 1990 fasste der Ministerrat schließlich den Beschluss zur Gründung einer Treuhandanstalt, der im Gesetzblatt der DDR am 8. März 1990 veröffentlicht wurde und verabschiedete darüber hinaus die »Verordnung zur Umwandlung von volkseigenen Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in 83 Vgl. Seibel, Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR, S. 37. 84 Dazu die Stellungnahme des Runden Tisches: »Die Regierung wird nochmals aufgefor-
dert, die Bewertung des Volkseigentums als Vorbedingung einer Privatisierung zugunsten der Bürgerinnen und Bürger zu gleichen und unentgeltlichen Anteilen voranzutreiben«. SAPMO, DA/3/16: Ergebnisse der 16. Sitzung des Rundtischgespräches am 12.3.1990, Abschnitt VII/2. 85 Vgl. Teichert, Treuhandanstalt, S. 28. 86 Seibel, Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR, S. 39.
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Kapitalgesellschaften«.87 Mit der Umwandlungsverordnung war der Treuhandanstalt ein Verwaltungsbereich übergeben worden, der knapp 7.900 volkseigene Betriebe mit 40.000 Produktionsstätten umfasste.88 Der rasante Machtverfall der Regierung Modrow und die Kürze der Zeit bis zu den Wahlen am 18. März 1990 hatten die Gestaltungsmöglichkeiten aber bereits derart eingeschränkt, dass an eine grundsätzliche Transformation des Wirtschaftssystems jenseits der Marktwirtschaft nicht mehr zu denken war. Ihre Handlungsfähigkeit büßte die Treuhand spätestens mit der Vereinbarung beider deutscher Regierungen über die Umstellungskurse ein, die eine Umstellung der Löhne und Gehälter im Verhältnis 1:1 und 2:1 für Betriebsschulden sowie für Spareinlagen vorsah, abzüglich eines Freibetrags von 4.000 DM. Damit hatten sich sämtliche ökonomischen Reformvorstellungen erledigt, die auf einen ›Dritten Weg‹ auf der Basis reformierter Wirtschaftsstrukturen in einer fortexistierenden DDR gesetzt hatten. Denn es war vollkommen ausgeschlossen, dass sich DDR-Betriebe nach dem 1. Juli 1990 mit ihren Produkten in der Lage zeigten, auf den Märkten Erlöse zu erzielen, die sich zur Bezahlung von Halbfertigprodukten und Löhnen in DM als ausreichend erweisen würden. In den Ergebnissen der Sitzung des Runden Tisches am 12. März 1990 wurde festgehalten: »Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung auf dem Gebiet der DDR ist abhängig davon, wie schnell es gelingt, eine effiziente soziale Marktwirtschaft zu installieren«.89 Wenn die neue Erfahrung der Freiheit seitens der DDR-Bürger bis dahin als Freiheit von Repression und Zwang erfahren wurde, dann wurde die errungene Freiheit seitdem von einem stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse gerahmt.
87 Vgl. Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 14 (1990) vom 8.3.1990. 88 Vgl. Kemmler, Treuhandanstalt, S. 115. 89 Vgl. SAPMO, DA/3/16: Ergebnisse der 16. Sitzung des Rundtischgespräches am 12.3.1990,
Abschnitt II.
Marcus Böick
VOM WERDEN UND VERGEHEN EINER (POST-)REVOLUTIONÄREN ARENA Die Treuhandanstalt in der Umbruchs- und Übergangsgesellschaft
I.
Einleitung: Die Revolution schafft ihre eigenen Organisationen (ab)
Dass eine Revolution ihre eigenen Kinder frisst, gilt als geflügeltes Wort, das einst Georg Büchner seinem zunehmend an den Dingen verzweifelnden Danton in den Mund legte.1 Doch tut sie zugleich noch anderes: Sie schafft sich zumeist auch ihre eigenen Organisationen. Revolutionäre Umbrüche in der europäischen Moderne verdichten ihre eruptiven gesellschaftlichen Dynamiken, so die Überlegung, oft nach einer Phase ungeordneter Proteste und anarchischer Aktionen in besonderen Organisationen. Seien es der amerikanische Kontinentalkongress, die französische Nationalversammlung bzw. der Wohlfahrtsausschuss, die deutsche Paulskirchenversammlung, die Pariser Kommune oder die sowjetischen Arbeiter- und Soldatenräte: All diese Gebilde erscheinen als umbruchsunmittelbare Begegnungs-, Kommunikations- und Gestaltungsorte, an denen verschiedene Akteure bzw. Fraktionen mit- bzw. gegeneinander über den weiteren Fortgang des revolutionären Wandels stritten. Unversöhnlich standen sich meist normalisierende und radikalisierende Kräfte schroff gegenüber und rangen dabei um die Kardinalfrage jeder Revolution: Sollte der begonnene Umbruchsprozess bald beendet und der Alltag wieder normalisiert werden? Erschien der politische Systemwechsel abgeschlossen, sind die gesellschaftlichen Eliten umfassend ausgetauscht worden? Waren die sozialen Umschichtungen wie ökonomischen Umverteilungen hinreichend sowie die nötigen kulturellen Ent- und Umwertungen 1 Georg Büchner, Dantons Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs Schreckensherrschaft,
Frankfurt/M. 1835, S. 41.
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in ausreichendem Maße erfolgt? Revolutionäre Dynamiken verdichteten (und verdichten) sich häufig in solchen Institutionalisierungen, die den weiteren Verlauf der Umwälzungen in geordnete Bahnen und ihre Resultate auf Dauer zu stellen suchten.2 Die mittelosteuropäischen Umbrüche von 1989/91 haben, besonders im Vergleich mit ihren großen historischen Vorläufern, in der historiographischen Rückschau einen vergleichsweise schweren Stand. Fehlte es ihnen nicht grundsätzlich an Gewalt, der blutigen Quintessenz jeder ›richtigen‹ Umwälzung? Handelte es sich nicht vielmehr um bloße Zusammenbrüche, ja ›Implosionen‹ erschöpfter sozialistischer Staatlichkeit unter der Last maroder Planwirtschaften und distanzierter Gesellschaften, befeuert und ermöglicht durch den Rückzug eines tödlich geschwächten sowjetischen Imperiums? Kam es in der Folge überhaupt zu maßgeblichen gesellschaftlichen wie kulturellen Veränderungen, insbesondere mit Blick auf Kontinuitäten bei postsozialistischen Eliten oder gesellschaftlichen Mentalitäten? Der deutsch-deutsche Sonderfall erscheint besonders erklärungsbedürftig: Zwar hat sich die ›friedliche Revolution‹ mittlerweile als gedenköffentlicher Terminus weitgehend etabliert;3 dennoch erscheint die Phase nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit ihrem klaren ›Plebiszit‹ für eine zügige Wiedervereinigung als abrupter Abschluss eines im Herbst 1989 begonnenen, eruptiven Umbruchsprozesses innerhalb der DDR, der letztlich die ›Revolution‹ nahezu zwangsweise in die von außen bzw. der Bundesrepublik gesteuerte ›Einheit‹ einmünden und somit auch einhegen ließ. War die Revolution in der DDR damit im Modus eines ›Anschlusses‹ politisch abgebrochen oder gar ›abgetrieben‹ worden, wie (seinerzeit) linke Kritiker aus Ost und West in drastischer Wortwahl beklagten?4 Kann ein ›Beitritt‹ zu einem anderen, in seinem Kern unveränderten Staat bei Übernahme seiner politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnungen überhaupt als legitimes Ende einer ›echten‹ Revolution gelten?5 Diese von den Zeitgenossen bereits intensiv diskutierten, hochgradig politisch konnotierten Fragen lenken jedoch davon ab, dass auch die revolutionären Prozesse in der DDR mindestens drei eigene Gebilde hervorbrachten: Zunächst waren da die mit Blick auf die ›verhandelte‹ Revolution in Polen eingerichteten ›Runden Tische‹, die DDR-weit ab November 1989 entstanden und an denen Abgesandte der verschiedenen Oppositionsgruppen und Vertreter des sich nun 2 Vgl. den einführenden Überblick bei Jürgen Nauz, Die großen Revolutionen der Welt,
Wiesbaden 2008. 3 Vgl. die verschiedenen Beiträge bei Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009 sowie jüngst Ulrich Mählert (Hg.), Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema, Berlin 2016. 4 Michael Schneider, Die abgetriebene Revolution. Von der Staatsfirma in die DM-Kolonie, Berlin 1990. 5 Zusammenfassend dazu: Martin Sabrow (Hg.), 1989 und die Rolle der Gewalt, Göttingen 2012.
VOM WERDEN UND VERGEHEN EINER (POST-)REVOLUTIONÄREN ARENA
reformistisch gebenden SED-Regimes kurzfristig in überlangen Sitzungen über die Kontrolle, Übergabe und Zukunft der politischen Herrschaft in der DDR verhandelten. Insbesondere die Aktivitäten des Zentralen Runden Tisches mündeten so in die auf den März 1990 vorgezogene Wahl zur Volkskammer, die selbst als quasi-revolutionäres Übergangsgebilde gelten kann.6 Aus diesen Urformen der revolutionären Institutionalisierung gingen letztlich, mittelbar wie unmittelbar, weitere Organisationsbildungen hervor, die die eingeleiteten, postsozialistischen Umbruchs- und Übergangsprozesse maßgeblich wie langfristig prägen sollten: Auf der (geschichts-) politischen Ebene sollte ab Oktober 1990 die nach massiven Kontroversen neu geschaffene Behörde eines Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) die toxischen Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in ihre Obhut nehmen.7 Auch die vom Bundestag nach 1992 eingerichteten Enquete-Kommissionen zur ›Aufarbeitung‹ der SED-Diktatur und ihrer Folgen sowie die hieraus hervorgehende Bundesstiftung wären zu nennende Organisationsformen (post-)revolutionärer Diskurse und Praktiken.8 Auf wirtschaftlicher Ebene war bereits im März 1990 eine andere Dienststelle ins Leben gerufen worden, die jedoch zunächst einem völlig anderem Zweck diente: Nach hektischen Verhandlungen zwischen Oppositionsvertretern um Wolfgang Ullmann und reformkommunistischen Wirtschaftsexperten der Modrow-Regierung um Wolfram Krause am Zentralen Runden Tisch war eine »Treuhand-Stelle« zur »Bewahrung« des »volkseigenen Vermögens« eingerichtet worden, um eben dieses vor der befürchteten »Herrenlosigkeit« und damit dem »Zugriff« westlicher Investoren zu schützen.9 Mittelfristig würden sich ›Gauck-Behörde‹ und ›Treuhand‹ zu den beiden einzigen größeren und öffentlich wahrgenommenen Organisationen entwickeln, die aus der revolutionären DDR heraus in die vereinte Bundesrepublik hineinragen würden: die BStU als umstrittener Knotenpunkt des geschichts- wie erinnerungspolitischen Streits um die papiernen wie moralischen Vermächtnisse der SED-Diktatur und ihres Geheimdienstes; die Treuhandanstalt als umkämpfter Ort der massiven Umgestaltungen in der Betriebslandschaft und ihrer gesell6 Uwe Thayßen, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die De-
mokratie, Wiesbaden 1990; Francesca Weil, Die Runden Tische in der DDR 1989/1990, Erfurt 2014. 7 Vgl. v.a. auch den Beitrag von Markus Goldbeck in diesem Band. 8 Eckart Conze, Zeitgeschichte und Vergangenheitspolitik. Die Enquete-Kommission. »Aufarbeitung und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« und ihre Ergebnisse, in: Historische Mitteilungen 11 (1998), S. 306–320. 9 Zur Geschichte der Treuhandanstalt insgesamt vgl. Wolfram Fischer / Herbert Hax / Hans Karl Schneider (Hg.), Treuhandanstalt. Das Unmögliche wagen. Forschungsberichte, Berlin 1993; Marc Kemmler, Die Entstehung der Treuhandanstalt. Von der Wahrung zur Privatisierung des DDR-Volkseigentums, Frankfurt/M. 1994; Wolfgang Seibel, Verwaltete Illusionen. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft durch die Treuhandanstalt und ihre Nachfolger 1990–2000, Frankfurt/M. 2005. Vgl. zur Entstehung der BStU die Beiträge von Lilith Buddensiek sowie Markus Goldbeck in diesem Band.
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schaftlichen Konsequenzen auf dem krisengeschüttelten Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft. Beide Organisationen waren damit eben nicht lediglich spätrevolutionäre Ausläufer oder bessere Verwalter der Revolutionsfolgen, sondern vielmehr hochgradig umkämpfte Begegnungs- und Interaktionsräume bzw. ›Arenen‹ revolutionärer Umbrüche und Übergänge insbesondere nach dem Oktober 1990: In ihnen konzentrierte und konservierte sich die Mitte 1990 auf der politischen Ebene weitgehend im Modus eines wiedervereinigenden ›Beitritts‹ politisch eingehegte revolutionäre Dynamik; an ihnen kumulierten und kristallisierten sich die wirtschaftlichen wie kulturellen Problem- und Konfliktlagen der postsozialistischen Übergangs- und Umbruchsgesellschaft Ostdeutschlands in mittelbarer Auseinandersetzung mit der vordergründig als hegemonial und stabil erscheinenden westdeutschen Referenz- und Mehrheitsgesellschaft.10 Der folgende Beitrag soll im Allgemeinen von Nutzen und Grenzen des heuristischen Konzeptes einer (revolutionären) ›Arena‹ für die Organisationsgeschichtsschreibung handeln. Im Konkreten soll es darum gehen, wie eine kleine, unscheinbare Dienststelle binnen weniger Monate zu einer der umstrittensten Organisationen der jüngsten deutschen Geschichte nach 1989/90 avancieren und bald nach ihrer ›Auflösung‹ Ende 1994 wieder von der Bühne verschwinden konnte. Eine solche Perspektive kann schließlich die oft allzu sauber voneinander getrennten Forschungsperspektiven auf die (politische) ›Revolution‹ der Jahre 1989/90 sowie die (wirtschaftlichen, gesellschaftlichen wie kulturellen) ›Transformationen‹ der frühen 1990er-Jahre systematisch miteinander verknüpfen helfen. Wie, so die zu verfolgende Leitfrage, lassen sich (post-)revolutionäre Dynamiken und Entwicklungen in der Organisationsgeschichtsschreibung adäquat konzeptualisieren und angemessen beschreiben? Ein erster Abschnitt widmet sich methodisch der ›Arena‹ als heuristischem Konzept in den Sozial- und Kulturwissenschaften. In einem zweiten Schritt wird am empirischen (Extrem-)Beispiel der Treuhandanstalt die (externe wie interne) Genese eines solchen Gebildes in den Jahren 1991/92 nachgezeichnet. Drittens sollen auch eine ›Normalisierung‹ bzw. das Ende solcher Übergangs-Arenen, hier also das lange Ende der Treuhand in den Jahren 1993/94, thematisiert werden. Schließlich schlägt ein Fazit den Bogen zurück und fragt danach, inwiefern der gezielte Blick auf revolutionäre Organisationen die zeithistorische Geschichtsschreibung auch konzeptionell bereichern kann.
10 Dazu jüngst: Martin Sabrow / Alexander Koch (Hg.), Experiment Einheit. Zeithistorische
Essays, Göttingen 2015; zudem Inge Stephan / Alexandra Tacke (Hg.), NachBilder der Wende, Köln 2008.
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II. Die (post-)revolutionäre Arena als Konzept: Dynamik und Stabilität als Gegensätze? Im Grunde mutet die Ausgangsposition einigermaßen paradox an: Während revolutionäre Konstellationen durch ein hohes Maß an situativen Konflikten, Kontingenzen und Konkurrenzen sowie sich meist rapide ausdehnende bzw. einschmelzende Handlungsspielräume für bestimmte Akteure bzw. Gruppen geprägt sind, repräsentieren Organisationen das genaue Gegenteil: Sie beschreiben auf Stabilität orientierte und eigenen Logiken unterworfene, meist sehr komplexe Strukturgebilde, in denen die jeweiligen Mitglieder (die Spitzenebene, die Funktionseliten sowie die einfachen Mitglieder) grundsätzlich auf den prinzipiellen Erhalt der (eigenen) Organisation gegenüber verschiedenen Umwelteinflüssen orientiert sind. Revolutionäre Dynamik und organisatorische Stabilität scheinen somit einander auf den ersten Blick grundsätzlich auszuschließen. Hieraus ergibt sich, nicht zuletzt auch für Historikerinnen und Historiker, ein darstellerisches Problem: Lassen sich die Perspektiven der Revolutions- und Organisationsgeschichtsschreibung sinnvoll miteinander verknüpfen? Kann man überhaupt die Geschichten von Revolutionen und Institutionen auf eine Weise in ein Beziehungs- bzw. Spannungsverhältnis setzen, das nicht als simples Reiz-ReaktionsSchema rationalisiert und ausgestaltet wird? Möglicherweise kann an dieser Stelle ein kurzer Blick über die Disziplingrenzen hinweg weiterhelfen. In der sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft Deutschlands hat sich insbesondere die Theorieströmung des »akteurszentrierten Institutionalismus« um Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf seit den 1990erJahren intensiv darum bemüht, den beschriebenen Gegensatz zwischen eigensinnig handelnden Akteuren und den sie rahmenden institutionellen Formationen theoretisch aufzuheben.11 Dieser soziologisch-politikwissenschaftliche Blick auf konkrete Interaktionsräume zwischen Akteurs-Handlungen und institutionellen Strukturen wurde schließlich im Konzept der ›Arena‹ weiter zugespitzt und verdichtet. Abgehoben wurde und wird dabei in aller Regel auf politische, gesellschaftliche oder öffentliche bzw. internationale oder gar globale ›Arenen‹ der Interaktion zwischen individuellen oder kollektiven bzw. ›komplexen‹ Akteuren mit widerstreitenden Interessenlagen und konfligierenden Wahrnehmungsweisen. Allerdings offenbart ein näherer Blick auf die hiermit verbundene Begriffsverwendung, dass es sich eher um eine semantische Formel handelt, die zwar häufig prominent im Titel sozialwissenschaftlicher Untersuchungen als eine Art Modewort bzw. ›Titulaturbegriff‹ reüssiert, aber letztlich in den folgenden Ausführungen kaum weiter problematisiert oder gar theoretisiert wird.12 Doch 11 Renate Mayntz / Fritz W. Scharpf, Der Ansatz des akteurzentrierten Institutionalismus,
in: dies. (Hg.), Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, Frankfurt/M. 1995, S. 39–72. 12 Dazu den Forschungsbericht bei Tobias Jakobi, Akteurszentrierter Institutionalismus und
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diese scheinbare Schwäche des Arena-Begriffs kann im Umkehrschluss auch als besondere Stärke begriffen werden: Der Terminus erscheint als ausgesprochen abstrakt, semantisch offen und hochgradig anschlussfähig, indem er prozessdynamische Interaktionskonstellationen zwischen Akteuren thematisiert, ohne diese aber näher (moralisch) zu bewerten – etwa als gelungene oder gescheiterte Anpassung. Die deutschsprachige Geschichtswissenschaft hat demgegenüber vom Begriff der ›Arena‹ bislang nur sehr verhalten Gebrauch gemacht. Hier finden sich vereinzelte Arbeiten, die tendenziell auf medienöffentliche, politische oder kulturelle Aushandlungsprozesse abheben, den Begriff aber kaum ausarbeiten oder weiter problematisieren.13 Eventuell ist an dieser Stelle ein kurzer, begriffsgeschichtlicher Rekurs auf die umgangssprachliche Verwendung im Wandel der Zeit hilfreich: So wurde der Begriff vor 1800 in Retrospektive auf antike Kampf- bzw. Sportstätten verwendet, bevor er im Laufe des 19. Jahrhunderts auch auf moderne Wettkampf- bzw. Vorführungsstätten wie Theaterbühnen oder Zirkusmanegen ausgedehnt wurde. Im 20. Jahrhundert löste sich der Terminus dann schließlich aus seiner exklusiven Ortsgebundenheit. Die Arena wurde zunehmend als medial intensiv überformter sowie vermittelter Interaktionsraum verstanden, was eindringlich am Beispiel großer ›Multifunktionsarenen‹ deutlich wird, die als Orte medialer Großereignisse (allen voran Sport- oder Konzertevents) fungieren, die die Zuschauer sowohl unmittelbar als auch über verschiedene mediale Kanäle verfolgen und kommentieren können.14 Fügt man diese Überlegungen zu abstrakt-sozialwissenschaftlichen wie umgangssprachlichen Begriffsverwendungen zusammen, so erscheinen kompetitiv interagierende Akteursgruppen (Schauspieler oder Sportler in ihren Rollen), rahmengebende Strukturen (Regeln, Skripte, Bühnen oder Felder) sowie ein mittelbar bzw. unmittelbar anwesendes Publikum als konstitutive Grundelemente einer Arena. Ein solches Gesamtensemble materialisiert sich als komplexer Begegnungs-, Beobachtungs- und Bedeutungsraum, in dem verschiedene interne (Konkurrenz-)Logiken mit externen (Wahrnehmungs-)Prozessen in ihrer wechselseitigen Dynamik miteinander verknüpft werden, ohne dass sich die Differenz zwischen Akteuren und Beobachtern letztlich auflösen würde. Für die Geschichtswissenschaft vermag dieses offene Konzept die eingangs konstatierte Paradoxie Arenen-Konzept in der Mitbestimmungsforschung. Frankfurter Arbeitspapiere zur gesellschaftsethischen und sozialwissenschaftlichen Forschung 47, Frankfurt/M. 2007. 13 Siehe etwa Jennifer A. Yoder, Die demokratische DDR in der internationalen Arena, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010), S. 27–33; Johannes Paulmann, Regionen und Welten, Arenen und Akteure regionaler Weltbeziehungen seit dem 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 296 (2013), S. 660–699; Karsten Holste / Dietlinde Hüchtker / Michael G. Müller (Hg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts: Akteure, Arenen, Aushandlungsprozesse, Berlin 2009. 14 Vgl. Art. »Arena«, in: Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS), abgerufen am 30.3.2016.
VOM WERDEN UND VERGEHEN EINER (POST-)REVOLUTIONÄREN ARENA
zwischen revolutionärer Dynamik und institutioneller Stabilität gleichermaßen einzufangen und dieses Spannungsverhältnis dabei in eine produktive Relation zu verwandeln: Mithilfe des Arena-Begriffs lassen sich differenzierte Beziehungsgeschichten im komplizierten Wechselverhältnis von revolutionären Umbrüchen und entsprechenden Institutionenbildungsprozessen systematisch untersuchen, ohne dass die Hierarchie dieser Austauschverhältnisse bereits vorab festgelegt wäre. ›Externe‹ Umbruchsprozesse und ›interne‹ Institutionalisierungen treffen im Schnittfeld einer so verstandenen revolutionären Arena ergebnisoffen aufeinander. Weder ergibt sich hieraus ein einseitiges Anpassungsverhältnis der Institution an ihre sich stark wandelnde Umwelt, noch gestaltet die Institution ihre soziale Umwelt zwingend nach ›ihren‹ jeweiligen Vorstellungen im Umbruchsgeschehen um. Mit Blick auf eine »Arena des Übergangs« können folglich Revolutions-, Organisations- und Gesellschaftsgeschichte nicht als einander ausschließende Gegensätze, sondern als spannungsreiche Beziehungsgeschichte erzählt werden. Gerade die eingangs beschriebenen, im Laufe revolutionärer Umbrüche entstandenen Institutionenbildungen können auf diese Weise als katalytische Knotenpunkte begriffen werden, als konkrete Orte, an denen im Kontext eines dynamischen Wandlungsgeschehens verschiedene Akteure mit-, über- und gegeneinander interagierten. Perspektivisch lassen sich auf diese Weise selbstbeschreibende Innen- und fremdbeschreibende Außensichten, rahmengebende Strukturen und handelnde Akteure, disruptive Dynamiken und gegenläufige Stabilisierungsversuche perspektivisch zusammenfügen. Im zeithistoriographischen Blick auf derartige Arenen des Übergangs lassen sich Diskurse und Praktiken in der bzw. über die jeweiligen Umbruchs- und Übergangsgesellschaften systematisch beobachten und beschreiben. Es bleibt schließlich die Frage, wie sich ein heuristisches Programm im Einzelfall empirisch umsetzen ließe.
III. Die Treuhandanstalt wird zur revolutionären Arena: Entfaltung und Expansion 1990/91 Die beschriebene Abstraktheit und Unbestimmtheit des ›Arena‹-Begriffs erweist sich gerade als Chance für die zeithistoriographische Erkundung zeitgenössisch hochumstrittener Organisationen, bei denen sich Historikerinnen und Historiker durch zerklüftete wie polarisierte Deutungsschichten arbeiten müssen. Die in den frühen 1990er-Jahren massiv umkämpfte Treuhandanstalt ist hierfür gewiss ein extremes Beispiel: An kraftvollen und wertenden Charakterisierungen zu dieser Organisation besteht bis in die Gegenwart hinein kein Mangel. Die medienöffentliche Metaphernlandschaft wimmelt dabei nur so vor unersättlichen Ungeheuern, martialischen Maschinen oder düsteren Zwingburgen;15 auch in sozial- und wirt15 Vgl. Marcus Böick, Im »Säurebad der Einheit«. Die Treuhandanstalt in den medienöffentli-
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schaftswissenschaftlichen sowie treuhand-eigenen Veröffentlichungen fand sich kein Konsens darüber, ob man denn nun von einer ›Behörde‹ oder einem ›Unternehmen‹ sprechen solle.16 Die ›Treuhand‹ war und ist kaum auf einen Begriff zu bringen, der nicht pejorativ oder affirmativ belegt ist. Somit erscheint gerade ein derart mit Superlativen be- oder gar überfrachtetes Gebilde an der Schwelle zwischen Plan- und Marktwirtschaft dafür geeignet, als eine (post-)revolutionäre Arena verstanden zu werden, also als symbolischer wie konkreter Aushandlungs-, Gestaltungs- und Referenzraum der postsozialistischen Umbrüche und Übergänge in den frühen 1990er-Jahren. Wie wurde ausgerechnet die Treuhandanstalt zu einer derart umkämpften revolutionären Arena? In ihren Anfängen schien eine solche Entwicklung, die spätere Zeitgenossen rückblickend meist als »alternativlos« betrachteten,17 noch schwerlich vorgezeichnet. In der Zeit der meist geringschätzend behandelten ›Modrow-‹, bzw. ›UrTreuhand‹ zwischen März und Juni 1990 fristete die neu geschaffene ›TreuhandStelle‹ in Ostberlin zunächst ein Schattendasein im Kontext der sich überstürzenden innen- wie außenpolitischen Ereignisse auf dem Weg zur deutschen Einheit. Ihre knapp einhundert ostdeutschen Mitarbeiter, die mehrheitlich der Zentralen Plankommission (ZPK) oder den sich auflösenden DDR-Branchenministerien entstammten, schlugen sich unter chaotischen Arbeitsbedingungen mit drängenden notariellen und basalen Dokumentationsaufgaben herum. Ihre Hauptaufgabe war es zunächst, die knapp achttausend Betriebe so schnell als möglich in bundesrepublikanisch anerkannte Eigentumsformen (AGs oder GmbHs) zu überführen, um sie auf diese Weise vor einer drohenden ›Herrenlosigkeit‹ unter den diffusen Bedingungen einer rasch erodierenden DDR-Staatlichkeit und ihrer zuvor zentral gelenkten Wirtschaftsordnung zu bewahren. An eine aktive Umgestaltung der ökonomisch erheblich angeschlagenen Großbetriebe und ihrer weitgehend orientierungslosen Führungskräfte durch die langjährigen Planwirtschaftsexperten war dabei kaum zu denken gewesen.18 Erst im Mai 1990, als sich die deutsch-deutschen Verhandlungen zur sofortigen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zunehmend mit praktischen Fragen der künftigen wirtschaftlichen Umgestaltungen in Ostdeutschland befassten,
chen Debatten der frühen 1990er-Jahre, in: Deutschland Archiv 3 (2010), S. 425–432. 16 Vgl. dazu die verschiedenen Beiträge in Fischer/Hax/Schneider, Das Unmögliche wagen; sowie den sozialwissenschaftlichen Forschungsüberblick bei Stephan Weingarz, Laboratorium Deutschland? Der ostdeutsche Transformationsprozeß als Herausforderung für die deutschen Sozialwissenschaften, Münster 2003, S. 179–270. 17 Birgit Breuel / Michael C. Burda (Hg.), Ohne historisches Vorbild. Die Treuhandanstalt 1990 bis 1994. Eine kritische Würdigung, Berlin 2005; Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), »Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stilllegen«. Ein Rückblick auf 13 Jahre Arbeit der Treuhandanstalt und der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, Berlin 2003. 18 Dazu v. a. die zeitgenössische Chronik des Treuhand-Mitarbeiters Marc Kemmler, Die Entstehung der Treuhandanstalt.
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rückte die randständige Behörde ins Visier der beiden deutschen Regierungen in Bonn und Ost-Berlin. Insbesondere das federführende Bundesfinanzministerium favorisierte pragmatisch einen Umbau der bereits bestehenden Treuhandanstalt, die damit ihren Charakter von einer Art verwaltenden ›Staatsnotariat‹ in eine unternehmerisch agierende ›Privatisierungs-Agentur‹ kurzfristig wie radikal verändern sollte. Während die politische Opposition in Ost und West im Sommer 1990 auf andere institutionelle Lösungen drängte, wie etwa die dauerhafte Einrichtung eines eigenen Transformations-Ministeriums oder einer staatlichen Industrieholding, erschien den Bonner Beamten und Koalitionspolitikern die legislative wie personelle Umformung einer kleinen, noch weitgehend unbedeutenden DDRBehörde als staatsferne Alternative. Die zügige und radikale ›Entstaatlichung‹ der Staatswirtschaft sollte gerade nicht durch eine ›Behörde‹ unter Leitung von Beamten vorgenommen, sondern durch erfahrene westliche Industriemanager in einer Art simuliertem ›Unternehmen‹ zügig durchgeführt werden. Eine entscheidende Wegmarke war schließlich die turbulente Verabschiedung des TreuhandGesetzes am 17. Juni 1990 durch die Volkskammer, das eben diesen neuen ›Entstaatlichungsauftrag‹ der Treuhandanstalt festzurrte.19 Es erscheint keineswegs als Zufall, dass die zuvor nur einem überschaubaren Fachpublikum bekannte Treuhandanstalt genau in dem Augenblick in den Fokus der medienöffentlichen, wirtschaftspolitischen wie auch gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rückte, als die ersten bundesdeutschen Spitzenmanager im Juli 1990 an ihre Spitze traten und das ostdeutsche Führungskollektiv auf Geheiß der Regierungen in Bonn und Ost-Berlin ablösten. Der vormalige IBM-Manager und Bundesbahn-Chef Reiner Gohlke wurde der erste Präsident der Treuhandanstalt, der frühere Wirtschaftsstaatssekretär und Hoesch-Vorstandsvorsitzende Detlev Rohwedder trat an die Spitze des noch zu konstituierenden Verwaltungsrates. Erst dieses neue Führungsgespann entfaltete diejenigen expansiven Dynamiken, die die Organisation nun zu einer zentralen Referenzgröße im postsozialistischen Umbruchsgeschehen avancieren ließ, zumal sich mit der ›wirtschaftlichen Vereinigung‹, also dem sofortigen Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990, auch die ökonomischen Rahmenbedingungen für sämtliche ostdeutsche Betriebe dramatisch verschlechterten: Fortan waren diese auf durch die Treuhandanstalt verbürgte DM-Kredite von westdeutschen Banken angewiesen, um allein ihre laufenden Lohn- und Einkaufskosten bestreiten zu können. Die Treuhand war ab Juli nicht mehr nur peripheres »Notariat«, sondern hatte sich fast schlagartig zum zentralen Anlaufpunkt für die lebenswichtige Kreditversorgung der ostdeutschen Betriebslandschaft entwickelt.20 Doch es waren nicht nur gravierende finanzielle Engpässe in den früheren Kombinaten, die die Rolle der Treuhand im Osten gravierend veränderte. Auch die Organisation selbst war nun im vollständigen Auf- und Umbruch begriffen: 19 Vgl. Seibel, Verwaltete Illusionen, v. a. S. 35–117. 20 Kemmler, Die Entstehung der Treuhandanstalt, S. 175–186.
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Gohlke wie Rohwedder wollten die ihnen zugedachte Führungsrolle beim ostdeutschen Wirtschaftsumbau vom Plan zum Markt durch forcierte Privatisierungen extensiv wahrnehmen und insbesondere die operativen Handlungs- und Entscheidungsspielräume ihrer bislang noch kaum präsenten Organisation zügig festigen und ausweiten. Es galt, die Treuhand als bislang eher formale Eigentümerin gegenüber ›ihren‹ Betrieben, insbesondere den Betriebsleitungen und -belegschaften, aber auch gegenüber den westlichen Investoren als ernstzunehmende Verhandlungspartnerin ins Spiel zu bringen. Der erste in der deutsch-deutschen Öffentlichkeit vernehmlich ausgetragene Konflikt um die nebulöse Privatisierung der Interhotel-Kette illustrierte die hiermit verbundenen Machtverschiebungen und Interessenkollisionen in der ostdeutschen Wirtschaft: Seit dem Spätherbst 1989 waren weite Teile der ostdeutschen Betriebslandschaft in einen ungeordnetchaotischen Schwebezustand eingetreten – die früheren DDR-Branchenministerien und Plankommissionen waren in Auflösung begriffen, die Kombinate und Betriebe damit auf sich selbst gestellt. Dies eröffnete einen hochinteressanten Markt für eine ganze Schar an mehr oder weniger seriösen westdeutschen Beratern. In diesem ökonomischen wie politischen Macht- und Kontrollvakuum hatten verschiedentlich ostdeutsche Geschäftsführungen und westdeutsche Investoren bereits Gespräche aufgenommen und Verträge abgeschlossen, ohne dabei die seit März formal zuständige Treuhandanstalt einzubeziehen.21 So auch im besagten Fall der 34 Interhotels: Hier hatte der westdeutsche Steigenberger-Konzern bereits im Frühjahr 1990 mit den jeweiligen lokalen Geschäftsführern jahrzehntelange Pachtkontrakte vereinbart, um sich die lukrativen Hotels zu sichern, die strategisch günstig auf die Bezirkshauptstädte der DDR verteilt waren und einen vergleichsweise hohen Komfort boten. Der neue Treuhand-Präsident Gohlke riskierte daraufhin einen offenen Konflikt mit dem westdeutschen Hotellerie-Unternehmen, das sich quasi eine monopolartige Stellung bei der Unterbringung von zahlungskräftigen Geschäftsreisenden gesichert hatte. In Grundzügen zeichnete sich dabei jene Konstellation ab, die später bei etlichen Konflikten um die Treuhand zum Tragen kommen sollte – und die Organisation binnen weniger Monate zu einer hochumstrittenen Arena in der ostdeutschen Umbruchs- und Übergangsgesellschaft werden ließ: Die Treuhandanstalt sah sich einem vernehmlich verärgerten West-Investor, entrüsteten Ost-Geschäftsführern und wütend protestierenden Belegschaften gegenüber, die um die Zukunft ihrer Betriebe bangten. All dies wurde in den Medien umfassend wie skandalisierend aufgriffen, insbesondere liberale Politiker und Ökonomen attackierten die Treuhand wegen ihrer starrsinnigen bzw. »bürokratischen« Haltung, während linke Politiker aus Ost und West das kurzfristige »Verscherbeln« der lukrativen Hotels an westdeutsche Konzerne generell kritisierten.22 21 »Zu lange hat die Treuhandanstalt selbst die Entwicklung gebremst«, in: Frankfurter Allge-
meine Zeitung vom 23.7.1990; »Die warten auf Konkurse«, in: Der Spiegel, 34/1990. 22 »Turbulenzen im Doppelbett von Ost und West«, in: Frankfurter Rundschau vom 30.7.1990;
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Der im Hochsommer 1990 öffentlich ausgefochtene Streit um die Interhotels, den die Treuhand langfristig zu ihren Gunsten entscheiden konnte, markierte dabei nur den Auftakt zu einem schier endlosen Reigen an wirtschaftspolitischen Kontroversen, hitzigen Einzelfalldebatten, öffentlichen Protesten und medialen Skandalen, die die Organisation in den nächsten Jahren in wechselnder Intensität gleichermaßen begleiten und auch prägen würden. Doch während der Disput zwischen Treuhand und Steigenberger noch als wirtschaftspolitischer Stellvertreterkonflikt zu beschreiben war, rückte die Organisation selbst Mitte August 1990 endgültig als kommende Schlüsselinstitution des Wirtschaftsumbaus in das medienöffentliche Rampenlicht, als Reiner Gohlke vollkommen überraschend nach nur wenigen Wochen den Dienst als Präsident quittierte. Wie ein Paukenschlag lenkte der kurzentschlossene Rücktritt an der Treuhand-Spitze die mediale wie politische Öffentlichkeit des vor dem Vollzug der staatlichen Einigung stehenden Deutschlands nun erstmals auf die zuvor ungeahnte Komplexität, Konflikt- und Krisenhaftigkeit des gerade erst beginnenden wirtschaftlichen Transformationsprozesses im Osten Deutschlands. Gohlke, den wohl die chaotischen Arbeitsbedingungen in Ost-Berlin sowie ein veritabler Konflikt mit seinem Vorgesetzten Rohwedder über die strategische und operative Ausrichtung der Treuhand zum Rückzug bewogen hatte, wurde auf Geheiß der beiden Regierungen nun durch eben diesen ersetzt.23 Als neuer Präsident ging Detlev Rohwedder seine Aufgabe mit charakteristischer Vehemenz an. Während Gohlke erst nach mehreren Wochen eine erste Pressekonferenz gegeben hatte und fast alle größeren Privatisierungsentscheidungen persönlich mit möglichen Investoren zu verhandeln bestrebt war, setzte Rohwedder auf eine breite Mobilisierung und Sensibilisierung der medialen wie politischen Öffentlichkeit in Ost und West. Weiterhin initiierte er einen massiven personellen Um- und Ausbau der Treuhandanstalt, um die anstehenden Entscheidungen vor allem an erfahrene westdeutsche Industrie-Manager delegieren zu können. In diesem Sinne folgte er am 13. September einer Einladung der Volkskammer, der er einen umfassenden Bericht über die derzeitigen Entwicklungen in der ostdeutschen Wirtschaft bot. In der Treuhand, so erklärte der neue Treuhand-
»Bonzen-Wirtschaft statt Marktwirtschaft«, in: Bild am Sonntag vom 12.8.1990; »Ein Gohlke macht noch keinen Frühling«, in: Die Welt vom 18.8.1990; »Treuhand gestürmt und besetzt«, in Berliner Morgenpost vom 13.9.1990. 23 Vgl. exemplarisch die seit dem personellen Wechsel sehr umfassend einsetzende mediale Berichterstattung: »Der Berg war zu hoch«, in: Handelsblatt vom 21.8.1990; »Gohlke legt Vorsitz der Treuhandanstalt nieder«, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.8.1990; »Treuhand-Präsident warf das Handtuch«, in: Neues Deutschland vom 21.8.1990; »Gohlke gibt auf«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.8.1990; »Die Treuhand – wie Gohlke im Sumpf versank«, in: Bild vom 21.8.1990; »Zielstrebig auf den Platz zwischen allen Stühlen«, in: Frankfurter Rundschau vom 22.8.1990; »Erhebliche Meinungsverschiedenheiten«, in: Handelsblat vom 22.8.1990; »Herr Gohlke, habe ich mal im Aufzug gesehen«, in: Die Welt vom 22.8.1990; »Aufgabe nicht verstanden«, in: Wirtschaftswoche vom 24.8.1990.
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Präsident den Abgeordneten des scheidenden DDR-Parlaments, spiegle sich der »Umbruch in der DDR« sehr deutlich wider: »Wir sind nicht auf einer Insel, sondern wir sind auch im Zentrum dieser Veränderungen.«24 Die Öffentlichkeit interessiere sich gegenwärtig natürlich »sehr stark für die großen Vorhaben«, die der Treuhand anvertraut seien. Mit Blick auf den »ziemlich holprigen Start« bei den Privatisierungen, etwa im Streitfall Interhotel, gab Rohwedder zu bedenken, dass »Sachkunde und Professionalität« in der Organisation »erst einmal noch nicht vorhanden« seien und »sich erst jetzt allmählich aufbauen« würden. Aller Probleme zum Trotz zeigte sich Rohwedder überzeugt davon, die bevorstehenden Aufgaben »von furchterregender Dimension« durch einen zielgerichteten wie forcierten Auf-, Aus- und Umbau seiner Organisation bewältigen zu können.25 Rohwedder würde diesem spektakulären parlamentarischen Auftritt in den folgenden Wochen und Monaten noch eine ganze Reihe an meist sehr direkten, freihändig geführten Interviews und Debattenbeiträgen folgen lassen, in denen er keinerlei Konflikte scheute: Er attackierte westdeutsche Banker und Investoren für ihre abwartende Zurückhaltung im Osten, verwahrte sich gegen politische Interventionsversuche von links wie rechts oder griff aus seiner Sicht ungebührlich auftretende West-Investoren oder hartnäckig opponierende Gewerkschaftsfunktionäre an.26 Gerade die beträchtlichen Erwartungshaltungen in Ost- wie Westdeutschland boten ihm immer wieder Anlass zu erheblicher Kritik: Während man im Westen gerne von den ostdeutschen Umwälzungen unberührt bleiben wolle, erwarte man im Osten sehr schnell regelrechte »Wunderdinge«. Beide Teile Deutschlands seien allerdings vereint in der vagen Hoffnung, dass die ökonomische Transformation letztlich in Windeseile und ohne größere soziale Reibungen sowie finanzielle Kosten vollzogen werden könne – und nähmen hierfür insbesondere die Treuhandanstalt als zentrale Organisation in die Pflicht.27
24 Volkskammer der DDR vom 13.9.1990, stenographische Niederschrift, abgedruckt in: Treu-
handanstalt (Hg.), Dokumentation, Bd. 2, S. 152–176; sowie »Aufgabe von ›furchterregender Dimension‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.9.1990. 25 Ebd.; zu Rohwedders Amtsantritt vgl. »Rohwedder greift bei Treuhand durch«, in: Berliner Morgenpost vom 23.8.1990; »Wegen Gohlke hat die Treuhand vier kostbare Wochen verloren«, in: Die Welt vom 24.8.1990; »Rohwedder kündigt ›Blutauffrischung‹ an«, in: Berliner Zeitung vom 22.8.1990; »Treuhandanstalt soll neue Organisation erhalten«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.8.1990. 26 Vgl. dazu: »Die schwierige Suche nach der Akte Fortschritt«, in: Süddeutsche Zeitungvom 28.8.1990; »Großer Zeitdruck für DDR-Treuhand«, in: Handelsblatt vom 28.8.1990; »Rohwedder verspricht DGB soziale Sensibilität«, in: Frankfurter Rundschau vom 9.11.1990; »Die Treuhandanstalt ist nicht der Garderobenständer der DDR«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.9.1990. 27 »Wunder dauern etwas länger«, in: Die Zeit vom 8.11.1990; »Das wird lange dauern«, in: Wirtschaftswoche vom 23.11.1990; »Alles muß hoppla-hopp gehen«, in: Der Spiegel vom 28.1.1991; »Vor den Ostdeutschen liegt ein Jahr bitterer Wahrheiten«, in: Die Wirtschaft vom 21.2.1991.
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Nach dem Betritt der fünf neuen Länder zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 steuerte die Treuhand nun tatsächlich auf einen beschleunigten Expansionskurs: Westdeutsche Fachleute und ostdeutsche Mitarbeiter wurden in großer Zahl eingestellt, die internen Organisationsstrukturen ›unternehmerisch‹ umgeformt sowie zentrale Leitlinien für das nun erst beginnende Massenprivatisierungsgeschäft entwickelt. Doch nicht nur in der mittlerweile am Alexanderplatz beheimateten Zentrale, sondern auch in den regionalen ›Niederlassungen‹ sollte das massenhafte Privatisierungsgeschäft für Klein- und Mittelbetriebe durch die Einsetzung westdeutscher Manager und Unternehmer gezielt forciert werden. Unterdessen hatte seit dem Herbst 1990 mit den neugewählten Landesregierungen eine weitere Gruppe an Akteuren das postsozialistische Terrain betreten. Vor allem zu den machtbewussten Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (Brandenburg), Kurt Biedenkopf (Sachsen) oder Bernhard Vogel (Thüringen) unterhielt die Treuhandanstalt wechselhafte Beziehungen, die zwischen vertraulicher Kooperation (im Treuhand-Verwaltungsrat) und massiven Konflikten (in der politischen Öffentlichkeit) schwankten. Schließlich blieb für die Organisation stets das Verhältnis zur Bundesregierung, insbesondere zum zuständigen Bundesfinanzministerium, ein entscheidender Faktor im hochdynamischen Kräfteparallelogramm des postsozialistischen Wirtschaftsumbaus.28 Die Treuhandanstalt erlebte unmittelbar nach der Einigung die Phase ihrer massivsten Expansion. Zwischen Oktober 1990 und März 1991 explodierte die Mitarbeiterzahl binnen weniger Monate von 350 auf deutlich über 2000, die Zahl der monatlichen Privatisierungen verdreifachte sich von 90 auf 335 – die Organisation hatte sich in Windeseile tatsächlich aus einer ›DDR-Verwaltungsstelle‹ in eine unternehmerisch agierende ›Privatisierungs-Agentur‹ verwandelt. Bis Ende des Jahres 1990 blieb die rasch wachsende Treuhand dabei, insbesondere bedingt durch die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember, zeitweise im Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit, nur um dann im Frühjahr 1991 mit Macht auf die öffentliche Bühne zurückzukehren. Als der mittlerweile von westdeutschen Industrie-Managern dominierte Treuhand-Vorstand im Februar 1991 umfassende Programme zur ›Kurzarbeit Null‹, erhebliche Massenentlassungen sowie die Schließung bzw. ›Abwicklung‹ zahlreicher Betriebe verkündete, erhob sich ab Februar 1991 ein regelrechter Orkan an öffentlichem Widerspruch und hitzigen Demonstrationen. In den ostdeutschen Städten und Regionen strömten PDS, frühere Dissidenten sowie Gewerk- und Belegschaften zum massiven Protest gegen die Privatisierungs- und Schließungspolitik der Treuhandanstalt und ihres mittlerweile heftig angefeindeten Präsidenten auf die Straßen. Die Stimmung in der ostdeutschen Teil-Gesellschaft war auf dem Tiefpunkt angelangt, in 28 Dazu aus politikwissenschaftlicher Perspektive v. a. Seibel, Verwaltete Illusionen; »Die wol-
len gar keine Hilfe«, in: Der Spiegel 42/1990; »Dann ist der Ofen aus«, in: Der Spiegel 44/1990; »Poker um die Treuhand«, in: Frankfurter Rundschau vom 5.11.1990; »Massive Kritik an der Treuhand«, in: Süddeutsche Zeitung vom 5.11.1990.
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Westdeutschland nahm man die Unzufriedenheit eher mit Irritation zur Kenntnis und befasste sich mit den drohenden sozialpolitischen Kosten des postsozialistischen Wirtschaftskrisenszenarios und der hieraus resultierenden Massenarbeitslosigkeit.29 Das tödliche RAF-Attentat auf Detlev Rohwedder am 1. April 1991 und der weniger bekannte Brandanschlag auf die Ost-Berliner Treuhand-Niederlassung in der Nacht des Vortages waren die gewaltsamen Höhe- und zugleich auch Wendepunkte dieser Frühjahrsproteste gegen den durch die Treuhandanstalt verantworteten Wirtschaftsumbau in Ostdeutschland. Die Proteste und Debatten ließen in den folgenden Wochen und Monaten spürbar nach. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten der Bundesrepublik übten sich beim Trauerstaatsakt für Rohwedder im demonstrativen Schulterschluss, um eine weitere, womöglich unkalkulierbare Eskalation der Geschehnisse zu verhindern. In jedem Falle markierte Rohwedders Ermordung einen tiefen Einschnitt für die Treuhandanstalt, für ihr Personal als auch für ihre Außenwirkung: Die Organisation war binnen weniger Monate zur zentralen Akteurin, aber auch zum konkreten Ort wie zur symbolischen Referenz des krisenhaften Transformationsgeschehens in Ostdeutschland geworden. Als revolutionäre Arena war sie dabei gleichermaßen Treibende der massiven Umbrüche und Getriebene der hieraus folgenden öffentlichen, politischen wie gesellschaftlichen Verarbeitungen und Reaktionen: Einerseits betrieb die Treuhand als rapide wachsende Organisation ab 1991 die in ihrem Charakter revolutionären Umgestaltungen in der ostdeutschen Wirtschaftslandschaft und der ihr zugrunde liegenden Eigentumsordnungen; andererseits musste sie eben für die massiven Folgewirkungen der Entlassungen und Schließungen in Ost und West öffentlich und politisch einstehen.
IV. Das lange Ende einer Arena des Übergangs: Wiedereinhegung und ›Selbstauflösung‹ Mit Birgit Breuel folgte dem ermordeten Rohwedder eine profilierte CDU-Politikerin im Präsidentenamt nach. Sie hatte sich als Wirtschafts- und Finanzministerin in Niedersachen während der 1980er-Jahre einen Ruf als ausgesprochen marktfreundliche und staatsskeptische Ordnungspolitikerin erworben, ehe sie im Spätsommer 1990 zum Treuhand-Vorstand stieß. Unter der neuen Präsidentin 29 Vgl. »Kanzler soll ein Machtwort sprechen«, in: Frankfurter Rundschau vom 28.1.1991; »We-
nige Monate nach der Vereinigung vor dem Kollaps«, in: Süddeutsche Zeitung vom 20.2.1991; »Irrwege im Niemandsland«, in: Der Spiegel 10/1991; »Viel Feind, viel Ehr – diesem Motto bleibt die Treuhand treu«, in: Die Welt vom 21.2.1991; »Tornado an Kritik über der Treuhand«, in: Der Morgen vom 1.3.1991; »Heftige Kritik an der Treuhand«, in: Tagesspiegel vom 1.3.1991; »Spirale in den Bankrott«, in: Der Spiegel 7/1991; »Ausmaß der ostdeutschen Misere schockt Bonn«, in: Frankfurter Rundschau vom 15.3.1991; »Am Geld wird nichts scheitern«, in: Der Spiegel 13/1991. Vgl. dazu auch den Beitrag von Christoph Lorke in diesem Band.
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begann so etwas wie der außerordentliche Alltag des beschleunigten Wirtschaftsumbaus in Ostdeutschland. Im Laufe des Jahres 1992 standen in der Spitze über viertausend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Ost und West (im Verhältnis von 3 zu 1) fest in Diensten der Treuhandanstalt; die Zahl der monatlichen Privatisierungen stabilisierte sich in den Jahren 1991/92 auf einem hohen Niveau von jeweils über 400; zu Hochzeiten realisierten die Treuhand-Manager damit mehr als 20 Privatisierungen pro Werktag. Dementsprechend war ein Gesamtüberblick über das massenhafte Privatisierung- und Abwicklungsgeschehen selbst zeitgenössischen Experten kaum noch möglich. Die Medienöffentlichkeit vermochte es nach Mitte 1991 lediglich, die größten bzw. spektakulärsten Fälle im Blick zu behalten. Immer wieder boten die forcierten Privatisierungen dabei Anlass zu politischen Kontroversen, medialen Skandalen sowie vehementen Protestaktionen der unmittelbar betroffenen Belegschaften, die sich in großer Regelmäßigkeit vor der seit April 1991 im einstigen Reichsluftfahrtministerium untergebrachten Treuhand-Zentrale oder den regionalen Niederlassungen zu versammeln pflegten.30 Nach einigen Monaten der relativen Ruhe, die unmittelbar auf den Rohwedder-Mord gefolgt waren, brandete gegen Ende des Jahres abermals eine wirtschaftspolitische Grundsatzdebatte auf, in der vor allem Oppositionsvertreter aus den Reihen von SPD, Grünen, PDS und Gewerkschaften sowie zahlreiche ostdeutsche Politiker Treuhandanstalt und Bundesregierung zu einer Abkehr von ihrem beschleunigten Privatisierungskurs aufforderten. Um eine drohende ›Deindustrialisierung‹ zu verhindern, so das Kernargument, sollte der Staat durch eine langfristige Sanierung regional bedeutsamer Großbetriebe ›industrielle Kerne‹ in Ostdeutschland erhalten, anstatt unrentable Betriebe rigoros zu schließen, sofern sich kein westlicher Investor finden ließ. Diese ordnungspolitische Kontroverse um eine gezielte wie langfristig angelegte Industrie- und Strukturpolitik, die stets auch auf die durchwachsenen Erfahrungen im Ruhrgebiet oder an der Saar bezogen war, würde die Treuhandanstalt noch bis weit in das Jahr 1993 begleiten. In diesem Wettstreit war die Treuhand gleichermaßen intervenierende Akteurin, angegriffenes Objekt, aber auch übergeordnete Referenz eines zentralen Diskurses der mittlerweile hochgradig polarisierten Umbruchs- und Übergangsgesellschaft. Gerade zwischen 1991 und 1993 zerfiel diese in erheblicher Weise in eine weitgehend normalisierte, sich aber in ihrem erreichten Wohlstand bedroht sehende westdeutsche sowie eine vollumfänglich in den postsozialistischen Umbrüchen befindliche ostdeutsche Teilgesellschaft; eine hochgespannte
30 Vgl. vertiefend dazu: Marcus Böick, »Aufstand im Osten«? Sozialer und betrieblicher Pro-
test gegen die Treuhandanstalt und Wirtschaftsumbau in den frühen 1990er-Jahren, in: Dieter Bingen / Maria Jarosz / Peter Loew (Hg.): Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989, Wiesbaden 2011, S. 167–185.
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Konstellation, die bereits Jürgen Kocka zeitgenössisch auf die griffige Formel der »Vereinigungskrise« brachte.31 Obgleich die Treuhand-Führungsriege industriepolitisch ausgerichtete Initiativen zur Verhinderung einer umfassenden ›Deindustrialisierung‹ sowie den Erhalt ›industrieller Kerne‹ als unzulässigen, weil politisch motivierten Eingriff in ihre operativ-ökonomischen Gestaltungs-, Handlungs- und Entscheidungsspielräume scharf zurückwies, erhöhte sich bei den im schrumpfenden TreuhandBestand verbleibenden Großbetrieben der politische wie öffentliche Druck nun merklich. Ende 1992 hatte die Organisation, auch dank interner Anreizmaßnahmen und besonderer Bonuszahlungen für erfolgreiche Privatisierungsmanager, den Großteil ihrer ostdeutschen Industrie-Betriebe endgültig privatisiert oder abgewickelt. Die Treuhand hatte nun, gewissermaßen auf dem personellen wie operativen Gipfelpunkt ihrer Aktivitäten, tatsächlich eine Grenze überschritten, da sich ihr ursprünglicher Daseinszweck, die schnellstmögliche und umfängliche ›Entstaatlichung‹ der ehemaligen Verwaltungswirtschaft, im großen Maßstab erledigt hatte. Sie war damit in gewisser Weise Opfer ihres selbst angeheizten Privatisierungswettlaufs geworden, durch den sie innerhalb von knapp zwei Jahren über 10.000 Betriebe aus ihrem ursprünglichen Portfolio getilgt hatte. Von den ursprünglich knapp vier Millionen ›Werktätigen‹ hatten dabei lediglich etwas über eine Million Arbeitnehmer ihre früheren Arbeitsplätze behalten können. Allein diese groben quantitativen Kennziffern verdeutlichen, wie massiv die Eingriffe der Treuhandanstalt in die postsozialistische Arbeits- und Lebenswelt Ostdeutschlands gerade zwischen 1990 und 1992 gewesen sind.32 Wie schon ihr Vorgänger avancierte auch Birgit Breuel nun zum häufig angefeindeten Gesicht der Treuhandanstalt und damit auch zur Personifikation der ökonomischen Transformationskrisen. Auch Breuel suchte intensiv den Austausch mit der Medienöffentlichkeit, obgleich sie ein anderes Auftreten pflegte als Rohwedder: Galt dieser zahlreichen Medienvertretern gemeinhin als arrogant, belehrend und herrisch, so wurde Breuel meist als kühl, nüchtern und übermäßig maskulin beschrieben. Sie versuchte in Interviews und Essays vor allem, Handeln und Entscheidungen der Treuhand umfassend wie geduldig zu erklären und zu rechtfertigen: So klagte sie über die undankbare Rolle als »Prügelknabe«, sprach über die von ihren Mitarbeitern zu leistende »Herkulesarbeit« beim Wirtschaftsumbau, lobte die »Geduld« der Ostdeutschen und räumte die »grenzenlose Überforderung« angesichts der vielfältigen wie verwickelten Problemlagen ein. Ihre krisengeschüttelte Organisation deutete sie mithin als ein »Säurebad der deutschen Einheit«, in welchem »alle Patentrezepte« an ideologischen Überzeugungen und theoretischen Überlegungen einem umfassenden Praxistest unterzogen 31 Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995. 32 Siehe auch: Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiederver-
einigung, München 2009; Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2007.
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würden. Eben diese (markt-)revolutionäre Eigendynamik auch gegen äußere Widerstände und Vorbehalte zu bewahren und dabei das eigene (Privatisierungs-) Tempo hochzuhalten erschienen als zentrale Botschaften, mit denen sich die Präsidentin an die Öffentlichkeit wandte: »Stillstand« erschien so als »der Tod« für einen vitalen Prozess des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft.33 Ab 1993, als sich der aufgewirbelte Staub der Massenprivatisierungen allmählich zu legen begann, traten nun auch die erheblichen Risiken und massiven Folgekosten des von der Treuhand praktizierten Privatisierungskurses offen wie drastisch zu Tage. Gerade der im Frühjahr aufbrandende Skandal um systematische Verfehlungen und massive Korruption im Umfeld der bereits feierlich geschlossenen Treuhand-Niederlassung in Halle erschütterte die Organisation und ihre ohnehin stets in Zweifel gezogene Glaubwürdigkeit in ihren Grundfesten. Gleichermaßen geriet die Treuhandanstalt durch spektakuläre Proteste weiter in die Defensive: Der medial intensiv rezipierte Hungerstreik von Bergleuten im Kalibergwerk von Bischofferode in Thüringen im Sommer 1993 geriet so zu einem hochsymbolisch inszenierten Ringen zwischen ostdeutschem David und westdeutschem Goliath, in dem sich die verzweifelten ›Kumpel‹ gegen die anonymen ›Treuhand-Manager‹ auflehnten – und somit neben einer veritablen politischen Auseinandersetzung um die bisherige Privatisierungspolitik zumindest einen mittelfristigen Aufschub der Grubenschließung und erhöhte Abfindungen erstreiten konnten. Derlei Skandale und Proteste bildeten dabei lediglich die Spitze eines Eisberges an heftigen Auseinandersetzungen. Immer wieder geriet die Treuhand auch wegen möglicher ›Altkaderseilschaften‹ und ›roten Socken‹ bei ihrem ostdeutschen Personal oder durch überaus kritische Prüfberichte des Bundesrechnungshofes unter Druck, der insbesondere die hohen Bonuszahlen für die westdeutschen Manager anprangerte.34 Dieser kontinuierlich hohe öffentliche, politische wie gesellschaftliche Außendruck auf die Treuhandanstalt durch Skandale, Debatten oder Proteste war das eine; doch gerade auch die nach 1993 rapide schwindenden Zukunftsperspektiven der kurzfristig immens gewachsenen Organisation entwickelten auch intern erhebliche Eigendynamiken. Zwar hatte der Treuhand-Vorstand um Birgit Breuel bereits Ende 1991 die schnellstmögliche ›Selbstauflösung‹ der eigenen Organisation als Kernziel propagiert, da ihren führenden Managern die Vorstellung verwerflich erschien, ein dauerhaftes Sonderwirtschaftsregime im Osten einzurichten, das mittelfristig unter die Kontrolle von Beamten und Politikern zu geraten drohte. Doch dass die Treuhand ein Jahr später den Großteil ihrer selbst-
33 »Wir sind der Prügelknabe – dahinter steckt Methode«, in: Die Welt vom 27.5.1991; »Eine
Herkulesarbeit, die sich durchaus sehen lassen kann«, in: Süddeutsche Zeitung vom 16.11.1991; »Grenzenlos überfordert«, in: Die Zeit vom 13.11.1992; »Stillstand, das wäre der Tod«, in: Die Zeit vom 30.7.1993; »Keine Regierung der Welt hätte so viel Bitteres entschieden«, in: Berliner Zeitung vom 24.7.1993. 34 Hierzu detailliert: Böick, Aufstand im Osten, S. 176 ff.
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gestellten Aufgaben bereits erledigt haben würde, überraschte die meisten dort aktiven Treuhand-Mitarbeiter dann doch. Während westdeutsche Führungskräfte sich nun zügig nach neuen Beschäftigungsmöglichkeiten in bundesdeutschen Unternehmen umsahen, was die Fluktuation gerade beim Leitungs- und FachPersonal erheblich erhöhte, fürchtete das Gros der ostdeutschen Mitarbeiter in wachsendem Maße den finalen Absturz in die eigene Arbeitslosigkeit. Gepaart mit den äußerst kritischen Außenwahrnehmungen trübte sich so die allgemeine Stimmungs- und Motivationslage des Treuhand-Personals, die gerade in der chaotischen Anfangszeit von 1990/91 noch sehr stark von allgemeiner Aufbruchs- und Pionierstimmung getragen wurde, nach 1992/93 ganz erheblich ein.35 Äußere Attacken und interne Verwerfungen bestimmten damit das Bild der ›späten‹ Treuhandanstalt, über deren Ende und Vermächtnis spätestens ab Mitte 1993 diskutiert wurde. Die Skandale und Proteste hatten dabei die oppositionelle Sozialdemokratie veranlasst, die Treuhandanstalt und ihre Aktivitäten zu einem zentralen Wahlkampfthema für die Landtags- und Bundestagswahlen 1993/94 zu machen: Im Herbst setzte der Bundestag daher einen eigenen Untersuchungsausschuss unter dem Vorsitz des scharfzüngigen, unlängst von den Grünen zur SPD übergewechselten Juristen Otto Schily ein, der sich besonders auf die Analyse von gescheiterten Privatisierungsfällen, überhöhten Bonuszahlungen sowie fehlender Aufsicht und Steuerung der Treuhand durch die Bundesregierung konzentrieren sollte. Die öffentlichen Vernehmungen von Spitzenpolitikern wie Bundesfinanzminister Theo Waigel oder Treuhand-Präsidentin Birgit Breuel gerieten dabei zu einer Art politischen Scherbengericht, bei dem die (moralischen) Verantwortlichkeiten für den krisenhaften bis kritischen Verlauf des ostdeutschen Wirtschaftsumbaus und seinen sozialen wie kulturellen Konsequenzen im Mittelpunkt standen. Liberalkonservative Verteidiger aus Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen CDU und FDP einerseits und linke bzw. ostdeutsche Kritiker aus den Reihen von SPD, PDS, Bündnisgrünen oder Gewerkschaften andererseits standen sich dabei unversöhnlich gegenüber. Politisch sollte sich der Untersuchungsausschuss für die politische Linke letztlich weniger bezahlt machen, denn auch bei der nachfolgenden Bundestagswahl im Oktober 1994 war die christlich-liberale Regierung Helmut Kohls knapp im Amt bestätigt worden.36 Gleichzeitig strahlte dieser parteipolitische Konflikt auch auf die noch zu findende Nachfolgeregelung aus: Während die Treuhand-Spitze bereits seit 1992 an einem eigenen Nachfolgekonzept gearbeitet hatte, das eine weitgehende (Selbst-) Privatisierung der Restaufgaben vorgesehen hatte, kippte im politischen Bonn
35 Die nur grob skizzierten, vielschichtigen Beziehungen von externen Einflüssen und internen
Dynamiken stehen im Mittelpunkt meiner eigenen, im Oktober 2015 eingereichten Dissertationsschrift »Manager, Beamte und Kader in einer Arena des Übergangs. Eine Ideen-, Organisations- und Erfahrungsgeschichte der Treuhandanstalt und ihres Personals, 1990–1994«, deren Veröffentlichung für 2017 geplant ist. 36 Zu dieser ›Scheinauflösung‹ insgesamt: Seibel, Verwaltete Illusionen, v. a. S. 317–364.
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Anfang 1994 die Stimmung: Vor allem die Abgeordneten des Bundestages waren nun nicht länger bereit, die Treuhand-Nachfolge auch in Zukunft weiter ohne engere parlamentarische Kontrolle zu belassen. Zwar war das Gros des Privatisierungsgeschäfts zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen, dennoch fand sich in Bonn nun eine parteiübergreifende Allianz an Parlamentariern, die eine staatliche Wiedereinhegung des außergewöhnlichen Treuhand-Regimes befürworteten – und den weitreichenden Plänen der Treuhand damit eine klare Absage erteilten. Gerade auch das Einlenken des Bundesfinanzministeriums, das in den Jahren zuvor stets die relative Autonomie der ihm formal unterstellten Organisation umfassend geschützt hatte, gab nun den Ausschlag. Die hochumstrittene wie machtvolle Übergangs-Organisation wurde nun, nicht nur aus politischen, sondern auch aus symbolischen Gründen Ende Dezember 1994 unter großem Medienandrang aufgelöst. Aus der insbesondere im Osten allseits gefürchteten wie verhassten ›Treuhand‹ wurde ab 1995 die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS), die den Großteil des noch verbliebenen Personalstamms und größtenteils bürokratischen Kontroll- und Restaufgaben wie die Überwachung der Privatisierungsverträge übernommen hatte. Im Gegensatz zur bis an ihr Ende umkämpften Treuhandanstalt wurde die Existenz der BVS indes kaum noch öffentlich zur Kenntnis genommen.
V. Fazit: Zur Organisationsgeschichtsschreibung revolutionärer Umbrüche Zu Beginn des Jahres 1995 hatte sich damit der im Frühjahr 1990 begonnene Kreis wieder geschlossen: Das von bundesdeutschen Industrie-Managern geführte, unternehmerische Ausnahmeregime hatte sich zu einer relativ gewöhnlichen, von staatlichen Beamten geleiteten Verwaltungsbehörde zurückentwickelt. Eine zentrale Arena der revolutionären Umbrüche, Übergänge und Transformationen in der postsozialistischen Wirtschaft und Gesellschaft Ostdeutschlands hatte damit zu existieren aufgehört. Doch die Kontroversen um die Treuhandanstalt waren damit keinesfalls beendet, was die bis in die Gegenwart reichenden, nun stärker geschichtspolitisch gefärbten Streitigkeiten über ihre materiellen, symbolischen wie papiernen Hinterlassenschaften und Vermächtnisse überdeutlich illustrieren. Nach wie vor stehen energische Verteidiger und scharfe Kritiker einander gegenüber; umstritten ist insbesondere der Platz, den die ›Treuhand‹ in der Geschichte der noch jungen ›Berliner Republik‹ und insbesondere der ostdeutschen Transformationszeit einnehmen könnte: War sie eine Art idealistisch-patriotisches Himmelfahrtskommando, eine markwirtschaftliche Heldentat, vollbracht auf den unüberschaubaren wie unwirtlichen Trümmern der realsozialistischen ›Kommandowirtschaft‹? Oder war sie ein ungebremster wie gewissenloser neoliberaler Exzess, der der rücksichtslosen Privatisierung, Abwicklung und Ökonomisierung von Wirtschaft und Gesellschaft in Ostdeutschland zugunsten westdeutscher Konzerninteressen Vorschub leistete?
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Gleich welcher Bewertung man sich nun anschließen möchte: An der Treuhand scheiden sich nach wie vor die Geister. Und eben an diesem Punkt bietet sich für die Zeitgeschichte eine Gelegenheit, diese besondere, ja in vielerlei Hinsicht entgrenzte Organisation nicht mithilfe moralisch aufgeladener Kategorien der Zeitgenossen zu untersuchen und auf ihren ›Erfolg‹ oder ›Misserfolg‹ hin zu befragen, sondern sie durch ein abstraktes Begriffskonzept künstlich zu verfremden und somit eine heuristisch-fructbare Distanzierung zum Gegenstand zu erreichen: Begreift man die Treuhandanstalt in dieser Weise als eine hochumstrittene revolutionäre Arena von Umbrüchen und Übergängen, als einen konkreten Begegnungs- und Bedeutungsraum des krisengeschüttelten ostdeutschen Postsozialismus nach 1990, verändert sich perspektivisch auch der Blick auf das gesamte Transformationsgeschehen. Statt die oft scharfen disziplinären Abgrenzungen der Zeitgeschichten von DDR, Bonner und Berliner Republik sowie die von Revolution, Einheit und Transformation weiter aufrecht zu erhalten, verdeutlicht gerade ein zwischen DDR und Bundesrepublik sowie Staat und Markt situiertes Schwellengebilde wie die Treuhandanstalt die sich hier verschränkenden, ineinandergreifenden und aneinanderreibenden Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen im prozessdynamischen Kontext revolutionärer Übergangs- und Umbruchskonstellationen. Während die politische Revolution im Laufe des Jahres 1990 in eine zügige Einigung unter den Bedingungen des bundesdeutschen Erfolgsmodells einmündete, wurden die wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Umwälzungen in der ehemaligen DDR in eigene Institutionenbildungen ausgelagert. Diese erscheinen in der Retrospektive ihrerseits als Prismen, in denen sich die verschiedenen Strahlen der postsozialistischen Transformationsprozesse im wiedervereinten Deutschland der frühen 1990er-Jahre bündelten und brachen: Interne organisatorische Dynamiken von Expansion und ›Selbstauflösung‹, externe Impulse zwischen Krisenmanagement, Debatten und Skandalen sowie die komplexen Wechselwirkungen zwischen Organisation und Umwelt prägten damit gerade auch die Geschichte der Treuhandanstalt. Die zentralen Konfliktdimensionen liefen damit durch sie hindurch: Wirtschaftlich die umfassenden Privatisierungen und Abwicklungen von zehntausenden Betrieben auf dem Weg von der sozialistischen Planzur kapitalistischen Marktwirtschaft. Politisch die Auseinandersetzungen um das materielle, ideelle wie auch insbesondere personelle Erbe von DDR, SEDRegime und Staatssicherheit. Gesellschaftlich die massiven Konflikte um die gesellschaftlichen Folgewirkungen der Transformation, die mit endemischer Arbeitslosigkeit, der Auflösung der sozialistischen Arbeitswelten sowie intensiven biographischen Umbruchs- und Deklassierungserfahrungen verbunden waren. Schließlich kulturell die erheblichen identitätsbezogenen Konfliktlagen zwischen Ost- und Westdeutschen im hitzigen Ringen um die Herstellung der ›inneren Einheit‹ Deutschlands in den frühen 1990er-Jahren, die noch bis in die Gegenwart ihren Nachhall in erheblichen erinnerungskulturellen Ost-West-Gegensätzen finden: Während ›die‹ Treuhand im Osten auch nach über drei Jahrzehnten als
VOM WERDEN UND VERGEHEN EINER (POST-)REVOLUTIONÄREN ARENA
ein hochgradig emotional besetztes Streitthema erscheint, ist sie mittlerweile im Westen weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen. Schlussendlich erwies sich die Treuhandanstalt als eine Art Katalysator der mittel- und langfristigen Übergänge und Umbrüche in Ostdeutschland; sie war damit ein hart umkämpfter Ort, eine revolutionäre Arena zur gesamtdeutschen Normalisierung bzw. Einhegung des ostdeutschen Außeralltäglichen. In dieser bzw. durch diese Organisation fand die postsozialistische Revolutionierung der Wirtschaft und Gesellschaft Ostdeutschlands statt, ohne aber dabei die politischen Institutionen der Bundesrepublik generell zu belasten.37 Eine solche Organisation als (markt-)revolutionäre Arena zu betrachten ermöglicht es der Zeitgeschichte somit, eine integrierte Gesellschafts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte der postsozialistischen Transformationen zu erzählen, ohne hierbei die zeitgenössischen Wertungen in Öffentlichkeit, Politik, Forschung und Bevölkerung zu replizieren – sondern diese Multiperspektive gerade zum zentralen zeithistoriographischen Problem werden zu lassen.
37 Vgl. dazu v. a. Seibel, Verwaltete Illusionen.
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Ursula M. Dalinghaus
A QUESTION OF VALUE(S) Money, Currency Unions and the Re-making of Post-Unification Identities 1
I.
On monetary value(s) and Futures Past 2
In the citizens’ movement in Leipzig, one of the places where I spent many hours “hanging out” during my fieldwork, in the tiny hallway that joined the main office and the back workroom, a small corkboard on the wall featured miscellaneous clippings meant to invoke reflection or humor about the general state of things. One such clipping was a typed copy of a quote from the 1954 SED party congress speech made by Otto Buchwitz. It was a fragment of some other vision of unification, of what will have been imagined then as the arrival of unification: Back then: The unification of Germany is as certain as tomorrow follows today. And on the day of the wedding between East and West Germany, we the German Democratic Republic (GDR), as groom, will come bearing beautiful gifts. We will come with many people-owned enterprises that will make the lives of our people better. We will come as the debt-free part of Germany. I ask you now: and you as the bride, what will you bring? Your back weighed down by debts! But we will marry you nevertheless, because we love you.3
1 This essay is adapted from my presentation, “Eine Frage der Werte: Die Währungsunion
1990 als kulturtechnischer Prozess”, at the 11th “Nassauer Gespräch” (‘BRDDR-Arenen des Übergangs in der Vereinigungsgsellschaft’), November 4–6, 2015 in Siggen. I am grateful to Thomas Großbölting for the invitation and for feedback on this draft, and to Christoph Lorke for generous organizational and editorial assistance. This essay has also benefitted from Sandy Wenger’s close reading of the final draft, noting places where my argument could be extended or clarified. 2 See Reinhart Koselleck, Futures Past: On the Semantics of Historical Time, New York 2004. 3 Written on a fragment of paper and later found by a Dr. Hartwig Bernitt. Posted on the bulletin board in the Archiv der Bürgerbewegung in Leipzig. Original German: “Damals war’s:
162 Ursula M. Dalinghaus
I asked Anna, one of my close interlocutors, about the fragment, imagining I would hear from her some eloquent commentary or biting critique of how the vision had become instead an inverted folly. Post-unification discourses on ‘paying for the East’ immediately came to mind. Instead, Anna shrugged her shoulders and directed an ironic smile my way, as if underscoring the obvious point that things turned out differently. Otto Buchwitz’s 1954 vision of Germany’s eventual unification is as striking for its apparently prescient, albeit inverted, futurity – it really happened the other way around – as it is also jarring in generating a melancholic sense of “what if …?” In 1990, well-known West German caricaturist Dieter Hanitzsch takes up the wedding metaphor anew as commentary on the actual unification of the two German states.4 Only this time, the gender roles are reversed. West Germany is now the groom: the figure of West German chancellor Helmut Kohl stands before the civil registry office, decked out in tuxedo and top hat. He virtually towers over his bride, East Germany. She wears a threadbare dress, with ‘DDR’ stamped all over in red letters, dark red patches holding one sleeve and a lower section of the dress together, and old-fashioned ankle-length boots on her feet. She brings gifts to be sure: four children! The bride looks up at her groom saying, “You know my children, right Helmut?” The oldest son grips the corner of his mother’s dress, holding on to it as if it were a handkerchief. His crumpled jacket bears the sign, “Unemployed.” Behind him another son stands on crutches, one arm in a bandage. His caption reads, “Bankrupt factories.” A younger daughter in pigtails wears an apron with the label, “Social System.” The fourth son stands nearby, decked in his young pioneer outfit and carrying a book with the title, “plan-thinking bureaucracy.” The wedding party is headed up by yet an even smaller figure than the bride – Lothar de Maizière, the last East German minister president – carrying a book-length marriage contract. Size is a further ironic marking of the caricatured person’s political importance. Onlookers to the wedding party stand at the front of the frame. East German Social Democratic party leader Wolfgang Thierse gestures back at the bride and groom, proclaiming to his (presumably) East German audience, “After the wedding, we can say these are his children!” The circle of what might
Die Einheit Deutschlands kommt so gewiss, wie auf den heutigen Tag der morgige folgt. Und wenn die Hochzeit zwischen Ost- und Westdeutschland sein wird, werden wir, die DDR, als Bräutigam mit schönen Gaben kommen. Wir werden mit vielen volkseigenen Betrieben kommen, die uns die Mittel geben, das Leben unserer Menschen zu verbessern. Wir werden als ein schuldenfreier Teil Deutschlands kommen. Ich werfe die Frage auf: Und Ihr als Braut, was bringt Ihr? Den Buckel voller Schulden! Aber wir heiraten Euch trotzdem, weil wir Euch lieben.” I am grateful to the Archiv der Bürgerbewegung Leipzig e.V for research assistance and intellectual support. 4 Dieter Hanitzsch / Hans Dollinger, Der Doppelte Michel: Karikaturisten sehen ein Jahr »deutsche Revolultion«, München 1990, S. 104
A QUESTION OF VALUE(S) 163
have been and what did occur seems to close around these competing visions: two unequal parts nevertheless becoming a measure of the whole.5 Yet within these futures past and present the question of what counts as value – monetary, economic, social, and symbolic – and how it is measured and evaluated – indeed accounted for, became a central question of the unification process.6 The 1990 currency union between West and East Germany became the crucial mechanism of unification – a monetary policy instrument deployed by multiple agents and institutions in an unequal and contested terrain to solve multiple and contradictory problems. The question of value seems straightforward, as if holding the heavy West German coins in one hand and the lightweight aluminum East German coins in the other leaves little to be explained. Yet if money is understood not as a thing but as process – a social relationship in which the cultural and the technical are mutually constitutive, then the pragmatic problems of accounting for socio-monetary value between western and eastern currencies and economies, and the cultural values as well as histories of division and re-unification can be seen as firmly entangled within so-called ‘neutral money’. Drawing on economic life history interviews (2007–2010) of former GDR citizens in Leipzig and Berlin across diverse class and subject positions, I consider how by taking the 1990 currency union as an object of critical remembering and reflection in my interview research, it becomes a site through which we can trace how money materializes forms of making sense of social worth, cultural values and historical memory.7 I use the term value(s) simultaneously in two senses – in its often ‘singular’ indexing of a ratio of value or monetary equiva5 See John Borneman’s astute and biting critique of the marriage metaphor. John Borneman,
Time-Space Compression and the Continental Divide in German Subjectivity, in: The Oral History Review 21 (1993), 2, S. 41–58. 6 In another essay, I analyze the entanglement of the technical aspects of the 1990 monetary revaluation and forms of commemorating and taking stock of – accounting for – the progress of German Unity: Ursula M. Dalinghaus, Between Memorialization and Monetary Re-Valuation: The 1990 Currency Union as a Site of Post-Unification Memory Work, in: Mary Lindemann / Jared C. Poley (Hg.), Money in the German-Speaking Lands, New York 2017 (im Erscheinen). 7 I conducted research on the social meanings of currency unions in the context of central bank-led efforts to communicate about the euro and monetary policy broadly to the public. Primary research was conducted in 2006; 2007–2009, with a follow-up visit in the summer of 2010 and was supported by grants from the National Science Foundation, DAAD, and the University of Minnesota. My research in Leipzig was concerned with understanding the historical dimensions and experiential interconnections of the 1990 currency union between East and West Germany. Through interaction with local financial and EU entities as well as with grassroots organizations, institutions and initiatives in Leipzig I recruited respondents for extended “economic life history” interviews. Interviews were semi-structured 2–3 hour conversations through which I elicited local analyses of economic developments since 1990 and the personal experiences of monetary shifts to better understand forms of cultural and historical reasoning about the impact and meaning of currency unions. Through these encounters I learned about the great importance for some respondents in situating the monetary and economic developments within the context of the 1989/90 Monday demonstrations and ‘peaceful revolution’ in Leipzig and in
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lence and in its plural sense recognizing how the singular and technical notion of monetary value can stabilize and also erase what are in fact multiple monetary and cultural values. To show this interplay of meanings, I highlight three themes that emerged in people’s narratives that interweave important coordinates from the present with salient experiences and observations of money’s entanglement in the events of 1989/90. I argue that these narrative strands index and rework relations of value difference and asymmetry that have substantially defined the experience of re-unification between the formally divided states. How does one narrate one’s place in a large-scale project premised on economic inclusion – the 1990 extension of West German money to the German Democratic Republic and East German population? With the end of the GDR many respondents in my study experienced a breach or cut8 in multiple aspects of their lives and in those of family, friends and colleagues. I learned that the 1990 currency union and conversion to the D-Mark was an important event in both creating and marking this personal and historical rupture. For all its benefits, the currency union acted as an abrupt monetary reform that produced new (some unintended) forms of inequality and exclusion. The currency union conserved and located in time a measure of value difference around which the moral and technical problems of integrating East Germany economically have continued to be debated across the social body.9 The narrative threads highlighted here work with but also rearrange dominant framings of the political, social, and economic meanings of the 1990 currency union. Thus, individual forms of remembering monetary events provide insight and encourage analysts to pay greater attention to how these coordinates have been internalized or reworked both over and ‘in’ time. My approach to the narratives of my interlocutors is therefore one in which my respondents are co-analysts in repositioning ways to think about the relationship between monetary rupture and social values in a context where ‘devaluation’ became a centrally signifying term in post-unification debates. As a salient ‘cut in time’, the currency union is therefore an enduring index of the continued and continuing trajectories of sorting out and making intelligible differing relations and understandings of socio-monetary value(s).
II. Monetary value(s) and the production of identity No matter the exchange value of a currency, monetary value is subject to multiple registers and its reconfiguration is not without consequences. Currency is not simply a neutral mechanism that dissolves boundaries. Currencies (and other many other parts of East Germany. I am grateful to all research participants who contributed their time and experiences to my project. Errors are my own. 8 German terms often used were Bruch and Zäsur. 9 Dalinghaus, Memorialization.
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forms of money) create and demarcate boundaries, establishing who is inside or outside the state/nation or a particular community and the legal as well as cultural criteria for belonging, as anthropologist Gustav Peebles has argued.10 Boundaries and borders affect, define and delimit the extension of credit and the calling in of debt obligations, mandating not only cultural but also technical and legal forms of settlement. Currency boundaries, like territorial and other types of boundaries, not only determine who belongs, but also contribute to people’s sense of identity even as these may participate in structural and societal barriers of inclusion and exclusion.11 While anthropologies of money have documented the important ways in which money constructs and reflects individual and collective notions of identity,12 ethnographies of post-socialist transformation in the early years of re-unification analyzed the historically and culturally specific forms through which alterity defined Eastern and Western German relations.13 Anthropologists’ writings on post-socialist transformation have all noted the politics of devaluation that characterized post-unification forms of memory and identity, to which, for example, the commemorative practices around material objects from the GDR were responding through new forms of expression that resisted western hegemonic forms of legitimization.14 This has been extensively analyzed under the rubric of ‘Ostalgie’, memory, and nostalgia. So far, less attention has been given to the way that monetary devaluation and problems of value equivalence and difference
10 Gustav Peebles, The Euro and its Rivals: Currency and the Construction of a Transnational
City, Bloomington/Indianapolis 2011); ders., The Crown Capitulates: Conflations of National Currency and Global Capital in the Swedish Currency Crisis, in: Christina Garsten / Monica Lindh de Montoya (Hg.), Market Matters: Exploring Cultural Processes in the Global Marketplace, New York 2004, S. 180–206. 11 For the political ideology of the SED in using currency to create both boundaries and social identity, and the ways in which party leaders allowed monetary relations with West Germany to undermine this, see Jonathan R. Zatlin, The Currency of Socialism: Money and Political Culture in East Germany, Washington D. C./Cambridge 2007. 12 See especially Alaina Lemon, “Your Eyes are like Green Dollars”: Counterfeit Cash, National Substance, and Currency Apartheid in 1990’s Russia, in: Cultural Anthropology 13 (1998), 1, S. 22–55. On the relationship between value, identity, territorial sovereignty and equivalence see Jessica R. Cattelino, Fungibility: Florida Seminole Casino Dividends and the Fiscal Politics of Indigeneity, in: American Anthropologist 111 (2009), 2, S. 190–200. For a review of anthropological approaches to money see Bill Maurer, The Anthropology of Money, in: Annual Review of Anthropology 35 (2006), S. 15–36; Allison J. Truitt, Dreaming of Money in Ho Chi Minh City, Seattle/London 2013; Virginia Dominguez, Representing Value and the Value of Representation: A Different Look at Money, in: Cultural Anthropology 5 (1990), 1, S. 16–43. 13 Daphne Berdahl, Where the World Ended: Re-Unification and Identity in the German Borderland, Berkeley 1999; Andreas Glaeser, Divided in Unity: Identity, Germany, and the Berlin Police, Chicago/London 2000. 14 Daphne Berdahl, ‘(N)Ostalgie’ for the Present: Memory, Longing, and East German Things, in: Ethnos 64 (1999), 2, S. 192–211.
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contributed to these forms of organizing, enacting, resisting, and working through devaluation in other aspects of social life and identity formation. In the comparative contexts with which anthropologists were far more comfortable at the time, alterity and difference organized around visible forms of racial, ethnic, and linguistic differentiation were at the forefront of cross-cultural critical analyses.15 In the German case, however, the ‘sameness’ of western and Eastern Germans was often taken for granted – or “fabricated”16– in ways that made the politics of difference and practices of othering more challenging to pin down or translate in comparative terms. Or, as Dominic Boyer observed, when East/West State difference was emphasized, then it tended to be naturalized in “ethnotypical” terms of essential positive and negative qualities of ‘being German,’ with negative and burdened traits mirrored in the Cold War Other (from the vantage point of both West and East sides of the border).17 From an economic standpoint, ethnographic studies tended to focus on the more tangible differences in consumption that were tied to new forms of citizenship and personhood, and less so on the ways that specific monetary and financial practices between west and east Germans differed.18 Yet, I would argue that forms of alterity produced through and within the lived experience of unification also indexed decidedly monetary registers.19 Monetary value(s) are co-constitutive of identities, neither of which are essential but must be tracked as the ongoing process through which social and material relationships are managed, negotiated, and deployed to make sense of changing circumstances and new relations of power. As the opening example illustrates, marriage and kin metaphors abounded in making sense of the form and process of ‘coming together’. While making important dynamics of east-west relations visible, precisely these framings erased and minimized the economic, political, and cultural forms of domination and western hegemony through which ‘eastern differences’ were read, and the former GDR was transformed and re-made. As John Borneman argued early on, 15 Glaeser, Divided in Unity. S. ix–x. 16 Dominic Boyer, On the Sedimentation and Accreditation of Social Knowledges of Differ-
ence: Mass Media, Journalism, and the Reproduction of East/West Alterities in Unified East Germany, Cultural Anthropology 15 (2001), 4, S. 459–491, S. 479. 17 Ebd. S. 478–480. Boyer builds upon arguments first made by John Borneman in Belonging in the Two Berlins: Kin, State, Nation. Cambridge 1992. 18 On consumption practices, see especially Daphne Berdahl, The Spirit of Capitalism and the Boundaries of Citizenship in Post-Wall Germany, Comparative Studies in Society and History 47 (2005), 2, S. 235–251; Elizabeth Ten Dyke, Tulips in December: Space, Time and Consumption before and after the End of German Socialism, German History 19 (2001), 2, S. 253–276. 19 Indeed, Boyer’s semiotic analysis of expert knowledge practices and the shared “epistemic strategies” for differentiating East and West German identities is performative of the monetary form of equivalence-making when he describes the “exchange system of accusation” in mapping negative National Socialist legacies onto the ‘other German state” (S. 478) and “the currency of longitudinal distinctions”(S. 481) through which strategies of differentiation were “recursively sedimented into public knowledge” (S. 478) in a context of unequal power relations.
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Nothing could be more misleading than uncritically replicating this cultural metaphor at the analytical level. East and West Germans are not kin reuniting, but two separate peoples, each with its own set of dispositions, who are suddenly, in one of those accidental moments in history, thrown together in a national whole.20
This contrasts with another prominent metaphor, that of unification as ‘economic merger’. And yet this metaphor, too, erases the uneven and in fact colonizing effects of privatizing a ‘devalued’ assemblage of the GDR’s productive enterprises, whose ‘loss in value’ was widely seen as an effect of the rapid and abrupt currency union with its contradictory ratios of value. The auctioning off of GDR factories and firms, some for as little as a few token D-Marks, was seen by many (including many of my respondents) as the legitimizing backdrop for other forms of devaluation that played out across the various facets of knitting the two societies together – from infrastructural projects to the merging of professional workforces from the academy, military, police and judicial systems.21 As numerous studies and commentaries have shown, many GDR citizens were not included within the formal work and employment structures of the new system.22 Between these metaphorical terms of marriage and merger one can see that the on-the-ground experience for many East Germans was analogous to ‘colonization’. The very fact that many scholars have rejected or felt great unease in applying this term in the German case makes visible the kinds of productive work that both the marriage and economic merger metaphors enabled in smoothing over otherwise abrupt, value-laden and moralizing forms of re-making East Germany on Western German terms. Without intending to imply that these efforts were categorically successful, or that Eastern Germans did not also embrace some of these changes and make them their own,23 it is important to recognize that the infrastructural, technological, legal, and political structures exported to the east were in a real sense imposed in ways that left little room for Eastern Germans to re-make these plans as co-equal participants. As historical actors at the time and scholars since have noted, the extension of the west German currency to the East was a key agent in legitimizing and necessitating the specific forms of material and symbolic change re-unification would take. Political, cultural, and economic devaluation of all things East German in the post-unification context constituted a central problematic against which many scholars studying Eastern German experiences of 20 Borneman, Time-Space Compression, S. 52–53. 21 See especially Andrew Bickford’s recent ethnography on the politics of incorporating East
German military officers within the new system and its implications for questions of sovereignty and state making. Andrew Bickford, Fallen Elites: The Military Other in Post-Unification Germany, Stanford 2011. 22 See for example Angela Jancius, Unemployment, Deindustrialization, and ‘Community Economy’ in Eastern Germany, Ethnos 71 (2006), 2, S. 213–232. 23 Elizabeth Rudd, Gendering Unemployment in postsocialist Germany: ‘what I do is work, even if it’s not paid’, Ethnos 71 (2006), 2, S. 191–212.
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post-socialist transformations on the ground have sought to intervene by taking seriously the embodied and material forms of resistance and meaning – from the commemorative practices around GDR commodities (noted above), to heritage revitalization movements,24 to private museums of East German things. Many of these forms of othering and resistance indexed economic and monetary forms of devaluation that often disappeared into the background as ‘economic fact’ or ‘context’.25 Indeed, one of the primary forms that othering practices took mapped temporal difference onto Eastern Germans in ways that re-staged Western German narratives about post-war economic success and superiority.26 At the time of unification in 1990, the struggling economy, crumbling infrastructure and empty storefronts evoked, at worst, scenes from 1945 post-war Germany, and at best, a diamond in the rough given that historically valuable architecture was not torn down (as had happened in the West). Traveling to towns like Weimar recalled a storybook past only waiting to be re-awakened like a »sleeping princess«.27 As Andreas Glaeser noted, East Germans often shared in these temporal understandings, making sense of future economic recovery in terms of what West Germany had already achieved. Glaeser argued that these “techniques of othering” were different in form from Edward Said’s orientalism in that these narrative methods framed difference in “developmental” terms.28 Thus, these forms of working through difference – in a sense placing Eastern Germans within a different time, and indeed West Germany’s own past which already bore the negative imprint of national socialism and the positive one of the ‘economic miracle’ – could diminish and negate sameness while also anticipating a future positive outcome.29 Glaeser rightly notes how the basis of these narratives of temporal developmental differ24 Although, Jason James is critical of the ways that heritage revitalization movements at-
tempt to recuperate memory from otherwise burdened national pasts. Preservation and National Belonging in Eastern Germany: Heritage Fetishism and Redeeming Germanness, Hampshire/New York 2012 25 Recent approaches in anthropology to economy, markets, and the global have been concerned with showing how what often gets read as background or structuring logics of economy is the product of daily practices of making and generating capitalism. The ‘background’ is thus an object of ethnographic investigation in its own right. See Laura Bear / Karen Ho / Anna Tsing et al., Gens: A Feminist Manifesto for the Study of Capitalism, in “Generating Capitalism” Cultural Anthropology website (March 30, 2015), https://culanth.org/fieldsights/652-gens-a-feminist-manifesto-for-the-study-of-capitalism [23.09.2016]. 26 Berdahl, Re-Unification and Identity; Glaeser, Divided in Unity; James, Preservation and National Belonging in Eastern Germany; Nitzan Shoshan, Time at a Standstill: Loss, Accumulation, and the Past Conditional in an East Berlin Neighborhood, in: Ethnos 77 (2012), 1, S. 24–29; Felix Ringel, Differences in Temporal Reasoning: Local Temporal Complexity and Generational Clashes in an East German Town, in: FOCAAL 66 (2013), S. 25–39. 27 Glaeser, Divided in Unity: Identity; Berdahl, Re-Unification and Identity; James, Preservation and National Belonging. 28 Glaeser, Divided in Unity. 29 Ebd, S. 148–150; 159.
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ence could be found in shared “metanarratives” of East and West German states about the importance of “technological and economic progress” to both state and individual identify-formation politically and in terms of work biographies and life trajectories.30 Dominic Boyer extends the argument about temporal difference to, in his terms, “longitudinal” forms of differentiation that indexed Cold War histories of division in mutually shared strategies of shifting historical burdens for the Holocaust onto the ‘other’ Germany.31 Whereas the forms of differentiation described by Boyer are “indexical” and point to the possibilities for dynamic and continuously shifting of ‘difference’ depending on context,32 other authors emphasized how more rigid forms of racialization materialized in the very unification process. Damani James Partridge has examined post-unification forms of citizenship and alterity through the experiences of black noncitizen men, showing how positive forms of both West and East German identity have depended upon forms of “exclusionary incorporation” that open up routes to citizenship for some noncitizens while also anchoring the category of non-citizen and non-German upon which these forms of partial inclusion depend.33 But as Julianne Edler explains, while Eastern Germans belonged to the German nation in ways that persons categorized as racial and ethnic others in Germany did not, they also occupied a second class status in relation to the western norm.34 Thus, structures of belonging and inclusion simultaneously empowered and subordinated East Germans, paying them the “wages of German-ness” in compensation, wages which, however, could also serve as a form of social capital convertible into and cashed out for privileges not available to those falling into other categories of the ‘the Other’. Edler’s argument, which also invokes a monetary register to parse out strategies of differentiation, bears weight when one considers how the salient differences that continue to stand out and dominate policy as well as on-the-ground struggles for mutual recognition in east/west relations have turned upon such lingering differences – explicitly categorized in ‘East/ West’ terms – pertaining to wage rates, productivity levels, pension points, and the value of east German labor relative to that in the west. Extending these arguments, I therefore view the monetary exchange rates and value difference that materialized in both technical and popular debates Ebd., S. 159. Boyer, On the Sedimenation. Ebd., S. 465. Damani James Partridge, We were Dancing in the Club, Not on the Berlin Wall: Black Bodies, Street Bureaucrats, and Exclusionary Incorporation into the New Europe, Cultural Anthropology 23, no. 4 (2008), S. 660–687. 34 Juliane Edler, The Wages of Germanness: Working-Class Recomposition and (Racialized) National Identity After Unification, in: Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe 18 (2010), 3, S. 313–339. See also Damani James Partridge, Travel as an Analytic of Exclusion: Becoming Noncitizens, and the Politics of Mobility after the Berlin Wall, in: Identities 16 (2009), 3, S. 342–366. 30 31 32 33
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about the 1990 currency union as a critical anchoring point of these narratives of othering and differentiation, particularly in terms of the moral claims that have reinforced but also exceeded the available economic and political parameters of legitimization or critique. At the focal point of these claims are competing notions of what counts as ‘earned’ value and on what basis. Here the specificities of East Germany’s territorial inclusion within the west and the historical – as well as legal – ramifications of making sense of economic inequality in the so-called ‘Neue Bundesländer’ oscillate between a recognition of former state difference and re-inscriptions of inequality as market and regional forms of developmental difference. The slippage between money’s capacity to forge political identity and money as a marker of relative wealth and poverty are therefore productive as sites for negotiating and contesting devalued notions of East German identity. In the following sections, I show how three central themes arising out of my interview research provide ways to situate these debates within the shared analytical project (mine as well as that of my interlocutors) of making sense of the monetary value(s) arising out of these processes of currency union, revaluation, and identity formation over time.
III. Monetary Value(s) as opening For many East Germans the 100 D-Mark “Welcome Money” constituted their first and most salient encounter with the west, not only with the world of consumption but also the ways in which monetary value attached to understandings of social and economic worth. Countless stories and examples of how people used their welcome money and their first experiences of entering West German supermarkets and department stores have appeared in popular, medial, ethnographic and oral history accounts. While many of these stories are playful and ironic, similarly organizing positive and euphoric experiences of those early days, others emphasize feelings of humiliation, unease, and even reluctance to accept money as a token gift and to spend money one had not “earned.” At the time of my research, almost twenty years later, I found that many of my interlocutors did not turn, in the first instance, to their welcome money stories in responding to my queries about the 1990 currency union. When prompted, some respondents, especially men, were concerned with emphasizing that they did not in fact consume it, instead stashing the money in pockets or wallets and returning to the GDR, saving their money for another day. Others emphasized feelings of humiliation, as in the case of one respondent who was a teenager at the time and observed how western salespersons attempted to entice people to spend their money. His later experiences of working in the west made him recognize that sales staff were intent upon creating the impression that westerners could spend without a care in the world, while in their private lives, in contrast, they turned every Pfennig over twice before spending it. In other words, while thriftiness and
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saving were actually shared values across the inner German border, there was often a sense, in retrospect, that westerners took advantage of the un-initiated East German consumer with their first western money. Even as the D-Mark organized deeply positive memories of inclusion and mutual respect, then, it also marked forms of alterity that could make gestures toward ‘eastern differences’ both assets and liabilities. And yet one theme that emerged in some of my interlocutors’ narratives shifted this terrain of memory about the kinds of openings money did and could have made possible in framing this asymmetrical coming together around money and monetary values. Indexing in more positive terms the marriage or kin metaphors for belonging, these stories conveyed the palpable, yet brief, window of time in which the euphoria of the open border was mutually shared in East and West Germany. These were also moments in which the grassroots democratizing actions of East Germans were at the forefront of such encounters. Christian Kästner,35 a Leipzig author who participated in and documented the Monday demonstrations in Leipzig, was in the West German city of Münster for a book reading after the opening of the wall. People in the west were eager to know more about the peaceful demonstrations occurring in Leipzig and many other parts of the GDR. In the local pub where the reading was held, he remembers reaching to pay his tab and the proprietor refusing to take it, saying, “a Monday demonstrator does not need to pay.” “I was not permitted to pay,” Kästner continued with a sense of disbelief still discernable in his voice. A local man in the pub, upon observing this called out to the proprietor in approval saying, “Everyone in the east should have two of us [westerners] to support you, also financially!” “There was a euphoria and genuine excitement in the west in early spring 1990”, Kästner emphasized. Money as a highly symbolic and materially active agent is also central in Frida Jung’s account of her arrival story in the west. Ms. Jung, director of the stocks and securities division of a bank in Leipzig, recalls her experience as an intern at a western bank in early 1990, before formal unification had been decided. She also remembered the excitement of her western colleagues eager to hear first-hand accounts of the peaceful demonstrations in Leipzig: “My western colleagues were less interested in the banking practices of the GDR than they were curious about the experience of revolution in Leipzig”, she recounted: “‘Did you walk around the ring,’ they asked. ‘What was it like?’” She told me how she arrived in Münster, “without a single pfennig in west money in my bag.” The existential matter of money was inextricably linked with her arrival in the west. “Back then,” she explained, “it was something special, that someone was coming from the GDR.” Vivid in her narrative of arrival was the experience of being met not only by welcoming colleagues, but also with an enve35 All names are pseudonyms; some biographical details have been excluded or altered to
protect respondents’ anonymity.
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lope containing West German money placed in her hand to cover basic necessities at the begin of her stay. Ms. Jung perceived this in terms of a generous gesture on the part of her western colleagues, who understood that she did not have access to western money. “They were training us and so they knew we didn’t have a single pfennig.” Because it was substantially more than she earned in East German marks, it did not reflect the value difference between the currencies. Frau Jung reconciles this difference by indexing the symbolic nature of the payment because it was an amount she would not have earned in the east. But by categorizing it as a symbolic payment she clearly differentiates it from a payment that is “earned.” She does not “expect” anything, but expresses gratitude. Regardless of how Christian Kästner or Frida Jung may have thought of these encounters at the time, the way in which their stories incorporate both symbolic and material valences of money is important. While the stories told by Jung and Kästner accommodate monetary and economic difference at the heart of division and embedded within the challenges of coming together again, they also suggest other ways that this coming together was and might have been framed, such as Kästner’s fellow pub-goer who emphasizes plenitude rather than lack as the basis for the obligation to pay.36 At the same time, Jung and Kästner’s accounts subtly intervene in dominant narratives about the role of unreasonable expectations held by Eastern Germans about the right or entitlement to equal pay with Western Germans. Symbolic payment, or read differently, a monetary gift is a sign of solidarity but also a reminder of an otherwise unequal economic standing.
IV. Recomposing socio-monetary value(s) The unspoken subtext of these stories that connect money and euphoric opening is a different and dominant narrative that emphasizes East German desires for the D-Mark and expectations of ‘living like those in the west’. In contrast, in my interviews in Leipzig, I found that respondents did not disagree entirely but did work to de-emphasize it by reminding instead of the structural conditions of poverty that made the chasm between east and west all the more apparent to them after the opening of the wall. People recognized that, in one way or the other, they would need economic assistance. They had presumed, however, that Western Germans had an interest in building up the east in ways that would make their localities self-sustaining such that their economic contributions would eventually return in the form of jobs and a solid economic basis in the region. Instead, these ambitions were thwarted by West German businesses interested only in closing down the competition and turning the east into a kind of special economic zone or ‘work bench’ for production in the west – in an ironic sense, as some of my 36 Thanks to Sandy Wenger for encouraging me to clarify my argument here.
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interlocutors noted, a continuation of state socialist export production for the west. Either way, ordinary citizens rarely or minimally reaped the formal benefits of these schemes. In their reflections on 1990 and on the ways in which money continually recomposed and re-worked notions of value and historical change, my interlocutors emphasized pragmatic concerns about the scale of the task they saw ahead rather than an uncritical belief in the power of the D-Mark to solve all of their problems as so often implied by dominant framings of these events in scholarly and popular accounts alike. Katharina, a historian and scholar interested in the intersections of cultural, philosophical and mathematical thought, was a close interlocutor during my research in Leipzig. In her 70’s at the time of my research, she had worked in the academy in both systems. Unlike many others who lost their university positions, she managed to find her footing in the new structures. Though she did not have a full professorship, she was able to make a comfortable existence by teaching, writing, conducting research, and advising students. She was involved in many activities and organizations in the city and exuded creativity and curiosity on an immense variety of subjects. Her children had all left the region to work in the west or overseas. She was happy to see them find their way in the world, even if this also exemplified a common pattern in Leipzig and elsewhere in the east of labor migration and families spread far and wide, making the maintenance of family ties a significant aspect of post-unification affective laboring. We often spoke about the challenges of asking people to reflect upon and remember the monetary and economic shifts of 1990. This was especially true because people often preferred to defer to the experts. But this was also tied to feelings of deep reluctance to talk about monetary affairs in general, and the constraints upon feeling empowered to talk about economic affairs in particular, given that most people did not feel ‘invited’ to the table of such conversations. Katharina, always curious to understand better the foundations of economy, consulted different experts to form an opinion and analyze the claims of economists. As a historian, she observed that many economists were uninterested in the history of their own concepts and unquestioned beliefs. Katharina viewed the economic developments in the 1990’s as significantly shaped by neoliberal ideas about the market and the notion of stages of developments (akin to the kinds of developmental thinking I have noted above). But in the context of the US financial crisis and its global impact, which in 2009 was becoming ever more apparent in Germany, Katharina felt that now there was “nothing behind money”. In her observation, the speculation of entities like Hypo-Real-Estate was part and parcel of a continuous process since Unification in the early 90’s, of pouring money into real estate and small businesses in the former GDR with the hope of recovery, but instead producing nothing but more and new bubbles. Unification occurred precisely in this time in which the economy lived more and more from speculation, she argued, and when the relationship
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between what a country produces and what it consumed seemed increasingly severed, or disconnected. In light of all the instability generated by the global financial crisis since 2008 Katharina felt it was increasingly difficult to evaluate the old relationships that had defined and fueled notions of monetary value at the time of the currency union and in the early 1990’s. In response to my queries about the politics of this valuation process and people’s general reluctance to speak about it, she replied: “At the time of unification, all of these processes intensified. So what you have is really a task with no solution”, she said sympathetically, referring to my historical ethnographic project: Values and value definitions were different. In the GDR, value was based on what you produced. Now the money economy is drawn to absurdity. Things have been going on since the 90’s. It is difficult to evaluate the old relationships … The FRG did with the GDR precisely what it just did with Hypo-Real Estate. It poured lots of money into it hoping it would recover, and then it didn’t. Something similar happened with the GDR. They wanted to build up small businesses, but then here, too, there was a real-estate bubble that ended badly.
Katharina argued further that it was not just the GDR that had a problem of “over-production.” Like many of my respondents, she viewed the takeover of the East German market as beneficial to and solving the West’s own problem of overproduction. “They were happy in the beginning to be able to empty their warehouses to the market in the east. So the crisis was delayed by winning a new market. It was a consumer market for everything, whether needed or not. And then the market was saturated. And then the crying and gnashing of teeth started,” Katharina ended on a somewhat prophetic note. A complete unwinding and remaking of society was therefore still underway from the point of view of many I spoke with. For some, Europeanization and the arrival of the Euro single currency only complicated this already “incomplete process” of German unity. Mr. Schulz, who trained as an engineer in the GDR, worked as a motivational instructor for hard-to-employ youth at the time of our interview in 2006. He described how the complex entanglements through which two currency unions, separated in time, and each having their own sets of narratives and “logics,” have occupied an ambiguous status in post-unification Germany. Dissatisfaction with the euro, he argued, “is a two-fold problem – because we have German unification.” Speaking of the growing inequality in Germany and “double the unemployment” in East Germany, Schulz underscored that German Unification also brought about a social reordering, “and this reordering of society remains incomplete, both economically and socially,” he emphasized. The second problem was the adoption of the D-Mark in the east, which he felt people embraced because, like the US Dollar, it was a stable currency. He attributed the high unemployment in the east to the consequences of the rapid unification process, and the failure to understand the economic implications of these value
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changes on society. “So, since 1990 we have this social breach (change) and new societal strategies [for addressing it] that are still not fully developed.” At the time of our interview, rising childhood poverty throughout Germany was for him the most visible evidence of a society that failed to set the right priorities. Katharina and Mr. Schulz’s narratives and critical assessments of the politics of monetary value and the progress of economic unity over time therefore subtly challenge dominant framings that dismiss such critiques by countering that Eastern Germans had – and continue to have – unreasonable und unrealistic expectations of what the D-Mark would do for the east and what the socialist experience would contribute to the process. To better understand the ways in which questions of monetary value(s) have been tied to place and society, it is necessary to reflect upon the ways in which state difference and territorial boundaries have lived on in post-unifications experiences of economic integration and identity formation, with material and symbolic moral valences.
V. Monetary value(s) as relations of power and place The dissolution of the GDR entailed a feeling of stateless-ness when confronted with the ‘dead’ or now invalid bureaucratic artifacts of a ‘defunct’ and disappeared State in the accounts of several of my interlocutors. Like the GDR banknotes and coins that were shredded, buried, or melted down, other state bureaucratic artifacts such as passports, identity papers, birth, marriage and death certificates indexed belonging to a state that no longer existed. These material traces marked a history suddenly without a place or dis-placed.37 At the same time, these traces participated in a politics of devaluation tied to monetary value and its relationship to economy and social personhood. The most vivid examples for many of my respondents were related to the non-recognition of educational certificates and titles from the GDR, which for some required the repetition of training or coursework in the new system, sometimes at great expense monetarily and in terms of time. Just as central to the labors of admittance to the new Germany were the material and logistical aspects of the currency changeover in which physical East German money was replaced with West German cash.38 Contrary to the perception that East German money was ‘without value,’ the technical procedures for converting the currencies exemplified expectations that East Germans ‘pay their way in’ to the new system. By cashing in everything of value, including the aluminum in East German coins whose commodity value was greater than its mon37 Kathrin Hörschelmann, Breaking Ground-Marginality and Resistance in (Post) unifica-
tion Germany, in: Political Geography 20 (2001), S. 981–1004. See also Yael Navaro-Yashin, The Make-Believe Space: Affective Geography in a Postwar Polity, Durham 2012. 38 Ursula M. Dalinghaus, When Cash is the Tie that Binds: Denominating Affective Monetary Attachments in the Euro Zone, article manuscript in preparation.
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etary value, Eastern Germans could, in a sense, renew their status of belonging in Germany.39 Processes of (re) and (de) valuation therefore marked and erased territorial and historical ‘difference.’ In the context of the 1990 currency union, money not only redefined the boundaries of a prior State, it also marked in legal and formal terms the disappearance of that State altogether. And yet, state treaties and intergovernmental agreements served to define in part the mechanisms for integrating the East German economy into the FRG.40 Thus, while the former state-territorial identity of the GDR no longer existed formally, it lived on in other ways through different wage, subsidy, and social compensation benefits that were regulated and applied differently in the ‘new’ eastern federal lands than in the ‘old’ west.41 To illustrate the interplay between monetary value, re-territorialization, and post-unification debates around economic equalization of the formerly divided states, I turn to Jens Lange, an interlocutor who was instrumental in helping me to see this paradoxical status of lingering territorial difference and its importance for economic policy debates. A key respondent in Leipzig, Lange had been a prominent dissident in Leipzig’s peaceful revolution. In one of our first encounters, Lange was photocopying his massive Stasi surveillance files to be included in the archive collections. He relished reading excerpts in an understated yet scathingly ironic tone, not unlike that which punctuated his other commentaries. It was easy to miss the subtle forms of critique packaged within what seemed, to me, to be an otherwise cheerful embrace of the post-unification order that had succeeded in removing the old regime. Jens Lange’s account alerted me to the importance of sovereignty as a crucial lens for understanding post-unification relations42 because of exceptional measures bound to state treaties and the modalities of the 1990 currency union. In response to my questions about his reading of current debates about the funds flowing from west to east and their relationship to the 1990 currency union and its 39 Thanks to Sandy Wenger for this insight and encouraging me to articulate this last point
more explicitly. 40 Ulrich K. Preuss, Political Institutions and German Unification, in: Peter C. Caldwell / Robert R. Shandley (Hg.), German Unification: Expectations and Outcomes, New York 2011, S. 137–151. 41 See for example Wolfgang Seibel, The Quest for Freedom and Stability: Political Choices and the Economic Transformation of East Germany 1989–1991, in: Caldwell/Shandley (Hg.), German Unification, S. 99–119. The designations of ‘old’ and ‘new’ were also part of this politics of re-territorialization, as Andreas Glaeser has pointed out. Glaeser, Divided in Unity. In a related line of analysis, Andrew Bickford shows how the non-recognition or reduction of pension values and other benefits for former East German military officers also served as moral commentaries on the former enemy/other. Bickford, Fallen Elites. S. 144–147. 42 Ursula Dalinghaus, “From Fictitious Credits to Old Debts: The Afterlives of Revaluing the ‘People’s Property’”, Unpublished conference paper in the panel series, The Commons: Communism, Public Space, Open Access. German Studies Association Meetings, Kansas City, Missouri, September 20, 2014.
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impact on eastern regions, Lange thought for a moment, saying, “It is always difficult to compare.” He explained that the relationship between power and money worked differently in West Germany than it did in the GDR, saying: The transformative capacity of money into power and back is emphasized in a democracy. In the GDR a gain in power could not be expressed in money. It was the pleasure of power, in the politburo, to dictate to over 16 million people. This is the difficulty in socialism when you speak about money. The astonishing fact about this ‘Great Experiment’ [unification/ currency union] is that it had no destructive effects on the FRG. It did not hurt the western economy at all. That is what is interesting about this currency union. There were many warning voices at the time, but there is no evidence that it damaged the FRG.
In scholarly as well as journalistic accounts, the detrimental effects of policy decisions in 1990 on Eastern German regions have been controversially debated. Within this context of structural economic differences between the ‘old’ and ‘new’ federal regions, the 1990 currency union figures largely. One reason has to do with the visible and tangible economic indicators that include the ‘solidarity tax’ (Solidaritätszuschlag) originating as a subsidy for the east that all Germans pay, and differential wage agreements and wage rates demarcated according to west and east. In Mr. Lange’s view, in spite of all the rhetoric to the contrary about the costs of unification and the economic burdens on western taxpayers who must pay for the east, money talk seemed to be diverting attention from the fact that what in fact created problems was the failure to unify formally. The patchwork of treaties, agreements, and then accession (rather than pursuing formal unification and the collective creation of a new German constitution),43 was in fact responsible for the confusing and contradictory measures put in place in the beginning to deal with the differences in wages and economic output. Mr. Lange put this in terms of what he called “two fields of law,” or in other terms, the differing rules and procedures put in place to gradually equalize east and west but that instead led to other kinds of material and symbolic arbitrage, such as westerners working in the east who earned more than their eastern colleagues working beside them, or in the pension point schemes that were tied to work in east vs. western regions rather than locality per se or type of work. Lange understood the fraught and ongoing arguments about the nature and effects of structural differences between eastern and western regions, debates that at the time of my fieldwork circulated in policy and media circles and around pub and kitchen tables alike, as beside the point. For him, it was the separate and distinct legal arrangements aimed at gradually equalizing the eastern ‘territories’ with the Federal Republic that underpinned and reproduced relations of inequality within and between east and west.
43 Cf. Preuss, Political Institutions.
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What Herr Lange describes as two fields of law indexes the formal legal procedures through which the ‘unification’ of the two states proceeded, which was not in fact unification according to article 23 of the West German Basic Law (Grundgesetz), that had envisioned a future German unification through the creation of a new collective constitution to replace the Basic Law, one that would be agreed upon and worked through by citizens of both German states. Controversially, a different route was taken through article 146, which provided a mechanism for the accession of territory to the Federal Republic. Effectively, the GDR was divided into five regional territories each of which formally acceded to the Federal Republic on October 3, 1990. Even before this, however, a treaty between the two German states (Staatsvertrag) established allowances and mechanisms through which Eastern Germans would be included in the extensive West German social safety net of social insurance, health care, retirement and pension schemes.44 Thus, Jens Lange’s narrative helps to trace the genealogy of debates about price differences between eastern and western regions, the “costs” of unification and the process of “catching up” economically to its “prehistory” – the mix of treaty and technocratic workarounds that made unification possible. In connecting this discussion to Lange’s response to my queries about the new Euro single currency and what it showed about the relationship between money and territory, Lange believed it came down to a question of power. “At the micro-level you could say that whoever has money has a certain degree of power. At the macro-level, it is the opposite. Whoever has power decides about the money.” In this prescient argument, Mr. Lange draws attention to the way in which monetary value(s) are never apolitical or outside of power. Or in other words, at the level of the EU or the nation state, Lange underscores how it is the “sovereign power” that decides what will count as money.
VI. Monetary value(s)and asymmetries of belonging To circle back to the inverted wedding scenes described at the beginning of this essay, I want to re-visit the question of what ‘value’ – but also ‘values’ – East Germans brought to the new ‘arrangement’ of German unity. Taking some interpretive license I want to first juxtapose the two visions of unification described in the introduction of this essay, reading them together to think about the nature of this coming together and the ways in which value, values and valuation figure prominently. Extending this analysis, I then turn to a debate that emerged on a television talk series on the occasion of the twenty-year anniversary of the fall of the wall, which aired during the time of my fieldwork. In the conclusion, I end with an example that takes us once again from the marriage / kin metaphor to that of territorial / state forms of identity and belonging. 44 See also Christoph Lorke’s article in this volume.
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Both visions described at the beginning of this essay of German unification as ‘wedding of un-equals’, that nonetheless ‘belong together’, make explicit the inherent inequality of the match, but they do so differently. Otto Buchwitz’s ‘unification wedding’ emphasizes the socialist assets that the GDR will bring to the marriage. These assets are contrasted with the burdens of debt brought by the West. The notion of financial burden also figures prominently in the western scene caricatured in 1990. There, burdens of various forms are also figured as debt obligations brought by easterners. But the 1990 scene does not make explicit what is ‘brought’ by the west. Both scenes envision the other as bride, thus the conceptions of this coming together and who is expected to bring something to the match are deeply gendered in terms of who does the bringing. Nonetheless, while Otto Buchwitz’s ‘socialist’ scene is suggestive of movement on both sides and a looking past the other’s debt ‘because we love you’, in the 1990 scene the movement seems rather more one sided.45 Unlike the entourage of ‘gifts’ depicted trailing behind the GDR as bride, there is no such train of gifts behind the FRG groom, represented by Helmut Kohl. Kohl is surrounded instead by the icons of legal formality and is standing firmly in place while his GDR-bride moves toward him. The point I want to make in these interpretations is what I think is at stake in these examples. In my view, and based on the kinds of narrative re-framings my interlocutors have made visible in my interview research, it is the path not taken – the collective re-negotiation of a shared constitution and formal unification of both states – that is haunting these debates around the relation between monetary, social, and historical-moral values. As the empirical analyses of the chronology of policy decisions in 1989/90 tend to highlight, it was the rapid currency union that played a key role in looking for the quickest route toward unification. Thus, the form of unity that was taken re-capitulated in one sense the scene of the ‘shotgun wedding’ (to play with the wedding metaphor) in Hanitzsch’s drawing. This was an arrangement of necessity and not mutual co-constitution of what a newly unified Germany could be based on the value(s) and contributions both sides brought to the table. Anchoring counterarguments – that there was insufficient time for such a process – was also the ‘colonizer’s’ view that East Germans brought little of substance to a table already decked by the West German side of the family with all that was needed. The western side of the family ‘knew best’ what was needed, economically and politically. To illustrate, I turn to one political talk show on the twenty-year anniversary46 of the fall of the wall. It brought into sharp focus how socialist values
45 Gustav Peebles highlights how modern state practices of dealing with indebtedness mark
and “reveal” territorial boundaries of citizenship; a creditor could be compensated for unpaid debt within the national community, but not for unpaid "foreign" debt owed outside one's community's boundaries. Peebles, The Euro and its Rivals, S. 139. 46 “Einigkeit und Recht auf Fremdheit: Wann fällt die Mauer in den Köpfen”, Hart aber Fair (ARD). With host Frank Plasberg, air date: Nov 4, 2009, transcriptions are mine.
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such as a right to work and the writing of a new constitution remained important values to Eastern Germans, but were deemed naïve and without merit by western observers and analysts. In an exchange between West German author Wolfgang Herles and East German journalist Andrea Elis, the ways in which East German ideas of value and experiences of economy are disqualified is made explicit. The argument centered around the question of a “right to work” which the Round Table of the New Forum47 wished to add to a collective constitution between East and West Germany – had the formal route of political union been taken as outlined in the West German Grundgesetz. Instead, the accession option was used, and East Germans adopted the West German Basic Law.
Herles: It is a good thing that we did not create a new collectively written constitution then, at least not with such demands that would have destroyed this (our) economic system, especially considering that it was the GDR that fell apart, and not the Bonn Republic. Elis: Jetzt kommt es … (Here we go …). Herles: It was important that the Bonn Republic was the guiding model, not one to one, but still the guiding model. You reinforce my point that there are differences in mentality, you have a completely different mentality than we do [referring to the other West German panelist], this is unfortunately observable). […] Elis: I think that a collectively agreed upon constitution would have given East Germans the sense that they were taken seriously in the unification process and I don’t believeHerles: If you had begun the process of reform in the GDR before you smashed it at the feet of the West (– a taken-aback exclamation from an audience member is audible in the background). Elis: I don’t believe that [our contribution] would have only consisted of nonsense and I personally – and perhaps this does have something to do with my past in the GDR – find that a right to work and an obligation to do so not such a bad thing.
47 The New Forum (Neues Forum) was the grass roots political movement of East German
citizens that emerged out of protests against the socialist state in 1989. Former members who remained politically active after 1989 eventually became part of the Green party in Germany (Bündnis 90/die Grünen).
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Herles: That is nonsense and has no place in a constitution. You have no clue about economics, sorry. Elis: […] in a third labor market that ensures that the unemployed do not sit neglected in front of the television and that they occupy themselves is a better option. But what your stance shows is, true to the motto that these small, pokey48 East German citizens should be happy they were even permitted the opportunity to accede to the West, and this is an attitude that is inacceptable 20 years after. Herles: I didn’t mean – (so hab ich gar nicht) … The discussion moves on, other panelists involved. But Andrea Elis returns to the subject discussed above:
Elis: I would like to make a minor addendum, this is important to me, you said just now along the lines that the GDR was bankrupt and what more do you want – and this is a great problem, and why East Germans still feel frustrated or devalued (entwertet) because that means – the GDR was bankrupt, true, but all the people who lived and worked there are at the same time losers and clueless about the economy and so on, still this is how [your stance] comes across […]. Andrea Elis’s use of the term entwertet (devalued) is telling here. The term is typically used when referring to stamping one’s ticket. But it is also used in association with invalidating coins – bending the metallic face of the coin or cutting into its edges to prevent it from circulating as legal tender. Especially in the context in which Elis uses it – to refer to the conflation of East Germans with economic bankruptcy and lack of economic value, one can see the afterlives of the 1990 wedding scene. In this scene, the GDR bride joins a model rather than entering a relationship that will be built on mutually agreed upon values that both bride and groom aspire to bring to the arrangement. Thus, dominant discourses confirming the soundness of western economic superiority (indexed most viscerally by the stable D-Mark) and diminishing Eastern German contributions proposed at the time in 1990 and their participation in national life since, have left little space for East Germans to inhabit an analytical space of economic evaluation and critique when questioning the basis for monetary and social value(s).
48 The term punzlig is used in conjunction with a Christmas saying about the Dresdner Christ-
mas Market, and seems to be a word from the Saxony dialect. I have not been able to locate a direct translation of this yet.
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VII. Conclusion – on subtraction, addition and the place of East Germany A provocative conclusion to this essay, one that nicely illustrates the ambiguities created by the formal disappearance of the East German State and yet its continuing importance for negotiating value, draws on a 2010 case regarding the legal designation of the colloquial term, Ossi. In 2010, Süddeutsche Zeitung published a report, “Closed Society,”49 featuring a much publicized and debated story about an East German woman, Gabriela S., who applied to and was turned down for an accounting job at a manufacturing company in Stuttgart. She was surprised to find her resume returned to her in the mail, the cover page marked up with the word ‘Ossi’ and a minus sign circled in Green. Other parts of the resume were also marked with the handwritten notation ‘GDR’. In response, Gabriella filed a lawsuit against the company for violating her rights under the general equal rights/ anti-discrimination law (AGG). Gabriella’s lawyer built the case based upon the idea that ‘East German’ or ‘Ossi’ could be included under the umbrella category of ‘ethnicity’. It was a case that Gabriella lost. The court ruled that although the term ‘Ossi’ could be used and also ‘felt’ in a discriminatory manner, it did not meet the criteria of ethnicity under the law. “East German’ did not constitute a distinct ‘ethnic’ or ethnically identifiable population identity”, according to the ruling. In yet another article published in FAZ,50 a further nuance was highlighted in describing the reasoning behind the ruling. Apart from the GDR’s designation as a former territory, it had existed little more than a generation and therefore ‘not long enough’ to be distinguished from the Federal Republic (West).51 As the authors of the Süddeutsche article pointed out, this implied that not only was this form of discrimination not covered under the law therefore leaving people like Gabriella without recourse, but that these kinds of discriminatory tactics were in fact tolerated and even accepted at a societal level. And yet at another level I would add that, by showing how a ‘former State People’ confounded existing categories for dealing with discrimination and the politics of making such practices visible, Gabriella’s case exposes some of the politics entailed in accounting for this difference. It makes visible how the formal erasure of a state’s boundaries and the dissolution of that state itself are enacted as signs of inclusion (we are all Germans) and exclusion (the 40 year existence of the socialist east does not even
49 Christoph Cadenbach / Bastian Obermayer, Geschlossene Gesellschaft, in: Süddeutsche
Zeitung Magazin, Heft 30, July 2010, http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/34445/ Geschlossene-Gesellschaft [23.09.2016]. 50 N. N., Arbeitsrecht: »Ossis« sind kein eigener Volkstamm, FAZ vom April 15, 2010, http://www. faz. net/aktuell/wirtschaft/recht-steuern/arbeitsrecht-ossis-sind-kein-eigener-volksstamm-1968390. html [23.09.2016]. 51 Cf. Boyer’s argument (inter alia) about longitudinal difference and cold-war histories, On the Sedimentation and Accreditation of Social Knowledges of Difference.
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merit recognition). Like the ‘minus’ sign before the ‘O’, the east as ‘a difference that matters’ is not only subtracted, but in another sense, devalued. While commentaries about the case were divided,52 different arguments showcased the tensions in downplaying or highlighting forms of relative sameness and difference. Some easterners perceived the case as a “Wessi” affront to easterners by putting them into a singular category and ignoring regional differences that figure more strongly in people’s sense of identity.53 Others pointed out the importance of finding ways to address forms of discrimination directed specifically at Eastern Germans and provoking a much-needed dialogue on this topic. And yet another observer pointed out that the category of east/west difference is an artifact of unification itself – a new category that did not exist prior to 1990.54 Thus, one could argue that the negative sign marked in ink on the resume materialized once again the enduring capacity of the equivalent form to facilitate the exchange and comparison of monetary value(s) while also defining the shape of making sense of relatedness in post-unification Germany. In a fitting post-script, the (-)‘Ossi’ debate re-located to the commodity world of material culture as an outlet for further collective debate. One website responded to the case by advertising tee shirts with the minus sign and ‘Ossi’ for people to wear as an act of positive defiance.55 However, one Dresden entrepreneur did them one better by creating a tee shirt that bore the logo of the Minus ‘Ossi’ but with the minus sign before ‘OSSI’ in white font, but transected by a vertical line in red, transforming it into a plus sign and thus making it a positive term – even value-added.56 As these examples show, the metaphor of monetary value and the signs of equivalence and difference continually reappear in the practical and moral struggles over defining social and national belonging, and over remembering, resisting, reclaiming, and redefining the proper forms of making visible as well as dissolving coordinates of eastern ‘difference’ and what should count as durable attachments to value(s). In this essay I have examined the social life of monetary value(s) that emerged in part through the 1990 currency union’s nexus of revaluations. I have traced some of the ways in which these questions of monetary value – singular 52 See N. N., The World From Berlin: ‘Ossis’ Aren’t Indians, in: Spiegel Online, April 16, 2010,
http://www.spiegel.de/international/germany/the-world-from-berlin-ossis-aren-t-indiansa-689403.html [23.09.2016]; Eva Prase, Die-Minus-Menschen aus dem Osten, Freie Presse, April 15, 2010, http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/TOP-THEMA/Die-Minus-Menschenaus- dem-Osten-artikel7355195.php [23.09.2016]. 53 N. N., The World from Berlin. 54 Ebd. 55 Diskriminierungsprozessprozess. Der ‘Minus-Ossi’ wird zum Markenzeichen, in: Spiegel Online, April 16, 2010, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/diskriminierungsprozessrozess-der-minus-ossi-wird-zum-markenzeichen-a-689514.html [23.09.2016]. 56 Dresdner Geschäftsmann macht aus ‘Minus-Ossi’ einen ‘Plus-Ossi’, in: Lausitzer Rundschau, May 11 2010, http://www.lr-online.de/nachrichten/sachsen/Dresdner-Geschaeftsmannmacht-aus-Minus-Ossi-einen-Plus-Ossi;art1047,2907833 [23.09.2016].
184 Ursula M. Dalinghaus
and plural – have threaded through material and symbolic practices of negotiating a post-unification politics of devaluation and its enmeshment in questions of identity and social worth. The 1990 currency union and asymmetrical coming together of East and West Germany has remained a significant marker and coordinate for narrating the intersection of private and collective experiences of social and economic changes in the former East Germany. By resituating experiences of 1990 in terms of monetary openings, re-composings, and re-territorializations of power and place, my interlocutors’ narratives suggested a more nuanced set of analytical lenses through which to track asymmetries of belonging and difference in post-unification processes of negotiating social and economic value(s) over time. The examples presented here also show how monetary histories can be reactivated in new and unexpected forms as interpersonal and territorial identities and histories become important for making claims in the present. They also show the ongoing challenges of addressing forms of inequality and misunderstanding that have constituted an important dimension of post-unification life in Germany that often seem to have no place in the space of attested and anticipated ‘sameness’. Making a space for this analysis is therefore essential in analyzing the politics of borders and identities more broadly, as well as the relationship between economic value and belonging that are, once again and have always been, at the heart of struggles over power and inclusion in Germany and across Europe.
III. HINTERLASSENSCHAFTEN UND AUFARBEITUNG
Kerstin Brückweh
UNTER OSTDEUTSCHEN DÄCHERN Wohneigentum zwischen Enteignung, Aneignung und Neukonstituierung der Lebenswelt in der langen Geschichte der ›Wende‹1
I
m Frühjahr 2015 trafen sich Bürgerinnen und Bürger einer brandenburgischen Gemeinde, um sich an Veränderungen ihrer Lebenswelt nach 1989, vor allem mit Blick auf das Wohnen, zu erinnern. Sie berichteten über die erste Euphorie nach dem Fall der Mauer und die darauf folgende Phase der Ernüchterung. Mit gewissem Stolz verwiesen sie auf ihren Kampf gegen die nicht immer freundlich angemeldeten Besitzansprüche von Alteigentümern, schilderten emotionale Begegnungen und tragische Geschichten. Die vierstündige Abendveranstaltung mit Grußwort des Bürgermeisters demonstrierte – trotz der Einzelschicksale – in erster Linie eine Erfolgsgeschichte: den Widerstand gegen gierige Westdeutsche, den Zusammenhalt unter den Alteingesessenen, das teilweise mühsame, aber doch gelungene Erlernen der neuen Rechts- und Verwaltungsvorschriften und das Einfinden in Verwaltungspraktiken. Zu dieser Erfolgsgeschichte gehört auch das Ringen um sozial verträgliche Lösungen für sogenannte Restitutionsopfer innerhalb des Ortes und das trotz allem gelungene Zusammenleben mit den Zugezogenen in einer wachsenden Gemeinde mit Alt- und zunehmend Neubauten. Auffällig ist an diesem Abend, dass die Geschichte 1989 beginnt. Kein Wort fällt darüber, wer etwa in den 1930er-Jahren in die damals boomende Gemeinde kam, wer sie wann und warum verlassen hat bzw. verlassen musste. Ebenso wird nicht thematisiert, wer zu DDR-Zeiten in die vor allem aus Eigenheimen bestehenden 1 An dieser Stelle möchte ich Ralph Jessen danken. Seine Kommentare zu einer frühen Ver-
sion des Papers auf dem Historikertag 2014 sind an mehreren Stellen in den Aufsatz eingegangen. Der Dank geht außerdem an Christoph Lorke und Thomas Großbölting für sorgfältige Lektüre und konstruktive Kritik.
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Straßen zog, unter welchen Bedingungen Häuser erworben, übertragen oder auf andere Weise angeeignet wurden und welche Beziehungen zwischen den Bewohnern und Bewohnerinnen an der Berliner Stadt- und Staatsgrenze bestanden. Das positive Narrativ ist nur schlüssig, wenn jegliche Veränderungen vor 1989/90 ausgeblendet werden. Eine wesentlich vielschichtigere Erzählung erhält, wer die Geschichte des Wohnens und konkret der Eigentumsverhältnisse in einer langen Perspektive betrachtet. Erst durch die Einbeziehung des unterschiedlich motivierten Weg- und Zuzugs, der einherging mit Enteignungen, staatlicher Verwaltung, Wohnraumlenkung und Übertragung oder Verkauf von Eigenheimen, lässt sich die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Vereinigungsgesellschaft verstehen. So zeigte sich beim Wohneigentum unter dem Mantel scheinbar stabiler Verhältnisse angesichts des Verfalls der Altbausubstanz vor allem seit den 1970er-Jahren ein steigender Handlungsbedarf. Er ging mit dem staatlichen Neubauprogramm und schon früher üblicher Aufweichung von Eigentumstiteln durch politische Privilegien und Fixierung informeller Besitzarrangements einher. Schon vor der Restitutionsregelung des Einigungsvertrages kam es zu Käufen und Eigentumsübertragungen. Fragen nach der sich in der DDR in Bezug auf das Wohneigentum herausgebildeten Praxis müssen deshalb verbunden werden mit dem im Prozess der Wiedervereinigung formulierten Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« und seinen Auswirkungen auf die Lebenswelt der Bewohner ab 1990. Zugleich interessieren in einer langen Perspektive auf die Gesellschaft im Umbruch Fragen nach Eigentumstraditionen, -politiken und -praktiken, die in die Regelungen einflossen und die Begegnung zwischen Bewohnern und sog. Alteigentümern einerseits und die Entscheidungen im Verwaltungsapparat zur Klärung offener Vermögensfragen andererseits prägten. Durch die Untersuchung der an einzelne Häuser gebundenen Lebenswelt können die teils verdeckten, teils offenkundigen gesellschaftlichen Dynamiken sowie die Haltungen und Verhaltensweisen von Ostdeutschen und ihr Zusammentreffen mit Westdeutschen und anderen Zugezogenen über die Zäsur 1989/90 hinaus verfolgt werden. Dabei ist anzunehmen, dass es in der brandenburgischen Gemeinde am Berliner Stadtrand weder »die« Ostdeutschen noch »die« Westdeutschen gab. Vielmehr wohnten bürgerrechtlich Engagierte, vielleicht sogar Oppositionelle, neben SED-Anhängern und Stasi-Mitarbeitern, neben Künstlern und Wissenschaftlern, neben Handwerkern und Erziehern bzw. neben »normalen« DDR-Bewohnern,2 die sich in ihren Häusern eingerichtet hatten, diese hegten und pflegten. Ebenso wenig gab es ›den‹ Umgang mit Eigentum in der DDR. Das hier gewählte Beispiel ist spezifisch für eine Gemeinde mit zumeist aus Einfamilienhäusern mit Garten bestehender Altbausubstanz, die in den 1930ern erbaut worden war. Wenige Neubauten waren in der DDR hinzugekommen. Die 2 Vgl. Mary Fulbrook, Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darm-
stadt 2008.
UNTER OSTDEUTSCHEN DÄCHERN 189
Gemeinde ist zudem spezifisch durch ihre grüne Lage im Umland Berlins, die sie zum bevorzugten Wohngebiet im Nationalsozialismus und in der Vereinigungsgesellschaft machte. Charakteristisch für den Ort ist weiterhin das Gerücht, er sei auch mit Blick auf die Regimetreue der Bewohner und Bewohnerinnen besonders. Hier fängt das Reich der Vermutungen an, die dem Ort bis heute anhängen. Langfristig sollen die verschiedenen Aspekte am Beispiel des Wohneigentums empirisch untersucht werden, indem die Gemeinde bzw. einzelne Straßen und Häuser mikrohistorisch analysiert werden.3 Im Folgenden gilt es zunächst die gewählte Perspektive einer langen Geschichte der ›Wende‹ zu begründen (I.). Sie soll für den Bereich des Wohneigentums spezifiziert (II.) und an dem brandenburgischen Fallbeispiel mit Blick auf die gesetzlichen Regelungen und ihre Umsetzung in der Praxis systematisiert werden (III.). Am Ende werden erste Ergebnisse und Thesen formuliert (IV.).
I.
Die lange Geschichte der ›Wende‹
Hinter der konkreten Analyse des Wohneigentums steht die größere Idee, dass durch den Rahmen einer langen Geschichte von Revolution und Transformation, die bestehenden Narrative der stagnierenden, unpolitischen DDR des späten Staatssozialismus, der euphorischen Selbstermächtigung des Herbstes 1989 und des institutionellen Totalumbaus nach dem Beitritt zur Bundesrepublik verbunden werden. Die mit 1989/90 verknüpften Umbrüche tragen dabei einen doppelten Charakter, der sich auch in der umgangssprachlichen Unschärfe des Begriffs ›Wende‹ niederschlägt: Aus der Perspektive der Akteure war die friedliche Revolution einerseits etwas von ihnen Gemachtes, repräsentiert durch die Eroberung der Straße, die Entmachtung der SED und die Etablierung eigener Politikformen sowie schließlich die Herbeiführung demokratischer Wahlen. Andererseits setzte diese Aneignung von Handlungsmacht eine Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse in Gang, die über Befreiung und Demokratisierung weit hinausgriff. Der seit den 1970ern spürbare Verlust der ökonomischen Leistungsfähigkeit sowie die durch die erste freie Volkskammerwahl entschiedene Übernahme der westdeutschen Institutionenordnung ergriffen auch all jene Bereiche, die von der revolutionären Agenda ursprünglich nicht berührt waren. Beide schlugen unmittelbar bis in die Lebenswelt jedes Ostdeutschen durch – als Gestaltungschance und als Zwang.
3 Der Aufsatz ist im Zusammenhang einer 2016 begonnenen Forschungsgruppe am Zentrum
für Zeithistorische Forschung Potsdam entstanden, die unter dem Titel »Die lange Geschichte der ›Wende‹. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989« kleine politische Öffentlichkeiten, Schule, Konsum und Wohneigentum in einer langen Perspektive über 1989 hinweg u. a. mikrohistorisch untersucht.
190 Kerstin Brückweh
Vor dem Hintergrund der umfangreichen sozialwissenschaftlichen Transformationsstudien, die zumeist 1989/90 ansetzen, wird durch die lange Geschichte die vorherrschende Gegenwarts- und Handlungsorientierung durch die gleichrangige Analyse mit der spätsozialistischen und der revolutionären Zeit gesellschaftshistorisch verknüpft.4 Im Zentrum steht die Frage nach dem Wechselspiel von Umbrüchen in den Lebenswelten breiterer Bevölkerungskreise und denen der Institutionenordnung, wie sie in der Transformationsforschung als Systemwechsel5 bezeichnet werden. Als Lebenswelt wird der »Wirklichkeitsbereich« verstanden, an dem »der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt.«6 Die Analyse knüpft damit an die soziologischen und historiografischen Debatten zum Zusammenhang von gesellschaftlichen Ordnungen und Lebenswelt7 sowie insbesondere zur Alltagsgeschichte der kommunistischen Diktatur an.8 Damit sind Fragen nach der Gestaltung des Verhältnisses von Lebenswelt und Systemwechsel im Niedergang, in der Befreiung von der diktatorischen und in der Etablierung der demokratischen, bundesdeutschen Ordnung ebenso verbunden wie Fragen nach möglichen Wissensressourcen der Akteure vor und deren Reorganisation und kommunikativer Neuverhandlung nach 1989. Auf welcher Grundlage und Erfahrung wurden gesellschaftliche Grundfragen debattiert, neu geordnet und in der sozialen Praxis umgesetzt? Dieser Ansatz einer langen Gesellschaftsgeschichte der ostdeutschen ›Wende‹ lässt sich prinzipiell für verschiedenste Bereiche des Umbruchs schreiben. Entscheidend ist, dass diese Untersuchungsfelder potentiell jeden Ostdeut4 Vgl. für eine solche Verbindung, allerdings eher auf der Makroebene: Philipp Ther, Die
neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europas, Frankfurt a. M. 2014. 5 Zum Beispiel: Wolfgang Merkel, Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden 2010. Zur Genese der Transformationsstudien und verschiedener Förderinitiativen siehe: Raj Kollmorgen, Zwischen »nachholender Modernisierung« und »doppeltem Umbruch«. Ostdeutschland und deutsche Einheit im Diskurs der Sozialwissenschaften, in: Ders. / Frank T. Koch / Hans-Liudger Dienel, (Hg.), Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011, S. 27–65. 6 Alfred Schütz / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003 [1975], S. 29. 7 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1981; Alf Lüdtke, »Kolonisierung der Lebenswelten« oder: Geschichte als Einbahnstraße? Zu Detlev Peukerts »Arbeiter-Alltag – Mode und Methode?«, in: Das Argument 25 (1983), S. 536–541; Detlev Peukert, Glanz und Elend der »Bartwichserei«. Eine Replik auf Alf Lüdtke, in: Das Argument 25 (1983), S. 542–549; Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005; Michael Thomas, Lebenswelt, in: Raj Kollmorgen / Wolfgang Merkel / Hans-Jürgen Wagener (Hg.), Handbuch Transformationsforschung, Wiesbaden 2015, S. 593–598. 8 Siehe u. a. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Erosion in der DDR 1945–1989, Frankfurt a. M. 1992; Thomas Lindenberger (Hg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln u. a. 1999; Jan Palmowski, Inventing a Socialist Nation. Heimat and the Politics of Everyday Life in the GDR, 1945–1990, Cambridge 2009.
UNTER OSTDEUTSCHEN DÄCHERN 191
schen, in jedem Fall aber breitere Bevölkerungskreise, betrafen. Lokal- und mikrogeschichtliche Untersuchungen bieten sich dafür einerseits an, weil sie dem dezentralen Charakter der Herbstrevolution9 Rechnung tragen, andererseits ermöglichen sie die Analyse der Wahrnehmungen und Handlungen von verschiedenen Akteuren wie Eliten, Vertretern diverser Berufsgruppen, bürgerrechtlich Engagierten und weiteren Bevölkerungsteilen – d. h. von allen, die in dem begrenzten Raum lebten. Ostdeutschland, das nach dem Ende der DDR seine Eigenstaatlichkeit verlor und fortan eine Region eigener Prägung innerhalb der Bundesrepublik bildete, bestimmten die durch ein »Dilemma der Gleichzeitigkeit«10 charakterisierten Umbrüche. Sie stellten die staatlichen Steuerungsinstanzen und die Bevölkerung vor das Problem, gleichzeitig die Frage der Demokratie sowie der Wirtschafts- und Eigentumsordnung zu bewältigen. Mit Blick auf mögliche Themen gibt es verschiedene Anfangs- und Endpunkte. Einen übergreifenden Orientierungspunkt für die zeitliche Ausdehnung bietet die für den sowjetischen Einflussraum geprägte Periodisierung vor allem der 1980er als »late socialism«, der gekennzeichnet war durch den Verlust von Utopie und Handlungsfähigkeit der kommunistischen Regime, durch den ökonomischen Verfall sowie das verstärkte Eindringen westlicher Werte.11 Evident sind zudem Parallelen zur westlichen Krisenverarbeitung »nach dem Boom«.12 Damit verbinden sich vielfältige Herausforderungen in verschiedensten Bereichen (Ölkrise, informationstechnische Revolution, Globalisierung, Individualisierung, Neoliberalismus u. a.). Aus den eingangs erläuterten Gründen wird zum Beispiel für die Analyse des Wohneigentums der Untersuchungszeitraum mindestens bis in die Zeit des Nationalsozialismus ausgedehnt werden müssen. Die Wahl möglicher Endpunkte der Untersuchung scheint noch schwieriger, will man nicht bei einfachen Lösungen wie dem Amtsantritt der ersten ostdeutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2005 oder des Bundespräsidenten Joachim Gauck 2012 stehen bleiben.13 Die Frage nach Zäsuren wird deshalb zum Gegenstand der themenbezogenen Exploration selbst gemacht. 9 Siehe Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München
2009. 10 Claus Offe, Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, Frankfurt a. M. u. a. 1994, S. 57–80. 11 Vgl. dazu Stephen Kotkin, Uncivil Society. 1989 and the Implosion of the Communist, New York 2009; Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2005; Dieter Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 – Drei Versuche im Westen anzukommen, Frankfurt a. M. u. a. 2002. Weiterhin für die Periodisierung: Padraic Kenney, The Burdens of Freedom. Eastern Europe since 1989, London u. a. 2006; Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; Ther, Neue Ordnung. 12 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008. Mit Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte siehe: Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008. 13 Vgl. den Abschnitt »Das Ende des 20. Jahrhunderts« in: Ulrich Herbert, Geschichte Deutsch-
192 Kerstin Brückweh
II. Wohnen und Lebenswelt in der langen Geschichte der ›Wende‹ Wohnen ist zentraler Bestandteil der Lebenswelt. Als repetitiv-alltägliche und für die Lebensgestaltung der individuellen Akteure und Akteurinnen grundlegende Form des sozialen Handelns14 erlaubt es vielfältige Einsichten in materielle, mentale, emotionale und symbolische Bereiche des Lebens.15 Als »d e n Schauplatz und Knotenpunkt aller für ein Leben wesentlichen Begebenheiten« deklarierte Karl Schlögel das ›Haus‹.16 Aus der Perspektive des Individuums geht es im ›Haus‹ um soziale Beziehungen ebenso wie um Aspekte der materiellen Kultur, der Repräsentation, des Rückzugs und um handfeste ökonomische Faktoren von Besitz, Eigentum, Vermögen, Erben bzw. Vererben usw. Aber mehr noch: Durch den Blick vom historischen Akteur aus werden Mikro- und MakroBereiche gleichzeitig erfasst. Denn »die Lebenswelt ist keine holistische, in sich geschlossene Einheit, keine Glocke, unter der der Mensch lebt, sondern etwas Offenes, das gekennzeichnet ist durch ein Wechselverhältnis von Strukturen und kultureller Praxis des Akteurs, durch Interaktion und Kommunikation.«17 In der Lebenswelt – so stellt der Osteuropa-Historiker Heiko Haumann weiter fest – sind Individuum und System untrennbar miteinander verbunden.18 Das Wohnen bietet somit ein Untersuchungsfeld par excellence für die lange Geschichte der ›Wende‹, in der der Systemwechsel auf der Ebene der Lebenswelt betrachten werden soll. Mit Blick auf das Verhältnis von Individuum und Eigentum gibt es zu Osteuropa bereits mehrere, vor allem ethnologische und anthropologische Studien. Sie hinterfragen u. a. die grundlegende Annahme für die Umstrukturierungen nach lands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 1238–1252. 14 Christoph Conrad u. a., Wohnen im historischen Wandel – eine Einladung zur Wiederentdeckung, in: Dies. (Hg.), Wohnen und die Ökonomie des Raums, Zürich 2014, S. 7–16, hier S. 9. 15 Allgemein zur Lebenswelt, d. h. nicht auf das Wohnen bezogen: Heiko Haumann, Lebenswelten und Geschichte. Zur Theorie und Praxis der Forschung, Wien u. a. 2012, S. 91. 16 Das ›Haus‹ (das nicht unbedingt im engen Sinne ein Haus sein muss, vielmehr kann die Wohnstätte verschiedene Formen und Größen annehmen, deshalb die Anführungsstriche) kann auf eine lange Forschungstradition vor allem mit Blick auf die Frühe Neuzeit und die Sattelzeit sowie zunehmend auch auf die Neueste Zeit verweisen: So der klassische Text von Otto Brunner, Das ›Ganze Haus‹ und die alteuropäische ›Ökonomik‹, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl., Göttingen 1968, S. 103–127. Neuerdings: Joachim Eibach u. a. (Hg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, Berlin u. a. 2015; Christoph Conrad u. a. (Hg.), Wohnen und die Ökonomie des Raums, Zürich 2014. Trotz dieser Bedeutung gibt es bisher keinen Forschungsboom zur Geschichte des Wohnens in der Neuzeit, wie Adelheid von Saldern jüngst feststellte: Adelheid von Saldern, Wohnen – jenseits historiografischer Turns und Trends? Beispiele aus europäischen Städten des 20. Jahrhunderts, in: Conrad u. a. (Hg.), Wohnen und die Ökonomie des Raums, S. 27–57, hier S. 28. Von dort ist auch das Zitat von Karl Schlögel entnommen. Für die größere Einordnung siehe Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 314–321. 17 Haumann, Lebenswelten und Geschichte, S. 91. 18 Ebd.
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dem Ende des Kommunismus, bei denen vielfach im Sinne eines Neoliberalismus19 auf das Individuum als rational handelnden Menschen gesetzt wurde, der nach privatem Eigentum strebe. Der Sozialanthropologe Chris Hann konnte in Bezug auf ländliche Gebiete Europas zeigen, dass bei den Umwandlungsprozessen nicht alles nach Plan bzw. nach dem häufig zu findenden Idealbild des Homo oeconomicus verlief: »Statt anzunehmen, dass der ehemalige Kolchos-Bauer das Produkt einer bedauerlichen Verzerrung des ›natürlichen‹ Musters des Homo oeconomicus ist, muss man sich ernsthaft mit seiner Geschichte auseinandersetzen und das Erbe respektieren.«20 Ebenso kamen andere Ethnologen zu dem Ergebnis, dass eine radikale Änderung auf der Ebene gesetzlicher Regelungen für die Schaffung eines neuen Eigentumssystems nicht ausreiche, wenn diese Gesetze von oben aufoktroyiert werden und der Logik von kulturellen Werten und Ideologien auf einer anderen Ebene widersprechen.21 Wie also verlief die Geschichte des Wohnens vor, während und nach 1989 in Ostdeutschland? Diese Frage könnte kulturgeschichtlich z. B. mit Blick auf Wohnstile und Wohnpraktiken bearbeitet werden.22 Was die Einwohner und Einwohnerinnen der eingangs erwähnten brandenburgischen Gemeinde aber in besondere Aufruhr versetzte, war die Restitution von Eigentum, die im Rahmen des Einigungsvertrages 1990 festgelegt wurde.23 Damit wurde in einer ohnehin 19 Zu den verschiedenen Ausformungen des Neoliberalismus siehe Ther, Neue Ordnung. 20 Chris Hann, Propertization und ihre Gegentendenzen. Beispiele aus ländlichen Gebieten
Europas, in: Comparativ 16 (2006) 5/6, S. 84–98, hier S. 92. 21 Ebd. Hann bezieht sich dabei auch auf Franz von Benda-Beckmann u. a., The Properties of Property, in: Dies. (Hg.), Changing Properties of Property, New York 2006, S. 1–40. Aus anderer Perspektive wandte sich Pierre Bourdieu schon in den 1980ern gegen das Leitbild des Homo oeconomicus, als er mit einer Forschungsgruppe das Phänomen der »Vereigenheimung« untersuchte, vgl. Pierre Bourdieu u. a., Der Einzige und sein Eigenheim (hg. v. Margareta Steinrücke), Hamburg 1998. 22 Für Ostdeutschland gibt es Studien zum Wohnen in der DDR und zu Wohnbiografien und -politik nach 1989: z. B. Thomas Topfstedt, Wohnen und Städtebau in der DDR, in: Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens. Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999, S. 419–562; Hannsjörg F. Buck, Mit hohem Anspruch gescheitert. Die Wohnungspolitik der DDR, Münster 2004; Udo Grashoff, Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR, Göttingen 2011; Cortina Gentner, WohnWenden. Wohn- und Wendegeschichten aus Brandenburg, Münster 2007; Tilman Harlander, Wohnungspolitik, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Bundesrepublik Deutschland 1989–1994. Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 11), Baden-Baden 2007, S. 1033–1068; Thomas Großbölting / Rüdiger Schmidt (Hg.), Gedachte Stadt – Gebaute Stadt. Urbanität in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz 1945–1990, Köln u. a. 2015. 23 Dazu gibt es bisher kaum historische Forschung: Jan P. Spannuth, Rückerstattung Ost. Der Umgang der DDR mit dem »arisierten« Eigentum der Juden und die Rückerstattung im wiedervereinigten Deutschland, Essen 2007; Ines Langelüddecke, Brandenburger Friedhofsfreunde. Die Auseinandersetzung zwischen adligen Rückkehrern und Dorfbewohnern nach 1989/90 in generationeller Perspektive, in: Söhnke Grothusen u. a. (Hg.), Generation und Raum. Zur symbolischen Ortsbezogenheit generationeller Dynamiken, Göttingen 2014, S. 165–182. Siehe auch ihren Beitrag in diesem Band sowie die im Abschluss befindliche Doktorarbeit von Anke
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unsicheren Zeit des Umbruchs, in der Arbeitsverhältnisse und andere Gewissheiten des sozialistischen Alltags in Frage gestellt wurden, durch die unklare Regelung der Eigentumsverhältnisse zudem auch das ›Haus‹ als Rückzugsort unsicher. Diese Unsicherheit war in besonderem Maße aus der Spezifik des Wohneigentums entstanden, das – anders als andere Eigentumsformen – durch seine Immobilität geprägt ist. Diese Feststellung mag banal sein, sie ging jedoch mit einer weiteren einher: Die Eigentümer selbst waren mobil. Sie konnten ihr Wohneigentum nicht in Sicherheit bringen, wenn sie z. B. im Nationalsozialismus fliehen mussten oder wenn sie die DDR unter verschiedensten Umständen verließen. Daraufhin gelangten ebenfalls unter verschiedensten Umständen neue Bewohner in die Immobilien, woraus während der DDR-Zeit komplexe Nutzungszusammenhänge entstanden, die der Politikwissenschaftler Dieter Grosser im Jahr 1998 rückblickend als »verworren bis zur Unbegreiflichkeit«24 bezeichnete. Rechtsvorschriften aus der DDR bildeten dabei nur eine relevante Dimension, da sich durch die widersprüchliche SED-Eigentumspolitik und die Handlungen der DDR-Bewohner und -Bewohnerinnen eine undurchsichtige und uneinheitliche Eigentumspraxis etablierte. Licht lässt sich in die verworrenen Verhältnisse am besten anhand eines Beispiels bringen.
III. Das brandenburgische Beispiel als doppelte Erzählung aus gesetzlichen Regelungen und Fallbeispielen vor, während und nach 1989 Am 15. Juni 1990 kam es zur »Gemeinsamen Erklärung«, die als Anlage dem Einigungsvertrag hinzugefügt wurde und die Basis für das Vermögensgesetz bildete.25 Grundsätzlich wurde das Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« festgelegt. Eigentum sollte also – wenn möglich – zurückgegeben werden, womit die über Jahrzehnte entwickelte DDR-Wohnpraxis zur Disposition stand. Für die Durchführung wurden die Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen eingesetzt. Aus juristischer, wirtschaftlicher und administrativer Sicht konnte um die Kaprol-Gebhardt (Universität Potsdam). Anknüpfungspunkte bietet die Literatur zu osteuropäischen Staaten und zur Stadtsoziologie: z. B. Lavina Stan, Transitional Justice in Post-Communist Romania. The Politics of Memory, Cambridge 2013; Dietmar Müller / Hannes Siegrist (Hg.), Property in East Central Europe. Notions, Institutions, and Practices of Landownership in the Twentieth Century, Oxford u. a. 2014; Birgit Glock u. a., Die sozialen Konsequenzen der Restitution von Grundeigentum in Deutschland und Polen, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001) 4, S. 533–550. 24 Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998, S. 227. 25 Zur Geschichte des Gesetzes aus Politik- bzw. Verwaltungsperspektive siehe: Robert Klüsener, Rechtsstaat auf dem Prüfstand. Wiedervereinigung und Vermögensfragen, Berlin 2011. In längerer rechtsgeographischer Perspektive: Karl Martin Born, Die Dynamik der Eigentumsverhältnisse in Ostdeutschland seit 1945. Ein Beitrag zum rechtsgeographischen Ansatz, Stuttgart 2007.
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Jahrtausendwende eine positive Bilanz gezogen werden: Die meisten Anträge waren bearbeitet, der Umbau von der sozialistischen zur privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung weitgehend hergestellt, die ersten Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen konnten geschlossen werden.26 Aber: Diese Perspektive sagt nichts über das soziale Zusammenleben im Alltag aus. Das Vermögensgesetz hatte einen doppelten Anspruch, nämlich den Umbau der Eigentumsordnung zu vollziehen und in moralischer Hinsicht für eine sog. Wiedergutmachung historischen Unrechts zu sorgen.27 Bei letzterem handelte es sich um eine schwierige Aufgabe, u. a. weil sie nicht mit Blick auf Statistiken – die sich zusätzlich als kompliziert erweisen, spätestens sobald die Bundes- und Landesebene verlassen wird – gelöst werden kann, sondern genaue Untersuchungen auf der Mikroebene der Lebenswelt erfordert. Der hier gewählte Mikrokosmos einer Gemeinde am Berliner Stadtrand, die im Folgenden Selsdorf genannt werden soll, ist charakteristisch für bevorzugte Wohnlagen, für die nach 1990 besonders viele Rückgabeforderungen von sog. Alteigentümern gestellt wurden. Welche Formen des ›Zurücklassens‹ und des Entzugs von Wohneigentum gab es vor 1989 und wie wurde der Wohnraum angeeignet? Welche Fälle wurden im Vermögensgesetz von 1990 bzw. danach berücksichtigt und wie wurde das Gesetz in der Praxis der brandenburgischen Gemeinde umgesetzt? Um diese Fragen soll es im Folgenden gehen. Paul Rose, Chef eines großen deutschen Baukonzerns der Weimarer Zeit, musste aufgrund von antisemitischer Verfolgung im April 1933 aus Deutschland fliehen.28 Zurück ließ er die Pläne für die Rose-Siedlung in Selsdorf. Der Bau und Verkauf von insgesamt über 1.000 Einfamilienhäusern hatte bereits 1932 begonnen und wurde in den folgenden Jahren, angeblich ohne dass die »Arisierung« der jüdischen Firmenleitung nach außen sichtbar war, bis 1937 weitergeführt.29 Der Ministerialrat sollte hier neben dem ›einfachen Mann‹ wohnen – das war Roses sozialpolitische Idee, die unter den Nationalsozialisten weiter umgesetzt wurde.30 Die Verfolgung im Nationalsozialismus ist – zeitlich gesehen – die erste Ursache für Eigentumsverlust, die nach 1989 relevant werden sollte (siehe Übersicht 1).
26 Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen (Hg.), Offene Vermögensfragen. Ver-
such einer Bilanz, Berlin 2001. 27 Vgl. Glock u. a., Die sozialen Konsequenzen, S. 533–535. 28 Celina Kress, Zwischen Bauhaus und Bürgerhaus – Die Projekte des Berliner Bauunternehmers [Rose]. Zur Kontinuität suburbaner Stadtproduktion und rationellen Bauens in Deutschland 1910–1970, Doktorarbeit, Technische Universität Berlin 2008, S. 150. Alle Namen und Ortsangaben wurde geändert, da nicht der konkrete Ort, sondern die Praktiken, Mechanismen und Strukturen von Interesse sind. 29 Nicola Bröcker / Celina Kress, Südwestlich siedeln. [Selsdorf] bei Berlin. Von der Villenkolonie zur Bürgerhaussiedlung, 2. erw. Aufl., Berlin 2006, S. 165. 30 Ebd., S. 167. Das bestätigt auch meine Auswertung der Berufsangaben im Selsdorfer Adressbuch von 1938.
196 Kerstin Brückweh
1.
›Zurücklassen‹ und Entzug von Wohneigentum vor 1989
Übersicht 1: Ursachen für Eigentumsverluste vor 1990 1. 2.
Verfolgung im Nationalsozialismus Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone (Bodenreform, SMADBefehle etc.) 3. Vermögensschädigungen zwischen 1949 und 1989 auf Grundlage von Gesetzen und Verordnungen in der DDR a) Flüchtlings-, West- und Umsiedlervermögen (unterschieden nach Verlassen der DDR oder Ostberlins vor und nach dem 10.6.1953 und nach Beachtung der Meldegesetze) b) Vermögensentzug aufgrund von Strafverfahren c) erzwungene Vermögensveräußerungen wegen beantragter ständiger Ausreise d) Zwangsumsiedler innerhalb der DDR (Grenzgebiete, Bergbau, Baulandgewinnung etc.) e) weitere mit Blick auf Enteignungen eingeführte Verordnungen und Beschlüsse (z. B. Verwalterverordnung von 1968, Ministerratsbeschlüsse von 1976 und 1985) 4. Veräußerungen von Vermögenswerten durch die DDR ohne Prüfung der Eigentumsrechte (Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude vom 7. März 1990, sog. Modrow-Gesetz)
Rose hatte den Grund für seine Einfamilienhäuser 1927 von Siegmund von Kuhn gekauft, dessen Familie ein ehemaliges Rittergut besaß.31 Das nach 1945 noch verbliebene Eigentum der von Kuhns wurde im Rahmen der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone enteignet. Ebenfalls enteignet wurde SS-Hauptsturmführer Hans Mader im Rahmen der Entnazifizierung in der SBZ.32 Ein zweiter Grund für Eigentumsverluste waren somit Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone, durch die Bodenreform oder in Folge von Befehlen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD). 1934 kaufte Fritz Gärtner eines der Grundstücke aus der Rose-Siedlung. Später zog er in ein größeres, nicht zu dieser Siedlung gehörendes, aber in derselben Gemeinde gelegenes Haus, das seiner Frau gehörte. Beide flohen 1953 aus der 31 Kress, Zwischen Bauhaus und Bürgerhaus, S. 111. Siehe auch Bröcker/Kress, Südwestlich
siedeln, S. 22–23. 32 ARoV, Akte Mader, Sig. 23174, Kreisarchiv Potsdam-Mittelmark, Belzig. Alle Namen sind anonymisiert worden.
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DDR. Gärtner gab mit der »ständige[n] Belästigung wegen der führenden Position in einem Westberliner Großbetrieb«33 einen wirtschaftlichen Grund für die Ausreise an. Damit gelangt man zum dritten großen Ursachenkomplex, den sogenannten Vermögensschädigungen zwischen 1949 und 1989, die auf der Basis von Gesetzen und Verordnungen in der DDR erfolgten und weiter zu spezifizieren sind (siehe Übersicht 1): Wie Gärtner fühlten sich damals einige in West-Berlin arbeitende Einwohner der Gemeinde durch die Schließung des Grenzübergangs behindert. Insgesamt soll das etwa 65 Prozent der Bewohner betroffen haben, weshalb im Oktober 1952 angeblich über 1.000 Menschen gegen die Grenzschließung protestierten. Von den mehr als 100 verhafteten Demonstranten wurden im Februar 1953 neun zu Zuchthausstrafen verurteilt, zugleich wurde ihnen das Vermögen entzogen.34 Auch später dienten Strafverfahren dazu, als Nebenstrafe den Vermögensentzug zu verhängen. Somit handelt es sich dabei um einen weiteren Grund für Eigentumsverlust in der DDR. Ebenfalls Anfang 1953 verließ der in Selsdorf lebende Simon Hermann die DDR. Wie viele andere Juden ging auch er aufgrund der zunehmenden antisemitischen Stimmung.35 Die unterschiedlichen Motive für das ›Zurücklassen‹ von Eigentum wurden im Vermögensgesetz von 1990 nicht berücksichtigt, vielmehr wurde für relevant erachtet, ob die sog. Flüchtlinge, West- oder Umsiedler die DDR oder Ost-Berlin vor oder nach dem 10. Juni 1953 verlassen hatten und ob sie sich den Meldegesetzen folgend abgemeldet hatten. Außerdem kam es zu weiteren Eigentumsverlusten durch Gesetze und Verordnungen in der DDR, so etwa erzwungene Vermögensveräußerungen wegen beantragter ständiger Ausreise oder aufgrund von Zwangsumsiedlung in der DDR, z. B. für Bergbau, Baulandgewinnung oder Sicherung der Grenze. Weitere Verordnungen wurden in der DDR mit dem (versteckten) Ziel der Enteignung eingeführt; dazu gehörten die Verwalterverordnung von 1968 sowie Ministerratsbeschlüsse von 1976 und 1985 (siehe Übersicht 2). Weiterhin sorgte das Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude vom 7. März 1990, das sog. Modrow-Gesetz, für vielfältige Veränderungen mit Blick auf das Wohneigentum. Offiziell gehört es zwar noch in die Zeit der DDR, aber es war deutlich durch den Umbruch geprägt und kann somit als eine gesonderte und damit vierte große Ursache für Eigentumsverluste bzw. -ver33 Formular zur Feststellung und Beweissicherung von Vermögensschäden, 1969, Fritz Gärt-
ner, Privatbesitz. 34 Hierzu existieren unterschiedliche Zahlenangaben: Kathrin Heilmann nennt ca. 2.000 Demonstranten und mehr als 200 Verhaftungen (Kathrin Heilmann, Der Prozess gegen ›Saboteure und Schädlinge‹ aus [Selsdorf] im Februar 1953, [Selsdorf] 2012), wohingegen Günter Käbelmann in seiner Chronik mehr als 1.000 Teilnehmer und rund 100 Verhaftungen an (Günter Käbelmann, [Selsdorfer] Chronik von ca. 50.000 v. Chr. bis heute, 2. Aufl., [Selsdorf] 2014, S. 29). Nur bei den neun Verhaftungen sind sich die beiden Autoren einig. 35 Selsdorf war kein Sonderfall: Zum Jahreswechsel 1952/53 verließen zahlreiche Juden die DDR. Vgl. Moshe Zuckermann (Hg.), Zwischen Politik und Kultur. Juden in der DDR, 2. Aufl., Göttingen 2003.
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änderungen angesehen werden. Die genannten Regelungen, Verordnungen und Gesetze verweisen bereits auf die enge Verflechtung von Enteignung und Aneignung von Wohneigentum in der DDR und damit auf den nächsten Abschnitt.
2.
Aneignung von Wohneigentum in der DDR
Übersicht 2: Das Eigentum betreffende Regelungen in der DDR 1950 1952 1955 1958 1961 1968 1976
Gesetz über den Aufbau der Städte in der DDR (Aufbaugesetz) Verordnung zur Sicherung von Vermögenswerten Wohnraumlenkungsordnung (1967 neu formuliert) Anordnung (AO) Nr. 2 (Verlassen der DDR nach dem 10.6.1953) Gesetz zur Verteidigung der DDR (Verteidigungsgesetz) Verwalterverordnung Ministerratsbeschluss »Zur weiteren Durchführung der Grundlinie der Behandlung des in der DDR befindlichen Vermögens von Berechtigten aus kapitalistischen Staaten und Westberlin« 1984 Gesetz über die Bereitstellung von Grundstücken für Baumaßnahmen (Baulandgesetz) 1985 Ministerratsbeschluss zur »Prüfung der gesetzlichen Regelungen über den Verkauf von ›Westgrundstücken‹ und Festlegungen, daß die örtlichen Organe Entscheidungen im Rahmen der schöneren Gestaltung unserer Städte und Gemeinden zum Verkauf und zur Nutzung dieser Grundstücke treffen können« 1990 Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude (sog. Modrow-Gesetz)
Beide Häuser der Gärtners wurden in der DDR unter staatliche Verwaltung gestellt. Hier gibt es die erste Abweichung von den Vorschriften: Denn nach der Vermögenssicherungsverordnung von 1952 hätte das Haus von Fritz Gärtner staatlich verwaltet werden müssen, da er sich den Meldevorschriften gemäß abgemeldet hatte. Seine Frau hingegen, laut Grundbuch Eigentümerin des anderen Hauses, war ohne Abmeldung geflüchtet. Für diesen Fall sah die Vermögenssicherungsordnung die Beschlagnahmung der Vermögenswerte und die entschädigungslose Enteignung vor. Die von der Vorschrift abweichende Praxis ist vermutlich zwei Dingen geschuldet: der hohen Zahl der ›Republikfluchten‹ in Selsdorf in den 1950ern und der von der zuständigen Kommunalen Wohnungsverwaltung geäußerten Beschwerde über fehlende klare Anweisungen zur Behandlung des
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Vermögens von ›Republikflüchtlingen‹.36 Die Chronik der Gemeinde gibt bis 1961 insgesamt 4.800 ›Republikflüchtlinge‹ an,37 wobei die Bevölkerungsentwicklung ohnehin starken Schwankungen unterworfen war: Nach Kriegsende lebten ca. 11.000 Einwohner und Einwohnerinnen in der Gemeinde; bis zum Mauerbau stieg die Zahl auf 20.000 an, um dann bis 1989 wieder auf knapp 12.000 zu sinken. Heute liegt die Einwohnerzahl erneut bei knapp 20.000.38 Die zur Wiedervereinigung in Gärtners Häusern wohnenden Mieter waren 1961 bzw. 1976 eingezogen.39 Im Mietvertrag standen Gärtners als Eigentümer, vertreten durch die VEB Wohnungsverwaltung Selsdorf. Einzelheiten der Wohnraumzuweisung sind unbekannt. Bei den Mietern beider Häuser schien es sich um sog. kleine Leute gehandelt zu haben, über deren Involviertheit in das DDR-Regime nichts bekannt ist. Die Wohnraumvergabe erfolgte durch die 1955 erlassene und 1967 neu formulierte Wohnraumlenkungsordnung.40 In der Regel bestimmten die Abteilungen für Wohnungspolitik der Räte, der Stadtbezirke und Kreise über die Vergabe von Wohnungen. Sie wurden nach politischen, ökonomischen und sozialen Kriterien vergeben. Orientierungspunkte waren einerseits das Ideal einer gerechten Wohnraumzuteilung u. a. in Bezug auf das Verhältnis von Bewohnern und Wohnungsgröße, andererseits pragmatische Nützlichkeitserwägungen. Die Errichtung einer sowjet-sozialistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in der DDR war nach Auffassung der SED bereits die beste Wohnungs- und Wohnraumversorgungspolitik.41 Die Wohnpolitik der DDR sollte dafür sorgen, dass aufgrund der staatlich gelenkten Vergabe keine nachhaltige sozio-ökonomische Differenzierung der Bevölkerung nach ›normalen‹ und ›exklusiven‹ Wohngebieten stattfinden sollte.42 Damit einher ging die Einheitsmiete, die über vier Jahrzehnte stabil niedrig war und als herausragende soziale Errungenschaft der DDR-Regierung dargestellt wurde.43 Sie führte zugleich zu einem zentralen Problem, denn die niedrigen Mietpreise waren – so Thomas Topfstedt – »eine volkswirtschaftliche Zeitbombe«, die von riesigen Dauersubventionen abhing, da kaum ein Viertel der jährlich aufzubringenden Gelder für die Instandhaltung 36 Rat der Gemeinde [Selsdorf], Analysen über Republikfluchten 1956–1961, Analyse über die
Bevölkerungsbewegung, April 1956, Sig. 51.28/1, Kreisarchiv Potsdam-Mittelmark, Belzig. 37 Käbelmann, [Selsdorfer] Chronik, S. 33. 38 Anlage zum Flächennutzungsplan für [Selsdorf], 2. Entwurf, abgedruckt in: Gemeinde [Selsdorf], (Hg.), Planen, Bauen, Wohnen und Arbeiten in [Selsdorf], o. J. [2005], S. 4. 39 ARoV, Akte Gärtner, Mietvertrag 1976, Sig. 34397, Kreisarchiv Potsdam-Mittelmark, Belzig. Gärtner, Mietvertrag 1961, Privatbesitz. 40 Siehe hier und im Folgenden Grashoff, Schwarzwohnen, S. 13; Topfstedt, Wohnen und Städtebau, S. 439–440. 41 Hannsjörg F. Buck, Wohnungsversorgung, Stadtplanung und Stadtverfall, in: Eberhard Kuhrt u. a. (Hg.), Die wirtschaftliche u. ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, Opladen 1996, S. 67–93, hier S. 67. Grundlegend: Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, in: Karl Marx / Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Berlin-Ost 1958, S. 519–602. 42 Topfstedt, Wohnen und Städtebau, S. 423. 43 Ebd., S. 441.
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und Bewirtschaftung des Wohnungsbestandes über sie aufgebracht wurden.44 Abhilfe sollte die Verwalterordnung von 1968 bringen. Denn während in den 1950ern die enteigneten Grundstücke von Flüchtlingen mit der Begründung der möglichen Wiedervereinigung vom Verkauf ausgenommen wurden, änderte sich dies nach dem Mauerbau. Nun konnte Flüchtlingsvermögen dann enteignet und an DDR-Bewohner weiterverkauft werden, wenn es überschuldet war – und bei der Überschuldung wurde häufig nachgeholfen, weshalb man von kalten Enteignungen sprach.45 Das gleiche Ziel der weiteren Reduzierung des Westeigentums hatten die Ministerratsbeschlüsse von 1976 und 1985 sowie das 1984 erlassene Baulandgesetz. Andere Enteignungsgrundlagen waren stärker zweckgerichtet (z. B. für den Mauerbau). Die geringen Mieten werden häufig für den seit den 1970ern akut werdenden flächendeckenden Verfall der Wohnungsbausubstanz im Altbaubereich46 und für die Übertragung gegen einen geringen Kaufpreis durch die Kommunale Wohnungsverwaltung an die Mieter enteigneter oder staatlich verwalteter Häuser angeführt. In Selsdorf war der Eigenheimverkauf bereits seit den 1950ern Praxis. Allerdings durften den jeweiligen Mietern nur Häuser zum Eigenbedarf von begrenzter Größe angeboten werden (max. fünf Zimmer, Grundstücke von höchstens 1.500 Quadratmetern). Verkauft wurde lediglich das Haus, nicht aber das Grundstück, dafür wurde ein Nutzungsrecht vergeben, das ins Grundbuchblatt eingetragen werden sollte.47 Neben die Möglichkeit des Kaufes trat die der Überlassung von sog. Westgrundstücken, die in den Westen geflüchteten Eigentümer blieben häufig im Grundbuchblatt stehen.48 Diese sog. Überlassungsverträge machten aus den Mietern Fast-Eigentümer, die teilweise umbauten und sich häufig mit großer Sorgfalt um ihr Anwesen kümmerten.49 Verordnungen und Ideale der DDR verweisen also nur auf eine Seite des Umgangs mit Wohneigentum, die Praxis auf eine andere Seite wie im Folgenden an der Gemeinde Selsdorf zu erkennen ist.50 Ein Beispiel für die Privilegierung von Regimevertretern zeigt sich am Haus von Simon Hermann. Dort zog direkt nach dessen Flucht die Direktorin der Parteihochschule der SED ein. Eine andere Form der Wohnraumaneignung schildert der gelernte Elektromechaniker Peter Busch. Er suchte sich bereits mit 17 Jahren 44 Ebd. 45 Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen (Hg.), Offene Vermögensfragen. Ver-
such einer Bilanz, Berlin 2001, S. 11. 46 Buck, Wohnungsversorgung, S. 67–68. 47 KWV, Vermerk über Hausverkäufe 1982/83, Sig. 60.31/12, Kreisarchiv Potsdam-Mittelmark, Belzig. 48 Vgl. z.B. Topfstedt, Wohnen und Städtebau, S. 422–423. 49 So z. B. die Darstellung in einem Bericht in der Zeitschrift Spiegel von 1991: Eigentum. Alles meins. Alteigentümer aus dem Westen drängten Ostdeutsche aus ihren Häusern, in: Der Spiegel 47/1991, S. 33–38, hier S. 38; Daniela Dahn, Wir bleiben hier oder wem gehört der Osten. Vom Kampf um Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern, Reinbek b. H. 1994, S. 122. 50 Unterschiedliche Handlungsspielräume jenseits von Verordnungen und Gesetzen stellt Udo Grashoff in seinem Buch Schwarzwohnen dar.
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eine Laube, um ungestört seinem Hobby nachgehen zu können. Damals, d. h. 1969, gab es nach Angaben Buschs immer noch 800 verwaiste, verwilderte Grundstücke in Selsdorf: »Die Gemeinde war froh, wenn sich ein Dummer fand, der ihnen so eine Müllkippe abnahm. […] Besondere Beziehungen gehörten wahrlich nicht dazu, einen Pachtvertrag zu bekommen.«51 Später erhielt er dafür einen Überlassungsvertrag und, als das erste Kind unterwegs war, eine Baugenehmigung.52 Ein anderes Beispiel stellt das Ehepaar Schlüter dar. Es erhielt 1952 von der Wohnungsverwaltung einen Mietvertrag für ein Einfamilienhaus in Selsdorf, das wie bei Gärtners unter staatlicher Verwaltung stand. Schlüter beteiligte sich früh am Aufbau der DDR und der SED, fiel allerdings in Ungnade und war nach der Verbüßung einer Zuchthausstrafe zunächst nur noch geduldet, bis er in den 1970ern wieder in die SED aufgenommen wurde und in den 1980ern einen hohen Orden der DDR erhielt – trotzdem war er als Kritiker der SED-Elite bekannt. Das Ehepaar wohnte ab 1952 im selben Haus und erhielt 1971 einen sog. Überlassungsvertrag. Auf der Grundlage des Baulandgesetzes von 1984 wurde das Grundstück schließlich im Juli 1989 enteignet und in Volkseigentum überführt, aber nie zu Bauland umgewandelt. Im Februar 1990 schlossen Schlüters mit der Gemeinde einen Kaufvertrag über das Wohnhaus ab. Im Juni 1990 konnten Schlüters das Grundstück käuflich erwerben. Die Möglichkeit, nicht nur das Eigenheim, sondern nun auch den Grund und Boden zu erwerben, war durch das Gesetz über den Verkauf volkseigener Gebäude möglich geworden. Durch dieses sog. Modrow-Gesetz vom 7. März 1990 fanden auch dann noch Verkäufe statt, als bereits über die Vermögensfragen für die Wiedervereinigung verhandelt wurde. Damit veränderten sich die Eigentumsverhältnisse noch einmal erheblich. In ähnlicher Weise wie bei den Familien Schlüter oder Busch hatten DDRBewohner und -Bewohnerinnen ihren Wohnraum erworben oder gebaut, waren dadurch aber häufig nicht ins Grundbuchblatt eingetragene Eigentümer geworden oder besaßen nur das Gebäude, nicht aber das Grundstück. Das Bundesamt zur Regelungen offener Vermögensfragen gab für den Zeitraum von 1963 bis 1977 ca. 15.000 Überlassungsverträge an.53 In der Bilanz aus dem Jahr 2001 stellte das Bundesamt zudem fest, dass sich von den ca. 14,5 Millionen Flurstücken in der DDR einschließlich Ost-Berlin »zuletzt« noch 8,8 Millionen in Privateigentum befanden. Statistische Angaben sind problematisch und auf den regionalen Ebene zumeist gar nicht mehr erhoben worden. Eine weitere – ebenfalls problematische – Zahlenquelle, das Statistische Jahrbuch der DDR von 1990, zeigt von 1971 bis 1989 einen kontinuierlichen Rückgang des Privateigentums von 62 auf 41 Prozent (d. h. nahezu 2,9 Mio. Wohnungsbestand in Privateigentum 1989) – was vermutlich auf den Neubau von Mietwohnungen in dieser Zeit zurückzuführen
51 Dahn, Wir bleiben hier, S. 151. 52 Ebd., S. 149. 53 Hier und im Folgenden: Bundesamt (Hg.), Offene Vermögensfragen, S. 14 und 29.
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ist.54 In kleineren Gemeinden gab es nach Angaben aus der DDR-Statistik wesentlich mehr Privateigentum als in Städten: So habe das Wohnungseigentum in Gemeinden mit bis zu 2.000 Einwohnern im Jahr 1987 immerhin 74 Prozent betragen.55 Bei aller Vorsicht mit Blick auf diese Zahlen, kann aufgrund der Größe der Beispielgemeinde Selsdorf und ihrer vorwiegend aus Ein- und Zweifamilienhäusern bestehenden Siedlungsstruktur von einer relativ hohen Privateigentumsdichte ausgegangen werden. Mit Blick auf den Umfang und die Art zeigen sich deutlich die anfangs erwähnten verworrenen Verhältnisse am Ende der DDR. Wie wurden die unterschiedlichen bzw. teilweise widersprüchlichen Anliegen der Alteigentümer und der Neueigentümer, Besitzer und Nutzer durch das Vermögensgesetz berücksichtigt, und wie wurden sie in der Praxis umgesetzt?
3. Die Regelungen des Vermögensgesetzes Der sperrige Begriff »offene Vermögensfragen« ging auf den Grundlagenvertrag von 1972 zurück bzw. genauer auf ein Zusatzprotokoll. Damit sollte aus der Sicht der Bundesregierung verhindert werden, dass aus der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen den beiden Staaten die Anerkennung der Zwangsmaßnahmen gegen Vermögenswerte abgeleitet wurde. Die Vermögensfragen blieben daher »offen«.56 Im Dezember 1989 kam Helmut Kohl in Dresden mit Hans Modrow überein, dass zur Klärung dieses Themas eine »Expertengruppe zur Klärung offener Vermögensfragen« eingesetzt werden solle. Erst am 21. Februar 1990 kam es zu einer Ersten Runde dieser Expertengespräche. Grundsätzlich wollte die Bundesregierung eine Rücknahme oder zumindest weitgehende Reform der bestehenden Eigentumsverhältnisse, wohingegen die DDR-Regierung die Anerkennung der in der DDR geschaffenen Verhältnisse anstrebte. Die Gespräche begannen zögerlich. Im Anschluss an die erste Runde hatte die Regierung Modrow am 1. März 1990 eine Erklärung zur Eigentumsfrage gegeben, in der sie ihre Position klarstellte, die lautete: Wahrung des gesamten Besitzstandes. Als Argumente wurden angeführt, dass die DDR die Hauptlast der Reparationen an die Sowjetunion getragen hätte und dass sich außerdem Ansprüche an die Bundesrepublik aufgrund des sog. Arbeitskräfteentzugs bis zum Bau der Mauer 1961 ergeben würden. Die Bundesrepublik reagierte darauf zunächst nicht, was damit zusammenhing, dass man ungern Zugeständnisse an die Modrow-Regie54 Statistisches Jahrbuch der DDR 1990, S. 201, abgedruckt in: Buck, Mit hohem Anspruch
gescheitert, S. 418. 55 Statistisches Taschenbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1990, S. 78, abgedruckt in: Topfstedt, Wohnen und Städtebau in der DDR, S. 419–562, hier S. 531. 56 Protokollvermerk des Verhandlungsführers der DDR, Staatssekretär Dr. Michael Kohl, zum Vertrag vom 1. September 1972, veröffentlicht in: Gesetzblatt DDR Teil II Nr. 5 vom 13. Juni 1973, S. 27, zitiert nach Grosser, Wagnis, S. 227.
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rung machen wollte, sondern mit dem am 18. März demokratisch zu wählenden künftigen Volkskammerpräsidenten verhandeln wollte. Weder die nächste Sitzung am 29. und 30. März 1990, in der noch immer die alte Delegation vertreten war, noch die Gesprächsrunde vom 18. und 19. April, bei der die neue Delegation noch keine Richtlinien von der Regierung erhalten hatte, führten zu Ergebnissen. Dieter Grosser kam 1998 zu der Feststellung, dass es der Bundesregierung noch nicht einmal gelungen war, brauchbare Informationen über den Sachverhalt zu erhalten. Sie wusste nicht, wie viele Grundstücke enteignet oder unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden waren; über den umfangreichsten und schwierigsten Teil, die Enteignungen vor 1949, war noch nicht einmal gesprochen worden.57 Die folgende Runde am 3. Mai 1990 wurde deshalb nicht mehr auf der Ebene der Ministerialdirigenten verhandelt, sondern Staatssekretär Kinkel selbst führte die Gespräche. Grundsätzlich vertrat auch die Regierung de Maizière dieselbe Meinung wie ihre Vorgänger, aber nun wurden verschiedene Möglichkeiten diskutiert. Trotzdem kam man nicht zu einer Einigung, bevor der Staatsvertrag am 18. Mai 1990 unterzeichnet wurde. Weitere Gespräche fanden am 8. und am 13./14. Juni 1990 statt. Mittlerweile bestand erheblicher Zeitdruck, da eine fehlende Lösung der Vermögensfragen, die Ratifizierung des Einigungsvertrages gefährden konnte. Am 15. Juni 1990 kam es schließlich zu einer Gemeinsamen Erklärung der Regierungen, die als Anlage III dem Einigungsvertrag hinzugefügt wurde und auf deren Grundlage das Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen erarbeitet wurde. Die Regelungen, die in Bezug auf das Wohneigentum und Grundstücke festgelegt wurden, lauteten wie folgt:58 – – – – – –
Regelungen von 1945 bis 1949 werden nicht mehr rückgängig gemacht (v. a. Bodenreform und Enteignungen aufgrund von SMAD-Befehle) Grundsätzlich gilt Rückgabe vor Entschädigung unter Berücksichtigung bestimmter Fallgruppen (Gemeingebrauch, redlicher Erwerb, Häuslebauer etc.) Staatliche Verwaltung wird aufgehoben, Alteigentümer erhalten Verfügungsgewalt über ihr Eigentum Erwerb aufgrund unlauterer Machenschaften wird rückgängig gemacht (Machtmissbrauch, Korruption, Nötigung, Täuschung etc.) Mieterschutz und Nutzungsrechte bei betroffenen Grundstücken bleiben gewahrt Vermögensentziehungen im Zusammenhang mit rechtsstaatswidrigen Strafverfahren werden in justizförmigen Verfahren korrigiert.59
57 Grosser, Wagnis, S. 238. 58 Siehe den wörtlichen Abdruck ebd., S. 336–339. 59 Weitere Regelungen wurden in Bezug auf Unternehmen und bewegliche Vermögenswerte
festgelegt.
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Das Gesetz, seine Novellierungen und Ergänzungen sollten dazu beitragen, eine schnelle Belebung der Investitionstätigkeit anzuregen – d. h. die Alteigentümer sollten als Investoren am Wiederaufbau beteiligt werden.60 Es sollte zudem den sozialen Frieden gewährleisten sowie finanzielle und außenpolitische Aspekte berücksichtigen. Als kontrovers erwies sich jedoch der Ausschluss der Enteignungen von 1945 bis 1949, d. h. vor allem die fehlende Berücksichtigung der Bodenreform. Aufgrund der heutigen Aktenlage ist unklar, wie es dazu kam: Einerseits wird dies als Forderung der Sowjetunion angeführt, andererseits wird behauptet, dass die Bundesregierung diese Entscheidung traf, um die Vereinigung finanzieren zu können.61 Als ebenfalls sehr umstritten stellte sich das grundlegende Prinzip »Rückgabe vor Entschädigung« heraus.62 Alle Regelungen und auch das Gesetz wurden unter erheblichem Zeitdruck erstellt – so sind wohl auch das erst später ergänzte Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz (EALG) und das Sachenrechtsbereinigungsgesetz (SachenRBerG)63 zu erklären – und sie wurden in großer Unkenntnis der Sachlage getroffen. Wie sah nun die Praxis aus? Wer meldete Ansprüche an? Wie wurden sie entschieden?
4. Das Vermögensgesetz in der Praxis Dass die Festlegung des Prinzips ›Rückgabe vor Entschädigung‹ für Aufregung gesorgt hatte, lag u. a. an der Medienberichterstattung, der in der Präsentation der unterschiedlich gelagerten Fälle von Eigentumsansprüchen eine wichtige Funktion zukam.64 In frühen Zeitungsberichten, d. h. aus dem Jahr 1989 und der ersten Jahreshälfte 1990, also vor der Regelung der offenen Vermögensfragen, wurde in erster Linie über die komplizierten Eigentumsverhältnisse und die ersten zumeist freundlichen Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen berichtet.65 Der Ton änderte sich mit dem Bekanntwerden der »Gemeinsamen Erklärung« 60 Bundesamt, Bilanz 2001, S. 109. 61 Zur allgemeinen Darstellung siehe Grosser, Wagnis, S. 343; Andreas Rödder, Deutschland
einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 328–330; umstritten: Constanze Paffrath, Macht und Eigentum. Die Enteignungen 1945–1949 im Prozeß der deutschen Wiedervereinigung, Köln 2004. 62 Dies stieß auch innerhalb der bundesdeutschen Diskussionen auf Widerstand, so forderte die West-SPD z. B. die Umkehrung in »Entschädigung vor Rückgabe«. Grosser, Wagnis, S. 340. 63 Das EALG regelte nicht nur die Entschädigung nach dem Vermögensgesetz, sondern ließ nun doch auch Entschädigungen für Enteignungen während der Besatzungszeit zu. Bis dahin war also noch gar nicht klar, wie eine Entschädigung aussehen konnte. 64 Ausgewertet wurden: Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel, Die Welt, Berliner Morgenpost, Berliner Zeitung, Märkische Allgemeine Zeitung, Potsdamer Neueste Nachrichten – plus einiger Zusatzfunde aus dem Selsdorfer Gemeindearchiv (The Nation u. a.). 65 Siehe z. B. Kuno Kruse / Birgit Schwarz, Wem gehört die DDR? Mit dem Verfall des sozialistischen Systems steht die sozialistische Eigentumsordnung zur Disposition, in: Die Zeit vom 16.3.1990.
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vom 15. Juni 1990. Nun wurde zunehmend einerseits das Bild des raffgierigen Alteigentümers gezeichnet, der zumeist in den ›alten‹ Bundesländern vermutet wurde, und andererseits das Bild des unschuldigen, fleißigen und getäuschten Ostdeutschen: »DDR-Bürger haben Ersparnisse in Ein- und Zweifamilienhäuser gesteckt, haben Grundstücke vom Staat gekauft oder sie zur Nutzung überlassen bekommen,« schrieb z. B. der Spiegel am 18. Juni 1990.66 Nun aber wollten »Westler mit dem Zweithaus in der Toskana«, die ihr in der DDR zurückgelassenes Eigentum längst abgeschrieben hatten, darauf zugreifen und sich bereichern. Ohne Rücksicht auf die Empfindungen der Bewohner hätten Anwälte der Eigner oder diese selbst in allen Städten der DDR Grundstücke inspiziert, Anspruch auf Häuser erhoben und somit »Angst und Schrecken« verbreitet.67 Neben dieser Gegenüberstellung von Ost- und Westdeutschen wurde ein zweites Bild in den Medienberichten verbreitet: Es gehe hier nicht etwa um die Protagonisten des DDR-Regimes, die sich schuldig gemacht haben, sondern um die einfachen Leute – oder, wie das Schwäbische Tagblatt am 28. August 1990 berichtete, um »eine Lawine von Prozessen ›ausgerechnet zwischen den kleinen Leuten in West und Ost‹.«68 Wird der Blick nun auf die konkrete Bearbeitung der Fälle in der Praxis gerichtet, so ergibt sich ein anderes Bild. 2001 veröffentlichte das Bundesamt zur Regelung offener Vermögensfragen eine Bilanz, die vor dem Hintergrund der Mediendarstellungen ein überraschendes Ergebnis liefert:69 Hier wird deutlich, dass es zu wesentlich weniger Rückübertragungen kam, als es der veröffentliche Diskurs suggerierte: Nur 22 Prozent aller Anträge wurden so entschieden. Bei je weiteren 5 Prozent wurde die staatliche Verwaltung aufgehoben oder auf Entschädigung erkannt. 68 Prozent der Anträge wurden abgelehnt. Weitere Statistiken zeigen zudem, dass es nur verhältnismäßig wenig Widerspruchsverfahren und Gerichtsprozesse gab und dass diese zumeist die Entscheidungen der Behörden bestätigten. Dieses Ergebnis war allerdings erst aus der Rückschau erkennbar. Aus der Perspektive der Zeitgenossen konnte gerade aufgrund der in den Medien gezeichneten Bilder und des Auftretens der Alteigentümer die Verunsicherung und auch die Angst vor dem Verlust des Eigentums oder des Wohnraums zentral gewesen sein. Dazu gibt es bisher keine systematischen Forschungen, die folgenden Ausführungen stehen beispielhaft für eine Gemeinde am Stadtrand von Berlin. Nach den Zahlen, die auf der Basis der heute archivierten Akten des zuständigen Amtes für offene Vermögensfragen erstellt wurden, existierten in Selsdorf
66 Ein Land wird verteilt, in: Der Spiegel 15 vom 18.6.1990. 67 Bundesamt, Bilanz 2001, S. 105. 68 Gärtner, Peter. In [Selsdorf] geht die Angst um. Für eine Million DDR-Häuser werden
Besitzansprüche aus dem Westen erwartet – ›Soziale Katastrophe‹, in: Schwäbisches Tagblatt (Tübingen) vom 28.8.1990. 69 Hier und im Folgenden: Bundesamt, Bilanz 2001, S. 108.
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ca. 1.150 Anträge auf Aufhebung der staatlichen Verwaltung und ca. 2.000 auf Rückübertragung von Grundstücken – dabei konnte es sich um bebaute oder unbebaute Grundstücke handeln. Nur auf bebaute Grundstücke bezog sich eine Studie von Stadtsoziologen aus den Jahren 1999 bis 2001, sie ging von 3.239 bebauten Grundstücken in Selsdorf aus, von denen für 1.912 Anträge nach dem Vermögensgesetz gestellt wurden.70 Auch wenn innerhalb der Ämter keine Statistiken erstellt wurden, sondern diese erst im Nachhinein auf der Basis der Archivakten rekonstruiert werden müssen, so lässt sich dennoch als Tendenz festhalten, dass die Gemeinde durch relativ viele Anträge gekennzeichnet war. Gleichzeitig gab es in Selsdorf aufgrund der geschilderten hohen Zahl der ›Republikfluchten‹ tatsächlich besonders viele Antragsteller aus den alten Bundesländern. Selsdorf war somit prädestiniert für das im medialen Diskurs thematisierte Aufeinandertreffen von West- und Ostdeutschen. Außerdem gab es in Selsdorf eine sehr engagierte und zunehmend organisierte Bewegung von Betroffenen. Welche Erfahrungen machten die Einwohner und die sog. Alteigentümer mit dem Vermögensgesetz in Selsdorf? Zur Beantwortung dieser Frage soll abschließend ein Blick auf die bereits entwickelten Fallbeispiele geworfen werden. Im Fall von Frau Gärtner wurde die staatliche Verwaltung für das Haus aufgehoben. Die 1961 eingezogenen Mieter blieben wohnen und verstarben Mitte der neunziger Jahre. Ihr Sohn wohnte mit seiner Frau und zwei Kindern dort weiter. Zwischen Mieter und Eigentümer bestand ein sachliches bis freundliches Verhältnis, am Haus wurden grundlegende Reparaturarbeiten und Sanierungen, allerdings keine vollständige Modernisierung durchgeführt. Im Jahr 2010 wurde dem Sohn wegen Eigenbedarfs mit einer einjährigen Frist gekündigt, er erwarb nach der Kündigung im selben Ort ein Reihenhaus. Dieses Beispiel zeigt eine langsame, konfliktarme Umsetzung der durch den Systemwechsel festgelegten Regelungen in die Praxis. Bei Betrachtung der Nachbarschaft bzw. der Straße scheint dies allerdings nur eins von wenigen Häusern mit einem so langen Übergang gewesen zu sein. Ein anderes Beispiel: Zum Inbegriff des geschäftstüchtigen Westdeutschen sollte der Rechtsanwalt und Immobilienhändler Erwin Schulze werden. Sein Weg kreuzte 1998 den von Fritz Gärtner. Denn Gärtner hatte auch für das zweite zurückgelassene Haus die Aufhebung der staatlichen Verwaltung beantragt. Diese wurde nach dem Vermögensgesetz zum 31. Dezember 1992 aufgehoben, die 1976 eingezogenen Mieter blieben wohnen. 1994 kam die Nachricht, dass die Erben des Bauunternehmers Paul Rose einen Antrag auf Rückübertragung laut Vermögensgesetz auf sein Haus gestellt hatten.71 Dieser späte Antrag – der Stichtag für Rückgabeforderungen war Ende 1992 gewesen – war dadurch möglich, dass die Jewish Claims Conference zunächst lediglich per Globalantrag Ansprü70 Glock u. a., Die sozialen Konsequenzen, S. 542. 71 Schreiben des Landkreis Potsdam-Mittelmark an den Notar von Fritz Gärtner, 14.11.1995,
Privatbesitz.
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che auf alle ehemals jüdischen Vermögenswerte angemeldet hatte und diese nun konkretisierte. Ende 1996 wies das Brandenburgische Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen ihren Antrag zurück. Verfahrensbevollmächtigter für die Rose-Erben und die Jewish Claims Conference war Erwin Schulze,72 der zugleich verfassungsrechtliche Bedenken anmeldete und Widerspruch gegen die Entscheidung einlegte. Die Entscheidung des Amtes basierte auf der umstrittenen Annahme, dass die Erwerber der im NS enteigneten Häuser dann Eigentümer bleiben sollten, wenn sie ihre Häuser zum selben Preis erworben hatten wie den, den Rose zuvor verlangt hatte.73 Zentral wurde die Person Erwin Schulze, der anscheinend in keiner persönlichen Beziehung zu den Rose-Erben stand. Im Januar 1998 erhielt Fritz Gärtner wie alle anderen Eigentümer der gut 1.000 Häuser umfassenden Rose-Siedlung einen Brief. Schulze stellte sich als alleiniger Vertreter der Erbengemeinschaft und der Jewish Claims Conference vor, nahm Bezug auf die Entscheidung, die den Anspruch zurückgewiesen hatte, verwies auf seinen eingelegten Widerspruch und seine Bereitschaft, die Angelegenheit bis zum Bundesverfassungsgericht zu bringen. Die ganze Auseinandersetzung könne – so Schulze – eine »erhebliche Verfahrensdauer« mit sich bringen, deshalb bot er eine außergerichtliche Einigung an. Dass Schulze allein an finanziellem Gewinn interessiert war, wurde durch sein Angebot deutlich, Gärtner auch bei Verkaufsinteressen unterstützen zu wollen: »Hierfür gibt es erfahrungsgemäß nur wirtschaftliche Lösungen. Rein rechtlich ist da wenig zu machen.«74 Gärtner lehnte ab, die Eigentumsfrage scheint für dieses Haus bis heute nicht geklärt. Andere stimmten der außergerichtlichen Regelung zu. Schulze gab nach Zeitungsberichten an, dass mindestens fünfstellige Summen flossen und er prozentual beteiligt wurde. Gegenüber der Zeitung Die Welt äußerte er im Jahr 2005: »Es ist doch nicht verboten, Geld zu verdienen.«75 »Unmoralisch« findet das hingegen Peter Busch.76 Er wohnt bis heute in seinem Haus. Dafür musste er mehrere Prozesse führen. Außerdem setzte er sich mit großem persönlichen Engagement für sein Haus, aber auch für andere Betroffene ein, organisierte rechtlichen Beistand, engagierte sich in der Lokalpolitik und war eine der zentralen Figuren der Jubiläumsveranstaltung im Jahr 2015. Der Welt sagte Busch im Jahr 2004, dass die alteingesessenen Bürger sich an den Rand gedrängt fühlten: »Die Verletzungen, die die Einheit für viele gebracht habe, sind hier noch nicht verheilt.«77 Wenn man heute mit ehemaligen DDR-Bewohnern 72 Brief von Erwin Schulze an Gärtners Notar vom 12.1.1998, Privatbesitz. 73 Vgl. die Darstellung bei Katharina Mohr, Angst in der Einfamilienhaussiedlung, in: Die Welt
7.8.2005, http://www.welt.de/print-wams/article130552/Angst-in-der-Einfamilienhaussiedlung. html [6.5.2016]. 74 Brief von Erwin Schulze an Gärtners Notar vom 12.1.1998, Privatbesitz. 75 Mohr, Angst in der Einfamiliensiedlung. 76 Christian Rath, Mensch [Schulze]. Streit um Grundstücke in [Selsdorf], in: taz 24.3.2005. 77 M. Lukaschewitsch, Die Wunden sind noch nicht verheilt. [Selsdorf] im Wandel. Unter den 18.000 Einwohnern nur noch 3000 Alteingesessene, in: Die Welt vom 9.11.2004.
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spricht, dann gibt es – anders als von Busch prophezeit – durchaus Stimmen, die es als gerecht empfinden, dass die DDR-Eigentümer ihre Häuser wieder abgeben mussten. So finden auch einige der Alt-Selsdorfer, die immer noch in dem Ort wohnen, die neuen Nachbarn besser als die alten.78 Dass die lange Geschichte der ›Wende‹ durchaus unterschiedliche Perspektiven und Meinungen enthält, zeigen auch die Regelungen in den drei noch verbliebenen Fallbeispielen: Die Abwicklung des Hauses der Eheleute Schlüter verlief nicht ohne Ärger. Der Anwalt der Eheleute leitete 1992 in einem Schreiben an das Amt zur Regelung offener Vermögensfragen mit Hinweis auf die politische Verfolgung in der DDR »einen moralischen Anspruch« zu einer Entscheidung im Sinne der Schlüters ab.79 Er verwies zudem darauf, dass der Alteigentümer 1945 Selsdorf Richtung Westen verlassen hatte und nie wieder gesehen wurde. Während das Haus zunächst Schlüters zugesprochen wurde, ergab das von den Alteigentümern angestrebte Widerspruchsverfahren 1997, dass in diesem Fall der Paragraph des Vermögensgesetzes zu »Machtmissbrauch, Korruption etc.« (§ 1, Abs. 3) angewandt werden müsse und die Enteignung des Hauses nach DDRGesetzen nicht rechtmäßig war – es handelte sich nämlich nicht um Baulandgewinnung, die ja die Grundlage der Enteignung gewesen war. Die Alteigentümer waren wieder Eigentümer. Günter Schlüter war bereits 1994 verstorben, seine Frau akzeptierte die Entscheidung und lebte bis zu ihrem Tod 2014 in dem Haus. Betrachtet man abschließend die in der Gemeinde vielfach zu hörende Behauptung, dass ehemalige Nationalsozialisten nach 1989/90 nach Selsdorf zurückkehrten, so ergeben die Fallbeispiele ein zwiegespaltenes Bild. Die Erben von SS-Hauptsturmführer Mader stellten 1990 einen Antrag auf Rückübertragung des zur DDR-Zeit als Kindergarten genutzten Hauses. Da es sich um eine Enteignung auf besatzungsrechtlicher Grundlage handelte, war das Vermögensgesetz nicht anwendbar, sondern das Entschädigungs- und Ausgleichsgesetz EALG von 1994.80 Dafür mussten die Erben in einem Formular u. a. Auskunft über die Beteiligung des Vaters im NS geben. Obwohl er in den Entnazifizierungsverfahren als »Entlasteter« eingestuft worden war, entschied das Bundesamt zur Regelungen offener Vermögensfragen nach weiterer Untersuchung, dass bei Mader eine sog. Vorschubleistung vorlag, eine Entschädigung der Erben wurde abgewiesen.81 Würde man daraus schließen, dass Altnazis durch die Verwaltungsverfahren systematisch herausgefiltert wurden, so stimmt das nicht. Auch Heinz Becker befindet sich auf den Listen des SMAD als höheres SS-Mitglied. Sein Eigentum wurde in der DDR unter staatliche Verwaltung gestellt. Das hatte zur Folge, dass auf Antrag der Erben die staatliche Verwaltung per Vermögensgesetz ohne weitere Überprüfung aufgehoben wurde. 78 79 80 81
Ebd. ARoV, Akte Schlüter, Sig. 39485, Kreisarchiv Potsdam-Mittelmark, Belzig. ARoV, Akte Mader, Sig. 34234, Kreisarchiv Potsdam-Mittelmark, Belzig. ARoV, Akte Mader, Sig. 23174, Kreisarchiv Potsdam-Mittelmark, Belzig.
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IV. Ergebnisse und Ausblick Nach 1989 traf die Eigentümergesellschaft West auf die Besitzergesellschaft Ost – so könnte ein zugespitztes Ergebnis lauten. Allerdings eignen sich die aus dem Recht kommenden Begriffe von Besitz und Eigentum nur bedingt für eine Analyse, in der Systemwechsel und Lebenswelt verbunden werden sollen. Im Alltagsverständnis werden mit dem Begriff Eigentum Zuordnungen einer beweglichen oder unbeweglichen Sache (wie einer Immobilie) zu einer natürlichen oder rechtlichen Person bezeichnet. Der Besitz hingegen bezeichnet die tatsächliche Herrschaft über eine Sache. Historisch gesehen fällt die Unterscheidung in Besitz und Eigentum weniger eindeutig aus.82 Insbesondere liberal-bürgerliche Eigentumskonzepte, die die persönliche und politische Freiheit mit der vollständigen Verfügung über ein Objekt verknüpften, haben in der deutschen Gesellschaft eine mindestens in das 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition.83 Eine ebenso lange Tradition hat die Kritik an diesem liberalen Eigentumsbegriff, die vor allem im Frühsozialismus im 19. Jahrhundert formuliert wurde.84 Eigentum gehört zur Gruppe der Langzeitrechte, die – wenn sie in Frage gestellt werden – Abwehr in jeder Gesellschaft hervorrufen; zumal dann, wenn im formalen Recht nur die Rechte formuliert werden, während die Pflichten über ein nicht kodifiziertes System von Ordnungsvorstellungen erreicht werden sollen.85 Mit Blick auf die lange Geschichte der ›Wende‹ ist dabei wichtig, dass die bei den Verhandlungen über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion formulierten und im Vermögensgesetz festgelegten Regelungen die Eigentumsordnung der Bundesrepublik favorisierten. Dazu im Kontrast stand die Lebenswelt der DDR-Bewohner und -Bewohnerinnen, d. h. hier die soziale Praxis des Wohnens bzw. des Umgangs mit Eigentum. Sie reichte bis in den Nationalsozialismus und die Sowjetische Besatzungszone zurück und stützte sich in der DDR auf die abnehmende Bedeutung rechtlicher Eigentumstitel und die offensichtliche Bereitschaft des Regimes, sich bei Bedarf über das Eigentumsrecht hinwegzusetzen. Weiterhin baute sie darauf, dass es eine politische Moralisierung der Eigentumskategorie gab, die sich in der Enteignung als Strafe für ›Nazis‹, ›Kriegsverbrecher‹, ›Republikflüchtlinge‹ usw. zeigte. Die soziale Praxis in der DDR war zudem geprägt durch den hohen Rang sozialrechtlich fundierter ›Besitz‹-Ansprüche, so die günstigen Mieten, und durch eine Verwaltung, die eher auf Bedarfsdeckung – vor allem vor dem Hintergrund der 82 Hans Ruh, Besitz, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theolo-
gie und Religionswissenschaft, Bd. 1, 4. neu bearb. Aufl., Tübingen 1998, Sp. 1361. 83 Roman Köster, Eigentum. Ökonomisch, in: Friedrich Jäger Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, Stuttgart 2006, Sp. 103–108. 84 Ebd. 85 Georg Elwert, Eigentum. Religionswissenschaftlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 2, 4. neu bearb. Aufl., Tübingen 1998, Sp. 1143–1144.
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verfallenden Altbausubstanz ab den 1970ern – als auf die Einhaltung von Rechtsvorschriften ausgelegt war. Diese soziale Praxis etablierte sich innerhalb des sog. Volkseigentums und einer staatlichen Versorgungs- und Zuteilungsverwaltung, die zwischen zähem Bürokratismus, unkalkulierbarer Willkür und der Bereitschaft zu informellen Arrangements schwankte. Die widersprüchliche SED-Eigentumspolitik führte zu einer komplizierten, uneinheitlich umgesetzten Eigentumspraxis, in der – zumindest für die Gemeinde Selsdorf – die Grundbuchblätter mit den darin dokumentierten Eigentumsverhältnissen überdauerten. Sie bildeten die Basis für die Restauration des bürgerlich-westdeutschen Eigentumsrechts nach 1990, gegen das die DDR-Bewohner vielfach nur das moralische Argument der Bestandserhaltung in Eigeninitiative vorbringen konnten. Die Verwaltungsentscheidungen griffen nach 1990 in die Lebenswelt ein und führten zum direkten Zusammentreffen von West- und Ostdeutschen, Verfolgten und Nutznießern des SED-Staates und anderen Konstellationen, die medial inszeniert wurden. Ein wichtiges Ergebnis mit Blick auf die Spezialform Eigenheim und die dadurch geprägte Gemeinde Selsdorf ist die Anerkennung des Grundbuchs als zentraler Wissensressource sowohl durch die Alteigentümer als auch durch die ostdeutschen Nutzer, Mieter und Eigentümer. Für Ärger sorgte weniger die Orientierung am Grundbuch als die fehlende Dokumentation der Eigentums- und Besitzverhältnisse sowie die Nutzungsrechte in den Grundbüchern zur Zeit der DDR. Offiziell wurden die Grundbücher in der DDR 1953 abgeschafft, die Grundbuchblätter wurden aber weitergeführt. Das lässt auf eine lange, d. h. die DDR überdauernde, Orientierung an einer liberalbürgerlichen Eigentumstradition schließen. Ob dies eine Spezifik der Eigenheimbewohner ist bzw. ob es sich in Gegenden mit Mehrfamilienhäusern anders verhielt, muss empirisch untersucht werden. Der scharfe Konflikt um das Eigenheim nach 1990 könnte gerade auf diesem gemeinsamen Glauben an das westliche liberal-bürgerliche Eigentumsverständnis und seine verwaltungsrechtliche Kodierung in den Grundbuchblättern begründet sein; eben weil die Regelungen, die im Systemwechsel vollzogen wurden, nicht aufoktroyiert waren, sondern an alte Werte und Logiken anschlossen, kam es zu den skizzierten Auseinandersetzungen. Beim hier gewählten Untersuchungsgegenstand des Wohneigentums zeigt sich – so ein weiteres Ergebnis –, dass die lange Geschichte der ›Wende‹ mit Blick auf die Eigentumstraditionen ins 19. Jahrhundert und mit Blick auf die Enteignungen zumindest bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht. Die wechselvolle Ent- und Aneignungsgeschichte im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit lädt die Geschichte bis heute auf. Die DDR-Geschichte lässt sich also nicht ohne die NS-Geschichte verstehen und beide Geschichten ragten in der Eigentumsfrage in die Welt des vereinten Deutschlands von bzw. nach 1990 hinein. Da die Regelungen und Entscheidungen im Rahmen des Vermögensgesetzes immer von der Sache, d. h. vom Eigentum, und nicht von der Person ausgingen, wurden weder Täter- noch Opferkategorien gebildet. Vielmehr trafen im
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gesamten Zeitraum vermutete Verlierer und Gewinner der jeweiligen Regime, also unterschiedlich in das Regime Involvierte, Angepasste oder Regimegegner, in wechselnden Konstellationen und mit konkurrierenden Ansprüchen aufeinander, wobei diese angeblichen Verlierer und Gewinner nicht automatisch mit Tätern und Opfern gleichzusetzen waren. Auch wenn auf der rechtlichen Grundlage agiert wurde, trafen nach 1990 in der Praxis und vor allem im Diskurs die konkurrierenden Interessenten mit entsprechenden historisch-moralischen Argumenten aufeinander. Diese wurden auch medial inszeniert, z. B. als Aufeinandertreffen von West- und Ostdeutschen oder als Bereicherung von SED-Vertretern und Altnazis bzw. deren Erben. Insbesondere Selsdorf bot sich aufgrund seiner wechselhaften Geschichte hier an. Durch diese lange Gesellschaftsgeschichte von 1989/90 und durch den Fokus auf die Lebenswelt können künftig verschiedene Perspektiven auf das Phänomen Wohnen und Wohneigentum eingenommen werden. Aus wirtschaftshistorischer Sicht stehen Fragen der Vermögenssicherung bzw. der Prekarisierung und die Hinterfragung des Homo oeconomicus als Leitbild der neuen Eigentumsordnung im Zentrum. In wissensgeschichtlicher Hinsicht würde stärker nach der Herausbildung des Grundbuchs als Wissensressource gefragt werden oder nach dem westdeutschen Wissensvorsprung im Hinblick auf Verwaltungsvorschriften im Rechtsstaat im Vergleich zum ostdeutschen Wissen über die Praxis des Verwaltungshandelns (z. B. im Umgang mit den häufig aus den neuen Bundesländern stammenden Sachbearbeitern der Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen). Dabei ist gerade das Zusammentreffen in der Umbruchsituation, d. h. das Zusammentreffen von neuem Recht und neuen Verwaltungsvorschriften und der Neukonstituierung der Verwaltungsstrukturen mit ›altem‹ Personal interessant. Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive kann danach gefragt werden, ob Unterschiede in Sozialisation und offiziell propagierten Frauenbildern andere Handlungen mit Blick auf Vermögen oder Eigentum im Umbruchprozess von 1989/90 nach sich zogen oder ob traditionelle Geschlechterstereotypen bedient bzw. wiederhergestellt wurden. Dabei würde zudem in sozialgeschichtlicher Hinsicht das ›Haus‹ als sozialer Ort stärker in den Fokus rücken: Wie gestaltete sich das Zusammenleben im ›Haus‹ und in der Nachbarschaft in der langen Geschichte der ›Wende‹ bzw. wie wandelte es sich? Erste Einblicke in die Zusammensetzung der Antragsteller nach 1990 zeigen zudem, dass die ostdeutsche Gesellschaft sich auf interessante Weise mit der südamerikanischen verbindet, wenn die aufgrund von antisemitisch motivierter Verfolgung oder nach 1945 aufgrund ihrer Beteiligung im NS-Regime geflohenen Alteigentümer oder deren Erben aus Argentinien oder Brasilien ihre Anträge schickten.86 Andere Fragen an die Bedeutung des Wohnens in der Lebenswelt können aus einer städtebaulichen 86 Dass »,Häusergeschichten‹ Ausgangspunkt für mikroskopisch verdichtete Weltgeschichte«
sein können, postulierte bereits Karl Schlögel am Beispiel kommunistischer Plätze in Moskau: Schlögel, Im Raume, S. 315.
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Perspektive der Architektur- und Umweltgeschichte gestellt werden. Die Freude des ostdeutschen Eigentümers über die aufgrund von Bitterfelder Chemikalien vermiedene Verunkrautung des Gartens mag nicht vom in den 1980er-Jahren durch die Umweltbewegung geprägten westdeutschen Mieter oder Käufer geteilt werden. Diese verschiedenen angerissenen Fragehorizonte sollen genügen, um die Verflochtenheit von Systemwechsel und Lebenswelt und die Notwendigkeit ihrer Untersuchung für ein besseres Verständnis der Vereinigungsgesellschaft zu demonstrieren. Oder mit den Worten von Karl Schlögel: »Häuser sind das Persönlichste, Intimste, das sich denken läßt. An ihnen haftet die Erinnerung. An ihnen haftet das ›Eigentum‹. Das ist überhaupt die intimste und festeste Beziehung, die es geben kann. Diese Beziehung wurde im 20. Jahrhundert durch die Gewaltverhältnisse durchtrennt, mehrmals. Die Häuser sind gekennzeichnet durch die Abwesenheit derer, die sie errichtet, derer, die darin gelebt haben: Sie sind ermordet, vertrieben, andere sind eingezogen. In diesen Häusern verschränken sich: Rechtsverhältnisse, Geschichte der Gefühle und Leidenschaften, Erziehungsgeschichte, Biographien, die gebaute Geschichte von Orten, Gewaltgeschichte.«87
87 Ebd., S. 321.
Markus Goldbeck
VERGANGENHEIT ALS POLITISCHE RESSOURCE Das Beispiel der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) im Kontext der ›Stasi-Debatte‹
I.
Die ›Aufarbeitung‹ der ›Stasivergangenheit‹ zwischen gesellschaftlicher Debatte und politischen Gestaltungsansprüchen
Die Frage, was mit dem Erbe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) geschehen solle, war fraglos eine der bedeutsameren gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Wie sollten Menschenrechtsverletzungen in der DDR geahndet, wie mit den Dutzenden Regalkilometern Akten umgegangen werden? Zwischen den Polen »Vernichten oder Offenlegen«1 entwickelte sich eine große Spannbreite von Meinungen. Im Wesentlichen lassen sich drei Grundpositionen bestimmten – die Offenlegung, das ›Unter-Verschluss-halten‹ und die Vernichtung der Akten. Obwohl eine solche Klassifizierung nicht übersehen darf, dass die Motive derjenigen, die für diese oder jene Option votierten, bemerkenswert heterogen waren, hatten gerade die Befürworter einer Öffnung bzw. Nutzung der MfS-Unterlagen eine zentrale Argumentationsklammer: Ein solcher Schritt sei notwendig für die ›Aufarbeitung‹ der DDR-Vergangenheit. Man griff damit auf eine Denkfigur der ›alten Bundesrepublik‹ zurück, die, wenn auch vergleichsweise spät, schon im ›letzten Jahr der DDR‹, vor allem aber im Übergang zum vereinigten Deutschland bemüht wurde. Im § 1 des Ende 1991 verabschiedeten Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) findet sich schließlich »die historische, politische und juristische Aufarbeitung des Staatssicherheitsdienstes« prominent als zentraler Zweck des Gesetzes.
1 Hier und im Folgenden: Silke Schumann, Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung
des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/91, Berlin 1995.
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Wenn im Folgenden von der ›Aufarbeitung der Vergangenheit‹ die Rede ist, handelt es sich einerseits um einen Ausdruck, wie er in den Quellen zu finden ist. Andererseits wird ›Aufarbeitung‹ als spezifischer Zugang zur Vergangenheit verstanden. Konkret soll darunter der zivilgesellschaftliche oder staatliche Umgang mit einer als ›problematisch‹ empfundenen eigenen Vergangenheit gefasst werden. ›Problematisch‹ zielt dabei auf Aspekte, die als normverletzend empfunden wurden, typischerweise handelt es sich um Menschenrechtsverletzungen, während das ›eigene‹ sich auf die jeweils relevante soziale Bezugsgruppe – in diesem Fall also die Nation – bezieht. Die Frage ist, inwiefern ›Aufarbeitung‹ Teil des politischen Handlungs- und Ideenspektrums und Vergangenheit damit eine politische Ressource war und wie sich dies im Kontext der Stasiaktendebatte nach 1990 zeigte. Dazu wird ein Bogen von der bundesrepublikanischen Vorgeschichte dieser ›politischen Idee‹ zur praktischen Implementierung derselben nach 1990 geschlagen und insbesondere die öffentliche Diskussion im Zuge der Verabschiedung des StUG und der Gründung der BStU in den Blick genommen.
II. Der Umgang mit der Vergangenheit als Idee und Ressource II.1. ›Aufarbeitung‹ und die kollektive Identität der Bundesrepublik vor 1990 ›Aufarbeitung der Vergangenheit‹ ist ein Phänomen, das sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten lässt. Gegenstand dieser Vergangenheitsthematisierung war die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur, dem Zweiten Weltkrieg und den deutschen Massenverbrechen. Die Thematisierung des Krieges und einzelner Elemente der NS-Zeit war zunächst vor allem mit praktischen Fragen verknüpft – Entschädigungszahlungen oder Restitution von Eigentum, die Verfolgung oder Nichtverfolgung von Kriegsverbrechern oder aber der Umgang mit den ›kleinen Parteigenossen‹. Erst im Verlauf der Jahre rückten die deutschen Massenverbrechen stärker ins Bewusstsein. Unter anderem in der Folge der einschlägigen Prozesse der späten 1950er und der 1960er Jahre, etwa der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess (1957/58) oder die Auschwitz-Prozesse (1963–1968), einer auch generationell bedingten stärkeren Fokussierung auf zunehmend als problematisch empfundenen Handlungen und nicht zuletzt auch verknüpft mit einer zunehmenden öffentlichen Thematisierung der NS-Zeit, verschob sich der Schwerpunkt des Umgangs mit der NS-Vergangenheit von einer Frage administrativer Praxis zu einer Frage kollektiver und damit auch politischer Moral. Bis in die 1980er Jahre und geprägt von Personen wie Karl Jaspers, Hannah Arendt, Theodor W. Adorno oder Alexander und Margarete Mitscherlich etablierte sich so etwas wie ein ›Konzept‹ der ›Aufarbeitung‹, freilich ohne dass die vielfältig artikulierten Vorstellungen darüber allzu kohärent gewesen wären
VERGANGENHEIT ALS POLITISCHE RESSOURCE 215
– mitunter waren sie eher widersprüchlich. Möchte man dennoch einige Grundlinien dieses Grundverständnisses skizzieren, dann ist auf die sich langsam durchsetzende Ansicht hinzuweisen, dass eine offene gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit von zentraler Bedeutung für die Schaffung einer neuen politischen Kultur sei. Eine kommunikative Öffnung auf kollektiver wie individueller Ebene setzte also voraus, dass die NS-Zeit als problematisch wahrgenommen wurde. Vordenker wie Karl Jaspers hatten schon lange zuvor gefordert, dass die kommunikative Verknüpfung der »geschichtlichen Besinnung« des Volkes mit einer individuellen Selbstprüfung Voraussetzung für die Entstehung eines neuen Bewusstseins sei und auch Hannah Arendt hatte die Bedeutung eines fakten- und kommunikationsgestützten Prozesses der Bewusstwerdung betont und dementsprechend den von ihr wahrgenommenen »Realitätsverlust« bzw. die Wirklichkeitsverweigerung der Deutschen stark kritisiert.2 In dem Maße, wie die hier abstrakt formulierten Ideen an gesellschaftlicher Geltung gewannen, etablierten sich auch Vorstellungen darüber, wie die Thematisierung der (NS-)Vergangenheit auszusehen habe, was dabei ›richtig‹ und was ›falsch‹ sei. ›Aufarbeitung‹ als stark normative Form individueller wie kollektiver Selbstreflexion etablierte sich als Politikfeld bzw. als politische Praxis im Umgang mit ›problematischer Vergangenheit‹ und stand dabei nicht zufällig in engem sachlichem Zusammenhang mit der Etablierung einer sich an den Menschenrechten orientierenden »Moralpolitik«.3 Vergangenheit wurde schon immer zur (De-)Legitimierung von Politik in Anspruch genommen – Peter Steinbach stellte für das oft schillernde Verhältnis von Politik und Vergangenheit fest, dass diese u. a. für die »Generierung politischhistorischer Legitimität«4 verantwortlich sei und entsprechende »narrative Anschluss- oder Abgrenzungsoperationen«5 selbstverständlicher Teil politischen Handelns seien. Neu war nach dem Zweiten Weltkrieg, dass nun auch die eigene ›problematische Vergangenheit‹ und dementsprechend auch deren ›Aufarbei2 Vgl. Andrea Fleschenberg, Vergangenheitsaufklärung durch Aktenöffnung in Deutschland
und Portugal?, Münster 2004, S. 18–22. 3 Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010. Die jüngeren Forschungen zur Geschichte der Menschenrechte haben neben den 1940er Jahren eine »Umbruchsphase« oder zumindest eine Verdichtung »einzelner Entwicklungsstränge« in den 1970er Jahren konstatiert. Siehe Annette Weinke, Vom »Nie wieder« zur diskursiven Ressource. Menschenrechte als Strukturprinzip internationaler Politik seit 1945, in: dies./Norbert Frei (Hg.), Toward a New Moral World Order? Menschenrechtspolitik und Völkerrecht seit 1945, Göttingen 2013, S. 29. Die Umbruchsthese für die 1970er Jahre wurde von Samuel Moyn und Jan Eckel vertreten: Samuel Moyn, The last Utopia. Human Rights in History, Cambridge Mass./London 2010; Jan Eckel / Samuel Moyn (Hg.), Moral für die Welt? Menschenrechtspolitik in den 1970er Jahren, Göttingen 2012. 4 Harald Schmid, Konstruktion, Bedeutung, Macht. Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik, in: Horst-Alfred Heinrich / Michael Kohlstruck (Hg.), Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, Stuttgart 2008, S. 78. 5 Ebd., S. 79.
216 Markus Goldbeck
tung‹ in zweierlei Hinsicht als politische Ressource in Anspruch genommen wurde: Erstens spielte sie bei tagespolitischen Fragen eine Rolle und zwar bei der Legitimation von Entscheidungen, in Konflikten mit dem politischen Gegner oder aber zur Erreichung bestimmter Ziele. Letzteres zeigte sich etwa an der Verknüpfung von Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit und Westbindung, wie sie etwa Hans-Peter Schwartz konstatiert hat, als etwa die Bundesrepublik »die westliche Öffentlichkeit davon zu überzeugen [suchte], wenigstens in der Bundesrepublik seien die Deutschen … nunmehr zu den Werten und Zivilisiertheiten der älteren, bewährten westlichen Demokratien bekehrt.«6 Beispiele für die Austragung politischer Konflikte über ›Aufarbeitungsfragen‹ sind fraglos die geschichtspolitischen Konflikte der 1980er Jahre, die, wie Jeffrey Olick mit Blick auf die Debatte um Lübbes These vom ›kommunikativen Beschweigen‹ feststellte, stark mit der spezifischen gesellschaftspolitischen Konstellation der 1980er Jahre verknüpft waren.7 ›Aufarbeitung‹ ließ sich indes noch in einer weiteren Hinsicht als politische Ressource nutzen und zwar für Konstruktion oder Stärkung von Identitäten, sei es auf nationalstaatlicher Ebene oder bei Einzelgruppen. Der Subtext vieler Debatten um deutsche Geschichte war die Auseinandersetzung um die Verortung der Bundesrepublik. Dieser Selbstverständigungsprozess setzte verstärkt seit den 1970er Jahren ein und erlangte einen ersten Höhepunkt in den 1980er Jahren – zu denken ist naheliegender Weise an den ›Historikerstreit‹, der »Geschichtspolitik zu einem heftig umkämpften Feld der Auseinandersetzung um das Selbstverständnis, ja die Staatsräson der Bundesrepublik werden [ließ].«8 Dieser Prozess wurde durch das Ende der DDR – der »negativen Kontrastfolie des eigenen Staates«9 – überlagert und gab ihm in gewisser Weise eine neue Richtung. Die MfS-Akten waren nur ein übernommener Problemfall unter mehreren – etwa neben den maroden Betrieben oder der Infrastruktur – und boten eine Möglichkeit zur Abgrenzung. Abgrenzen konnte man sich dadurch etwa von undemokratischen Überwachungspraktiken oder Menschenrechtsverletzungen allgemein. Abgrenzen konnte man sich aber selbstverständlich auch von der DDR in toto – man hatte sich letztlich doch als das weitaus bessere Deutschland erwiesen – und konnte so praktischerweise eine positive Selbstdarstellung mit der nachträglichen Delegitimierung der DDR verbinden. In gewisser Weise war generell die »deut6 Hans-Peter Schwarz, Die Bundesrepublik: Selbstverständigung und internationale Einbin-
dung, in: Peter März (Hg.), Die zweite gesamtdeutsche Demokratie. Ereignisse und Entwicklungslinien – Bilanzierungen und Perspektiven, München 2002, S. 30. 7 Vgl. Jeffrey K. Olick, Turning Points and Myths of German Memory, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 379–382. 8 Vgl. Michael Wildt, Die Epochenzäsur 1989/90 und die NS-Historiographie, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 5 (2008), S. 349. 9 Vgl. Axel Schildt, Überlegungen zu einer Historisierung der Bundesrepublik, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M. 2002, S. 253 f.; S. 255.
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sche Vergangenheit … das ganz andere«, welches »das eigene Staatswesen umso heller leuchten ließ«.10 Wenn aber der Umgang mit der Vergangenheit – unabhängig davon, ob es sich nun um ›falsche‹ oder ›richtige‹ ›Aufarbeitung‹ handelte – zu einem integralen Bestandteil bundesrepublikanischer Identität geworden war und die ›DDR-Aufarbeitung‹ – oder konkreter: die ›Stasi-Aufarbeitung‹ – damit nicht eine beliebig wählbare oder vernachlässigbare Option, sondern Teil eines historisch überkommenen Rahmens darstellte, war dann die Auseinandersetzung mit diesen Themen quasi unumgänglich und musste früher oder später ›zwangsläufig‹ einsetzen? Ein Blick auf die Umstände der Institutionalisierung von MfS-›Aufarbeitung‹ lässt vermuten, dass diese Perspektive zu einfach ist.
II.2. ›Aufarbeitung‹ der DDR nach 1990 – das Beispiel der BStU Die Diskussion über die MfS-Unterlagen in den Jahren 1990 und 1991 vollzog sich also vor dem oben skizzierten Rahmen. Die Öffnung der Unterlagen, so hatte sich seit 1989 gezeigt, waren ein zentrales Anliegen zumindest eines Teils der DDR-Bevölkerung, zentrale Motive waren a) über Strukturen und Arbeitsweisen des MfS aufzuklären, b) durch Überprüfungen und ggf. einen Austausch von Personen eine politische und moralische Erneuerung voranzutreiben und c) Zugriff auf die personenbezogenen Unterlagen für Betroffene zu erlangen.11 Die Bundesregierung hielt davon zunächst wenig, wie sie mehrfach kommunizierte. Ihre Sorge galt etwa den massenhaft vorhandenen Abhörprotokollen von Telefongesprächen westdeutscher Politiker, die auf keinen Fall den Weg in die Öffentlichkeit finden sollten – würde dies geschehen, so die vereinzelt geäußerte Befürchtung, könne die Bundesrepublik in ihren Grundfesten erschüttert werden.12 Folgerichtig versuchten die westlichen Vertreter bei den Verhandlungen zur deutschen Einheit zu verhindern, dass das im August von der Volkskammer verabschiedete Aktengesetz über den 2. Oktober hinaus Geltung behielt. Dementsprechend tauchte es nicht unter den Gesetzen auf, die nach dem 3. Oktober 10 Ralph Bollmann, Das ferne Land. Zur Historisierung der alten Bundesrepublik, in: Merkur
69 (2015), 5, S. 17–28, hier S. 23. 11 David Gill / Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des MielkeImperiums, Berlin 1991, S. 228–235 und 261 f.; Michael Richter, Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR, Weimar u. a. 1996, S. 227–245; Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, 2. Aufl., Berlin 1999, S. 698–703. Siehe hierfür auch den Beitrag von Lilith Buddensiek in diesem Band. 12 Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, 2. Aufl., München 2009, S. 422; Christian Booß, Von der Stasi-Erstürmung zur Aktenöffnung. Konflikte und Kompromisse im Vorfeld der Deutschen Einheit, in: Deutschland Archiv 44 (2011), 1, S. 79–87, besonders S. 84–86.
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Berücksichtigung finden sollten.13 Nach massiven Protesten ostdeutscher Bürgerrechtler lenkte die Bundesregierung schließlich aber ein und sicherte zu, dass sich der »gesamtdeutsche Gesetzgeber« des Themas annehmen würde.14 Schon diese ›Startschwierigkeiten‹ zeigen, dass die ›Aufarbeitungsidee‹ zwar prinzipiell ein wichtiger bundesrepublikanischer Wert war, dass sie jedoch mit anderen Zielgrößen konkurrierte. Ein massiver Zielkonflikt bestand beispielweise zwischen der Aufklärung durch Aktenöffnung und dem Datenschutz, aber auch zu sicherheitspolitischen Interessen. Selbst wenn die relevanten politischen Akteure Willens gewesen wären, im Sinne der ostdeutschen Öffnungsbefürworter zu handeln, was zumindest bei Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble erwiesenermaßen nicht der Fall war,15 so musste die Aktenöffnung ein komplizierter Prozess bleiben, der zwischen tagespolitischen, grundrechtlichen und identitätspolitischen Fragen ausbalanciert werden musste.
Politisches Tagesgeschäft Ein Blick auf die Debatte um das Stasi-Unterlagen-Gesetz zeigt, welche unterschiedlichen Interessen involviert waren, aber auch, wie stark ›Aufarbeitung‹ etwa von Parteien tagespolitisch genutzt wurde, sei es um dem politischen Gegner zu schaden oder um Ziele zu erreichen, die vordergründig nichts mit der Vergangenheit zu tun haben mussten. Recht deutlich wurde dies in den Bundestagsdebatten des Jahres 1991 im Vorfeld der Verabschiedung des StUG. So herrschte beispielsweise in der CDU/CSU Skepsis gegenüber den Akten bzw. eine Distanz zum MfS-Thema insgesamt. Eine breite ›Aufarbeitung‹ sei aufgrund der vielfältigen »Fälle tragischer Verstrickung«16 kaum möglich, daher wollte man sich auf die juristische Behandlung des Themas konzentrieren. Betroffene sollten immerhin »die Chance zur Aufarbeitung des Unrechts und zur Rehabilitierung haben«,17 »Stasi-Grausamkeiten … dokumentarisch beispielhaft an konkreten Einzelfällen
13 Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart
1991, S. 273–279. 14 Vgl. Hannes Bahrmann / Christoph Links: Chronik der Wende 2. Stationen der Einheit: Die letzten Monate der DDR, Berlin 1995, S. 303 und Einigungsvertrag Anlage I Kapitel II Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 2b. vom 31.8.1990, in: Einigungsvertrag. Sonderdruck aus der Sammlung Das deutsche Bundesrecht, 3. Auflage, Baden-Baden 1991, S. 45–47. 15 Kohl konstatierte 1993 einen »ganz üblen Geruch«, der von den Akten ausgehe und das politische Klima vergifte, weshalb sie vernichtet werden sollten. Siehe: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. V.1, BadenBaden 1995, S. 928; Schäuble, Der Vertrag, S. 273. 16 Redebeitrag von Paul Laufs (CDU), in: Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages (BTPlPr) 12/7 (1.2.1991), S. 237D. 17 Vgl. ebd., S. 237C, Zitat ebd. und Redebeitrag von Hartmut Büttner (CDU), in: BT-PlPr 12/21 (18.4.1991), S. 1318C.
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offengelegt«18 und die Akten zum Zweck der Überprüfung vor allem von Bewerbern auf Stellen im öffentlichen Dienst genutzt werden.19 Die ›Union‹ setzte sich damit stark für eine Individualisierung der ›Aufarbeitung‹ ein. Gerade die Überprüfungen auf Stasi-Mitarbeit im öffentlichen Dienst wurde von CDU-Politikern vehement vertreten – dass die Überprüfungspraxis in Sachsen und Thüringen weitaus stärker ausgeprägt war als in den ›neuen‹ Bundesländern ohne CDU-Beteiligung, unterstreicht dies. Allerdings musste nicht ›Aufarbeitung‹ das ausschließliche Motiv hinter solchen Ansätzen sein. Ein Argument für die Überprüfungen und den damit einhergehenden Personentausch war, ›belastete‹ Personen im Sinne einer Demokratisierung oder zur Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien aus sensiblen Positionen zu entfernen. Doch es gab auch recht pragmatische Gründe für einen Personentausch. So musste der überdimensionierte Verwaltungsapparat der DDR verkleinert werden, unklar war aber noch im Zuge der Verhandlungen zur Deutschen Einheit, welche Kriterien dafür herangezogen werden sollten. So stand etwa Wolfgang Schäuble einer politisch konnotierten Säuberung skeptisch gegenüber und die SED-Mitgliedschaft als Entlassungskriterium schien aufgrund des hohen Anteils an SED-Mitgliedern in den Verwaltungen der DDR kaum praktikabel.20 Letztlich wurde das Ziel der Personalreduktion auf dem Weg der ›Bedarfskündigung‹ und über eine indirekte ›politische Säuberung‹ – die man aber als »arbeitsrechtliches Problem« deklarierte – erreicht. Unzumutbar konnte die Fortsetzung eines Beschäftigungsverhältnisses dann sein, wenn ein Verstoß gegen »Grundsätze der Menschlichkeit« oder eine Tätigkeit für das MfS vorlag.21 Eine Kündigung war schließlich auch dann möglich, wenn ein Bewerber oder Beschäftigter falsche Angaben zu einer MfS-Tätigkeit gemacht hatte und der Arbeitgeber so das Vertrauensverhältnis zum Beschäftigten geschädigt sah.22 Eine derart an Individuen orientierte ›Aufarbeitung‹ fand in anderen Parteien nicht uneingeschränkt Anklang. Bündnis 90 / Die Grünen verfolgten etwa – obgleich man ebenfalls für Strafprozesse oder Personentausch plädierte – einen breiter angelegten Ansatz und nahm stärker die (gedachte) Gesellschaft Ostdeutschlands in den Blick. Ihr Ziel war etwa eine breit angelegte Aufklärung über 18 Vgl. Redebeitrag von Paul Laufs (CDU), in: BT-PlPr 12/7 (1.2.1991), S. 237D, Zitat ebd. 19 Vgl. Redebeiträge von Johannes Gerster und Hartmut Büttner (beide CDU), in: BT-PlPr
12/21 (18. 4.1991), S. 1306D und 1318C. 20 Schäuble, Der Vertrag, S. 199–205. 21 Diemut Majer, Entnazifizierung gleich »Entstasifizierung«? Vergangenheitsbewältigung und Rechtsstaat, in: Gerhard Haney u. a. (Hg.), Recht und Ideologie. Festschrift für Hermann Klenner zum 70. Geburtstag, Freiburg i. Br. 1996, S. 361. 22 So für den Thüringer Fall: Kathrin Winkler, Die Kündigung wegen Tätigkeit für das MfS in der Praxis. Eine rechtstatsächliche Untersuchung der vom Thüringer Kultusministerium wegen MfS-Verstrickung und/oder Verschweigens dieser Verstrickung ausgesprochenen Kündigungen und ihrer Überprüfung durch die Thüringer Arbeitsgerichtsbarkeit, Diss., Jena 2002, http:// www.db-thueringen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-1255/Dissertation.pdf [2.6.2016], S. 113–117.
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die DDR, die Aufklärung gesellschaftlicher Verstrickung und damit die Stärkung der ostdeutschen Zivilgesellschaft. Der Bundesregierung jedenfalls warf man vor, sie wolle die Bevölkerung mit der strafrechtlichen Verfolgung weniger Hauptschuldiger statt einer breit angelegten ›Aufarbeitung‹ »unmündig« halten.23 Zu den intensivsten tagespolitischen Konflikten in der Entstehungszeit des StUG gehörte die Frage, ob westliche Nachrichtendienste – vor allem die Ämter für Verfassungsschutz – Zugang zu den MfS-Unterlagen bekommen sollten. Nach dem Attentat auf Treuhandchef Detlev Rohwedder Anfang April 1991 entstand eine fast hysterische Stimmung, in der die Warnung vor beschäftigungslosen MfSMitarbeitern laut wurde, die die RAF mit Knowhow oder gleich ganzen Waffenlagern unterstützen könnten. Ein solches Szenario durch Enttarnung ehemaliger MfS-Mitarbeiter zu verhindern, galt als selbstverständliche Aufgabe von Polizei und Verfassungsschutzämtern. Damit rückte in der Debatte um ein StUG der Zugang zu den MfS-Akten für Sicherheitsbehörden in den Mittelpunkt. Vor allem die Dienste selbst warben sehr offen dafür.24 Sieht man von der Grundfrage ab, ob das Ansinnen und die dahinterstehenden Befürchtungen überhaupt sachlich begründet waren, ging es in der Debatte offenkundig weniger um ›Aufarbeitung‹ als um Zuständigkeiten und die Positionierung angesichts einer völlig veränderten sicherheitspolitischen Konstellation. Bundesnachrichtendienst (BND) und Verfassungsschutzämter hatten 1990 mit der DDR einen ihrer wichtigsten Arbeitsgegenstände verloren und mussten sich neu orientieren. Eine Möglichkeit stellte da eine Art massenhafte Sicherheitsüberprüfung dar – wiederholt wies beispielsweise der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Gerhard Boeden, der auch CDU-Mitglied war, als Beweis für die Relevanz seiner Behörde in dieser Frage auf die hohe Zahl von Enttarnungen bis Dezember 1990 durch seine Behörde hin und warnte eindring-
23 Vgl. Antrag der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe BÜNDNIS 90 / DIE GRÜ-
NEN (BT-DrS 12/283 vom 20.3.1991), S. 6 und Redebeitrag von Ingrid Köppe (Bündnis 90 / Die Grünen), in: BT-PlPr 12/7 (1.2.1991), S. 240A–C. 24 Vgl. Experten verdächtigen Stasi, in: Frankfurter Rundschau vom 3.4.1991, S. 4; RAF gibt den Mord an Rohwedder zu, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.4.1991, S. 1; Gerster: Verbindungen von RAF und Stasi aufdecken, in: Süddeutsche Zeitung vom 3.4.1991, S. 2; »RAF«-Terroristen ermorden Treuhand-Chef Rohwedder in seiner Düsseldorfer Wohnung, in: Der Tagesspiegel vom 3.4.1991, S. 1; Unionspolitiker: Kommission soll Verbindung zur Stasi klären, in: Der Tagesspiegel vom 4.4.1991, S. 2; »Kleiner Silberstreif« für die Fahnder, in: Süddeutsche Zeitung vom 8.4.1991, S. 5; Griff nach Stasi-Akten noch umstritten, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.4.1991, S. 5; »Gerster: Stasi-Mitarbeiter stärken Umfeld der RAF«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.5.1991, S. 2; »Auf höchster Ebene noch intakt«, in: Frankfurter Rundschau vom 3.8.1991, S. 4. Zunächst hatte etwa ein Vertreter des Hamburger Verfassungsschutzes im Falle des Rohwedder-Attentats gar eine direkte Stasi-Beteiligung vermutet. Eine derartige Interpretation und die Diskussion des Zusammenhangs von Rohwedder-Attentat und Zusammenarbeit von MfS und RAF wurden indes von Journalisten eher kritisch beleuchtet. Vgl. »Da tut sich ein Konfliktherd auf«, in: Die Zeit vom 5.4.1991, S. 2.
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lich vor der Gefahr durch frühere Stasi-Agenten.25 Ansprüche und Vorstellungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz gingen indes über den Zugriff auf die Akten hinaus: Die veränderte Lage habe, so Verfassungsschutzpräsident Boeden im Januar 1991, für die Dienste andere Anforderungen, etwa im Bereich der organisierten Kriminalität, mit sich gebracht. Die damit anfallenden neuen Aufgabengebiete würden auch mehr Kompetenzen, vor allem auch exekutiver Art, für den Verfassungsschutz erforderlich machen. Solche Forderungen rüttelten freilich am Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten und evozierten massiven Widerstand. Burkhard Hirsch (FDP) wies etwa darauf hin, dass verringerte oder wegfallende Aufgaben einer Behörde nicht zu mehr Kompetenzen sondern zu Personalabbau führen sollten.26 Dies zeigt aber, dass ›Aufarbeitung‹ bzw. ›aufarbeitungspolitische‹ Fragen Teil einer komplexen tagespolitischen Auseinandersetzung waren und nicht isoliert betrachtet werden sollten. Dies gilt sogar für ›Aufarbeitungsprotagonisten‹ im engeren Sinne. So nutzte etwa Joachim Gauck angesichts von vermehrten Schlussstrichforderungen seit Mitte der 1990er Jahre ›Aufarbeitung‹ als Argument, indem er die Zuweisung von Haushaltsmitteln geschickt mit den moralischen Implikationen seiner Arbeit verknüpfte. In der Zuweisung von Mitteln manifestiere sich der politische Willen, sich mit problematischer Vergangenheit auseinanderzusetzen, denn: »Wer Geld ausgibt, nimmt auch etwas ernst, und die Parlamentarier haben offensichtlich unser Anliegen ernst genommen«.27 Aus der Bedeutung von ›Aufarbeitung‹ wurde sowohl gesellschaftliche wie auch politische Relevanz abgeleitet und diese mit materieller Ausstattung verknüpft. Geld als sichtbares Zeichen des Aufarbeitungswillens ist dabei allerdings nur die eine Seite der Medaille. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass weniger Geld auch als Zeichen erlahmenden Interesses gedeutet werden konnte. Bedenkt man die Bedeutung der ›Aufarbeitungsidee‹ in der wiedervereinigten Bundesrepublik – im Folgenden wird darauf noch einzugehen sein –, barg diese Verknüpfung erhebliches Druckpotential.
25 Boeden warnt vor früheren Stasi-Agenten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
11.12.1990, S. 6; Verfassungsschutz soll Waffengeschäfte klären, in: Süddeutsche Zeitung vom 4.1.1991, S. 5; Boeden schlägt neue Aufgaben für Verfassungsschutz vor, in: Die Tageszeitung vom 4.1.1991, S. 6; ›Kontrollierter Zugang‹ zu Stasi-Akten gefordert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.1.1991, S. 1 und Der Verfassungsschutz bekundet Interesse an den Stasi-Akten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.1.1991, S. 3. 26 Der Verfassungsschutz bekundet Interesse an den Stasi-Akten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.1.1991, S. 3. 27 Vgl. Joachim Gauck, Warum Aufarbeitung kommunistischer Diktatur?, in: Dagmar Unverhau (Hg.), Lustration, Aktenöffnung, demokratischer Umbruch in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Referate der Tagung des BStU und der Akademie für Politische Bildung Tutzing vom 26.–28.10.1998, 2. Aufl., Münster 2005, S. 8; ders., Aufarbeitung der Stasivergangenheit – Revolutionäre Aktion (1989/90), Parlamentarische Arbeit (1990/91), Praxis der Aufarbeitung (1990/94), in: Tobias Hollitzer (Hg.), Einblick in das Herrschaftswissen einer Diktatur – Chance oder Fluch? Plädoyers gegen die öffentliche Verdrängung, Opladen 1996, S. 32.
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Identitätsfragen Trotz aller tagespolitischen Indienstnahme, hatte der Umgang mit der DDR-Vergangenheit immer auch eine identitätsstiftende Funktion, was sich gerade in der Frage des Aktenzugangs für Nachrichtendienste erkennen lässt. War es statthaft, dass Nachrichtenddienste Zugriff auf das MfS-Material erhielten? ›Ja‹ sagten die Befürworter, immerhin handelte es sich um demokratisch legitimierte Nachrichtendienste, die mit ihren undemokratischen Pendants wenig gemein hätten. ›Nein‹, sagten die Gegner, es seien immer noch Nachrichtendienste, denen nicht zu trauen wäre.28 Mit dieser Abwägung war implizit eine Bewertung des politischen Systems der Bundesrepublik verbunden, was sich auch in einer der Bundestagsdebatten niederschlug. Während etwa der (Ostdeutsche) Rolf Schwanitz von der SPD die Bedeutung des Verfassungsschutzes bei der Beobachtung von ›Seilschaften‹ betonte und ihn als wichtigen Bestandteil einer ›wehrhaften Demokratie‹ bezeichnete,29 befürchtete die (westdeutsche) PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke, dass Gauck »zu einem Teil des Apparates der inneren Sicherheit« werden könnte, dass das Aktengesetz zwar vorgebe, sich mit ›Aufarbeitung‹ zu befassen, es in Wahrheit aber darum gehe, »ob die gesamtdeutschen Sicherheitsapparate materiell, juristisch und politisch für die Zukunft ausgerüstet werden«.30 Prinzipielle Vorbehalte gegen Nachrichtendienste wie sie bei Bündnis 90 / Die Grünen mitschwangen, resultierten dagegen weniger aus der Ablehnung der Bundesrepublik, als aus dem Versuch, zentrale Werte der Friedlichen Revolution und damit eigene Grundüberzeugungen zu konservieren.31 Recht deutlich war auch, dass Debatten über Identitätsfragen Zukunftsfragen waren. So galt Aktenöffnung als Akt ›politischer Hygiene‹, der Misstrauen abbauen und politischer Instrumentalisierung vorbeugen könne und als wichtiger Schritt »um eine demokratische Kultur im wiedervereinigten Deutschland zu entwickeln«. Dies war eine der zentralen Fluchtpunkte in der Argumentation Jo28 Deutlich wurde dies im Zuge einer Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundes-
tages. Der Schriftsteller Reiner Kunze argumentierte, dass es sich um Einrichtungen handele, welche »die Grundlagen der parlamentarischen Demokratie zu sichern« hätten, wogegen der Bremer Anwalt Rolf Gössner Nachrichtendienste für undemokratisch und kaum kontrollierbar hielt. Siehe Redebeiträge von Reiner Kunze und Rolf Gössner. Stenografisches Protokoll über die 12. Sitzung des Innenausschusses am Dienstag, dem 27. August 1991, in: Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags (Hg.), Veröffentlichte Gesetzesmaterialien des Parlamentsarchivs Nr. 24, März 1992, Bonn 1992, S. 159 und 162. 29 Redebeitrag von Rolf Schwanitz (SPD), in: BT-PlPr 12/31 (13.6.1991), u. a. S. 2363B. 30 Redebeitrag von Ulla Jelpke (PDS), in: BT-PlPr 12/31 (13.6.1991), S. 2371C–D. 31 Vgl. Walter Süß: Die Stasi-Unterlagen-Behörde in der Erinnerungslandschaft Deutschlands. Ein Beitrag zu Transitional Justice, in: Wolfgang S. Kissel / Ulrike Liebert (Hg.), Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989, Münster 2010, S. 164–168; Anne Worst: Das Ende eines Geheimdienstes. Oder: Wie lebendig ist die Stasi?, Berlin 1991, S. 48 f. und Michael Richter, Die Staatssicherheit im letzten Jahr der DDR, Weimar u. a. 1996, S. 243–245.
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achim Gaucks, mit der er die Wichtigkeit von ›Aufarbeitung‹ begründete. ›Praktische Aufarbeitung‹ bedeute die Wahrung einer gewissen Distanz zur Macht, »geistige Unabhängigkeit« und den Glauben an die Möglichkeiten offener Gesellschaften.32 Gauck versprach sich die »Wiedergewinnung geistiger Werte« und die »Wiedererlangung einer emotionalen Kompetenz, die die Autonomie der Person wiederherstellt«.33 Er suchte dabei nicht weniger als den Bogen zur europäischen Aufklärung zu schlagen, deren Grundsätze er u. a. qua Aktenöffnung und gesellschaftlicher ›Aufarbeitung‹ wiedergewinnen wollte.34 Den »Weg der Aufklärung« müsse man beschreiten, wenn man die Transformation vom Untertan zum Bürger, zum Citoyen, fördern wolle.35 ›Aufarbeitung‹ zielte für Gauck also auf eine Zukunft, die »im Sinne von Freiheit und Gerechtigkeit ethisch verantwortlich gestalte[t]« sein sollte.36 Die Beschäftigung mit der Vergangenheit wurde so zum wichtigen Teil eines ambitionierten Um- bzw. Neugestaltungsanspruchs. ›Aufarbeitung‹ hatte in Gestalt des Ende 1991 verabschiedeten Aktengesetzes aber auch eine integrative Funktion. Wenn beispielsweise der Mitbegründer der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, Wolfgang Ullmann, das StUG als »Fortsetzung der Revolution mit anderen Mitteln«37 deklarierte oder Gunter Weißgerber, Gründungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei in der DDR, das Gesetz als »Teil des Vermächtnisses der friedlichen Revolution« und »zivilisatorische Innovation«38 sah, handelte es sich fraglos um den Versuch, die Friedliche Revolution und ihre Protagonisten in die gesamtdeutsche Identität zu integrieren – zumal eine Mehrzahl der zentralen Personen der Revolution politisch kaum noch eine Rolle spielten. Ebenso spielte die (zumindest symbolische) Integration und Selbstvergewisserung der Ostdeutschen eine wichtige Rolle, wenn das StUG als ostdeutsches Projekt wahrgenommen wurde, dem es gelungen sei, westdeutsche Mehrheiten zu organisieren.39 32 Vgl. Joachim Gauck, Wahrnehmen, Widerstand, Gestalten. Anmerkungen zu Transformati-
onsproblemen posttotalitärer Gesellschaften, in: Ehrenpromotionen der Theologischen Fakultät 1999, Rostock 1999, S. 44 und 49. 33 Vgl. ders., Welche Erinnerung braucht Europa?, Stuttgart 2006, S. 13. 34 Vgl. ebd., S. 11. 35 Vgl. Heinrich Holze, Befreiung aus Erinnerung. Laudatio auf Joachim Gauck, in: Ehrenpromotionen der Theologischen Fakultät 1999, Rostocker Universitätsreden Neue Folge Bd. 3, Rostock 1999, S. 27. 36 Vgl. Joachim Gauck, Öffnung der Stasi-Archive. Der deutsche Sonderweg bei der Aufarbeitung von Vergangenheit, in: Études germaniques 53 (1998), 3, S. 544. Zitat: Holze, Befreiung aus Erinnerung, S. 27. 37 Vgl. Wolfgang Ullmann, Das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Eine Demokratieinitiative der Friedlichen Revolution, in: Siegfried Suckut / Jürgen Weber (Hg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 51 und 54, Zitat S. 45. 38 Gunter Weißgerber, Von der Friedlichen Revolution zum StUG – eine logische Konsequenz?, in: Tobias Hollitzer (Hg.), Wie weiter mit der Aufarbeitung? 10 Jahre Stasi-UnterlagenGesetz. Bilanz und Ausblick, Leipzig 2002, S. 85. 39 Ebd., S. 87 f.
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III. Resümee Diese knappe Skizze davon, wie die ›Idee der Aufarbeitung‹ aus der ›alten Bundesrepublik‹ in das vereinigte Deutschland transferiert und dort verwendet wurde, zeigt, dass es sich bei ›Aufarbeitung‹ um einen zugleich höchst normativen, gleichwohl aber historisierbaren, ja zu historisierenden Begriff handelt, der weder selbstverständlich noch absolut zu sehen ist. Es handelt sich dabei um eine historische Praxis, die sich nach dem Zeiten Weltkrieg in Deutschland zunächst aus der praktischen Auseinandersetzung mit den Kriegs- und Diktaturfolgen, den Menschenrechtsverletzungen und Massenverbrechen herausbildete, die aber weder unumstritten noch überhaupt definiert war und damit abhängig blieb von den Deutungen unterschiedlicher Akteure zu verschiedenen Zeiten. Dementsprechend komplex ist auch die Geschichte dieser Idee nach 1989/90. Es handelte sich (1) um ein vielschichtiges ost-westdeutsches Phänomen, dessen Entwicklung sich nicht auf die Formel eines westdeutschen ›Konzepts‹ reduzieren lässt, das auf ostdeutsche Geschichte angewendet wurde. Genau genommen lässt sich die Reformulierung einer Idee unter neuen Umständen beobachten, wobei ost- wie westdeutsche Einflüsse Teil des Konstruktionsprozesses waren. Ein Blick auf die Praxis der Verwendung von ›Aufarbeitung‹ als Idee zeigt, dass (2) der Umgang mit der Vergangenheit eine ›tagespolitische‹ und eine ›identitätsstiftende‹ Dimension hatte. Ersteres sollte nicht als ›falsche Instrumentalisierung‹ verstanden werden, sondern verweist auf die Verwendung von Vergangenheit als politischer Ressource und die damit verbundene Aneignung einer neuen Perspektive. Letzteres macht vor allem die Zeitbezüge von Identitätsdiskursen offensichtlich: ›Aufarbeitung‹ ist in dieser Dimension nicht auf die Vergangenheit beschränkt, sondern dient vor allem in der Gegenwart der Selbstvergewisserung und Integration oder versucht gar Visionen einer besseren Zukunft durch den Rückgriff auf die Vergangenheit zu schaffen. Aus einer normativen Perspektive ist ›Aufarbeitung‹ eine zentrale Ressource gesellschaftlicher Erneuerung, aus der Perspektive seiner praktischen Verwendung bot das Konzept aber auch vielfältige Möglichkeiten – auch und gerade für Fragen außerhalb des klassischen Umgangs mit der Vergangenheit. Wie attraktiv ›Aufarbeitung‹ war, lässt sich wohl nirgends besser als an dem Umstand sehen, dass die Bundesrepublik sich mit der BStU seit rund 25 Jahren eine Behörde leistet, in die sie mittlerweile mehr als 2,5 Milliarden Euro investiert hat.
Lilith Buddensiek
EIN RECHT AUF EINSICHT? Die Debatte um den Zugang zur ›eigenen‹ Stasi-Akte
A
ls der Bundestag am 14. November 1991 das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) verabschiedete, hatte die Legendenbildung um die private Akteneinsicht1 bereits eingesetzt: Mit der Öffnung der Stasi-Unterlagen für die Betroffenen erfülle man eine »zentrale Forderung des Herbstes 1989«, betonte der SPD-Abgeordnete Ralf Schwanitz. Zwei Jahre hätte die ostdeutsche Bürgerbewegung um ein Recht auf Einsicht in die ›eigene‹ Akte gerungen; nun »endlich« werde den Opfern der »langersehnte … und notwendige … Zugang« gewährt.2 Vielfach reproduziert und kaum hinterfragt dominiert diese Narration noch heute den öffentlichen Diskurs zum Thema. Das Postulat »Ich will meine [Stasi-] Akte!« sowie das Ringen um seine Durchsetzung werden dabei zur logischen Konsequenz der ›Friedlichen Revolution‹3 stilisiert und fügen sich in das Bild eines nach Wahrheit, Selbstbestimmung und (politischer) Partizipation strebenden
1 Unter ›privater Akteneinsicht‹ wird in diesem Beitrag das Recht von ›Betroffenen‹ auf Aus-
kunft aus bzw. Einsicht in ›ihre‹ Stasi-Unterlagen verstanden. Die Termini ›Unterlagen‹ und ›Akten‹ werden synonym gebraucht. Beide beziehen sich auf das in § 6 (1) und (2) des StUG definierte Schriftgut des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Synonym verwendet werden in der Folge ferner die Begriffe ›MfS‹ und ›Stasi‹. Auf eine Differenzierung zwischen dem MfS und dessen (kaum veränderter) Nachfolgeinstitution, dem Amt für Nationale Sicherheit (AfNS), wird des Verständnisses halber verzichtet. 2 Stenografischer Bericht zur 57. Sitzung des 12. Bundestages vom 14.11.1991, S. 4677. S. auch den Beitrag Ingrid Köppes (Bündnis 90 / Die Grünen), in: ebd., S. 4686. Sämtliche in diesem Beitrag zitierte Dokumente von Bundestag und Bundesrat (einschließlich der ihnen zugehörigen Ausschüsse) stammen aus der vom Parlamentsarchiv angefertigten Dokumentation zum StUG (Signatur: XII/38). 3 Zur Problematisierung des Begriffs der ›(Friedlichen) Revolution‹ s. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 166 f.
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Volkes ein.4 Dass die ›eigene‹ Akte im Herbst 1989 noch kaum Beachtung fand, ihre Offenlegung auch und gerade innerhalb der Opposition höchst umstritten war und westdeutsche Datenschutzexperten sowie Politiker eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung eines umfassenden Einsichtsrechts spielten, bleibt in der Regel unerwähnt. In diesem Beitrag wird die Vorgeschichte der privaten Unterlageneinsicht – jenseits der von Politik und Medien propagierten Legende – skizziert. Im Fokus steht die auf vielfältigsten Ebenen geführte öffentliche Debatte um das Ob bzw. Wie eines individuellen Aktenzugangs, einschließlich der sie prägenden Ereignisse und Entwicklungen. Für ihre Rekonstruktion wurde auf Drucksachen und Protokolle politischer Organe und Gruppierungen in DDR und Bundesrepublik, zeitgenössische Presseerzeugnisse5 sowie einer Vielzahl an Bürger- und Leserbriefen zurückgegriffen.
I.
Eine »zentrale Forderung des Herbstes 1989«?
Als die Einwohner des im Bezirk Magdeburg gelegenen Salzwedel im Herbst 1989 auf die Straße gingen, stieg die Stimmung vor der lokalen Stasi-Dienststelle »stets [auf] ihren Siedepunkt«, erinnerte sich Gernot Müller-Serten, seinerzeit Reporter der Hannoverschen Allgemeinen: »Hier entlud sich der Hass auf das stalinistische System, auf die alltägliche Unterdrückung und Drangsalierung.«6 Auch in anderen Städten artikulierte sich Protest gegen das ebenso verhasste wie gefürchtete Ministerium für Staatssicherheit (MfS).7 Gefordert wurde zunächst 4 Vgl. z.B. Richard Schröder, Eine verrückte Theorie von zwei Nationen auf deutschem Boden,
in: Eckard Jesse / Thomas Schubert (Hg.), Friedliche Revolution und Demokratie: Perspektiven nach 25 Jahren, Berlin 2015, S. 29–41, hier: S. 40. Zudem: Siegfried Suckut / Jürgen Weber, Einleitung, in: ders. (Hg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 11–14, hier: S. 11 sowie Gunter Weißgerber, Von der Friedlichen Revolution zum StUG – eine logische Konsequenz?, in: Tobias Hollitzer (Hg.), Wie weiter mit der Aufarbeitung? 10 Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz. Bilanz und Ausblick, Leipzig 2002, S. 84–90, hier: S. 84 sowie Ulrich Clauss, »Ich will meine Akte«. Stasi-Unterlagen-Behörde ist weltweit Vorbild – Der Sturm auf die Archive war ein Akt bürgerlicher Wiedergeburt nach 40 Jahren Unterdrückung, in: Die Welt vom 01.10.2005. 5 Einschließlich des von der DDR-Opposition produzierten Samisdat (und hier v. a. der Zeitschrift telegraph, die ab dem 10.10.1989 von der Ostberliner Umweltbibliothek herausgegeben wurde). 6 Gernot Müller-Serten, In Salzwedel sind viele alte Rechnungen offen. Keine Gnade für SED-Peiniger/Journalisten am Pranger, in: Hannoversche Allgemeine vom 15.02.1990. 7 Vgl. Hubertus Knabe, Die Stasi-Debatte als Identitätsanker? Die Bürgerbewegungen und die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 4 (1995), S. 37–50, hier: S. 39. Erste Erwähnung finden gegen das Ministerium für Staatssicherheit gerichtete Proteste im telegraph vom 27.10.1990: Am 23. Oktober hätten Mitglieder des Neuen Forums gemeinsam mit Passanten eine »Sicherheitskette« um die Leipziger Stasi-Dienststelle gebildet. Am selben Tag sei auf einer Demonstration in Ost-Berlin erstmals die Losung »Stasi in
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eine verschärfte Kontrolle, dann die Auflösung des Geheimdienstes (»Stasi in die Produktion!«) und eine Bestrafung der Verantwortlichen. Die Unterlagen des MfS, insbesondere die ›eigene‹ Akte, spielten in den Sprechchören und auf den Transparenten der Demonstranten indes kaum eine Rolle. Ähnliches ergibt eine Analyse des von der damaligen Opposition8 herausgegebenen Samisdat: Zwar postulierten einige Autoren die Offenlegung von Daten zum Zustand von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – in wenigen Fällen gar mittels der Öffnung staatlicher Archive.9 Die personenbezogenen Stasi-Akten fanden jedoch lediglich an einer Stelle Erwähnung.10 Worin aber lag das geringe Interesse an der (›eigenen‹) Stasi-Unterlage begründet? Zum einen ging es den Demonstranten im Herbst 1989 angesichts der ebenso akuten wie tiefgreifenden Krise zunächst um grundsätzliche Veränderungen. Verkrustete Strukturen sollten aufgebrochen und erweiterte Partizipationsmöglichkeiten geschaffen werden. In diesem Sinne ist auch die Forderung nach einer Auflösung des Staatssicherheitsdienstes zu verstehen. Solange dieser nicht nachgegeben worden war (eine Umbenennung und geringfügige Umstrukturierung des MfS erfolgte im November, dessen formale Auflösung wurde am 14. Dezember 1989 beschlossen11), scheint der Zugang zum geheimdienstlichen Aktenmaterial für viele zweitranging – und zudem völlig undenkbar gewesen zu sein. Zum anderen existierten in der Bevölkerung nur sehr vage Vorstellungen von den Aktivitäten der Stasi und, damit einhergehend, dem Umfang und den Inhalten des personenbezogenen Aktenwerkes.12 Zwar habe man, so Ursula Jaekel, stetig das Gefühl gehabt, dass Informationen zur eigenen Person in eine Art »black box«13 wanderten, wie genau diese aussah, war jedoch nicht bekannt. Die die Produktion!« zu vernehmen gewesen. (Vgl. o.A., Montag – Aktions- und Demonstrationstag. Demonstrationen und Aktionen am 23. Oktober in der DDR, in: telegraph vom 27.10.1990). 8 Es wird in diesem Beitrag zwischen der Opposition sowie den im Jahr 1989 aus ihr hervorgegangenen Bürgerbewegungen und der unorganisierten Bürgerschaft unterschieden. Vgl. dazu u. a. Knabe, Stasi-Debatte, S. 38 sowie Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit, Frankfurt a. M. 1995. 9 »Die Wahrheit muss auf den Tisch! Dazu gibt es nur einen Weg: Alle Akten und Archive des Politbüros, des Zentralkomitees, der Regierung, der Verwaltungen und aus des Ministeriums für Staatssicherheit müssen geöffnet und den Historikern zugänglich gemacht werden.« P. H., Kommentar: Öffnet die Archive! Wir brauchen keinen Schauprozeß gegen Erich Honecker, aber wir brauchen die Wahrheit, in: telegraph vom 29.11.1989. 10 Am 4. Oktober forderte die ständige Mahnwache an der Berliner Gethsemanekirche in einem Offenen Brief die »Akteneinsichtmöglichkeit jedes Bürgers in seine ›Stasi-Akte‹« sowie die öffentliche Vernichtung sämtlicher »politische[r] Überwachungsakten«. O. A., Erklärung der ständigen Mahnwache an der Gethsemahnekirche Berlin, in: telegraph vom 04.11.1989. 11 Vgl. Walter Süß, Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu verhindern, Berlin 1999, S. 508–596; 656–672. 12 S. u. a. Ulrike Poppe, Die Bürgerbewegung und die Sicherung der Archive, in: Dagmar Unverhau (Hg.), Das Stasi-Unterlagen-Gesetz im Lichte von Datenschutz und Archivgesetzgebung. Referate der Tagung des BStU vom 26.–28.11.1997, Münster 2003, S. 31–41. 13 Ursula Jaekel, 40 Jahre Staatssicherheit – Ziele, Tätigkeit, Auswirkungen, in: Konrad Löw
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Bedeutung (und potenzielle Sprengkraft) des personenbezogenen Aktenmaterials wurde Opposition und demonstrierenden Massen erst mit den Besetzungen14 der MfS-Dienststellen am 4. und 5. Dezember 198915 offenbar.
II. »Wo ist meine Akte?« – erste Einsichten und Einsichtsforderungen Anfang Dezember 1989 drang an die Öffentlichkeit, dass in staatlichen Institutionen belastendes Aktenmaterial zerstört bzw. abtransportiert worden war. Die Mitglieder verschiedener Bürgerrechtsorganisationen riefen daraufhin recht allgemein dazu auf, Kontrollgruppen zu bilden um derartige »Verschleierungsversuche« zu verhindern.16 Anders als etwa das Zentralkomitee oder die ›KoKo‹17, in deren Archiven ebenfalls Unterlagen vernichtet wurden, waren die MfS-Dienststellen für Jedermann sicht- und greifbar. Anwohner erzählten von rauchenden Schornsteinen, herumfliegenden Papierschnipseln und Lastwagen, die nachts vor den Gebäuden vorfuhren und diese voll beladen wieder verließen.18 Derartige Berichte heizten die bereits vorherrschende Stasi-feindliche Atmosphäre weiter an. Für Empörung sorgte dabei aus oben genannten Gründen weniger der potenzielle Verlust der einzelnen, bzw. ›eigenen‹ Akte, als vielmehr die Möglichkeit, dass es den Verantwortlichen gelingen könnte, ihre Spuren zu verwischen und sich damit einer ihnen gebührenden Strafe zu entziehen. Am Mittag des 4. Dezember verschafften sich rund 300 Demonstranten Zugang zur Erfurter StasiDienststelle, versiegelten Aktenschränke und richteten Bürgerwachen ein. Die Nachricht von der erfolgreichen Besetzung in Erfurt »ging wie ein Lauffeuer durch die Republik« und ermutigte zahlreiche weitere Bürger zur Übernahme (Hg.), Ursachen und Verlauf der deutschen Revolution 1989, Berlin 1991, S. 141–158. Zum Wissen um die latente Präsenz der Staatssicherheit s. ferner Roger Engelmann, Eine Regionalstudie zu Herrschaft und Alltag im Staatssozialismus, in: Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 167–186, hier: S. 175; zudem Dorothee Wierling, Die Stasi in der Erinnerung, in: ebd., S. 187–208, hier: S. 189 f., Jens Gieseke, Staatssicherheit und Gesellschaft – Plädoyer für einen Brückenschlag, in: ebd., S. 7–20, hier: S. 13 und Sandrine Kott, Vom Verhältnis Stasi – Gesellschaft. Zur Stasi als Teil der Gesellschaft, in: ebd., S. 339–344, hier: S. 344. 14 Zur Problematisierung des Begriffes s. Christian Booß, Vom Mythos der Stasi-Besetzungen, in: Deutschland Archiv 43 (2010), S. 44–52, hier: S. 48 f. 15 Die in der Berliner Normannenstraße gelegene Stasi-Zentrale wurde erst am 15. Januar 1990 ›besetzt‹. Vgl. z.B. Ulrich Mählert, Kleine Geschichte der DDR, 7. Aufl., München 2010, S. 172. 16 Flugblatt des Ausschusses des Landessprecherrates Neues Forum vom 03.12.1989, RHG/ NFo 347. 17 Bei der Kommerziellen Koordinierung (KoKo) handelte es sich um eine 1966 eingerichtete Abteilung im Ministerium für Außenhandel, die v. a. der Beschaffung von Devisen diente. 18 Vgl. Walter Süß, Entmachtung und Verfall der Staatssicherheit. Ein Kapitel aus dem Spätherbst 1989, in: Deutschland Archiv 25 (1995), S. 122–151, hier: S. 142 sowie den Erfahrungsbericht Matthias Alwards vom Neuen Forum Beeskow (o. D.), RHG/NFo 347.
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von Kreis- und Bezirksdienststellen der Staatssicherheit.19 Fanden sich in einigen der Gebäude nur noch leere Aktenschränke, stießen die Besetzer andernorts auf umfangreiches Aktenmaterial.20 Erste Namen sog. inoffizieller Stasi-Mitarbeiter (IM) kursierten. Dort, wo Menschen ihre ›eigene‹ Akte entdeckten, spielten sich zum Teil dramatische Szenen ab. »Sie wussten mehr als ich über mich, sie wussten alles: Zitate im Freundeskreis, Umgang, Tagesablauf«, berichtete ein betroffener Bürger fassungslos der Zeitung Die Welt. »Erregt« habe er einen anwesenden Stasi-Mitarbeiter mit dem Gelesenen konfrontieren wollen, sei jedoch von seinen Freunden zurückgehalten worden.21 Auch andernorts führten die ersten Aktenlektüren zu »Entsetzen, Enttäuschung, Wut [und] Aggression«22, übertrafen Ausmaß und Perfidie der Überwachung und Repression doch vielfach kühnste Erwartungen.23 Viele der Besetzer trugen ihre Eindrücke mündlich weiter, andere nutzten die Gelegenheit, Akten zu kopieren oder einfach mitzunehmen.24 Nun waren die Stasi-Unterlagen in vieler Munde. Republikweit mehrten sich die Forderungen nach Auskunft über bzw. Einsicht in die ›eigene‹ Akte: »Mit Beunruhigung nehmen wir täglich zunehmend Briefe und hunderte Unterschriften von Werktätigen zur Kenntnis, die die Aufdeckung der inoffiziellen Mitarbeiter des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit und Einsicht in ihre Akte fordern«, hieß es etwa in einem Schreiben des Ausschusses zur Auflösung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit Karl-Marx-Stadt.25 Andernorts drohten ganze Belegschaften mit Streik, sollten die Namen der Stasi-Spitzel nicht publik gemacht werden. »Wir gehen davon aus, dass bei Nichtveröffentlichung [der Namen] die Unruhe unter der Bevölkerung weiter wächst und … Streiks folgen werden«, wandte sich der Ratsvorsitzende des Kreises Hohenstein-Ernstthal (Bezirk Karl-Marx-Stadt) besorgt an den Zentralen Runden Tisch.26 Dessen Teilnehmer waren sich uneins darüber, wie mit den schriftlichen Hinterlassenschaften des MfS zu verfahren sei. Die Vertreter der Grünen Partei und des Demokratischen Aufbruchs sprachen sich für ein Einsichtsrecht in bzw. die Herausgabe von Personendossiers an die Betroffenen
19 Süß, Entmachtung und Verfall, S. 143. 20 Dieter Stäcker, Stasi-Akten werden vorerst eingemauert. Polizei- und Bürgerkomitee lösen
Cottbuser Spitzel-Zentrale auf – Für einen Tipp gab es oft nur 20 Mark, in: Bonner Rundschau vom 10.02.1990. 21 Detlev Ahlers, Der Staatssicherheitsstaat, in: Die Welt vom 10.01.1990. 22 Jaekel, 40 Jahre Staatssicherheit, S. 158. 23 Siehe hierfür auch Stefan Wolle, Der Weg in den Zusammenbruch: Die DDR vom Januar bis zum Oktober 1989, in: Eckhard Jesse / Armin Mitter (Hg.), Die Gestaltung der deutschen Einheit. Geschichte, Politik, Gesellschaft, Bonn 1992, S. 73–109, hier: S. 103. 24 Vgl. Wolfgang Gast, Warten auf die Stasi-Akten, in: die tageszeitung vom 30.10.1991. 25 Schreiben des Ausschusses zur Auflösung des Bezirksamtes für Nationale Sicherheit KarlMarx-Stadt vom 27.02.1990 an den Ministerpräsidenten Hans Modrow, BArch DC 20/8973/53. 26 Schreiben des Vorsitzenden des Rates Kreis Hohenstein vom 12.02.1990 an den Zentralen Runden Tisch, BArch DC 20/8973/84.
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aus.27 Am 22. Januar 1990 stimmte gar eine Mehrheit für die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen, nunmehr von einem Bürgerkomitee kontrollierten Stasi-Hauptquartieres, in der »interessierte Bürgerinnen und Bürger« Einblick in ›ihre‹ Stasi-Akten nehmen können sollten.28 Wenige Wochen später jedoch ruderte man zurück: Auf einen Antrag der AG Recht hin wurde die Zerstörung der elektronischen Datenträger beschlossen.29 Ein von der AG Sicherheit erarbeitetes Stufenprogramm zur Vernichtung sämtlicher Akten und Karteien mit personenbezogenen Inhalten nahm man wohlwollend zur Kenntnis. »Es ist klar – das Kennenlernen der eigenen Akte würde manches offenlegen«, hieß es in dem am 12. März von der AG Sicherheit vorgelegten Abschlussbericht. »Jeder wüsste, wer ihn bespitzelte, wer über ihn ausgesagt hat. [Wir meinen] aber, dass solch eine Kenntnis das Verdächtigungsklima oder die Selbstjustiz noch mehr fördern würde. Überschätze hier keiner seine menschliche Größe.«30 Die Sorge vor einer weiteren gesellschaftlichen Destabilisierung bis hin zum Bürgerkrieg war zu diesem Zeitpunkt in der Opposition weit verbreitet. Bereits am 8. Januar 1990 hatte das Bürgerkomitee Berlin seiner Befürchtung Ausdruck verliehen, im Falle einer Aktenöffnung könne es »zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bis hin zu Mord und Totschlag«31 kommen und auch in den folgenden Wochen sprachen sich zahlreiche Bürgerrechtler gegen eine individuelle Akteneinsicht aus, »um Gewaltakte gegen die verhassten Schnüffler zu vermeiden«32. Ihren Forderungen nach radikaler Demokratisierung zum Trotz war das Vertrauen der Opposition in die Bürger zu diesem Zeitpunkt noch relativ gering.33 Ungewollt begaben sich die Bürgerrechtler dadurch in eine – höchst denkwürdige – Koalition mit Vertretern der ehemaligen Staatssicherheit. Ging es ersteren primär um den Schutz der Betroffenen, war letzteren in eigenem Sinne an einer Vernichtung bzw. dem Verschluss des Materials gelegen. Sie bestärkten die Bürgerrechtler in ihrer Sorge vor den gesellschaftlichen Folgen34 einer Aktenöffnung und schürten Ängste vor einem Missbrauch des Materials durch westliche Ge27 Vgl. Uwe Thaysen (Hg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Doku-
mente, Bd. 2: Umbruch, Wiesbaden 2000, S. 329. 28 Ebd., S. 525. 29 Vgl. ebd., Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Bd. 3: Neuer Machtkampf, Wiesbaden 2000, S. 752–756. 30 Ebd., Der Zentrale Runde Tisch der DDR. Wortprotokoll und Dokumente, Bd. 4: Identitätsfindung?, Wiesbaden 2000, S. 1117–1119. 31 Zitiert nach Klaus Bästlein, Der Kampf um die Akten. Die Vernichtung von Unterlagen der Staatssicherheit 1989/90, in: Deutschland Archiv 43 (2010), S. 830–837, hier: S. 833. 32 Michael Kleinert, ehemaliges Mitglied des Demokratischen Aufbruches und Gründer des Leipziger Bürgerkomitees zitiert nach o. A., »5000 laufende Meter Akten beschlagnahmt«. Leipziger Bürgerkomitee kommt der Staatssicherheit nur mit viel Mühe auf die Spur, in: Der Tagesspiegel vom 13.02.1990. 33 S. auch Klaus Bästlein, »Meine Akte gehört mir!«. Der Kampf um die Öffnung der StasiUnterlagen, in: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 72–78, hier: S. 75. 34 Heinz Engelhardt, Überprüfung ist verfassungswidrig, in: die tageszeitung vom 28.03.1990.
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heimdienste.35 Bei vielen Betroffenen stießen die Bedenken auf Unverständnis, ja Empörung: »Mit welchem Recht verweigern Sie die Bekanntgabe der inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit? Mit welchem Recht verdächtigen und beschimpfen Sie uns ehemaligen Gefangenen … als Lynchmörder?«, schrieb ein Bürger verärgert an den Zentralen Runden Tisch.36 Auch Heiko Lietz, als Vertreter des Neuen Forums selbst Teilnehmer des Runden Tisches, echauffierte sich über die Haltung weiter Teile der Opposition: »Ich habe es in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren als eine ungeheure Entmündigung empfunden, dass über mich Dossiers und Akten angelegt wurden, und empfinde es jetzt als eine doppelte Entmündigung, dass ich … nicht Einblick in diese Akten nehmen kann, dass andere wiederum entscheiden, ob ich mich psychisch oder physisch in der Lage … fühle, dann auch mit der darin vorhandenen Wirklichkeit umgehen zu können.«37
III. Vom »Untertanen« zum »Citoyen« – die Konzeptualisierung der privaten Unterlageneinsicht Als im Vorfeld der für den 18. März 1990 angesetzten Volkskammerwahlen Hinweise auf MfS-Verstrickungen führender Politiker an die Öffentlichkeit drangen,38 setzte bei zahlreichen Oppositionellen ein Umdenken in der Aktenfrage ein. Einig war man sich darin, dass ehemalige offizielle und inoffizielle Mitarbeiter des Geheimdienstes in der noch jungen Demokratie keine nennenswerten politischen Posten bekleiden durften. Doch ließ sich das Problem mit einer Überprüfung der neuen Volkskammerabgeordneten tatsächlich aus der Welt schaffen? Bestand dessen Wurzel nicht vielmehr darin, dass die ehemalige Staatssicherheit zwar offiziell entmachtet, ihr Informationsmonopol jedoch weiterhin ungebrochen war? Konnten dessen ehemalige Mitarbeiter die Gesellschaft nicht noch über Jahrzehnte mit gezielt gestreuten Gerüchten »vergiften«39? Und wie sollte man sich gegen diese zur Wehr setzen, wenn die ›eigene‹ Akte verschlossen oder gar vernichtet war? Am Beispiel der Volkskammerabgeordneten, bemerkte die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley am 22. März 1990 in der taz, »stellt sich zum ersten Mal die 35 Siehe den an den Zentralen Runden Tisch gerichteten Antrag des Neuen Forums Schwerin,
in: Thaysen, Neuer Machtkampf, S. 751. Zur Unterwanderung des Schweriner Bürgerkomitees durch inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit siehe Christian Booß, Von der Stasi-Erstürmung zur Aktenöffnung. Konflikte und Kompromisse im Vorfeld der Deutschen Einheit, in: Deutschland Archiv 1 (2011), S. 79–87, hier: S. 81. 36 Bürgerbrief vom 14.03.1990 an den Zentralen Runden Tisch, BArch DA 3/66. 37 Thaysen, Identitätsfindung, S. 1120. 38 Siehe z. B. Silke Schumann, Vernichten oder Offenlegen? Zur Entstehung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Eine Dokumentation der öffentlichen Debatte 1990/91, Berlin 1995, S.13–16. 39 Jürgen Wahl, Rasch den Stasi-Spuk beenden. Die DDR wird seit der Revolution immer unregierbarer, in: Rheinischer Merkur vom 30.03.1990.
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Frage, die sich unserer zögernden Demokratie noch oft stellen wird: Wie bringen wir die Lüge und die Fremdbestimmung aus unserem … Leben?«40 Zahlreichen Bürgerrechtlern schien ein System- und Elitenwechsel angesichts des grassierenden Misstrauens und der Vielzahl an Gerüchten und Verleumdungen – Rainer Eppelmann sprach gar von »Hysterie- und Lynchstimmung«41 – als Fundament eines demokratischen Neuanfanges nicht mehr ausreichend. Hatten sie den von der Bevölkerung geforderten Zugang zur ›eigenen‹ Akte wenige Wochen zuvor noch als »undenkbar« abgetan,42 begannen sie nun offen über die mit ihm einhergehenden Möglichkeiten »kultureller [bzw. gesellschaftlicher] Aufarbeitung«43 nachzudenken. War nicht das Wissen um die Verantwortlichen und deren Schuld Voraussetzung für Vergebung und gesellschaftliche »Heilung«44? Und könne die Aktenlektüre nicht auch darüber zu einer Entspannung beitragen, dass man aus ihr erfahre, »wer es nicht war, … dass es nicht immer die besten Freunde waren«45? Während das öffentliche Interesse an der ›eigenen‹ Stasi-Akte vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Wiedervereinigung und damit einhergehender zukunftsorientierter Sorgen46 nachließ,47 setzte sich in der Opposition die Über40 Bärbel Bohley, Damit sich Geschichte nicht wiederholt. Keine Stasi-Mitarbeiter in die neue
Volkskammer, in: die tageszeitung vom 22.03.1990. 41 Rainer Eppelmann zitiert nach Petra Bornhöft, Schäuble und Stasi für Verdunklung. Bundesinnenminister will »großzügige Amnestie« für Stasi-Mitarbeiter / Deren General Engelhardt klagt Datenschutz ein / Bündnis 90 und Regierungsbeauftragter Fischer befürchten gezielte Verschleppung der Überprüfung der neuen DDR-Parlamentarier, in: die tageszeitung vom 28.03. 1990. 42 Berliner Bürgerkomitee zitiert nach Klaus-Dieter Gurezka, Das Berliner Stasi-Material soll in den Reißwolf wandern. Bürgerkomitee fürchtet Mißbrauch / Mit Hilfe ehemaliger Spitzel Akten sichergestellt / Selbst Zählkarten waren abgefilmt, in: Hannoversche Allgemeine vom 09.03.1990. 43 Wolfgang Templin, zitiert nach Matthias Geis, »Aufarbeitung – ohne den Impuls der Rache«. Wolfgang Templin von der »Initiative Frieden und Menschenrechte« zur Stasi-Überprüfung der Abgeordneten, in: die tageszeitung vom 27.03.1990. Templin, der sich »exzellent« mit den literarischen Vorbildern der Studentenbewegung im Westen ausgekannt habe, sei, so Christian Booß, in Adornos Essay »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit« auf den Terminus »Aufarbeitung« gestoßen und habe diesen in die ostdeutsche Debatte eingeführt. Vgl. Booß, Von der Stasi-Erstürmung zur Aktenöffnung, S. 82. 44 Joachim Gauck, Erst erinnern, dann vergeben. Was wird aus der Stasi-Vergangenheit?, in: Die Zeit vom 13.04.1990. 45 Klaus-Peter Schwalm, Daten der Bürger sind ihr persönliches Eigentum, in: Berliner Zeitung vom 06.08.1990. 46 Laut einer Umfrage des SPIEGEL fürchteten die DDR-Bürger in zunehmendem Maße um ihre Arbeitsplätze. Auch die Sorge vor einem Abbau der sozialen Sicherungen war weit verbreitet (vgl. o.A., 1 : 1 entzweit die Deutschen. SPIEGEL-Umfrage in der DDR: Die Situation nach der Wahl und vor der Währungsunion, in: DER SPIEGEL vom 23.04.1990, S. 100–103). Zur Sorge der DDR-Bevölkerung um ihr »wirtschaftliches Überleben« siehe auch Jarausch, Unverhoffte Einheit, S. 191. 47 Vgl. Gerlind Schaidt, »Die alte Garde sitzt wieder fest im Sattel«. DDR-Bürgerkomitees zur Stasi-Auflösung beklagen Behinderung ihrer Arbeit, in: Bonner Rundschau vom 28.03.1990
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zeugung durch, nach der äußeren Befreiung (durch Revolution) bedürfe es jetzt einer inneren Befreiung durch private Unterlageneinsicht. Aus der emotionalen Forderung »Ich will meine Akte!« entwickelte sich im intellektuellen Diskurs das Konzept ›Aufarbeitung durch Akteneinsicht‹. Man ging nunmehr davon aus, die Betroffenen hätten ein Recht darauf zu erfahren, wer sie in der Vergangenheit bespitzelt und wie die Stasi auf ihr Leben eingewirkt hatte.48 Dabei sei die Akte nicht nur Hilfsmittel zur Selbstfindung und zwischenmenschlichen Versöhnung,49 sondern auch Vehikel der (noch jungen) Demokratie: Mittels Akteneinsicht, so die Hoffnung der Bürgerrechtler, könnte die jahrzehntelang internalisierte Unmündigkeit weiter Teile der DDR-Gesellschaft überwunden und aus »Untertanen … Citoyen«50 werden. So ermögliche die Einsicht dem Einzelnen nicht nur, antrainierte Denkmuster und Verhaltensweisen zu überwinden – wie etwa Angst oder Anpassung angesichts einer vermeintlich übermächtigen Staatssicherheit –, sondern ferner seine eigene Rolle in der Diktatur zu reflektieren. Nicht ohne Häme schrieb der langjährige Oppositionelle und heutige sächsische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Lutz Rathenow Anfang Juni 1990 im Rheinischen Merkur: »Allein wegen der desillusionierenden Erfahrung einiger, die sich Jahrzehnte am Rande des Gefängnisses wähnten wegen mutiger Äußerungen, die niemand registrierte außer ihnen, halte ich die ganze Aktion schon für nützlich. Mancher wird störrisch glauben, gerade seine Akte sei vernichtet worden. Aber dem einen oder anderen dämmert es vielleicht, wie sehr er unter den sogar vom SED-Staat geduldeten Möglichkeiten des Widerstandes blieb.«51 Selbsterfahrung und historische Bildung, so die Überzeugung, immunisierten den Einsichtnehmenden gegen künftige staatliche Bevormundung und Instrumentalisierung.
IV. »Bürger schützt eure Akten …!« – Proteste im Zuge der Wiedervereinigung Die neue DDR-Regierung unter dem christdemokratischen Ministerpräsidenten Lothar de Maizière zeigte sich vom Sinneswandel der Opposition wenig beeindruckt. Wiederholt verwies Innenminister Peter-Michael Diestel auf die von den
sowie o. A., Jeder Tag ein Alptraum. DDR-Bürgerkomitees bewachen den Stasi-Nachlaß – und werden mit dem Aktenberg nicht fertig, in: Der SPIEGEL vom 23.04.1990, S. 50–59; ferner: Knabe, Stasi-Debatte, S. 45 f. 48 Siehe u. a. Peter Kay, »Auch du mein Sohn?«, in: die andere vom 29.03.1990. 49 Gauck, Erst erinnern. 50 Dieses Zitat stammt zwar aus einem späteren Beitrag Joachim Gaucks: Die Akten und die Wahrheit. Fünf Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz, in: Edda Ahrberg (Hg.), Die Akten und die Wahrheit. Fünf Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz; Vorträge einer Fachkonferenz, Sankt Augustin 1997, S. 11–26, hier: S. 16. Ähnliche Formulierungen finden sich jedoch bereits in der 1990 geführten Debatte. Vgl. u.a. Lutz Rathenow, Akteneinsicht als Therapie, in: Rheinischer Merkur / Christ und Welt vom 01.06.1990. 51 Rathenow, Akteneinsicht.
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Akten ausgehende Gefahr für den inneren Frieden52 und ließ sie am 16. Mai 1990 »im Interesse des Schutzes der Bürger« kurzerhand sperren. Für das Verlangen persönlich Betroffener, Einsicht in ›ihre‹ Stasi-Unterlagen zu nehmen, habe er Verständnis, verlautbarte Diestel auf einer am selbigen Tag abgehaltenen Pressekonferenz, könne ihm jedoch nicht nachgeben, da sonst »neuer Unfrieden und neues Unrecht« entstünde.53 Auch in der Volkskammer wurde ein Recht auf private Unterlageneinsicht lange Zeit nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Zwar war man sich schnell einig, dass die Unterlagen des MfS aufbewahrt und ausgewertet werden müssten, zielte dabei aber vor allem auf eine juristische, politische und historische Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit.54 Dem einzelnen Betroffenen sollte lediglich ein Auskunftsrecht zugestanden werden. Ihre Manifestation fand diese Haltung in dem am 24. August verabschiedeten »Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit / Amtes für Nationale Sicherheit«. Sämtliche personenbezogene Daten wurden »zum Schutze der Persönlichkeitsrechte des Bürgers … grundsätzlich gesperrt«. Informationen aus der ›eigenen‹ Akte erhielten die Betroffenen lediglich zu Rehabilitierungszwecken und auch nur dann, wenn sie aufgrund der Datenerhebungen nachweislich schweren Schaden genommen hatten bzw. weiterhin nahmen (etwa im Falle gegen sie gerichteter Verleumdungen wegen inoffizieller Tätigkeiten für den Staatssicherheitsdienst).55 Auf das Auskunftsrecht angesprochen bemerkte Joachim Gauck, Leiter des Volkskammer-Sonderausschusses zur Kontrolle der Auflösung des MfS und späterer Sonderbeauftragter für die Stasi-Unterlagen: »Niemand in diesem Land wird seine eigene Akte sehen können … Es gibt gute Gründe [dafür], dass dieser Gesetzgebungsvorschlag eben [dies] nicht erlaubt … Und diese Gründe liegen letztlich in der Bewahrung des inneren Friedens.«56 Vielen Abgeordneten ging es dabei nicht bzw. nicht nur um den Schutz der Mitarbeiter des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes. Inzwischen wusste man, dass jede Unterlage eine Vielzahl von z.T. äußerst intimen Informationen über Dritte enthielt – Personen, die mit dem Betroffenen bekannt, jedoch nicht zielgerichtet ausgespäht worden waren.57 Von deren Schutzwürdigkeit wa52 Siehe etwa Dieter Dose, »Aus der Bundesrepublik zwei Millionen bespitzelt«. Diestel: Vor-
erst keine Vernichtung der Stasi-Akten, in: Die Welt vom 24.04.1990 sowie o. A., »Sechs Millionen DDR-Bürger in Stasi-Dossiers erfaßt«, in: Welt am Sonntag vom 13.03.1990. 53 Pressekonferenz Peter-Michael Diestels am 16.05.1990, BArch DA 1/16340. 54 Vgl. z.B. die Rede Joachim Gaucks vor der Volkskammer. Stenografischer Bericht zur 26. Sitzung der 10. Volkskammer vom 20.07.1990, S. 1146, BArch DA 1/00C277. 55 Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit / Amtes für Nationale Sicherheit vom 24. August 1990, BArch DA 1/16343. 56 Stenografischer Bericht zur 32. Sitzung der 10. Volkskammer vom 24.08.1990, S. 1458, BArch DA 1/00C277. 57 Vgl. Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Hg.), Gesetz über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 2013, S. 11.
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ren auch jene Volksvertreter überzeugt, die einem Einsichtsrecht grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstanden. Eine entsprechende Bearbeitung der Unterlagen schien angesichts der immensen Anzahl an Betroffenen zu diesem Zeitpunkt weder finanziell noch organisatorisch zu bewerkstelligen. Dass »am Ende eine Behörde mit 3000 Mitarbeitern herauskomm[en würde]«, war für alle Beteiligten »unvorstellbar«.58 Die Opposition akzeptierte das Volkskammergesetz zunächst als Kompromiss. Als jedoch wenige Tage nach seiner Verabschiedung bekannt wurde, dass es, entgegen der Intention der Volkskammerabgeordneten, nicht Bestandteil des Einigungsvertrages werden sollte, brandete grundsätzlicherer Protest auf. Am 4. September besetzten 21 Bürgerrechtler und langjährige Oppositionelle einen Raum des ehemaligen Stasi-Hauptquartieres in der Berliner Normannenstraße. In dem von ihnen publizierten Offenen Brief hieß es u. a.: »Die Entscheidung über den Umgang, das heißt, Aushändigung oder Vernichtung, mit den Personendossiers … muss von den Betroffenen selbst gefällt werden. Das Argument, die Aushändigung der Akten würde zu einem Bürgerkrieg führen, widerspricht den … Erfahrungen. Niemand von den bisher enttarnten Stasi-Mitarbeitern ist ernsthaft zu Schaden gekommen.«59 Mit den Berliner Besetzern und ihrer Forderung nach Verfügungsgewalt über die ›eigene‹ Akte solidarisierten sich Bürgerrechtler republikweit. Sie errichteten Mahnwachen, verteilten Flugblätter und traten am 12. September gemeinsam mit den Besetzern in einen Hungerstreik.60 Die an die breite Bevölkerung gerichteten Aufforderungen (»Bürger, schützt eure Akten mit Konsequenz aber ohne Gewalt!«) fanden dagegen nur geringen Widerhall. Zwar unterzeichneten bis zum 20. September rund 50.000 Menschen den Offenen Brief der Berliner Bürgerrechtler,61 die tägliche 17 Uhr-Demonstration in der Normannenstraße zählte jedoch nur wenige Teilnehmer und auch an der vor der ehemaligen Stasi-Zentrale postierten Mahnwache gingen die meisten Passanten achtlos vorüber. »Der Mann auf der Straße«, war so Mitte September in der Zeitung Die Welt zu lesen, »empfindet das Aktenthema offensichtlich nicht 58 Hansjürgen Garstka, »Freiheit für meine Akte«: Die Öffnung der Archive – Das Gesetz der
Volkskammer über die Sicherung der Nutzung der personenbezogenen Daten, in: Unverhau, Stasi-Unterlagen-Gesetz, S. 43–59, hier: S. 47 f. 59 Die Besetzerinnen und Besetzer der Zentrale des ehemaligen MfS, Offener Brief an alle Bürger und alle Parteien und ihre parlamentarischen Vertreter in Ost und West, in: Gesamtdeutsches Institut (Hg.), Dokumentation zum Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR in 6 Teilen, Bd. 1: November 1989–31. Oktober 1990, Berlin 1990, S. 39 f. 60 Vgl. u.a. o.A., Die Forderungen der Besetzer. Besetzer wollen Geheimdienste von den Akten fernhalten und Betroffene heranlassen, in: die tageszeitung vom 06.09.1990 sowie Albrecht Hinze, An einen empfindlichen Punkt gerührt. Die Besetzung der Stasi-Zentrale zeigt, wie tief das Geheimdiensttrauma in der DDR geht, in: Süddeutsche Zeitung vom 06.09.1990 und Wolfram Kempe, Wem gehören die Stasi-Akten? Innenansicht einer politischen Aktion – 2. Teil, in: die andere vom 19.09.1990. Zu den republikweit durchgeführten Hungerstreiks s. das Protokoll des außerordentlichen Republikforums des Neuen Forums vom 23.09.1990, RHG/NFo 139. 61 Vgl. Schumann, Vernichten oder Offenlegen?, S. 25.
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[als] so brisant wie die Besetzer.«62 Tatsächlich hatten die bevorstehende Wiedervereinigung und damit verbundene existenzielle Sorgen das Interesse vieler DDR-Bürger an ›ihren‹ Akten in den Hintergrund treten lassen. So herrschte zwar eine weitgehende Übereinstimmung mit der von den Besetzern erhobenen Forderung nach Aktenherausgabe bzw. -einsicht63, doch war die breite Masse längst mit anderen Problemen beschäftigt.64 »[W]em nützt eine … Diskussion um alte Seilschaften und Stasi-Vergangenheiten?«, verlieh ein Leser der Berliner Zeitung der vorherrschenden Stimmung Ausdruck. »Ich kann einfach den Eindruck nicht loswerden, dass abgelenkt werden soll von der … steigenden Arbeitslosigkeit und Existenzangst der Menschen …«65 Der relativ geringen Resonanz in der Bevölkerung stand die große Beachtung entgegen, die der Besetzung des StasiHauptquartieres und den damit im Zusammenhang stehenden Aktionen der Bürgerrechtler von Politik und Medien zuteilwurde. Noch am 4. September 1990 besuchten Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl und der Sonderausschussvorsitzende Joachim Gauck die ehemalige Stasi-Zentrale. In den folgenden Tagen taten es ihnen Abgeordnete sämtlicher Fraktionen gleich: »Die ersten [waren] die von der DSU. Dann [kamen] die anderen. Wieder und wieder dieselben Sätze: Dies ist eine friedliche, politische Aktion, ein Akt der Selbstverteidigung. Wie stehen Sie denn dazu? Was sagt denn Ihre Fraktion? Werden Sie dem Staatsvertrag zustimmen? … Und immer wieder … dieselben Antworten: Das haben wir nicht gewusst. So haben wir das noch nicht gesehen. Im Grunde haben sie ja recht«, erinnert sich Wolfram Kempe, einer der Besetzer.66 Auch Günther Krause, DDR-Staatssekretär und Chefunterhändler für den Einigungsvertrag, suchte das Gespräch mit den Berliner Bürgerrechtlern. Dass jeder seine »Akte unter den Arm nehmen und wegtragen« dürfe, hielt er aus datenschutzrechtlichen Gründen zwar nicht für realisierbar, sprach sich jedoch für einen erweiterten Zugang der 62 Dieter Dose, Ex-Stasi-Mitarbeiter archivieren Akten … Enthüllungen über ehemalige MfS-
Spitzenleute in DDR-Regierungsstellen sorgen für neuen Wirbel, in: Die Welt vom 13.09.1990. Siehe auch Johannes Leithäuser, Der Kampf um die Akten, in: Frankfurter Allgemeine vom 13.09.1990: »Die Wut auf das Regime und das spontane Gefühl, die Sümpfe des Regimes austrocknen zu müssen, die früher Zehntausende zu Demonstrationen vor die Gebäude der Staatssicherheit trieb, sind aus dem Bewusstsein verschwunden. Dass es über jeden vierten Einwohner der DDR einen ›Vorgang‹ gibt, kümmert viele nicht mehr, seitdem sie sich anderen, ungewohnten Sorgen stellen müssen.« 63 Siehe beispielsweise. o.A., »… damit jeder weeß, wat ´se ihm rinjemogelt haben«. DDRBürger verlangen Einsicht in ihre Stasi-Akten – Umfrage des Tagesspiegels in Bernau, in: Der Tagesspiegel vom 16.09.1990. 64 Vgl. u.a. Helmut Karasek / Ulrich Schwarz, »Die alten Herrn verpißten sich«. Der Liedermacher Wolf Biermann über Stasi-Akten und das neue Deutschland, in: DER SPIEGEL vom 01.10.1990, S. 308–318 sowie o. A., »Wir werden wie früher fotografiert«. Gespräch [mit Bärbel Bohley] über Gründe der Stasi-Besetzung, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 08.09.1990. 65 Leserbrief Dieter Schippkes, in: Berliner Zeitung vom 10.09.1990. 66 Wolfram Kempe, Wiederholungstäter in Sachen Widerstand. Innenansicht einer politischen Aktion, in: die andere vom 12.09.1990.
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Betroffenen zu den in ›ihren‹ Stasi-Akten enthaltenen Informationen aus. Dieser, so Krauses Vorschlag an die Bürgerrechtler und den westdeutschen Verhandlungspartner, ließe sich zum Beispiel in einem dem Einigungsvertrag beigefügten Notenwechsel konkretisieren.67 Die Bundesregierung hatte sich, nachdem sie im Frühjahr 1990 von den zahlreichen Dossiers über westdeutsche Bürger und führende Politiker erfahren hatte68, wiederholt für eine Vernichtung der Akten eingesetzt – war dabei jedoch auf Widerspruch in den eigenen Reihen gestoßen. Bereits im März hatte die FDP geschlossen dafür plädiert, dass Betroffene ihre ›eigenen‹ Akten ohne Einschränkung einsehen können sollten.69 Mit der Besetzung des Stasi-Hauptquartieres und den damit verbundenen Protesten der ostdeutschen Bürgerrechtler erhielt die bis dato peripher geführte Debatte Aufwind. Noch am 5. September erklärten sich die Bonner Grünen mit den Besetzern und ihrer Forderung nach einem Einsichtsrecht der Betroffenen »voll« solidarisch.70 Einzelne Abgeordnete von SPD und CSU schlossen sich ihnen an. Wolfgang Schäuble, als Innenminister für die Vertragsverhandlungen mit der DDR zuständig und eigentlich Verfechter eines möglichst restriktiven Aktenzugangs,71 erkannte den Opfern des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes zumindest ein (nicht näher definiertes) Recht auf Aufklärung zu72. Mit Günther Krause einigte er sich am 18. September 1990 auf eine Zusatzvereinbarung zum Einigungsvertrag, in der den Betroffenen »ein Auskunftsrecht … unter der Wahrung der schutzwürdigen Interessen Dritter« eingeräumt wurde. Der gesamtdeutsche Gesetzgeber sah sich aufgefordert, unverzüglich mit der Ausarbeitung einer endgültigen Regelung der Stasi-Unterlagen-Frage zu beginnen und dabei das Volkskammergesetz vom 24. August umfassend zu berücksichtigen.73 Den Besetzern des Stasi-Hauptquartieres ging dieser Kompromiss nicht weit genug. Es sei »völlig unbefriedigend, dass die Opfer des Stasi-Terrors kaum Möglichkeiten haben werden, an ihre Akten heranzukommen«. Statt ihnen nur ein Auskunftsrecht zu gewähren, gelte es den Betroffenen ›ihre‹ Personendossiers »in die Hand zu geben«, damit sie selbst über deren wei67 O. A., Notenwechsel zu den Stasi-Akten. Gespräch Krauses mit Schäuble und Seiters / Aus-
kunftsersuchen, in: Frankfurter Allgemeine vom 12.09.1990. 68 Vgl. Christian Booß, Interessenzwietracht bei der deutschen Einigung. Bundesrepublikanische Widerstände gegen die Öffnung der Stasi-Akten und das Volkskammergesetz vom 24. August 1990, in: Horch und Guck 57 (2007), S. 53–58, hier: S. 54. 69 O. A., »Fälschungen kaum nachweisbar«. Bonn kann Kampagnen des alten Stasi-Apparats nicht wirkungsvoll durchkreuzen, in: Die Welt vom 28.03.1990. 70 Stenografischer Bericht zur 222. Sitzung des 11. Bundestages vom 05.09.1990, S. 17507. 71 Vgl. Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991, S. 273. 72 Vgl. Stenografischer Bericht zur 222. Sitzung des 11. Bundestages vom 05.09.1990, S. 17485. 73 Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Durchführung und Auslegung des am 31. August 1990 in Berlin unterzeichneten Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag.
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teren Verbleib entscheiden könnten.74 Als die Volkskammer am 20. September tagte, um über den Einigungsvertrag abzustimmen, drangen einige der Besetzer in den Plenarsaal ein und versuchten das Rednerpult zu übernehmen. In den aufkommenden Tumult hinein bekräftigten sie ihre Forderung nach Herausgabe der ›eigenen‹ MfS-Akten. Bei den anwesenden Volkskammerabgeordneten stieß die Aktion vielfach auf Ablehnung: »Selbstgerecht« sei das Beharren der Berliner Bürgerrechtler auf ihrer Aktenlösung und die gesellschaftliche Stabilität gefährdet, sollten zu viele Informationen oder gar ganze Unterlagen an die Öffentlichkeit gelangen.75 Auch Joachim Gauck, der wenige Tage später zum Sonderbeauftragten der Bundesregierung für die Verwahrung der Akten und Dateien des ehemaligen MfS ernannt wurde, distanzierte sich von den Besetzern. Entgegen ihrer eigenen Aussagen repräsentierten sie nicht die Bürger(bewegungen), die dem Einigungsvertragskompromiss zu den Stasiunterlagen grundsätzlich zustimmten. Er selbst »sehe schwarz«, was »dieses Akte-in-die-Hand-bekommen« angehe, könne sich jedoch eine Kombination aus Auskunft und Einsicht vorstellen, wobei die Daten Dritter zu anonymisieren seien.76
V. Alte Fragen in neuem Gewand – die Gesetzgebungsdebatte in der wiedervereinten Bundesrepublik War es den Bürgerrechtlern im September 1990 gelungen, die Frage einer Unterlagenherausgabe bzw. -einsicht auf die politische Agenda in Ost- wie auch in Westdeutschland zu katapultieren, versanken sie nach der Wiedervereinigung zunehmend in der politischen Bedeutungslosigkeit. Zu den zentralen Akteuren der privaten Unterlageneinsicht avancierten nunmehr westdeutsche Politiker und Datenschutzexperten. Letztere meldeten sich seit August 1990 verstärkt zu Wort und unterstützten die oppositionellen Forderungen nach einem uneingeschränkten Zugang der Betroffenen zur ›eigenen‹ Akte mit Verweis auf das bundesdeutsche Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Auch die tatsächlichen Namen der in den Stasiunterlagen in der Regel nur mit Decknamen aufgeführten (inoffiziellen) Mitarbeiter sollten die Betroffenen erfahren dürfen: »Der innere Frieden des Einzelnen [sic!] und der Gesellschaft ist nur möglich, wenn man weiß, ob und was mit einem vierzig Jahre lang passiert ist, wer die Leute waren, die Informationen weitergetragen haben«, meinte etwa Hansjörg Geiger, Datenschutzbeauftragter bei der entstehenden BStU.77 Im aus den ersten gesamtdeut74 Erklärung der Besetzerinnen und Besetzer des Stasi-Archivs vom 20.09.1990, RHG/NFo 356. 75 Stenografischer Bericht zur 36. Sitzung der 10. Volkskammer vom 20.09.1990, S. 1748,
BArch DA 1/00C277. 76 Joachim Gauck, zitiert nach Michael Klonovsky, »Frau Bohley ist nicht die Bürgerbewegung«, in: Der Morgen vom 21.09.1990. 77 Hansjörg Geiger zitiert nach Petra Bornhöft / Götz Aly, Akteneinsicht? Später! Interview mit Joachim Gauck und Hansjörg Geiger, in: die tageszeitung vom 17.11.1990; s. auch Hansjür-
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schen Wahlen vom 2. Dezember 1990 hervorgegangenen Bundestag zeigte man sich in der Frage einer privaten Unterlageneinsicht uneinig. FDP, Bündnis 90 / Die Grünen und SPD (obwohl in der Thematik gespalten) tendierten zu einem uneingeschränkten Einsichtsrecht für Betroffene. Die Abgeordneten von CDU und CSU sprachen sich zunächst lediglich für ein zeitlich befristetes allgemeines Auskunftsrecht aus.78 Im Frühjahr 1991 setzte jedoch auch bei ihnen ein Umdenken ein. In einem am 3. April vom Innenministerium veröffentlichten Arbeitspapier hieß es, den Betroffenen müsse auf Antrag Einsicht in ›ihre‹ Akten gewährt werden. Ferner sollten sie Kopien erhalten können, in denen zuvor die Daten Dritter unkenntlich gemacht worden seien.79 Auch die rund zwei Monate später von CDU/CSU, FDP und SPD sowie von Bündnis 90 / Die Grünen vorgelegten Entwürfe für ein Stasi-Unterlagen-Gesetz sahen ein umfassendes Auskunfts- und Einsichtsrecht sowie die Möglichkeit des Kopienerhaltes vor.80 Hitzige Debatten entzündeten sich an der von den bundesdeutschen Datenschutzexperten aufgeworfenen Frage nach einem Recht auf Decknamenentschlüsselung. Obwohl beide Gesetzentwürfe den Betroffenen das Recht zugestanden, die Klarnamen der in ›ihren‹ Unterlagen aufgeführten MfS-Mitarbeiter zu erfahren, artikulierten insbesondere christdemokratische Abgeordnete bis zuletzt Zweifel an einer solchen Regelung. Zwar könne er das »Interesse der jahrelang bespitzelten Opfer, endlich zu erfahren, wer sie ausgespäht hat«, nachvollziehen, befand etwa Hartmut Büttner gegenüber dem Bundestag, sehe jedoch die Gefahr »dass die Täter und deren Familien zu Objekten eines ungezügelten Volkszornes werden könnten«.81 Andere prophezeiten den Ausbruch von »Denunziationswellen«, »Selbst-« und »Lynchjustiz«, sollten die Namen der ehemaligen Mitarbeiter preisgegeben werden.82 Den grundsätzlichen Zweiflern standen jene gegenüber, die den Betroffenen zwar ein Recht auf Decknamenentschlüsselung konzedierten, dieses aber erheblich einschränken wollten. Die Opfer sollgen Garstka in o. A., Datenschutzbeauftragter fordert Archivierung von Stasi-Akten, in: Der Tagesspiegel vom 21.08.1990 sowie Alfred Einwag in o. A., Der Datenschutz darf nicht zum Täter-Schutz für die Stasi werden, in: Berliner Morgenpost vom 14.10.1990 und Klaus Stoltenberg, Zur Regelung des Umgangs mit den Stasi-Akten, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 12 (1990), S. 460–465. 78 Stenografischer Bericht zur 5. Sitzung des 12. Bundestages vom 30.01.1991, S. 234, 237, 240. 79 Vgl. o.A., Nach Mord an Rohwedder Zugriff auf Stasi-Akten verlangt. Union drängt auf Einsicht für den Verfassungsschutz, in: Der Tagesspiegel vom 05.04.1990. 80 Gesetzentwurf der Abgeordneten Ingrid Köppe und der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen, Entwurf eines Gesetzes über die Sicherung und Nutzung der Daten und Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik; Gesetzentwurf der Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP, Entwurf eines Gesetzes über die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (Stasi-UnterlagenGesetz – StUG). 81 Stenografischer Bericht zur 31. Sitzung des 12. Bundestages vom 13.06.1991, S. 2372. 82 Bericht zur 633. Sitzung des Ausschusses für Innere Angelegenheiten am 24.06.1991, Teil II: Diskussionsprotokoll, S. 32.
240 Lilith Buddensiek
ten ein »berechtigtes Interesse« nachweisen müssen, um den Klarnamen eines ehemaligen MfS-Mitarbeiters zu erhalten, forderte ein Vertreter Hamburgs im Bundesrat.83 Es sollten nur die Namen jener Mitarbeiter genannt werden, deren MfS-Tätigkeiten gravierende Folgen für den Betroffenen gehabt hatte84 und auch nur dann, wenn die Tat selbst nicht lange Zeit zurücklag, lautete ein anderer Vorschlag.85 Darüber hinaus wurde angeregt, die Namensbekanntgabe mit einer bewertenden Stellungnahme eines Behördenmitarbeiters zu verbinden, um die Opfer in die Lage zu versetzen, »die Funktion, Tätigkeiten und Taten der betreffenden MfS-Mitarbeiter, -Führungspersonen oder Denunzianten besser einordnen zu können«.86 Insgesamt blieben die sich für eine Verhinderung bzw. Restriktion der Decknamenentschlüsselung einsetzenden Abgeordneten jedoch in der Minderheit. Einzig die von der FDP erhobene Forderung nach einer »Jugendsündenregelung«, zum Schutz der Daten von (zum Zeitpunkt ihrer MfS-Tätigkeit) minderjährigen Denunzianten, vermochte sich durchzusetzen.87
VI. Fazit und Ausblick Standen im Herbst 1989 noch systemische Fragen im Vordergrund, rückten mit den Besetzungen der MfS-Dienststellen am 4. und 5. Dezember 1989 sowie den in diesem Zuge vorgenommenen Akteneinsichten verstärkt der Einzelne und dessen Rolle in der Diktatur in den Fokus. Erste Enthüllungen über Ausmaß und Perfidie der Stasi-Überwachung und Repression lösten bei weiten Teilen der Bevölkerung eine Art »Aktenschock«88 aus. Wer waren die zehn-, wenn nicht hunderttausenden für das MfS tätigen Spitzel?89 Welche Informationen hatten sie über wen weitergetragen und welche Konsequenzen waren daraus erwachsen? Damit war die Debatte über die Rolle des Einzelnen in der Diktatur von Anfang an eng an dessen Rolle für das MfS – und, daraus hervorgehend, die einzelne oder auch ›eigene‹ Stasi-Akte – geknüpft. Dissens entzündete sich allen voran an der Frage, wie viel Aufklärung die Gesellschaft und die noch junge Demokratie vertrugen, wobei sich sowohl in der (organisierten) Bürgerbewegung als auch in
Ebd., S. 32. Ebd., S. 29. Stenografischer Bericht über die 12. Sitzung des 12. Innenausschusses vom 27.08.1991, S. 81. Ebd., S. 357. S. u. a. den stenografischen Bericht über die 31. Sitzung des 12. Bundestages vom 13.06.1991, S. 2375 f. 88 Booß, Interessenzwietracht, S. 1. 89 In den ersten Monaten nach der Besetzung der Stasi-Dienststellen kursierten unterschiedlichste Schätzungen über die Anzahl der beim MfS beschäftigten IM. Heute geht man davon aus, dass zwischen 1950 und 1989 rund 624.000 DDR-Bürger als Spitzel für den Geheimdienst tätig waren. Im Herbst 1989 wurden ca. 173.000 Personen als IM geführt. Vgl. Helmut MüllerEnbergs, Die inoffiziellen Mitarbeiter, Berlin 2008, S. 36. 83 84 85 86 87
EIN RECHT AUF EINSICHT? 241
der Politik letztlich die für eine möglichst umfassende Aufklärung plädierenden Kräfte durchsetzten. Ging es in den Debatten vordergründig um das Ob bzw. Wie eines individuellen Aktenzugangs, verbargen sich hinter ihnen grundsätzlichere Fragen nach der Mündigkeit des Bürgers und, damit zusammenhängend, dem Verhältnis von Bürger und Staat. Würden die betroffenen Bürger in der Lage sein, die ihnen gewährten Informationen und Handlungsspielräume verantwortungsbewusst zu nutzen? Wann stellte eine Zurückhaltung von Informationen und die damit einhergehende Beschneidung jener Handlungsspielräume einen sinnvollen Schutz des Bürgers – ggf. auch vor sich selbst –, wann eine »wohlmeinende Entmündigung«90 dar? Noch bei der Verabschiedung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes am 14. November 1991 herrschte bei vielen Bundestagsabgeordneten Unsicherheit ob der Richtigkeit ihrer Entscheidung für ein Recht auf private Unterlageneinsicht. Es sei, so der SPD-Abgeordnete Dieter Wiefelspütz, ein geschichtspolitisches Wagnis, das weitreichende Risiken beinhalte.91 Ob es »zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr Begreifen, zu mehr Verstehen«, oder aber zu »gegenseitigem Zerstören« führen werde, hinge von den künftigen Einsichtnehmenden ab und könne nicht vorausgesagt werden.92 Über die tatsächlichen Konsequenzen der privaten Unterlageneinsicht wissen wir heute, 24 Jahre nach der ersten Einsicht und knapp zwei Millionen Einsichtnahmen später, noch immer wenig. Den öffentlichen Diskurs dominiert das von der Politik propagierte (Erfolgs-)Narrativ; die wenigen wissenschaftlichen Beiträge basieren in wesentlichen Teilen auf von der BStU publiziertem Material.93 Auch hier scheint eine kritische ›Aufarbeitung der Aufarbeitung‹ unter Berücksichtigung weiterer alternativer Quellen unbedingt erforderlich.
90 Burkhard Hirsch, zitiert nach dem stenografischen Bericht zur 31. Sitzung des 12. Bundes-
tages vom 13.06.1991, S. 2375. 91 Stenografischer Bericht zur 57. Sitzung des 12. Bundestages vom 14.11.1991, S. 4695. 92 Rainer Eppelmann, zitiert nach ebd., S. 4714. 93 S. u. a. Roger Engelmann, The »Stasi-Records«, the Public, and Collective Memories: The Inspection of Personal Records, in: Susanne Karstedt (Hg.), Legal Institutions and Collective Memories, Oxford 2009, S. 329–339 sowie Myriam Naumann, Das Leben in Stasi-Akten. Pastoiralmacht und Archivpraktiken zwischen 1950 und 2000, in: Pascal Eitler / Jens Elberfeld (Hg.): Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 163–192.
Nina Leonhard
EINSCHLUSS DURCH AUSSCHLUSS NVA-Offiziere und die Gedächtnispolitik der Bundeswehr im Vereinigungsprozess
»
… und die einzige Chance … für ehemalige Baupioniere der NVA war in Potsdam Wildpark-West, das ehemalige Kommando Landstreitkräfte, dann Heereskommando Ost […]. [Dort] gab es eine Abteilung Infrastruktur und die haben natürlich ehemalige Baupioniere aus der NVA [sowohl] Feldwebel als auch Offiziere [genommen] … [M] an brauchte ja ein paar Ossis, ich nehme an, um erst mal dieses Vorzeigeblatt Armee der Einheit [zu haben] und man brauchte ja welche, die die Liegenschaften kennen … [A]ber das war ja schon … im November abgeschlossen. Im November 90 war dieser Stab voll … und ich muss och sagen, die westdeutschen Personalleute dort, … die wussten sehr schnell den Unterschied zwischen zwei Kategorien von Bauoffizieren. Es gab in der NVA in Cottbus eine, an einer zivilen Hochschule eine Sektion Militärbauwesen, dort wurden mit zivilem Abschluss Bauingenieure ausgebildet …, und … die andere Kategorie war [wie ich] der normale Pionieroffizier, der an dieser Offizierschule der Landstreitkräfte [ausgebildet] war, Sektion Pionierwesen, und das wurde nicht anerkannt gegenüber diesem Abschluss aus der Sektion Militärwesen an der technischen Hochschule in Cottbus, das wurde anerkannt nach bundesdeutschem Recht und wir nicht, also waren alle Potsdamer Offiziere in der Regel von denen Absolventen. Das wussten die, wahrscheinlich och von ehemaligen NVA-Offizieren, … und dann ist einer gegauckt worden und darum bin ich nur da überhaupt reingerutscht, also ein ganz seidener Faden hat mich von der ehemaligen NVA [und] Weiterverwender der Bundeswehr zum Soldaten off Zeit [für] zwei Jahre gemacht. Sonst würde ich hier gar nicht sitzen. Also es war alles voll. Man brauchte ja gar nicht viele.«
Diese leicht gekürzte Textpassage stammt aus dem Interview mit einem Stabsoffizier der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR, der nach der Auflösung der NVA am 2. Oktober 1990 von der Bundeswehr übernommen wurde und zum
244 Nina Leonhard
Zeitpunkt des Gesprächs rund anderthalb Jahrzehnte später seinen ›Übertritt‹ von der einen deutschen Armee zur anderen schildert.1 Die zitierten Ausführungen vermitteln nicht nur einen plastischen Eindruck von Ungewissheitserfahrungen in Bezug auf die eigene berufliche Zukunft und von Gefühlen des Ausgeliefertseins, wie sie mit dieser Phase des Übergangs von einem politischen und militärischen System zum anderen verbunden waren. Darüber hinaus gewähren sie einen Einblick in die konkreten Modalitäten des Übernahmeverfahrens, die im Fall des zitierten Offiziers eine Beschäftigung bei der Bundeswehr zunächst beinahe verhindert und schließlich doch noch ermöglicht hatten. Diese gehören zu den Maßnahmen, die im Zuge der »militärischen Vereinigung«2 von Bundeswehr und NVA implementiert wurden und die im Folgenden als ›Gedächtnispolitik‹ bezeichnet werden. Diese Gedächtnispolitik ermöglichte auf der einen Seite die Eingliederung einer Reihe vormaliger Soldaten der NVA in die Bundeswehr, erzwang aber auf der anderen Seite von vielen anderen DDR-Militärangehörigen einen Berufswechsel oder bedingte gar ein Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben. Sie schuf die Voraussetzungen dafür, dass ost- wie westdeutsche Soldaten gemeinsam und überall in der Bundesrepublik (und inzwischen auch regelmäßig im Ausland) ihren Dienst erfüllen. Die hierfür erforderlichen Anpassungsleistungen wurden jedoch zum überwiegenden Teil von den vormaligen Soldaten der NVA erbracht – und dies schlägt sich bis heute in deren Lebensgeschichten nieder. Um dies im Einzelnen zu zeigen, werden im Weiteren nach einer kurzen Darstellung des konzeptionellen und methodischen Rahmens der durchgeführten empirischen Studie zu Integrationsverläufen von NVA-Offizieren nach 1990 (Kap. 1) die zentralen Aspekte der Gedächtnispolitik der Bundeswehr und der ihr zugrunde liegenden Logik rekonstruiert (Kap. 2). Im Anschluss daran erfolgt eine Diskussion der Folgen dieser Gedächtnispolitik für die betroffenen NVASoldaten (Kap. 3). Dabei wird herausgearbeitet, dass die ab 1990 implementierten Maßnahmen zur Herstellung der deutsch-deutschen Einheit im Bereich des Militärs auf der individuellen Ebene immer auch mit Erfahrungen von Ausschluss und Nichtanerkennung verknüpft waren. Exemplarisch lässt sich daran – so lautet die abschließend explizierte These (Kap. 4) – die grundlegende Problematik der deutschen Vereinigungsgesellschaft veranschaulichen, wie sie in den 1990er-Jahren unter dem Schlagwort der fehlenden ›inneren‹ Einheit oder in den 1 Interview 22, Absatz 48. Das Interview ist Teil eines Forschungsprojekts zum gesellschaft-
lichen ›Ort‹ vormaliger Berufsoffiziere der NVA im vereinigten Deutschland, das dank eines Habilitationsstipendiums der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Berlin) durchgeführt und 2014 mit dem Thomas A. Herz-Preis für Qualitative Sozialforschung durch die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) ausgezeichnet wurde. Vgl. Nina Leonhard, Integration und Gedächtnis. NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland, Konstanz 2016. 2 Hans Ehlert, Von der ›Wende‹ zur Einheit – Ein sicherheitspolitischer Rückblick auf das letzte Jahr der Nationalen Volksarmee, in: ders. (Hg.), Armee ohne Zukunft. Das Ende der NVA und die deutsche Einheit. Zeitzeugenberichte und Dokumente, Berlin 2002, S. 1–73.
EINSCHLUSS DURCH AUSSCHLUSS 245
2000er-Jahren als ›Ostalgie‹ öffentlich verhandelt wurde: dass die Herstellung einer gesamtdeutschen Ordnung unter einer ausgeprägten Asymmetrie zugunsten der Bundesrepublik vollzogen wurde, die mit einer strukturellen wie kulturellen Abwertung von DDR-Wissensbeständen einherging und auf der individuellen Ebene neben Anpassung auch entsprechende Gegenreaktionen hervorrief (und zum Teil nach wie vor hervorbringt).
I.
Der konzeptionelle Rahmen: Gedächtnispolitik im deutsch-deutschen Vereinigungskontext
Gedächtnispolitik wird im Folgenden als Bezeichnung für das Ensemble von Ordnungs- und Orientierungsmaßnahmen verwendet, mittels derer in der politischen Öffentlichkeit über die sachliche und soziale Geltung sowie temporale Anschlussfähigkeit von Wissensbeständen entschieden wird.3 Im Kontext einschneidender Ereignisse, die mit einem politischen Systemwechsel einhergehen, wie dies auch in der DDR ab Herbst 1989 der Fall war, zielt Gedächtnispolitik in der Regel darauf ab, bisherige Gepflogenheiten des Denkens und Handelns in der Öffentlichkeit abzulösen und so eine neue Wirklichkeitsordnung zu etablieren. Der Begriff der Wirklichkeitsordnung ist den Überlegungen von Martin Sabrow zum Ende der DDR als »Konsensdiktatur« entlehnt, wird aber auch von Horst Stenger für seine Analyse ostdeutscher Fremdheitserfahrungen verwendet. Er deckt sich darüber hinaus in hohem Maße mit dem, was Michael SchwabTrapp als »kulturelle Ordnung« bezeichnet:4 Wirklichkeitsordnungen begründen demnach eine spezifische Sicht auf die Welt im Allgemeinen sowie die Geschichte im Besonderen. Sie bestimmen nicht nur, was unter einer spezifischen raumzeitlichen sozialen Konstellation als selbstverständlich gilt, sondern auch was wie wahrgenommen wird. Wirklichkeitsordnungen stellen also den Rahmen für die Verortung von Wissensbeständen, liefern Maßstäbe für deren Bewertung und 3 Der Begriff der Gedächtnispolitik ist den politiktheoretischen Ausführungen von Helmut
König über das Verhältnis von »Politik und Gedächtnis« (Weilerswist 2008) entlehnt, wird hier jedoch anders gefasst. Für eine wissenssoziologische Herleitung und Begründung dieses Begriffs in Abgrenzung zu ähnlich gelagerten Konzepten siehe Leonhard, Integration und Gedächtnis, S. 62 ff. sowie dies., Gedächtnis, Wissen und soziale Integration, in: Oliver Dimbath / Michael Heinlein (Hg.), Die Sozialität des Erinnerns. Beiträge zur Arbeit an einer Theorie des sozialen Gedächtnisses, Wiesbaden 2014, S. 199–216, hier: S. 208 ff. 4 Vgl. Martin Sabrow, Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 83–116, hier: S. 91 et passim; Horst Stenger, Deutungsmuster der Fremdheit, in: Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 159–221, hier S. 196 et passim; Michael Schwab-Trapp, Narration und politischer Diskurs. Überlegungen zur Transformation politischer Kultur im vereinigten Deutschland, in: Berliner Journal für Soziologie 6 (1996), S. 91–112, hier: S. 93 f.; zusammenfassend: Leonhard, Integration und Gedächtnis, S. 58 ff.
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setzen somit Relevanzen. Wirklichkeitsordnungen existieren grundsätzlich im Plural. Gleichwohl gibt es eine Ordnung, die die Konstruktion von Wirklichkeit in der politischen Öffentlichkeit bestimmt und an der sich andere Wirklichkeiten (in unterschiedlichem Ausmaß) orientieren. Im Kontext eines politischen Umbruchs ist eine Veränderung dieser bis dahin öffentlich vorherrschenden Wirklichkeitsordnung unabdingbar. Dies ist Aufgabe der Politik. Im Rahmen eines politischen Umbruchs sind die im Feld der Politik handelnden Akteure angehalten, die neuen politischen Verhältnisse und die damit einhergehende neue Zeitrechnung zu legitimieren, neue Identifikationsangebote zu entwickeln (oder bewährte alte aufzugreifen) und so neue Regeln und Normen des gesellschaftlichen Denkens und Handelns zu verankern. Eine Bezugnahme auf die Vergangenheit, genauer gesagt: die Unterscheidung zwischen dem, was nun als abgeschlossen und damit als ›vergangen‹ gilt, und dem, was zukünftig als anschlussfähig betrachtet wird, spielt hierbei eine zentrale Rolle – ebenso wie die daraus resultierende Herstellung von ›Geschichte‹ als reflexive Verarbeitung dieser Unterscheidung: So wird zum Beispiel die vormals herrschende Partei verboten, ein strafrechtliches Verfahren gegen die frühere politische Elite eingeleitet oder ein Gefängnis in eine Gedenkstätte umgewandelt; und diejenigen Leitsätze, die früher jedes Kind in der Schule auswendig lernen musste, werden in den nun verwendeten Schulbüchern als ideologische Bestandteile eines überkommenen Systems dar- und anderen, ›besseren‹ Ideen gegenübergestellt. Gedächtnispolitisches Handeln in diesem Sinne impliziert also die Klassifizierung von Wissensbeständen, was zu deren Aktualisierung und Bestätigung (›Erinnerung‹) ebenso wie zu deren Modifikation, Entwertung oder gar Beseitigung (›Vergessen‹) führen kann. Die im Modus des Beitritts nach Artikel 23 des Grundgesetzes vollzogene Vereinigung der beiden deutschen Staaten ging mit einer Gedächtnispolitik einher, die darauf ausgerichtet war, die Institutionenordnung der Bundesrepublik und die damit verbundenen Wirklichkeitskonstruktionen auf das Gebiet der früheren DDR zu übertragen und dort materiell wie ideell zu verankern. In militärischer Hinsicht bedeutete dies eine Ausweitung der Bundeswehr auf Ostdeutschland, was eine vollständige Auflösung der Militärstrukturen der DDR sowie die Etablierung entsprechender Bundeswehr-Strukturen bedingte: Der Aufbau der Bundeswehr in Ostdeutschland ist daher vom Abbau der NVA nicht zu trennen. Beim Umgang mit dem Personal der NVA, der im Weiteren im Vordergrund steht, zeigen sich große Parallelen zu anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes: Die Regelungen, die dort für die Beschäftigten hinsichtlich einer Übernahme beziehungsweise Weiterbeschäftigung oder Entlassung getroffen wurden, fanden im Großen und Ganzen auch in Bezug auf Militärangehörige Anwendung. Im Vergleich zu Ressorts wie etwa dem Auswärtigen Amt ist allerdings die grundsätzliche Bereitschaft der Bundeswehr hervorzuheben, trotz der jahrzehntelang gerade auch in militärischer Hinsicht gepflegten Ost/West-Konfrontation überhaupt einen (kleineren) Teil des Personals der NVA längerfristig zu übernehmen und
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dieses nicht vollständig zu entlassen. Für die Bundeswehr ergab sich daraus eine spezifische Begründungspflicht, die sich im orientierungspolitischen Diskurs über die ›Armee der Einheit‹ widerspiegelt. Dieser begleitete die ordnungspolitischen Modalitäten, nach denen die Auswahl und Eingliederung von NVA-Angehörigen in die Bundeswehr vollzogen wurde. Beide Dimensionen der im Bereich der Bundeswehr umgesetzten Gedächtnispolitik sollen nun genauer erläutert werden.5
II. Die ordnungspolitischen Modalitäten der militärischen ›Vereinigung‹: Das Verfahren für die Übernahme von NVA-Soldaten in die Bundeswehr Der Personalbestand der Bundeswehr umfasste zum Zeitpunkt der deutschdeutschen Vereinigung etwa 495.000 Soldaten sowie rund 183.000 zivile Mitarbeiter. Dazu kamen rund 90.000 Soldaten (davon 39.000 Wehrdienstleistende) sowie 48.000 zivile Mitarbeiter der NVA, die am 3. Oktober 1990 vorläufig in die Bundeswehr überführt wurden.6 Aufgrund der im Zwei-plus-Vier-Vertrag vereinbarten Truppenreduzierung auf 370.000 Soldaten bis Ende 1994 war daher eine substanzielle Kürzung des Personals unabdingbar. Diese sollte durch eine Verringerung des Anteils von Wehrdienstleistenden und den Abbau von ohnehin als problematisch eingeschätztem NVA-Personal – verbunden mit großzügigen Ruhestandsregelungen für Bundeswehr-Angehörige – erzielt werden. Für Berufssoldaten der Nationalen Volksarmee bedeutete dies, dass sie sich in den ersten Wochen nach der Vereinigung zunächst für eine Übernahme als Soldat auf Zeit für die Dauer von zwei Jahren (SaZ 2) bewerben konnten. Etwa jeder zweite und somit insgesamt rund 25.000 NVA-Soldaten stellten einen solchen Antrag. Alle anderen schieden zum 31. Dezember 1990 aus dem Militärdienst aus. Für die rund 18.000 vormaligen Angehörigen der NVA, die einen Vertrag als Zeitsoldaten für zwei Jahre bekommen hatten, bestand daraufhin die Möglichkeit, sich um eine Verlängerung ihres Dienstverhältnisses beziehungsweise um eine Übernahme als Berufssoldat zu bewerben. Rund 15.000 Personen aus dieser Gruppe stellten einen solchen Antrag. Davon wurden letztlich rund 10.800 Personen, darunter etwa 3.000 Offiziere, dauerhaft von der Bundeswehr als Berufssoldat oder länger dienender Zeitsoldat übernommen.7 5 Die weitere Darstellung in Kap. 2 und 3 folgt im Grundsatz den Ausführungen in Leon-
hard, Integration und Gedächtnis, Kap. 6.3., S. 133 ff. und 145 ff. 6 Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), Fünf Jahre Armee der Einheit. Eine Bilanz, Bonn 1995, S. 5. 7 Die angegebenen Zahlen beruhen auf den Angaben in Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), Bericht: Die Praxis der Entscheidung über die Übernahme von Personal in den öffentlichen Dienst im Beitrittsgebiet während der Übergangsphase nach 1990 im Bereich der Bundeswehr, in Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestags), Bd. II/2, Baden-Baden 1999, S. 491–507, hier: Anlage 2.
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Die Eingliederung des militärischen NVA-Personals in die Bundeswehr im Zuge der Vereinigung erfolgte also im Rahmen eines mehrstufigen Auswahlprozesses. Für die Mehrheit der Soldaten der NVA bedeutete dieser die teils freiwillige, teils unfreiwillige sowie vor allem für ältere Soldaten durch verschiedene Leistungen ›sozialverträglich‹ abgefederte Entlassung aus dem Militärdienst.8 Eine zahlenmäßig vergleichsweise kleine Gruppe wurde hingegen für die Weiterführung des soldatischen Dienstes ausgewählt. Hierfür spielte neben dem Bedarf der Bundeswehr das individuelle berufliche und politische Profil eine zentrale Rolle. In diesem Zusammenhang gilt es auf die Bundeswehr-spezifische Rahmung des Verfahrens für die Personalauswahl aufmerksam zu machen: Im Gegensatz zu anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes, wo sich ebenfalls die Frage nach dem Umgang mit den Angehörigen des DDR-Staatsapparates stellte,9 handelte es sich hier streng genommen nicht um ein Verfahren für die Entlassung von Personal, sondern um Regelungen für den regulären Eintritt in die Bundeswehr. Auch wenn aus Sicht der Betroffenen die Folgen eines abschlägig beschiedenen Übernahmeantrags im Wesentlichen die gleichen wie bei einer Entlassung sind, änderte sich dadurch die offizielle Perspektive, was sich unter anderem in den von der Bundeswehr verwendeten Begrifflichkeiten widerspiegelt: Die am 3. Oktober 1990 als »Weiterverwender«10 übernommenen Soldaten der NVA wurden im Rahmen des Auswahlverfahrens zu ›Bewerbern‹, die mit ihrer Bewerbung Erfolg haben konnten (oder auch nicht), während diejenigen Soldaten, die keinen Antrag auf Übernahme stellten, folglich ›auf eigenen Wunsch‹ aus den Streitkräften ausschieden. Wie vom einleitend zitierten Offizier bereits angesprochen wurde – »und dann ist einer gegauckt worden und darum bin ich 8 Soldaten, die zum 31. Dezember 1990 aus den Streitkräften ausschieden, hatten Anspruch
auf eine einmalige Übergangszahlung von (je nach Dienstzeit) bis zu 7.000 DM. Ausgeschiedene Soldaten konnten zudem ein Übergangsgeld in Höhe von 70 Prozent des letzten Durchschnittsgehalts für sechs (bzw. neun) Monate beantragen. Soldaten, die 50 Jahre und älter waren oder länger als 25 Jahre in der NVA gedient hatten, hatten darüber hinaus Anspruch auf weitere Versorgungsleistungen. Vgl. Leonhard, Integration und Gedächtnis, S. 129 f. 9 Zu den Grundsätzen des Auf- bzw. Umbaus des öffentlichen Dienstes in den ostdeutschen Bundesländern siehe Bundesministerium des Inneren (BMI), Die Ausfüllung der durch den Einigungsvertrag vorgegebenen Rahmenregelungen zur personalpolitischen Erneuerung von Verwaltungen durch landes- und bundesrechtliche Regelungen, Verfahren und Kriterien, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestags), Bd. II/1, Baden-Baden 1999, S. 391–479. 10 NVA-Soldaten erhielten den Status ›Weiterverwender‹, wenn sie zu einer Dienststelle gehörten, die nach der Vereinigung fortbestand; dies betraf rund 50.000 der 51.000 am 3. Oktober 1990 vorläufig von der Bundeswehr übernommenen Soldaten. Angehörige von Einheiten, die mit der Vereinigung nicht in die Bundeswehr überführt wurden, wurden in den ›Wartestand‹ versetzt, während ihr Dienstverhältnis unter Anspruch auf Wartegeld ruhte. Vgl. hierzu Rolf Thiemann, Die ehemaligen Soldaten der Nationalen Volksarmee und ihre Rechtsverhältnisse zum Dienstherren Bundesrepublik Deutschland. Ein Überblick, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht 35/4 (1993), S. 147–164.
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nur da überhaupt reingerutscht«11 –, stellte das Verhältnis zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR allerdings auch in der Bundeswehr eine zentrale Größe für den Ausschluss aus der Organisation – gegebenenfalls selbst nach einem erfolgreich durchlaufenen Übernahmeverfahren – dar. Dieser Mechanismus des Einschlusses durch Ausschluss, der an dieser Stelle deutlich wird, ist ein zentrales Element der nach 1990 implementierten Gedächtnispolitik im Bereich der Bundeswehr. Er kommt in den verschiedenen Maßnahmen zum Ausdruck, mit denen die Eingliederung von NVA-Personal in die Bundeswehr im Einzelnen vollzogen wurde und die als »degradation ceremonies« (Garfinkel) beziehungsweise als »rites de dégradation« (Gravier) (deutsch: ›Degradierungsrituale‹) soziologisch gefasst werden können. Das Konzept des Degradierungsrituals geht auf den US-amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel zurück, der damit eine bestimmte Art von Übergangsritualen bezeichnet, die die Funktion haben, die Integration des Einzelnen in eine Gruppe zu organisieren.12 Wie die französische Politikwissenschaftlerin Magali Gravier in ihrer Studie über den ostdeutschen Verwaltungsumbau nach 1990 im Anschluss an Garfinkel herausgearbeitet hat, sind solche Rituale durch einen spezifischen Vergangenheitsbezug gekennzeichnet, da Degradierungen die Diskreditierung dessen, was früher war (oder galt), beinhalten.13 Degradierungsrituale gehen folglich mit einer Ab- oder zumindest Neubewertung des Vergangenen einher, die die Voraussetzung für die Zuweisung einer neuen Identität darstellt. Diese wiederum ermöglicht die Integration des Einzelnen in die entsprechende Gruppe oder Organisation. Was damit im Kontext der Übernahme von NVA-Soldaten in die Bundeswehr gemeint ist, lässt sich an drei Punkten veranschaulichen, die im Folgenden näher beleuchtet werden: bei der Zuordnung von Dienstgraden und der Festlegung von Qualifikationen der zu übernehmenden Soldaten, bei der Überprüfung ihrer Biografien sowie bei Maßnahmen zur Vereinheitlichung von Wissensbeständen.
II.1 Die Zuordnung von Dienstgraden und die Festlegung von Qualifikationen Die Auswahl sowohl für eine Beschäftigung als Soldat auf Zeit für zwei Jahre als auch für die anschließende Übernahme als regulärer Zeit- oder Berufssoldat richtete sich in der Bundeswehr neben dem vom Bundesministerium der Vertei-
11 Interview 22, Absatz 48. 12 Harold Garfinkel, Conditions of Successful Degradation Ceremonies, in: American Journal
of Sociology 61/5 (1956), S. 420–424. 13 Magali Gravier, Entrer dans l’administration de l’Allemagne unifiée: une approche anthropologique d’un rituel d’intégration (1990–1999), in: Revue française de science politique 53/3 (2003), S. 323–350, hier: S. 339.
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digung (BMVg) vorgegebenen Personalbedarf im individuellen Fall nach den im Soldatengesetz verankerten Kriterien der Eignung, Befähigung und Leistung. Die Festlegung des jeweiligen Kompetenz- und Qualifikationsprofils derjenigen vormaligen NVA-Soldaten, die sich um einen Verbleib in der Bundeswehr bewarben, und auf dessen Grundlage auch die Auswahl für die zweijährige Probezeit getroffen wurde, erfolgte in einem ersten Schritt durch eine Zuordnung von Dienstgraden und Laufbahnen durch die ›Gruppe Personal‹ der Außenstelle des BMVg. Diese war am 3. Oktober 1990 in Strausberg bei Berlin, dem Sitz des Verteidigungsministeriums der DDR, eingerichtet worden und orientierte sich hierfür an den vorhandenen Kaderakten sowie Bewerbungsunterlagen der Soldaten.14 Um anschließend die Entscheidung über eine Übernahme in ein Dienstverhältnis als länger dienender Zeit- oder Berufssoldat zu treffen, teilte die ›Gruppe Personal‹ die Bewerber aus der NVA anhand von Sonder- und Laufbahnbeurteilungen von mindestens zwei Vorgesetzten in fünf verschiedene Eignungskategorien ein. Diese Kategorisierung lieferte wiederum die Basis für die endgültige Auswahl.15 Speziell mit Blick auf die Zuordnung von Dienstgraden ist darauf hinzuweisen, dass den am 3. Oktober 1990 zunächst als Weiterverwender übernommenen NVA-Soldaten bereits ein vorläufiger Bundeswehr-Dienstgrad zugeordnet worden war. Dieser hatte jedoch nur für die Dauer dieses Status Gültigkeit und durfte nach der Entlassung nicht mehr geführt werden.16 Einen BundeswehrDienstgrad, der rechtlich geschützt ist, erhielten die Soldaten erst mit der Ernennung zum Soldaten auf Zeit für zwei Jahre.17 Ausschlaggebend für die daran gekoppelte fachliche Einordnung des Einzelnen waren die jeweils vorgesehene Verwendung und damit diejenigen Laufbahnanforderungen und Beförderungsstandards, die in der Bundeswehr galten. Diese unterschieden sich jedoch teilweise stark von den früher in der NVA angewendeten Regeln. Dies traf insbesondere für Unteroffiziere der NVA zu. Doch auch die mit der Offizierslaufbahn in der DDR verbundenen Anforderungen und Qualifikationen entsprachen nur teilweise den hierfür in der Bundeswehr vorgesehenen Maßgaben. Am Lebensalter gemessen waren Offiziere in der NVA zudem anders beziehungsweise schneller als in der Bundeswehr befördert worden. Im Ergebnis hatte dies zur Folge, dass die Übernahme in das Dienstverhältnis als Soldat auf Zeit für zwei Jahre für viele NVA-Soldaten mit einer Herabstufung des Dienstgrades sowie mit einer Nicht- oder nur partiellen Anerkennung der vor 1989 erworbenen Ausbildungsabschlüsse beziehungsweise Qualifikationen verbunden war. 14 Vgl. Edgar Trost, Probleme der Personalauswahl, in: Dieter Farwick (Hg.), Ein Staat – Eine
Armee, Frankfurt a. M. 1992, S. 170–205, hier S. 192 ff. 15 Vgl. Thiemann, Soldaten der NVA und ihre Rechtsverhältnisse, S. 160; Werner von Scheven, Die Bundeswehr und der Aufbau Ost, in: Bruno Thoß (Hg.), Vom Kalten Krieg zur deutschen Einheit. Analysen und Zeitzeugenberichte zur deutschen Militärgeschichte 1945 bis 1995, München 1995, S. 473–503, hier S. 493. 16 Thiemann, Soldaten der NVA und ihre Rechtsverhältnisse, S. 150. 17 Ebd., S. 157.
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Zusammengefasst erfolgte die positionale Eingliederung vormaliger NVAAngehöriger in die Bundeswehr also durch die Zuweisung eines neuen militärischen Status, der neben symbolischen Aspekten immer auch eine materielle Dimension umfasst, da die Höhe der Besoldung maßgeblich vom Dienstgrad abhängt. Frühere, zu Zeiten der DDR erlangte Positionen wurden dadurch aufgehoben und für ungültig erklärt. Genau darauf hebt das Konzept des Degradierungsrituals ab. Degradierungsrituale spiegeln stets die Machtverhältnisse wider, die zwischen dem Einzelnen und der den Degradierungsprozess durchführenden Organisation bestehen. Im Fall der Übernahme von NVA-Personal durch die Bundeswehr lag die Deutungshoheit über das, was als militärische ›Leistung‹ beziehungsweise als soldatische Fähigkeiten und Fertigkeiten anerkannt wird, eindeutig bei Letzterer und damit auf ›westdeutscher‹ Seite. Auch die mit dem Konzept des Degradierungsrituals angesprochene Klassifizierung der Vergangenheit wird hier deutlich: Bestimmte zu DDR-Zeiten ausgeübte Funktionen oder dort erworbene Qualifikationen wurden im Zuge des Übernahmeverfahrens als anschlussfähig für eine zukünftige militärische Verwendung bei der Bundeswehr bewertet; anderen wurde dagegen als nicht oder nur teilweise genügend (im Sinne der organisationalen Zwecke der Bundeswehr) klassifiziert. Von der Frage der Anerkennung von NVA-Dienstgraden waren indes nicht nur die von der Bundeswehr längerfristig übernommenen NVA-Soldaten betroffen, sondern auch diejenigen, die nach der Vereinigung aus dem Militärdienst ausschieden. Denn im Einigungsvertrag wurde festgelegt, dass in der NVA erworbene Dienstgrade in der Bundesrepublik nicht mit dem Zusatz »a. D.« (»außer Dienst«) geführt werden dürfen, wie dies etwa Berufssoldaten der Bundeswehr nach ihrem Eintritt in den Ruhestand erlaubt ist. Auch der Zusatz »d. R.« (»der Reserve«) ist formal ungültig, da NVA-Soldaten nicht zu den Reservisten der Bundeswehr zählen.18 Vielmehr gilt unter rechtlichen Gesichtspunkten der in der NVA geleistete Dienst als »Dienst in fremden Streitkräften«.19 Hier handelt es sich ebenfalls um eine vergangenheitsbezogene Degradierung, die allerdings nicht den Einschluss in die Organisation reguliert, sondern eher den symbolischen Ausschluss – hier: von Berufssoldaten der DDR, die freiwillig oder unfrei-
18 Für die entsprechenden Regelungen im Detail siehe Christian Raap, Die Dienstgradfüh-
rung bei Vordienstzeiten in der ehemaligen Nationalen Volksarmee, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht 35/4 (1993), S. 165–169. 19 Ebd. Ausschlaggebend hierfür ist § 8 Abs. 2 Satz 2 des Wehrpflichtgesetzes. Im April 2005 wurde die bis dato lautende Formulierung im Rahmen einer Änderung des Wehrpflichtgesetzes geändert. Anstelle von »Wehrdienst in fremden Streitkräften« ist nun von »Wehrdienst außerhalb der Bundeswehr« (Hervorhebungen N. L.) die Rede. Auswirkungen auf die Regelung zur Führung von NVA-Dienstgraden in der Öffentlichkeit waren damit jedoch nicht verbunden. Siehe Gesetz über die Neuordnung der Reserve der Streitkräfte und zur Rechtsbereinigung des Wehrpflichtgesetzes (Streitkräftereserve-Neuordnungsgesetz-SkResNOG) vom 22. April 2005, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt Jahrgang 2005 Teil I Nr. 24, ausgegeben zu Bonn am 29. April 2005.
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willig aus dem aktiven Dienst ausgeschieden sind – aus der ideellen Gemeinschaft des Militärs im vereinigten Deutschland bewirkt(e). In die Kategorie der Degradierungsrituale mit dem Mechanismus des Einschlusses durch Ausschluss fallen indes nicht nur die Bundeswehr-bezogene Zuordnung von Laufbahnen und die Anerkennung von Dienstgraden, die im Kontext des Militärs als ein auch äußerlich sichtbares Zeichen der Stellung innerhalb der militärischen Hierarchie eine kaum zu unterschätzende Bedeutung haben. Neben dem Prüfungsverfahren zur Feststellung der Gleichwertigkeit von Diplomen und Ausbildungsabschlüssen – welche Implikationen damit mitunter verbunden waren, hatte der eingangs zitierte Offizier geschildert – wie auch der Neuregelung der Renten- und Versorgungsansprüche aus der DDR, die insbesondere für hochrangiges NVA-Personal mit zum Teil deutlichen Kürzungen verbunden waren,20 beinhalten auch solche Prozeduren ein Degradierungsmoment, die – wie im Weiteren beschrieben – nach der Vereinigung zur Überprüfung der politischen Haltung der zu übernehmenden (oder bereits übernommenen) Personen angewandt wurden.21
II.2 Die Überprüfung und Umdeutung der Biografie Neben der fachlichen Dimension und dem Lebensalter – Soldaten, die 50 Jahre und älter waren, hatten von vornherein kaum eine Chance, längerfristig von der Bundeswehr übernommen zu werden – spielte die ›Verfassungstreueprüfung‹ und somit das politische Profil der antragstellenden Soldaten eine wichtige Rolle für die Auswahl von NVA-Personal: Wie alle anderen Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung wollte auch die Bundeswehr nach der Vereinigung nur einen bestimmten Personenkreis in die eigenen Reihen übernehmen. Wer zu DDR-Zeiten wichtige politische Ämter und Funktionen ausgeübt, eine besonders große Loyalität gegenüber dem Staat beziehungsweise der SED als allein herrschender Staatspartei an den Tag gelegt oder gegen Werte und Normen verstoßen hatte, die aus bundesdeutscher Sicht von zentraler Bedeutung waren, sollte nicht weiterbeschäftigt werden. Aus diesem Grund hatte der damalige Bundesminister der Verteidigung Gerhard Stoltenberg (CDU) kurz vor der Vereinigung zum einen entschieden, die Führungselite der NVA insgesamt zu entlassen und damit keine Offiziere im Generals- oder Admiralsrang in die Bundeswehr zu übernehmen. Als grundsätzliche Ausschlusskriterien für eine Weiterbeschäftigung bei der Bun20 Auf die Debatte über das sogenannte ›Rentenstrafrecht‹ kann hier nicht im Einzelnen ein-
gegangen werden. Für einen Überblick über die Regelungen und die entsprechenden Folgen für vormalige Angehörige der NVA siehe Gudrun Schattschneider / Frank Weniger, Ist die Zusammenführung von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee inzwischen abgeschlossen? Eine Bestandsaufnahme tatsächlicher und rechtlicher Art, in: Neue Zeitschrift für Wehrrecht 46 (2004), 6, S. 233–247, hier: S. 244 ff. 21 Vgl. Gravier, Entrer dans l’administration, S. 343 ff.
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deswehr wurden zum anderen »die Mitarbeit beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) oder beim Amt für Nationale Sicherheit (AfNS) der früheren DDR, die Verwendungsreihe der Politoffiziere und die Zugehörigkeit zur militärischen Aufklärung« festgelegt.22 Erkenntnisse hierzu ergaben sich zunächst nur aus den vorhandenen Personalunterlagen und den angeforderten Selbstauskünften der Soldaten. Im weiteren Verlauf des Verfahrens wurden die Angaben von allen Offizieren sowie Unteroffizieren, die über 25 Jahre alt waren und für eine Übernahme als Berufssoldat infrage kamen, allerdings durch eine Anfrage beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), damals auch »Gauck-Behörde« nach dem ersten Amtsinhaber Joachim Gauck genannt, überprüft.23 Darüber hinaus erfolgte für alle Anwärter eine Sicherheitsüberprüfung durch den Militärischen Abschirmdienst (MAD). Bei den für eine endgültige Übernahme vorgesehenen Offizieren gab es schließlich eine zusätzliche dritte Überprüfung durch einen Unabhängigen Ausschuss Eignungsprüfung zur persönlichen Eignung (UAE), der dem 1955 eingesetzten Personalgutachterausschuss für die Übernahme von Offizieren der Wehrmacht in die neu aufzustellende Bundeswehr nachempfunden war.24 Im Mittelpunkt der Arbeit des Ausschusses für die Überprüfung von NVA-Offizieren stand die Beurteilung der ›persönlichen Eignung‹ der Bewerber. Bei der Mehrheit der 2.648 zu prüfenden Fälle entschied der mit Ost- und Westdeutschen gemischt besetzte Ausschuss anhand der Aktenlage. In 642 Fällen wurden persönliche Anhörungen durchgeführt, die allerdings nur in 35 Fällen ein negatives Votum zur Folge hatten.25 Aus gedächtnispolitischer Sicht sind diese verschiedenen Formen der Überprüfung des Lebenslaufes der zur Auswahl stehenden Soldaten – und hierbei insbesondere die Überprüfung auf frühere Kontakte zur Staatssicherheit der DDR – vor allem deswegen von Relevanz, da sie mit einer Umwertung der individuellen Biografien einhergingen:26 Dem bisherigen beruflichen Werdegang, der im Kontext der DDR-Gesellschaft einen gewissen ›Sinn‹ ergeben hatte – etwa dahingehend, dass für einen NVA-Offizier die Mitgliedschaft in der SED üblich, 22 BMVg, Bericht, S. 499. 23 Vgl. ebd., S. 500. 24 Im Vergleich zum Personalgutachterausschuss von 1955 verfügte der UAE über weniger
weitreichende Befugnisse. Die politischen Rahmenbedingungen waren nach der Vereinigung jedoch auch andere als 1955, da NVA-Offiziere ab dem Dienstgrad Oberst von vornherein von der Übernahme in die Bundeswehr ausgeschlossen waren, während man für den Aufbau der Bundeswehr in den 1950er-Jahren auf die Expertise früher Spitzenmilitärs aus der Wehrmacht bekanntermaßen nicht verzichten wollte. Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden der beiden Ausschlüsse siehe auch Hans Udo Conrad, Die Integration von Offizieren der ehemaligen Nationalen Volksarmee in das Heer der Bundeswehr, Dissertation, Fachbereich Pädagogik, Universität der Bundeswehr Hamburg 1996, S. 119 ff. 25 Vgl. Abschlussbericht des Unabhängigen Ausschusses Eignungsprüfung (1993) (25.3.92– 18.5.93). Zu 26 Vgl. hierzu auch Gravier, Entrer dans l’administration, S. 343.
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ein Engagement in der Kirche dagegen ›undenkbar‹ war –, wurde im Verlauf des Prüfprozesses nun ein neuer, ›bundesdeutscher‹ Sinn zugeschrieben. Vieles, was zuvor als normal, legitim oder sogar wünschenswert angesehen wurde – etwa der Kontaktabbruch zu Verwandten in der Bundesrepublik oder die Auszeichnung mit einem militärischen Orden für besondere Verdienste –, unterlag jetzt einer Rechenschaftspflicht. Die in der DDR geltenden Normalitätsanforderungen wurden mit anderen Worten für ungültig erklärt und durch die Normalitätserwartungen der bundesdeutschen Gesellschaft ersetzt. An diesen wurde nun der individuelle Berufsweg gemessen. Wie beim oben angesprochenen Statuswechsel, der durch die Festsetzung neuer, mit Bundeswehrstandards kompatibler Dienstgrade erfolgte, beruhte auch der Austausch der biografischen Bewertungskriterien auf einer Diskreditierung bestimmter Teile der (beruflichen) Vergangenheit. Während die Neuordnung der Dienstgrade die Stellung des Soldaten innerhalb der militärischen Hierarchie und somit in erster Linie fachliche sowie statusbezogene Aspekte betraf, beinhaltete die Frage nach den individuellen Beziehungen zur Staatssicherheit dagegen nicht zuletzt eine moralische Komponente. Die Diskreditierung der Vergangenheit war in diesem Fall noch umfassender, da die Tätigkeit des MfS, versinnbildlicht in der Figur des IM, im Zuge des Vereinigungsprozesses in der Öffentlichkeit insgesamt zum Inbegriff des verurteilungswürdigen Diktaturcharakters der DDR geworden war.27
II.3 Vereinheitlichung von Wissensbeständen durch personellen Austausch sowie Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen Neben der Neubestimmung des (fachlichen) Status (in Form von Dienstgraden, Laufbahnen und Ausbildungsabschlüssen) und der Überprüfung und Umdeutung der Biografien (Verfassungstreueprüfung) lassen sich die Maßnahmen zur Vereinheitlichung der organisationalen Wissensbestände als drittes Beispiel für die Gedächtnispolitik der Bundeswehr anführen, die mit einer Form von Degradierung im oben erläuterten Sinne einhergingen. Um sicherzustellen, dass der Aufbau der Bundeswehr in Ostdeutschland nach den in der alten Bundesrepublik geltenden Maßstäben erfolgte und dass hierfür entsprechendes (Fach)Wissen vorhanden war, wurden die oberen Führungspositionen der neuen Einrichtungen und Verbände in den sogenannten neuen Ländern mit westdeutschem Personal besetzt. Darüber hinaus etablierte man – ähnlich wie in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes – ein umfangreiches Programm von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen für die neu in der 27 Vgl. Petra Bock, Vergangenheitspolitik im Systemwechsel. Die Politik der Aufklärung,
Strafverfolgung, Disqualifizierung und Wiedergutmachung im letzten Jahr der DDR, Berlin 2000. Siehe zudem die Beiträge von Sabine Kittel und Markus Goldbeck in diesem Band.
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Bundeswehr Dienst leistenden Soldaten der NVA.28 Darüber hinaus wurde – und das scheint eine militärische Besonderheit zu sein, die in vergleichbarer Weise nur für die Berliner Polizei zutraf29 – durch eine gezielte Einberufungs- und Versetzungspolitik die personelle ›Durchmischung‹ der Einheiten und Verbände der Bundeswehr vorangetrieben, um auf diese Weise die Interaktion und den Austausch zwischen ost- und westdeutschen Soldaten als organisationalen Wissensträgern zu befördern. Ausgangspunkt dieser Strategie zur Vereinheitlichung der Wissensbestände war die Aufnahme von Kontakten zwischen den Angehörigen der beiden Armeen, die nach der Jahreswende 1989/90 zunächst auf informelle Weise erfolgte und ab Mai 1990 durch eine Vereinbarung zwischen den Verteidigungsministern Gerhard Stoltenberg (West) und Rainer Eppelmann (Ost) offiziell geregelt wurde: »Schwerpunkte der Gespräche«, so lautete die entsprechende Weisung aus dem BMVg, sollten »die Grundsätze der Inneren Führung und deren Umsetzung im täglichen Dienst, insbesondere in den Bereichen Menschenführung, Fürsorge und Betreuung, Politische Bildung sowie Wehrrecht und Soldatische Ordnung sein«. Dabei sollte »das Leitbild vom Staatsbürger in Uniform vermittelt werden, wie es für das Selbstverständnis einer Armee im demokratischen Staat und einer freien Gesellschaft gilt«.30 Die Richtung des angestrebten Wissensaustauschs von West nach Ost war somit von Beginn an klar definiert: Die ostdeutschen Soldaten sollten von ihren westdeutschen Kameraden31 lernen. Mit der Vereinigung wechselten Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr nach Ostdeutschland zum Bundeswehrkommando Ost, um dort die Auflösung von NVA-Einrichtungen und den Aufbau von Bundeswehr-Strukturen durchzuführen. Vormalige NVA-Soldaten erhielten demgegenüber in westdeutschen Bildungs- und Lehreinrichtungen der Bundeswehr eine Einweisung in die Grundsätze der Inneren Führung und eine Vorbereitung auf ihre neuen Tätigkeiten. Bereits im September und Oktober 1990 wurden solche Lehrgänge als 28 Vgl. Hans-Joachim Reeb, Eingliederungsmaßnahmen ehemaliger NVA-Berufssoldaten in
die Bundeswehr, in: Deutschland Archiv 25/8 (1992), S. 845–857, hier: S. 853 f. 29 Siehe Andreas Glaeser, Divided in Unity. Identity, Germany, and the Berlin Police. Chicago u. a. 2000; Fabien Jobard, Usages et ruses des temps. L’unification des polices berlinoises après 1989, in: Revue française de science politique 53 (2003), 3, S. 351–381. 30 Zitiert nach Reeb, Eingliederungsmaßnahmen, S. 849 f. 31 Im Kontext der Bundeswehr gehört ›Kameradschaft‹ zu den Pflichten eines jeden Soldaten, wie sie im Soldatengesetz (hier: § 12) festgelegt sind. Damit ist insbesondere die Verpflichtung gemeint, »die Würde, die Ehre und die Rechte des Kameraden zu achten und ihm in Not und Gefahr beizustehen«, und schließt darüber hinaus die Anerkennung und Achtung anderer Ansichten ein. Von diesem normativ-rechtlichen Verständnis von Kameradschaft, auf das hier Bezug genommen wird, ist jedoch eine funktionale Betrachtung des Ge- und Missbrauchs dieses Leitbilds der militärischen Gemeinschaft zu unterscheiden, wie sie etwa Thomas Kühne für die Zeit des Zweiten Weltkriegs vorgeführt hat. Vgl. Thomas Kühne, »Kameradschaft« –»das Beste im Leben des Mannes«. Die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs in erfahrungs- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 504–529.
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sogenannte Vorlaufausbildung durchgeführt. Für die als SaZ 2 übernommenen NVA-Soldaten folgte danach eine sogenannte Ergänzungsausbildung, die neben der Bereitstellung von Unterlagen zur Inneren Führung zum Selbststudium aus einem mindestens vierwöchigen Truppenpraktikum, einem zweiwöchigen Lehrgang zur Inneren Führung sowie einer Einweisung am künftigen Arbeitsplatz bestand.32 Grundlage für die Aus- und Weiterbildung der ehemaligen NVA-Soldaten war eine vom Generalinspekteur der Bundeswehr, Admiral Dieter Wellershoff, am 30. August 1990 erlassene »Weisung für die Ausbildung der deutschen Streitkräfte im beigetretenen Teil Deutschlands«, die eine vollständige Übertragung der in der Bundeswehr geltenden Grundsätze und Verfahren der Ausbildung postulierte – ohne dass die in der NVA vorhandenen Ausbildungselemente in irgendeiner Weise Berücksichtigung fanden.33 Diese Nichtbeachtung der vergangenen Ausbildungspraxis in der NVA weist erneut ein Degradierungselement auf, selbst wenn dies zumeist wohl weniger pointiert zum Tragen kam, als dies bei einem im Rahmen dieser Studie interviewten Stabsoberfähnrich der NVA der Fall war: Dieser musste trotz jahrelanger Fahrpraxis nach seiner Übernahme in die Bundeswehr noch einmal eine Führerscheinprüfung für die Fahrzeugklasse 3 ablegen. Gleichwohl verdeutlichen Einzelfälle wie dieser erneut die offizielle Politik, beim Aufbau der Bundeswehr in Ostdeutschland die in Westdeutschland üblichen Standards zu etablieren, ohne sich dabei mit dem vor Ort bereits oder noch Bestehenden im Einzelnen auseinanderzusetzen. Spezielle Maßnahmen der Aus- beziehungsweise Weiterbildung waren jedoch nur für Soldaten mit NVA-Vordienstzeit vorgesehen. Soldaten aus den neuen Ländern, die nach der Vereinigung für die Laufbahnen der Offiziere und Unteroffiziere neu eingestellt worden waren, durchliefen von Anfang an zusammen mit ihren Kameraden aus den alten Ländern die in der Bundeswehr allgemein vorgesehene Regelausbildung. Ähnliches galt für Grundwehrdienstleistende aus Ostdeutschland. Diese absolvierten ab Januar 1991 ihre Grundausbildung zumeist in Truppenteilen in Westdeutschland. Auf Grundlage der Weisung ›Wechselseitige Einberufung‹ wurden ab Juli 1992 alle eingezogenen Wehrpflichtigen gemischt auf die Standorte in den ost- wie westdeutschen Bundesländern verteilt, um bereits auf dieser Ebene – so die entsprechende offizielle Begründung – intensiven Kontakt und Austausch zwischen den Soldaten aus Ost und West zu ermöglichen.34 Gleichwohl gingen die hier skizzierten Bestrebungen zur Vereinheitlichung der Wissensbestände nicht mit einer Vereinheitlichung der materiellen Vergütung einher: Die für westdeutsche Bundeswehr-Soldaten geltende besondere monat32 Reeb, Eingliederungsmaßnahmen, S. 854. 33 Vgl. Conrad, Die Integration von Offizieren, S. 126 f. 34 Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), Armee der Einheit 1990–2000, Bonn 2000,
S. 15.
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liche Aufwandsentschädigung, die sie bei einer Versetzung nach Ostdeutschland ab dem 1. April 1991 erhielten, wurde erst zum 31. Dezember 1995 abgeschafft. Von da an galten überall in der Bundeswehr die gleichen Versetzungsbedingungen. Desgleichen wurde die in der gesamten öffentlichen Verwaltung geltende ›Ostbesoldung‹ erst zum 1. Januar 2008 (für den einfachen und mittleren Dienst) beziehungsweise zum 1. Januar 2011 (für den gehobenen und höheren Dienst) abgeschafft. Bis dahin war es keine Seltenheit, dass Soldaten, die in einer Einheit in Ostdeutschland die gleichen Aufgaben erfüllten, unterschiedlich dafür entlohnt wurden.
III. Die gedächtnispolitischen Orientierungsleistungen im Rahmen der militärischen ›Vereinigung‹: Die Schaffung der ›Armee der Einheit‹ Das soeben unter dem Aspekt der vergangenheitsbezogenen Degradierung analysierte Verfahren für die Auswahl und Eingliederung von NVA-Personal in die Bundeswehr wurde von Beginn an von kontroversen Diskussionen in und außerhalb der Streitkräfte begleitet, wie eine ganze Reihe kritischer Kommentare und Leserbriefe in Zeitungen, aber auch die Ergebnisse einer internen Befragung unter Bundeswehr-Angehörigen belegen.35 Zu Beginn des Übernahmeverfahrens appellierte die politische und militärische Führung daher vordringlich an die Bereitschaft der Soldaten aus beiden Armeen, einander mit Offenheit und Respekt gegenüberzutreten. Dies war vor allem an die Adresse der westdeutschen Soldaten gerichtet, die besonders dazu aufgerufen wurden, Überheblichkeiten zu vermeiden und Verständnis für die schwierige Situation der NVA-Soldaten aufzubringen. Vormalige NVA-Angehörigen wurden dagegen auf ihre Lern- und Verantwortungsbereitschaft sowie ihre Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Aufgaben angesprochen.36 Im weiteren Verlauf des Verfahrens, als die zuvor beschriebenen Maßnahmen auf den Weg gebracht worden waren, traten derartige 35 Vgl. Conrad, Integration von Offizieren, S. 66 f. sowie Sozialwissenschaftliches Institut der
Bundeswehr (SOWI), Zur Akzeptanz des Dienstes von ehemaligen NVA-Soldaten in der Bundeswehr und von Bundeswehrsoldaten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, Gutachten 17/90, München 1990. Das genannte Gutachten (ebd., S. 14) zeigt, dass auch die Versetzungsbereitschaft von Bundeswehrsoldaten in die neuen Länder ziemlich gering war (ebd.). Die Einführung der »Aufwandsentschädigung im Beitrittsgebiet« ab 1. April 1991 – informell auch als ›Buschzulage‹ oder ›Buschgeld‹ bezeichnet – ist nicht zuletzt in diesem Zusammenhang zu sehen. Vgl. speziell hierzu Volker Koop, Die Nationale Volksarmee – Probleme der Integration in die Bundeswehr, in: Deutscher Bundestag (Hg.), Materialien Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestags), Bd. II/2, Baden-Baden 1999, S. 508–543, hier: S. 530 f. 36 So z. B. im Tagesbefehl des Bundesministers der Verteidigung Dr. Gerhard Stoltenberg zur deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990, abgedruckt in Hans Ehlert (Hg.), Armee ohne Zukunft. Das Ende der NVA und die deutsche Einheit. Zeitzeugenberichte und Dokumente, Berlin 2002, S. 519–520, hier: S. 520.
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Solidaritätsappelle in den Hintergrund und machten ersten Bilanzierungen Platz, in denen die Legitimation des Vereinigungsprozesses und der daran geknüpften Entscheidungen in ihrer Gesamtheit in den Vordergrund rückten. Auf diese Weise bildete sich eine dominante Lesart der militärischen ›Vereinigung‹ heraus, die eng mit dem Begriff ›Armee der Einheit‹ verbunden ist. Verstanden als ein Topos, der in verdichteter Form verschiedene, aufeinander bezogene Argumente und Deutungen verbindet, steht dieser Ausdruck für eine spezifische Sichtweise auf die Vergangenheit und unmittelbare Gegenwart, welche die offiziellen Reden, Verlautbarungen und Veröffentlichungen der politischen und militärischen Führung der Bundeswehr durchzieht. Diese umfasst verschiedene Elemente, die zusammen genommen ein Sinnstiftungsangebot ergeben, das die im Zuge der Vereinigung im militärischen Bereich getroffenen Entscheidungen begründet und in einen scheinbar kohärenten, umfassenderen Zusammenhang einordnet: Aus wissenssoziologischer Perspektive ist der Topos der ›Armee der Einheit‹ also als Teil der symbolischen Sinnwelt37 der (nun: gesamtdeutschen) Bundeswehr zu verstehen, der vier verschiedene Dimensionen umfasst: In sachlicher Hinsicht verweist der Ausdruck ›Armee der Einheit‹ auf den besonderen Beitrag der Bundeswehr zur ›inneren Einheit‹ des vereinigten Deutschlands. Durch die Übernahme von Angehörigen der NVA sowie insbesondere durch die »bewusste Durchmischung von Einheiten und Verbänden mit Soldaten aus Ost und West« sei die Bundeswehr zum »Schrittmacher« der deutschen Einheit geworden, lautete etwa die Bilanz des damaligen Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Harald Kujat, anlässlich des zehnten Jahrestags der Vereinigung.38 Von der Bundeswehr als ›Armee der Einheit‹ zu sprechen, bedeutet demnach, den erfolgreichen Aufbau der Bundeswehr in den neuen Ländern als Erfolg des Zusammenwachsens beider deutscher Armeen zu würdigen – ohne dabei zu erwähnen, dass dies unter der klaren Vorgabe der Angleichung von Ost an West und somit auf asymmetrische Art und Weise erfolgte. Eng damit verbunden ist der Hinweis, dass es seit 1990 nur noch eine deutsche Armee gibt, in der Ost- wie Westdeutsche gemeinsam dienen und so die ›innere Einheit‹ verwirklichen: Die Bundeswehr als ›Armee der Einheit‹ erscheint somit als Modell des gelungenen Vollzugs der Vereinigung, an dem sich die deutsche Gesellschaft insgesamt orientieren kann. Im genannten Beitrag des Generalinspekteurs werden neben der »weit über das Normale hinaus gehende[n] Einsatzbereitschaft der aus dem Westen zuver37 Zum Begriff der symbolischen Sinnwelt siehe Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die ge-
sellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2003, S. 102 ff.; Hans-Georg Soeffner / Dariuš Zifonun, Integration und soziale Welten, in: Sighard Neckel / Hans-Goerg Soeffner (Hg.), Mittendrin im Abseits. Ethnischen Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext, Wiesbaden 2008, S. 115–131, hier: S. 118 f. 38 Harald Kujat, Integration gelungen. Zehn Jahre Armee der Einheit, in: Truppenpraxis/ Wehrausbildung 44/10 (2000), S. 625–629, hier: S. 628.
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setzten und zukommandierten Soldaten« darüber hinaus das »Engagement« und die »Leistungsbereitschaft« der aus der NVA übernommenen Soldaten gewürdigt.39 Im Gegensatz zu offiziellen Bestandsaufnahmen40 fanden in diesem Fall sogar die aus dem Militärdienst ausgeschiedenen NVA-Soldaten Erwähnung – durch den Verweis auf die durch die Bundeswehr bereitgestellten finanziellen und sonstigen Hilfen für den Einstieg in das zivile Berufsleben. Die damit verbundenen Schwierigkeiten sowie die Tatsache, dass insbesondere für ältere NVA-Soldaten das Ende der NVA nicht selten das Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben beinhaltete und darüber hinaus mit einer Kürzung der in der DDR erworbenen Rentenansprüche einherging, blieben gleichwohl unerwähnt. Im Kontext der ›Armee der Einheit‹ wird das ›Schicksal‹ der Mehrheit der NVAAngehörigen, die seit ihrem Ausscheiden aus dem Militär rechtlich nicht mehr in den Geschäftsbereich des BMVg fallen, in der Regel nicht thematisiert und somit institutionell gewissermaßen ›vergessen‹. Damit verbunden ist die zweite zentrale Dimension des Topos ›Armee der Einheit‹, der in sozialer Hinsicht mit der Unterscheidung zwischen übernommenen und nicht übernommenen NVA-Soldaten einhergeht: Nur erstere haben einen festen Platz in der offiziellen Geschichte über die Schaffung der ›Armee der Einheit‹ – sie dienen nunmehr als Beleg für deren Erfolg. Die anderen spielen hierfür keine Rolle. Als Beispiel sei auf die sechsteilige Serie »Armee der Einheit« verwiesen, die zwischen Oktober 2002 und März 2003 in der Zeitschrift Y. Magazin der Bundeswehr, einem vom BMVg monatlich herausgegebenen und in den Dienststellen und Einrichtungen der Bundeswehr verteilten Periodikum, erschien und die verschiedene Facetten des Aufbaus der Bundeswehr in Ostdeutschland beleuchtete. Der vierte Teil dieser Serie war der Sicht ›von unten‹ gewidmet. Hierfür wurden drei vormalige NVA-Soldaten porträtiert.41 Im Zentrum des Berichts stehen die (überwiegend) positiven Erfahrungen, die die drei Soldaten jeweils nach der Vereinigung gemacht haben. Die positive Sicht auf den Aufbau der Bundeswehr in Ostdeutschland wird auf diese Weise bestätigt. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der vorgestellten Soldaten vor 1989/90 in der DDR werden demgegenüber nur kurz gestreift. Der zeitliche Fokus der Berichterstattung liegt eindeutig auf der Zeit nach der Vereinigung. Die temporale Verortung, die an dieser Stelle deutlich wird und auf der Unterscheidung zwischen der Zeit vor und nach dem 3. Oktober 1990 beruht, beschreibt die dritte Bedeutungsdimension des Topos ›Armee der Einheit‹: Die Zeit nach der Vereinigung steht im Mittelpunkt, die Zeit davor tritt in den Hintergrund. Das bedeutet, dass im Kontext der ›Armee der Einheit‹ sowohl die militärische Vergangenheit der DDR als auch der Ost-West-Konflikt – und damit die ehemalige Frontstellung der beiden Armeen – weitgehend ausgespart bleiben. Was die 39 Ebd. 40 Z. B. BMVg, Fünf Jahre Armee der Einheit; BMVg, Armee der Einheit 1990–2000. 41 Colla Schmitz u. a., Drei Doppelleben, in: Y. Magazin der Bundeswehr 1 (2003), S. 46–49.
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NVA für eine Armee war, worin ihr Auftrag bestand und wie beziehungsweise wofür ihre Soldaten ausgebildet wurden, wird weder in der genannten Zeitschriftenserie, noch in den offiziellen Reden und Beiträgen näher erläutert. Hierfür gibt es naheliegende Gründe: Eine Betonung der sozialistischen Erziehung und der feindlichen Ausrichtung der NVA gegen die Bundeswehr und ihre westlichen Bündnispartner sowie der spiegelbildlichen Verteidigungshaltung der Bundeswehr gegenüber den gegnerischen Armeen des Warschauer Vertrags würde die Sinnhaftigkeit der Übernahme von Angehörigen der NVA in die Bundeswehr konterkarieren und die Kritik an dieser Entscheidung befördern. Zugleich steht damit der Verzicht auf eine Thematisierung der DDR-Vergangenheit im klaren Kontrast zum zuvor beschriebenen Übernahmeverfahren und der damit verbundenen teils direkten, teils indirekten Diskreditierung ebendieser Vergangenheit. Im Kontext der (öffentlichen) Rede von der ›Armee der Einheit‹ kann auf eine explizite Abgrenzung von der NVA jedoch auch deshalb verzichtet werden, weil durch die Schaffung dieser ›Armee der Einheit‹ alles, was zur NVA strukturell und institutionell gehörte, aufgelöst wurde. Nichtsdestotrotz beruht die Selbstbeschreibung der Bundeswehr als ›Armee der Einheit‹ auf einer konsequenten Distanzierung von der NVA, die mitunter auch praktisch durchgesetzt wird – selbst wenn dies in Verlautbarungen in der Öffentlichkeit häufig nicht eigens zum Thema gemacht wird. Dies lässt sich etwa an einem Erlass aus dem Jahr 2005 verdeutlichen, mit dem alle Standortältesten in den Wehrbereichen darüber informiert wurden, dass die Durchführung von »Veranstaltungen mit Bezug zum 50. Jahrestag der Gründung der NVA« in Liegenschaften der Bundeswehr untersagt sei. Zur Begründung heißt es: »Die NVA war die Armee des Unrechtsregimes der DDR. Ihr Auftrag und innere Ordnung sind unvereinbar mit dem Selbstverständnis der Bundeswehr als Streitkräfte in der Demokratie und ihrer Soldaten als Staatsbürger in Uniform. Ein ehrendes Andenken an die NVA durch die Bundeswehr ist daher ausgeschlossen.«42 Die Betonung der Diskontinuität zwischen NVA und Bundeswehr, die sich hier zeigt, ist umso klarer zu erkennen, wenn man berücksichtigt, dass die Bundeswehr im selben Jahr mit einem umfangreichen Veranstaltungskatalog ihrer eigenen Gründung 50 Jahre zuvor gedachte und dabei unter anderem auch an ihre Leistungen im Rahmen der Vereinigung erinnerte. Sie offenbart sich ebenfalls in der kategorischen Weigerung, Elemente oder Persönlichkeiten der ostdeutschen Militärgeschichte in den Traditionskanon der Bundeswehr aufzunehmen. Auch der Umstand, dass es vormaligen Soldaten der NVA formal untersagt ist, ihren letzten NVA-Dienstgrad in der Öffentlichkeit zu führen, markiert die grundsätzliche Unterscheidung, die – aus offizieller Sicht – zwischen der Bundeswehr (als Armee von ›Staatsbürgern in Uniform‹ einer liberalen Demokratie) und der NVA (als ›Parteiarmee‹ einer sozialistischen Diktatur) seit Gründung der jewei-
42 BMVg – Fü S I 4 – Az 35-31-00 vom 13. Dezember 2005.
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ligen Streitkräfte existiert und die mit der Vereinigung somit erneut festgeschrieben wurde. Damit ist auch die vierte und letzte, die identitätspolitische Dimension dieses Topos benannt: Die Selbstbeschreibung als ›Armee der Einheit‹ setzt die ›Niederlage‹ der sozialistischen Streitkräfte und des politischen Systems, für das sie standen, voraus und geht somit mit einer Bestätigung der Bundeswehr als einzig legitimer deutscher Armee seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einher. Mit der Schaffung der ›Armee der Einheit‹ wurde der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, der auch nach Aufgabe der Hallstein-Doktrin Ende der 1960erJahre die politische Kultur der alten Bundesrepublik weiterhin geprägt hat, gewissermaßen nachträglich eingelöst.43 In der Tat beinhaltete dieser seinerzeit sowohl die strikte Ablehnung der DDR als Staats- und Gesellschaftsform als auch die Fürsorge- und Verantwortungsbereitschaft für die dort lebenden Menschen und beruhte somit von Beginn an auf der Unterscheidung zwischen ›System‹ und ›Mensch‹. Übertragen auf das Militär machte diese Unterscheidung nach der Vereinigung die Trennung zwischen ›Parteiarmee‹ und ›Soldat‹ und so eine (zahlenmäßig) begrenzte Eingliederung der vormaligen ›Gegner‹ möglich – nicht zuletzt, weil hierfür auch die im 19. Jahrhundert herausgebildete Bedeutung der Armee als Institution der nationalen Einheit44 aufgegriffen und für den Aufbau der Bundeswehr in Ostdeutschland fruchtbar gemacht werden konnte.
IV. Implikationen der vereinigungsbedingten Gedächtnispolitik der Bundeswehr auf der individuellen Ebene Die skizzierten ordnungs- und orientierungspolitischen Maßnahmen, die seitens der Bundeswehr ergriffen wurden, um nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gesamtdeutsche Streitkräfte zu schaffen, sind in den berufsbiografischen Erzählungen vormaliger NVA-Offiziere, die im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojektes erhoben wurden,45 in vielerlei Hinsicht präsent – und zwar sowohl bei denjenigen Offiziere, die von der Bundeswehr übernommen wurden, als auch bei den Befragten, die mit der Vereinigung aus dem Militärdienst ausschieden. Die Folgen dieser Gedächtnispolitik schlagen sich insbesondere in dem je-
43 Vgl. Glaeser, Divided in Unity, Kap. 2; Wolfgang Bergem, Identitätsformationen in Deutsch-
land, Wiesbaden 2005, S. 323 f. 44 Vgl. Cathleen Kantner / Sammi Sandawi, Der Nationalstaat und das Militär, in: Nina Leonhard / Ines-Jacqueline Werkner (Hg.), Militärsoziologie – Eine Einführung, Wiesbaden 2012, S. 37–64, hier: S. 44 ff. 45 Der im Detail ausgewertete Materialkorpus besteht aus 35 berufsbiografisch fokussierten Interviews mit vormaligen NVA-Offizieren, die teils von der Bundeswehr übernommen wurden, teils im Zuge des Vereinigungsprozesses aus dem Militär ausschieden. Vgl. hierzu Leonhard, Integration und Gedächtnis, S. 81 ff.
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weils zentralen Deutungsmuster nieder, das die Interviewdarstellungen fallübergreifend durchzieht.46 Bei den von der Bundeswehr übernommenen Offizieren handelt es sich um ein Deutungsmuster, das mit der Formulierung Ich habe nichts zu verbergen umschrieben werden kann. Zur Illustration sei folgender Ausschnitt aus einem der Interviews wiedergegeben: … war es ja dann so, dass die Frage anstand Übernahme zum Berufssoldaten … und da gab es diesen unabhängigen Gutachterausschuss, der da zusammengesetzt war aus ehemaligen Generalen, Politikern … und da musste ich nach X-Stadt, halt stop, davor noch musste ich zum MAD … und dann hatten wir dort ein mehrstündiges Gespräch über die Person Hans-Peter Meier, wo ich mich ja regelrecht ausziehen musste, auf Deutsch gesagt in Anführungsstrichen, also ich musste mich bloßlegen, was ich och gemacht habe, ich habe keine Geheimnisse, ich habe nichts zu verbergen, und dann kam das Gespräch vor diesen unabhängigen Gutachterausschuss, und dieses Gespräch verlief eigentlich recht sachlich zumindestens von den Personen, die aus den alten Bundesländern kamen … und das war das einzige Unangenehme an der Sache, dass die eigenen Leute aus der ehemaligen DDR so stinküberheblich, sage ich mal, waren, so arrogant und teilweise frech uns gegenüber waren, bis es mir dann gereicht hat und ich den Herrn Rechtsanwalt gefragt habe, sagen Sie mal, was haben Sie vierzig Jahre gemacht. Haben Sie nur hinterm Ofen gesessen oder was, weil der hat mir immer vorgeworfen, Sie waren doch bei den Pionieren, Sie waren bei der FDJ, Sie waren doch in der SED, aber dass das nun früher mal so gewesen ist, das kann man nun nicht verheimlichen, das ist ja nun mal so eine ganz normale Entwicklung, und wenn man Offizier gewesen ist, dann ging es ja nun nicht anders, da musste man in der SED sein, sonst wäre man gar keen Offizier geworden … [Hervorhebung N. L.].47
Das Deutungsmuster Ich habe nichts zu verbergen, das sinngemäß in praktisch allen der hier erhobenen Interviews mit übernommenen Offizieren zutage tritt, verweist auf das Aufklärungs- und Anpassungsgebot, dem sich die Befragten im Rahmen des Auswahlverfahrens vor allem in Bezug auf die politische Dimension ihrer bisherigen beruflichen Tätigkeit ausgesetzt sahen. Die mit der Aussage Ich habe nichts zu verbergen nach außen hin demonstrierte Bereitschaft, ›alles‹ offenzulegen, stellt eine typische Reaktion auf den dadurch hervorgerufenen Bekenntnisdruck dar, der im vorliegenden Fall zu einer ›Verteidigung‹ der eigenen SED-Mitgliedschaft als eine zu DDR-Zeiten ›normale Entwicklung‹ führt. In eine weitgehend passive Rolle gedrängt, da die Entscheidung über die berufliche Zukunft nur bedingt durch eigenes Handeln beeinflussbar war und – so die vorherrschende Sichtweise – vielfach von vergangenen wie gegenwärtigen Zufällen abhing, kreisen die Erzählungen der befragten Offiziere darüber hinaus immer wieder um die große Unsicherheit während dieser Übergangszeit. Das 46 Vgl. hierzu und im Folgenden ebd., S. 183 ff. u. 195 ff. 47 Interview 42, Absatz 8.
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weiter oben im Anschluss an Garfinkel sowie Gravier herausgestellte Moment der Degradierung als Voraussetzung für die Zuweisung eines neuen Status und einer neuen (organisationalen) Identität tritt neben den Schilderungen der biografischen Überprüfung und Neubewertung der Biografie (wie im zitierten Beispiel) vor allem bei der wiederholten Thematisierung der Dienstgradangleichung hervor. Diese wird in jedem Interview angesprochen, da sie für fast alle der Befragten dieser Studie eine (zumindest temporäre) Herabstufung bedeutete. Die Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen der Bundeswehr, die zuvor als drittes Degradierungsritual beschrieben wurden, schlagen sich in den Interviews mit den übernommenen Offizieren demgegenüber nur am Rande nieder. Während viele der Befragten anerkennen, dass sich die formalen Regeln und Verfahrensweisen in NVA und Bundeswehr mitunter deutlich unterscheiden, wird die Umstellung von der NVA auf die Bundeswehr in militärisch-fachlicher Hinsicht von ihnen jedoch als insgesamt wenig(er) einschneidend interpretiert. Bezeichnenderweise wird in diesem Zusammenhang häufig das Bild der Bundeswehr als ›Armee der Einheit‹ – hier vor allem verstanden als ein Ort, an dem die Einheit von Ost- und Westdeutschen schneller und besser als anderswo in der Gesellschaft erreicht wurde – aufgegriffen: Die befragten NVA-Offiziere berufen sich also im Rekurs auf das offizielle Sinnstiftungsangebot der Bundeswehr auf diejenigen Aspekte, die alle Soldaten trotz der unterschiedlichen politisch-ideologischen Ausrichtung von NVA und Bundeswehr als Soldaten verbinden, und führen dies nicht nur als Begründung für das alles in allem positiv gedeutete Verhältnis zwischen ost- und westdeutschen Soldaten an, sondern auch für ihre relativ schnelle berufliche Umstellung von der NVA auf die Bundeswehr. Demgegenüber standen die aus dem Militär ausgeschiedenen Offiziere nach dem Umbruch 1989/90 in erster Linie vor der Herausforderung, den Übergang in den nach Alter und bundesrepublikanischen Qualifikationsstandards strukturierten zivilen Arbeitsmarkt zu bewerkstelligen, und zwar – so die vorherrschende Selbstpräsentation – auf aktive Art und Weise. Das leitende Deutungsmuster der Interviewerzählungen lässt sich entsprechend mit der Formulierung Ich bin nicht untergegangen zusammenfassen. Diese Erzählfigur verweist auf den Verlust der einst sicher geglaubten Berufsperspektive verbunden mit der Entwertung bisheriger Berufserfahrungen und damit auf die Anforderung, sich seit dem 3. Oktober 1990 nach den nun geltenden Spielregeln beruflich neu behaupten zu müssen. Fragen, die die eigene politische Haltung und das frühere Engagement für den Sozialismus betrafen, spielten hier in den Interviews eine weniger prominente Rolle als bei den von der Bundeswehr übernommenen Offizieren. Die von den aus dem Militär ausgeschiedenen Befragten in diesem Zusammenhang explizit thematisierten Degradierungserfahrungen betreffen im Fall der älteren vormaligen Offiziere in erster Linie die Regelungen zum Führen von NVA-Dienstgraden in der Öffentlichkeit sowie zu den Renten- und Versorgungsansprüchen, die sie insbesondere im Vergleich zu westdeutschen Offizieren als ungerecht wahrnehmen. Die jüngeren ausgeschiedenen Offiziere problematisieren indes eher die
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Kompatibilität beziehungsweise Inkompatibilität der zu DDR-Zeiten erreichten beruflichen Abschlüsse und Qualifikationen, die ihren weiteren zivilen beruflichen Werdegang mitunter erschwerten. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen sticht insgesamt das im Vergleich zu den übernommenen Offizieren sichtlich größere Maß an Verbundenheit heraus, das die ausgeschiedenen Offiziere mit Blick auf andere vormalige Angehörige der NVA in den Interviews zum Ausdruck bringen und das sich auf gemeinsame Erfahrungen in der NVA wie auch auf die Zeit nach der Vereinigung stützt. In Erweiterung des auf die eigene Person bezogenen Credos Ich bin nicht untergegangen werden die beruflichen Erfolge anderer NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland von den aus dem Militär ausgeschiedenen Befragten nicht selten als eine Bestätigung er selbst in der NVA erfahrenen – guten – Ausbildung und – positiven – Prägung angeführt, wie etwa die folgende Interviewpassage illustriert: … ich bin natürlich auch froh, dass man nicht arbeitslos geworden ist, dass man nicht in langwierige Umschulungsprozesse integriert worden [ist], die sowieso nüscht gebracht haben oder vielfach nichts gebracht haben. Aber auf der anderen Seite muss ich sagen, ich habe ganz wenige ehemalige NVA-Kameraden aus dem technischen Dienst kennengelernt, die untergegangen sind, sage ich mal, ganz wenige. Es gab aus meinem engeren [Umfeld] zwei Leute, ja die so ein bisschen so ab- gestrauchelt sind, aber da spielte die Familie wieder eine Rolle aber ansonsten … gerade in meiner Branche … finde ich in jeder Ecke welche, wenn ich durch die Republik fahre … finde ich da immer Leute, wenn wir bei der Fachtagung sind, kann ich Ihnen die Hälfte der Leute nennen, die kommen aus der ehemaligen NVA … die haben Fuß gefasst … in verantwortungsvoller und manchmal sogar gehobener Stellung, das ist ja auch ein Zeichen, dass ihre Ausbildung nicht schlecht war … [Hervorhebungen N. L.].48
Vor allem die Aufwertung der eigenen NVA-Herkunft, die hier exemplarisch zum Ausdruck gebracht wird, lässt sich als (Gegen-)Reaktion auf die Erfahrungen von Nichtanerkennung verstehen, die mit dem Ende der bis 1989/90 verfolgten militärischen Berufsperspektive und dem Ausscheiden aus dem Militär für diese Gruppe verbunden waren. Sie fällt bei den von der Bundeswehr übernommenen Offizieren weniger stark aus, da hier die (im Einzelfall durchaus ambivalente) Verortung innerhalb der Bundeswehr und somit unter ost- wie westdeutschen Kameraden eine ungebrochene Identifikation mit der NVA verhindert. Übernommene wie ausgeschiedene Offiziere sind jedoch gleichermaßen darum bemüht, Anschlussfähigkeit zwischen der vor 1989/90 sowie danach ausgeübten beruflichen Tätigkeit herzustellen. Die von der Bundeswehr übernommenen Offiziere versuchen dies, indem sie sich auf die streitkräfteübergreifenden Gemeinsamkeiten des Soldatenberufs berufen. Das offizielle Bild der Bundeswehr als ›Armee der Einheit‹ mit den damit verbundenen Idealen militärischer Ge48 Interview 17, Absatz 28 ff.
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meinschaft und soldatischer Kameradschaft bietet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit, die gute persönliche Zusammenarbeit von Ost- und Westdeutschen innerhalb der Bundeswehr herauszustellen und dafür die politisch-ideologischen Unterschiede des Soldatseins vor und nach 1989 in den Hintergrund zu rücken. Die im Zuge des Umbruchs von 1989/90 aus dem Militär ausgeschiedenen Offiziere konstituieren berufliche Kontinuität, indem sie die zu DDR-Zeiten erworbenen Fähigkeiten und Kompetenzen hervorheben, die sie als Grundlage für ihre (erfolgreiche) berufliche Tätigkeit nach der Vereinigung , und dabei zugleich die ideologischen Parameter der Zeit davor ignorieren. In beiden Fällen wird die fachliche Seite des Soldatenberufs betont, was jeweils mit einer Tendenz zur Nivellierung beziehungsweise Ausblendung der politischen Dimension von Auftrag und Aufgaben des Militärs (zu DDR-Zeiten wie heutzutage) einhergeht: Auch hier erfolgt ein Einschluss durch Ausschluss. Übernommenen wie ausgeschiedenen Offizieren ist darüber hinaus gemeinsam, dass sie sich im Rahmen ihrer berufsbiografischen Darstellung immer wieder mit selbst erfahrenen oder vom Hörensagen bekannten Vorwürfen oder Vorurteilen gegenüber NVA-Angehörigen auseinandersetzen, diese also zurückweisen oder bestätigen. Der damit verbundene (latente) Rechtfertigungsdruck verweist auf die übergeordnete Folge der vereinigungsbedingten Gedächtnispolitik der Bundeswehr: Der Systemwechsel von 1990 führte zu einer Änderung der bis dato in der politischen Öffentlichkeit geltenden Wirklichkeitsordnung und damit der impliziten wie expliziten Regeln, nach denen Wissensbestände wahrgenommen, bewertet und angewendet werden. Dies machte (und macht bis heute) eine Anpassung der eigenen Biografie, verstanden als Darstellung des eigenen Lebens für sich und gegenüber anderen, und damit eine Auseinandersetzung mit den nun gültigen Bewertungskriterien für ein »sozial anerkennungsfähiges Leben«49 unabdingbar. Für Angehörige der Streitkräfte der DDR, die qua Funktion in besonderer Weise mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung und der dort herrschenden Staatspartei verbunden waren, und hier namentlich für diejenigen, die sich dem Verfahren für die Übernahme in die Bundeswehr unterzogen und für einen dauerhaften Verbleib ausgewählt wurden, war dieser Anpassungsdruck besonders groß.50 In abgestufter Weise galt er jedoch letztlich für alle Bürgerinnen und Bürger in der DDR, die am 3. Oktober 1990 zu Bundesbürgern wurden.
49 Heinz Bude, Rekonstruktion von Lebenskonstruktionen – eine Antwort auf die Frage, was
die Biographieforschung bringt, in: Martin Kohli / Günther Robert (Hg.), Biographie und soziale Wirklichkeit. Neue Beiträge und Forschungsperspektiven, Stuttgart 1984, S. 7–27, hier: S. 12. 50 Für eine Illustration an konkreten Fallbeispielen siehe Leonhard, Integration und Gedächtnis, Kap. 8, S. 207 ff.
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V. Schlussbetrachtung Ziel der vorangegangenen Ausführungen war es aufzuzeigen, unter welchen Prämissen und mittels welcher Maßnahmen die ›Vereinigung‹ von DDR und Bundesrepublik im Bereich des Militärs vollzogen wurde. Am Beispiel des von der Bundeswehr implementierten Übernahmeverfahrens für NVA-Personal wurde die gedächtnispolitische Etablierung einer ›neuen‹, nun gesamtdeutschen Wirklichkeitssicht bundesrepublikanischer Prägung nachgezeichnet: indem Bundeswehr-Standards für die Bewertung militärischer Werdegänge in der DDR eingeführt und angewendet wurden, nach denen der Einschluss in die und der Ausschluss aus der Bundeswehr und der von ihr repräsentierten militärischen Gemeinschaft in materieller wie ideeller Hinsicht erfolgte. Diese für den Bereich der Bundeswehr anhand des Konzepts des Degradierungsrituals illustrierte Handlungslogik steht – so lautet meine These – pars pro toto für den gedächtnispolitischen Rahmen, der der Vereinigung insgesamt zugrunde lag. Mit der Entscheidung, den Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten verfassungsrechtlich im Modus des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik durchzuführen und die westdeutsche Institutionenordnung auf Ostdeutschland zu übertragen, war auch die Entscheidung für eine Angleichung von Ost an West gefallen. Das, was die DDR bis dahin strukturell wie ideell ausgemacht hatte, wurde damit als ›vergangen‹ klassifiziert, während allein die Bundesrepublik mit ihren Institutionen, Werten und Normen als anschlussfähig für die Zukunft galt und durch entsprechende Diskurse – über den diktatorischen Charakter der DDR und die Vorteile von Freiheit und Wohlstand in einer liberalen Demokratie – legitimiert wurde. Zentrale Elemente der hier für den Bereich der Bundeswehr aufgezeigten Wirklichkeitsdeutung, die auf einer grundlegenden Ost/West-Unterscheidung beruht und auf die den Vereinigungsprozess kennzeichnende strukturelle wie kulturelle westdeutsche Hegemonie verweist,51 sind auch in anderen sozialen Bereich wirksam: Sie sind Teil der mit der Vereinigung etablierten Wirklichkeitsordnung des vereinigten Deutschlands. Gleichwohl sind diejenigen Formen der Wirklichkeitskonstruktion, die in der politischen Öffentlichkeit (oder innerhalb der Bundeswehr) Gültigkeit beanspruchen können, nicht deckungsgleich mit der Art und Weise, wie jeder Einzelne die Welt um sich deutet und sein Leben interpretiert. Umgekehrt ist die individuelle Konstruktion von Wirklichkeit aber auch nicht gänzlich unabhängig von den sozialen Konventionen, Maßstäben und Gepflogenheiten der Weltdeutungen, die um eine(n) herum existieren. Genau das galt beziehungsweise gilt auch für vormalige Angehörige der NVA, die – ähnlich wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger der DDR – spätestens mit der Vereinigung vor 51 Bergem, Identitätsformationen, S. 323; Horst Stenger, »Deshalb müssen wir uns noch fremd
bleiben …« Fremdheitserfahrungen ostdeutscher Wissenschaftler, in: Münkler, Herfried (Hg.), Die Herausforderung durch das Fremde, Berlin, S. 305–400, hier: S. 318 ff.
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der doppelten Herausforderung standen, sich sowohl mit den geltenden Regeln der Gegenwart als auch mit den nun als ›vergangen‹ klassifizierten Denk- und Handlungsgewohnheiten der zu ›Geschichte‹ gewordenen DDR auseinanderzusetzen und daraus eine eigene Sicht auf ihren gegenwärtigen Alltag wie ihr vergangenes Leben zu gewinnen. Dies belegen nicht zuletzt die im Abschnitt zuvor skizzierten berufsbiografischen Deutungsmuster, auf die die im Rahmen dieser Studie befragten vormaligen NVA-Soldaten zurückgreifen, um ihren beruflichen Werdegang vor und nach 1989/90 zu deuten und nach außen – hier: gegenüber einer westdeutschen Interviewerin, die aufgrund von Alter, Herkunft, Beruf und Geschlecht in vielfacher Hinsicht als ›Fremde‹ gelten muss – zu legitimieren. Aus Sicht der Bundeswehr kann und muss der Prozess der Herstellung gesamtdeutscher Streitkräfte als Erfolg gelten: Die NVA als Institution wurde aufgelöst, einheitliche Standards wurden für alle Bundeswehr-Einheiten in Ost wie West etabliert, und im Idealbild von der ›Armee der Einheit‹ können sich die meisten Angehörigen der Bundeswehr aus Ost wie West – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – wiederfinden. Diese ordnungs- und orientierungspolitischen Leistungen wurden allerdings zum Preis eines Degradierungsprogramms erzielt, deren ›Kosten‹ in erster Linie auf Seiten der Angehörigen der Nationalen Volksarmee anfielen. Wenn es um eine historische Bilanzierung der Leistungen der Bundeswehr im Vereinigungsprozess geht, sollten darüber hinaus die Implikationen der dabei implementierten Gedächtnispolitik nicht vergessen werden, die Einschluss unter der Voraussetzung des Ausschlusses all dessen (und all derjenigen) ermöglichte, das (und die) aus bundesdeutscher Sicht als nicht passfähig angesehen wurde. Die vormaligen Berufsoffiziere der NVA kamen vor diesem Hintergrund nicht umhin, die Erfordernisse, die sich aus der Notwendigkeit für (und häufig auch dem Wunsch nach) Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaftsordnung ergaben, mit den gleichzeitig bestehenden Bedürfnissen nach biografischer Identität und Kontinuität auszutarieren – und damit die Spannungslinien, die sich durch den politischen Systemwechsel ergaben, individuell auszugleichen oder zumindest auszuhalten. Darin bestand (und besteht zum Teil bis heute) eine der grundlegenden Herausforderung für gesellschaftliche Integration in der deutschen Vereinigungsgesellschaft.
IV. SOZIALE UND INDIVIDUELLE ORDNUNGSENTWÜRFE
Christoph Lorke
VON ALTEN UND NEUEN UNGLEICHHEITEN ›Armut‹ in der Vereinigungsgesellschaft
I
m Oktober 1991 findet in der Leipziger Spielgemeinde eine Podiumsdiskussion statt – das Thema: »Obdachlosigkeit – Armut als Preis sozialer Marktwirtschaft?!« Das Grundsatzreferat des Abends hält ein Redner aus Westdeutschland. Einem verblüfften Publikum zeigt er auf, wie im Westen der Republik Einrichtungen für Obdachlose funktionierten, erklärt Begriffe wie Sockelarbeitslosigkeit, bezeichnet die Wohnung als Ware und prophezeit, »daß nun im Osten die Massenobdachlosigkeit beginnen wird«. Eine Frau erhebt sich: »Wir werden Ihre Probleme nicht kriegen.« Und ein anderer ergänzt: »Ich will es einfach nicht glauben, daß es so wird, wie in der Alt BRD.«1 Diese zeitgenössische Anekdote eignet sich gut dafür, die Diskrepanz zwischen damaligen Erwartungshaltungen einerseits und (realer wie imaginierter) sozialer Wirklichkeit andererseits zu erahnen. Sie erklärt zu Teilen auch Genese und Hintergründe der allzu oft dünnhäutig-polemisch geführten öffentlichen Diskussionen um soziale Verwerfungen – im stark angewärmten Debattenklima der ›Vereinigungsgesellschaft‹ ebenso wie bisweilen heute noch. Denn nach 1990 prallten gänzlich unterschiedliche Hoffnungen und Befürchtungen hinsichtlich der sozialen Ausgestaltung der wiedervereinigten Republik recht unvermittelt aufeinander. Hinzu kamen die mit dem Einigungsprozess verbundenen Herausforderungen insbesondere finanzieller Art: Bis 1994 wurden durchschnittlich etwa 8.000 Mark Transferleistungen je ostdeutschen Einwohner gezahlt.2 Diesen »Preis der deutschen Einheit« (Gerhard A. Ritter) zu entrichten, da ist sich das Gros der Interpreten im Kern einig, war unumgänglich, ja ›alternativlos‹. Denn 1 Weh dem, der hier in Not gerät, in: Die Zeit vom 15.11.1991. 2 Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise
des Sozialstaats, 2. Aufl., München 2007, S. 127–134.
272 Christoph Lorke
verglichen mit anderen osteuropäischen Ländern waren die ökonomischen Auswirkungen der ›Transformation‹ im Osten Deutschlands besonders stark. Das Bruttoinlandsprodukt sank hier allein im Jahr 1990 um über ein Drittel, dreimal mehr als etwa in Polen. Innerhalb weniger Jahre brach die Industrieproduktion auf kaum mehr als ein Viertel des Wertes von 1989 ein. In einigen Regionen stieg die Arbeitslosigkeit auf über 30 Prozent. Allein in den ersten vier Jahren nach der Wiedervereinigung wanderten fast anderthalb Millionen Menschen nach Westdeutschland ab. Die Wirtschaft der (Ex-)DDR wurde so einer beispiellosen, ja wohl der »radikalsten Schocktherapie im postkommunistischen Europa unterzogen«.3 Spätestens mit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes am 1. Juli 1990 in Ostdeutschland und der Überführung der früheren Sozialfürsorge in Sozialhilfe wurden auch grundlegende Verschiebungen im Koordinatensystem der ostdeutschen Armutstopographie eingeleitet. So wich die nach der »Sturzgeburt« (Christoph Kleßmann) Einheit ausgelöste Euphorie spätestens zu jenem Zeitpunkt einer merklich resignativen Stimmung, als die Ausprägungen der Arbeitslosigkeit immer deutlicher zu spüren waren. Ebenso wurde bald deutlich, dass es sich bei diesen ökonomischen und sozialen Eruptionen entgegen der Annahmen nicht um ein Übergangserscheinung handeln würde. Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts im Juni 1992 empfanden nur noch 36 Prozent der Befragten in den ›alten‹ Bundesländern »Freude« über die Vereinigung; 46 Prozent dagegen betrachteten den Beitritt der DDR inzwischen mit »Sorge«.4 Gleichzeitig schwand in West- wie Ostdeutschland der Glaube an die Umsetzbarkeit politischer Zielversprechen und sozialer Verheißungen, die komprimiert in der Zielformel »blühender Landschaften« zum Ausdruck kamen.5 Harren die ersten Jahre nach der Einheit insgesamt einer umfassenden Historisierung, so ist die soziale Seite dieser tiefgreifenden Struktur- und Anpassungskrise als Folgeerscheinung der Umwandlung einer sozialistischen Plan- in eine demokratische Marktwirtschaft bislang erst recht kaum auf den Radar der Zeitgeschichte gelangt. Vielmehr dominieren aus volks-, politik- sowie sozialwissenschaftlichen Studien entwickelte Formulierungen wie »Kaltstart« und »Transformationsschock«, »nachholende Modernisierung« oder »Modernisierungsschock«.6 Hier wäre mit Philipp Ther danach zu fragen, wie die Zeitgeschichte 3 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neolibera-
len Europa, Berlin 2014, S. 94; 97. 4 Gelbe Karte für die Politik, in: Der Spiegel vom 20.7.1992; Christoph Kleßmann, »Deutschland einig Vaterland«? Politische und gesellschaftliche Verwerfungen im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 6 (2009), S. 85–104, S. 95. 5 Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998. 6 Gerlinde Sinn / Hans-Werner Sinn, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, Tübingen 1991; Jan Priewe / Rudolf Hickel, Der Preis der Einheit. Bilanz und Perspektiven der deutschen Vereinigung, Frankfurt a. M. 1991; Wolfgang Zapf, Wohlfahrtsentwick-
VON ALTEN UND NEUEN UNGLEICHHEITEN 273
derartige Befunde der Transformationsforschung aufgreifen kann und sollte.7 Gleiches gilt selbstverständlich auch für die vielen politischen Zeitdiagnosen, wie die affirmativ-glättende Sicht des Bundesarbeits- und Sozialministeriums, das 1994 schlicht von einem »Sozialstaat-Kunststück« sprach.8 Lesarten wie diese, mit wenig Abstand zum Geschehen entstanden, bedürfen ebenso einer zeithistorisch differenzierten Betrachtung wie etwa das retrospektive Diktum Klaus Schroeders, der dem Osten Deutschlands eine »beispiellose Wohlstandsexplosion« seit 1990 attestiert hatte.9 Die in der Einleitung dieses Bandes erörterten methodologischen wie epistemologischen Herausforderungen bei der zeitgeschichtlichen Vermessung der ›Vereinigungsgesellschaft‹ können für den Armutsdiskurs wohl umso mehr Geltung beanspruchen, sind doch hier wegen der Komplexität, Unbestimmtheit und Vielschichtigkeit des Begriffs a priori hochkontroverse Aushandlungskämpfe nicht zuletzt definitorischer und ideologischer Natur zu erwarten. Eine Historisierung der Vereinigungsgesellschaft müsste demnach auch eine konsequente Historisierung der Akteure und Produzenten damaliger Kennziffern und Interpretationsangebote bedeuten, die wiederum helfen kann, zeitbedingte Konstruktionslogiken, Konflikte und Widersprüche, Wahrnehmungen und Sinndeutungen sozialer Ordnungen zu dechiffrieren. Geht man davon aus, dass ›Armut‹ als das sozial unterste Gesellschaftssegment in beiden deutschen Gesellschaften vor 1989 – zwar in unterschiedlicher Ausprägung und mit systemisch jeweils anderen Vorzeichen – relevanter und expliziter (Bundesrepublik) respektive eher subkutan verhandelter, doch ebenfalls stets präsenter (DDR) Gegenstand gesellschaftlicher Ausdeutungen des Sozialen war, so ist dies für die Zeit nach Mauerfall und Wiedervereinigung umso mehr anzunehmen.10 lung und Modernisierung, in: Wolfgang Glatzer (Hg.), Einstellungen und Lebensbedingungen in Europa, Frankfurt a. M. 1993, S. 163–176; Werner Weidenfeld, Deutschland nach der Vereinigung. Vom Modernisierungsschock zur inneren Einheit, in: ders. (Hg.), Deutschland: eine Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 13–26. Ausnahmen sind die grundlegende Studie von Ritter, Preis sowie Band 11 der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945: Gerard A. Ritter, 1989–1994. Bundesrepublik Deutschland. Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung, Baden-Baden 2007. 7 Philipp Ther, Das »neue Europa« seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 6 (2009), 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1–2009/id=4729 [14.03.2016]; vgl. ebenfalls die erhellenden Ausführungen bei Marcus Böick / Angela Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 105–113. 8 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg.), Der Sozialstaat eint. Zur sozialen Einheit Deutschlands – Entwicklungen und Eindrücke, Baden-Baden 1994. 9 Klaus Schroeder, Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall – eine Wohlstandsbilanz. Gutachten für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), Berlin 2009, S. 8; 32. 10 Auf eine Definition von ›Armut‹ wird an dieser Stelle bewusst verzichtet. Vielmehr muss es darum gehen, die je zeitgenössischen Verwendungsweisen des Begriffs vorzustellen und in ihrer Zeitbedingtheit einzuordnen. Für Diskussionen und Wahrnehmungsmodi von ›Armut‹ vor 1989 siehe Christoph Lorke, Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer
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Jene sozialen Bewertungen nicht bloß zu reproduzieren, sondern vielmehr historisch-kritisch zu dekonstruieren und nach ihrer jeweiligen Zeitbedingtheit zu fragen, sollte ganz wesentlicher Anspruch der jüngsten Zeitgeschichtsforschung sein. Dabei kann das Plädoyer Frank Böschs helfen, die deutsch-deutsche Geschichte nach 1990 im kleßmannschen Sinne ebenfalls als eine »asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte« zu betrachten, um den scharfen Zäsurcharakter des Umbruchs aufzuweichen, längerfristige Entwicklungen zu markieren11 und damit letztlich auch unser Verständnis für heutige Problemlagen zu bereichern. Unter dieser Prämisse soll im Folgenden zunächst eine Annäherung an die Charakteristik sozialer Umbrüche in der ostdeutschen Teilgesellschaft gewagt werden. Dies soll helfen, zumindest umrisshaft soziale Verwerfungen zu beschreiben. In einem zweiten Schritt gilt es, die damaligen zeitgenössischen Beobachtungen und Deutungsweisen zu problematisieren und nach der Genese der seinerzeit etablierten Label zu fragen. Im Anschluss werden die den Armutsdiskurs strukturierenden Elemente vorgestellt und im Hinblick auf Kontinuitätslinien sowie Neues befragt, ehe die Beobachtungen zusammengefasst werden. Im Fokus steht im Folgenden hauptsächlich das erste Jahrfünft nach der deutschen Einheit, da diese Zeitspanne wohl als ›Schwebezustand‹ von den größten Veränderungen, von Dramatik und Dynamik, ja einer gewissen »Atemlosigkeit«12 geprägt war.
I.
Das Soziale im Wandel. Umrisse sozialer Umbrüche und Umstellungskrisen in der Vereinigungsgesellschaft
Nach 1990 waren sich sozialwissenschaftliche Analysen im Kern einig: In der DDR, einer nach unten nivellierten industriellen autoritären ›Arbeitsgesellschaft‹ säkularen Charakters, waren Reichtum und Armut im absoluten Sinne beider Begriffe nicht existent, die elementaren Grundbedürfnisse auf einem bescheidenen Niveau gesichert und soziale Unterschiede bei geringerem Wohlstandslevel weniger stark ausgeprägt als in der Bundesrepublik.13 In ErmangeRandlagen in der Bundesrepublik und der DDR, Frankfurt a. M. 2015 sowie ders., »Unten« im geteilten Deutschland: Diskursive Konstruktionen und symbolische Anordnungen in Bundesrepublik und DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), 10, S. 11–17. 11 Frank Bösch, Geteilte Geschichte. Plädoyer für eine deutsch-deutsche Perspektive auf die jüngere Zeitgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 12 (2015), 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1–2015/id=5187 [16.03.2016], Druckausgabe: S. 98–114; Christoph Kleßmann, Spaltung und Verflechtung – Ein Konzept zur integrierten Nachkriegsgeschichte 1945 bis 1990, in: ders./Peter Lautzas (Hg.), Teilung und Integration. Die doppelte deutsche Nachkriegsgeschichte, Bonn 2005, S. 20–37, hier S. 22. 12 Jürgen Danyel, Alltag Einheit: Ein Fall fürs Museum!, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), 33–34, S. 26–35, v. a. S. 30 f., http://www.bpb.de/apuz/210546/alltag-einheit-ein-fall-fuersmuseum [10.12.2015]. 13 Rainer Geißler, Sozialer Umbruch als Modernisierung, in: ders. (Hg.), Sozialer Umbruch
VON ALTEN UND NEUEN UNGLEICHHEITEN 275
lung verfügbarer (bzw. häufig erratischer) Daten für die DDR-Zeit war folglich rasch von einer »Wiederkehr der Armut«14 nach der Einheit die Rede, was die Wirkmacht zeitgenössischer Selbstbeschreibungs- und Zielpostulate der DDRStaats- und Parteiführung nach 1990 anzudeuten vermag. Nur wenige (ostdeutsche) Sozialwissenschaftler wiesen in ihren Ausführungen mehrfach auf die Existenz relativ unterversorgter Lebenslagen am Rand der DDR-Gesellschaft hin.15 Denn aller sozialpolitischen Anstrengungen zum Trotz blieb – wie in anderen staatssozialistischen Gesellschaften auch – gerade die Versorgung von Altersrentnern problematisch. Die eklatanten Rückstände zur arbeitenden Bevölkerung bei den verfügbaren Haushaltseinkommen oder der Ausstattung mit langlebigen Konsumgütern lassen auf ein vergleichsweise bescheidenes durchschnittliches Lebensniveau schließen. So verfügten Altersrentner am Vorabend der Einheit trotz einer Rentenerhöhung noch im Dezember 1989 über 56 Prozent des durchschnittlichen Pro-Kopf-Nettoeinkommens. Außerdem gaben sie gut die Hälfte ihrer verfügbaren Einkommen für Waren und Leistungen aus, während dieser Wert in Arbeiter- und Angestelltenhaushalten bei nur 40 Prozent lag.16 Größere Abweichungen waren gerade bei dem Bezug von Mindestrente auszumachen, wobei geschlechtsspezifische Unterschiede als signifikant zu bezeichnen sind: Mitte der 1980er Jahre erhielten 83 Prozent der verrenteten Frauen einen solchen Betrag.17 Neben dieser deutlichen Differenzierung zwischen (Voll-)Erwerbstätigen und Nicht-/Nicht-Mehr-Erwerbstätigen gab es aber auch innerhalb der arbeitenden Bevölkerung ausgeprägte soziale Ungleichheiten.18 Zwar waren die arbeitsgesellin Ostdeutschland, Opladen 1993, S. 63–92; ferner Helmut Klages / Thomas Gensicke, Wertewandel in den neuen Bundesländern. Fakten und Deutungsmodelle, in: Wolfgang Glatzer / Heinz-Herbert Noll (Hg.), Getrennt vereint. Lebensverhältnisse in Deutschland. Ungleichheit und Angleichung, Frankfurt a. M. 1992, S. 301–326. 14 Axel Honneth, Soziologie. Eine Kolumne. Die Wiederkehr der Armut, in: Merkur 47 (1993), 6, S. 518–524. 15 Günter Manz, Entwicklung der Armut in Ostdeutschland unter besonderer Berücksichtigung der Altersarmut, Halle 1992; Manfred Lötsch, Sozialstruktur und Systemtransformation, in: Geißler, Sozialer Umbruch S. 31–39; Frank Adler / Frank Kretzschmar, Ungleichheitsstrukturen in der ehemaligen DDR, in: ebd., S. 93–118; Frank Adler, Einige Grundzüge der Sozialstruktur der DDR, in: Projektgruppe »Das Sozio-ökonomische Panel« (Hg.), Lebenslagen im Wandel: Basisdaten und -analysen zur Entwicklung in den neuen Bundesländern, Frankfurt a. M. 1991, S. 152–178. 16 Klaus-Peter Schwitzer, Soziologische Aspekte des Zusammenhangs von Lebensalter, Lebensweise und sozialer Lage – Beiträge zu theoretischen und praktischen Problemen der sozialen Gerontologie, Dissertation: Sektion der Sozial- und Geisteswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1990, S. 28. Bei der Versorgung mit Waschmaschinen (24 Prozent in den Haushalten von Altersrentner, dagegen 33 Prozent im Durchschnitt) oder Gefrierschränken (15 zu 23 Prozent) war der Abstand besonders hoch. Vgl. auch Manz, Entwicklung der Armut, sowie die jeweiligen Abschnitte zu Rentnern bei Lorke, Armut. 17 Gunnar Winkler (Hg.), Sozialreport ’90. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 1990, S. 330–358. 18 Frank Adler / Frank Kretzschmar, Ungleichheitsstrukturen in der ehemaligen DDR, in:
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schaftlichen Kerngruppen in unteren Lagen stets (relativ) gesichert, doch gerade Un- und Angelernte, Beschäftigte also mit vergleichsweise niedriger beruflicher Qualifikation, waren im Zuge der Höherqualifizierung bereits in der DDR von sozialer Ausgrenzung bedroht gewesen. Etwas mehr als jede zehnte Person in Haushalten von Un- und Angelernten und eine etwa ebenso große Zahl von Haushalten mit mehr als zwei Kindern konnten zum Ende der DDR als relativ arm gelten.19 Diese Größenordnung war eine nicht unwesentliche Hypothek, die Ostdeutschland in den Einigungsprozess brachte. Aus dem »sozialen Wandel im Zeitraffertempo«20 und einem abrupten Ende einer Vielzahl realsozialistischer Arrangements und Mindestsicherungselemente resultierten schließlich rasch massive Folgen. Allen voran sind hier der schnelle Anstieg und die baldige Verfestigung einer Massenarbeitslosigkeit zu nennen. Durch die Öffnung der Märkte ausgelöste Deindustrialisierungsprozesse, die schnelle Steigerung der ostdeutschen Reallöhne und aufgrund des Wegfalls russischer, polnischer und anderer früherer RGW-Importeure war vom Ende der DDR allein bis Ende 1993 ein Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen von knapp neun auf gut sechs Millionen zu verzeichnen. Im selben Zeitraum stieg die Zahl der Arbeitslosen von 240.000 auf fast 1,2 Millionen – ungeachtet aller ergriffenen, die unmittelbaren Auswirkungen abdämpfenden und die Zunahme der Arbeitslosigkeit retardierenden arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Dazu zählten etwa Arbeitsbeschaffungs- und Umschulungsmaßnahmen für Hunderttausende, das im Vergleich zu Westdeutschland höhere Kurzarbeitergeld oder auch das frühzeitige Ausscheiden von Arbeitskräften aufgrund von Vorruhestandsregelungen. Dieses Maßnahmenbündel half zwar dabei, die Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verlangsamen, die Beschäftigungsquote im Osten sank jedoch bis Mitte der 1990er auf 54 Prozent der 15- bis 65jährigen.21 Arbeitslosigkeit war entgegen der Geißler, Sozialer Umbruch, S. 93–118, v. a. S. 94 sowie insgesamt Jens Gieseke, Ungleichheit in der Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschungen (2009), S. 48–57. 19 Gunnar Winkler, Sozialreport – Neue Bundesländer, in: Roland Lutz / Matthias Zeng (Hg.), Armutsforschung und Sozialberichterstattung in den neuen Bundesländern, Opladen 1998, S. 188–205, Günter Manz, Armut in der DDR-Bevölkerung, in: Ludwig Elm (Hg.), Ansichten zur Geschichte der DDR, Eggersdorf 1997, S. 166–184; Karl Ulrich Mayer / Heike Solga, Lebensverläufe im deutsch-deutschen Vereinigungsprozess, in: Peter Krause / Ilona Ostner (Hg.), Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010, Frankfurt a. M. 2010, S. 39–56. 20 Rainer Geißler, Transformationsprozesse in der Sozialstruktur der neuen Bundesländer, in: BISS public 1 (1991), 2, S. 177–194; vgl. auch ders., Sozialer Wandel, in: Werner Weidenfeld / Karl-Rudolf Korte (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit. 1949-1989-1999. Neuausgabe 1999, Frankfurt a. M. 1999, S. 681–695. 21 Charles S. Maier, Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 452; 457; Walter Hanesch, Armut in Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 55 f.; aus Sicht ostdeutscher Wissenschaftler etwa Jörg Roesler, Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Umfang, Ursachen, Befindlichkeiten und Bewältigungsstrategien,
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Annahmen vieler damaliger Beobachter mitnichten nur ein Phänomen des Übergangs, vielmehr sollten die Verweildauer und damit der Anteil Langzeitarbeitsloser stetig steigen: Im Mai 1992 war ein gutes Viertel der ostdeutschen Arbeitslosen mehr als ein Jahr oder länger arbeitslos, ein halbes Jahr darauf hatte sich diese Zahl noch einmal verdoppelt.22 Die Hauptursache für die Gewährung von Sozialhilfe war dementsprechend im Osten Deutschlands mit großem Abstand Erwerblosigkeit (54,1 Prozent), was einen ungleich höheren Wert als im Westen der Republik bedeutete (30,3 Prozent).23 Gleichzeitig war der Anstieg bei den Hilfen zum Laufenden Lebensunterhalt von gut 130.000 im zweiten Halbjahr 1990 auf 685.000 Sozialhilfeleistungen zwei Jahre später erheblich, wobei sich Ostdeutschland im Eiltempo den Verhältnissen der ›Alt‹-Bundesrepublik anglich. Gleiches gilt für die Kennziffern der relativen Einkommensarmut. Lagen die Zahlen des Ostens 1990 noch deutlich unter denen im Westen, so näherten sie sich, ungeachtet aller zugrunde gelegten Definitionsvarianten, allmählich an.24 Ostdeutsche waren im Vergleich zu Westdeutschen nicht zuletzt deswegen einem höheren Verarmungsrisiko ausgesetzt, da sie durchschnittlich weniger Wohneigentum, finanzielle Rücklagen und Geldvermögen zur Verfügung hatten.25 Gerade hinsichtlich des Sozialhilfebezugs gingen damalige in: Rissener Jahrbuch 1991 (1992), S. 127–139; Albrecht Kretzschmar, Ostdeutschland: Massenarbeitslosigkeit – soziales Phänomen mit weitreichenden Folgen, in: Rolf Reißig (Hg.), Rückweg in die Zukunft. Über den schwierigen Transformationsprozeß in Ostdeutschland, Frankfurt a. M. 1993, S. 107–126. Zu den Vorruhestandsregelungen ders., Vorruheständler – eine neue soziale Realität in Ostdeutschland: Kurzstudie, Berlin 1993, zu Weiterbildungsinitiativen Otto F. Bode / Kai Hirschmann (Hg.), Qualifizierungsmaßnahmen. Aktive Weiterbildung als Alternative zur Transformationsarbeitslosigkeit, Marburg 1992. Zum Prozess der Vermarktlichung im Osten Deutschlands mit weiteren Belegen insgesamt auch Marcus Böick, »Das ist nunmal der freie Markt«. Konzeptionen des Marktes beim Wirtschaftsumbau in Ostdeutschland nach 1989, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 12 (2015), 3, http://www.zeithistorische-forschungen.de/3–2015/id=5270 [15.03.2016], Druckausgabe: S. 448–473. 22 Regine Hildebrandt, Armut in Ostdeutschland, in: Perik Muzaffer / Wilhelm Schmidt / Peter-Ulrich Wendt (Hg.), Arm dran. Armut, sozialer Wandel, Sozialpolitik, Marburg 1995, S. 77–86, hier S. 80. 23 Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern – Neunter Jugendbericht, 8.12.1994, BT Drucksache 13/70 (Zahlen für das Jahr 1993). 24 Vgl. die Zahlen bei Peter Krause, Einkommensarmut in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 49 (1992), S. 3–17; Ritter, Preis, S. 137; Winkler, Sozialreport, S. 199; Birgit Otto / Thomas Siedler Armut in West- und Ostdeutschland. Ein differenzierter Vergleich, in: DIW-Wochenbericht 70 (2003), 4, S. 61–66. 25 Detlef Pollack / Gert Pickel / Jörg Jacobs, Wächst zusammen, was zusammengehört? Subjektive und objektive Komponenten sozialer Ungleichheit in Ost- und Westdeutschland, in: Lutz/Zeng, Armutsforschung, S. 9–29, S. 18; Eva Wagner, Ist soziale Ungleichheit gerecht? Wahrnehmungen und Bewertungen im Ost-West-Vergleich, in: Walter Müller (Hg.), Soziale Ungleichheit. Neue Befunde zu Strukturen, Bewußtsein und Politik, Opladen 1997, S. 139–165; bilanzierend Ritter, Preis, S. 134–137, sowie Joachim R. Frick / Markus M. Grabka, Die perso-
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Beobachter von einer erheblichen ›Dunkelziffer‹ aus. Seinerzeit wurde sie auf mentale ›Altlasten‹ der DDR zurückgeführt, war das Verhältnis zwischen den obrigkeitsstaatlich agierenden Behörden und den Bürgern hier doch nicht zuletzt von Verängstigung geprägt: Neben der Unkenntnis vieler ›gelernter‹ DDRBürger, die zentrale Elemente des westlichen Wohlfahrtsstaates wie Subsidiarität und Eigenverantwortung, aber auch verfassungsmäßig garantierte Rechte erst noch kennen und einüben lernen mussten, war es vermutlich neben der Zahl von nicht einmal 6.000 Sozialfürsorgeempfängern zum Ende der DDR wohl auch der rigide Umgang und die Kriminalisierung sozialer Randgruppen, etwa den ›Asozialen‹, die zu einer Stigmatisierung des Begriffs Sozialhilfe beigetragen haben mag. Ende 1992 wurde geschätzt, dass nur zwei Drittel aller Ostdeutschen, die eine entsprechende Hilfe hätten beanspruchen könnten, diese auch tatsächlich wahrnahmen.26 Hinsichtlich der Wohnverhältnisse machte sich der Wegfall früherer Subventionen als ›zweite Lohntüte‹ besonders deutlich bemerkbar: Wurde im Einigungsvertrag vermerkt, die staatlich festgelegten und hochsubventionierten DDRMieten schrittweise in ein marktorientiertes Vergleichssystem zu überführen, so bedeutete das trotz Anrechnung des neu eingeführten Sonderwohngeldes einen Anstieg der Mieten um das zweieinhalb- bis dreifache.27 Der für den ostdeutschen Mieter bis dato unbekannte Begriff Wohngeld erlangte folglich innerhalb kürzester Zeit eine immer größere Bedeutung: 1993 von etwa einem Fünftel aller ostdeutschen Haushalte bezogen, bedeutete dies eine doppelt so hohe Inanspruchnahme wie im Westen. Auch Obdachlosigkeit spielte bis 1989 praktisch keine Rolle, wurde ›sozial Gefährdeten‹ doch Arbeit und Wohnung zugewiesen und ›asoziales Verhalten‹ strafrechtlich kriminalisiert. Mietschulden, in der DDR noch als Bagatelldelikt eingestuft, führten ebenfalls schnell zu neuen Problematiken. 1993 schätzte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe die Zahl der Obdachlosen in den neuen Bundesländern bereits auf 200.000.28 nelle Vermögensverteilung in Ost- und Westdeutschland nach dem Mauerfall, in: Krause/Ostner, Leben in Ost- und Westdeutschland, S. 493–511. 26 Ralf Neubauer: »Ein Drittel reich, zwei Drittel arm«, in: Die Zeit vom 11.12.1992. Zu Diskussionen um die Hemmschwelle und eine daraus resultierende hohe ›Dunkelziffer‹ Wilhelm Adamy, Wie viele Sozialhilfeempfänger gibt es in den neuen Bundesländern?, in: Arbeit und Sozialpolitik 45 (1991), 9/10, S. 49–56. Zur Wirkmacht des Topos ›Asozialität‹ Sven Korzilius, »Asoziale« in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Schaffung eines Anti-Bildes zum »sozialistischen Menschen« durch das Strafrecht, in: Karl Härter / Gerhard Sälter / Eva Wiebel (Hg.), Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2010, S. 555–588; Matthias Zeng, Transformation und Erziehung. »Asoziale« im Spiegel einer gebrochenen Gesellschaft, in: Dialogische Erziehung: Informationen zur Paulo-Freire-Pädagogik 4 (1999), S. 8–23. 27 Zum Punkt Wohnen Hanesch, Armut, S. 35 f.; 83–85; 165. 28 Rotraut Weeber u. a. (Bearb.), Obdachlosigkeit in den neuen Bundesländern, Bonn 1993, S. 5. Jedoch ist zu beachten, dass die Zahl in Ermangelung systematisch erfasster Daten von den Verfassern als unsicher eingestuft wurde.
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II. »Gewinner und Verlierer der Einheit«. Soziale Bilanzen und ihre Hintergründe Die genannten Punkte können freilich nur grob die Armutskonturen in Ostdeutschland skizzieren. Um diese Befunde zeitgeschichtlich zu problematisieren, muss es nun gelten, sie stärker auf die zeitbedingten Erhebungen und Interpretationen von Datenmaterial zu beziehen. Auffällig ist zunächst: Sowohl in vielen zeitgenössischen Bilanzen als auch in historiographischen Retrospektiven hat es sich eingebürgert, von »Gewinnern und Verlieren der Einheit« zu sprechen.29 Maßgeblichen Anteil an Erfolg und verlässlicher Reproduktion dieser starren und zu diskutierenden Einteilungen hatte wohl neben sozialwissenschaftlichen und politischen Veröffentlichungen30 nicht zuletzt die damalige massenmediale Kommentierung veröffentlichten Datenmaterials – allen voran des gesamtdeutschen Armutsberichtes von DGB und Paritätischem Wohlfahrtsverband, von dem weiter unten noch die Rede sein wird, zu Beginn des Jahres 1994. Diese groben Kategorisierungen, die unsere Perspektive auch heute noch stark prägen, können zwar unter dem Rubrum vereinigungsgesellschaftlicher ›Ordnungssuche‹ verbucht werden, doch verkennen sie zum einen die teils gravierenden Unterschiede innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppen. Zum anderen vernebeln sie jene über den politischen Umbruch 1989/90 hinweg weiterbestehenden Formen sozialer Ungleichheit und suggerieren nolens volens, soziale Problemlagen seien allesamt ›neu‹ gewesen, was letztlich frühere – ost- und westdeutsche – Entwicklungen ausblendet. Im Folgenden gilt es, diese Beobachtung für drei soziale Gruppen in Ostdeutschland zu skizzieren, und zwar für (1) Altersrentner, (2) Frauen und (3) kinderreiche Familien. Die folgenden Ausführungen verstehen sich dabei explizit mitnichten als erschöpfende Analyse, sondern vielmehr als Anstoß und Anregung mit dem Ziel, zeitgenössische Interpretamente des Sozialen einer ausführlichen Überprüfung zu unterziehen und auf bislang eher verborgene zeithistorische Analysehorizonte hinzuweisen. Sie deuten auf Forschungsfelder, die sich mit der unmittelbaren Vorgeschichte aktueller Probleme auseinanderzusetzen haben.31
29 Vgl. nur Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereini-
gung, Bonn 2010, S. 341 ff.; Ritter, Preis, S. 137; Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands, 7. Aufl., Wiesbaden 2014, S. 257. 30 Vgl. nur Roswitha Malarski, Frauen – Verlierer der Einigung, Bonn 1990; Wilhelm Schmidt, Kinder als Verlierer der deutschen Einheit? Zur Notwendigkeit eines sozialpolitischen Konzepts, in: Sozialdemokratischer Pressedienst (1990), 172, S. 1; Gerhard Kühlewind, Gewinner und Verlierer der Einheit auf dem Arbeitsmarkt, oder: Wo liegen zukunftsträchtige Beschäftigungsfelder in Ost- und Westdeutschland?, in: Henning Schierholz / Andrea Weinert (Hg.), Brauchen wir eine neue Beschäftigungspolitik? Anforderungen an ein AFG 2000 aus ost- und westdeutscher Sicht, Rehberg-Loccum 1993, S. 12–30. 31 An dieser Stelle kann auf das Projekt von Christopher Banditt am Zentrum für Zeithistorische Forschungen Potsdam mit dem Titel »Soziale Ungleichheit in Ostdeutschland 1980–2000. Arbeitnehmerhaushalte im Umbruch« verwiesen werden. Ihm danke ich auch für Anmerkungen und kritische Hinweise zu dem vorliegenden Aufsatz.
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»Rentner profitieren am meisten von der Einheit« – so war in den Jahren nach der Einheit des Öfteren in bundesdeutschen Massenmedien zu lesen. Altersrentner galten schon Zeitgenossen als die »Wendegewinner« schlechthin.32 Denn durch die Einführung der dynamischen Altersrente wurde die Lage der ostdeutschen Rentnerinnen und Rentner insgesamt unzweifelhaft stark verbessert. Letztlich konnte gar ein Wohlstandsniveau erreicht werden, das die zusätzliche Angewiesenheit auf Hilfe zum Lebensunterhalt auf vergleichsweise wenige Fälle reduzierte: Der bereits 1990 eingeführte Sozialzuschlag als eine Art pauschalisierte Sozialhilfe leistete hierzu einen wesentlichen Beitrag und konnte die Sozialhilfebedürftigkeit bei Altersrentnern spürbar abfedern. 1991 waren noch etwa 640.000 ostdeutsche Rentner auf diesen ergänzenden Zuschlag angewiesen. 95 Prozent davon waren Frauen. Dieser Anspruch bestand bis Ende 1996. Um die Jahrtausendwende galten noch gerade noch 9,2 Prozent aller ostdeutschen Rentner – 80 Prozent hiervon waren Frauen – als ›arm‹. Betroffen waren vor allem lebenslange Niedrigverdiener, die aufgrund geringerer Qualifikationen auch niedrigere Versicherungsbeiträge einzahlten, Frauen, die verkürzt gearbeitet oder pausiert hatten, sowie geschiedene und unverheiratete alleinlebende Frauen.33 Bei dieser Gruppe armer Rentnerinnen zeigt sich besonders stark die Fortdauer überkommener Strukturen aus der DDR: Lohndefizite zwischen Mann und Frau bereits zu Arbeitszeiten oder auch Versicherungslücken schlugen sich im Rentenalter in neuen Formen der Ungleichheit nieder. Dass dennoch nicht von einem »Massenphänomen der Altersarmut«34 gesprochen werden konnte, lässt sich unter anderem auf die vergleichsweise langen Beitragszeiten sowie die häufigen Rentensteigerungen im Osten zurückführen. Als wichtiger Indikator hierfür kann der Anstieg der ›Eckrente‹ dienen, also der Altersrente eines Durchschnittsverdieners mit 45 Versicherungsjahren. Bis zum Jahr 1994 stieg diese auf mehr als das Doppelte des Vereinigungsausgangswertes. Das bedeutete zwar gut 75 Prozent der ›Eckrente‹ des Westens; letztlich lagen die durchschnittlichen Alterseinkünfte im Osten aufgrund fehlender Zusatzversorgungen jedoch deutlich unter denen im Westen. Zudem bestanden hier keine privaten Absicherungen und ehemalige Betriebsrenten aus der DDR wurden im bundesdeutschen Rentenrecht nicht anerkannt. Auch an anderer Stelle spricht vieles dafür, damalige Pauschal32 Rentner profitieren am meisten von der Einheit, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.9.1994. 33 Hanna Haupt, Einkommensentwicklung, in: Gunnar Winkler (Hg.), Sozialreport 2001. Da-
ten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern, Berlin 2001, S. 193–246, hier S. 232; Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung. Fachpolitische Stellungnahme ’92, in: Zeitschrift für Sozialreform 38 (1992), 8, S. 480–497, hier S. 490. 34 Hildebrandt, Armut, S. 82. Vgl. auch den Ersten Altenbericht der Bundesregierung von 1993, in dem Altersarmut als eine Ausnahmeerscheinung eingeschätzt wurde: Unterrichtung durch die Bundesregierung Erster Altenbericht der Bundesregierung, 28.9.1993, BundestagsDrucksache 12/5897. Siehe insgesamt auch Ritter, Preis, S. 135; 393 f., sowie Cornelius Torp, Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen 2015, S. 356 zu Altersentnern als ›Wendegewinnern‹.
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Etikettierungen künftig noch stärker zu hinterfragen, gerade auch mit Ausblick auf die Reform der Alterssicherung zu Beginn des neuen Jahrtausends und ihre Folgen: Denn neben der Feststellung einer verhältnismäßig raschen Angleichung der Lebensverhältnisse ist demnach auch eine Verfestigung von Ungleichheiten zwischen älteren Menschen in Ost und West anzunehmen.35 Als grundsätzliche ›Verliererinnen‹ wurden hingegen die ostdeutschen Frauen eingeordnet. Die Frauenerwerbsquote in der DDR war mit 91 Prozent auch im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch. Demgegenüber lag die Zahl von 63 Prozent in der ›alten‹ Bundesrepublik für eine westliche Industrienation vergleichsweise niedrig. Neun von zehn erwerbstätigen DDR-Frauen hatten zudem ein Kind.36 Die Hauptschwierigkeit für Frauen bestand nach 1990 vor allem in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, was wiederum in der Regel auch geringere Wiedereinstiegschancen bedeutete. Hiervon waren insbesondere die als ›Risikoarbeitskräfte‹ eingestuften Alleinerziehenden betroffen. Gerade Geringqualifizierte mit geringer und einseitiger Ausbildung, monotonen Tätigkeiten bei hoher Arbeitsintensität und geringer Entlohnung fanden sich in den frühen 1990er Jahren nicht selten – wenn überhaupt – im Niedriglohnsektor wieder.37 Der deutlich höhere Anteil Alleinerziehender im Osten führte rasch zu neuen Existenzrisiken. So lag der Anteil von in Armut lebenden Alleinerziehenden 1994 im Osten mit 19,2 Prozent etwa doppelt so hoch wie im Westen.38 Mit der Arbeitslosigkeit ging darüber hinaus ein Verlust sozialer Einbindung einher: War die Integration in das Betriebsleben wesentliches Kernelement der DDR-Arbeitswelt und bedeutete eine »Verbetrieblichung des Sozialen« (Peter Hübner) unter anderem die gesicherte Versorgung mit Plätzen in Kinderbetreuungseinrichtungen oder die Freistellung für die Pflege erkrankter Kinder, entfielen diese Leistungen im Zuge der Einheit häufig schlagartig. Stattdessen wurden nach dem Vorbild der ›alten‹ Bundesrepublik neue Lebensmodelle prinzipiell möglich, wie etwa durch 35 Schubert, Ursula, Einkommensentwicklung und Armut in den neuen Bundesländern –
Einige Ergebnisse des Sozialreports 1996, in: Irene Becker / Richard Hauser (Hg.), Einkommensverteilung und Armut. Deutschland auf dem Weg zur Vierfünftel-Gesellschaft?, Frankfurt a. M. 1997, S. 185–197, bes. S. 186–190; Klaus-Peter Schwitzer, Ungleichheit und Angleichung von Lebensverhältnisse im vereinten Deutschland am Beispiel älterer Menschen, in: Glatzer/ Noll (Hg.), Getrennt vereint, S. 133–164, S. 160. Zur Reform Winfried Schmähl, Der Paradigmenwechsel in der Alterssicherungspolitik: Die Riester-Reform von 2001 – Entscheidungen, Begründungen, Folgen, in: Soziale Sicherheit 60 (2011), S. 405–414. 36 Arbeitsgruppe, Stellungnahme. Die Zahlenangaben beziehen Lehrlinge und Auszubildende mit ein. 37 Brigitte Baki / Roland Lutz, Gesichter der Armut. Ein Beitrag zur Armutssituation in Thüringen am Beispiel der Stadt Erfurt, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für Öffentliche und Private Fürsorge 74 (1994), H. 8, S. 294–300. 38 Walter Hanesch, Armut im vereinten Deutschland. Konturen einer Armut im Umbruch, in: Glatzer/Noll, Getrennt vereint, S. 109–132, S. 126; Schubert, Einkommensentwicklung, S. 192; Peter-Ulrich Wendt, Arm dran – Armutsproduktion in der Risikogesellschaft, in: Muzaffer/ Schmidt/Wendt (Hg.), Arm dran, S. 12–38, S. 21.
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das Ehegattensplitting. Die Alternativrolle als Hausfrau und Mutter erfuhr im Osten jedoch nur geringe Akzeptanz – auch weil dies aufgrund von Preissteigerungen und/oder einer Reduzierung des Familieneinkommens durch Trennung oder Arbeitslosigkeit des Partners mitunter ohnehin ausgeschlossen war. Dass ostdeutsche Frauen hinsichtlich der Beschäftigungsquote somit zwar einerseits weiterhin über westdeutschen Vergleichswerten lagen, belegt die nach wie vor bestehende hohe Erwerbsbereitschaft und die (in ihrer Entstehung fraglos zu problematisierende)39 Selbstverständlichkeit des ›Doppel-Versorger-Modells‹. Indirekt verweisen diese Entwicklungen andererseits aber auf die beginnende Annäherung an geschlechtsspezifische Disparitäten der ›alten‹ Bundesrepublik, die sich jedoch im Sinne einer »doppelten Transformation«40 ebenfalls gewandelt hat und bis heute wandelt. Die ›Verlierer‹-Etikettierung jedenfalls bedarf künftig einer stärkeren Ausdifferenzierung seitens der (Zeit-)Geschichtswissenschaft, insbesondere mit Blick auf die Stellung erwerbstätiger Frauen vor 1989/90. Zurückhaltung bei der Verwendung und unkritischen Reproduktion eingängiger Klassifizierungen ist letztlich auch bei der dritten hier ausgewählten Gruppe angebracht: Bei jungen, insbesondere kinderreichen Familien führte der Wegfall staatssozialistischer Schutzbestimmungen ebenfalls zu gewichtigen Einschränkungen. Die Vergabe des Labels »Verlierer der Einheit«41 erfolgte demnach geradezu zwangsläufig. In der DDR zwar teilweise in marginalisierten und unterprivilegierten Lebenslagen zu verorten, dabei allerdings hochgradig subventioniert und staatlicherseits als Symbolbild »sozialer Geborgenheit« auserkoren,42 sorgten nach 1989 gerade bei Familien mit drei oder mehr Kindern die Verteuerung 39 Vgl. dazu etwa Ursula Schröter / Renate Ullrich / Rainer Ferchland, Patriarchat in der
DDR. Nachträgliche Entdeckungen in DFD-Dokumenten, DEFA-Dokumentarfilmen und soziologischen Befragungen, Berlin 2009. 40 Hildegard Maria Nickel, Frauen im Umbruch der Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36–37 (1995), S. 23–33; vgl. daneben Irene Dölling, Ostdeutsche Geschlechterarrangements in Zeiten des Neoliberalismus, in: Potsdamer Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung 7 (2003), 1, S. 7–32. Siehe auch Arbeitsgruppe, Stellungnahme, S. 490; zudem Reinhard Kreckel, Geteilte Ungleichheit im vereinten Deutschland, in: Geißler, Umbruch, S. 51–62, hier S. 57; ferner auch Anneke Napp-Peters, Armut von Alleinerziehenden, in: Karl-Jürgen Bieback / Helga Milz (Hg.), Neue Armut, Frankfurt a. M. 1995, S. 107–121; Mayer/Solga, Lebensverläufe, S. 46–48. Anderswo wird von einer »doppelten Transformation« (Heinrich Best / Everhard Holtmann, Die langen Wege der deutschen Einigung. Aufbruch mit vielen Unbekannten, in: dies. (Hg.), Aufbruch der entsicherten Gesellschaft. Deutschland nach der Wiedervereinigung, Frankfurt a. M. 2012, S. 9–42, hier S. 11) oder einer »Ko-Transformation« gesprochen (Ther, Ordnung, S. 97). Siehe zu diesem Kontext auch den Beitrag von Anja Schröter in diesem Band. 41 Kinder und Jugendliche Verlierer der Einheit, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.01.1994; Bericht aus dem Abseits, in: Die Zeit vom 4.2.1994. 42 Christoph Lorke, »Soziale Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit«: Kinderreiche Familien in der DDR, in: Deutschland Archiv Online, http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/ deutschland-archiv/206153/soziale-ungleichheit-und-soziale-ungerechtigkeit-kinderreiche-familien-in-der-ddr [16.03.2016], 11.05.2015; vgl. ders., Armut, mit den jeweiligen Unterkapiteln zur sozialsymbolischen Rolle der Kinderreichen.
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von Mieten, Heiz- und Stromkosten, der Abbau bzw. die Kostensteigerung außerschulischer Betreuungseinrichtungen, der Ausfall kostenloser Trinkmilch- und Schulspeiseversorgung oder wachsende Ausgaben für Kinderkleidung für eine Zunahme des Armutsrisikos, was rasch politische Aufmerksamkeit generierte.43 Lebte 1994 in Westdeutschland jedes achte bis neunte Kind in einkommensarmen Haushalten, war es in Ostdeutschland jedes fünfte, weshalb gerade hier von einer noch intensiveren »Infantilisierung der Armut« als im Westen der Republik gesprochen wurde – was weitere Dimensionen der Armut jenseits vom bloßen Einkommen wie Bildungschancen und Partizipation mit einschloss.44 Insbesondere die befürchtete Abkopplung von Bildungschancen alarmierte die Bundesregierung, die im selben Jahr in ihrem Neunten Jugendbericht unter dem Titel Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern warnte: Angesichts eines Anteils der Kinder und Jugendlichen an den Sozialhilfeempfängern von bis zu 42 Prozent in Sachsen und 38 Prozent in Ostberlin drohe eine neue Sozialhilfegeneration in Perspektivlosigkeit heranzuwachsen.45 Ostdeutschland glich sich insgesamt auch auf dem Gebiet der Armut unter Familien mit mehreren Kindern rasch an westdeutsche Entwicklungen an – und überholte schon bald die dortigen Kennziffern, wobei die höhere Zahl Kinderreicher im Osten zweifellos ihr Übriges tat. Ende 1996 empfingen über eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren Sozialhilfe. Damit stellten sie fast zwei von fünf Empfängern von Hilfe zum Lebensunterhalt. Letztlich avancierte die Herausforderung Kinderarmut rasch zu einem gesamtdeutschen Problem.46
43 Vgl. etwa die Große Anfrage der Abgeordneten Michael Habemann, Christel Hanewinckel,
Angelika Barbe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Wirtschaftliche Situation von Familien und deren soziale Auswirkungen, 24.11.1993, Bundestags-Drucksache 12/4353; Roland Merten, Junge Familien in den neuen Bundesländern. Die vergessenen Verlierer im Prozeß der deutschen Vereinigung, in: Sozialer Fortschritt 42 (1993), 12, S. 295–302. 44 Wendt, Arm dran, S. 22 f.; Zum Begriff der »Infantilisierung der Armut« und den damit verknüpften Diskussionen Eva Reichwein, Kinderarmut in der Bundesrepublik Deutschland. Lebenslagen, gesellschaftliche Wahrnehmung und Sozialpolitik, Wiesbaden 2012, S. 373; insgesamt auch Sabine Walper, Kinder und Jugendliche in Armut, in: Bieback/Milz, Neue Armut, S. 181–219. 45 Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern – Neunter Jugendbericht, 8.12.1994, Bundestags-Drucksache 13/70, hier Tab. III.7.2. 46 Ritter, Preis, S. 148; vgl. daneben Christoph Butterwegge, Kinderarmut in Deutschland, in: Siegfried Frech / Olaf Groh-Samberg (Hg.), Armut in Wohlstandsgesellschaften, Schwalbach/ Ts. 2014, S. 107–122.
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III. (Dis-)Kontinuitäten: Neue und alte Rhythmen der Armutskommentierung Doch auch die Bundesrepublik erlebte nicht erst mit dem Mauerfall erhebliche Veränderungen. Vieles spricht dafür, zwischen den Transformationsprozessen in Ostdeutschland und den (auch längerfristigen) in der ›alten‹ Bundesrepublik insgesamt zu unterscheiden.47 Eine Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitswelt sowie die Ausdifferenzierung der Arbeitnehmergesellschaft waren hier bereits im Gange, Automatisierung und Digitalisierung sorgten für stetig steigende Ansprüche an das Qualifikationsniveau.48 Der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft, Kohle- und Stahl- sowie der verarbeitenden Industrie, die zunehmende Konkurrenz aus Ostasien oder die weitere Ausdehnung des Dienstleistungssektors: Mit den Herausforderungen der postindustriellen Gesellschaft, die Ostdeutschland erst noch bevorstanden, war die Bundesrepublik bereits konfrontiert.49 Im Westen stand der entfaltete Wohlfahrtsstaat keynesianischer Prägung seit geraumer Zeit auf dem Prüfstand, denn hier hatte die Bundesregierung seit den frühen 1980er Jahren mittels einer sozialpolitischen Reduktionsgesetzgebung – das Signum ›Neue Armut‹ war die diskursive Umschreibung dieser Prozesse – auf globale Krisen und die skizzierten Entwicklungen reagiert.50 Eine Konsolidierungsphase ab etwa 1985, erkennbar an wirtschaftlichem Wachstum, Preisstabilität sowie einem Rückgang der Arbeitslosenquote, der Anzahl der So47 Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-
land von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009, S. 748 48 Winfried Süß, Soziale Sicherheit und soziale Ungleichheit in wohlfahrtsstaatlich formierten Gesellschaften, in: Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970– 2000, Göttingen 2015, S. 153–194, hier S. 182. Für die Zeit nach 1990 vgl. auch ders., Was bleibt vom »Modell Deutschland«? Sozialpolitik und soziale Ungleichheit in der vereinigten Bundesrepublik, in: Martin Sabrow (Hg.), Die schwierige Einheit, Helmstedt 2016, S. 63–79. 49 Maier, Verschwinden, S. 459 f.; Werner Plumpe, »Ölkrise« und wirtschaftlicher Strukturwandel. Die bundesdeutsche Wirtschaft im Zeichen von Normalisierung und Globalisierung während der 1970er Jahre, in: Alexander Gallus / Axel Schildt / Detlef Siegfried (Hg.), Deutsche Zeitgeschichte transnational, Göttingen 2015, S. 101–123. Zur Kritik des Begriffs ›Postindustriellen‹ aber auch Werner Plumpe / André Steiner (Hg.), Der Mythos von der postindustriellen Welt. Wirtschaftlicher Strukturwandel in Deutschland 1960 bis 1990, Göttingen 2016. Ulrich Blum, Deutsche Einheit und Globalisierung als Herausforderung an die soziale Marktwirtschaft, in: Michael S. Aßländer / Peter Ulrich (Hg.), 60 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Illusionen und Reinterpretationen einer ordnungspolitischen Integrationsformel, Bern 2009, S. 175–194. 50 Von den Einschnitten waren vor allem Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und Jüngere betroffen. Siehe Christiane Kuller / Winfried Süß, Der entfaltete Sozialstaat und die Wiedervereinigung, in: Ulrich Becker / Stephan Leibfried u. a. (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Bd. 1: Denkschrift 60 Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Berlin 2014, S. 161–179, hier S. 166; zu Kontext und diskursiver Ausformung der Armutsdebatten der 1980er Jahre Marie Sophie Graf, Die Inszenierung der Neuen Armut im sozialpolitischen Repertoire von SPD und Grünen 1983–1987, Frankfurt a. M. 2015 sowie Christoph Lorke, Die Debatte über »Neue Armut« in der Bundesrepublik. Konstruktion einer Kampagne und Strategien ihrer Zurückweisung (1983–1987), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), 6, S. 552–571.
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zialhilfeempfänger und der Sozialleistungsquote von 33 Prozent (1982) auf 29 Prozent (1989), setzte sich relativ ungebremst bis zu einer ersten größeren Konjunkturdelle 1992/93 fort. Daraus erklärt sich zwar die selbstbewusst-optimistisch vorgetragene Sentenz Helmut Kohls in seiner Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens des Vertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, den meisten Ostbürgern werde es nach der Einheit besser, den wenigsten schlechter gehen. Doch konnte dieses ›Zwischenhoch‹ kaum die Reformnotwendigkeiten des altbundesrepublikanischen Modells und die bereits tief klaffenden Risse im Sozialkonsens verhehlen, die sodann im Zuge der angespannten Arbeitsmarktsituation und dementsprechend größeren Belastungen für die öffentlichen Haushalte auf das tagespolitische Tapet gerückt wurden. Ein Beispiel für längerfristige und als notwendig erachtete Modifizierungen waren etwa Reformüberlegungen im Bereich der Altersrente, die im Zuge von Mauerfall und Wiedervereinigung zunächst ausgesetzt wurden.51 Neben diesem ›Reformstau‹, der sich auch für andere Bereiche feststellen ließe, gesellten sich außerdem konzeptionelle Probleme, die keineswegs neu waren. Denn inwiefern die Vergabe des Labels ›arm‹ einmal mehr vor allem ein statistisches und definitorisches Problem war, zeigen bereits die Jahre nach dem Vollzug der Einheit eindrücklich: Das Ost-Berliner Institut für Soziologie und Sozialpolitik operierte im März 1991 in einer Untersuchung zur Lebenslage in Ostdeutschland mit der 50-Prozent-Grenze des westdeutschen Durchschnittseinkommens und kam so auf eine Zahl von bis zu sieben Millionen Ostdeutschen unterhalb der gesamtdeutschen Armutsgrenze – was prompten und heftigen Widerspruch hervorrief.52 Auch im DGB-Armutsbericht des Jahres 1994 wurde mit zwei bzw. drei verschiedenen Armutsschwellen operiert (Ost-, West- und Gesamtdeutschland), was völlig andere Aussagen gestattet.53 Die Studie war das Ergebnis eines anderthalbjährigen Forschungsprojektes, das im Zeitraum April 1992 bis September 1993 durchgeführt wurde. Das Gemeinschaftsunternehmen von DGB und Paritätischen Wohlfahrtsverband sowie in Kooperation mit der Böckler-Stiftung hatte zum Ziel, zeitnah einen ersten gesamtdeutschen Armutsbericht vorzustellen. Hatte sich der Gewerkschaftsbund bereits im Zuge der Debatte um die ›Neue Armut‹ erstmals nennenswert in den bundesdeutschen Armutsdiskurs eingeschaltet, so wurde nun fehlerhafte Informationspolitik seitens der Bundesregierung ebenso kritisiert wie sozialpolitische Versäumnisse angeprangert wur51 Christine Trampusch, Der erschöpfte Sozialstaat. Transformation eines Politikfeldes,
Frankfurt a. M. 2009, S. 111–114. 52 Gunnar Winkler, Sozialunion – der Weg Ostdeutschlands aus der Armut. Zur sozialen Entwicklung in Ostdeutschland, in: Geschäftsführung des WSI (Hg.), Von der Vereinigung zur sozialen Einheit. Probleme und Perspektiven. Referate auf der Arbeitstagung des WSI in Zusammenarbeit mit dem Institut für Soziologie und Sozialpolitik am 13./14. Mai 1991 in Berlin, Düsseldorf 1991, S. 54–58. 53 Hanesch, Armut, S. 138 und 140. Die ermittelten Zahlen berufen sich auf das Sozio-ökonomische Panel der Jahre 1990–1992; vgl. auch Hanesch, Konturen.
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den. Insbesondere die vorgestellten quantitativen Dimensionen – gut 7 Millionen Menschen gälten demnach als ›arm‹ (4,6 Millionen im Westen und 2,6 Millionen im Osten Deutschlands) – zogen vielerlei Kontroversen nach sich.54 Wie ›Armut‹ überhaupt zu fassen ist, so belegen die beiden angeführten Beispiele eindrücklich, war vermutlich selten so umstritten und ideologisch aufgeladen wie im Kontext der »Vereinigungskrise« (Jürgen Kocka).55 Anhand dreier Beobachtungen der zeitgenössischen Debattenkultur soll ausgeführt werden, inwiefern soziale Aushandlungskämpfe Überkommenes mit Neuem kombinierten und somit eine spezifische Kultur der Armutsdiskussion in der Vereinigungsgesellschaft rahmten. Gleichzeitig verweisen die gewählten Beispiele bei allen strukturellen Kontinuitäten auch auf diskursive »Ko-Transformation« (Philipp Ther), die auch Rückschlüsse auf heutige Umgangsweisen mit dem Phänomen Armut erlauben. Erstens strahlte die in den 1980er Jahren intensiver aufkommende Problematisierung bundesdeutscher Wohlfahrtsstaatlichkeit und sozialstaatlicher Funktionsweisen auch in die frühen 1990er Jahre aus.56 Der mit der Einheit einhergehende Anstieg von Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfängern bei gleichzeitigem Rückgang der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten beflügelte die Verfechter eines Spar- und Konsolidierungskurses, die das Soziale dezidiert als Produktivität schwächenden Faktor ausmachten. Die Analyse konkurrierender Sozialstaatskonzeptionen kann somit auch dabei helfen, genauer auszuleuchten, weshalb dergleichen Forderungen nach Rückbau häufig von einer Skandalisierung mutmaßlichen Leistungsmissbrauchs begleitet wurden.57 Kollektivsymboliken als dominante Motive zur »Produktion diskursiver Gewißheiten«58 konnten (tatsächliche oder imaginiert-befürchtete) Verstöße gegen ungeschriebene Normen moderner Sozialstaatlichkeit versinnbildlichen. Die massenmedial-öffentlich stets neu vollzogene und »organisierte Enttarnung von Drückebergern, Sozialschmarotzern und Faulenzern« kann auf symbolischer Ebene als »Form der Sozialabbau-Hygi-
54 Dazu nur Birgit Matuschek-Labitzke, Armutsbericht »unzuverlässige Dramatisierung«, in:
Süddeutsche Zeitung vom 15.7.1994; zur Zurückweisung der Befunde des Armutsberichtes durch die damalige Familienministerin Hannelore Rönsch (CDU) siehe u. a. Frau Rönsch: Angaben über Armut sind falsch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.1.1994. Allgemein zur Kritik am Bericht Peter Carstens, Blüten und Dürre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.6.1994; Bericht aus dem Abseits, in: Die Zeit vom 4.2.1994. 55 Jürgen Kocka, Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995; vgl. auch Roland Czada, Vereinigungskrise und Standortdebatte, in: Leviathan 26 (1998), 1, S. 24–59. Siehe zu diesem Topos auch den Beitrag von Angela Siebold in diesem Band. 56 Diether Döring / Walter Hanesch / Ernst-Ulrich Huster (Hg.), Armut im Wohlstand, Frankfurt a. M. 1990. 57 Christoph Butterwegge, Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik, 3. Aufl., Opladen 2001, S. 45–47. 58 Ursula Kreft, Nachrichten vom Brand im Schlaraffenland – Wie der Sozialstaat in den Medien zum Problemfall wird, in: Widersprüche 64 (1997), S. 7–25, hier S. 19.
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ene« interpretiert werden.59 Dabei waren ›Drückeberger‹-Debatten keineswegs ein Novum der frühen 1990er Jahre: Die Trennung von ›echten‹ in ›unechte‹ Arbeitslose war vielmehr diskursives Leitthema in den ausgehenden 1970ern und Mitte der 1980er Jahre, das als zentrale, nun an neue tagespolitische Erfordernisse angepasste Argumentationsfigur und im Modus Eigen-Fremd im Arbeitsmarktdiskurs nun wieder auftauchte – wenn auch merklich ›veröstlichter‹.60 Inwiefern diese Aussagen als eine Art symbolische Diskriminierung und kollektive Herabsetzung von Ostdeutschen Befürchtungen zu schüren vermochte, diese neuen ›Fremden‹ könnten den bisherigen Wohlstand verringern, ist weiter zu diskutieren,61 vor allem auch hinsichtlich der Wechselseitigkeit solcher Fremdheitskonstruktionen. Sie stehen jedoch in einer Reihe vergleichbarer Sprechakte politischer Wortführer: »Eine erfolgreiche Industrienation […] läßt sich nicht als kollektiver Freizeitpark organisieren«, schwor Helmut Kohl in seiner Regierungserklärung am 21. Oktober 1993 die Bundesbürger jedenfalls ein, was wohl auch als Reaktion auf die lebhafte Missbrauchsdebatte zu Beginn des Jahres zu verstehen ist, die auf eine »Beschneidung« des »Wildwuchses« im Sozialstaat zielte. »Arbeit müsse sich wieder lohnen« oder »Scheu, den Umweg über Arbeit zu gehen«62 – Wortbeiträge führender Regierungspolitiker dienten seinerzeit der Unterstützung von Forderungen nach einem weiteren Um- bzw. Rückbau des Sozialstaates, wobei Kürzungen als indirekte Anreize zur Arbeitssuche fungieren sollten: Das Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm der Bundesregierung von 1994 bestärkte das Lohnabstandsgebot und sah unter anderem eine verschärfte Arbeitspflicht für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger vor. Zwei Jahre später wurde im Bundestag schließlich das Programm für Wachstum und Beschäftigung verabschiedet. Die darin beschlossene Lockerung des Kündigungsschutzes, die Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen sowie Kürzungen der Arbeitslosenhilfe riefen bundesweite Demonstrationen gegen Sozialabbau hervor. Als Reaktion darauf formulierte die SPD Versprechen, diese Maßnahmen nach einer erfolgreichen Bundestagswahl umgehend rückgängig machen zu wollen.63 Zweitens war die SPD neben DGB, Grünen oder den Kirchen gewissermaßen eine alte Bekannte in bundesdeutschen Sozialdebatten. Nachdem eine lan59 Ursula Kreft / Hans Uske, Die Normalisierung der Armut, in: Diss-Journal 12 (2004), S.
11–15; insgesamt auch Hans Uske, Das Fest der Faulenzer. Die öffentliche Entsorgung der Arbeitslosigkeit, Duisburg 1995. 60 Vgl. die dazugehörigen Abschnitte bei Lorke, Armut. 61 Siegfried Jäger, BrandSätze. Rassismus im Alltag, Duisburg 1992; vgl. zu diesen Überlegungen auch Rebecca Pates / Maximilian Schochow, Der »Ossi«. Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer, Wiesbaden 2013. 62 Sozialstaat: Arm an Wissen über Armut, in: Der Spiegel vom 2.8.1993, Die Diskussionen zusammenfassend auch: Kohl auf Waigels Sparkurs, in: Frankfurter Rundschau vom 4.1.1993 sowie Walter Hanesch, Geschichten von »Wildwuchs« und »Mißbrauch«, in: Sozial extra (1993), 7/8, S. 18–20 63 Axel Brower-Rabinowitsch, Abstand gewahrt, in: Die Zeit vom 26.8.1994; Conze, Suche, S. 793.
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desweite Armutsdiskussion nach den teils hitzigen Erörterungen um die ›Neue Armut‹ angesichts wirtschaftlichen Aufschwungs vorübergehend erlahmt war,64 wurde die Wiedervereinigung auf Oppositionsseite dazu genutzt, um alte Forderungen zu revitalisieren und den Sozialstaat betreffende Warnungen zu reformulieren. Die wichtigste Kernaussage jener Regierungskritiker war dabei die prognostizierte Entstehung eines hochexplosiven sozialen Klimas im vereinten Deutschland: Statt der nationalen müsse die soziale Frage verstärkt in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit rücken, müsse politisch verhindert werden, dass Ostdeutschland zum ökonomischen Hinterhof der Bundesrepublik, zu einem Mezzogiorno werde.65 Dezidierte Regierungskritik auf Seiten einiger Politik- und Sozialwissenschaftler verband sich mit grundsätzlichen Forderungen. Zu nennen sind hier allen voran Walter Hanesch, damals Mitglied des Vorstands des Gesamtverbands des Paritätischen Wohlfahrtsverbands sowie Mitglied der Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung, oder Gerhard Bäcker, seinerzeit wissenschaftlicher Referent des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Beide veröffentlichten seit den 1980er Jahren regelmäßig zur sozialen Lage und Ausgrenzung sowie zur westdeutschen Armutssituation. Statt eines unreflektierten ›Überstülpens‹ erneuerungsbedürftiger altbundesrepublikanischer Strukturen und einer grundsätzlichen, zumeist auf einer ideologischen Diskreditierung beruhenden pauschalen Abschaffung aller DDR-Institutionen wurde von beiden eine Duplizierung der Arbeits- und Sozialverfassung sowie ein Ausloten weiterer Reformperspektiven vorgeschlagen.66 So wurde nicht zuletzt auch der Forderung Ausdruck verliehen, bestehende Diskrepanzen zu verringern und die Ungleichverteilung sowohl innerhalb des Westens als auch zwischen Ost und West nicht weiter zu vergrößern. Allein Solidarität und soziale Gerechtigkeit anstelle einer »ungehemmte[n] Bereicherung und Ellenbogenmentalität«, so die 1985 ins Leben gerufene anmahnende Arbeitsgruppe Ar64 Erwähnung finden müssen in diesem Zusammenhang jedoch zwei Armutsberichte: Cari-
tasverband für die Diözese Münster (Hg.), Arme haben keine Lobby: Caritas-Report zur Armut, Freiburg i.Br. 1987; Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband (Hg.), Wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land. Armutsbericht, Stuttgart 1989. 65 Gerhard Bäcker, Ein Staat, zwei Gesellschaften. Sozioökonomische Probleme und sozialpolitische Herausforderungen im vereinigten Deutschland, in: Zeitschrift für Sozialreform 37 (1991), 4, S. 201–229; später wurde dieses (nicht unumstrittene) Motiv mehrfach aufgegriffen, vgl. u.a. Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.), Deutschlands Mezzogiorno. Muss die wirtschaftspolitische Weichenstellung in Ostdeutschland verändert werden? Dokumentation einer Diskussionsveranstaltung am 15. Februar 2001 im Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2001; Uwe Müller, Supergau Deutsche Einheit, Berlin 2005, S. 23–30. 66 Walter Hanesch / Ulrich Schneider, Armut und Entsolidarisierung. Zur Aktualität der Armutsfrage im Einigungsprozess, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 137 (1990), 9, S. 203–205; Gerhard Bäcker / Johannes Steffen, Reichtum im Westen – Armut im Osten? Neue Gesellschaftsspaltungen machen soziale Mindestsicherung erforderlich, in: WSI-Mitteilungen 44 (1991), 5, S. 292–307; vgl. auch Bäcker, Gerhard, Sozialpolitik im vereinigten Deutschland. Probleme und Herausforderungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 48 (1991), 3–4, S. 3–15.
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mut und Unterversorgung um Walter Hanesch im Jahr 1992, könnten die Einheit wirklich vollenden. Auch Forderungen nach einer sozialen bzw. bedarfsorientierten Mindestsicherung sowie nach regelmäßiger Armuts- und Sozialberichterstattung wurden im Zuge der Wiedervereinigung und angesichts des befürchteten Zuwachses an sozialer Ungleichheit wieder verstärkt artikuliert,67 ebenso wie die mangelnde Thematisierung von Armut insgesamt angemahnt wurde, etwa von der im Herbst 1991 als deutsche Sektion des Europäischen Armutsnetzwerkes gegründeten Nationalen Armutskonferenz im Jahr 1993.68 In diese Reihe, die eine verstärkte Re-Politisierung des Armutsdiskurses befördern sollte, gehört wiederum die Armutsstudie des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, die ein Jahr später veröffentlicht und von Hanesch herausgegeben wurde. Als Reaktion auf diese Vorstöße verfolgte die Regierungskoalition auf Bundesebene eine Strategie nicht nur der Verteidigung, sondern vor allem einer weitgehenden Dethematisierung. Eine solche hatte sich bereits im Zuge der sozialen Deutungskämpfe der 1980er Jahre bewährt und konnte nun, angepasst an die tagespolitischen Erfordernisse, aktualisiert werden. Hierzu zählte vor allem die Berufung auch auf planwirtschaftlich-strukturelle Defizite und auf heruntergewirtschaftete Betriebe, verfallene Häuser und marode Infrastruktur als ›Altlasten‹ der DDR.69 Das Problem dürfe, lauteten üblicherweise die demonstrativen Entgegnungen von Regierungsvertretern auf dergleichen oppositionelle Vorstöße in jenen Jahren, nicht dramatisiert werden: Ein Überzeichnen »des Jammertales Deutschland« sei schlichtweg unangebracht.70 Als Antwort auf die Anfrage der SPD zur Armut in der Bundesrepublik ließ die Regierung im erprobten Duktus verlauten: Das gezeichnete Bild einer zunehmenden Verarmung und Verelendung von Teilen der Bevölkerung sei »falsch«, es seien ausreichend präventive Maßnahmen des sozialen Sicherungssystems vorhanden, das soziale Netz der Bundesrepublik sei dichter als in den meisten Staaten der Welt.71 Drittens verwob sich kommunikativ Bewährtes im Armuts- bzw. Ungleichheitsdiskurs nach 1990 aber auch mit genuin Neuem: Neu waren etwa die ostdeutschen Stimmen, schon bald war eine gesamtdeutsche Allianz aus ost- wie west67 Arbeitsgruppen Stellungnahme, sowie dies., Armut und Unterversorgung in den neuen Bun-
desländern, in: Theorie und Praxis der sozialen Arbeit 43 (1992), 12, S. 442–451. 68 Nationale Armutskonferenz in Deutschland: Die Bekämpfung von Armut und Unterversorgung in Deutschland, Oberhausen 1993. 69 Ein Beispiel hierfür war die Große Anfrage von SPD-Abgeordneten im Bundestag zur Zukunft des Wohnens in den neuen Ländern. Die Antwort der Bundesregierung verwies auf unsichere oder gar fehlende Statistiken zum tatsächlichen Aufkommen von Obdachlosen und begründete die konstatierten Befunde fehlender Wohnungen vorrangig mit den Mängeln sozialistischer Planwirtschaft. Vgl. Große Anfrage von SPD-Abgeordneten, 5.3.1992. 70 Siehe etwa die gesammelten Stimmen in Volker Wörl, Arm in einem reichen Land, in: Süddeutsche Zeitung vom 27.8.1994. 71 Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Konrad Gilges, Gerd Andres, Ernst Bahr, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD, 28.11.1995, Bundestags-Drucksache 13/1527. Die Anfrage der SPD-Fraktion wurde am 30.5.1995 gestellt.
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deutschen ›Linken‹ auf der einen sowie ein affirmativ-beschwichtigendes, tendenziell von Sozialstaatsskepsis geprägtes Bündnis auf der anderen Seite zu konstatieren. Mit den vielen neuen ostdeutschen Stimmen sind jedoch weniger die zahlreichen Autobiographien ehemaliger Funktionäre gemeint, die in den ersten Jahren nach Mauerfall und Wiedervereinigung einen regelrechten Boom erlebten und in denen gerade die soziale Seite der Einheit (Sozialstaatsabbau, Massenarbeitslosigkeit, Wirken der Treuhand usw.) eine zentrale Rolle spielte.72 Vielmehr sind jene in der DDR sozialisierte Wissenschaftler zu nennen, allen voran Gunnar Winkler, der langjährige Vorsitzende des Wissenschaftlichen Rates für Sozialpolitik und Demographie der DDR. Er legte detaillierte, wenngleich methodisch nicht unwidersprochen gebliebene Studien vor, wie beispielsweise den fortan periodisch erscheinenden Sozialreport Ost. Hinter diesen Bemühungen verbarg sich das erklärte Ziel, die Arena sozialer Deutungskämpfe nicht allein westdeutschen Akteuren zu überlassen.73 Hierunter fällt beispielsweise auch die einiges Aufsehen erregende Gründung der Komitees für Gerechtigkeit in den neuen Bundesländern im Juli 1992, die zeigt, inwiefern die soziale Seite des Einigungsprozesses größeres Reizthema war. Der parteiübergreifenden Bewegung unter Führung des politisch ungleichen Paares Peter-Michael Diestel (CDU) als selbsternannter ›Anwalt der Ausgegrenzten‹ und Gregor Gysi (PDS), unterstützt von illustren Figuren wie Stefan Heym, Heiner Müller oder Jürgen Kuczynski, ging es darum, Erfahrungen von Ungerechtigkeiten und sozialer Ausgrenzung zu einem Topos in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit zu machen. Diese Anstrengungen waren jedoch nur von kurzzeitiger Aufmerksamkeit begleitet.74
72 An dieser Stelle seine nur wenige prominente Beispiele angeführt, in denen soziale The-
men einen besonders großen Stellenwert einnehmen: Günter Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin 1991; Erich Honecker, Zu dramatischen Ereignissen, Hamburg 1992; Kurt Hager, Erinnerungen, Leipzig 1996; Gerhard Schürer, Gewagt und verloren. Eine deutsche Biographie, Frankfurt/O. 1996, vgl. hierfür Christian Jung, Geschichte der Verlierer: Historische Selbstreflexion von hochrangigen Mitgliedern der SED nach 1989, Heidelberg 2007. 73 Winkler, Sozialreport; Manz, Armut; zu nennen wäre hier außerdem der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Roesler, der den missglückten Umbau und die folgenden sozialen Verwerfungen vor allem mit der ideologischen Herangehensweise begründete: Roesler, Arbeitslosigkeit; stärker bilanzierend ders., Die Treuhandpolitik. Verkauf und Abwicklung statt Sanierung und Umwandlung mit dem Ergebnis einer weitgehenden Deindustrialisierung des Ostens, in: Hannes Bahrmann / Christoph Links (Hg.), Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit – eine Zwischenbilanz, Berlin 2005, S. 93–106, oder auch der Sammelband des Politikwissenschaftlers Reißig (Hg.), Rückweg; vgl. zudem ders./Gert-Joachim Glaeßner (Hg.), Das Ende eines Experiments. Umbruch in der DDR und deutsche Einheit, Berlin 1991. 74 Leo Montada, Gerechtigkeitsansprüche und Ungerechtigkeitserleben in den neuen Bundesländern, in: Walter R. Heinz / Stefan E. Hormuth (Hg.), Arbeit und Gerechtigkeit im ostdeutschen Transformationsprozeß, Opladen 1997, S. 231–274, hier S. 232; siehe auch Gelbe Karte für die Politik, in: Der Spiegel vom 20.7.1992. Die Bewegung verschwand wenige Wochen später recht schnell wieder aus den Schlagzeilen: Der Kern schmilzt, in: Der Spiegel, 5.10.1992.
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Weitaus dauerhafter wie erfolgreicher waren demgegenüber die Bemühungen der PDS, die als neuer Akteur im Armutsdiskurs auf den Plan trat. Die Partei warnte bereits frühzeitig davor, Ostdeutschland könne »zum sozialen Notstandsgebiet« werden,75 und forderte, wie es zuvor etwa bereits der Paritätische Wohlfahrtsverband oder der DGB taten, eine soziale Grundsicherung, die ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes und materiell gesichertes Leben frei von Armut zu gewährleisten habe.76 Viele Ostdeutsche vollzogen nach dem Verfliegen der ersten Euphorie eine zunehmend kritische Analyse des Einigungsprozesses, wovon allen voran die PDS profitierte. Die wachsende Skepsis und Ernüchterung bei gleichzeitig sinkender Bereitschaft, ›Durststrecken‹ hinzunehmen, verbesserte ihre Erfolgsbedingungen. Sie gewann ihre Wähler gerade unter Arbeitslosen, Leuten in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Angehörigen der ›verlorenen Generation‹ des ›späten Mittelalters‹ sowie unter Rentnern. So spielte die PDS ganz bewusst mit dem Label einer Partei (auch) der Einigungsverlierer und reagierte damit demonstrativ auf die aus ihrer Sicht beträchtliche Ignoranz typischer ›Ostthemen‹ bei den etablierten Westparteien.77 Im ›Superwahljahr‹ 1994 lief ihr Programm daran anknüpfend unter dem Motto Opposition gegen Sozialabbau und Rechtsruck bzw. Auf daß sich der Wind drehe. Das Wiedererstarken der ehemaligen führenden Partei – die PDS scheiterte auf Bundesebene mit 4,4 Prozent zwar knapp an der Fünf-Prozent-Hürde, konnte aber dank vier Direktmandaten mit 30 Abgeordneten in den Bundestag einziehen – steht für eine markante und letztendlich langfristige Verschiebung der politischen Koordinaten, die sich für diese Zeit auch in anderen Ländern wie Polen oder Ungarn beobachten ließ.78
IV. Schlussbemerkung, oder: Armutsproduktion in der ›Risikogesellschaft‹? Eine Alternative zur raschen Übernahme bundesdeutscher Normen bestand 1990 nicht, da ist sich die Geschichtswissenschaft weitgehend einig. Der »Preis für die Freiheit« war die Zunahme sozialer Ungleichheiten und neuer persönlicher Risiken.79 War mit der politischen die soziale Einheit längst noch nicht vollendet, 75 So die Abgeordnete Petra Bläss am 14.3.1991 im Bundestag. 76 Antrag der Gruppe der PDS/Linke Liste, Vorlage eines Gesetzes über eine soziale Grund-
sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, 27.05.1993, Bundestags-Drucksache 12/5044. 77 Gero Neugebauer / Richard Stöss, Die PDS. Geschichte. Organisation. Wähler. Konkurrenten, Opladen 1996, S. 54–57; grundlegend Manfred Behrend, Eine Geschichte der PDS. Von der zerbröckelnden Staatspartei zur Linkspartei, Köln 2002. 78 Neugebauer/Stöss, PDS, S. 67; 162 f.; Ther, Ordnung, S. 91. 79 Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 12–14; Ritter, Preis, S. 134 ff.; Manfred Görtemaker. Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung, Berlin 2009, S. 85 ff.; Rödder, Vaterland; zum Begriff der ›Risikogesellschaft‹ siehe neben Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986 auch Lutz Leisering, Zweidrittelgesellschaft oder Risikogesellschaft?, in: Bieback/Milz, Neue Armut, S. 58–92, hier S. 64–67.
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ja haben viele Verwerfungen und in Teilen bis heute bestehende Disparitäten hier ihren Ausgangspunkt, so nahmen sich die Folgen der Transformation verglichen mit den Ländern Ostmittel- oder gar Südeuropas eher harmlos aus, auch dank flankierender Sozialleistungen, dem Einsatz westdeutscher Fachleute und einer sozialpolitischen Abfederung durch immense Finanztransfers.80 Aus Sicht von Sozialwissenschaftlern durchlebte der Osten Deutschlands seit der Vereinigung »eine sich in Richtung Normalität der Marktwirtschaft einpegelnde Armut«,81 die sich – wie im Westen der Republik bereits seit Längerem – an den vier großen ›A‹-s orientierte (Arbeitslosigkeit, Alter, Alleinstehend, Ausgegrenzt). Rainer Geißler sprach in diesem Zusammenhang von einer »Verwestlichung der ostdeutschen Ungleichheitsstrukturen«82. So plausibel diese Beobachtungen einer ›Normalisierung‹ oder ›Anpassung‹ an die Mechanismen vertikaler sozialer Mobilität und grundsätzlich an den Typus moderner, westlicher postindustrieller Gesellschaften ›nach dem Boom‹ mitsamt aller Problematiken und individuellen Risiken auch sein mögen, so sind sie doch insbesondere aus zeitgeschichtlicher Perspektive nur teilweise befriedigend. Auch wenn die Verlockungen, eine modernisierungstheoretisch inspirierte ›Aufholgeschichte‹ der ostdeutschen Teilgesellschaft nach 1990 zu erzählen, groß sind,83 so werden dabei die spezifischen Ambivalenzen des sozialen und, noch weniger, die Differenzen des mentalen Einigungsprozesses dabei kaum ausreichend berücksichtigt: Zum einen wird in diesen Erklärungsansätzen nicht hinlänglich zwischen überkommenen Armutsformen der DDR einerseits und der Relevanz neuer Wirkungen nach 1990 andererseits unterschieden. Das gilt aber mitnichten nur für Ostdeutschland, sondern wie skizziert ebenfalls für die ›alte‹ Bundesrepublik, die etwa mit der Hypothek eines ausgeprägten SüdNord-Gefälles in den Einigungsprozess ging, das dann – zumindest zeitweise – von einem gesamtdeutschen West-Ost-Gefälle überdeckt wurde.84 80 Süß, Soziale Sicherheit, S. 182. Zu komparativen Aspekten der ›Transformation‹: Jan Wie-
lgohs / Helmut Wiesenthal (Hg.), Einheit und Differenz. Die Transformation Ostdeutschlands in vergleichender Perspektive, Berlin 1997. Zur vergleichenden Entwicklung der Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient) der Jahre 1980–2000 Raj Kollmorgen, Sozialstrukturen und soziale Ungleichheiten, in: ders. / Wolfgang Merkel / Hans-Jürgen Wagener (Hg.), Handbuch Transformationsforschung, Wiesbaden 2015, S. 697–708, hier S. 705. 81 Hanna Haupt, Umbruchsarmut in den neuen Bundesländern, in: Lutz/Zeng (Hg.), Armutsforschung, S. 48–67, hier S. 50. 82 Rainer Geißler, Neue Strukturen der sozialen Ungleichheit im vereinten Deutschland, in: Robert Hettlage / Karl Lenz (Hg.), Deutschland nach der Wende. Eine Zwischenbilanz, München 1995, S. 119–141, S. 120, ders., Sozialstruktur, S. 258. 83 Aus wirtschaftshistorischer Sicht Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der deutschen Einheit, München 2009. 84 Siehe dazu die Erhebungen bei Hartmut Gottschild, Sozialhilfeatlas für Deutschland, Teil 1: Sozialhilfe. Ein Beitrag zur Sozialberichterstattung, Braunschweig 1993 sowie Graham J. Room / Bernd Henningsen, Neue Armut in der Europäischen Gemeinschaft, Frankfurt a. M./New York 1990, S. 16. Vgl. auch Andreas Willisch, Wittenberge ist überall. Überleben in schrumpfenden Regionen, Berlin 2012.
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Zum anderen bleibt hier die Frage nach den unterschiedlichen normativen Sozialvorstellungen und Leitideen unbeachtet, die ihren Ausdruck in den skizzierten, teils hochumkämpften Debatten fanden: West- und ostdeutsche Sozialimaginationen oder das Erleben sozialer (Verteilungs-)Gerechtigkeit und (Un-) Gleichheit auch nur annähernd in Einklang zu bringen, sollte zu einer der größten Herausforderungen des Einigungsprozesses werden – die bis heute noch nicht abgeschlossen ist bzw. in absehbarer Zukunft vermutlich auch nicht abgeschlossen sein wird.85 Diese Perspektiven zeitgeschichtlich auch nur annähernd gleichermaßen zu berücksichtigen, ist eine herausfordernde Angelegenheit, nicht zuletzt, da damit bis heute andauernde Differenzen und Disparitäten berührt werden. Denn reale Verluste und das Konfrontiert-Sein mit Neuartigem wie überrascht-abrupt eintretende Arbeitslosigkeit, Abwicklungen, ›Gesundschrumpfungen‹, Betriebsstilllegungen und daraus resultierende biographische Brüche samt psychosozialen Folgen, die viele Ostdeutsche häufig völlig unvorbereitet trafen, trugen neben stärker subjektiven Empfindungen wie kulturellen Abwertungen, Fremdheitserfahrungen und dem Gefühl relativer Deprivation86 bei nicht wenigen Betroffenen dazu bei, die Verbundenheit mit der ehemaligen DDR ex post zu stärken. Viel mehr noch: Das Spannungsverhältnis aus den einen hohen Erfüllungsdruck generierenden, mitunter unrealistisch-überzogenen Erwartungshaltungen Vieler auf der einen und schmerzlichen Verlusterfahrungen auf der anderen Seite beförderte bei ihnen eine Sehnsucht nach den sozialen Anordnungen der »arbeiterlichen« (Wolfgang Engler) DDR-Gesellschaft, die wohl vor allem eine Sehnsucht nach sozialer Integration und Absicherung war, gewiss in entscheidendem Maße. Im (n)ostalgischen Rückblick verklärte sich unter dem Eindruck subjektiver Ungerechtigkeitserfahrungen dann diese DDR dank ihrer Sicherheitsversprechen bei nicht wenigen Ostbürgern zum Sozialstaat erster Güte, was wiederum Rückschlüsse auf die Wirkmacht sozialstaatlicher Verheißungen gestatten dürfte.87 Als 85 Süß/Kuller, Sozialstaat, S. 172; siehe zum schwierigen ›mentalen‹ Zusammenwachsen auch
Kai Arzheimer, »Freiheit oder Sozialismus«? Gesellschaftliche Wertorientierungen, Staatszielvorstellungen und Ideologien im Ost-West-Vergleich, in: Oscar W. Gabriel / Jürgen W. Falter / Hans Rattinger (Hg.), Wächst zusammen, was zusammen gehört? Stabilität und Wandel politischer Einstellungen im wiedervereinigten Deutschland, Baden-Baden 2005, S. 285–313; zu abweichenden (sozialen) Werten siehe vor allem die zeitgenössischen Beobachtungen bei Helmut Klages / Thomas Gensicke, Geteilte Werte? Ein deutscher Ost-West-Vergleich, in: Weidenfeld, Deutschland, S. 47–59 sowie Ursula Dallinger, Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat. Besteht eine ›innere Mauer‹ zwischen West- und Ostdeutschen?, in: Krause/Ostner (Hg.), Leben, S. 573–596. 86 Zum Begriff Thomas Kessler / Amélie Mummendey / Andreas Klink, Soziale Identität und relative Deprivation. Determinanten individuellen und kollektiven Verhaltens in Ostdeutschland nach der Vereinigung, in: Manfred Schmitt / Leo Montada (Hg.), Gerechtigkeitserleben im wiedervereinigten Deutschland, Opladen 1999, S. 213–258; vgl. daneben Pollack/Pickel/Jacobs, Wächst zusammen. 87 Katja Neller, DDR-Nostalgie. Dimensionen der Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und politischen Konnotationen, Wiesbaden 2006.
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Reaktion auf das später aufkommende Phänomen ›Ostalgie‹ wiesen nicht wenige Westdeutsche auf die vermeintliche Undankbarkeit und Unbelehrbarkeit ihrer Landsleute im Osten hin, ebenso auf mutmaßlich ›problematische‹ Mentalitätsunterschiede, die Selbständigkeit und Eigeninitiative hemmten. In Erinnerung gerufen wurden die latenten Gräben zwischen ›Jammer-Ossis‹ und ›Besser-Wessis‹ im Zuge der Proteste gegen die Hartz-Gesetzgebung im Jahr 2004, die sich ganz bewusst in die Tradition der Montagsdemonstrationen stellten. Jene Maßnahmen der Agenda 2010 waren gerade für den Osten ein besonderer Einschnitt, da in Relation zur Gesamtbevölkerung weitaus mehr Menschen betroffen waren.88 Diese Entwicklungen gilt es in der künftigen zeitgeschichtlichen Analyse stärker zu berücksichtigen, verweist das Thema doch auf eine mehrfach offene Nachgeschichte: zum einen bezogen auf die enormen indirekten Kosten der Vereinigung (Staatsverschuldung, zusätzliche Kosten der Sozialversicherung, Solidaritätszuschlag). Zum anderen ist zwar nicht das eingetroffen, was viele Pessimisten zu Beginn der 1990er Jahren befürchteten, wonach Armut zu einem ostdeutschen Mehrheitenphänomen werden könnte. Doch noch im Jahr 2000 bezeichneten in einer Umfrage fast 60 Prozent der Befragten den Osten Deutschlands als das ›Armenhaus‹ der Republik und befürchteten, dass dies auch auf Dauer so bleiben werde.89 Eine brisante Aktualisierung erfuhr dieser Befund im Jahr 2006 – just zu der Zeit also, als die Arbeitslosenquote im Osten der Republik gerade ein Allzeithoch hinter sich hatte – durch die Debatte um das ›abgehängte Prekariat‹, das seinerzeit als überwiegend ostdeutsche Erscheinung charakterisiert wurde. Blickt man auf aktuelle Einschätzungen zur sozialen Situation in Gesamtdeutschland, so sorgen Verweise auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse, (Langzeit-)Arbeitslosigkeit gerade unter Jugendlichen, die höhere Armutsgefährdungsquote,90 Abwanderung und Überalterung sowie die Prophezeiung, viele Landstriche der ›neuen‹ Bundesländer würden auch künftig Transferregionen bleiben, regelmäßig für erhebliche Eintrübungen der Einigungsbilanzen. 88 Steffen Kröhnert, Arm versus Reich, in: Manuela Glaab / Werner Weidenfeld / Michael
Weigl (Hg.), Deutsche Kontraste 1990–2010. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt a. M. 2010, S. 387–420. Zu den Auswirkungen Melanie Booth / Klaus Dörre / Tina Haubner u. a., Bewährungsproben für die Unterschicht. Wirkungen aktivierender Arbeitsmarktpolitik, in: Best/Holtmann, Aufbruch, S. 347–368; ferner Dieter Bingen / Maria Jarosz / Peter Oliver Loew (Hg.), Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Transformationsländern nach 1989, Wiesbaden 2012. 89 Haupt, Einkommensentwicklung; für aktuellere Zahlen vgl. die Beiträge in Krause/Ostner (Hg.), Leben. 90 Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut. Sie umfasst den Anteil der Personen, deren Äquivalenzeinkommen weniger als 60 Prozent des Medians der Äquivalenzeinkommen der Gesamtbevölkerung (in Privathaushalten) beträgt. Die höchste Armutsgefährdungsquote wies 2013 das Bundesland Bremen auf (24,6 Prozent); die Armutsgefährdungsquote aller ›neuen‹ Bundesländer lag 2013 jedoch bei 19,8 Prozent und damit 5,4 Prozent höher als in den ›alten‹ Bundesländern. Siehe dazu die Übersicht in Statistisches Bundesamt (Hg.), 25 Jahre Deutsche Einheit, Wiesbaden 2015, S. 72 f.
Anja Schröter
UNABHÄNGIGE FRAUEN Geschlechterverhältnisse und Ehegattenunterhalt in der ostdeutschen Scheidungspraxis 1980 bis 2000
A
ls die DDR am 3. Oktober 1990 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitrat, wurde auch das bundesdeutsche Familienrecht auf das Beitrittsgebiet übergeleitet. Ostdeutsche Scheidungswillige, in der sozialistischen Gesellschaft der DDR geprägt, trafen auf ein Familienrecht, das von den bürgerlichen Traditionen des BGB bestimmt war. Dabei wandten sie die Normen trotz gleicher rechtlicher Rahmenbedingungen in einigen Bereichen anders an als Scheidungspaare in den ›alten‹ Bundesländern. Dies zeigt sich insbesondere anhand des Ehegattenunterhalts.1
I.
Der Ehegattenunterhalt im Familien- und Scheidungsrecht der beiden Systeme
Der Ehegattenunterhalt2 war sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik Bestandteil des Scheidungsrechts, hatte in beiden Systemen jedoch eine 1 In diesem Beitrag werden einige Ergebnisse aus der Dissertation der Verfasserin präsentiert,
die sich mit der Rechtskultur in Ostdeutschland anhand der Ehescheidungspraxis zwischen 1980 und 2000 befasst. 2 Der Begriff umfasst streng genommen sowohl den Unterhalt nach Scheidung der Ehe als auch den Trennungsunterhalt während der Trennung bis zur Scheidung. Diese Unterscheidung wird in der Literatur jedoch nicht konsequent eingehalten. So wird etwa bei Margret Rottleuthner-Lutter u. a., Das neue Scheidungsrecht im Beitrittsgebiet. Wirkungen, Nebenwirkungen und Folgen, Halle 1992, S. 14, von »Ehegattenunterhalt und Trennungsunterhalt« gesprochen. Der Trennungsunterhalt spielte zudem in den Oral-History-Interviews keine gesonderte und auch bei der Analyse der Gerichtsakten nur eine deutlich untergeordnet Rolle. Er bildet ohnehin lediglich einen Nebenaspekt im Scheidungsverfahren, da spätestens mit dem Scheidungsurteil
296 Anja Schröter
unterschiedliche Relevanz. Dies fußte maßgeblich auf dem unterschiedlichen Verständnis von der Rolle der Frau im Familien- und Erwerbsleben in den beiden Gesellschaften. In der Bundesrepublik schrieb das BGB3 bis zur zweiten Hälfte der 1970er Jahre allein den Frauen die Verantwortung für die Haushaltsführung zu. Erst mit dem 1. Ehereformgesetz von 19764 erfolgte eine geschlechtsneutrale Formulierung.5 Trotz einer »Emanzipation von unten«6 im Zuge der Frauenbewegung seit dem Ende der 1960er Jahre blieb das Ernährermodell nicht nur im Vergleich zur DDR, sondern auch zu anderen europäischen Industriestaaten stark ausgeprägt.7 Doppelverdienerehen blieben auch in den 1970er und 1980er Jahren die Minderheit.8 Das Familienrecht der Bundesrepublik beförderte, trotz Gleichberechtigungsanspruch, die Beibehaltung der tradierten Geschlechterrollen. Die Aufwertung der Familienarbeit als gleichwertiger Beitrag zum Familienunterhalt erkannte zwar die weibliche Leistung an, orientierte jedoch weiterhin darauf, dass der Mann als hauptsächlicher Ernährer fungierte. Dieser Gedanke wirkte sich auch auf den Scheidungsfall aus, wie an den nachehelichen Versorgungsinstitutionen in Form des Ehegattenunterhalts und des Versorgungsausgleichs9 deutlich wird. Seit dem Ehereformgesetz von 1976 war nicht mehr das Schuld-, sondern Regelungen für den nachehelichen Unterhalt getroffen werden mussten und die gerichtliche Dokumentation innerhalb des Scheidungsverfahrens auch darauf ausgerichtet war. 3 Vgl. §§ 1356 I 1 und 1360 II BGB. 4 Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14.6.1976, BGBl. I 1976, S. 1421. 5 Vgl. u. a. Jutta Limbach / Siegfried Willutzki, Die Entwicklung des Familienrechts seit 1949, in: Rosemarie Nave-Herz (Hg.), Kontinuität und Wandel der Familie in Deutschland. Eine zeitgeschichtliche Analyse, Stuttgart 2002, S. 17, 20 f.; Marianne Dierks, Karriere! – Kinder, Küche? Zur Reproduktionsarbeit in Familien mit qualifizierten berufsorientierten Müttern, Wiesbaden 2005, S. 22; Stephan Meder, Familienrecht. Von der Antike bis zur Gegenwart, Köln 2013, S. 248. 6 Rüdiger Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, Wiesbaden 2012, S. 7. 7 Vgl. u. a. Waltraud Cornelissen, Politische Partizipation von Frauen in der alten Bundesrepublik und im vereinten Deutschland, in: Gisela Helwig / Hildegard Maria Nickel (Hg.), Frauen in Deutschland 1945–1992, Berlin 1993, S. 321–349; Anke Burkhardt / Uta Schlegel, Frauen an ostdeutschen Hochschulen – in den gleichstellungspolitischen Koordinaten vor und nach der »Wende«, in: Edith Saurer / Margareth Lanzinger / Elisabeth Frysak (Hg.), Women’s Movements. Networks and Debates in Post-communist Countries in the 19th and 20th Centuries, Köln 2006, S. 84; Peuckert, Familienformen 2012, S. 7. 8 Vgl. Christopher Neumaier / Andreas Ludwig, Individualisierung der Lebenswelten. Konsum, Wohnkultur und Familienstrukturen, in: Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 275. 9 Auf diese Scheidungsfolge wird hier nicht näher eingegangen. Grundsätzlich ist jedoch festzuhalten, dass der Versorgungsausgleich (§§ 1587 ff. BGB) seit 1977 der Versorgung von geschiedenen Ehegatten im Alter diente. Er zielte darauf, die Ehegatten, die Familienarbeit verrichteten, an dem während der Ehe erworbenen Vermögen zu beteiligen. Sofern ein Ehegatte während der Ehe höhere Anwartschaften auf Renten, Pensionen, etc. erworben hatte, wurde der Wertunterschied hälftig ausgeglichen. Vgl. u. a. Limbach/Willutzki, Entwicklung des Familienrechts, S. 26; Cora Schipporeit, Das Scheidungsrecht als Katalysator der Scheidungs-
UNABHÄNGIGE FRAUEN 297
das Zerrüttungsprinzip entscheidend, um das Scheitern einer Ehe festzustellen und somit die Scheidung zu begründen.10 War die Gewährung von Unterhalt vor der Reform an die Schuldfrage gekoppelt, wurde dies nun als »nicht sachgerecht erachtet«.11 Wurden nämlich einem Ehepartner Verfehlungen nachgewiesen, welche zur Krise der Ehe und zum Gang vor den Scheidungsrichter geführt hatten, erhielt dieser keine nachehelichen Unterhaltszahlungen. Während die frühere Regelung vor allem nicht erwerbstätigen Ehegatten zum Nachteil werden konnte, zielte die Reform darauf, die Leistungen der Ehefrauen als Hausfrauen und Mütter zu berücksichtigen, während der Ehemann einer Berufsarbeit nachging. Somit wurde die Gleichwertigkeit von Lohn- und Familienarbeit betont, die auch nach der Scheidung eine gegenseitige nachwirkende Verantwortung der Ehegatten begründen konnte. Der Grundsatz der Eigenverantwortung nach der Scheidung war in § 1569 BGB lediglich im Umkehrschluss und nicht explizit enthalten.12 Zudem wurden dem Grundsatz durch die sogenannte nacheheliche Solidarität Grenzen gesetzt, die sich aus dem »schützenswerten Vertrauen in den Bestand der Ehe als gegenseitiger Verantwortungsgemeinschaft und einer daraus erwachsenen Pflicht zur Solidarität in besonderen Lebenslagen«13 ergab. Dies zielte darauf, den sozialen Abstieg von Frauen, die zugunsten der Familienarbeit auf eine Erwerbstätigkeit verzichtet hatten, zu vermeiden und ihren Lebensstandard zu sichern. Neben der Frage der Bedürftigkeit wurde deshalb auch den ehelichen Lebensverhältnissen Rechnung getragen.14 Unterhaltstatbestände, die eine Bedürftigkeit rechtfertigten, weil einer der geschiedenen Ehegatten nicht erwerbstätig sein konnte, bildeten z. B. die Betreuung der gemeinsamen Kinder, Alter und Krankheit sowie Aus- und Fortbildung.15 Seit 1986 war eine Befristung der Ansprüche möglich.16 Je länger jedoch eine Ehe andauerte und je mehr Nachteile einem Ehepartner daraus entstanden, desto erheblicher wirkte sich dies auf wirklichkeit? Die historische Entwicklung des Scheidungsrechts im Spannungsfeld von Theorie und Praxis während des 20. Jahrhunderts, Bonn 2005, S. 246 f. 10 Vgl. u. a. Limbach/Willutzki, Entwicklung des Familienrechts, S. 22 f. 11 Ebd., S. 23. 12 Vgl. ebd., S. 23; Lisa Haller, Die Reform des Unterhaltsrechts und ihre geschlechterpolitischen Implikationen, in: Diana Auth / Eva Buchholz / Stefanie Janczyk (Hg.), Selektive Emanzipation. Analysen zur Gleichstellungs- und Familienpolitik, Opladen u. a. 2010, S. 186; Gerold R. Gramse, Die Begrenzung des Geschiedenenunterhaltes nach Dauer und Umfang – eine typisierbare Folge der Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft?, Berlin u. a. 2001, S. 6. 13 Elke Völmicke / Gerd Brudermüller (Hg.), Familie – ein öffentliches Gut? Gesellschaftliche Anforderungen an Partnerschaft und Elternschaft, Würzburg 2010, S. 56. 14 Vgl. Wilfried Schlüter, BGB. Familienrecht, Heidelberg 1991, S. 115, 131; ders., BGB – Familienrecht, Heidelberg 2001, S. 137. Karin Böttcher, Scheidung in Ost- und Westdeutschland. Der Einfluss der Frauenerwerbstätigkeit auf die Ehestabilität, Max-Planck-Institut für demografische Forschung, WP 2006–016, http://www.demogr.mpg.de/papers/working/wp-2006–016.pdf, S. 4 [30.11.2012]. Siehe hierfür auch den Beitrag von Christoph Lorke in diesem Band. 15 Vgl. Limbach/Willutzki, Entwicklung des Familienrechts, S. 24. 16 Vgl. ebd. S. 24 f.
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die Unterhaltsfrage aus. Hatte die Ehefrau beispielsweise zugunsten der Kinderbetreuung und der Hausarbeit auf ein berufliches Fortkommen verzichtet und deshalb Schwierigkeiten, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu finden, stellte dies ein wesentliches Argument für die Gewährung von Ehegattenunterhalt dar. Sie erhielt eher unbefristeten Unterhalt als die nur kurz verheirateten oder überwiegend berufstätigen Ehepartner.17 In der DDR nahmen sowohl das Scheidungsrecht selbst als auch der Umgang mit dem Ehegattenunterhalt hingegen eine andere Entwicklung. Die ostdeutsche Scheidungsquote rangierte in den 1980er Jahren im weltweiten Vergleich auf dem fünften Platz.18 Auch im deutsch-deutschen Vergleich war die DDR-Quote erheblich höher – in den 1980er Jahren beispielsweise um das 1,5-fache.19 Im sozialistischen System waren Scheidungen verhältnismäßig kostengünstig und vom Einreichen der Klage bis zum Urteil verging häufig nur ein Monat.20 Der Fokus des Verfahrens lag dabei auf der Frage, ob die Ehe tatsächlich gescheitert war und für die Eheleute, »die Kinder und damit auch für die Gesellschaft ihren Sinn verloren« hatte.21 Scheidungsfolgen wie die Teilung des ehelichen Vermögens oder das Nutzungsrecht an der Wohnung wurden zwar thematisiert und mitunter auch umfangreich diskutiert, den meisten Raum nahm jedoch die Auflösung der Ehe selbst ein. Nacheheliche Versorgungsinstitutionen, wie sie das bundesdeutsche Recht kannte, spielten hingegen keine oder eine untergeordnete Rolle. Einen Versorgungsausgleich zur Rentenabsicherung sah das sozialistische Familienrecht nicht vor und nachehelicher Unterhalt hatte praktisch kaum eine Bedeutung. Denn im Gegensatz zur Bundesrepublik war in der DDR das Doppelverdienermodell vorherrschend.22 Das Familien- und Frauenbild in der DDR war von einer im sozialistischen System propagierten Gleichberechtigung der Frau geprägt, die mit einer »Emanzipation von oben«23 einher ging. Dabei wurde einerseits die Erwerbstätigkeit der 17 Vgl. Dieter Schwab, Familienrecht, München 1991, S. 160 und 166 f. 18 Vgl. Jutta Gysi / Dagmar Meyer, Leitbild: berufstätige Mutter. DDR-Frauen in Familie,
Partnerschaft und Ehe, in: Helwig/Nickel, Frauen in Deutschland, S. 145; Lothar Mertens, Wider die sozialistische Familiennorm. Ehescheidungen in der DDR 1950–1989, Opladen 1998, S. 13; Sascha Trültzsch, Kontextualisierte Medieninhaltsanalyse. Mit einem Beispiel zum Frauenbild in DDR-Familienserien, Wiesbaden 2009, S. 231. 19 Vgl. Evelyn Grünheid, Ehescheidungen in Deutschland. Entwicklungen und Hintergründe, in: BiB Working Paper 1/2013, http://www.bib-demografie.de/SharedDocs/Publikationen/DE/ Working_Paper/2013_1_ehescheidungen_deutschland.pdf?__blob=publicationFile&v=4, S. 9 [12.3.2015]. 20 Vgl. Anita Grandke, Die Entwicklung des Familienrechts in der DDR, 2010, http://edoc. hu-berlin.de/docviews/abstract.php?id=30621, S. 165 [17.4.2012]. 21 § 24 I FGB. 22 Vgl. Limbach/Willutzki, Entwicklung des Familienrechts, S. 13 f. 23 Norbert F. Schneider, Familie und private Lebensführung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Analyse des Familienlebens 1970–1992, Stuttgart 1994, S. 69. Siehe dazu auch Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie
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Frau gefördert, andererseits aber auch die staatliche Politik auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausgerichtet, um die Reproduktionsarbeit zu sichern. So kam es besonders seit den 1970er Jahren zu sozialpolitischen Maßnahmen wie arbeitsrechtlichen Vergünstigungen für Mütter, sozioökonomischen Anreizen für Ehepaare und dem Ausbau des Dienstleistungssektors etwa im Bereich der staatlichen Kinderbetreuung.24 Dies führte zu einer besonders hohen Frauenerwerbsquote, die sich zum Ende der 1980er Jahre mit ca. 80 Prozent »auf internationalem Spitzenniveau«25 befand, wobei sie aber nicht wesentlich höher als die skandinavische Quote lag.26 Frauen trugen dennoch stetig eine Doppelbelastung, denn die Erfüllung der Gleichberechtigung stieß nicht nur im beruflichen, sondern auch im familiären Umfeld an Grenzen. Zeiterfassungsstudien zeigen, dass Frauen etwa 1985 im Durchschnitt täglich zwei Stunden mehr Zeit für die Hausarbeit aufwendeten als Männer. Während sie regelmäßig zeitaufwendige geschlechtstypische Arbeiten wie Waschen, Kochen und Putzen übernahmen, verrichteten Männer unregelmäßigere Tätigkeiten wie Reparaturen oder Gartenarbeit.27 Dieser Familienarbeit wurde jedoch nur sekundäre Bedeutung zugemessen, weshalb von und Sozialpolitik, Berlin 1995, S. 83; Michael Schwartz, Emanzipation zur sozialen Nützlichkeit. Bedingungen und Grenzen von Frauenpolitik in der DDR, in: Dierk Hoffmann (Hg.), Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49–1989, München 2005, S. 82; Peuckert, Familienformen 2012, S. 6. 24 Vgl. u. a. Schneider, Familie, S. 51, 65–69; Bernhard Klose, Ehescheidung und Ehescheidungsrecht in der DDR – ein ostdeutscher Sonderweg?, Baden-Baden 1996, S. 139–141; Jürgen Cromm, Familienbildung in Deutschland. Sozio-demographische Prozesse, Theorie, Recht und Politik unter besonderer Berücksichtigung der DDR, Opladen 1998, S. 492–499; Neumaier/Ludwig, Individualisierung, S. 276. 25 Michael Schwarz, Frauenpolitik im doppelten Deutschland. Die Bundesrepublik und die DDR in den 1970er Jahren, in: Christine Hikel / Nicole Kramer / Elisabeth Zellmer (Hg.), Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 28. 26 Vgl. Gunilla-Friederike Budde, Einleitung: Zwei Welten? Frauenerwerbsarbeit im deutschdeutsc hen Vergleich, in: dies. (Hg.), Frauen arbeiten. Weibliche Erwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland nach 1945, Göttingen 1997, S. 10. Die Angaben variieren, da in offizielle Zahlen etwa für das Jahr 1989 (91 Prozent) auch Auszubildende und Studentinnen einberechnet worden sind, vgl. Christina von Oertzen / Almut Rietzschel, Das »Kuckucksei« Teilzeitarbeit. Die Politik der Gewerkschaften im deutsch-deutschen Vergleich, in: Budde, Frauen arbeiten, S. 212. Andere Autoren vermerken deshalb für das Jahr 1989 lediglich 78,1 Prozent, vgl. Hildegard Maria Nickel, »Mitgestalterinnen des Sozialismus«. Frauenarbeit in der DDR, in: dies./Helwig, Frauen in Deutschland, S. 237. Michael Schwartz errechnet für 1988 beispielsweise 81 Prozent, vgl. Schwartz, Frauenpolitik, S. 28. Drei Viertel der erwerbstätigen Frauen arbeitete Vollzeit, vgl. Karin Gottschall, Frauen, in: Steffen Mau / Nadine M. Schöneck (Hg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Wiesbaden 2013, S. 277. 27 Vgl. u. a. Nickel, »Mitgestalterinnen des Sozialismus«, S. 233–256; Limbach/Willutzki, Entwicklung des Familienrechts, S. 10; Rainer Ferchland, Von der Endzeit- zur Umbruchsituation. Gender- Aspekt 1987/88 und 1990 in der DDR, in: Ursula Schröter / Renate Ulrich / Rainer Ferchland (Hg.), Patriachat in der DDR. Nachträgliche Entdeckungen in DFD-Dokumenten, DEFA-Dokumentarfilmen und soziologischen Befragungen, Berlin 2009, S. 129–135.
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einem »Sekundärpatriarchalismus«28 gesprochen wird. Die Frauen arrangierten sich mit dieser Rolle und empfanden sich trotz der Aufrechterhaltung tradierter Rollen in der Familienarbeit mehrheitlich als gleichberechtigt. Durch die Mischung aus sozioökonomischer Unabhängigkeit und politisch postulierter Gleichberechtigung entwickelten sie ein »spezifisches weibliches Selbstbewusstsein«29, eine Art ›innere Emanzipation‹ der Frauen.30 Sie wurden in einer Gesellschaft geprägt, in der sie ohne Partner ökonomisch unabhängig, sozial abgesichert und selbstbewusst agieren konnten und die Ehe und deren Auflösung nicht – wie in der Bundesrepublik – an den Versorgungsgedanken gekoppelt war. Aufgrund des ausgebauten Kinderbetreuungssystems konnten sie selbst Vollzeit arbeiten und waren somit abgesehen vom Kindesunterhalt auf keine zusätzlichen Zahlungen des Ex-Mannes angewiesen. Entsprechend spielte der Unterhalt für Geschiedene in der DDR nur in Ausnahmefällen eine Rolle. Er war formal-rechtlich zwar möglich, aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Scheidungspraxis aber nur selten relevant. Auch die sozialistische Gesetzgebung rekurrierte auf den Grundsatz der Eigenverantwortung und somit auf die Verpflichtung beider Ehegatten, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dies galt in der DDR jedoch bereits seit den 1950er Jahren und wurde wesentlich strenger ausgelegt. Wie schon gemäß § 13 EheVO 5531 war der Unterhalt auch nach § 29 des von 1966 bis 1990 gültigen Familiengesetzbuches32 nur ausnahmsweise und in der Regel für maximal zwei Jahre zu gewähren.33 Außerdem war über den Ehegattenunterhalt anders als in der Bundesrepublik ausschließlich während des Scheidungsverfahrens zu entscheiden.34 Eine nachträgliche gerichtliche Klärung war nicht möglich. Dies entsprach ebenso wie die Grundausrichtung der befristeten Ausnahmeregelung dem Grundgedanken, dass mit dem Ende der Ehe »alle familienrechtlich-ökonomischen Verhältnisse zwischen den Ehegatten nach Möglichkeit beendet werden sollten«35 und »jeder arbeitsfähige Ehegatte sein Leben unabhängig von dem an28 Siehe u. a. Eva Kreisky / Birgit Sauer (Hg.), Feministische Standpunkte in der Politikwissen-
schaft. Eine Einführung, Frankfurt a. M. 1995, S. 268. 29 Mertens, Wider die sozialistische Familiennorm, S. 37. 30 Vgl. u. a. Irene Dölling, Gespaltenes Bewusstsein. Frauen- und Männerbilder in der DDR, in: Helwig/Nickel, Frauen in Deutschland, S. 49 f.; Schneider, Familie, S. 70; Mertens, Wider die sozialistische Familiennorm, S. 27 f., 37. 31 Verordnung über Eheschließung und Eheauflösung – Eheverordnung (EheVO 55) – vom 24.11.1955, GBl. DDR I 1955, S. 849. 32 Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik – (FGB) – vom 20.12.1965, GBl. DDR I 1966, S. 1. 33 Vgl. Limbach/Willutzki, Entwicklung des Familienrechts, S. 9; Rainer Schröder, Zivilrechtskultur der DDR. Vom Inkasso- zum Feierabendprozess. Der DDR-Zivilprozess, Bd. 4, Berlin 2008, S. 84; Klose, Ehescheidung, S. 270. 34 Vgl. § 29 III FGB. 35 David Großekathöfer, »Es ist ja jetzt Gleichberechtigung«. Die Stellung der Frau im nachehelichen Unterhaltsrecht der DDR, Weimar 2003, S. 71.
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deren führt, … für sich allein verantwortlich ist und sich demzufolge auch allein zu ernähren hat.«36 Wurde der Unterhalt gewährt, dann zunächst insbesondere älteren Frauen aus langjährigen Ehen, die abweichend von der ideologischen Maxime des SED-Regimes keinen Beruf ergriffen hatten. Hatte der Ehemann durch sein Verhalten wesentlich zur Zerrüttung der Ehe beigetragen, galt die Unterhaltszahlung als zumutbar.37 Seit den 1970er Jahren verlagerte sich der Fokus vermehrt auf Mütter mit Kleinkindern, wenn beispielsweise kein Krippenplatz zur Verfügung stand und sie den Unterhalt nicht selbst bestreiten konnten. Die strenge Auslegung der Anfangsjahre wurde somit zwar aus Einsicht in die begrenzte Wirksamkeit der sozialpolitischen Maßnahmen gelockert, aufgrund der überwiegenden Erwerbstätigkeit von Frauen fiel dies in der Praxis aber kaum ins Gewicht.38 Dies bildet sich auch in Scheidungsakten der 1980er Jahre ab. Innerhalb einer Stichprobe von 73 Gerichtsakten39 aus diesem Jahrzehnt erhielten lediglich zwei jeweils etwa zwanzigjährige Mütter von Kleinkindern, die jünger als zwei Jahre alt waren, nacheheliche Unterhaltszahlungen. Entscheidendes Kriterium war in beiden Fällen das ausbleibende Einkommen der Frauen, weil sie bisher noch keinen Krippenplatz für ihr Kind erhalten hatten. Der Umfang der Gewährung fiel jedoch unterschiedlich aus. Frau Legro hatte sich etwa durch ein »Dringlichkeitsschreiben« ihrer Arbeitsstelle nachdrücklich um einen Krippenplatz bemüht. Das 36 Udo Krause, Recht im Alltag, Leipzig 1976, S. 61 f. 37 Vgl. Klose, Ehescheidung, S. 270. Beim nachehelichen Unterhalt wird u. a. deutlich, dass der
Schuldaspekt im sozialistischen Familienrecht weiterhin eine Rolle spielte, obwohl das Schuldprinzip bereits mit der FGB-Einführung Mitte der 1960er Jahre dem Zerrüttungsprinzip gewichen war. Auf diesen Umstand wiesen etwa Grandke, Entwicklung, S. 87; sowie Christina Hillebrand, Die familienrechtlichen Richtlinien des Obersten Gerichts der DDR, Hamburg 2003, S. 131, hin. Nach Ansicht der Verfasserin ist jedoch von einem »subjektiven Zerrüttungsprinzip« zu sprechen, um einerseits auf das formal-rechtliche Prinzip und die praktische Fokussierung auf den Grad der Zerrüttung hinzuweisen. Andererseits verweist der Begriff auf die Dynamiken, die das Geri cht zu einer subjektiven Beurteilung anhielten, wer das Scheitern der Ehe maßgeblich verursacht hatte. 38 Vgl. Anita Gran dke, Familienrecht, in: Uwe-Jens Heuer (Hg.), Die Rechtsordnung der DDR: Anspruch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1995, S. 187; Klose, Ehescheidung, S. 271–273; Großekathöfer, Gleichberechtigung, S. 162 f. 39 Im Rahmen der Studie zur Scheidungspraxis wurden an einem ostdeutschen Gericht Scheidungsakten aus den Jahren 1980 bis 2000 qualitativ analysiert. Aus Gründen des Datenschutzes und der Anonymisier ung werden im Zusammenhang mit Personen und Orten Pseudonyme verwendet. Auch das Gericht wird fiktiv als Kreis- bzw. Amtsgericht Zeeskau (KGZ bzw. AGZ) benannt. Dieses Vorgehen folgt dem Beispiel der Rechtshistorikerin Inga Markovits, die das Kreisgericht Lüritz im Rahmen ihrer Studie zum Rechtsalltag in einem Kreisgericht der DDR ebenfalls fiktiv benannte, vgl. Inga Markovits, Gerechtigkeit in Lüritz. Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte, München 2006. Die Kreisgerichte der DDR wurden Anfang der 1990er Jahre zu Amtsgerichten, vgl. Deutscher Bundestag, Materialien zur Deutschen Einheit und zum Aufbau in den neue n Bundesländern, Drs. 12/6854, 8.2.1994, http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/12/068/1206854.pdf, S. 291, [17.6.2014].
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Gericht sprach Frau Legro daraufhin für »die Zeit bis zur Erwerbsmöglichkeit« Unterhalt zu und verzichtete auf eine konkrete Befristung.40 Frau Hirse hatte hingegen ursprünglich mit ihrem Mann vereinbart, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres ihres Kindes zu Hause zu bleiben. Erst als es in der Ehe zu Spannungen kam, hatte sie vorgeschlagen wieder arbeiten zu gehen und ihr Kind in die Krippe zu geben. Obwohl dem Gericht bekannt war, dass Frau Hirse frühestens in sechs Monaten mit einem Krippenplatz rechnen konnte, erhielt sie lediglich für zwei Monate nach der Scheidung zusätzlich zum Kindesunterhalt einen Unterhaltszuschuss.41 Die beiden Ausschnitte weisen darauf hin, dass das Gericht die Gewährung von Unterhalt neben einer grundsätzlichen Bereitschaft auch an ein ersichtliches Bemühen zur Erwerbstätigkeit knüpfte. Nacheheliche Zahlungen waren in der von Doppelverdienerehen und einem weitreichenden Kinderbetreuungssystem geprägten sozialistischen Gesellschaft jedoch kaum nachgefragt. Schon in den 1970er Jahren hatten viele Frauen keinerlei Kenntnis von der Möglichkeit, Geschiedenenunterhalt geltend zu machen, zeigten aber auch kaum Interesse daran, wenn die Gerichte auf diese Option aufmerksam machten.42 Am Ende der DDR-Zeit wurde Unterhalt lediglich »in etwa 3 Prozent der Scheidungsfälle geltend gemacht und zugesprochen«.43 Der Ehegattenunterhalt war aus der Scheidungswelt der DDR verdrängt worden. Die einstigen Partner waren nach der Scheidung nicht nur rechtlich, sondern auch wirtschaftlich unabhängig voneinander. Sie erwarben auch eigene Rentenansprüche, sodass das Familiengesetzbuch der DDR kein Pendant zum Versorgungsausgleich enthielt, um die Altersvorsorge eines nicht erwerbstätigen Ehepartners im Scheidungsfall abzusichern.44 Die Haltung, mit der Scheidung die familienrechtlichen Bindungen auch in ökonomischer Hinsicht zu beseitigen, wird auch in den Interviews45 mit ostdeutschen Richterinnen und Richtern deutlich. Der Familienrichter Stefan Grelow schätzt beispielsweise ein, dass eine Scheidung nicht mit einem Nachteil verbunden gewesen sei, da Frauen aufgrund ihrer eigenen Erwerbstätigkeit finanziell nicht von ihrem Mann abhängig waren.46 Richter Ralf Malow sah darin für die Eheleute zugleich die Chance, einen »Schlussstrich zu ziehen«.47
40 KGZ, Urteil, Zeeskau Mai 1980, in: AGZ, Legro/Legro 8/80, Bl. 20. 41 Vgl. Reinhold Thiele, Ehescheidungsklage, Zeeskau März 1982, in: AGZ, Hirse/Hirse 4/82,
Bl. 5; KGZ, Urteil, Zeeskau Apr. 1982, in: AGZ, Hirse/Hirse 4/82, Bl. 21. 42 Vgl. Grandke, Entwicklung, S. 181; Großekathöfer, Gleichberechtigung, S. 171. 43 Limbach/Willutzki, Entwicklung des Familienrechts, S. 13. 44 Vgl. ebd., S. 13 f. 45 Im Rahmen des Dissertationsprojektes wurden 18 Oral-History-Interviews mit verschiedenen Akteuren aus den ›alten‹ und ›neuen‹ Bundesländern geführt. Auch in diesem Zusammenhang werden Namen und Orte lediglich unter Verwendung von Pseudonymen benannt. 46 Vgl. Christiane Randow / Stefan Grelow, Teiltranskript des Interviews vom 29.4.2013 in Leegau. Teiltranskript und Audiodatei im Privatarchiv Anja Schröter, S. 6. 47 Ralf Malow, Transkript des Interviews vom 16.4.2013 in Kathau. Transkript und Audiodatei im Privatarchiv Anja Schröter, S. 33.
UNABHÄNGIGE FRAUEN 303
Nach dem politischen Umbruch 1989/90 befand sich die DDR zwischen der Volkskammerwahl am 18. März 1990 und dem Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 in ihrer »demokratischste[n]« Phase.48 In dieser Zeit erließ die Volkskammer zahlreiche Gesetze, um die DDR beitrittsfähig zu machen. In der Annahme, dass sich die Rechtsangleichung »nicht im Schnellverfahren, sondern nur auf längere Sicht verwirklichen«49 ließe, machte eine bereits im Frühjahr 1990 beim Ministeriums der Justiz der DDR eingesetzte Arbeitsgruppe »Rechts- und Justizreform« unter anderem Vorschläge für das Familienrecht.50 Das im Juli 1990 von der Volkskammer verabschiedete, aber erst am 1. Oktober 1990 in Kraft getretene Familienrechtsänderungsgesetz (FamRÄG 90)51 sollte dem »Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse Rechnung tragen«.52 Während der Beitrittsgespräche war im August desselben Jahres jedoch die Entscheidung getroffen worden, die einheitliche Rechtsordnung zum 3. Oktober 1990 auch auf das Familienrecht auszudehnen.53 Das FamRÄG 90 entfaltete somit keine praktische Relevanz. Alle Ehen, die am Tag des Beitritts noch bestanden, wurden nach den familienrechtlichen Normen des BGB geschieden.54 Die Diskussionen zur Ausgestaltung der Unterhaltsregelungen im FamRÄG 90 verweisen jedoch auf die Prägungen, die Ostdeutsche mit in die vereinigte Gesellschaft brachten. So wurde nach der Erinnerung der ostdeutschen Rechtswissenschaftlerin Anita Grandke bei den Beratungen »lebhaft« über den Unterhalt für Ehegatten debattiert. Es 48 Thomas Lindenberger, Der lange Sommer einer kurzen Demokratie. Die DDR zwischen
›Wende‹ und Vereinigung , in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 352. 49 Ministeriums der Justiz der DDR, Arbeitsgruppe »Rechts- und Justizreform«. Zur Durchführung einer auf die Rechtsangleichung beider deutscher Staaten gerichteten Rechts- und Justizreform, in: Beilage zu Neue Justiz 6/1990, S. III. 50 Grandke, Entwicklung, S. 188. 51 Gesetz zur Änderung des Familiengesetzbuchs der DDR – Familienrechtsänderungsgesetz (FamRÄG 90) – vom 20.7.1990, GBl. DDR I 1990, S. 1038. 52 Limbach/Willutzki, Entwicklung des Familienrechts, S. 16. 53 Vgl. Siegfried Willutzki, Erö ffnungsansprache, in: Neunter Deutscher Familiengerichtstag vom 23. bis 26. Oktober 1991 in Brühl. Ansprachen und Referate. Berichte und Ergebnisse der Arbeitskreise, Bielefeld 1992, S. 1 f.; Limbach/Willutzki, Entwicklung, S. 16. Roenne weist darauf hin, dass die Verhandlungen zum Einigungsvertrag insgesamt auf beiden Seiten mit der Annahme begonnen hätten, dass we ite Teile des DDR-Rechts übergangsweise fortbestehen würden. Erst Anfang August 1990 habe es eine überraschende Weisung »von höchster politischer Ebene« gegeben, nach der »grundsätzlich die Rechtsordnung der Bundesrepublik zu übernehmen sei«. Es sei unklar, wer diesen Entschluss gefasst hatte. Einiges weise aber auf Klaus Kinkel, 1990 noch Staatsse kretär im Justizministerium und seit 1991 Bundesjustizminister, hin. Vgl. Hans Hubertus von Roenne, »Politisch untragbar …?« Die Überprüfung von Richtern und Staatsanwälten der DDR im Zuge der Vereinigung Deutschlands, Baden-Baden 1997, S. 78. 54 Vgl. Wolfgang Adlerstein / Thomas Wagenitz, Nachehelicher Unterhalt und Versorgungsausgleich in den neuen Bundesländern, in: FamRZ – Zeitschrift für das gesamte 1990, S. 1300– 1308; Reichel, Ergänzende Bemerkungen, S. 88 f.
304 Anja Schröter
sei über die Frage diskutiert worden, ob jegliche »rechtliche Bindung zwischen den Geschiedenen als Partner mit der Scheidung grundsätzlich wirklich beendet sind oder nunmehr weit reichende Folgerechte und -pflichten begründet werden sollen«.55 Damit war zugleich eine grundsätzliche Entscheidung verbunden, die vorherrschenden Einstellungsmuster zumindest zeitweilig gesetzlich fortzuschreiben oder sich an das Versorgermodell des BGB anzunähern. Im Ergebnis lehnten sich die Regelungen zwar formal an die Kriterien an, die nach bundesdeutschem Recht56 die Unterhaltszahlungen rechtfertigten, inhaltlich wurden sie jedoch anders ausgestaltet und auch die Befristung auf zwei Jahre blieb bestehen. Nachdem Krankheit und Kinderbetreuung schon nach sozialistischem Recht Gründe darstellten, die nach § 29 FGB unter strengeren Maßstäben als in der Bundesrepublik ausnahmsweise die Gewährung von Unterhalt begründeten, wurde nun ebenso wie im BGB auch das »Alter« explizit genannt.57 Im Hinblick auf die Betreuung von Kindern wird jedoch deutlich, dass die Prägungen aus der sozialistischen Gesellschaft weiterhin handlungsleitend waren. Die »häusliche Betreuung und Erziehung der Kinder« musste zumindest von den Eheleuten vereinbart worden sein oder Gründe aufweisen, die »in der Person eines Kindes« lagen.58 Grandke erklärt, somit sei »bewusst klargestellt« worden, dass auch der betreuende Elternteil grundsätzlich erwerbstätig sein konnte und somit keinen Anspruch auf Unterhalt hatte, sobald Betreuungsmöglichkeiten für gesunde Kinder vorhanden waren.59 Während sich die ostdeutsche Gesellschaft bereits im Übergang befand, blieb die Grundüberzeugung bestehen, dass beide Partner erwerbstätig sein und somit auch nach der Scheidung unabhängig voneinander agieren und wirtschaften konnten. Auch in den letzten Monaten der Existenz der DDR grenzten sich die Gesetzgeber vom Versorgerleitbild des BGB ab. Erwerbslosigkeit erkannte das FamRÄG 9060 nur begrenzt als Grund für Unterhaltszahlungen eines Ehegatten an den anderen an. Die Rechtfertigung musste sich »aus der Entwicklung oder Scheidung der Ehe« ergeben. Laut Grandke sollte ein Geschiedener nicht für Probleme in die Pflicht genommen werden, »die ihre Ursache nicht in der Ehe, sondern in den gesellschaftlichen Bedingungen haben«.61 Dies spielte in Abgrenzung zu den bisherigen Erwerbsmöglichkeiten in der sozialistischen Gesellschaft auf die zu erwartende Problematik der Arbeitslosigkeit unter den Bedingungen der Marktwirtschaft im vereinten Deutschland an. Grandke zufolge habe sich bei der Gesetzgebung die Meinung durchgesetzt, dass
55 56 57 58 59 60 61
Grandke, Entwicklung, S. 190. Vgl. §§ 1569 ff. BGB. Vgl. § 29 I, Ziff. 1 und 2 FamRÄG 90; Grandke, Entwicklung, S. 190. § 29 I, Ziff. 3 FamRÄG 90. Grandke, Entwicklung, S. 190. § 29, Ziff. 4 FamRÄG 90. Grandke, Entwicklung, S. 190.
UNABHÄNGIGE FRAUEN 305
Frauen auch nach der Wende an ihrer beruflichen Tätigkeit und der so begründeten Selbstständigkeit festhalten wollen und dass ihnen (in Umbruchszeiten weniger denn je) eine Verweisung auf den Ehegattenunterhalt nicht wirklich hilft, sie sogar die Gefahr in sich trägt, ihre Abhängigkeit zu verlängern und zu verfestigen.62
Die in der sozialistischen Gesellschaft erlernte Überzeugung, dass mit der Scheidung nicht nur ein Schlussstrich unter die Ehe und somit emotionale Bindung, sondern auch unter die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen den Partnern gezogen wurde, bestand fort. Und dies obwohl diese Grundeinstellung durch gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen – wie die umfassende sozioökonomische Absicherung sowie die Garantie eines Arbeitsplatzes – getragen und geprägt worden war, die künftig nicht mehr verlässlich vorhanden sein würden.
II. Ostdeutsche Praxis unter gesamtdeutschen Bedingungen Ab dem 3. Oktober erweiterten sich die Spielräume für die Inanspruchnahme einer nachehelichen Versorgung für Ostdeutsche mit der unmittelbaren Überleitung des bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet wesentlich. Zwar galt auch im Scheidungsrecht der Bundesrepublik der Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit, er wurde aufgrund des vorherrschenden Allein- bzw. Zuverdienermodells in der westdeutschen Rechtspraxis jedoch weniger streng ausgelegt. Im Kontrast zum Grundgedanken des sozialistischen Systems sollten es die gesetzlichen Regelungen der nicht erwerbstätigen Frau ermöglichen, ihren Lebensstandard auch nach der Scheidung aufrechtzuerhalten,63 sodass der Unterhalt einen gängigen Regelungsgegenstand bei westdeutschen Scheidungen bildete. Ganz anders in Ostdeutschland: Ein Blick in die Rechtspflegestatistik des Statistischen Bundesamtes zeigt, dass Unterhalt im Beitrittsgebiet in den 1990er Jahren deutlich seltener verhandelt wurde als in den ›alten‹ Bundesländern. Wird etwa die Zahl der Verfahren, die den Unterhalt für den Partner zum Gegenstand hatten, ins Verhältnis zur Anzahl aller erledigten Scheidungsverfahren gesetzt, ergibt sich der in Abbildung 1 gezeigte Trend. Es wird zwar sowohl in den ›neuen‹ als auch in den ›alten‹ Bundesländern ein leichter Abwärtstrend der Unterhaltsquote sichtbar, er ebnete den Unterschied zwischen Ost und West aber nicht ein. Während die westdeutsche Quote von über 50 Prozent auf unter 40 Prozent sank, fiel sie im Beitrittsgebiet von fast 25 Pro-
62 Ebd., S. 208. 63 Vgl. Schlüter, BGB-Familienrecht 1991, S. 115, 131; Böttcher, Scheidung in Ost- und West-
deutschland, S. 4. »Personen, die aufgrund von Kinderbetreuung, Alter oder Krankheit nicht arbeiten konnten bzw. keine angemessene Erwerbsarbeit fanden«, Böttcher, Scheidung in Ostund Westdeutschland, S. 4.
306 Anja Schröter
17,1
1997
1998
10,0 0,0
1995
1996
35,6
37,4
14,1
18,2
1994
21,0
1993
23,2
24,9
20,0
24,2
30,0
14,8
40,0
42,7
45,0
46,8
40,0
49,3
50,0
52,4
60,0
1999
2000
Abb. 1: Unterhalt für den Ehegatten als Gegenstand des Verfahrens 1993–2000 in Prozent. Eigene Berech-
Abb. 1: Eigene Berechnung basierend
nung basierend auf Werten aus den Jahresberichten 1993 bis 2000 zu den Familiengerichten, herausgege-
Familiengerichten, vom Statistischen Bundesamt, ben vom Statistischenherausgegeben Bundesamt, Wiesbaden 1996 bis 2001, S. 10.64 Wiesbaden 1996 bis 2001, S. 10.
64
Es wird zwar sowohl in den ‚neuen‘ als auch in den ‚alten‘ Bundesländern zent auf unter 15 Prozent. Dies bedeutete weiterhin einen signifikanten Unterschied von rund bis 25 Prozent. sichtbar, er ebnete Abwärtstrend der20Unterhaltsquote
Erste Erkundungen Anfang der 1990er Jahre zeigen, dass unabhängig von der Erwerbskonstellation beider Partner entweder gänzlich über die Unterhaltsfrage sank, fiel sieoder im der Beitrittsgebiet vonVerzicht fast 25erklärt Prozent auf 65unter 15 Prozent. geschwiegen ausdrückliche wurde. Die untersuchten Gerichtsakten aus den Jahren 1990 bis 2000 lassen erkennen, dass es sich dabei weiterhin einen signifikanten Unterschied von rund 20 bis 25 Prozent. nicht um ein Phänomen der Anfangszeit nach der deutschen Einheit handelte, Erkundungen auch Anfang der 1990er Jahre zeigen Jahre eine unsondernErste Ehegattenunterhalt im weiteren Verlauf der 1990er tergeordnete Rolle spielte. 52 Fällen, die Informationen über die die Regelung zur Erwerbskonstellation beiderIn Partner entweder gänzlich über Unterhaltsf nachehelichen Versorgung enthielten, wurden nur sieben Mal Unterhaltszahlununtersuchten Verzicht oder der ausdrückliche Verzicht erklärt wurde. 65 Die gen vereinbart. In den übrigen Fällen war hingegen der wechselseitige auf Unterhalt dominant. Zwar waren die Partner häufig aufgrund von ArbeitsloJahren 1990 bis 2000 lassen erkennen, dass es sich dabei nicht um sigkeit bzw. geringen Einkommen leistungsunfähig oder verdienten ähnlich viel. Anfangszeit nach der Einheit handelte, sondern die Ehegattenunterhalt auch Auffällig ist jedoch, dassdeutschen sie auch bei Einkommensdifferenzen, Zahlungen begründetVerlauf hätten, überwiegend auf nachehelichen Unterhalt Rolle verzichteten. weiteren der 1990er Jahre eine untergeordnete spielte.Wäre In 52 Fällen, der Verzicht ausgeblieben, hätten ebenso viele Männer wie Frauen diese Zahlun-
aber nicht ein. Während die westdeutsche Quote von über 50 Prozent auf unter 40
Informationen über die Regelung zur nachehelichen Versorgung enthielten, wurden
Mal Unterhaltszahlungen vereinbart. In den übrigen Fällen 64 Die ›neuen‹ Bundesländer sind in der jährlichen Datensammlung des Statistischen Bundesamtes zu den Familiengerichten erst seit 1993 erfasst. 65 Vgl. Grandke, Entwicklung, S. 138, 154 f.
bzw. geringen Einkommen leistungsunfähig oder verdienten ähnlich viel. A dass sie auch bei Einkommensdifferenzen, die Zahlungen begründet hätten,
UNABHÄNGIGE FRAUEN 307
gen leisten müssen. Der Verzicht sicherte somit beide Seiten ab. Sie verzichteten dabei häufig auch im Hinblick auf zukünftige Lebenslagen, also auch für den Fall der Not und der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit, auf eine Unterstützung durch den ehemaligen Partner. Dem notariellen Hinweis auf die Tragweite dieser Vereinbarung folgte bisweilen die Erklärung, weiterhin arbeiten zu wollen.66 Die Befunde aus den Akten können durch die Wahrnehmung der am Scheidungsprozess beteiligten Richter und Anwälte ergänzt werden. So zeigten sich 1992 im Rahmen einer KSPW-Studie67 befragte westdeutsche Juristen erstaunt darüber, dass ostdeutsche Frauen – trotz gleicher gesetzlicher Rahmenbedingungen – öfter auf den Unterhalt verzichteten als Frauen aus den ›alten‹ Bundesländern. Zwar habe die finanzielle Situation eine Unterstützung des ehemaligen Partners tatsächlich häufig nicht zugelassen, aber auch der bloße Versuch, Unterhaltszahlungen zu erwirken, blieb mehrfach aus.68 Aus der Gewohnheit, selbst erwerbstätig zu sein, hätten ostdeutsche Frauen ein »Gefühl von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit entwickelt, was als starkes Motiv in die Entscheidung über den Antrag zum Ehegattenunterhalt eingeht«.69 Männer und Frauen hätten es »als ungerecht empfunden« und abgelehnt, dass aus einer unbefristeten Unterhaltsregelung ein über die Scheidung hinaus reichendes Abhängigkeitsverhältnis entstand. In ihrer Grundhaltung, sich selbst versorgen zu wollen, hätten Ostdeutsche sich wesentlich von Frauen aus dem früheren Bundesgebiet unterschieden. Außerdem müsste aufgrund der wirtschaftlichen Lage beider Ehepartner häufig davon ausgegangen werden, dass diese finanzielle Leistung gar nicht erbracht werden konnte. Die Frauen, die vielfach bereits ihren Arbeitsplatz verloren hatten, seien außerdem der Meinung, ihr »Ehemann habe genauso wenig wie sie selbst«. Sie hätten deshalb gar nicht versucht, Unterhalt zu bekommen, und sich mit »erstaunlichem … Optimismus … ins Nichts fallen« lassen.70 Eine westdeutsche Anwältin berichtet auch aus ihrer Arbeit im Land Brandenburg 1996 bis 2002,71 ihre Mandantinnen hätten ihr »häufig signalisiert, dass ein Unterhaltsverzicht gewünscht sei und man nichts mehr voneinander wolle.« Die Rechtsanwältin beobachtete unter anderem, dass durch »die eigene Berufstätigkeit und das Selbstverständnis der ostdeutschen Frauen die Inanspruchnahme
66 Vgl. exemplarisch: Herr und Frau Hohdeich, Scheidungsvereinbarung, Nov. 1995, in: AGZ,
Hohdeich/Hohdeich 4/95, Beiakte, Bl. 2. 67 Vgl. Rottleuthner-Lutter, Scheidungsrecht. Die Studie wurde von der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern (KSPW) gefördert. 68 Vgl. ebd., S. 15 f. 69 Ebd., S. 15. Ähnlich auch Grandke, Entwicklung, S. 207 f. 70 Rottleuthner-Lutter, Scheidungsrecht, S. 15 f. 71 Vgl. Dorothea Hecht, Unter-halt-ungen. Ehegattenunterhalt in den neuen Bundesländern aus praktischer Sicht, in: Sabine Berghahn (Hg.), Unterhalt und Existenzsicherung. Recht und Wirklichkeit in Deutschland, Baden-Baden 2007, S. 187.
308 Anja Schröter
von Ehegattenunterhalt hinten angestellt« wird.72 Sie schlussfolgert, dass durch die eigenen Einkünfte einerseits objektive Gründe entstanden seien, keinen Ehegattenunterhalt in Anspruch zu nehmen. Als »subjektives Element« käme andererseits hinzu, dass die Vorstellung, auf der Grundlage eines gemeinsamen Budgets füreinander aufzukommen, für Ostdeutsche mit der Trennung geendet habe. Aus diesem Selbstverständnis heraus sei das Bedürfnis, Ansprüche zu stellen, entsprechend gering gewesen.73 Im Vordergrund habe, abgesehen vom Kindesunterhalt, die »möglichst spurlose Auflösung der ehelichen Verbindung« und die Vermeidung weiterer Auseinandersetzungen gestanden.74 Die Anwältin sah es als Vorteil an, dass durch die finanzielle Trennung »ökonomische Abhängigkeiten« und »Rosenkriege« ausblieben.75 Auch eine Studie zu den wirtschaftlichen Folgen von Trennung und Scheidung arbeitete für die 1990er Jahre heraus, dass Ehegattenunterhalt in den ›neuen‹ Bundesländern deutlich seltener vorkam, »nahezu keine Rolle« spielte76 und beim Verzicht der »Wunsch nach Unabhängigkeit und [einem] Schlußstrich« gerade bei ostdeutschen Frauen persistent war.77 Mehr noch verwiesen die interviewten Juristen aus Ost und West darauf, wie »verblüfft« ostdeutsche Bürger auf die Option reagierten, Unterhalt geltend machen zu können.78 Die westdeutsche Anwältin Marie Bergmann berichtet: Während westdeutsche Mandantinnen massiv auf Unterhalt gedrängt hätten, seien Ostdeutsche hingegen gar nicht mit dieser Erwartung gekommen. Zwar habe sich das Bild nach 20 Jahren auch gewandelt, aber der Versorgungsgedanke aus der Ehe heraus sei im Osten nach wie vor weniger ausgeprägt als im Westen.79 Die ostdeutsche Richterin Astrid Bülow erklärt: [D]a kamen dann unterhaltsrechtliche Fragen, die vorher eigentlich kaum eine Rolle spielten, Unterhalt für die Ehegatten zum Beispiel, das war für viele dann doch sehr irritierend, äh für mich auch (Lachen).80
An Bülows Aussage wird deutlich, dass auch ostdeutsche Richter sich erst an die neuen Möglichkeiten im Hinblick auf Ehegattenunterhalt gewöhnen mussten. So Hecht, Unter-halt-ungen, S. 191. Ebd., S. 191 f. Ebd., S. 193. Ebd., S. 197 f. Hans-Jürgen Andreß u. a., Wenn aus Liebe rote Zahlen werden. Über die wirtschaftlichen Folgen von Trennung und Scheidung, Wiesbaden 2003, S. 190. 77 Hans-Jürgen Andreß / Barbara Borgloh / Miriam Güllner u. a., Zwischenbericht über die Projektarbeiten im Zeitraum 1.11.1999–31.12.2000, Bielefeld 2001, S. 48 f., http://eswf.uni-koeln. de/forschung/wts/pwd/bericht01.pdf [11.11.2016]. 78 Marie Bergmann, Transkript des Telefoninterviews vom 23.5.2013. Transkript und Audiodatei im Privatarchiv Anja Schröter, S. 2. 79 Vgl. ebd. 80 Astrid Bülow / Heike Ebelow, Transkript des Interviews vom 6.5.2013 in Studau. Transkript und Audiodatei im Privatarchiv Anja Schröter, S. 25. 72 73 74 75 76
UNABHÄNGIGE FRAUEN 309
schilderte die ostdeutsche Familienrichterin Evelin Tretschkow im Interview, dass sie wenig Verständnis für westdeutsche Hausfrauen gehabt habe, als diese »flotte Locke« unbefristet Unterhalt erwirken wollten.81 Das gab’s bei mir kaum. … Hab ich gesagt: ›Moment, die und die Schonzeit und dann sind sie in der Lage, och wenn sie nicht’s gemacht ham, dann könn se wenigsten putzen gehn.
Tretschow meint, das sei diese Mentalität … ich hab die Ost-Frau vor mir sitzen und für die is klar, die muss arbeiten gehen, und für mich is klar, die muss arbeiten gehen. Und da hab ich dann ne West-Frau vor mir sitzen … ja wieso … ja, jetz musste aber arbeiten gehen, du kannst dich hier nich ausruhen. Das war für mich das Verständnis.82
Dies habe sich auch die ersten Jahre fortgesetzt. Sie schätzte rückblickend ein, dass die Frauen erst »blutsaugend geworden« seien. Das Streitpotential habe zu-, die gegenseitige Rücksicht mit steigendem ökonomischem Druck abgenommen. Neben der bereits beschriebenen Bereitschaft ostdeutscher Frauen zum Verzicht auf Unterhalt, erinnert sich die Richterin, dass auch sie selbst auf diesen hingewirkt habe, weil die meisten Frauen zunächst ja Arbeit hatten bzw. man damals »ja wirklich noch davon ausgegangen« sei, »dass die Frauen wieder in Arbeit kommen«. Das habe mit den Jahren abgenommen. Heute würde sie den Verzicht nicht mehr unbedingt nahelegen.83 Trotz der Veränderungen auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt zeigen Studien, dass die Erwerbsneigung ostdeutscher Frauen über den Jahrtausendwechsel hinweg anhaltend hoch war. So betrug die Frauenerwerbsquote etwa 1993 in den ›neuen‹ Bundesländern 73,3 Prozent und im alten Bundesgebiet 59,6 Prozent. Im Jahr 2004 lag sie im Osten bei 73,4 Prozent, im Westen bei 64,5 Prozent.84 Damit sank zwar die Differenz zwischen Ost und West, ein Blick in die Erwerbskonstellationen von Paarhaushalten zeigt jedoch, dass die Annäherung vor allem im Teilzeitbereich stattgefunden hat.85 Zwischen 1990 und 2007 war 81 Evelin Tretschkow, Transkript des Interviews vom 17.10.2013 in Studau. Transkript und Au-
diodatei im Privatarchiv Anja Schröter, S. 13–16. 82 Ebd., S. 16. 83 Ebd., S. 14–16. 84 Vgl. Wolfram Kempe, Hohe Erwerbsbereitschaft ostdeutscher Frauen unabhängig vom Einkommensniveau, in: Wirtschaft im Wandel 1/1998, https://www.econstor.eu/handle/10419/ 142875, S. 20 f. [20.9.2015]. 85 Erwerbskonstellationen in Paarhaushalten 1990 Ost: 65 Prozent beide Vollzeit, 16 Prozent Mann Vollzeit / Frau Teilzeit, 13 Prozent Mann Vollzeit / Frau nicht erwerbstätig, 6 Prozent andere Konstellationen; West: 22 Prozent beide Vollzeit, 26 Prozent Mann Vollzeit / Frau Teilzeit, 34 Prozent Mann Vollzeit / Frau nicht erwerbstätig, 18 Prozent andere Konstellationen. 2007 Ost: 41 Prozent beide Vollzeit, 28 Prozent Mann Vollzeit / Frau Teilzeit, 6 Prozent Mann Vollzeit / Frau nicht erwerbstätig, 25 Prozent andere Konstellationen; West: 23 Prozent beide Vollzeit,
310 Anja Schröter
der Anteil von westdeutschen Paarhaushalten, in denen beide Partner Vollzeit arbeiteten, lediglich von 22 auf 23 Prozent gestiegen. In Ostdeutschland war er hingegen von 65 auf 41 Prozent gesunken. Im Vergleich zwischen Ost und West waren im Beitrittsgebiet dennoch bei fast doppelt so vielen Paaren sowohl die Frau als auch der Mann voll erwerbstätig. Die Teilzeitquote stieg hingegen in Ost- und Westdeutschland an. Ein Vollzeit arbeitender Mann und eine Teilzeit arbeitende Frau wurden in den ›alten‹ Bundesländern zum führenden Modell. Innerhalb dieser Konstellation hegten ostdeutsche Frauen jedoch häufiger den Wunsch, Vollzeit bzw. nahezu Vollzeit zu arbeiten86 und absolvierten eher 30 Wochenstunden, während westdeutsche durchschnittlich 20 Stunden arbeiteten.87 Im Gegensatz zu westdeutschen Frauen und Müttern entschieden sie sich überwiegend nicht aus familiären Verpflichtungsgefühlen, sondern aus Mangel an Vollzeitstellen für die Teilbeschäftigung. Der überwiegende Teil der Frauen in den ›neuen‹ Bundesländern strebte die Erwerbstätigkeit an und lehnte den generellen, aber auch befristeten Rückzug in die Familie ab.88 Sie hielten »weitgehend an ihrem Geschlechterarrangement«89 fest, wechselten nicht in ein Ernährer-Hausfrauen-Verhältnis oder Teilzeitmodell. Westdeutsche Frauen hatten hingegen immer mehr Teilzeittätigkeiten aufgenommen, sodass hier das Zuverdienermodell zunahm.90 Die Erosion des Ernährer-Hausfrauen-Modells im früheren Bundesgebiet fügt sich zwar auch in einen europaweiten Trend.91 Im Zusammenhang mit der Frauenerwerbstätigkeit, der Kinderbetreuung und dem damit verbundenen Geschlechterarrangement sind jedoch auch befördernde Impulse aus der ostdeutschen Gesellschaft im Sinne eines Ost-West-Transfers zu verzeichnen.92 40 Prozent Mann Vollzeit / Frau Teilzeit, 20 Prozent Mann Vollzeit / Frau nicht erwerbstätig, 17 Prozent andere Konstellationen, vgl. Peuckert, Familienformen 2012, S. 411. 86 Vgl. Elke Holst / Anna Wieber, Bei der Erwerbstätigkeit der Frauen liegt Ostdeutschland vorn, in: DIW Wochenbericht 40/2014, S. 973. 87 Vgl. Peuckert, Familienformen 2012, S. 410 f. 88 Vgl. Rüdiger Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel, Wiesbaden 2004, S. 397. 89 Tanja Mühling / Jessica Schreyer, Beziehungsverläufe in West- und Ostdeutschland. Stabilität und Übergänge, Bamberg 2012, www.ifb.bayern.de/imperia/md/content/stmas/ifb/…/ mat_2012_4.pdf, S. 21 f. [18.5.2013]. 90 Vgl. ebd. 91 Vgl. u. a. Christiane Kuller, Soziale Sicherung von Frauen – ein ungelöstes Strukturproblem im männlichen Wohlfahrtsstaat. Die Bundesrepublik im europäischen Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 201; Esther Geisler / Michaela Kreyenfeld, Müttererwerbstätigkeit in Ost- und Westdeutschland. Eine Analyse mit dem Mikrozensus 1991–2002, Oktober 2005, http://www.gesis.org/fileadmin/upload/institut/wiss_arbeitsbereiche/gml/Veranstaltungen/ 4.NK_2005/Papers/01_Geisler_Kreyenfeld.pdf, S. 32 [21.10.2015]; Peuckert, Familienformen 2012, S. 412 f. 92 Vgl. Carsten Wippermann, 25 Jahre Deutsche Einheit. Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit in Ostdeutschland undWestdeutschland,Berlin 2015,http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/25-Jahre-Deutsche-Einheit-Gleichstellung-und-Geschlechtergerechtigkeit-in-Ostdeutschland-und-Westdeutschland,property=pdf,bereich=bmfsf j,sprache=de,rwb=true.pdf, S. 11–12; 16–17 [21.10.2015].
UNABHÄNGIGE FRAUEN 311
Die westdeutsche Familienrichterin Hanna Nordmann erinnert aus ihrer Tätigkeit in einem ostdeutschen Gericht, dass sich ostdeutsche Frauen im Gegensatz zu westdeutschen auch noch im Jahr 2000 eigenständig fühlten. Die Frauen seien »so aufgewachsen«, hätten »das nicht anders gekannt«, »immer ihr eigenes Geld gehabt« und mit der Scheidung einen »Schlussstrich« gezogen. Die Beanspruchung von Ehegattenunterhalt »wär denen nie in den Sinn gekommen«, sagt Nordmann.93 Sie schätzt ein, die »Wende« habe in den letzten Jahren auch im Westen Deutschlands einen »Bewusstseinswandel« und ein Verständnis dafür befördert, dass die Frauen arbeiten und die Kinder in eine »Krippe« gehen könnten.94 Eine bis heute in den ›neuen‹ Bundesländern praktizierende westdeutsche Familienrechtsanwältin meint, dem westlichen Versorgungsgedanken würde zudem durch die 2008 in Kraft getretene Unterhaltsrechtsreform mittlerweile entgegengewirkt. Hier hätte jedoch »die gesamtdeutsche Wirklichkeit … den Westen eingeholt«.95
III. Schlussbemerkung Anhand des Ehegattenunterhalts zeigt sich, wie Prägungen aus der sozialistischen Gesellschaft über den politischen Systemwechsel hinweg fortwirken. Die ursprünglich vom SED-Regime gesteuerte Emanzipation von oben trug zu einer inneren Emanzipation ostdeutscher Frauen, einem Selbstverständnis von Unabhängigkeit bei, welches auch nach dem politischen Umbruch 1989/90 fortbestand. Dies zeigt sich nicht nur in dem Moment, als auch die Gesetzgeber der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, trotz neuer Gestaltungsspielräume, weiterhin an dieses Geschlechterverständnis anknüpften. Im Zuge der deutschen Einheit wurde die sozioökonomische Situation unsicherer. Somit erodierte ein wichtiger Unabhängigkeitsgarant, während sich die rechtlichen Spielräume für die Inanspruchnahme von Unterhalt vergrößerten. Zudem wurden die gesellschaftlichen Wertvorstellungen um das westdeutsche Bild von Ehe und Familie erweitert. 93 Hanna Nordmann, Transkript des Interviews vom 13.5.2013 in Hornstädt. Transkript und
Audiodatei im Privatarchiv Anja Schröter, S. 13 f. 94 Nordmann, Transkript, S. 14 f. 95 Bergmann, Transkript, S. 2. Inwiefern ostdeutsche Einstellungs- und Verhaltensmuster Auswirkungen auf die Unterhaltsrechtsreform hatten (vgl. Gesetz zur Änderung des Unterhaltsrechts vom 21.12.2007, BGBl. I 2007, S. 3189), bedarf zusätzlicher Untersuchungen. Im Rahmen der Studie zur Scheidungsrechtspraxis und -kultur in Ostdeutschland ergeben sich jedoch insgesamt Hinweise, dass ostdeutsche Prägungen und Praktiken auch Auswirkungen auf die Entwicklung in der gesamtdeutschen Gesellschaft hatten. Dies knüpft an neuere Forschungsansätze an, nach denen auch in den ›alten‹ Bundesländern Veränderungen zu beobachten sind, die unter anderem von der deutschen Einheit beeinflusst wurden. So prägte etwa Philipp Ther im Zusammenhang mit politischen Entwicklungen in Ostdeutschland den Begriff der »KoTransformation«: Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 278.
312 Anja Schröter
Ostdeutsche Frauen sahen sich dadurch zwar mit dem Versorgungsgedanken und Vorstellungen von einer guten Hausfrau und Mutter konfrontiert.96 Aus dem eigenen Selbstverständnis von der erwerbstätigen, unabhängigen Frau und dem verinnerlichten Sekundärpatriarchalismus hatte sich aber nachhaltig eingeprägt, dass es keine gleichwertige Leistung ist, »Nur-Hausfrau«97 zu sein. Entsprechend waren sie weniger bereit, sich vom ehemaligen Partner versorgen zu lassen und über den rechtlichen Weg an ihn gebunden zu bleiben. Sie hielten auch unter den etablierten Rahmenbedingungen des westdeutschen Systems an ihrer Selbstständigkeit fest, was sich auf die Durchsetzung von rechtlichen Ansprüchen und somit auf die Rechtskultur in Ostdeutschland auswirkte. Dies illustriert, dass der Transformationsprozess in der Praxis eines äußerlich einheitlichen Gefüges auch nach der Implementierung der Institutionen und Normen nicht abgeschlossen war, sondern facettenreich blieb und im Zusammenhang mit der deutschen Einheit nicht nur ein Transfer von West nach Ost stattfand. Ostdeutsche orientierten sich weiterhin vorrangig an ihren erlernten Einstellungs- und Handlungsmustern, statt die etablierten Spielräume des bundesdeutschen Systems zu nutzen, und trugen sie in die Vereinigungsgesellschaft. Mit der Unterhaltsrechtsreform des Jahres 2008 wurde die Eigenverantwortung der Geschiedenen auch im Familienrecht der gesamtdeutschen Gesellschaft stärker betont. Dies entsprach mehr der ostdeutschen als der westdeutschen Praxis.98 Mit Blick auf die Geschlechterverhältnisse zeigt sich zudem, dass etwa in der Anerkennung der Frauenerwerbstätigkeit auch Rückwirkungen auf Westdeutschland zu verzeichnen sind. Inwiefern sich diese Impulse auch auf die Scheidungspraxis im früheren Bundesgebiet auswirken, wird weiterzuverfolgen sein.
96 So sahen sich ostdeutsche Frauen in politischen Auseinandersetzungen »oft genötigt …, die
Rabenmutter-These zurückzuweisen«; Ursula Schröter, Ostdeutsche Frauen – sechs Jahre nach dem gesellschaftlichen Umbruch. Auswertung empirischer Daten zur sozialen Situation ostdeutscher Frauen, Berlin 1995, S. 10. 97 Ebd., S. 11. 98 Vgl. Gunter Schlickum, Scheidungsberater für Männer. Seine Rechte und Ansprüche bei Trennung und Scheidung, München 2008, S. 85; Wilfried Schlüter, BGB-Familienrecht, Heidelberg 2012, S. 141; Grandke, Entwicklung, S. 208.
Teresa Tammer
COMING OUT IN DIE DEUTSCHE EINHEIT Vom Aufbruch und Abschied der DDR-Schwulenbewegung
A
m 9. November 1989 hatte Coming out, der erste und einzige in der DDR produzierte Film über eine schwule Liebe, Premiere im Ost-Berliner Kino International.1 Jens Bisky, der seinen damaligen Lebensgefährten, den Drehbuchautor Wolfram Witt, zur ersten Aufführung begleitete, erinnert sich: »Der Vorhang ging auf, das Ereignis, das … im endlosen Hin und Her immer wieder besprochen worden war, Mittelpunkt meines zivilen Lebens, begann.«2 Mittelpunkt seines zivilen Lebens war Coming out deshalb, weil der NVA-Offizier Bisky die Entstehung des Films von der Idee bis zur der nach sieben Jahren erreichten Kinopremiere hautnah miterlebt hatte. Für das Paar, wie für viele andere Schwule und Lesben, war Coming out nicht nur ein Filmereignis, sondern die lang ersehnte Sichtbarmachung homosexuellen Lebens in ihrem Land. Im Anschluss an die Premiere feierten der Regisseur Heiner Carow, die Mitwirkenden sowie Freunde und Bekannte in der Kneipe Zum Burgfrieden in der Nähe der Bornholmer Straße. Der Abend verlief jedoch anders als geplant. Denn die Grenzübergänge wurden geöffnet und ganz Ost-Berlin schien in den Westen zu strömen, um zu sehen und zu erleben, was viele bis dahin nur aus dem Fernsehen kannten. Jens Bisky beobachtete die in den Westteil der Stadt drängenden Menschen mit gemischten Gefühlen. »Ratlos« sei er gewesen, aber auch »froh« darüber, »dass die meisten zurückkommen wollten«. So feierten sie im kleinen Kreis »bis es hell wurde, fuhren nach Hause und schalteten den Fernseher ein«.3 In der Rückschau war am 9. November 1989 die Maueröffnung für Bisky lediglich das 1 Vgl. Bert Thinius, Aufbruch aus dem grauen Versteck. Ankunft im bunten Ghetto? Randglos-
sen zu Erfahrungen schwuler Männer in der DDR und in Deutschland Ost, Berlin 1994, S. 47. 2 Jens Bisky, Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich, Berlin 2004, S. 202. 3 Ebd., S. 204.
314 Teresa Tammer
zweitwichtigste Ereignis, das die Filmemacher und deren Unterstützer zugleich aber befürchten ließ, Coming out könne die Ostdeutschen nicht mehr erreichen. Dass der Film in der DDR produziert und aufgeführt werden durfte, war eine Sensation, brach er doch gleich mehrere Tabus. Er zeigte erstmals den Alltag von schwulen Männern in der DDR und porträtierte die Homosexuellen-Szene in Ost-Berlin. Thematisiert wurden Gewalt gegen Schwule und Ausländer sowie die bis dato nicht erfolgte Rehabilitierung homosexueller Opfer des Nationalsozialismus. Zudem gab Coming out den Schwulen in der DDR im wahrsten Sinne des Wortes ein Gesicht. Denn die Kneipen-Szenen drehte Carow in dem beliebten Lokal Zum Burgfrieden, wo die Statisten auch im wirklichen Leben ein- und ausgingen.4 Den Machern war ein bemerkenswert ehrlicher und damit kritischer Film gelungen, dessen Relevanz jedoch in dem Augenblick zu verpuffen drohte, als die Mauer fiel, der Staat sein Meinungsmonopol verlor und die Bevölkerung legalen Zugang zu Filmen, Zeitschriften und Büchern aus dem Westen erhielt. Die Kritik von Coming out richtete sich also an einen Staat, der gerade begann, sich aufzulösen, und wurde damit ziellos. Die Premiere von Coming Out am 9. November 1989 steht daher heute symbolisch zum einen für die Entwicklung der DDR-Schwulenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren, die sich zunehmend Freiräume erkämpft und zu einer vorsichtigen Öffnung der SED für die Belange von Homosexuellen beigetragen hat. Zum anderen ist der Film Sinnbild für den Bruch, den die Schwulenbewegung der DDR erlebte, als das politische und gesellschaftliche System zerbrach, auf das ihre Ziele und Strategien ausgerichtet waren. Coming out war insofern das Ergebnis vorausgegangener Veränderungen in der DDR und markierte den Beginn eines noch weitreichenderen politischen Wandels, der die Möglichkeiten und Notwendigkeiten gesellschaftlichen Engagements neu bestimmte. Die Bedeutung des Mauerfalls und der deutschen Einheit für die DDRSchwulenbewegung und ihre Anliegen ist Thema des folgenden Beitrags. Zunächst wird die Verwendung der Begriffe ›schwul‹, ›lesbisch‹ und ›homosexuell‹ erläutert, um danach die Geschichte der Bewegung sowie des politischen Umgangs mit Homosexualität in der DDR seit den 1970er Jahren zu skizzieren. Im Anschluss soll die Phase 1989/90 in den Blick genommen werden, wobei es zu klären gilt, welche Kontinuitäten, Brüche und neuen Entwicklungen diese kennzeichneten. Welche Freiräume und Möglichkeiten eröffneten sich mit dem 9. November 1989 für die Schwulenaktivisten in der DDR und welche schlossen sich später wieder? Führte der Mauerfall, wie der Herausgeber Jean Jacques Soukup vorschlägt, zum Aufbruch der Bewegung und markierte – mit dem Historiker
4 Vgl. Kristine Schmidt, Coming Out – der Film, in: Jens Dobler (Hg.), Verzaubert in Nord-
Ost. Die Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Prenzlauer Berg, Pankow und Weißensee, Berlin 2009, S. 260–265, hier S. 261.
COMING OUT IN DIE DEUTSCHE EINHEIT 315
Günter Grau gesprochen – die deutsche Einheit ihr Ende?5 Inwiefern kann also der Zusammenbruch der DDR als eine Geschichte vom Aufbruch und Abschied der DDR-Schwulenbewegung erzählt werden? Der Beitrag ist Teil und thematischer Abschluss eines umfangreicheren Dissertationsprojekts, das die Verflechtungen schwuler Bewegungen und Politiken im geteilten Deutschland seit den 1970er Jahren zum Inhalt hat. Er basiert auf publizierten Aussagen ostdeutscher Schwulenaktivisten ab November 1989, auf ihren Erinnerungen und nachträglichen Darstellungen der Ereignisse, ihren Unterlagen und Korrespondenzen mit staatlichen Stellen sowohl vor als auch nach dem Mauerfall. Hinzu kommen Pressebeiträge in den DDR-Medien sowie zeitgenössische Beobachtungen und Retrospektiven westdeutscher Aktivisten auf die Entwicklungen der DDR-Schwulenbewegung 1989/90. Die Begriffe ›schwul‹ und ›lesbisch‹ werden im Folgenden synonym zu ›homosexuell‹ verwendet. Diese Quellenbegriffe, die im Untersuchungszeitraum von den Akteuren und Akteurinnen als Selbstbezeichnungen genutzt wurden, sollen in der Analyse beibehalten werden. Als Terminus tauchte Homosexualität erstmals 1868 auf Deutsch in zwei anonymen Texten eines österreichischen Übersetzers ungarischer Literatur auf, der sich den Namen Karl Maria Kertbeny gab. Er verwendete homosexuell als positives Identifikationsangebot und engagierte sich damit – letztlich erfolglos – gegen die Kriminalisierung sexueller Handlungen zwischen Männern im kurz zuvor gegründeten Norddeutschen Bund.6 Homosexualität markiert heute vor allem Differenz, so der Litertaturwissenschaftler David Halperin, die in der sexuellen Objektwahl zum Ausdruck kommt und gleichzeitig mehr als die sexuelle Orientierung beschreibt. Homosexualität stehe für eine exklusive Form von Subjektivität oder weist dem Individuum eine eigene sexuelle Identität zu.7 Die Verwendung des Wortes ›schwul‹ lässt sich im deutschen Sprachraum seit Anfang des 20. Jahrhunderts nachweisen. In polizeilichen Unterlagen wurden vor allem Frauen, denen man sexuelle Beziehungen zu anderen Frauen ›unterstellte‹, so bezeichnet. Schwul war damit kein ausschließliches Schimpfwort. Von Vertretern homosexueller Interessen wurde der Begriff jedoch bis Anfang der 1970er Jahre gemieden.8 Erst dann kam es zu einer aktivistischen Aneignung desselben, mit der gleichsam eine neue Identität in Abgrenzung zu den Bewegungen der
5 Vgl. Jean Jacques Soukup / Olaf Brühl (Hg.), Die DDR, die Schwulen, der Aufbruch. Ver-
such einer Bestandsaufnahme, Gleichen-Reinhausen 1990; Günter Grau, Schwulenpolitik am Beginn des neuen Jahrhunderts. Eine Bestandsaufnahme, in: ders./Olaf Brühl (Hg.), Schwulsein 2000. Perspektiven im vereinigten Deutschland. Hamburg 2001, S. 9–25, hier S. 14. 6 Vgl. David M. Halperin, How to Do the History of Male Homosexuality, in: GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 1 (2000), S. 87–123, hier S. 109. 7 Vgl. ebd., S. 112. 8 Vgl. Jens Dobler, Schwule Lesben, in: Andreas Pretzel / Volker Weiß (Hg.), Rosa Radikale. Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre, Hamburg 2012, S. 113–123, hier S. 116 ff.
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1950er und 1960er Jahre entworfen wurde.9 Das neue schwule Subjekt wollte sich nicht mehr um Integration in die Gesellschaft bemühen, sondern sich stattdessen deutlich von dieser distanzieren.10 In der Bundesrepublik bezeichneten sich auch Frauen als schwul, bevor sie schließlich ab Mitte der 1970er Jahre in der politischen Bewegung nur noch als Lesben auftraten und sich dadurch von den Männern abgrenzten.11 In dieser Zeit verlor schwul zunehmend seine explizit aktivistische Bedeutung und ist heute das am weitesten verbreitete deutsche Synonym für homosexuell in Bezug auf Männer. Wenngleich im Folgenden von Schwulen, Lesben und Homosexuellen die Rede sein wird, ist es nicht möglich und nicht gewollt, einzelnen Personen eine Identität zuzuschreiben. Die Bezeichnungen rekurrieren vielmehr auf die historischen Akteure und Akteurinnen einer Geschichte der Homosexualität sowie der Schwulen- und Lesbenbewegung in Deutschland. Wie der Sprachgebrauch vermuten lässt, organisierten sich in der Bundesrepublik Schwule und Lesben spätestens ab Mitte der 1970er Jahre getrennt voneinander. In der DDR soll es dagegen eine gemeinsame Bewegung schwuler Männer und lesbischer Frauen gegeben haben, erklären der Historiker Jens Dobler und der Politikwissenschaftler Harald Rimmele.12 Bei genauerer Betrachtung ergibt sich für die DDR allerdings ein differenzierteres Bild. Es gab gemischte Gruppen, wie beispielsweise den Ost-Berliner Sonntags-Club. Zudem wurden zahlreiche Initiativen von Männern geleitet und von diesen in der Mehrheit besucht, wie etwa der Arbeitskreis Homosexualität in der Evangelischen Studentengemeinde in Leipzig. Daneben existierten aber auch getrennte Gruppen, wie die beiden Arbeitskreise Schwule in der Kirche und Lesben in der Kirche in Ost-Berlin. Die Frage nach den Differenzen und Gemeinsamkeiten schwuler und lesbischer Aktivitäten in der DDR hat die Forschung bisher nicht umfassend beantwortet, weshalb derzeit weder von getrennten noch von einer gemeinsamen Bewegung ausgegangen werden kann.13 Feststellen lässt sich allerdings, dass sowohl das Quellenmaterial als auch die Literatur zu homosexuellen Bewegungen in der DDR männlich-schwul dominiert sind, weshalb der vorliegende Beitrag die Schwulenbewegung in den Mit9 Vgl. Jens Dobler / Harald Rimmele, Schwulenbewegung, in: Roland Roth / Dieter Rucht
(Hg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt a. M. 2008, S. 541–556, hier S. 550. 10 Vgl. Magdalena Beljan, Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren der BRD, Bielefeld 2014, S. 84. 11 Vgl. Dobler, Schwule Lesben, S. 120 f. 12 Vgl. Dobler/Rimmele, Schwulenbewegung, S. 542. 13 Auch die Beiträge von lesbischen Aktivistinnen geben hierzu keine eindeutige Antwort. Vgl. Marinka Körzendörfer, Getrennt kämpfen, vereint zuschlagen? Das Verhältnis von Lesben und Schwulen innerhalb der BürgerInnenrechts-Bewegung(en) in der DDR, in: HeinrichBöll-Stiftung Sachsen-Anhalt / LSVD Sachsen-Anhalt (Hg.), Lesben und Schwule in der DDR, Magdeburg/Halle (Saale) 2008, S. 83–87; Ursula Sillge, Damals war’s! Zu Bedingungen, Strukturen und Definitionen der lesbisch-schwulen Bewegung in der DDR, in: ebd., S. 109–115.
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telpunkt stellt, ohne dabei jedoch das lesbische Engagement zu negieren oder die Aspekte der gemeinsamen Geschichte auszublenden. Sicher ist, dass Frauen eine nicht unbedeutende Rolle in der hier vorgestellten Geschichte gespielt haben. Der Fokus auf männliche Akteure kann daher nur auf den Umstand verweisen, dass die Geschichte der Schwulen- und Lesbenbewegung in der DDR – wie etwa die Historikerin Maria Bühner nahe legt – noch der eingehenden Erforschung lesbischer Aktivitäten bedarf.14
I.
Homosexualität in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren
Im Jahr 1968 wurde in der DDR § 175 StGB, der »beischlafähnliche Handlungen« mit Gefängnis bestrafte, abgeschafft und durch § 151 ersetzt. Gleichgeschlechtliche Sexualkontakte zwischen Erwachsenen über 18 Jahren waren damit fortan auch formell nicht mehr strafbar, nachdem die »einfache« Homosexualität bereits seit 1957 faktisch nicht mehr geahndet wurde.15 Zudem galt der neue Paragraph nun auch für sexuelle Handlungen zwischen Frauen.16 In der Bundesrepublik wurde § 175 StGB ein Jahr später novelliert und ein Schutzalter für mannmännliche Sexualkontakte von 21 Jahren eingeführt. Doch auch als hier 1973 das Schutzalter auf 18 Jahre abgesenkt wurde, blieben die westdeutschen Frauen bis zur endgültigen Streichung des § 175 StGB im Jahr 1994 davon ausgenommen.17 In Folge der Strafrechtsentschärfung entstand in der Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre eine schwule Emanzipationsbewegung. Es gründeten sich politische, zumeist links orientierte Gruppen, die öffentlich für die Rechte von Homosexuellen eintraten. In den westdeutschen Großstädten, allen voran in West-Berlin, blühte außerdem eine neue homosexuelle Kultur auf, in der sowohl intellektuelle Auseinandersetzungen und alternative Lebensformen als auch kommerzielle Lifestyle-Angebote und subkulturelle Vergnügen ihren Platz fanden.18 In vielen westeuropäischen Ländern sowie in den USA lassen sich Anfang 14 Vgl. Maria Bühner, »Beiträge für eine Chronik, die vielleicht einmal geschrieben wird« Per-
spektiven auf den Forschungsstand zu Lesben in der DDR, in: Heinrich-Böll-Stiftung SachsenAnhalt, Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), »Das Übersehenwerden hat Geschichte« Lesben in der DDR und in der friedlichen Revolution, Tagungsdokumentation, Halle 2016, S. 110–121, hier S. 110. 15 Vgl. Christian Schulz / Michael Sartorius, Paragraph 175. (abgewickelt). Homosexualität und Strafrecht im Nachkriegsdeutschland. Rechtsprechung, juristische Diskussionen und Reformen seit 1945, Hamburg 1994, S. 52 f. 16 Vgl. Christian Schäfer, »Widernatürliche Unzucht« (175, 175a, 175b, 182 a. F. StGB). Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945, Berlin 2006, S. 249. 17 Vgl. ebd., S. 152. 18 Vgl. Franz X. Eder, Die lange Geschichte der »Sexuellen Revolution« in Westdeutschland (1950er bis 1980er Jahre), in: Peter-Paul Bänziger u. a. (Hg.), Sexuelle Revolution? Sexualitätsgeschichte im deutschsprachigen Raum seit den 1960er-Jahren, Bielefeld 2015, S. 25–59; Andreas Pretzel / Volker Weiß, Die westdeutsche Schwulenbewegung der 1970er Jahre. Annä-
318 Teresa Tammer
der 1970er Jahre ähnliche Entwicklungen feststellen, obwohl sich die Staaten in ihren strafrechtlichen Traditionen stark unterschieden.19 In den größeren Städten der DDR, wie Ost-Berlin und Leipzig, existierten ebenfalls Kneipen und Cafés, die von schwulen Männern aufgesucht wurden. Für einen derartigen Aufbruch der Selbstorganisation und öffentlichen Sichtbarmachung von Homosexuellen wie im Westen bot die DDR jedoch – wenig überraschend – keinen Raum. Die einzige und erste ostdeutsche Schwulengruppe der 1970er Jahre war die Ost-Berliner Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin (HIB), die sich jedoch aufgrund fehlender Treffpunkte und der Aussichtslosigkeit, offiziell anerkannt zu werden, 1979 auflösen musste.20 Die Ost-Berliner Aktivisten der 1970er Jahre können als Anfang einer DDRSchwulenbewegung bezeichnet werden, auch wenn sie bei Weitem nicht die Größe und öffentliche Aufmerksamkeit erhielten wie ihre ›Bewegungsschwestern‹ im Westen. An ihren Veranstaltungen nahmen mitunter bis zu 200 Personen teil, die Gruppe selbst hatte jedoch nur etwa 15 feste Mitglieder.21 Ob sie deshalb weniger Einfluss auf die staatliche Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität hatte als die westdeutsche Bewegung, kann nicht zweifelsfrei bejaht werden. Denn mit ihren zahlreichen Eingaben und Schreiben an Ministerien, die Volkskammer und andere staatliche Stellen veranlasste sie die Behörden, die HIB und ihre Forderungen zumindest wahrzunehmen.22
herungen an ein legendäres Jahrzehnt, in: dies. (Hg.), Rosa Radikale. Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre, Hamburg 2012, S. 9–26; Michael Holy, Jenseits von Stonewall. Rückblicke auf die Schwulenbewegung in der BRD 1969–1980, in: ebd., S. 39–79; Michael Holy, Lange hieß es, Homosexualität sei gegen die Ordnung. Die westdeutsche Schwulenbewegung (1969–1980), in: Manfred Herzer (Hg.), 100 Jahre Schwulenbewegung. Dokumentation einer Vortragsreihe in der Akademie der Künste, Berlin 1998, S. 83–109. 19 In Frankreich, Belgien, Spanien und Italien wurden homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen seit dem frühen 19. Jahrhundert nicht mehr bestraft, während in Großbritannien das Strafrecht erst 1967 entsprechend geändert wurde. Vgl. Dagmar Herzog, Syncopated Sex. Transforming European Sexual Cultures, in: The American Historical Review 5 (2009), S. 1287–1308, hier S. 1300. 20 Zur Frühgeschichte der DDR-Schwulenbewegung: Peter Rausch, Die vergessene Lesben- und Schwulengeschichte in Berlin-Ost (70er Jahre), in: Ilse Kokula / Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweise (Hg.), Geschichte und Perspektiven von Lesben und Schwulen in den neuen Bundesländern, Senatsverwaltung für Jugend und Familie Berlin 1991, S. 21–26; Kay Nellißen / Kristine Schmidt, Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin, in: Dobler, Verzaubert in Nord-Ost, S. 178–185. 21 Vgl. Josie McLellan, Glad to be Gay Behind the Wall. Gay and Lesbian Activism in 1970 s East Germany, in: History Workshop Journal 1 (2012), S. 105–130, hier S 105. 22 Dazu u. a.: N. N., Schreiben an das Berliner Bezirkssekretariat des Kulturbundes der DDR, 23.10.1978; Peter Rausch, Schreiben an den Rechtsausschuss der Volkskammer der DDR, 22.10.1978, Schwules Museum, DDR, HIB, Nr. 4, Korrespondenz; Siegfried Spremberg, Schreiben an das Ministerium des Inneren der DDR, 18.06.1976, ebd. Bestand Bodo Amelang, Nr. 1 Korrespondenz.
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In den frühen 1980er Jahren begann eine neue Phase der Schwulenbewegung in der DDR. Eine Voraussetzung dafür war die Bereitschaft evangelischer Gemeinden, alternativen Gruppen Räume zur Verfügung zu stellen und sie damit vor dem Zugriff des Staates zu schützen. Der erste Arbeitskreis Homosexualität unter dem Dach der Kirche wurde im April 1982 in der Evangelischen Studentengemeinde in Leipzig gegründet. Einer seiner maßgeblichen Initiatoren war der 1953 in Bismark in der Altmark geborene evangelische Theologe Eduard Stapel, dem aufgrund seiner sexuellen Orientierung die Ordination zum Pastor verweigert worden war. Stapel unterstützte die Gründung kirchlicher Homosexuellengruppen, vernetzte diese und wurde ab 1985 bei der Evangelischen Stadtmission Magdeburg sogar offiziell für »Schwulen-Arbeit« angestellt.23 Bis 1989 gab es in mindestens 14 evangelischen Gemeinden der DDR homosexuelle Arbeitskreise, die sich regelmäßig in einer »Koordinierungsgruppe« trafen und gemeinsame Ziele und Strategien formulierten.24 Von der Staats- und Parteiführung wurden sie, wie alle anderen Initiativen von unten, insbesondere in den Räumen der Kirche, als eine Bedrohung wahrgenommen und vom Ministerium für Staatssicherheit umfassend beobachtet und ›operativ‹ bearbeitet. Vollständig verboten wurden sie jedoch nicht.25 Ab Mitte der 1980er Jahre veränderte sich dann auch allmählich der staatliche Umgang mit dem Thema Homosexualität. Kontrolliert wurden die Gruppen zwar weiterhin, aber es wuchs die Einsicht, dass Schwule und Lesben stärker in die ›sozialistische Gesellschaft‹ integriert werden müssten; gerade auch, um den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen.26 An der Humboldt-Universität zu Berlin wurde auf Anregung der SED-Bezirksleitung Berlin 1984 die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Homosexualität eingerichtet, die sich erstmals mit den Schwierigkeiten von Homosexuellen im Alltag auseinandersetzte und Empfehlungen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation gab. Die Gesellschaft für Sozialhygiene und 23 Vgl. Christoph Links, Biographie Eduard Stapel, aus: Helmut Müller-Enbergs u. a. (Hg.), Wer
war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, Berlin 2010, http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363 %3B-1424.html?ID=3369 [27.07.2016]. 24 Vgl. Kristine Schmidt, Lesben und Schwule in der Kirche, in: Dobler, Verzaubert in NordOst, S. 212. Dazu kamen einzelne Gruppen, die sich ab 1987 außerhalb der Kirche organisieren durften. Vgl. N.N., Beratungsmöglichkeiten in den Bezirken der DDR, in: Friedrich-SchillerUniversität Jena / Hans Schmigalla (Hg.), Psychosoziale Aspekte der Homosexualität, Jena 1989, S. 232–235. 25 Vgl. Eduard Stapel, Warme Brüder gegen Kalte Krieger. Schwulenbewegung in der DDR im Visier der Staatssicherheit, Magdeburg 1999; Günther Grau, Erpressbar und tendenziell konspirativ. Die »Bearbeitung« von Lesben und Schwulen durch das MfS, in: Weibblick 16 (1994), S. 21–25; Dominik Heck, Homosexualität in der DDR, Erfurt 2012, S. 42. 26 Vgl. Abteilung II (Evangelische Kirchen und Religionsgemeinschaften) beim Staatssekretär für Kirchenfragen, »Zu Aktivitäten in den evangelischen Kirchen in der DDR gegenüber homosexuellen Bürgern sowie weitergehenden Überlegungen für eine organisierte staatliche und gesellschaftliche Einflußnahme in diesem Bereich«, 01.10.1986, Bundesarchiv Berlin, DO 4/821, Staatssekretär für Kirchenfragen.
320 Teresa Tammer
die Gesellschaft für Dermatologie der DDR veranstalteten gemeinsame wissenschaftliche Tagungen und in den DDR-Medien erschienen in der Folgezeit vermehrt Beiträge, die zu Toleranz gegenüber Schwulen und Lesben aufriefen. Einzelne Gruppen bekamen ab 1987 sogar die Möglichkeit, sich in den Räumen staatlicher Jugendclubs zu treffen.27 1988 beschloss die Volkskammer der DDR schließlich das Strafrechtsänderungsgesetz, mit dem Homo- und Heterosexualität durch ein einheitliches Schutzalter von 16 Jahren gleichgestellt wurden.28 In der Bundesrepublik galt unterdessen immer noch der § 175 StGB, der erst im Zuge der Rechtsangleichung zwischen den ›alten‹ und den ›neuen‹ Bundesländern im Jahr 1994 endgültig abgeschafft werden sollte.29 Der grundsätzliche Wandel im Umgang mit Homosexualität blieb vor dem Mauerfall in der DDR jedoch aus, weil der SED-Staat das Sprechen über Homosexualität monopolisierte und aufgrund seines Misstrauens gegenüber jeder Form der Selbstorganisation auch den homosexuellen Gruppen den Zugang zur Öffentlichkeit verwehrte. Mit Ausnahme von Info-Blättern konnten weiterhin keine eigenen Zeitschriften herausgegeben, kein unabhängiger Verein, Club oder Verband gegründet werden und bestimmte Themen, wie beispielsweise das Schicksal von Homosexuellen während des Nationalsozialismus, blieben tabuisiert.30
II. »Revolutionsmonate« – Aufbruch und Kontinuitäten nach dem Mauerfall Mit dem Mauerfall erlebte die Schwulenbewegung in der DDR einen unverhofften Aufbruch. Da nun die entsprechenden rechtlichen Beschränkungen wegfielen, entstanden aus den bestehenden Gruppen zahlreiche Vereine sowie neue Initiativen.31 Ihre Anliegen erhielten deutlich mehr Aufmerksamkeit in den nun ungleich offener berichtenden DDR-Medien und konnten in den Demokratisierungsprozess eingebracht sowie zum Teil erfolgreich durchgesetzt werden. Der Mauerfall und der Zusammenbruch des SED-Regimes eröffneten den Schwulenaktivisten damit neue Handlungsräume und Partizipationsmöglichkeiten, wo27 Vgl. Kristine Schmidt, Workshop: Psychosoziale Aspekte der Homosexualität, in: Dobler,
Verzaubert in Nord-Ost, S. 229–230; dies., Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Homosexualität« an der HU Berlin, in: ebd., S. 222–228; Heck, Homosexualität in der DDR, S. 42 ff.; Bert Thinius, Erfahrungen schwuler Männer in der DDR und in Deutschland Ost, in: Wolfram Setz (Hg.), Homosexualität in der DDR. Materialien und Meinungen, Hamburg 2006, S. 9–88, hier S. 29 ff. 28 Vgl. Gesetzesblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Bekanntmachung der Neufassung des Strafgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik, 31.01.1989. 29 Vgl. Schäfer, »Widernatürliche Unzucht«, S. 282. 30 Vgl. Thinius, Aufbruch, S. 48. 31 Vgl. Heck, Homosexualität in der DDR, S. 61.
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durch sie ihre Ziele nun unter günstigeren Bedingungen weiterverfolgen konnten. Mit dem absehbaren Ende der DDR geriet jedoch auch die Grundlage ins Wanken, auf der Aktivisten versuchten, die ostdeutschen Schwulen mit ihren Ideen zu erreichen. Mitte November 1989, weniger als zwei Wochen nach dem Mauerfall, fand bereits das erste Treffen von Vertretern schwuler Gruppen und Initiativen aus Ost und West auf westdeutschem Territorium im Waldschlösschen bei Göttingen statt. Mit dem Mauerfall waren die Möglichkeiten des Austausches und der Vernetzung deutlich leichter und vor allem legal geworden. Begegnungen zwischen ost- und westdeutschen Aktivisten, Transfers von Informationen und Materialien hatte es allerdings schon in den 1970er Jahren gegeben. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nahmen die Zahl und Intensität deutsch-deutscher schwulenbewegter Kontakte dann deutlich zu.32 So plante der Bundesverband Homosexualität (BVH) spätestens seit August 1989 das Treffen im Waldschlösschen zum Thema »Homosexualität in der DDR«, ohne dass die Öffnung der Grenze absehbar gewesen wäre.33 Das Interesse aneinander und der Wunsch nach einem besseren gegenseitigen Verständnis und Austausch kamen also mitnichten erst nach dem 9. November auf. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten lag zum Zeitpunkt der Tagung im Waldschlösschen vom 17. bis zum 19. November 1989 noch in weiter Ferne. Deshalb sprach seinerzeit auch noch niemand von einer gesamtdeutschen Schwulenbewegung. Die Hoffnungen der Teilnehmer aus dem Osten zielten weniger auf ein wiedervereinigtes Deutschland, als vielmehr auf eine demokratisierte DDR, in der sie ihre Aktivitäten fortsetzten konnten. Insgesamt sahen sie die neue Situation als große Chance, die schwulenpolitischen Ziele in der DDR zu erreichen, die schon im Juni 1989 von den kirchlichen Arbeitskreisen Homosexualität in der Karl-Marx-Städter Plattform erarbeitet worden waren. Dazu gehörten unter anderem ein Antidiskriminierungsgesetz und die Rehabilitierung von homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus.34 In der Hoffnung, die bisherige Arbeit im größeren Handlungsspielraum ausweiten und den politischen und gesellschaftlichen Wandel mitbestimmen zu können, verliehen die Aktivisten der Bewegung eine neue Dynamik. Ein deutliches 32 Vgl. Teresa Tammer, Schwul bis über die Mauer. Die Westkontakte der Ost-Berliner Schwu-
lenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren, unveröff. Masterarbeit, Humboldt-Universität zu Berlin 2013. 33 Vgl. Brief des BVH-Mitglieds Stephan [ohne Nachname] an Rainer und Dirk zur Organisation der Tagung »Homosexualität in der DDR« im Waldschlösschen, 02.08.1989, Schwules Museum, Bundesrepublik Deutschland, Sammlung Bundesverband Homosexualität, Nr. 56, Politik IV. 34 Vgl. Jürgen Lemke, Die Akustik des Brückenbogens. Eine rosa-rote Vision, in: Soukup, Die DDR, S. 11–15, hier S. 14; N. N., Dokumentation: Für Anerkennung und Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen. Grundsätze und Maßnahmen (Karl-Marx-Städter Plattform), in: ebd., S. 137–144.
322 Teresa Tammer
Zeichen dafür waren die zahlreichen Neugründungen. Hatte es vor dem Mauerfall insgesamt etwa 18 kirchliche homosexuelle Arbeitskreise und nichtkirchliche Clubs in der DDR gegeben, waren es im Januar 1990 bereits 37 schwule, lesbische, aber auch trans*- und AIDS-Initiativen.35 Viele der Gruppen, die sich schon länger engagierten, nutzten nun auch die Gelegenheit, sich eine legale und unabhängige Form zu geben. Aus bereits existierenden kirchlichen und nichtkirchlichen Gruppen gingen im Laufe des Jahres 1990 etwa der lebensart e.V. in Halle, Rat & Tat e.V. in Rostock und Gerede e.V. in Dresden hervor.36 Der seit Mitte der 1980er Jahre bestehende Sonntags-Club erklärte sich im Juli 1990 zum eingetragenen Verein.37 Ab 1989/90 konnten auch eigene Publikationen erstellt werden. Während davor nur hektographierte Programm-Infos für den »innerkirchlichen Dienstgebrauch« verteilt werden durften, stand den neuen Zeitschriften jetzt allenfalls noch das Finanzierungsproblem im Weg. Den Anfang machte im März 1990 die Gruppe Courage aus Ost-Berlin mit ihrer Zeitschrift Die andere Welt. Gerede in Dresden gab die Zeitschrift Gegenpol heraus. Die Homosexuelle Initiative Leipzig publizierte ein Magazin namens Minislib und Jürgen Zehnle vom Rosa Archiv in Leipzig ging ein Joint Venture mit der Kölner Zeitschrift First ein, die nun regelmäßig eine Seite mit Gay News aus der DDR veröffentlichte.38 Außerdem schrieben DDR-Autoren nun vermehrt Beiträge für westliche Schwulenzeitschriften.39 Im Februar 1990 riefen die leitenden Mitarbeiter kirchlicher Arbeitskreise Homosexualität in Berlin und Leipzig, unter ihnen Eduard Stapel, den Schwulenverband der DDR (SVD) ins Leben. Mit dem Anspruch, sich auch in die ›alten‹ 35 Vgl. N.N., Beratungsmöglichkeiten in den Bezirken der DDR, in: Friedrich-Schiller-Uni-
versität Jena, Psychosoziale Aspekte, S. 232–235; N. N., Adressen schwuler und lesbischer Gruppen / Klubs in der DDR, in: Soukup, Die DDR, S. 169–177. 36 Vgl. Begegnungs- und BeratungsZentrum »lebensart« e. V., http://www.bbz-lebensart.de/ CMS/index.php?page=geschichte-des-vereins [05.03.2016]; rat+tat Rostocks Verein für Schwulen und Lesben, http://ratundtat.gaymeinsam-mv.de/index.php/wir/vereinsgeschichte.html [05. 03.2016]; GEREDE e. V. (Hg.), schwul-lesbisch in dresden. 10 Jahre GEREDE, Dresden 1997, S. 44 ff. 37 Vgl. Jens Dobler / Kristine Schmidt / Kay Nellißen, Sonntags im Club, in: Dobler, Verzaubert in Nord-Ost, S. 238–247, hier S. 243. 38 Vgl. N.N., Im Osten viel Neues, in: Lambda Nachrichten. Zeitschrift der Homosexuellen Initiative Wien 12 (1990), S. 56. Die neuen Zeitschriften bestanden zunächst aus kopierten Schwarz-Weiß-Seiten, deren Vorlagen aus Fotos und Texten zusammengeklebt worden waren. Sie hatten vor allem das lokale und regionale Publikum zur Zielgruppe, weshalb eine relativ niedrige Auflage und Reichweite angenommen werden kann. Minislib erschien nur bis November 1990. Gegenpol entwickelte sich später zu einem ostdeutschen Szenemagazin, das kostenlos vor allem über Freizeit- und Beratungsangebote informierte. 2012 wurde der Vertrieb eingestellt. Die andere Welt erschien bis 2002 unter wechselnden Herausgebern. Vgl. http://www. csgkoeln.de/ZF_Register/ztschm.htm [04.08.2016]; http://gegenpol.net/ [05.08.2016]; Schwules Museum, Findbuch D: DDR, Sammlung Arbeitsgemeinschaft Homosexualität Courage. 39 Vgl. u.a. Jürgen Lemke, Amerika, Amerika. Two, four, six eight … gay is just as good as straight … Schwule und Lesben machen Kinder, in: Du & Ich 12 (1990), S. 13–14.
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Bundesländer auszudehnen, gab er sich ab Juni 1990 den Namen Schwulenverband in Deutschland. 1999 benannte sich dieser in Lesben- und Schwulenverband (LSVD) um und ist heute die größte Bürgerrechts- und Wohlfahrtsorganisation für Homosexuelle in Deutschland. Zu dessen Gründung erklärte Eduard Stapel 1994: Naja, das war die Hoch-Zeit. Für mich waren das damals die bisher besten Monate meines Lebens – die Revolutionsmonate. Die Gründung selbst war allerdings für mich nicht so etwas Riesiges, weil sie ja nur die logische Konsequenz dessen war, was wir vorher gemacht haben. Wir waren zwar kein Verband gewesen, aber die Schwulenbewegung hatte vorher schon – wenigstens inhaltlich – wie ein Verband funktioniert. Wir hatten ja schon lange unser Programm. Der Verband war nur ein Mittel zum Zweck.40
Für Eduard Stapel war der SVD die Weiterführung seines und des Engagements der Schwulenbewegung in der DDR unter anderen Bedingungen. Für ihn, wie für viele Aktivisten und Initiativen, war es selbstverständlich und logisch, die neue Freiheit zur Weiterentwicklung der bisherigen Arbeit zu nutzen. Innerhalb weniger Wochen und Monate nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes nahmen die Aktivitäten von Homosexuelleninitiativen deutlich zu. Die Voraussetzungen dafür waren das Engagement schwuler Gruppen und einzelner Personen in den Jahren davor; aber auch die politischen Rahmenbedingungen, die seit Mitte der 1980er Jahre eine gesellschaftliche Öffnung für das Thema Homosexualität befördert hatten. Die Auflösung des Machtapparates und der Wegfall staatlicher Verbote waren damit der Katalysator für die Professionalisierung und Ausdifferenzierung der DDR-Schwulenbewegung im Jahr 1990. Die Aktivisten selbst waren erstaunt über die Geschwindigkeit des Wandels 1989/90, waren sie es doch gewohnt, vertröstet oder mit ihren Anliegen abgewiesen zu werden. Vertreter des Homosexuellen-Integrations-Projekts Potsdam (HIP) beispielsweise forderten bei einer Veranstaltung im Januar 1990 die staatlichen Behörden dazu auf, ihnen Räume zur Verfügung zu stellen und sie endlich als Verein anzuerkennen. Nur wenige Tage später wurden alle Forderungen erfüllt. Der plötzliche Sinneswandel in der Politik wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass sich noch im Jahr 1989 der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung in Potsdam, Günther Jahn, als »moralisch anständiger Bürger« von den Veranstaltungen des HIP im Kulturhaus »Herbert Ritter« deutlich distanzierte.41 Dass Schwulen und Lesben in Potsdam bereits vor dem Mauerfall staatliche Räume für ihre Treffen zur Verfügung gestellt wurden, verweist aber zugleich auf
40 Kurt Starke, Schwulenbewegung in der DDR. Interview von Kurt Starke mit Eduard Sta-
pel (SVD), in: ders. (Hg.), Schwuler Osten. Homosexuelle Männer in der DDR, Berlin 1994, S. 91–110, hier S. 98. 41 Jürgen Zehnle, DDR-News, in: First 17 (1990), S. 17.
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die sich bereit in den 1980er Jahren abzeichnende Öffnung des SED-Staates für die Belange von Homosexuellen. Die Friedliche Revolution ermöglichte vielen Engagierten dann, sich aus zuvor marginalisierten Positionen heraus mit eigenen Forderungen und Anliegen aktiv am politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozess zu beteiligen. So saßen an vielen der Runden Tische, besonders auf kommunaler Ebene, Vertreter und Vertreterinnen von Schwulen und Lesben, die etwa die völlige Gleichstellung von Homo- und Heterosexuellen forderten.42 Zudem kandidierten offen Homosexuelle bei den Volkskammerwahlen im März 1990 sowie für Stadtbezirksversammlungen.43 Über diese Entwicklungen und andere Themen wurde nun auch verstärkt in den DDR-Medien berichtet: über die aktuelle Rechtslage in der DDR, über die Verfolgung von Homosexuellen während des Nationalsozialismus, über internationale Treffen homosexueller Organisationen und über die neuen Gruppen in der DDR. Zudem wurden Interviews mit Aktivisten und Aktivistinnen abgedruckt.44 Vor allem das Neue Deutschland und die Junge Welt versuchten mit dieser Kommentierung das Bild einer DDR zu zeichnen, die sich für die Rechte von Homosexuellen einsetze und diese gegenüber der Bundesrepublik zu verteidigen suche.45 Hatte die SED bis Ende 1989 keinen offiziellen Standpunkt zum Umgang mit Homosexuellen eingenommen, erklärte die PDS die Gleichstellung von Schwulen und Lesben nunmehr zur Errungenschaft des Sozialismus.46 In ihrem Partei42 Vgl. Tagungsbericht Ilse Kokula über Treffen von Schwulen- und Lesbengruppen aus der
DDR und West-Berlin beim Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen des Senators für Jugend und Familie West-Berlin, 12.03.1990, Robert-Havemann-Gesellschaft, Nachlass Eduard Stapel, ESt 02, Korrespondenz; N. N., Einzigartig in der DDR: Im Bezirk Magdeburg sind auch die Homosexuellen am Runden Tisch. Club A 3 wirbt um mehr Verständnis, in: Braunschweiger Zeitung vom 20.02.1990, S. 6. 43 Vgl. Plakat in Berlin-Friedrichshain »Schwule ins Rathaus! zur Wahl am 6. Mai«, Schwules Museum, DDR, Staat und Politik, § 175 – vor der Wiedervereinigung, Nr. 2. 44 Vgl. u.a. Ursula Sillge, Ich bin homosexuell, was nun? Der Berliner Sonntags-Club – eine gute Adresse zum Selbstverständnis von Lesben und Schwulen, in: Neue Zeit vom 02.01.1990, S. 3; Holger Becker, Verfolgt, vernichtet – vergessen? Über das Schicksal Homosexueller unter der faschistischen Diktatur. Ein ND-Gespräch mit Dr. Günter Grau, in: Neues Deutschland vom 03./04.02.1990, S. 11; Beatrice Rohbeck, Schwule fordern ihre rechtliche Gleichstellung. Neuer Verband wurde in Berlin gegründet, in: Berliner Zeitung vom 28.06.1990, S. 7; N. N., Gay Games. Coming out weltweit, in: Junge Welt vom 06.03.1990, S. 8. 45 Vgl. u.a. Wolfgang Hübner, Homosexuelle gegen § 175, in: Neues Deutschland vom 20.09. 1990, S. 6; Im Parlament für Schwule und Lesben wenig Interesse, in: Neues Deutschland vom 31.08.1990, S. 2; Bekenntnistag der Homosexuellen, in: Neues Deutschland vom 25.06.1990, S. 7; Lesben und Schwule: Andersrum – na und? Christopher-Street-Day-Aktionswoche in Ost und West, in: Junge Welt vom 25.6.1990, S. 2; Chance für Minderheiten! Linkes Treffen gegen DDRVereinnahmung in Gütersloh, in: Junge Welt vom 22.5.1990, S. 5. 46 Vgl. Schreiben der PDS Fraktion in der Volkskammer an den Bundesverband Homosexualität vom 26.06.1990, Archiv Grünes Gedächtnis, B.II.1, 6092, 1–2, Deutsche Einheit, § 175;
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programm vom Februar 1990 versprach die PDS etwa die vollständige rechtliche Gleichstellung von lesbischen und schwulen Lebensgemeinschaften. Wenige Wochen später, am 24. März 1990, konnte sich in Berlin die Arbeitsgruppe Lesben- und Schwulenpolitik in der PDS konstituieren.47 Die SED-Nachfolgepartei machte sich damit zum Verbündeten der Homosexuellen und war bereit, deren Interessen politisch nachdrücklich zu vertreten. Die Absicht der ehemaligen Staatspartei war, das Beste aus ihrer Außenseiterposition zu machen, indem sie sich als Verteidigerin von Identitäten und Errungenschaften der DDR stilisierte. Dabei griff sie Ängste vor der Vereinigung auf und schürte Ressentiments gegenüber dem Westen.48 Das unterschiedliche Strafrecht in Bezug auf Homosexualität war ein geeignetes Thema, um auf die ›Fortschrittlichkeit‹ der DDR zu verweisen und vor einer Verschlechterung der Rechtslage durch die Übernahme des Grundgesetzes zu warnen: »Diese [die Homosexuellen, T.T.] müssen schließlich befürchten, daß ihnen der Beitritt zur BRD wichtige Rechte und bereits erreichte Verbesserungen in der Gleichstellung nimmt.«49 Das Neue Deutschland, aus dem das Zitat stammt, sprach vielen Schwulenaktivisten aus dem Herzen, denn in der Einschätzung, der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes sei ein Rückschritt, stimmten diese mit der PDS überein. Es war nicht ausgeschlossen, dass der bundesdeutsche § 175 StGB, der immer noch ein Schutzalter von 18 Jahren für Sex zwischen Männern vorsah, auf den Osten ausgedehnt werden würde. Zu befürchten war außerdem die Rücknahme dessen, was Homosexuelle in den Monaten nach dem Mauerfall bereits erreicht hatten. Erreicht hatten sie beispielsweise, dass in den Entwurf der am Zentralen Runden Tisch erarbeiteten DDR-Verfassung ein Diskriminierungsverbot aufgrund der »sexuellen Orientierung« aufgenommen wurde.50 Mit der Volkskammerwahl am 18. März entschied die Bevölkerung jedoch, dass es keine eigenständige DDR und damit keine neue DDR-Verfassung geben werde. Auch die Konzipierung eines neuen Grundgesetzes stand nicht mehr zur Debatte, nach dem die Volkskammer im August 1990 den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 GG beschlossen hatte. Als gescheitert können Jürgen Krauss, Ein Stück Erneuerung – Lesben- und Schwulenpolitik, in: Neues Deutschland, 14.08.1990, S. 6. 47 Vgl. NN., Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus (Entwurf), in: Neues Deutschland vom 14.02.1990, S. 3–4, hier S. 3; AG Lesben- und Schwulenpolitik, in: Neues Deutschland vom 29.03.1990, S. 5. 48 Vgl. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, Bonn 2010, S. 222. 49 N. N., Im Parlament für Schwule und Lesben wenig Interesse, in: Neues Deutschland vom 31.08.1990, S. 2. 50 Vgl. Arbeitsgruppe »Neue Verfassung der DDR« des Runden Tisches, Entwurf einer Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin April 1990, I. Kapitel, 1. Abschnitt, Artikel 1, http://www.documentarchiv.de/ddr/1990/ddr-verfassungsentwurf_runder-tisch.html#1 [05.03.2016].
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die Bemühungen von Schwulen und Lesben um ein Diskriminierungsverbot dennoch nicht bezeichnet werden, denn zumindest in einige Landesverfassungen, wie die von Brandenburg (1992), Thüringen (1993) und Berlin (1995) flossen entsprechende Formulierungen ein. Im Grundgesetz ist ein solcher Diskriminierungsschutz allerdings bis heute nicht enthalten.51 Die politischen Partizipationsmöglichkeiten von Schwulenaktivisten bestätigen die Einschätzung von Thomas Lindenberger, der die DDR zwischen dem 18. März und dem 3. Oktober 1990 als die »demokratischste« bezeichnet, die es je gegeben hat. Diese demokratische DDR sei jedoch von Beginn an mit einem Verfallsdatum versehen gewesen, erklärt Lindenberger.52 Inwieweit dies gleichermaßen auf die DDR-Schwulenbewegung zutrifft, d. h. ob diese zeitgleich zu ihrem beschleunigten Aufbruch in der »demokratischsten« DDR dem eigenen ›Abschied‹ entgegen sah, bedarf einer ausführlichen Diskussion.
III. Deutsche Einheit – Abschied der DDR-Schwulenbewegung? Zwei wesentliche Interpretationen lassen sich in den Rückschauen der ehemaligen Aktivisten auf die Bewegung in der Umbruchsphase erkennen: Zum einen betonen sie ihre aktive Teilhabe an der Umgestaltung bisherigen Strukturen. Zum anderen werden die Veränderungen als Auflösungsprozesse und Vereinnahmungen durch den Westen beschrieben. Beide Sichtweisen gilt es zu hinterfragen. Günter Grau, der selbst in kirchlichen Arbeitskreisen Homosexualität und der AIDS-Hilfe DDR engagiert war, vertritt die Ansicht, dass das Ende des politischen Systems DDR auch das Ende der DDR-Schwulenbewegung bedeutete. Beginnend mit dem Wegfall von Beschränkungen und Repressionen seit dem 9. November 1989 sei der Gegenstand verschwunden, auf den die Strategien und Ziele der Aktivisten ausgerichtet waren. Der Umbruch habe die meisten in der Bewegung gezwungen, sich zunächst um Arbeit und Auskommen zu kümmern. Weil zudem die Teilnehmer weggeblieben seien, die sich »angesichts des bunten Angebots an Spaß- und Zerstreuungsmöglichkeiten in den Subkulturen west-
51 Vgl. http://www.landtag.brandenburg.de/de/parlament/verfassung/395894 [05.03.2016]; http://
www.thueringer-landtag.de/apps/Publikationen/pic/pubdownload3.pdf [05.03.2016]; https://www. berlin.de/rbmskzl/regierender-buergermeister/verfassung/ [05.03.2016]; https://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/ rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg/245216 [05.03.2016]. Den Diskriminierungsschutz aufgrund der sexuellen Identität nahmen außerdem Bremen (2001) und das Saarland (2011) in ihre Landesverfassungen auf. Vgl.: http://www.bremen.de/fastmedia/36/ landesverfassung_bremen.pdf [05.03.2016]; http://sl.juris.de/cgi-bin/landesrecht.py?d=http://sl. juris.de/sl/gesamt/Verf_SL.htm#Verf_SL_rahmen [05.03.2016]. 52 Vgl. Thomas Lindenberger, Der lange Sommer einer kurzen Demokratie: Die DDR zwischen »Wende« und Vereinigung, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 343–352, hier S. 352.
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deutscher Großstädte am Ziel ihrer Sehnsüchte« wähnten, kommt Grau zu dem Schluss, dass die von der DDR-Schwulenbewegung aufgebauten Strukturen Anfang der 1990er Jahre fast vollständig verschwanden. In seinem Beitrag aus dem Jahr 2001 stellt Grau außerdem fest, dass die »schwule Infrastruktur« im Osten verglichen mit den westlichen Bundesländern »hinsichtlich territorialer Dichte, aber auch hinsichtlich der Differenziertheit des Angebots unterentwickelt« sei.53 Tatsächlich lösten sich Anfang der 1990er Jahre viele Gruppen und Arbeitskreise auf. Die Fortsetzung der Aktivitäten in den Räumen der Kirche sei nicht mehr notwendig gewesen, erklärt Christian Pulz, der damalige Leiter des Arbeitskreises Schwule in der Kirche in Ost-Berlin.54 Denn als das staatliche Korsett aufplatzte, zerfielen diese Kreise, die aufgrund des äußeren Drucks zusammengehalten wurden und in den Kirchgemeinden vor allem aufgrund mangelnder legaler Alternativen eine Bleibe gefunden hatten. Ein vollständiges Verschwinden schwulenbewegter Aktivitäten im Osten bedeutete das jedoch nicht; auch nicht in den evangelischen Gemeinden. Eine der ersten kirchlichen Gruppen in der DDR, der Gesprächskreis Homosexualität, besteht heute noch in der Adventgemeinde in Berlin und der Arbeitskreis Homosexualität in der Evangelischen Studentengemeinde Leipzig traf sich noch bis 1995.55 In Thüringen existieren im Juni 1990 acht Vereine und Initiativen,56 über deren Arbeit oder weitere Entwicklung konnten keine weitere Informationen gefunden werden, so dass davon ausgegangen werden muss, dass sie nur kurze Zeit existierten oder andere Formen und Namen gefunden haben. Der im November 1989 in Magdeburg gegründete Klub A-3, der sich ein Jahr später ins Vereinsregister eintragen ließ, bestand dagegen noch bis 1997.57 Auch der immer noch aktive Sonntags-Club in Berlin, Gerede in Dresden oder Rosa Linde in Leipzig sprechen gegen einen völligen Bruch homosexueller Aktivitäten in Ostdeutschland nach der deutschen Einheit. Die Zeitschrift Minislib erschien nur bis November 1990.58 Die andere Welt und Gegenpol wechselten in den 1990er und 2000er Jahren zwar mehrfach die Herausgeber und wurden 2002 bzw. 2012 schließlich ganz eingestellt, als ›Opfer der deutschen Einheit‹ können sie damit allerdings kaum bezeichnet werden.
53 Vgl. Günter Grau, Schwulenpolitik am Beginn des neuen Jahrhunderts, S. 14 f. 54 Vgl. Interview mit Christian Pulz, Berlin 12.08.2013. 55 Vgl. Michael Willig (Archiv der Evangelische Studentengemeinde Leipzig), Email an die
Autorin vom 01.05.2016. 56 Vgl. Offener Brief der Homosexuellen Initiative Thüringens an DDR- und Bundesregierung vom 30.06.1990, Schwules Museum, DDR, Staat und Politik, § 175 – vor der Wiedervereinigung, Nr. 2. 57 Vgl. Hartmut Beyer, Die Gründung des »Klubs A-3«: Ein Auftragswerk der Staatssicherheit? Hintergründe und Ursachen, in: Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt / LSVD SachsenAnhalt, Lesben und Schwule in der DDR, S. 139–140, hier S. 140. 58 Vgl. http://www.csgkoeln.de/ZF_Register/ztschm.htm [04.08.2016].
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Formen der bisherigen Bewegung wurden 1990 von führenden Köpfen zum Teil selbst aufgelöst und ihr Engagement verlagerte sich auf andere Ebenen. »Wir wollten ja nun selber raus aus der Kirche«, erinnert sich der Theologe und bekannteste Schwulenaktivist der DDR Eduard Stapel, weil es möglich und nötig gewesen sei, einen Verband zu gründen und in allen gesellschaftlichen Bereichen die Interessen von Homosexuellen zu vertreten.59 Dafür zog auch Christian Pulz 1990 ins Berliner Abgeordneten-Haus ein und war dort fortan Schwulen- und jugendpolitischer Sprecher von Bündnis90/Die Grünen.60 Ein anderes Problem für die neuen und alten Gruppen, Vereine und Projekte war die Konkurrenz um öffentliche Gelder. Im März 1990 hatte sich die AIDSHilfe DDR konstituiert, die aus den schwulen Arbeitskreisen unter dem Dach der Kirche hervorgegangen war und beanspruchte, Dachverband für sämtliche AIDS-Hilfe-Initiativen in der DDR zu sein.61 Erhielt sie vor dem 3. Oktober 1990 noch Unterstützung vom Gesundheitsministerium der DDR, so schloss sie sich zum Ende des Jahres den Strukturen der Deutschen AIDS-Hilfe e.V. (DAH) an und wurde als Referat Ost noch bis Juni 1991 vom Bundesgesundheitsministerium finanziert.62 Danach musste die ostdeutsche AIDS-Hilfe ihre Arbeit einstellen, weil es von Seiten der Bundesregierung nicht die Bereitschaft gab, zwei parallele Strukturen zu finanzieren. Eine spezifische Aufklärungs- und Präventionsarbeit wäre im Osten allerdings nach wie vor nötig gewesen, beklagen die ehemaligen Mitarbeiter der DDR-AIDS-Hilfe.63 Denn viele ostdeutsche Schwule wägten sich aufgrund der relativ geringen Infektionszahlen in der DDR und der massenhaft durchgeführten HIV-Tests in Sicherheit. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen zogen sie sich zudem verstärkt ins Private zurück und waren für die AIDS-Aufklärung kaum erreichbar.64 Doch trotz Auflösung des Referats Ost blieben die etwa 16 lokalen AIDS-Hilfe-Vereine, die sich seit 1990 in der DDR 59 Vgl. Interview mit Eduard Stapel, Bismark (Altmark) vom 04.12.2015. 60 Vgl. Christoph Links, Biographie Christian Pulz, aus: Müller-Enbergs u. a., Wer war wer in der
DDR?, http://bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID =2734 [27.07.2016]. 61 Vgl. AIDS-Hilfe DDR e. V., Protokoll Mitgliederversammlung der AIDS-Hilfe DDR, 24.03.1990, Schwules Museum, DDR, AIDS-Hilfe DDR, Nr. 3, Grundlagendokumente. 62 Vgl. Korrespondenz zwischen dem Ministerium für Gesundheits- und Sozialwesen der DDR und der AIDS-Hilfe DDR, April/Mai 1990, Bundesarchiv Berlin, DQ 1/13804, Ministerium für Gesundheitswesen der DDR, Referat AIDS; Vereinigungsverhandlungen AIDS-Hilfe DDR – DAH 1990, Schwules Museum, DDR, AIDS-Hilfe DDR, Nr. 7. 63 Vgl. Presseerklärung des Referats Ost der Deutschen AIDS-Hilfe, 14.06.1991, Schwules Museum, DDR, AIDS-Hilfe DDR, Nr. 50, Pressesammlung neue Bundesländer; Olaf Leser, Entwicklung von AIDS-Selbsthilfegruppen in der ehemaligen DDR, in: AIDS-Forum D. A. H. (Hg.), 10 Jahre Deutsche AIDS-Hilfe. Geschichten & Geschichte. Sonderband, Berlin 1993, S. 33–35, hier S. 34 f.; Rainer Herrn, Vereinigung ist nicht Vereinheitlichung – Aids-Prävention für schwule Männer in den neuen Ländern. Befunde, Erfordernisse, Vorschläge, Berlin 1999, S. 17. 64 Vgl. Ingo Schmahl, AIDS in der DDR, in: Dobler, Verzaubert in Nord-Ost, S. 266–271, hier S. 270 f.
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und den ›neuen‹ Bundesländern gegründet hatten, in der DAH organisiert. Ihre Anzahl blieb seit dem ungefähr gleich, so dass auch hier von einem Abbruch ostdeutscher Präventions- und Aufklärungsaktivitäten nicht die Rede sein kann.65 Im Februar 1990 wurde der Schwulenverband in der DDR (SVD) in Leipzig gegründet. Er sollte schließlich zu einer »Vereinigung andersrum«66 werden, d. h. sich nach Westen ausbreiten, und so folgte im Juni 1990 die Umbenennung in Schwulenverband in Deutschland. Mit Volker Beck und Günter Dworek traten im gleichen Monat die ersten westdeutschen Schwulenpolitiker bei. ›Westbeauftragte‹ wurden im Dezember 1990 gewählt und im Jahr darauf gründete sich in Nordrhein-Westfalen der erste westliche Landesverband.67 Die »Vereinigung andersrum« schien erfolgreich, dennoch glaubten die ostdeutschen Aktivisten, von den westdeutschen Schwulenpolitikern verdrängt worden sein. So zeigte sich Eduard Stapel mit der Entwicklung des SVD schon wenige Jahre später unzufrieden: Ossis haben fast keine Stimme mehr im Verband. Unter neun Sprechern sind vier Ossis, und die werden regelmäßig überstimmt, wenn sie anderer Meinung sind. Jetzt ist Demokratie, und da sind wir Ossis eben in der Minderheit.68
Bei vier von neun Sprechern fällt es schwer zu verstehen, warum »Ossis« keine Stimme mehr hatten, doch auch Bert Thinius behauptet, die Leitung des SVD sei bald von westdeutschen Schwulenpolitikern dominiert worden.69 An welchen Themen und Entscheidungen sich Konflikte zwischen ost- und westdeutschen Sprechern des Verbandes ergaben und inwiefern mit westlicher ›Dominanz‹ mehr als nur die Anzahl der Sprecher gemeint ist, konnte nicht ausgemacht werden. Richtig ist, dass der SVD und spätere LSVD im Westen deutlich stärker wuchs als im Osten. Ende 1990 hatte der SVD 201 Mitglieder, davon 16 in den ›alten‹ Bundesländern.70 Aktuell zählt der LSVD 4.100 Einzelmitglieder und Mitgliedsvereine in den westlichen und nur 310 in den östlichen Bundesländern.71 Aus der Sicht von Günter Dworek, heute Sprecher des LSVD, war der SVD ein erfolgversprechendes Modell für einflussstarke Schwulenpolitik und eine Al65 Vgl. https://www.aidshilfe.de/adressen [04.08.2016]. 66 Vgl.: Volker Beck / Günter Dworek/Karsten Friedel, Vereinigung andersrum, in: die tages-
zeitung vom 03.07. 1990, S. 14. 67 Vgl. Günter Dworek, Aufgebrochen aus Ruinen. Der Weg vom Schwulenverband in der DDR zum Lesben- und Schwulenverband in Deutschland, in: Andreas Pretzel / Volker Weiss (Hg.), Zwischen Autonomie und Integration. Schwule Politik und Schwulenbewegung in den 1980er und 1990er Jahren, Hamburg 2013, S. 136–150, hier S. 138; Thinius, Aufbruch, S. 52 ff.; http://www.lsvd.de/verband/die-lsvd-chronik/die-lsvd-chronik/jahr1991.htmlg [08.03.2016]. 68 Starke, Interview mit Eduard Stapel, S. 98. 69 Vgl. Thinius, Erfahrungen schwuler Männer, S. 85 f. 70 Vgl. Dworek, Aufgebrochen aus Ruinen, S. 140. 71 Vgl. Sandra Ramolla (Bundesgeschäftsstelle des LSVD, Köln), Email an die Autorin, 04.08.2016.
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ternative zu dem seit 1986 bestehenden Bundesverband Homosexualität (BVH), der sich Mitte der 1990er Jahren auflöste.72 Der Historiker und Kulturwissenschaftler Philipp Ther prägte für solche Veränderungen, die aus den postkommunistischen Ländern kommend den Westen beeinflussten, den Begriff der Kotransformation.73 Der SVD und spätere LSVD war also eine ostdeutsche Erfindung, die vom Westen aktiv angeeignet wurde. Er war deshalb erfolgreich, weil er von einem Teil der westdeutschen Schwulenbewegung als Instrument der Erneuerung genutzt wurde und damit sehr schnell zu einem gesamtdeutschen Projekt werden konnte. Insofern war die Loslösung des SVD von seinem ostdeutschen Ursprung die Voraussetzung dafür, in einem wiedervereinigten Deutschland überhaupt bestehen zu können. Seine ostdeutschen Gründerväter mussten in den 1990er Jahren allerdings dabei zuschauen, wie das größte, was sie in der DDR als Schwulenbewegung geschaffen hatten, von Aktivisten und Politikern aus dem Westen zu noch größerem Erfolg geführt wurde. Das Gefühl, verdrängt worden zu sein, und der Stolz auf das Geleistete stehen dabei eng beieinander. Mit größerem zeitlichem Abstand scheint jedoch die Enttäuschung in den Hintergrund zu treten und der Erinnerung an eigene Erfolge und Leistungen Raum zu geben. Eduard Stapel ist heute immer noch der Meinung, »es hätte vieles besser laufen können«, zugleich weist er aber daraufhin, dass es bemerkenswert sei, was die Bewegung aus der DDR in der kurzen Zeit zwischen Mauerfall und Vereinigung alles erreicht habe.74
IV. Fazit Coming out hatte seinen großen Auftritt auf der Berlinale 1990 in West-Berlin und erhielt dort den Teddy Award in der Kategorie Bester Spielfilm.75 Im selben Jahr wurden Heiner Carow und der Hauptdarsteller Matthias Freihof auch auf dem Spielfilmfestival in der DDR ausgezeichnet.76 Jens Bisky und andere behielten demnach nur eingeschränkt Recht, wenn sie damals befürchteten, dass die neuen Reisefreiheiten und die politischen Veränderungen dem ersten schwulen Liebesfilm der DDR seinen Sensationsgehalt vollständig rauben würden. Ob und welche Wirkung der Film auf ostdeutsche schwule Männer oder die Einstellung der Bevölkerung zu Homosexualität hatte, lässt sich allerdings nicht mehr feststellen. 72 Vgl. Dworek, Aufgebrochen aus Ruinen, S. 138. 73 Vgl. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoli-
beralen Europa, Berlin 2014, S. 277. 74 Vgl. Interview mit Eduard Stapel, Bismark (Altmark), 04.12.2015. 75 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Coming_Out_(Film) [02.08.2016] 76 Vgl. Katrin Sieg, Homosexualität und Dissidenz. Zur Freiheit der Liebe in Heiner Carows Coming out, in: Bettina Mathes (Hg.), Die imaginierte Nation. Identität, Körper und Geschlecht in DEFA-Filmen, Berlin 2007, S. 256–280, hier S. 284.
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Die symbolische Bedeutung des Film lag für diesen Beitrag in seiner Entstehung, die den Kampf schwuler Aktivisten um Rechte und Freiheiten in der DDR der 1980er Jahre versinnbildlicht, sowie im Datum seiner Premiere, das den Anfang eines Transformationsprozesses markierte. Coming out ist aber nicht nur eine Illustration der Geschichte, sondern erhält seine Relevanz vor allem durch die nach wie vor starke Rezeption. In Goethe-Instituten weltweit wird der Film immer wieder gezeigt, wie beispielweise im Januar 2016 in Istanbul. Die DEFAStiftung feierte 2009 das Jubiläum seiner Premiere, Historiker und Historikerinnen analysieren ihn und er wird als Zeitdokument für den Geschichtsunterricht empfohlen.77 Coming out ist damit einer der bekanntesten DDR-Spielfilme, aber auch eine bedeutende historische Quelle, weil er den Alltag im SED-Staat über die Themen schwule Liebe und Diskriminierung in anderen Zeiten und politischen Systeme nicht fremd erscheinen lässt. Die Chance des Films liegt mithin darin, dass seine Szenen einerseits historisiert werden müssen, andererseits aber auch aktualisiert werden können. Die Filmpremiere am 9. November 1989 kennzeichnete das ›Coming out‹ der DDR-Schwulenbewegung, weil sich ihr mit der rechtlichen Liberalisierung und den politischen Auseinandersetzungen um die Zukunft der DDR Freiräume öffneten, in denen sie sich entfalten und den Transformationsprozess aktiv mitgestalten konnte. Vieles von dem, was vorher durch staatliche Verbote, Einschränkungen, Zensur und Tabuisierung halblegal oder gar verboten war, wurde plötzlich möglich. Die Aktivisten waren durch ihre Arbeit in den Jahren zuvor darauf gut vorbereitet. Zudem hatten sie bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren erlebt, dass sich der Staat zunehmend für ihre Themen öffnete und die Selbstorganisationen duldete. 1989/90 erlebte die Schwulenbewegung daher einen Aufbruch, der nicht ohne seine Vorgeschichte in der DDR erklärbar ist. Die neuen Aktions- und Teilhabemöglichkeiten sowie das Zusammentreffen mit der weit größeren und professionalisierten westdeutschen Bewegung und Subkultur stellten die Aktivisten in der DDR aber vor neue Fragen und Herausforderungen. Es waren nicht mehr die staatlichen Verbote und Beschränkungen, sondern die Konkurrenz um öffentliche Finanzierung, interessierte Teilnehmer und gesellschaftliche Anerkennung, die die Bedingungen schwuler Bewegungen und Politiken fortan bestimmte. Die Perspektive ehemaliger Aktivisten aus der DDR, vom Westen verdrängt worden zu sein oder einen Auflösungsprozess hinnehmen zu müssen, der ihr jahrelanges Engagement abwertete und sie zum Abschiednehmen zwang, weicht inzwischen einer versöhnlicheren Sichtweise. Der Fokus richtet sich jetzt wieder stärker auf die Errungenschaften, die auch durch das Interesse an einer Geschichte der Homosexualität neue Aufmerksamkeit erhalten. 77 Vgl. http://www.goethe.de/ins/tr/de/ist/ver.cfm?fuseaction=events.detail&event_id=20688478
[05.08.2016]; http://defa-stiftung.de/20-jahre-coming-out [05.08.2016]; Patsy Henze, Coming Out – Ein schwules Zeitdokument aus der DDR, http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernenund-Lehren/content/11672 [05.08.2016]; Sieg, Homosexualität und Dissidenz, S. 256–280.
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Wenn vom ›Abschied‹ der DDR-Schwulenbewegung die Rede ist, so war dies vor allem der Abschied schwuler Aktivisten ›von‹ der DDR. Ein Ende des Kampfes für die Gleichstellung und gegen die Diskriminierung von Homosexuellen in Ostdeutschland bedeutete dies jedoch nicht. Das Erbe der DDR-Schwulenbewegung schlägt sich somit nicht nur in Form der auf längeren ostdeutschen Traditionen stehenden Vereine im wiedervereinigten Deutschland nieder. Ihre unter diktatorischen Bedingungen eingeübten Organisations- und Bewegungsformen sind zudem Teil einer vielfältigen Bewegungskultur und eines Erfahrungsschatzes geworden, auf den queerer Aktivismus in Deutschland heute zugreifen kann.
Ines Langelüddecke
ÜBER DAS SCHWEIGEN REDEN Brandenburgische Dörfer von der Gutsherrschaft bis in die Gegenwart
S
chweigen ist allgegenwärtig: als kürzere oder längere Pause im Redefluss, als nonverbaler Akt, der sich durch den Verzicht auf Worte und sprachlichen Austausch auszeichnet, als Rückzug von Kommunikation. Das heißt aber nicht, dass diese Stille ohne Sprache bedeutungslos wäre. Schweigen kann als ein Phänomen betrachtet werden kann, das zum Kommunikationsverhalten in sozialen Gruppen dazu gehört.1 Was heißt es nun, wenn eine soziale Gruppe zur Schweigsamkeit im öffentlichen Raum tendiert? Was bedeutet es, wenn Interviewpartner in früheren Gutsdörfern über eigene und fremde Schweige-Strategien im Rückblick eines lebensgeschichtlichen Interviews reden? Was verbirgt sich also hinter dem Schweigen im Dorf? Diese Fragen sollen anhand einer Analyse von lebensgeschichtlichen Interviews beantwortet werden, in denen es um das Themenfeld Schweigen, Verschwiegenheit, Beschweigen und Diskretion geht. Geführt wurden die Interviews in zwei brandenburgischen Gutsdörfern, also in Orten, die nach dem Ende der DDR als ›Arenen des Übergangs‹ im Transformationsprozess bezeichnet werden können.2 Hier kam es nach 1990 zu direkten Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen in einem ländlichen Raum, der bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs durch die traditionelle Gutsherrschaft geprägt gewesen war. Mit der Enteignung und der Bodenreform begann 1945 in diesen Dörfern eine Phase des sozialistischen Umbaus, an die sich bis 1960 die 1 Jay Winter, Thinking about silence, in: Efrat Ben-Ze`ev / Ruth Ginio / ders. (Hg.), Shadows
of War. A Social History of Silence in the Twentieth Century, Cambridge 2010, S. 31. 2 Vgl. Philipp Ther, Das »neue Europa« seit 1989. Überlegungen zu einer Geschichte der Transformationszeit, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 1 (2009), S. 105–114; Marcus Böick / Angela Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 105–113.
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Kollektivierung der Landwirtschaft anschloss.3 In den meisten früheren Gutsdörfern gibt es bis heute ein Schloss oder ein Gutshaus, die Kirche, den Park und eine eigene Grabstätte für die Adelsfamilie. Als Schulen, Altersheime, Betriebe oder als verfallene Überreste der Vergangenheit existierten diese Orte häufig in der DDR weiter. Allerdings wurden ab 1947 zahlreiche Schlösser und Gutshäuser zerstört, denn der SMAD-Befehl 209 »über Maßnahmen zum wirtschaftlichen Aufbau der Neubauernwirtschaften« forderte den Abriss der früheren Adelssitze, um Mauersteine und Dachziegel für die Häuser der Neubauern zu gewinnen.4 Nach der Wiedervereinigung kehrten ab 1990 einige Adelsfamilien nach Brandenburg zurück.5 Sie kauften und pachteten den früheren Familienbesitz, da die unter sowjetischer Besatzungszeit zwischen 1945 und 1949 erfolgten Enteignungen nicht rückgängig gemacht wurden.6 Am Beispiel der beiden früheren Gutsdörfer Siebeneichen und Ketzin soll es um diese Rückkehr des Adels und um schweigende Dorfbewohner, aber auch um die historischen Vorbedingungen dieses Umbruchsprozesses in Brandenburg seit 1990 gehen. Siebeneichen ist ein Ort mit heute ungefähr 280 Einwohnern, in den die Familie von Sierstedt zurückgekehrt ist. Nach Ketzin, wo etwa 320 Einwohner leben, zog die Familie von Watenburg zurück.7 Neben Archivmaterial aus Kreis- und Landesarchiven besteht der Quellenkorpus dieser Untersuchung aus 30 lebensgeschichtlichen Interviews mit adligen Rückkehrern unterschiedlicher Generationen und Schlüsselfiguren des Dorfes (Pfarrer, Bürgermeister, Bauern und andere), die in den Jahren 2010 und 2011 geführt wurden.8 Auffällig war nun, dass es in verschiedenen Interviews, die ja das gesprochene Wort zum Gegenstand haben, neben dem Sprechen auch um das Schweigen ging. Dabei thematisierten zahlreiche Gesprächspartner eine spezifisch dörfliche Schweigsamkeit, vor allem im Kontakt mit den Adligen. Subjektive Interviewerzählungen enthalten immer eine Vergangenheitsdeutung aus der Perspektive der Gegenwart.9 Warum wird das Schweigen der Dorfbewohner in mehreren Interviews von 2010 und 2011 als spezifisch ostdeutsches, ländliches 3 Zum Konzept des sozialen Raumes: Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001,
S. 15. 4 Jens Schöne, Das sozialistische Dorf. Bodenreform und Kollektivierung in der Sowjetzone und DDR, Leipzig 2008, S. 77 f. 5 Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.), Heimat verpflichtet. Märkische Adlige – Eine Bilanz nach 20 Jahren, Potsdam 2012. 6 Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik zur Regelung offener Vermögensfragen, 15. Juni 1990, in: Bulletin Nr. 77 vom 19. Juni 1990, S. 661. 7 Alle Orts- und Personennamen sind anonymisiert. 8 Forschungsbericht aus der Dissertation: »Die Rückkehr der Adligen aufs Land – Konkurrierende Deutungen von Gut und Dorf im postsozialistischen Brandenburg«. 9 Dorothee Wierling, Oral History, in: Michael Maurer (Hg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 7, Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2003, S. 81–151, hier S. 134
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Phänomen beschrieben, zu einer Zeit also, als die ersten Jahre der Transformation nach 1989 bereits hinter den Interviewpartnern lagen? Warum schwiegen die Dorfbewohner überhaupt, wenn sie nach 1990 den adligen Rückkehrern begegneten und wie reden beide Seiten etwa zwanzig Jahre später über die Kommunikation der Anfangsjahre? In welchen anderen historischen Zusammenhängen spielte das Schweigen, den Interviewerzählungen nach, außerdem eine Rolle? Die Annahme, auf der dieser Aufsatz basiert, lautet, dass das Schweigen einerseits eine Folge von sozialen Beziehungen der Unterlegenheit durch die asymmetrische Ost-West-Konstellation nach 1990 ist, dass es andererseits aber eingeübte Schweige-Praktiken gibt, die in diesen Dörfern auch schon in der Zeit der DDR, im Nationalsozialismus und in der traditionellen Gutsherrschaft eine Rolle spielten.
I.
Die Asymmetrie des Übergangs 1990
In der ›Arena des Übergangs‹ nach 1990 wirkte das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen der DDR und der Bundesrepublik weiter, wenn sich Ostdeutsche und Westdeutsche begegneten.10 Während der Zeit der Teilung war die Bundesrepublik immer eine Referenzgesellschaft für die DDR, auf die sich der wirtschaftlich schwächere, sozialistische Staat bezog oder von der er sich abgrenzte.11 Die Übernahme des politischen Systems der Bundesrepublik, die ökonomische Stärke der sozialen Marktwirtschaft und die Wirtschaftskrise in der ehemaligen DDR führten dazu, dass die westdeutsche Überlegenheit im deutsch-deutschen Verhältnis in den ersten Jahren nach 1990 bestehen blieb und Auswirkungen auf den Einigungsprozess hatte.12 Für den Transformationsprozess im früheren Gutsdorf bedeutete das, dass diese Ost-West-Asymmetrie außerdem noch mit Erzählungen und Bildern aus der Zeit der Gutsherrschaft bis 1945 und der Anti-Junker-Propaganda der SED aufgeladen war. In dieser Untersuchung des dörflichen Schweigens geht es also um die Machtverhältnisse zwischen den unterschiedlichen Akteuren im Gutsdorf der Gegenwart, aber auch um eine Perspektive auf die Ordnung des Diskurses zwischen Adel und Dorfbewohnern. Nach Michel Foucault ließe sich die Konstellation im Dorf als ein »Sagbarkeitsregime« betrachten, als eine »regulierte Praxis«, in der bestimmte Dinge gesagt werden können, andere
10 Frank Bösch, Geteilt und verbunden. Perspektiven auf eine deutsche Geschichte seit den
1970er Jahren, in: ders. (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 7–38, hier S. 34. 11 Christoph Kleßmann, Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 29–30 (1993), S. 30–41, hier S. 40. 12 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europas, Berlin 2014, S. 20.
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aber nicht.13 Wenn Akteure handeln wollen,14 aber ihre Interessen nicht einbringen können, dann schweigen sie häufig. Sie verfügen, soziologisch gesprochen, über ›Agency‹, also über Handlungsmacht, aber sie können sich innerhalb der existierenden Strukturen nicht durchsetzen. Schweigen ist wie ›Eigensinn‹15 eine Möglichkeit mit gesellschaftlichen Asymmetrien und daraus resultierenden Erfahrungen der Unterlegenheit umzugehen. Welchen Regeln unterliegt also das Schweigen im Dorf?
II. Das Schweigen der Pfarrerin 1990: »Ich hab gedacht: Du sagst kein Wort hier.« Im folgenden Interviewausschnitt erzählt die 1935 geborene Johanna Brogel, die frühere Pfarrerin von Siebeneichen, wie 1990 ein führender adliger Politiker in den Ort kam, um sich den Adelsfriedhof anzuschauen. Als der prominente westdeutsche Besucher die Pfarrerin dafür kritisierte, wie verfallen die Adelsgräber neben der Kirche aussahen, reagierte sie mit Schweigsamkeit. Sie sagt im Interview 2011: War es 1990 oder so. Und da wurde ich angerufen. Sag ich: Ja, ich komm dann rüber. Also ich sag’s Ihnen: Von dem Mann habe ich die Nase voll gehabt bis oben hin. ›Hätten Sie sich ja mal drum kümmern können und so.‹ Ich hab gedacht: Nee. Du sagst kein Wort hier. Und auch die Bürgermeisterin war mitgekommen, die hatte ich gebeten. Ich dachte, nach der Wende, das musste jetzt einfach so auch machen. Da hat er sich umgedreht und gefragt: ›Und was für einer Partei gehören Sie an?‹ Und sie hat sehr tapfer gesagt: ›SED‹. ›Können sich auch bald mal was anderes überlegen.‹ Ja, solche Bemerkungen gab es dann. (längere Gesprächspause) Haben viele nicht verstanden, dass man sich da nicht gewehrt hat, aber man hat sich an anderen Stellen gewehrt, natürlich erstmal das Hemd ist einem dann schneller näher. (IL: Das?) Das Hemd ist einem dann schnell näher als der Rock. So dass man … Erstmal um die Dinge, die ich direkt brauche, sich da zu wehren.16
Die frühere Pfarrerin erzählt in diesem Interviewausschnitt, wie sie 1990 auf die westdeutschen Vorwürfe der mangelnden Friedhofspflege mit offensiver Schweigsamkeit reagierte, indem sie bei sich dachte: »Nee. Du sagst kein Wort hier.« Sie hat ihre Sprachlosigkeit und die damit verbundenen Gefühle von Abwertung und 13 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1997, S. 116; Jörg Baberowski,
Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, München 2005, S. 197. 14 Vgl. Mary Fulbrook, Dissonant Lives. Generations and Violence through the German Dictatorships, Oxford 2011, S. 477: »Agency, a capacity to negotiate or to affect the course of one’s own life, a sense of inner distance and strategies for survival«. 15 Vgl. Thomas Lindenberger, SED-Herrschaft als soziale Praxis. Herrschaft und »EigenSinn«: Problemstellung und Begriffe, in: Jens Gieseke (Hg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007, S. 23–47. 16 Interview mit Johanna Brogel, 10. Februar 2011, 00:29:54–30:58.
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Wut in dieser Ost-West-Begegnung auf dem Friedhof deutlich in Erinnerung behalten, wenn sie dieses Ereignis 20 Jahre später im Interview erwähnt. Vom Schweigen gibt es verschiedene Varianten. Immer wieder haben es die Interviewpartner als eine notwendige Form der Diskretion in der Enge einer Dorfgemeinschaft beschrieben, so zum Beispiel für ihren Umgang mit dem kontroversen Thema Staatssicherheit.17 Diese Art des Schweigens, die als strategisch und politisch motiviert bezeichnet werden kann18, trägt beispielsweise dazu bei, dass in einem Dorf auch inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit weiter im Dorf leben können. Solange nicht oder nur in Andeutungen über das Thema ›Stasi‹ geredet wird, lassen sich offene Konflikte über die Vergangenheit vermeiden.19 Außerdem existiert im früheren Gutsdorf auch eine spezifisch adlige Form der Schweigsamkeit, eine Folge von standestypischer Diskretion und einer Erziehung zur öffentlichen Zurückhaltung.20 Dazu sagt Christine Gräfin von Brühl: »… es ist am Ende die ganze Welt, die einem Adligen mit Spott, Unwillen, zumindest Befremden begegnet. Zumindest kommt einem das als Jugendliche so vor. Da … schweigt man sich aus und tarnt sich, so gut man kann.«21 Dieses Schweigen als Teil des adligen Habitus soll hier jedoch nicht ausführlicher behandelt werden, obgleich es eine Verhaltensweise ist, die das Kommunikationsverhalten im früheren Gutsdorf heute mitbestimmt. Neben der strategischen Schweigsamkeit aus Diskretionsgründen gibt es – wie in der Erzählung der Pfarrerin – außerdem das ostdeutsche Schweigen aus einem Gefühl der Unterlegenheit heraus, das in der ersten Zeit nach 1990 eine Kommunikation zwischen Ost und West schwierig machte. Die gezielte Gesprächsverweigerung erschien Johanna Brogel anscheinend wie eine angemessene Reaktion auf die Überlegenheitsgesten des prominenten westdeutschen Besuchers, der gleichermaßen abwertend über sie und über die damalige SEDBürgermeisterin urteilte. Damit bildete sich in dieser Begegnung die asymmetrische Machtkonstellation ab, die nach 1990 zwischen der DDR und der Bundesrepublik bestanden hat. Zugleich blieb Johanna Brogel mit dieser schweigsamen Selbstinszenierung ihrer Rolle als ostdeutsche Pfarrerin treu, die unter den Bedingungen der SED-Diktatur gelernt hatte, eher im Stillen zu agieren.22 17 Ines Langelüddecke, Die Staatssicherheit und ihr Ort in Erzählungen über die DDR, in:
Knud Andresen / Linde Apel / Kirsten Heinsohn (Hg.), Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, Göttingen 2015, S. 114–129. 18 Winter, Thinking about silence, S. 5. 19 Vgl. auch die Ergebnisse der Feldforschung im mecklenburgischen Dorf Dabel und die Analyse von Aktenbeständen der Staatssicherheit bei Jan Palmowski, Die Erfindung der sozialistischen Nation. Heimat und Politik im DDR-Alltag, Berlin 2016, S. 317. 20 Christine Gräfin von Brühl, Noblesse Oblige. Die Kunst, ein adliges Leben zu führen, Frankfurt a. M., S. 19. 21 Ebd., S. 18 22 Christian Halbrock, Evangelische Pfarrer der Kirche Berlin-Brandenburg 1945–1961. Amts-
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Ebenso mag bei ihrer Gesprächsverweigerung eine Rolle gespielt haben, dass der Ort des Geschehens ein Friedhof war. Friedhofsruhe bedeutet »liturgische Stille« (Jay Winter), die ein essentieller Bestandteil von Trauer- und Gedenkpraktiken in vielen religiösen Traditionen ist. Auch ein verfallener Adelsfriedhof wie der in Siebeneichen ist damit kein guter Ort für einen Streit.23 Nicht in der damaligen Kommunikation, sondern zwanzig Jahre später im Interview reagiert Johanna Brogel nun auf den Vorwurf, dass sie sich als Pfarrerin nicht für den verfallenen Adelsfriedhof eingesetzt habe. Dazu sagt sie, dass sie sich um ihre Handlungsspielräume in der SED-Diktatur bemüht hat, nur erschien ihr der Einsatz für den Adelsfriedhof, dessen Existenz nicht der offiziellen Linie der Partei entsprach, keineswegs so naheliegend wie ihre persönlichen Interessen und ihre pastoralen Aufgaben. So wie sie vor 1989 zum Verfall des Adelsfriedhofs geschwiegen hatte, wiederholte sich ihr Schweigen 1990 gegenüber dem westdeutschen Politiker. Ihre Reaktion erscheint damit wie eine Haltung, die sie als Pfarrerin in der DDR eingeübt hatte, nicht nur wie eine spontane Reaktion auf die Vorwürfe des Besuchers aus dem Westen. In diesem Schweigen überlagern sich also DDR-typische Verhaltensweisen, religiöse Praktiken und die Ost-WestAsymmetrie der Transformationsperiode. Neben der Thematisierung des Schweigens gibt es in diesem gerade vorgestellten Interviewabschnitt auch eine Gesprächspause, als die Pfarrerin über die Gründe nachdenkt, warum sie sich in der Zeit der DDR nicht für den Adelsfriedhof eingesetzt hat. Die längere Unterbrechung weist darauf hin, dass hier kein ganz einfaches Thema berührt ist. Johanna Brogel zieht dann ein altertümliches Sprichwort heran: vom Hemd, das näher ist als der Rock, und löst mit ihrem Lachen über dieses Sprichwort die unangenehmen Gefühle auf, die für sie wohl auch mit der erinnerten Szene auf dem Friedhof zusammenhängen. Das Erzählen von lustigen Begebenheiten, Witzen oder einem Schwank dient im lebensgeschichtlichen Interview häufig dazu, schwierige Erinnerungen zu thematisieren, darüber zu lachen und in die eigene Lebenserzählung einzufügen.24 Es kann allerdings auch vorkommen, dass während eines Interviews Tabus oder Themen berührt werden, die sich nicht in diesem Rahmen erzählen lassen. Dann reagieren Interviewpartner mit einem länger anhaltenden Schweigen oder sie wechseln abrupt das Thema. Es entstehen Gesprächspausen, und das, was dort beschwiegen wird, lässt sich häufig nur erahnen. Es gibt also erstens das komplette Schweigen bei Tabus oder schwierigen Themen, zweitens das strategisch oder politisch motivierte Schweigen aus Gründen der Diskretion, drittens das liturgische Schweigen
autonomie im vormundschaftlichen Staat, Berlin 2004, S. 464. 23 Winter, Thinking about Silence, S. 4. 24 Vgl. Dorothee Wierling, »Übergänge schaffen« – Konstruktionen eines erzählten und gelebten Lebens, in: Christian Geulen / Karoline Tschugnall (Hg.), Aus einem deutschen Leben. Lesarten eines biographischen Interviews, Tübingen 2000, S. 37–45, hier S. 49.
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als Bestandteil von religiösen Gedenkpraktiken und viertens das Schweigen aus Unterlegenheit, das häufig mit Gefühlen von Scham und Zorn behaftet sein kann.
III. Schweigende Dorfbewohner nach 1990: »Schweigen bedeutet Ablehnung im Osten.« Wie nun die Westdeutschen diese anfängliche ostdeutsche Schweigsamkeit erlebt haben, darüber spricht der 1961 geborene Jasper von Sierstedt. Er beschreibt sein Erstaunen über eine Gemeinderatssitzung in Siebeneichen Anfang der 1990er Jahre: 91 oder 92, es war eine der ersten Gemeinderatssitzungen, an denen ich teilgenommen habe. Ich war noch nicht einmal gewählt, ich wurde einmal dazu gebeten. Und da habe ich sehr deutlich und vehement das vorgetragen, das was ich mir nun für bestimmte Punkte vorgenommen hatte. Totenstille, Abstimmung und alles 100 Prozent in meine Richtung gehend, aber ich empfand das als eine fast unerträgliche Stimmung. Die Luft war zum Schneiden, die Gesichter waren versteinert und ich habe genau gespürt, die waren in keiner Weise meiner Meinung, ganz im Gegenteil, die hätten also gerne lautstark widersprochen. Und ich hab dann sehr schnell erkannt, also Schweigen bedeutet Ablehnung im Osten, genau das Gegenteil von dem, was ich im Westen erlebt habe. Wenn im Westen einer mit mir nicht einverstanden war, dann hat er mir das aber unmissverständlich nahegebracht, in Gestik, Wort und Tat, mit Worten und wildgestikulierend und hier ist es genau umgekehrt.25
Jasper von Sierstedt berichtet darüber, wie irritierend das Schweigen der ostdeutschen kommunalen Vertreter in Siebeneichen für ihn war. Dabei äußert er sich nicht zu dem Thema, über das abgestimmt wurde, sondern er beschreibt die für ihn ungewohnte kommunikative Praxis in dieser Versammlung. Möglicherweise ging es aber um Fragen, die mit Bau- oder Renovierungsmaßnahmen der von ihm gekauften früheren Gutsgebäude oder mit seinem landwirtschaftlichen Betrieb zu tun hatten. Der junge Adlige vergleicht die Situation mit seinen früheren Erfahrungen in der westdeutschen Kommunalpolitik, wo Konflikte offen ausgetragen wurden. Als er dann zum ersten Mal auf einer Gemeinderatssitzung in Brandenburg seine Ideen und Interessen einbrachte, nahm er einen starken Kontrast zur bundesrepublikanischen kommunalen Debattierkultur wahr, denn in Siebeneichen wurde nicht diskutiert, sondern nur abgestimmt.26 Dabei deu-
25 Interview mit Jasper von Sierstedt, 26. Mai 2010, 01:20:59–22:13. 26 Ulrich Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der deutschen
Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49, hier S. 14; Frank Bösch / Jens Gieseke, Der Wandel des Politischen in Ost und West, in: Bösch, Geteilte Geschichte, S. 39–78, hier S. 46 f.
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tet er an, dass er das Erlebte als Folge der politischen Prägung durch den SEDSozialismus ansieht. Denn trotz des gefühlten Widerspruchs erzielte er einen – wie er sagt – 100prozentigen Abstimmungserfolg für sein Anliegen, so wie die SED unter den Bedingungen der Diktatur in offiziellen Abstimmungen meistens eine uneingeschränkte Zustimmung bekommen hatte. Möglicherweise sahen die Dorfbewohner, dieser Deutung folgend, in dem Nachfahren des letzten Junkers einen Angehörigen der Elite, den sie wie die lokalen Parteifunktionäre und SEDMachthaber auf einer Parteiversammlung behandelten. Bis zum Ende der DDR waren die Abgeordneten der Gemeinde daran gewöhnt, dass die Funktionäre der SED als ›führender Partei‹ ihnen Weisungen erteilen konnten. Ralph Jessen hat für die staatlichen Behörden in der DDR, zu denen auch diese kommunalen Vertreter in Siebeneichen gezählt werden können, eine Art »Absicherungsmentalität« festgestellt, und zwar als Folge der Parallelstruktur von Partei und Staat in der DDR: »Wo man mit der unkalkulierbaren Kontrolle durch Parteiinstanzen rechnen musste, war es allemal klüger, sich auf Belanglosigkeiten zurückzuziehen.«27Auch das Schweigen war eine Möglichkeit für die Gemeindevertreter, mit den Asymmetrien der kommunalen Machtverhältnisse umzugehen. Nach den freien Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 wurden in die Gemeindevertretung zwar auch Kommunalpolitiker gewählt, die zuvor nicht politisch aktiv gewesen waren und damit nicht die Erfahrung der Einflusslosigkeit dieses lokalen Gremiums gemacht hatten, allerdings gab es in Siebeneichen – wie überall anders auch in der Nachwendezeit – eine personelle Kontinuität beim politischen Personal. Zudem hatten alle Dorfbewohner durch ihre Sozialisation in der DDR gelernt, in der Öffentlichkeit nicht offen zu reden. Doppelzüngigkeit durchzog das ostdeutsche Leben: Wissen und nicht reden können, die eigene Meinung einsperren und lieber schweigen oder eben bestenfalls das Geforderte sagen, so hat Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, das allgegenwärtigen Schweigen in seinen autobiographischen Erinnerungen beschrieben.28 Trotz der Übernahme des bundesrepublikanischen politischen Systems wirkten die existierenden Sagbarkeitsregime nach 1990 weiter, wenn auch in Siebeneichen in einer veränderten Machtkonstellation mit dem adligen Rückkehrer als neuem Akteur im Machtgefüge des Dorfes.29 Wie der prominente Politiker in der Anfangsszene auf dem Friedhof kam Jasper von Sierstedt 1990 aus dem westdeutschen politischen System, das von den Bewohnern des Dorfes in Brandenburg als wirtschaftlich, kulturell und politisch überlegen wahrgenommen wurde.
27 Ralph Jessen, Diktatorische Herrschaft als kommunikative Praxis. Überlegungen zum Zu-
sammenhang von »Bürokratie« und Sprachnormierung in der DDR-Geschichte, in: Alf Lüdtke / Peter Becker (Hg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte – Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 57–86, hier S. 71. 28 Roland Jahn, Wir Angepassten. Überleben in der DDR, München/Berlin 2014, S. 56. 29 Bösch/Gieseke, Der Wandel des Politischen, S. 72.
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Die Übernahme der sozialen Marktwirtschaft mit der Wirtschafts-, Währungsund Sozialunion am 1. Juli 1990 und der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 GG am 3. Oktober 1990 bestimmten den rechtlichen Rahmen der deutschen Einheit und schrieben die Ost-West-Asymmetrie der Zeit vor 1989 auch für die folgenden Jahre fort.30 Das Schweigen der kommunalen Abgeordneten in Siebeneichen ist daher auch ein Ausdruck ihrer Marginalisierungserfahrung als Ostdeutsche gegenüber Westdeutschen in der ersten Zeit nach 1990. Der junge Adlige kam nach der Wiedervereinigung als Investor ins Dorf, der die LPG übernahm und mit damals 16 Mitarbeitern in seinem neugegründeten landwirtschaftlichen Betrieb der größte Arbeitgeber im Ort wurde. Das kollektive Schweigen ist hier also zudem eine Folge der Asymmetrie zwischen dem neuen Eigentümer des LPG-Nachfolgeunternehmens und den Dorfbewohnern, die direkt oder indirekt von den wirtschaftlichen Veränderungen in Siebeneichen seit 1990 betroffen waren. Besonders im Bereich der Land- und Forstwirtschaft verlief der Strukturwandel nach Mauerfall und Wiedervereinigung dramatisch: von 1989 bis 1996 fiel die Zahl der in diesem Sektor Beschäftigten von 976.000 auf 210.000.31 1992 lag die Zahl der Arbeitslosen in Ostdeutschland bei über 1,2 Millionen und mit 14,8 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern (6,6 Prozent). Auch die Unterbeschäftigtenquote mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Kurzarbeit, Umschulungen und Frührenten lag im zweiten Jahr nach der Wiedervereinigung bei weiteren 36 Prozent. Damit war auf dem Höchststand der ostdeutschen Anpassungskrise im Jahr 1992 ungefähr die Hälfte aller ostdeutschen Erwerbspersonen ohne Arbeitsplatz.32 Das Ausmaß dieses wirtschaftlichen Umbruchs mit der hohen Zahl von Arbeitslosen, der massenhaften Frühverrentung älterer Arbeitnehmer und dem Verlust der Bindungen an den früheren Betrieb führte zu Unsicherheitssituationen – auch für die Dorfbewohner von Siebeneichen, was sich unter anderem in Kommunikationsschwierigkeiten mit dem westdeutschen Investor und Nachfahren des letzten Gutsbesitzers niedergeschlagen haben kann.33
IV. Schweigen in der Gutsherrschaft: »Mein Vater war so ein Mensch, der hat alles für sich behalten.« Für die Erklärung des Schweigens im Dorf nach 1990 ließe sich noch eine weitere historische Zeitschicht heranziehen, denn möglicherweise wurde mit der 30 Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise
des Sozialstaats, München 2006, S. 79 f. 31 Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit den ökonomischen Regeln, Stuttgart 1998, S. 478. 32 Ritter, Wiedervereinigung, S. 117 f. Siehe dazu auch den Beitrag von Christoph Lorke in diesem Band. 33 Ritter, Wiedervereinigung, S. 119.
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Ankunft des Enkels des letzten Gutsbesitzers bei einigen Dorfbewohnern auch die Erinnerung an die Gutsherrschaft aufgerufen. Schweigen kann eine bis 1945 eingeübte Verhaltensweise der Dorfbewohner gegenüber einem als übermächtig empfundenen Gutsbesitzer gewesen sein. Das legen die Interviews mit den Dorfbewohnern von Ketzin nahe. Der 1927 geborene Gustav Meier, dessen Vater Kutscher beim Gutsherrn von Watenburg war, sagt dazu: Er (Herr von Watenburg, Anm. IL) ist jeden Tag, Nachmittag, nach dem Wald gefahren, um das Wild zu beobachten und da musste mein Vater immer mitfahren, der hat hinten gesessen auf der Kutsche. Und Watenburg hat alleine gefahren, die Leine alleine in der Hand gehabt, und wenn er einen guten Tag gehabt hat, dann hat er meinen Vater mit dem Vornamen angesprochen. Das hat er immer gemacht. Er hat immer gesagt: ›Karl‹. Er hat nicht ›Herr Meier‹ gesagt, er hat immer ›Karl‹ gesagt und wenn er einen guten Tag gehabt hat, dann sagt er: ›Karl, komm mal nach vorne. Setz Dir neben mir, ich will mir wat mit Dir unterhalten.‹ (spricht plattdeutsch). Und mein Vater war so ein Mensch, dem konnte man alles erzählen, aber er hat alles für sich behalten. Er hat es nicht ausgetragen, und das hat Herr von Watenburg gewusst.34
Gustav Meier redet im Interview über seinen Vater und dessen Position als Kutscher in der Hierarchie der Gutsangestellten. Die asymmetrische Beziehung zwischen Karl Meier, den der Gutsherr mit ›Karl‹ und Du‹ anredet, und dem Gutsherrn, der mit dem Nachnamen und Adelstitel als ›Herr von Watenburg‹ und ›Watenburg‹ bezeichnet wird, war im Rahmen der patriarchalen Ordnung geregelt und mit Fürsorge-Aspekten, aber auch mit Unterordnung verbunden.35 Die Familie Meier erhielt aus der Gutswirtschaft ein regelmäßiges Deputat, wozu Milch, Butter, Kartoffeln und Feuerholz gehörten, die als Teil des Lohnes in Naturalien ausgezahlt wurden. In dieser asymmetrischen Beziehung verhielten sich die Meiers loyal und ehrerbietig zur Adelsfamilie, ein eingeübtes Verhalten, das die Erzählung von Gustav Meier bis heute bestimmt. Der Kutscher sitzt hinten auf dem Wagen, während der Gutsherr lenkt und bestimmt, ob zwischen beiden ein Gespräch stattfindet. Dabei ist die herausragende Qualität des Kutschers seine Verschwiegenheit, was in diesem Verhältnis die Nähe zum Dienstherrn erst ermöglicht. Die Diskretion des Dienstpersonals wird hier als ein selbstverständliches Merkmal der traditionellen Gutsherrschaft dargestellt.36 Unterlegenheitsgefühle werden in dieser Beschreibung des Sohnes trotz der asymmetrischen Beziehung nicht thematisiert. Die Notwendigkeit zur Diskretion bestimmt dieses 34 Interview mit Gustav Meier, 9. August 2011, 00:02:30–03:31. 35 Vgl. Eckart Conze, Kleines Lexikon des Adels. Titel-Throne-Traditionen, München 2005,
Stichwort Paternalismus, S. 194. 36 Dorothee Wierling, Mädchen für alles. Arbeitsalltag und Lebensgeschichte städtischer Dienstmädchen um die Jahrhundertwende, Bonn 1987, S. 210.
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Schweigen, das in dieser Erzählung wie eine eingeübte Praxis im Gutsdorf vor der Enteignung 1945 erscheint.
V. Schweigen in der DDR: »die große schweigende Mehrheit«. Über die Schweigsamkeit der Ketziner Dorfbewohner unter den Bedingungen der SED-Diktatur spricht der Pfarrer Ansgar Rauschenbach: Aber es gab neben den Leuten im Dorf, die der SED nahe standen und sich von ihr also willfährig lenken ließen, gab es die große schweigende Mehrheit. Unser Sprachbild von meiner Frau und mir war dann oft: Die standen dann hinter der Gardine und haben zugeguckt, was da draußen passiert, fanden das vielleicht auch interessant, aber ansonsten lieber hinter der Gardine.37
Der 1947 in Potsdam geborene Ansgar Rauschenbach äußert in diesem Interviewausschnitt seinen Eindruck von den Dorfbewohnern, für die er ab 1976 als Pfarrer zuständig war und deren schweigsames Verhalten für ihn auffällig war. Zum einen ist diese Bemerkung ein Spiegelbild seiner eigenen Position als Vertreter der evangelischen Kirche, deren Bedeutung in der DDR durch den Druck der SED-Führung immer weiter abgenommen hatte. 1990 waren nur noch 25 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung Mitglied der evangelischen Kirche. Im Unterschied dazu waren es 1949 noch 81 Prozent gewesen.38 Ansgar Rauschenbach beschreibt sich mit diesem Zitat selbst als Outsider, der Ende der 1970er und in den 1980er Jahren als Pfarrer nur noch für eine Minderheit der Dorfbewohner ein Ansprechpartner war. Zum anderen folgt seine Erzählung über die Zuschauer hinter der Gardine einer Deutung der DDR als »Nischengesellschaft«39, wo sich viele Bewohner vor dem Zugriff durch den kontrollierenden SED-Staat im Privaten und jenseits des öffentlichen Raumes eingerichtet hatten.40 Mit ihrem Schweigen reagierte die Mehrheit der Dorfbewohner auf die Allmacht der herrschenden Partei, die ihren uneingeschränkten Machtanspruch, wenn nötig, auch mit Gewalt durchsetzen konnte.41 In Ketzin scheint dieser stille Rückzug allerdings nicht nur eine Reaktion auf die Zumutungen der Diktatur gewesen zu sein, sondern war zudem mit 37 Interview mit Ansgar Rauschenbach, 12. August 2011, 00:52:27–48. 38 Detlef Pollack, Der Wandel der religiös-kirchlichen Lage in Ostdeutschland nach 1989 –
Ein Überblick, in: ders./Gerd Pickel (Hg.), Religiöser und kirchlicher Wandel in Ostdeutschland 1989–1999, Opladen 2000, S. 18–47, hier S. 19. 39 Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983. 40 Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft, München 2000, S. 573 und 581; Mary Fulbrook, Anatomy of a Dictatorship. Inside the GDR 1949–1989, Oxford 1995, S. 141. 41 Palmowski, Erfindung, S. 334.
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einer grundsätzlichen Zurückhaltung und Skepsis gegenüber einem vom SEDSystem unabhängigen Kirchenvertreter verbunden. Die schweigenden Dorfbewohner erscheinen in dieser Einschätzung des Pfarrers wie ein Phänomen, das in diesem Ausmaß selbst für die DDR ungewöhnlich weit verbreitet war.
VI. Schweigen in der postsozialistischen Gegenwart: »Die standen hinter der Gardine.« Im folgenden Zitat deutet Ansgar Rauschenbach das Schweigen in Ketzin als eine Haltung, die als mentaler Überrest der Gutsherrschaft auch nach der Enteignung des Adels fortgedauert habe. Er sagt: Als damals 1996 der Turmhelm (der Kirche, Anm. IL) gemacht werden musste in Ketzin, … da hatte man diesen Helm runtergenommen, unten auseinandergebaut, wieder neu aufgebaut und mit dem Kran wieder hoch. Bei dieser letztgenannten Aktion waren eine Menge Zuschauer, 80, 90, aber maximal 20 aus dem Dorf, die anderen standen, wie gesagt, hinter der Gardine. Ganz seltsam. (IL: Sind die Leute denn so vorsichtig? Hinter der Gardine ist es auch sicher?) Meiner Vermutung nach, das ist einfach eine Mentalitätsfrage. Ich hatte mal mit der Frau Aubach darüber gesprochen, dass mir das sehr schwer fällt, das so einzusortieren. Dass mir das schwerfällt, einzuschätzen, wie hoch ist da auch mein persönlicher Anteil, ausgehend von meinem eigenen Strickmuster, und dem Umgangston und, und, und. Sie hörte sich das an und dann schmunzelte sie und sagte: ›Wissen Sie was, so isses nicht. Die Ketziner waren immer schwierig.‹ Das hat mich insofern getröstet, als das ist dann einfach der Normalstatus.42
In dieser Interviewsequenz erinnert sich Ansgar Rauschenbach an ein Gespräch mit der 1918 geborenen Tochter des letzten Gutsbesitzers, die er nicht mit ihrem kompletten Adelstitel als ›Gräfin zu Aubach-Hakenstein‹ bezeichnet, sondern als ›Frau Aubach‹ abkürzt. Dieser Verzicht auf den Adelstitel ist dabei Ausdruck eines von seiner Seite angenommen Elitenbündnisses zwischen ihm als Pfarrer und der Adelsfamilie, in dem sich beide Seiten heute im Bewusstsein der gutsherrschaftlichen Tradition des Patronats begegnen. Der Pfarrer und die Tochter des letzten Gutsbesitzers sind sich nun darin einig, dass die Ketziner Dorfbewohner von der Gutsherrschaft bis in die Gegenwart über eine spezifische Mentalität verfügen, mit der sich die dörfliche Zurückhaltung im öffentlichen Raum und womöglich auch das damit verbundene Schweigen erklären lässt. Während der Pfarrer über die eigenen Versäumnisse in der Gemeindearbeit nachdachte, bestand für die Vertreterin der Adelsfamilie kein Zweifel daran, dass die Ketziner für die Kommunikationsschwierigkeiten verantwortlich sind. Trotz der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der sozialen Umschichtung der 42 Interview mit Ansgar Rauschenbach, 12. August 2011, 01:41:49–42:03.
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Dorfbevölkerung seit 1945 bis in die Gegenwart denken beide, dass sie es mit den Dorfbewohnern als einer ausnahmslos ›schwierigen‹ Gruppe zu tun zu haben. In dieser Perspektive erscheint das Schweigen der Ketziner wie eine gesellschaftliche Konstante, die von der Zeit der Gutsherrschaft über die DDR bis in die Gegenwart überdauert hat. In der Erzählung des Pfarrers, der die Gräfin zitiert, wird aber auch deutlich, wie viel Unbehagen für ihn in der Verweigerungshaltung der Dorfbewohner liegt. Schweigen kann eine ausdrucksstarke Machtposition sein, auf die sich die vermeintlich schwächere Seite in einer Auseinandersetzung zurückzieht, ohne dafür in eine sprachliche Kommunikation einzutreten.
VII. Schweigen als soziale Praxis im Gutsdorf In den verschiedenen Zitaten des Kutschersohnes und des Pfarrers aus Ketzin wird das Schweigen wie eine Selbstverständlichkeit geschildert, die das Zusammenleben im früheren Gutsdorf kennzeichnet. Mit dieser Haltung konnten sich die Dorfbewohner den asymmetrischen Machtverhältnissen in der traditionellen Gutsherrschaft, im Nationalsozialismus (der in den Interviews allerdings nicht thematisiert wurde), in der SED-Diktatur, aber auch in der postsozialistischen Übergangszeit nach 1990 entziehen. Wenn so viele in der Gemeinde gegenüber den dörflichen Eliten wie dem Pfarrer, den SED-Funktionären oder den Adligen schweigen, erwächst aus den existierenden Asymmetrien wiederum ein Machtpotential, das Ansgar Rauschenbach in Ketzin, aber auch der Rückkehrer Jasper von Sierstedt in Siebeneichen erlebten. Während die Eliten im öffentlichen Raum des Dorfes diskutieren wollen, haben die schweigsamen Dorfbewohner Strategien nonverbaler Kommunikation entwickelt, um auf diese Erwartungen zu reagieren. Das Schweigen im Dorf erscheint damit wie eine eingeübte Praxis, die die politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts überdauert hat und die Beziehungsverhältnisse bis in die Gegenwart bestimmt. Während der Umbruchszeit 1990 trafen im früheren Gutsdorf Dorfbewohner und rückkehrende Adlige aufeinander, die ihre spezifischen Prägungen aus der DDR und aus der Bundesrepublik mitbrachten. Auch innerhalb der Dörfer gab es verschiedene Akteure, die auf unterschiedliche Weise mit dieser veränderten Situation in der Transformationsphase umgingen. So mussten sich beispielsweise die Pfarrer für oder gegen neue Elitenbündnisse entscheiden. Im Moment der Begegnung zwischen Ost und West überlagerten sich also Gegenwart und Geschichte, was im Sonderfall des Gutsdorfs noch mit Bildern, Erzählungen und Prägungen aus der Zeit vor 1945 aufgeladen war. Die Pfarrerin Johanna Brogel und der adlige Rückkehrer Jasper von Sierstedt sprechen zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch über die asymmetrische ost-westdeutsche Machtkonstellation und die Kommunikationsbarrieren der frühen 1990er Jahre. Auf der lokalen Ebene des Gutsdorfs gab es nach der Wiedervereinigung Interessenskonflikte und Meinungsverschiedenheiten zwischen ostdeutschen und westdeutschen
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Akteuren, die nicht immer offen thematisiert wurden, weil sich die ostdeutsche Seite anfangs aus einem Unterlegenheitsgefühl heraus nicht artikulieren konnte und wollte. Im Mikrokosmos Dorf etablierte sich mit der Rückkehr der Adelsfamilie ein neues dörfliches Beziehungsnetz, was Anpassungsleistungen auf beiden Seiten erforderte.43 Dieser Umbruchsprozess dauerte 2010 und 2011, zum Zeitpunkt der Interviews, noch an und wurde sicherlich durch die Medienberichte zum 20jährigen Einheitsjubiläum aktualisiert. Zwischen den Nachfahren des Adels als dörflicher Elite und den Dorfbewohnern besteht bis in die Gegenwart eine soziale Distanz, die nicht nur in SchweigeStrategien, sondern auch in der räumlichen Ordnung der früheren Gutsdörfer sichtbar wird. Während in Siebeneichen die Adelsfamilie nach der Sprengung des Schlosses im neugebauten Gutshaus mit parkähnlichem Garten wohnt, leben die Dorfbewohner in den umliegenden Häusern. In Ketzin dagegen ist das Schloss heute ein Museum, während die Adelsfamilie im Haus gegenüber wohnt. Diese Umwandlung des früheren Mittelpunkts adligen Lebens in einen Ort für die Dorfbewohner hat dort bereits in der DDR stattgefunden, als im Schloss ein Altersheim residierte. In Ketzin, wo der adlige Rückkehrer im Unterschied zu Siebeneichen keine Führungsposition im Dorf übernommen hat, gibt es keine Hinweise der Interviewten auf eine asymmetrische Unterlegenheitskonstellation gegenüber der Adelsfamilie nach 1990, aber dennoch Aussagen über eine grundsätzliche Mentalität der Verschwiegenheit, die vor allem vom Pfarrer kommen. Anscheinend hat in diesem Dorf der Pfarrer in der Zeit der DDR und nach 1989/90 eine Führungsrolle im Dorf übernommen, mit der er die Leerstelle des enteigneten und vertriebenen Gutsbesitzers ausgefüllt hat. Ihm gegenüber verhielten sich die schweigenden Dorfbewohner so, wie zuvor gegenüber dem Adel – zumindest seiner Deutung nach. Das Gutsdorf der Gegenwart ist eine ›Arena des Übergangs‹, in der sich die Transformationsprozesse von 1989/90 und von 1945 mit den damit verbundenen Veränderungen sowie den mentalen Konstanten räumlich und sozial abbilden. In dieser längeren Perspektive auf das 20. Jahrhundert, über das die Dorfbewohner und die zurückgekehrten Adligen in den Interviews erzählen, wird deutlich, wie die eingeübte Praxis des Schweigens über die Systemwechsel hinweg wirksam blieb und unter veränderten Machtkonstellationen im Dorf immer wieder neu aktualisiert wurde. Schweigen im Dorf erscheint wie eine akzeptierte Form der Kommunikation, wobei offen bleibt, was sich hinter dieser Unterbrechung im Sprachfluss verbirgt. Das, was Michel Foucault annimmt? »Was vor allem Wort, was unter jedem Schweigen liegt: das unaufhörliche Geriesel der Sprache. Eine Sprache, die von niemandem gesprochen wird.«44 Das Schweigen im Gutsdorf ist
43 Siehe hierfür auch den Beitrag von Kerstin Brückweh in diesem Band. 44 Michel Foucault, Das Denken des Außen, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frank-
furt a. M. 2000, 5. Auflage, S. 65 f.
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keine inhaltsleere Stille, sondern eine Handlung, die sich nicht in Kommunikation und Sprache abbilden lässt. Sprechen würde bedeuten, das Versteck zu verlassen. Schweigen dagegen ist ein Akt, der das Geheimnis bewahrt.
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Kerstin Brückweh studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Geschichte an der Universität Bielefeld und der Johns Hopkins University, Baltimore, USA. Ihre kriminalitäts- und gewaltgeschichtliche Dissertation wurde an der Bielefelder Universität angenommen und 2006 unter dem Titel Mordlust. Serienmorde, Gewalt und Emotionen im 20. Jahrhundert (Campus Verlag) veröffentlicht. Nach einer Zeit als Redakteurin in einem Lehrbuchverlag wandte sie sich während ihrer Tätigkeit am Deutschen Historischen Institut London von 2007 bis 2013 der neuen Politikgeschichte, der Konsum- und der Wissensgeschichte zu und veröffentlichte u. a. den Sammelband The Voice of the Citizen Consumer. A History of Market Research, Consumer Movements, and the Political Public Sphere (Oxford University Press 2011). Ihre Habilitationsschrift wurde 2013 an der Eberhard Karls Universität Tübingen angenommen und 2015 unter dem Titel Menschen zählen. Wissensproduktion durch britische Volkszählungen und Umfragen vom 19. Jahrhundert bis ins digitale Zeitalter (Oldenbourg/deGruyter Verlag) veröffentlicht. Zurzeit leitet sie die Projektgruppe »Die lange Geschichte der ›Wende‹. Lebenslauf und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989« am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam.
Marcus Böick vertritt gegenwärtig die akademische Ratsstelle am Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft, Soziologie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität begann er 2011 eine von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderte Promotion. Diese hat er unter dem Titel »Manager, Beamte und Kader in einer Arena des Übergangs. Eine Ideen-, Organisations- und Erfahrungsgeschichte der Treuhandanstalt und ihres Personals, 1990–1994« im Sommer 2016 erfolgreich
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abgeschlossen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Zeitgeschichte von DDR und Bundesrepublik, die Geschichte der »Berliner Republik« bzw. »Transformation« sowie die Verbindung von Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Wichtigste Publikationen sind ein Lesebuch zur DDR-Geschichte (Aus einem Land vor unserer Zeit, hrsg. mit Franziska Kuschel und Anja Hertel, Berlin 2011), ein aktuelles Themenheft zu »Vermarktlichung/Marketization« (Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Heft 3/2015, hrsg. zus. mit Ralf Ahrens und Marcel vom Lehn) sowie eine populäre Einführung in die Geschichte der Treuhandanstalt (Die Treuhandanstalt 1990–1994, Erfurt 2015).
Lilith Buddensiek studierte Geschichte, Germanistik und Anglistik in Münster und Granada (Spanien). Neben dem Studium arbeitete sie als Studentische Hilfskraft am Exzellenzcluster »Religion und Politik« der Universität Münster. 2014 legte sie ihr Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien ab. Seit Januar 2015 promoviert sie bei Prof. Dr. Thomas Großbölting zur privaten Einsicht in die Stasi-Unterlagen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geschichte der sozialen Bewegungen, Geschichte der Vergangenheitsaufarbeitung sowie Geschichte der DDR und ihrer Rezeption nach 1990.
Ursula M. Dalinghaus ist Postdoctoral Scholar am Institute for Money, Technology, & Financial Inclusion (Department of Anthropology) an der University of California in Irvine. Sie absolvierte ihren PhD an der University of Minnesota in Kulturanthropologie. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Kommunikation zwischen Ideen der Währungspolitik und einer breiten Öffentlichkeit, der Sozial- und Buchhaltungspolitik von Währungsunionen. Aktuell arbeitet sie an einer ethnographischen und sozialhistorischen Studie, die sich mit der währungspolitischen und ökonomischen Integration in Deutschland seit 1989/90 beschäftigt: Accounting for Money: Keeping the Ledger of Monetary Memory in Germany. Dazu erscheint demnächst auch: Between Memorialization and Monetary Re-Valuation: The 1990 Currency Union as a Site of Post-Unification Memory Work, in: Mary Lindemann / Jared C. Poley (Hg.), Money in the German-Speaking Lands, Oxford/New York 2017 (i. E.); Riding the Rails of Mobile Payments. Financial Inclusion, Mobile Phones, and Infrastructure (zus. mit Stephen C. Rea, Taylor C. Nelms und Bill Maurer), in: Larissa Hjorth / Heather Horst / Anne Galloway u. a. (Hg.), Routledge Companion to Digital Ethnography London 2016, 363–373.
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Irene Götz promovierte im Fach Volkskunde / Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Studie über Unternehmenskultur und habilitierte 2003 an der Humboldt Universität zu Berlin über die »Wiederentdeckung des Nationalen« im wiedervereinigten Deutschland der 1990er Jahre. Sie lehrt – nach Gastprofessuren in Berlin und Innsbruck – seit 2007 als Europäische Ethnologin an der LMU München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Identitätspolitik und Nationalismus, ferner Biografie- und Arbeitsforschung. Sie ist u. a. Mitherausgeberin der Publikationsreihe »Arbeit und Alltag« im CampusVerlag sowie der »Zeitschrift für Volkskunde« und hat die Buchreihe »Ethnografische Perspektiven auf das östliche Europa« im Transcript-Verlag begründet. Wichtigste thematisch einschlägige Veröffentlichungen: Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln/Wien 2011; The Rediscovery of ›the National‹ in the 1990 s – Contexts, new Cultural Forms and Practices in Reunified Germany, in: Nations and Nationalism 2016, 1–21 (http://dx.doi. org/10.1111/nana.12171).
Markus Goldbeck studierte von 2004–2009 Geschichte und Wirtschaftswissenschaft an der Ottovon-Guericke-Universität Magdeburg. Seit 2010 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind die deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts, vor allem die Geschichte der DDR, der SED und des MfS, sowie deren Rezeption nach 1990. Fragen der »Geschichtsaufarbeitung«, aber auch die Geschichte von Verwaltungen und Behörden fanden dabei besondere Beachtung. Publikationen: zusammen mit Thomas Großbölting: Religion, in: Thomas Rahlf (Hg.), Deutschland in Daten. Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 172–185; Freiheit oder Sicherheit? Die Debatte um den Zugang zu den StasiUnterlagen im Kontext von Sicherheits- und Informationspolitik, in: Deutschland Archiv, 21.11.2014, http://www.bpb.de/194807 und Die Ambivalenz staatlicher Förderung: Eine Chance für die DDR-Forschung oder »gefährliche Abhängigkeit«?, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2014, Berlin 2014, S. 1–16.
Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neuste Geschichte am Historischen Seminar der WWU Münster. Nach Studien in Köln, Bonn und Rom hat er in Münster ein Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Geschichte, katholische Theologie und Germanistik abgeschlossen. Ebendort hat er 1998 mit einer Studie zum Bürgertum und zur Bürgerlichkeit in der NS- und in der SEDDiktatur promoviert. In seiner Habilitation analysierte er die Industrie- und Ge-
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werbeausstellungen des langen 19. Jahrhunderts als Medien der Diskussion und Popularisierung von Konsummöglichkeiten in der sich industrialisierenden deutschen Gesellschaft. Seine Publikationen und seine Lehrtätigkeit umfassen verschiedenste Gebiete der deutschen und der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Aktuell befasst er sich mit der Geschichte des religiösen Wandels im Nachkriegsdeutschland und mit den Ausprägungen der DDR-Erinnerung im wiedervereinigten Deutschland.
Ralph Jessen Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften; Promotion 1989 in Bielefeld; Habilitation 1998 an der FU Berlin; 1999–2002 Gastprofessur an der TU Berlin; seit 2002 Professor für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln. Forschungen zur Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und zur Geschichte der beiden deutschen Staaten nach 1945. Publikationen u. a.: Polizei im Industrierevier. Modernisierung und Herrschaftspraxis im westfälischen Ruhrgebiet 1848–1914, Göttingen 1991; Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996 (Hg. mit Richard Bessel); Akademische Elite und kommunistische Diktatur. Die ostdeutsche Hochschullehrerschaft in der Ulbricht-Ära, Göttingen 1999; Voting for Hitler and Stalin. Elections under 20th Century Dictatorships (Hg. mit Hedwig Richter), Frankfurt 2011; Transformations of Retailing in Europe after 1945 (Hg. mit Lydia Langer), Farnham 2012; Konkurrenz in der Geschichte. Praktiken – Werte – Institutionalisierungen (Hg.), Frankfurt 2014.
Sabine Kittel Soziologin, Dr. phil. (FU Berlin). Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Wirken und Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit an westdeutschen Hochschulen« mit Schwerpunkt auf die vier Universitätsstandorte Bremen, Kassel, Kiel und Münster, an der WWU Münster, gefördert von der VolkswagenStiftung. Weitere Forschungsschwerpunkte: Erinnerungskultur und Vergangenheitsaufarbeitung, Biographieforschung und Oral History, Gedächtnis – Erinnern, Vergessen. Aktuelle Publikationen: Jenseits von Zahlen. Überlegungen zur Staatssicherheit der DDR an Westuniversitäten, in: Deutschland Archiv, 4.7.2014, http:// www.bpb.de/187440; Oral History als Methode der zeithistorischen Forschung: Möglichkeiten und Grenzen, in: Britta Kusch-Arnhold u. a. (Hg.), Zeit Zeugnisse. Borkener erinnern sich an Krieg, Verlust und Neubeginn, Borken 2015, S. 38–45.
Ines Langelüddecke Doktorandin an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Transformationsgeschichte, DDR-Geschichte und Adelsgeschichte. Studium der Neueren Geschichte, Politikwissenschaften und Germanistik in Göttingen, Ox-
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ford und an der HU Berlin. Aktuelle Publikationen: Bauernland in Junkerhand? Die Rückkehr des brandenburgischen Adels und die Auseinandersetzungen mit den Bauern nach 1989/90, in: Markus Gloe u. a. (Hg.), Standortbestimmung Deutschlandforschung, Berlin 2016, S. 133–148; Die Staatsicherheit und ihr Ort in Erzählungen über die DDR, in: Knud Andresen u. a. (Hg.), Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute, Göttingen 2015, S. 114–129; Brandenburger Friedhofsfreunde. Die Auseinandersetzung zwischen adligen Rückkehrern und Dorfbewohnern nach 1989/90 in generationeller Perspektive, in: Sönke Grothusen u. a. (Hg.), Generation und Raum. Zur symbolischen Ortsbezogenheit generationeller Dynamiken, Göttingen 2014, S. 165–182.
Nina Leonhard Studium der Politikwissenschaft in Berlin und Paris; deutsch-französische Promotion mit einer Arbeit über den Wandel der Erinnerung an die NS-Zeit in ostund westdeutschen Familien; Habilitation im Fach Soziologie mit einer Arbeit über die Integration vormaliger NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland. Sie ist Privatdozentin am Institut für Soziologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und seit Februar 2016 als Projektleiterin im Forschungsbereich Militärsoziologie am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam tätig. Forschungsschwerpunkte: Gedächtnissoziologie; Wissensoziologie; Militär-, Kriegs- und Gewaltsoziologie. Ausgewählte Publikationen: Integration und Gedächtnis. NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland. Konstanz 2016; Die postheroische Gesellschaft und ihr Militär, in: Matthias Junge (Hg.), Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Wiesbaden 2016, S. 101–121; Gegenwelten. Themenschwerpunkt der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft 41 (2015), 1 (Hg., zus. mit Astrid Kirchhof); Wehrmacht und Zweiter Weltkrieg als Gegenstand der Militär- und Kriegssoziologie, in: Michaela Christ / Maja Suderland (Hg.), Soziologie und Nationalsozialismus. Positionen, Debatten, Perspektiven. Frankfurt a. M. 2014, S. 287–309.
Christoph Lorke studierte von 2004 bis 2009 Geschichte, Germanistik, Pädagogik und Psychologie. Nach dem 1. Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien seit 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte II am Historischen Seminar der WWU Münster. Forschungsschwerpunkte sind die Sozial- und Kulturgeschichte der Armut, deutsch-deutsche Geschichte und europäische Zeitgeschichte. Zurzeit arbeitet er an einer Studie zu Liebesbeziehungen und Eheschließungen mit AusländerInnen in Deutschland vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Frankfurt a. M./New York 2015; ge-
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meinsam mit Eva Gajek (Hg.), Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt a. M./New York 2016.
Rüdiger Schmidt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Neuste Geschichte II am Historischen Seminar der WWU Münster. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert, Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, Deutsche Zeitgeschichte, Militärgeschichte, Geschichte der neuzeitlichen Stadt und Urbanisierung. Aktuelle Veröffentlichungen: Die Konstruktion von Tradition: Inszenierung und Propaganda napoleonischer Herrschaft (1799–1815), Münster 2010 (zus. mit Hans-Ulrich Thamer); Das Ende des Kommunismus. Die Überwindung der Diktaturen in Europa und ihre Folgen, Essen 2010 (zus. mit Thomas Großbölting, Raj Kollmorgen und Sascha Möbius); Der Tod des Diktators. Ereignis und Erinnerung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2011 (zus. mit Thomas Großbölting); Gedachte Stadt – Gebaute Stadt. Urbanität in der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz 1945–1990, Köln/Wien/ Weimar 2015 (zus. mit Thomas Großbölting).
Anja Schröter absolvierte ein Studium der Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und des Öffentlichen Rechts an der Universität Potsdam, das sie mit einer Arbeit zu Eingaben im Umbruch (Deutschland Archiv 1/2012) abschloss. Als Stipendiatin des Walther Rathenau Kollegs Potsdam und assoziierte Doktorandin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) arbeitete sie seit 2012 an ihrer Dissertation zur Rechtskultur in Ostdeutschland anhand der Ehescheidungspraxis zwischen 1980 und 2000. Nach dem Abschluss der Arbeit ist sie seit Oktober 2016 in der Projektgruppe »Die lange Geschichte der ›Wende‹. Lebenswelt und Systemwechsel in Ostdeutschland vor, während und nach 1989« als wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZZF tätig. Ihre Forschungsinteressen liegen u. a. in der Alltagsund Gesellschaftsgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, der Revolutions- und Transformationsgeschichte, Rechts- und Justizgeschichte sowie der politischen Kultur Ostdeutschlands.
Angela Siebold forscht und lehrt zur europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. 2001–2008 Studium der Geschichtswissenschaft, Politischen Wissenschaft und Erziehungswissenschaften. 2008–2011 Promotionsstipendiatin der Gerda Henkel Stiftung. 2012 Promotion zur Geschichte des Schengen-Raums in West- und Osteuropa. 2011–2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. 2014–2016 Mitglied des Vorstands der
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AG Angewandte Geschichte / Public History des VHHD. Seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Wichtigste Publikationen: Was ist Freiheit? Eine historische Perspektive, Frankfurt a. M. 2016 (zus. mit Urte Weeber und Susan Richter); So nah und doch so fern? Die 1980er Jahre historisch erforschen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 46/2015, S. 3–8; 1989 – eine Zäsur von globaler Reichweite?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 24–26/2014, S. 3–9; ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengenraums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven, Paderborn 2013.
Teresa Tammer studierte Geschichte und Philosophie in Berlin und Warschau. 2013 legte sie ihre Masterarbeit über die Ost-Berliner Schwulenbewegung an der Humboldt-Universität vor. Seit 2014 arbeitet sie an ihrer Promotion über schwule Bewegungen und Politiken im geteilten Deutschland, die von Michael Schwartz und Thomas Großbölting betreut wird. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Homosexualitäten, deutsch-deutsche Zeitgeschichte und Geschichte Osteuropas. Zuletzt erschienen ist ihr Beitrag Die Abschaffung strafrechtlicher Diskriminierung von Homosexuellen in der DDR. Eine deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte?, in: Norbert Finzsch / Marcus Velke (Hg.), Queer, Gender, Historiographie. Aktuelle Tendenzen und Projekte, Berlin/Münster 2016, 483–500.
BÜRGERLICHKEIT
Wolfram Pyta / Carsten Kretschmann (Hg.)) NASSAUER GESPRÄCHE
BÜRGERLICHKEIT SPURENSUCHE IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART
Bürgerlichkeit Spurensuche in Vergangenheit und Gegenwart
Pyta / Kretschmann
Herausgegeben von Wolfram Pyta und Carsten Kretschmann
Franz Steiner Verlag
nassauer gespräche der Freiherr-vom-steingesellschaFt – band 9 die herausgeber Wolfram Pyta lehrt Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart und ist zugleich Direktor der Forschungsstelle Ludwigsburg. Im Mittelpunkt seiner Forschungen stehen die Politik- und Kulturgeschichte der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Carsten Kretschmann ist Akademischer Rat am Historischen Institut der Universität Stuttgart. Seit seiner Dissertation zu Naturhistorischen Museen im 19. Jahrhundert hat er sich immer wieder mit Aspekten der bürgerlichen Lebensführung in den Umbrüchen der Moderne beschäftigt.
Das Ende des Bürgertums ist bereits mehr als einmal beschworen worden – stets zu Unrecht, wie sich gezeigt hat. Über zweihundert Jahre nachdem die Idee der bürgerlichen Gesellschaft Wirklichkeit zu werden begann hat sie an Attraktivität kaum verloren. Bürgerliche Tugenden wie Bildungsstreben, Leistungsbereitschaft und ökonomische Solidität stehen gerade heute hoch im Kurs. Ungebrochen waren die Wege, die das Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert beschritt, freilich nicht. Das ist das Ergebnis der Spurensuche, die dieses Buch unternimmt. Von der preußischen Reformzeit über das Kaiserreich, von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Nachkriegszeit zeichnet es ein facettenreiches Bild von dem, was frühere Zeiten unter Bürgerlichkeit verstanden. Eine solche Suche nach historischen Genealogien lässt die Forderungen des Tages allerdings nicht in den Hintergrund rücken. Der immer lauter werdende Ruf nach umfassender Bürgerbeteiligung bei staatlichen Großprojekten lässt die bürgerlichen Traditionslinien in neuem Licht erscheinen. Und nicht zuletzt die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus zwingt die moderne Gesellschaft, sich mit den Normen und Werten auseinanderzusetzen, auf denen sie historisch beruht. mit beiträgen von Manfred Hettling, Andreas Schulz, Gunilla Budde, Stephen Pielhoff, Jörg Lesczenski, Peter Theiner, Marcus Gräser, Sebastian Hansen, Till van Rahden, Christoph Lorke, Carsten Kretschmann
2016 209 Seiten mit 5 s/w-Fotos. 978-3-515-11249-9 geb. 978-3-515-11268-0 e-book
Hier bestellen: www.steiner-verlag.de
WSR 1
Weimar als Herausforderung www.steiner-verlag.de
Weimar als Herausforderung Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert
Herausgegeben von Michael Dreyer und Andreas Braune Weimarer Schriften zur republik
Michael Dreyer / Andreas Braune (Hg.)
Weimar als Herausforderung
WSR
Franz Steiner Verlag
Dreyer / Braune
Franz Steiner Verlag
Die Weimarer Republik und die Demokratie im 21. Jahrhundert
1 Weimarer schriften zur republik – band 1 die herausgeber Michael Dreyer ist Professor für politische Theorie und Ideengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vorstandsvorsitzender des Weimarer Republik e.V. und Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik. Andreas Braune ist Politikwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Die deutsche Demokratie steht im 21. Jahrhundert vor neuen und vielfältigen Herausforderungen: Sinkende Wahlbeteiligung und steigende Politikverdrossenheit, neue Parteien und Protestbewegungen (zum Teil mit sehr alten Ideen), Terror in der Welt und die Rückkehr des Krieges nach Europa, soziale Ungleichgewichte in Europa und in Deutschland – die Liste ließe sich verlängern. Soll ausgerechnet die Weimarer Republik, die „überforderte Republik“ (Ursula Büttner), Antworten auf diese Fragen parat haben? Mit dem näher rückenden Zentenarium der ersten deutschen Demokratie untersuchen die Autorinnen und Autoren, welche Herausforderungen „Weimar“ heute an Wissenschaft und museale Vermittlung, an politische Bildung und politische Praxis stellt – und wie „Weimar“ helfen kann, unsere Demokratie heute zu beleben. mit beiträgen von Heiko Maas, Alexander Gallus, Andreas Braune, Marcus Llanque, Tim B. Müller, Ursula Büttner, Detlef Lehnert, Christoph Gusy, Franz Josef Düwell, Walter Mühlhausen, Torsten Oppelland, Martin Sabrow, Arnulf Scriba, Alf Rößner, Thomas Schleper, Stephan Zänker, Christian Faludi, Moritz Kilger, Michael Dreyer
2016 XVI, 310 Seiten mit 11 Fotos, 10 Abbildungen und 3 Tabellen 978-3-515-11591-9 kart. 978-3-515-11592-6 e-book
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Der Fall der Berliner Mauer und die Wiedervereinigung beendeten vierzig Jahre Trennung von Bundesrepublik und DDR. Diese Ereignisse waren zweifelsohne von nationaler und internationaler Bedeutung. Die empathische Erinnerung daran markiert den Gründungsmythos eines wiedervereinigten Deutschlands wie auch den eines sich erweiternden Europas. Mit größer werdendem zeitlichem Abstand wird diese euphorische Lesart allerdings zunehmend blasser. Nicht nur die Verwerfungen der Banken- und Eurokrise seit 2008, sondern zahlreiche andere Prozesse und Ereignisse lassen die Ambivalenzen der Entwicklung seit Ende der 1980er Jahre deutlicher hervortreten. Aus der politikhistorisch so einschneidenden Zäsur wird in der Rückschau ein immer weicherer und mehrdeutiger Übergang. Was verband und verbindet die Deutschen in Ost und West vor und nach 1990? Welche Gemeinsamkeiten prägen die Vereinigungsgesellschaft, welche Trennlinien durchziehen sie bis heute? Diesen Fragen gehen die Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen nach und entwerfen auf diese Weise ein facettenreiches Bild der deutschen Geschichte der vergangenen drei Jahrzehnte.
ISBN 978-3-515-11682-4