Deutsches Waschpulver und polnische Wirtschaft: Die Lebenswelt polnischer Saisonarbeiter. Ethnographische Beobachtungen [1. Aufl.] 9783839423332

Ausgerüstet mit Tütensuppen und Schmerzmitteln begeben sich Jahr für Jahr polnische Erntehelfer nach Deutschland. Welche

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German Pages 254 Year 2014

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Deutsches Waschpulver und polnische Wirtschaft: Die Lebenswelt polnischer Saisonarbeiter. Ethnographische Beobachtungen [1. Aufl.]
 9783839423332

Table of contents :
Inhalt
Feldforschung im strikten Sinn des Wortes
Als Soziologin auf dem Erdbeerfeld
Arnswald – ein Dorf im Strukturwandel
Gruppenbildung zwischen Klatsch und Neid
Polen und Deutsche – idealisiert und diskriminiert
Rudnica – Heimat polnischer Wanderarbeiter
Wanderarbeit in emotional-sozialer Perspektive
Erntehelfer in der Tradition der "Sachsengänger"
„Meist merkt man, dass etwas geschehen ist“ - die Kinder der Wanderarbeiter
Lokale Gesellschaften und „unvollständige Migration
Wanderarbeit zwischen Ideologie und Alltag
Literatur
Autorinnen und Autoren

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Mathias Wagner, Kamila Fiałkowska, Maria Piechowska, Wojciech Łukowski Deutsches Waschpulver und polnische Wirtschaft

Kultur und soziale Praxis

Mathias Wagner (Dr. phil.) ist Soziologe an der Universität Bielefeld. Kamila Fiałkowska (MA), KAAD-Stipendiatin, Migrationsforscherin, ist Doktorandin an der Universität Warschau. Maria Piechowska (MA), Kulturanthropologin, ist Doktorandin an der Universität Warschau. Wojciech Łukowski (Prof. Dr.), Politologe, lehrt und forscht an der Universität Warschau.

Mathias Wagner, Kamila Fiałkowska, Maria Piechowska, Wojciech Łukowski

Deutsches Waschpulver und polnische Wirtschaft Die Lebenswelt polnischer Saisonarbeiter. Ethnographische Beobachtungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Die Autoren Lektorat & Satz: Matthias Öhler (Bonn) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2333-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Feldforschung im strikten Sinn des Wortes

Mathias Wagner | 9

Als Soziologin auf dem Erdbeerfeld

Maria Piechowska | 21

Arnswald – ein Dorf im Strukturwandel

Mathias Wagner | 47

Gruppenbildung zwischen Klatsch und Neid

Kamila Fiaákowska | 87

Polen und Deutsche – idealisiert und diskriminiert

Kamila Fiaákowska, Mathias Wagner | 111

Rudnica – Heimat polnischer Wanderarbeiter

Mathias Wagner | 123

Wanderarbeit in emotional-sozialer Perspektive

Mathias Wagner | 145

Erntehelfer in der Tradition der „Sachsengänger“

Maria Piechowska, Kamila Fiaákowska | 165

„Meist merkt man, dass etwas geschehen ist“ – die Kinder der Wanderarbeiter

Mathias Wagner | 183

Lokale Gesellschaften und „unvollständige Migration“

Wojciech àukowski | 209

Wanderarbeit zwischen Ideologie und Alltag

Mathias Wagner | 219

Literatur | 237

Autorinnen und Autoren | 249

Das Forschungsprojekt „Wanderarbeit als Alltagspraxis. Soziokulturelle Effekte saisonaler Migration in lokalen Gesellschaften: Fallstudien aus Polen und Deutschland“ sowie die vorliegende Publikation wurden finanziert von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung/Polsko Niemiecka Fundacja na Rzecz Nauki. An der Realisierung waren beteiligt: Dr. Mathias Wagner, Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, und Prof. Dr. Wojciech àukowski sowie die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen/Doktorandinnen Kamila Fiaákowska und Maria Piechowska am Centre for Migration Research der Universität Warschau. www.uni-bielefeld.de/tdrc/ag_comcad/research/migratory_labour.html

Feldforschung im strikten Sinn des Wortes „What know they of England, who only England know.“ RUDYARD KIPLING: THE ENGLISH FLAG

Unsere Forschung fokussierte die alltägliche Lebenssituation polnischer Wanderarbeiter, die in deutschen landwirtschaftlichen Betrieben tätig sind. Diese Schwerpunktsetzung auf die Landwirtschaft ergab sich aus methodischen Überlegungen. Für eine ethnografische Studie ist eine Mindestzahl von Akteuren notwendig, damit sich überhaupt ein gewisses Spektrum an sozialen Aktivitäten entwickeln kann. Aus diesem Grund schied eine Forschung über die häusliche Pflege oder die Arbeit von Raumpflegerinnen aus. Die Erfahrungen von Pflegekräften, Raumpflegerinnen und anderen Arbeitern wurden von uns aber auch ausgewertet. Die Kontaktaufnahme mit ihnen erfolgte allerdings nicht in ihrem deutschen Arbeitsumfeld, sondern in ihren polnischen Heimatorten. Im Zentrum der Forschung standen die jeweils sechswöchigen verdeckten teilnehmenden Beobachtungen der beiden Doktorandinnen Kamila Fiaákowska und Maria Piechowska in deutschen Landwirtschaftsbetrieben. Sie wurden als polnische Saisonarbeiterinnen angestellt, ohne dass der Inhaber und die anderen Arbeiter vom wissenschaftlichen Ziel der beiden Forscherinnen wussten. Am Ende ihres Aufenthaltes in Deutschland baten diese allerdings ihre „Kollegen“ um ein Interview im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit, während die Landwirte gänzlich uninformiert blieben. Ein zweiter Forschungsteil fand in polnischen Ortschaften mit einem hohen Anteil an Wanderarbeitern statt. Um den regional unterschiedlichen historischen und ökonomischen Bedingungen gerecht zu werden, wurden dafür

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drei Gemeinden in verschiedenen Woiwodschaften1 ausgewählt: Olecko in der Woiwodschaft Ermland-Masuren, Biágoraj in der Woiwodschaft Lublin sowie die Gemeinde ĝwierzawa in der Woiwodschaft Niederschlesien.2 In jeder Gemeinde wurden für ungefähr zehn Monate Feldforschungen durchgeführt. Ein dritter Forschungsabschnitt erfolgte in einer norddeutschen Gemeinde mit mehreren landwirtschaftlichen Betrieben, in denen während der Erntezeit eine große Anzahl polnischer und rumänischer Erntehelfer beschäftigt waren. Ziel war es dabei, beispielhaft die Reaktionen der ansässigen Bevölkerung auf die Anwesenheit der ausländischen Saisonkräfte zu untersuchen. Traditionell kommt die Mehrzahl der Erntehelfer in der deutschen Landwirtschaft aus Polen. Mit Öffnung der Arbeitsmärkte anderer europäischer Staaten trat zwar in den Jahren 2005 bis 2006 ein Mangel an polnischen Erntehelfern ein, aus unterschiedlichen Gründen kam es aber schon bald wieder zu einer verstärkten Rückkehr polnischer Saisonarbeiter nach Deutschland.3 Gleichzeitig begannen deutsche Landwirte auch rumänische Arbeiter anzuwerben. Deren Anteil an den Erntehelfern ist aber weiterhin relativ gering. So kamen in einem von uns untersuchten landwirtschaftlichen Großbetrieb weniger als 20 Prozent der Saisonarbeiter aus Rumänien. Auch für die Zukunft wird von den deutschen Landwirten kein nennenswerter Zuwachs rumänischer Arbeitskräfte erwartet, da zum einen das Bevölkerungspotenzial des Landes als zu gering eingeschätzt wird, und zum anderen traditionell starke Migrationsbewegungen von Rumänien in die

1

Regionale polnische Verwaltungseinheit mittlerer Größe, im Umfang vergleich-

2

Die drei Gemeinden werden nicht anonymisiert, da sie aufgrund ihrer Größe

bar mit deutschen Bundesländern aber ohne deren politische Bedeutung. Anonymität gewährleisten. Bei allen sonstigen Personen- und Ortsnamen handelt es sich um Pseudonyme. 3

Gründe für die Rückkehr nach Deutschland waren in erster Linie gewachsene Migrationsstrukturen, die eine Arbeitsaufnahme in Deutschland erleichterten, sowie bessere Verdienstmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen als in anderen Ländern. Angelockt durch hohe Löhne in Großbritannien waren die polnischen Arbeitskräfte aber mit dem in Großbritannien teureren Lebensunterhalt konfrontiert. Zudem stellten die britischen Betriebe den Saisonkräften teilweise keine betriebseigenen Unterkünfte zur Verfügung, sondern erwarteten von den Arbeitern, dass diese derlei Probleme selbstständig lösten.

FELDFORSCHUNG IM STRIKTEN SINN DES WORTES | 11

Mittelmeerstaaten bestehen.4 Vor dem Hintergrund der seit 1990 gewachsenen Migrationsbeziehungen und gemeinsamer Erfahrungen von Deutschen und Polen wird die Aussage eines Vertreters der Landwirtschaftskammer verständlich, für die Landwirte seien die Polen „so etwas wie der Mercedes unter den Saisonarbeitern“. Der Titel unseres Buches ist erklärungsbedürftig, da er das deutsche Vorurteil „polnische Wirtschaft“ aufgreift und zugleich das polnische Stereotyp der „deutschen Ordnung“ paraphrasiert. Detailliert hat Hubert Orlowski Entstehung und Kontinuität des Vorurteils der „polnischen Wirtschaft“ nachgewiesen. Seit über 200 Jahren wird mit dem Begriff ein Polenbild von Müßiggang, Unordnung und Verschwendung gezeichnet.5 Andererseits stieß der polnische Freiheitskampf im 19. Jahrhundert auf große Begeisterung in Deutschland, die bei den Streiks der Gewerkschaftsbewegung „SolidarnoĞü“ in den 1980er Jahren wiederbelebt wurde. Östlich der Oder besteht als Gegenpol das Vorurteil einer „deutschen Ordnung“. Alle aufgezählten Perspektiven spiegeln Klischees des Nachbarlandes wider, deren Spuren sich bis in die Gegenwart verfolgen lassen. Gleichzeitig zeigt das Interesse deutscher Unternehmer an polnischen Arbeitskräften, dass die reale polnische Wirtschaft der Gegenwart mit dem Stereotyp nichts gemein hat. Polen werden heute als Handwerker und ausdauernde Arbeitskräfte in deutschen Landen geschätzt. Im Buchtitel wird die in Polen weitverbreitete Vorstellung aufgegriffen, Waschmittel aus deutscher Produktion zeichne eine besondere Qualität aus. Da es sich in der Regel um international agierende Konzerne handelt, sind die gleichen Produkte unter demselben Namen auch in Polen erhältlich. Es gehört zum festen Ritual der Wanderarbeiter, in Deutschland große Mengen Waschpulver zu kaufen. Ein zentrales Element unserer Arbeit war die verdeckte teilnehmende Beobachtung unter polnischen Wanderarbeitern in deutschen landwirtschaftlichen Betrieben. Während die teilnehmende Beobachtung zum festen Instrumentarium ethnografischer Forschungsmethoden zählt, wirft eine

4

Die Hoffnung der deutschen Landwirte richtet sich für die Zukunft auf den ukrainischen Arbeitsmarkt. Hier wünscht man sich Erleichterungen in der Anwerbung, da es sich um einen Staat mit hoher Arbeitslosigkeit, niedrigem Lebensstandart und großer Bevölkerungszahl handelt.

5

Orlowski 1996: 157.

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verdeckte Beobachtung ethische Probleme auf. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird die teilnehmende Beobachtung in der Erforschung sozialer Felder in der Ethnologie, Soziologie und zunehmend auch in den verwandten sozialwissenschaftlichen Disziplinen angewandt. Feldforschungen erstrecken sich in dem von uns benutzen Sinn über einen langen, in der Regel mehrere Monate umfassenden Zeitraum. Während dieser Zeit teilt der Forscher in einem möglichst breiten Umfang den Alltag der von ihm untersuchten Akteure. Er beobachtet sie und erfährt dabei Zusammenhänge aus deren Sicht, sodass sich seine Fremdperspektive relativiert.6 Erst mit Kenntnis des Kontextes wird es möglich, die sozialen Handlungen in ihrer Bedeutung zu beschreiben und allgemein geläufige Begriffe in ihrer spezifischen Bedeutung zu verstehen.7 Der Feldforschung ist insoweit auch ein subjektives Element eigen, als der Zugang zum Feld immer von der Persönlichkeit des Wissenschaftlers abhängt.8 Die Teilnahme über einen langen Zeitraum stellt für den Wissenschaftler einen Lernprozess dar, der zumindest ansatzweise mit einer sekundären Sozialisation verglichen werden kann, wie sie beispielsweise Soldaten beim Eintritt in die Armee durchlaufen. Während bei der teilnehmenden Beobachtung die Akteure in der Regel über den Grund der Anwesenheit des Wissenschaftlers informiert sind, taucht der Forscher bei der verdeckten Teilnahme inkognito in der zu untersuchenden Gruppe unter. Der Bielefelder Soziologe George Psathas schreibt dazu in einem Artikel zur Ethnomethodologie: „Wird diese Methode in der Weise verhüllt eingesetzt, dass der Beobachter tatsächlich ein Mitglied der untersuchten Gruppe wird und in ihr eine Rolle spielt, die die anderen als eine wirkliche Identität ansehen und nicht als eine Rolle, die für den Zweck der Datensammlung angenommen wurde, dann eröffnet sich für den beobachtenden Forscher die Möglichkeit, diese Rolle von innen her zu erfahren.“9

6

Girtler 1980: 6.

7

Rerrich 2006: 67; Kelle/Kluge 1999: 26; Friedrichs/Lüdtke 1971: 76f.;

8

Spülbeck 1997: 19; Friedrichs/Lüdtke 1971: 23.

9

Psathas 1973: 279.

Dammann 1991: 39, 44.

FELDFORSCHUNG IM STRIKTEN SINN DES WORTES | 13

Damit besteht die Chance, soziale und sozialpsychologische Reaktionen in einer gruppendynamischen Perspektive wahrzunehmen. Es muss an dieser Stelle aber auch betont werden, dass bestimmte Aspekte, bei denen es sich häufig um illegale Handlungsweisen handelt, nur in verdeckter Teilnahme zu erforschen sind. Nicht umsonst bedienen sich investigative Journalisten wie Günter Wallraff dieser Methode, um hierarchische, manipulative oder kriminelle Strukturen offenzulegen. Beispielsweise war es nur so möglich, die Tätigkeit informeller Vermittler sowie hierarchische Strukturen zu erfassen. In einem Betrieb mit schlechten, diskriminierenden Arbeitsbedingungen und ausgeprägter Hierarchie wäre eine offene teilnehmende Beobachtung nicht durchzuführen gewesen. Vermutlich hätte der Landwirt seine Zustimmung verweigert oder die Anwesenheit der Wissenschaftlerin hätte ihn dazu veranlasst, vorsichtiger und rücksichtsvoller mit ihr umzugehen. Wir können also festhalten, dass bestimmte Erkenntnisse unserer Forschung nur auf der Basis einer verdeckten teilnehmenden Beobachtung zugänglich waren.10 In dieser Arbeitsweise wird nicht nur das Besondere un-

10 In einigen angelsächsischen Ländern können Sozialwissenschaftlern nur dann Forschungsergebnisse und Interviews veröffentlichen, wenn vorher die schriftliche Einverständniserklärung der Interviewpartner und Beobachteten besteht. Sollte sich diese Vorgabe durchsetzen, wird jede ethnografische Feldforschung unmöglich. Dabei handelt es sich aber nicht um eine datenrechtliche Maßnahme zum Schutz der Akteure, wie die Verfechter dieser Einschränkungen glauben machen wollen. Vielmehr muss dieses Vorgehen als Ausdruck von Herrschaftsbeziehungen verstanden werden, da vor allem unterprivilegierte Akteure aus sozialen Unterschichten vor einer Unterschrift zurückschrecken. Für sie bleibt nicht nur die wissenschaftliche Methode der Sozialforschung häufig undurchsichtig, sie befürchten auch mit ihrer Unterschrift eine nicht absehbare Konsequenz einzugehen. Damit würde sich das Prinzip der Parlamentswahlen auch in der Sozialforschung durchsetzen: Die Meinung der Unterschichten wird in Wahlen nicht deutlich, da sie nicht zur Wahl gehen. Im Übrigen ist das angelsächsische Prinzip bürokratischer Nonsens. Denn indem der Akteur einem Interview zustimmt, macht er mit dieser Handlung automatisch sein Einverständnis deutlich, und der Wissenschaftler schützt seine Informanten dadurch, dass er ihre Berichte anonymisiert.

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serer Forschung deutlich, sondern setzt gleichzeitig auch unsere Kritik an anderen Arbeiten über polnische Wanderarbeiter in der Landwirtschaft an.11 Manch ein Leser12 mag über den von uns verwendeten Begriff „Wanderarbeiter“ erstaunt sein, spricht man doch in den Medien eher von „Arbeitsmigranten“ oder „Saisonarbeitern“. In der Migrationsforschung wird die regelmäßige Mobilität zwischen zwei Ländern auch als „Pendelmigration“, „rotierende“ oder „zirkuläre Migration“ beschrieben.13 Diese Differenzierungen zielen auf die jeweilige Mobilitätsform, wobei wir der Ansicht sind, dass der Begriff des „Wanderarbeiters“ die Lebenssituation in den Vordergrund rückt. Auch ist Becker zuzustimmen, wenn er den Begriff des „Erntehelfers“ für die landwirtschaftlichen Wanderarbeiter als Euphemismus bezeichnet.14 In Westermanns Lexikon der Geographie findet sich folgende Definition: „Wanderarbeiter, oft Saisonarbeiter, die regelmäßig zur Wahrnehmung temporär entstehender Beschäftigungsmöglichkeiten größere Entfernungen zwischen ihrem Heimatort (ohne ausreichende Beschäftigungs-Basis) und ihrem Arbeitsort zurücklegen.“15 Legen wir diese Definition zugrunde, so kann man von Wanderarbeit sprechen, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: • • •

die weiträumige Trennung von Wohn- und Arbeitsort, eine temporäre und daher prekäre Beschäftigungsform, ein wirtschaftliches Gefälle zwischen Wohn- und Arbeitsort,

11 Zum Beispiel Becker 2010; Bock und Pollach 2011. Beide sind über den Landwirt an polnische Vorarbeiter herangetreten, und diese haben ihnen dann Kontakte zu den Arbeitern vermittelt. Erschwerend war dabei zusätzlich, dass sie sich teilweise eines Dolmetschers bedienten. 12 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form implizit. Nur wenn aus dem Sinnzusammenhang deutlich wird, dass überwiegend Frauen gemeint sind, benutzen wir die weibliche Form. Damit ist keinerlei Diskriminierung beabsichtigt. Vielmehr sprechen wir uns zugunsten der Lesbarkeit des Textes gegen sprachliche Stolpersteine aus. 13 Cyrus 2008: 175. Andere Begriffe: „Fernpendler, Wochenendpendler, Variomobile“ (Schneider/Limmer/Ruckdeschel 2002: 160). 14 Becker 2010: 4. 15 Tietze 1970: 895.

FELDFORSCHUNG IM STRIKTEN SINN DES WORTES | 15

• •

der regelmäßig durchgeführte Wechsel zwischen Wohn- und Arbeitsort, die Angehörigen verbleiben am Wohnort.16

Wanderarbeiter können sich also auch innerhalb eines Staates zwischen zwei Regionen bewegen. Die Arbeitskräfte müssen in den Herkunftsgebieten abkömmlich sein und nur über geringe Verdienstmöglichkeiten verfügen, während in der Zielregion ein Bedarf an Arbeitskräften besteht sowie ein vergleichsweise hoher Lohn geboten wird.17 Wanderarbeit, so lassen sich diese Überlegungen zusammenfassen, muss als übergreifender Begriff verstanden werden, mit dem unterschiedliche Arbeitsbereiche wie landwirtschaftlichen Erntehelfer, Pflegekräfte, Raumpflegerinnen, Forstarbeiter u.a erfasst werden. In jedem Fall erfolgt aber ein regelmäßiger Wechsel zwischen Arbeits- und Wohnort, wobei es nebensächlich ist, ob der Wechsel wöchentlich oder einmal jährlich stattfindet. Gemeinsam ist unseren Protagonisten der Wechsel zwischen Polen und Deutschland.

H ISTORISCHE K ONTINUITÄT Die Spuren der Wanderarbeit lassen sich in der Geschichte Europas bis ins Mittelalter zurückverfolgen. In Südfrankreich verließen im 14. Jahrhundert Männer und Frauen regelmäßig für mehrere Monate ihre Departements, um sich als Wanderarbeiter in der Landwirtschaft und in fremden Haushalten ihren Lebensunterhalt zu verdienen.18 Als „Schwabenkinder“ bezeichnete man Kinder der Alpenregionen, die im süddeutschen Raum von Frühjahr bis Herbst bei Bauern arbeiten mussten.19 Vom 17. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gehörte das alljährliche „Schwabengehen“ zum Alltag der armen Bergbauern. Aus dem 19. Jahrhundert sind die „Hollandgänger“ bekannt. Sie kamen aus den östlich der Niederlande gelegenen deutschen Provinzen und verdingten sich in den Niederlanden während der Erntezeit als Tagelöhner.20 Das Pendant zur „Hollandgängerei“ war die

16 Ebd. 45; Leser 2005: 1059. 17 Bade 2002: 16f. 18 LeRoy Ladurie 1983: 75. 19 Brugger/Zimmermann 2013: 72ff. 20 Jarren 1992: 222.

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„Sachsengängerei“21. Letztere beschreibt die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Wanderung von landwirtschaftlichen Saisonarbeitern aus Galizien, Schlesien und Pommern nach Sachsen, Preußen und Westfalen. Im 19. Jahrhundert setzte eine Wanderung in die westlichen Industriereviere des Deutschen Reiches ein. Der in Mittel- und Ostdeutschland vor allem während der Erntezeiten deutlich spürbare Mangel an Arbeitskräften wurde durch Wanderarbeiter aus dem heutigen Polen ersetzt.22 Vor dem Ersten Weltkrieg lebte circa ein Viertel der Bevölkerung Polens von der Arbeitsmigration.23 Für 1914 wird die Zahl von 433.000 polnischen Saisonarbeitern angegeben, die in der deutschen Landwirtschaft beschäftigt waren. Wie der Historiker Klaus Bade bemerkt, bestand eine große Abhängigkeit der deutschen Landwirtschaft von diesen Arbeitskräften.24 Seit Ende des 19. Jahrhunderts bildete die polnische Migration nach Deutschland eines der umfangreichsten und wichtigsten europäischen Migrationssysteme.25 Selbstverständlich brach dieses System der Migration mit dem Ersten Weltkrieg zunächst zusammen. In der Zwischenkriegszeit lebte es wieder auf, bis es 1939 mit dem Überfall auf Polen und dem Beginn der Zwangsarbeit erneut einfror. Mit der Nachkriegsordnung schlossen sich die polnischen Westgrenzen für Arbeitsmigranten. Erst in den 1980er Jahren gelangten zunächst einzelne Arbeitsmigranten wieder nach Westdeutschland. Unmittelbar nach Öffnung der Grenzen zwischen Polen und Deutschland 1990 setzte wiederum eine umfangreiche, in der Mehrzahl temporäre Westwanderung ein. Es hat den Anschein, als hätte das beschriebene Migrationssystem aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert seinen Dornröschenschlaf beendet, um nun – nur in Nuancen verändert – wiederzuerstehen. Im Sinne des Historikers Fernand Braudel kann man hier von einer „longue durée“26, einem langen Zeitverlauf sprechen. Auf der Grundlage eines westöstlichen ökonomischen Gefälles hat sich zwischen Deutschland und Polen eine Struktur der Migration entwickelt. Dabei handelt es sich um

21 Obermeier 1999: 1. 22 Friedeburg 2004: 79. 23 Bade 2002: 158. Die Aussage bezieht sich auf die Herkunft der Arbeiter aus Regionen, die nach dem Ersten Weltkrieg zum polnischen Staatsgebiet gehörten. 24 Ebd. 225. 25 Moch 2003: 124f. 26 Braudel 1977: 49.

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„ein Gefüge, aber mehr noch eine Realität, die von der Zeit wenig abgenutzt und sehr lange fortbewegt wird.“27 Nur im Kolorit der Zeit unterscheidet sich die Wanderarbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts von der vor hundert Jahren. Abbildung1: Annonce in Polen – „Nach Deutschland und Holland“

Quelle: Autoren

Um das zu erkunden, laden wir den Leser ein, uns auf deutsche Erdbeerhöfe sowie in polnische und deutsche Dörfer zu folgen. Es wird eine Reise, bei der wir die sozialen Spuren der polnisch-deutschen Wanderarbeit Schicht für Schicht freilegen. Nach unserem Selbstverständnis ethnografischer Methoden scheuen wir uns dabei auch nicht vor „Handarbeit“, bei der wir auch schon mal mit schmutzigen Fingern vom Feld zurückkommen, bevor wir am Schreibtisch unsere Beobachtungen interpretieren.

V ORBEMERKUNG UND D ANKSAGUNG Das Buch ist eine Gemeinschaftsarbeit unserer Forschungsgruppe. Im Unterschied zu klassischen Sammelbänden der Sozialwissenschaften, die von 27 Ebd. 55.

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einem Rahmenthema zusammengehalten werden, bauen hier die einzelnen Kapitel aufeinander auf. Sowohl die Forschung als auch die schriftliche Ausarbeitung der Ergebnisse erfolgte im kontinuierlichen wechselseitigen Arbeitsprozess. Daher ist das vorliegende Buch in allen Teilen ein kollektives Produkt, was auch durch die Nennung aller Mitarbeiternamen auf dem Titelbild und in den Kopfzeilen zum Ausdruck kommt. Anhand des Inhaltsverzeichnisses lässt sich jedoch die primäre Autorenschaft der einzelnen Kapitel nachvollziehen. Im Kapitel „Als Soziologin auf dem Erdbeerfeld“ begleitet der Leser Maria Piechowska während ihrer Feldforschung bei der Erdbeerernte in einem kleinen landwirtschaftlichen Betrieb. Anschließend wenden wir im Kapitel „Arnswald – ein Dorf im Strukturwandel“ die Perspektive und fragen nach den Reaktionen der deutschen Einwohner auf die Anwesenheit polnischer Wanderarbeiter. Im folgenden Kapitel „Gruppenbildung zwischen Klatsch und Neid“ gewährt uns Kamila Fiaákowska einen Blick in das soziale Leben eines Betriebes mit ungefähr 200 Saisonarbeitskräften. Diese Erfahrungen und Beobachtungen leiten über zu der Frage, wie sich Deutsche und Polen wahrnehmen („Polen und Deutsche – idealisiert und diskriminiert“). Anschließend führt uns das Kapitel „Rudnica – Heimat polnischer Wanderarbeiter“ in eine beispielhafte polnische Gemeinde, in der mehrere Einwohner wohnen, die unterschiedliche Formen der Wanderarbeit in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, privaten Pflege oder in Privathaushalten ausüben. Des Weiteren beschäftigen wir uns mit den emotionalen Problemen und sozialen Konsequenzen, mit denen sich Wanderarbeiter auseinandersetzen müssen („Wanderarbeit in emotional-sozialer Perspektive“). Danach kehren wir noch einmal auf die deutschen Erdbeerhöfe zurück, um Einzelaspekte im Alltag der Wanderarbeiter zu betrachten („Erntehelfer in der Tradition der ‚Sachsengänger‘“). Im Kapitel „Die Kinder der Wanderarbeiter“ wenden wir uns einem Thema zu, dass unter dem Schlagwort der „Eurowaisen“ seit einigen Jahren von polnischen Medien aufgegriffen wird. „Lokale Gesellschaften und ‚unvollständige Migration‘“ lautet die Überschrift eines Kapitels, in dem wir einen Aspekt der polnischen Migrationsforschung zum Phänomen der temporären Migration von Wanderarbeitern vorstellen. Am Ende des Buches stellt das Kapitel „Wanderarbeit zwischen Ideologie und Alltag“ den Versuch dar, Wanderarbeit im gesellschaftlichen Kontext kritisch zu analysieren. Die polnischen Interviewzitate sind als Fußnote angefügt. Zum Teil wurden die Übersetzungen sprachlich leicht geglättet.

FELDFORSCHUNG IM STRIKTEN SINN DES WORTES | 19

Die Autoren bedanken sich bei der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und speziell bei Thomas Faist, dessen Unterstützung die Forschung ermöglicht hat. Außerdem danken wir dem Centre of Migration Research der Universität Warschau für die vielfältigen Hilfen bei den Treffen unserer Arbeitsgruppe. Die Deutsch-Polnische Wissenschaftsstiftung finanzierte die Forschung und die vorliegende Publikation der Ergebnisse. Auch dafür möchten wir uns bedanken. Ein besonderes Dankeschön gilt Matthias Öhler (Bonn), der das Lektorat durchführte. Mit gewohnter Akribie, Geduld und Humor gelang es ihm, die Fehler und Nachlässigkeiten der Autoren aufzuspüren.

Als Soziologin auf dem Erdbeerfeld „Wenn Anthropologen uns dazu bringen können, das, was sie sagen, ernst zu nehmen, so hat das weniger mit faktengesättigtem Blick oder mit begrifflich eleganter Pose zu tun als damit, dass sie in der Lage sind, uns davon zu überzeugen, dass das, was sie sagen, ein Resultat davon ist, dass sie eine andere Lebensform wirklich durchdrungen haben (oder, wenn man das vorzieht, sich von ihr haben durchdringen lassen), davon, dass sie auf die eine andere Weise wahrhaft ‚dort gewesen‘ sind.“ CLIFFORD GEERTZ: DIE KÜNSTLICHEN WILDEN

Ich hob eine Birne vom Boden, die soeben vom Baum gefallen war, und biss in die süße, saftige Frucht. Langsam ging ich in Richtung Betrieb. Obwohl mir Hände und Rücken von der langen Arbeit beim Erdbeerpflücken und dem anschließenden Beschneiden der Obstbäume schmerzten, war ich glücklich. Ich esse gerne Birnen. Der deutsche Landwirt, für den ich arbeitete, lachte, als er mich Fallobst essen sah: „Du kannst in den Kühlraum gehen und dir etwas Obst holen“, sagte er in seinem mir fremden Dialekt, von dem ich jedoch jeden Tag immer mehr verstand. Ich mochte aber lieber „frische“ Früchte. Es waren die süßesten Birnen, die ich je gegessen hatte. Ich schlenderte also weiter, aß Birnen und freute mich des Augenblicks. Zwar spürte ich meine müden Glieder, hatte aber ansonsten keine weiteren Probleme: Ich musste mir keine Gedanken über mein Zuhause, die Familie,

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Stromrechnung, Miete und all die Kleinigkeiten machen, mit denen ich mich täglich in Warschau beschäftigte. Meine einzigen Sorgen galten in diesem Moment den Schmerzen im Rücken vom Erdbeerpflücken und in den Händen von der Baumschere, mit der ich die Zweige der Birnenbäume gekürzt hatte. Abgeschnitten von meiner Warschauer Welt arbeitete ich auf Feldern und in Gärten, die 1000 km von zu Hause entfernt waren. Die nächste Birne vom Boden aufhebend erinnerte ich mich daran, wie mir eine polnische Saisonarbeiterin erzählt hatte, dass sie sich trotz der harten Arbeit wie im Urlaub fühlte: „Ich fahre dorthin, um mich zu erholen“, erklärte sie mir, „ich muss mir keine Sorgen machen. Wenn ich dort bin, erhole ich mich psychisch von alledem, was hier [in Polen] geschieht.“ Die harte Arbeit beim Bauern als Erholung? Damals klang diese Behauptung für mich absurd, ich hörte sie aber auch in den nächsten Gesprächen, die ich im Rahmen meiner Forschung führte. Und nun spazierte ich selbst zwischen Obstbäumen und begriff langsam, was meine Gesprächspartnerinnen meinten. Im Sommer 2010 verbrachte ich zwei Monate in einem kleinen Betrieb in Nordrhein-Westfalen, zusammen mit polnischen Saisonarbeitern, die ich hier Basia, Aneta, Kasia, Kamil und Adam nenne. Meine Aufgabe war es, im Rahmen einer sozialwissenschaftlichen Studie am Alltag der Erntehelferinnen teilzunehmen, ohne dass sie oder der Betriebsinhaber davon Kenntnis hatten. In teilnehmender Beobachtung wollte ich mehr über ihre Motive nach Deutschland zu gehen, ihre Hoffnungen, Schwierigkeiten und Lösungswege erfahren. Für alle war ich lediglich eine polnische Studentin, die während der vorlesungsfreien Zeit in Deutschland jobben wollte. Ich hatte mir sogar als Begründung zurechtgelegt, dass ich meine Küche renovieren wollte und mir von der Saisonarbeit einen leichten und schnellen Verdienst erhoffte. Wir haben gemeinsam gearbeitet, gegessen, über die Bauerfamilie getratscht, eingekauft und sonnabends – nach einer langen Arbeitswoche – zusammen gefeiert. Von meiner Doppelrolle als beobachtende Ethnologin und Erntehelferin erzählte ich zunächst niemandem. Ich war für alle einfach eine von Tausenden von Polen, die jenseits der Oder als Saisonarbeiter ihr Geld verdienen. Mit jedem Tag tauchte ich tiefer in die Welt polnischer Wanderarbeiter in Deutschland hinein.

A LS SOZIOLOGIN

T EILNEHMENDE B EOBACHTUNG „ SCHWIMMEN IM S TROM “

AUF DEM

E RDBEERFELD

| 23

ODER

Im ersten Studienjahr am Warschauer Institut für Ethnologie lernen Studierende Jerzy Wasilewskis „10 Gebote eines Ethnologen“ kennen. Das erste Gebot lautet: „Der Ethnologe kommt ungebeten. Er muss sich überall hineindrängen.“1 Das erinnert daran, was Peter L. Berger in seiner „Einladung zur Soziologie“ über einen Sozialforscher schrieb: „Es ist eine Person, die intensiv, ständig, frech am Handeln anderer Menschen interessiert ist.“2 Selbstverständlich sollen Sozialwissenschaftler nun nicht jede geschlossene Tür ohne Erlaubnis des Hausbesitzers stürmen, vielmehr werden junge Studierende ermutigt, an ihre Forschungsvorhaben mit Neugier und Gründlichkeit heranzugehen. Die qualitative Sozialforschung lädt dazu ein, Grenzen aktuellen Wissens zu überwinden und Antworten auf ungelöste soziologische Fragestellungen zu finden. Wie ein Ethnograf soll der Soziologe Fragen stellen, zuhören sowie beobachten und auf diese Weise „neue“ soziale Welten entdecken. Ethnografische Forschungen werden von dem Versuch getragen, einen Menschen und sein Umfeld, seine lokale Gesellschaft und soziale Welt zu beschreiben. Grundlegend für diese Forschungsmethode sind die Teilnahme am alltäglichen Leben der Menschen, die Beobachtung ihres Handelns, das Zuhören ihrer Gespräche und vor allem das ethnografische Interview. Aus der teilnehmenden Beobachtung sozialer Situationen entwickelt der qualitativ arbeitende Sozialforscher die Basis zur Bearbeitung seiner Daten.3 Bei dem Interview handelt es sich gewöhnlich um ein mehr oder weniger formelles und vor allem zielgerichtetes Gespräch über das jeweilige Forschungsthema. Der Forscher bereitet sich mit einer Liste von Fragen vor, die er dann der Reihe nach „abarbeitet“, oder er führt ein informelles, spontanes Gespräch resp. freies Interview. Der Wiener Soziologe Girtler bezeichnet die offene Interviewform als „ero-epische Gespräche“4. Gleichwohl ist die verdeckte oder offene Beobachtung der Angelpunkt ethnografischer Forschungen.

1

Mitschrift aus der Vorlesung.

2

Berger 1998: 25.

3

Geertz 2000; Herzfeld 2001: 6; Friedrichs/Lüdtke 1971: 24.

4

Girtler 2001: 147ff.

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Die teilnehmende Beobachtung beschreibt den Aufenthalt in einem bestimmten Milieu zu Forschungszwecken, das Eindringen in die erforschte Gruppe, um zeitlich befristet ein akzeptierter „Teilnehmer“ dieser Gruppe zu werden. Ziel ist es, die jeweilige Gesellschaft bzw. Teilgesellschaft von innen zu beobachten und sich soweit wie möglich in der Erfahrungs- und Erlebniswelt der Akteure zu bewegen. Dabei versucht der Wissenschaftler, die Handlungslogik der Akteure zu erkennen. Selbst das beste ethnografische Interview bleibt aber in der Dichotomie zwischen Forscher als Subjekt und Erforschten als Objekt stecken. Mit der verdeckten teilnehmenden Beobachtung ist der Versuch verbunden, diese Rolle zu relativieren.5 Üblicherweise tritt der Wissenschaftler als Fremder in den sozialen Kontext seines Forschungsfeldes. In der verdeckten teilnehmenden Beobachtung nimmt er jedoch zugleich die „Innenperspektive“ eines Akteurs und die „Außenperspektive“ als Forscher ein. Bis zu einem schwer zu definierenden Punkt wird der Wissenschaftler selber zu einem handelnden Akteur und damit zum „Objekt“ der Forschung. Ist die Untersuchung fortgeschritten, sollte der Wissenschaftler jedoch auch Interviews mit den Akteuren führen. Zu gegebener Zeit muss er daher seine Doppelfunktion zumindest teilweise offenlegen, ohne die Akteure zu verletzen. Um das zu erreichen, informierte ich meine Kolleginnen sukzessive über mein Interesse, mit Ihnen Interviews für eine universitäre Arbeit zu führen. Zu meiner Erleichterung waren sie dazu ohne Einwände bereit. Im Hinblick auf die Rolle des Forschers können vier Beobachtungstypen unterschieden werden: • • • •

5

die verdeckte teilnehmende Beobachtung (der Forscher bleibt inkognito und taucht in den Alltag der Akteure ein), die offene teilnehmende Beobachtung (der Forscher nimmt mit Einwilligung der Akteure über einen längeren Zeitraum an ihrem Alltag teil), der Wissenschaftler nimmt nur kurzfristig am Alltag der Akteure teil, der Wissenschaftler beobachtet die Akteure nur von außen, ohne an ihrem Alltag teilzunehmen.6

Vgl. Hammersley/Atkinson 2000:89-120; Konecki 2000:145-152; Babbie 2004: 312-316.

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Gold 1958: 219ff.

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Als ethnografische Feldforschung können nur die ersten beiden Formen beschrieben werden, da für sie die lange, in der Regel mehrmonatige teilnehmende Beobachtung substanziell ist. Die beiden letzteren Formen markieren dagegen einen Übergangsbereich von qualitativen zu quantitativen Methoden, bei denen vermehrt vorformulierte Fragebögen benutzt werden und der Wissenschaftler nur kurzzeitig Kontakt mit den Akteuren seines Forschungsfeldes hat. Für die Erforschung der Saisonmigranten haben wir uns für die verdeckte teilnehmende Beobachtung entschieden, obwohl diese Methode der Feldforschung nicht nur ethische Fragen aufwirft, sondern auch besondere Probleme mit sich bringt. Zunächst musste ich einen entsprechenden Arbeitsplatz finden und dann über eine bestimmte Zeit als Erntehelferin tätig sein. Hierfür musste ich wiederum den physischen und psychischen Anforderungen einer landwirtschaftlichen Erntetätigkeit standhalten. Nicht zu unterschätzen waren auch Schwierigkeiten wie Einsamkeit, Müdigkeit, Beunruhigung und Gewissensbisse aufgrund meiner Doppelrolle. Daneben musste ich Wege suchen, unbemerkt Notizen machen zu können. Auch eine entsprechende Distanz sollte gewahrt bleiben, die für die weitere analytische Arbeit unerlässlich ist. Schließlich darf der Forscher während der Untersuchung „nicht annehmen, dass er die Kontrolle über sämtliche Elemente der Forschung im Feld behält, denn er wird der Gnade und Ungnade der jeweiligen Gemeinschaft ausgesetzt sein […] und muss stillschweigend ‚mit dem Strom schwimmen‘, selbst wenn ihn das an einen Ort bringen sollte, der sich nicht ganz mit seinem penibel ausgearbeiteten Forschungsplan deckt.“7

V ORBEREITUNGEN FÜR DIE A RBEIT ALS E RNTEHELFERIN Mehrere Monate vor meinem Arbeitseinsatz in Deutschland absolvierte ich bei dem polnischen Projektleiter Prof. Wojciech àukowski ein Vorstellungsgespräch für das Forschungsprojekt. Er schaute mich länger an und fragte, ob ich wirklich bereit bin, eine teilnehmende Beobachtung durchzuführen und mir die damit verbundenen Härten bewusst sind. Ich erinnere mich, dass die Zeit für einen Augenblick langsamer verging und mir Tau-

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sende Gedanken durch den Kopf schossen: „Ich? Feldarbeit? Nein, das kann nicht sein!“ Doch etwas – vielleicht war es die schreckliche anthropologische Neugier? – hat bewirkt, dass ich lächelte und „selbstverständlich“ antwortete. Meine Untersuchungen begann ich mit einem mehrmonatigen Aufenthalt in einem kleinen Ort im Norden Polens, von wo aus viele Menschen zur Arbeit nach Deutschland reisen. Dabei wurde deutlich, welche Hürden ein Interessent überwinden muss, um einen Arbeitsplatz als Erntehelfer zu finden. Die meisten meiner Gesprächspartner arbeiteten seit Jahren im selben Betrieb in Deutschland und waren nicht geneigt, einer fremden Person bei der Arbeitssuche zu helfen. Anfang März 2010 wurde ich unruhig, da mit dem Frühling auch die landwirtschaftliche Saison begann. Auf über zehn Anfragen, die ich auf Annoncen in der Presse verschickt hatte, bekam ich entweder keine Antwort oder musste zur Kenntnis nehmen, dass die Stelle längst besetzt war. Später erfuhr ich von anderen Wanderarbeitern, dass man bereits im Dezember nach einer Stelle für die kommende Saison suchen sollte. Theoretisch kann man im Internet Anzeigen über Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland finden, aber in der Praxis wird nur ausnahmsweise ein Erntehelfer über diesen Weg eingestellt. Meine Interviewpartner begegneten den Annoncen im Internet mit Misstrauen und Argwohn, zu oft hatten sie vom Hörensagen und aus Internetforen schon von Betrugsfällen gehört. Warum sie dann überhaupt geschaltet werden, bleibt ein Rätsel.8 Nach Beschäftigungsmöglichkeiten als Saisonarbeiter sucht man über „Migrationsnetzwerke“, oder, wie es meine Gesprächspartner bezeichneten, „über Bekanntschaften“. Hier treffen sich die Interessen der deutschen Landwirte und polnischen Erntehelfer. Beide Seiten misstrauen anonymen Kontakten und sehen die Vermittlung über informelle Beziehungen als vertrauenswürdiger an. So gelang es schließlich nach längerer Suche auch mir, jemanden ausfindig zu machen, der wiederum jemanden kannte, der … Kurzum, auf diese Weise erhielt ich die Adresse eines deutschen Landwirtes, dem ich zunächst meine Daten übersenden

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Kamila Fiaákowska, meine Mitarbeiterin im Rahmen dieses Projekts, hat nach zahlreichen Anrufen und E-Mails eine Arbeit „aus dem Internet“ gefunden. Vor Ort wollte ihr niemand glauben und man verdächtigte sie, die Verwandte eines polnischen Vorarbeiters zu sein. (Vgl. das Kapitel „Gruppenbildung zwischen Klatsch und Neid“).

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musste. Ungeduldig wartete ich auf eine Antwort. An einem Nachmittag im Mai war es dann soweit, und ich bekam den Anruf mit der „magischen“ Vorwahl 00 49. Nach dem positiven Gespräch erhielt ich kurze Zeit später meinen Arbeitsvertrag zugesandt. Und so begann das Abenteuer meiner Forschung in einem landwirtschaftlichen Betrieb. Lehrbücher zur teilnehmenden Beobachtung erinnern an die große Bedeutung der Akzeptanz des Anthropologen in der zu erforschenden Gruppe. Diese wird dem Forscher in der Regel allerdings nicht als „einem ehrwürdigen Vertreter der Wissenschaft“ entgegengebracht. Stattdessen erfährt er die nötige Akzeptanz nur, wenn er den Lebensstil der untersuchten Gruppe übernimmt.9 Bei meinen Reisevorbereitungen orientierte ich mich an den Gepflogenheiten der Wanderarbeiter, die ihre Lebensmittel aus Polen mitbringen, um ihre Ausgaben in Deutschland so gering als möglich halten. Ich korrespondierte mit meiner Kollegin Kamila Fiaákowska, die bereits in Deutschland gearbeitet hatte und ohne deren Hilfe meine Reise viel schwieriger geworden wäre. Sie schrieb mir: „Du kannst ruhig haltbare Lebensmittel mitnehmen, z.B. Wurst, Aufschnitt, Fleisch, Käse usw. Gut sind Konservendosen und verschiedene Fertiggerichte wie Krautwickel oder Klöpse u.Ä., denn das brauchst du für die erste Woche. Dazu Instantsuppen, die bekannten chinesischen Suppen, alles „Junkfood“, aber wenn es kalt ist, man kein Mittagessen hat und in Eile ist, dann kommt das wie gerufen.“

Neben regenfester Kleidung waren Schmerzmittel, Salben gegen Muskel-, Rücken- und Gelenkschmerzen, dazu Kalzium gegen Allergien (bei Kontakt mit Spritzmitteln!) weitere wichtige Utensilien. Auch in meinen Interviews antworteten alle einstimmig auf die Frage, was man mitnehmen sollte: eine „Tasche mit Schmerzmitteln“. Die vollständige Liste meiner Habseligkeiten umfasste: • •

9

Lebensmittel: Kaffee, Tee, Zucker, Kondensmilch, Salz, Gewürze, Gebäck, Wurst, chinesische Instantsuppen, Nudeln. Kleidung: Gummistiefel, Arbeitsschuhe, Sandalen, Socken, Strumpfhose, Unterwäsche, regenfeste Hose, lange Arbeitshose, knielange Ar-

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• •

beitshose, T-Shirts, Blusen, Pullover, Windjacke, Fleecejacke, Blouson, lockere Arbeitsjacke, Handschuhe, Sonnenhut, Kopftuch. Sonstiges: Geschirr, Schlafsack, Knieschutz, Kosmetik- und Hygieneartikel, Sonnencreme mit UV-Filter. Medikamente: Aspirin, Schmerzmittel, Schmerzsalbe, Kalzium, Pflaster mit/ohne Mullstoff, medizinische Kohle.

All diese Sachen passten in zwei riesengroße Taschen, die ich wegen ihres Gewichtes kaum heben konnte. Trotz meiner akribischen Vorbereitungen unterlief mir aber ein „Fehler“, denn in Deutschland ließen sich meine Arbeitskollegen über meine chinesischen Suppen aus. Die hatte ich nämlich in einem normalen Lebensmittelladen anstatt beim Discounter gekauft. Außerdem handelte es sich um eine bekannte, eher hochpreisige Marke anstelle der günstigsten Produkte, die meine Kollegen bevorzugten. Eine Regel der Wanderarbeiter lautet, man interessiert sich während der Arbeitswochen nicht für qualitativ gute, sondern ausschließlich für die billigsten Produkte. Über allem steht das Prinzip, die Nebenkosten des Auslandsaufenthaltes so gering wie möglich zu halten. Vor meiner Abreise musste ich aber noch eine weitere ungeplante Hürde überwinden: die Konfrontation mit der Warschauer Sozialversicherungsanstalt (poln.: Zakáad UbezpieczeĔ Spoáecznych, ZUS). Neben einem unterschriebenen Arbeitsvertrag sollte ich dem deutschen Arbeitgeber eine Bestätigung der ZUS über meine Befreiung von der Rentenversicherungspflicht als Studentin vorlegen. Die Warschauer Dependance dieses Amtes entpuppte sich dabei als fast uneinnehmbare Festung. Ihr dieses Dokument zu entlocken, war schwierig und zeitaufwendig. Man schickte mich von Schalter zu Schalter. Nach langen Diskussionen und weiteren Besuchen, ausgestattet mit einem Schreiben der Universität, gelang es mir schließlich, die Beamten zu überzeugen, und man stellte mir das besagte Dokument aus. Als ich das später meinen Arbeitskollegen aus Südostpolen erzählte, konnten sie mir kaum glauben. In ihren Heimatorten gab es in der Zweigstelle der ZUS dafür einen speziellen Vordruck, in den nur der Name des Antragstellers einzutragen war. Während in den polnischen Regionen, aus denen die Wanderarbeiter in großer Zahl ausreisen, die Ämter mit den Formalitäten vertraut sind, ist das Phänomen in den wirtschaftlich prosperierenden städtischen Gebieten eher unbekannt.

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Mein Warschauer Wohnort erschwerte aber die Reise nach Deutschland noch aus einem weiteren Grund. Dort, wo Wanderarbeit populär ist, gibt es ein System von Kleinbussen, die zwischen einzelnen Orten in Polen und den Betrieben in Deutschland, Belgien oder Holland verkehren. Ein Anruf genügt, damit am vereinbarten Termin ein Kleinbus vorfährt und den Fahrgast bis zum Betriebstor in Deutschland bringt. Die Internetwerbung einer dieser Firmen verspricht: „Unsere Strecke wird individuell an die Wünsche unserer Passagiere angepasst. Auch wenn also deine Stadt nicht erwähnt wurde, so mach dir keine Sorgen, ruf an und buche den Termin, die Route wird dann an deine Wünsche angepasst.“10 Das Tür-zu-Tür-System funktioniert effizient, auch wenn eine solche Reise im Endeffekt bis zu zwei Tage dauern kann, denn der Kleinbus sammelt die Arbeiter in mehreren Landkreisen ein, bevor er in Richtung Deutschland weiterfährt. Warschau wurde jedoch nicht in dieses System integriert, da Warschauer sich nur selten im Sommer als Erntehelfer nach Westen aufmachen. Also war ich auf reguläre Busverbindungen angewiesen. Mit vollgepackten Taschen, jeder Menge „Junkfood“ und der kostbaren Bescheinigung von der ZUS machte ich mich nach Deutschland auf.

E RSTE E RFAHRUNGEN AUF EINEM DEUTSCHEN B AUERNHOF Um ehrlich zu sein, ohne meine Notizen könnte ich mich an die erste Woche in Deutschland kaum erinnern. Mit der harten körperlichen Arbeit nicht vertraut, fiel ich am Abend vor Müdigkeit fast in Ohnmacht. Ich war „neu“, dazu in der Landwirtschaft noch unerfahren. Also kritisierten mich meine Kollegen und drängten mich dazu, schneller zu arbeiten. Ich gab mein Bestes, doch selbst beim Erdbeerpflücken ist eine gewisse Technik notwendig, die ich nicht kannte. Ich wusste nicht, ob ich auf den Knien, in der Hocke, gebeugt oder mit gestreckten Beinen arbeiten sollte. Ich hatte auch keine Übung darin, Erdbeeren zu pflücken, ohne sie dabei zu zerquetschen. Meine Handgriffe erfolgten nicht automatisch. Zwangsläufig machte mich das langsamer. In den ersten Tagen notierte ich in meinen Aufzeichnungen:

10 www.przewozydoniemiec.net

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„Die Hitze wird immer stärker, aber selbst das ist nicht mein Problem. Ich sehe, dass ich erst in der Mitte meiner Reihe bin, während die Mädels mit ihrer bereits fertig sind. Mir ist dabei unwohl, weiß aber gleichzeitig, dass ich mir Mühe gebe und keine Pausen mache. Ich kann mir kaum vorstellen, wie ich schneller arbeiten könnte. Ich weiß, dass ihnen mein langsames Tempo nicht gefällt, weil sie mir dann helfen müssen, meine Reihe fertigzustellen. Später verraten sie mir, dass sich der Bauer nach mir erkundigt und gefragt hat, ob ich mich wohlfühle, weil ich so langsam bin. Ich weiß nicht, ob sie die Wahrheit sagen oder mich dadurch lediglich motivieren wollen. Ich werde unglücklich.“11

Während der ersten Woche empfand ich permanent Frust und Stress. Es ärgerte mich, langsamer als meine Kollegen zu sein. Sie warnten mich, dass mich der Landwirt im nächsten Jahr nicht mehr beschäftigen oder mir nach wenigen Tagen kündigen wird, wenn ich zu langsam bin. Stundenlang erzählten sie von Fällen, wo jemand schlecht gearbeitet hatte und nach Polen „zurückgeschickt“ worden war. In den nächsten Wochen, als wir uns besser kannten, wurde mir klar, dass sie mich weder einschüchtern noch demotivieren wollten. Vielmehr handelte es sich dabei um informelle Motivationsund Kontrollmaßnahmen bei der Entlohnung nach Stunden. Da auch bei Arbeiten im Stundenlohn eine bestimmte Leistungsnorm von der Gruppe erwartet wurde, müssen schnellere Arbeiter für langsamere Kollegen einspringen. In den nächsten Wochen arbeitete ich dann zur Zufriedenheit meiner Kollegen schneller und geschickter, d.h., ich hielt sie nicht mehr auf. Das war eine angenehme Errungenschaft, auf die ich stolz war. Die ersten Tage waren jedoch ungewöhnlich hart, wie ich in meinem Feldtagebuch festhielt: „Nach dem morgendlichen Erdbeerpflücken musste ich, fast ohnmächtig vor Müdigkeit, zusammen mit Adam in der Obstplantage arbeiten. Als wir Pause machen, kritisieren mich die Frauen erneut und erschrecken mich damit, dass die Arbeit zwischen den Obstbäumen gefährlich sei. Nach ein paar Bäumen höre ich ein Summen und etwas sticht mich in die Wange. Vor Panik springe ich zur Seite und fuchtle mit den Armen. Dann spüre ich, wie das nächste Insekt unter meine Bluse fliegt. Schreiend und fuchtelnd fliehe ich. Kurz danach, auf der anderen Seite der Bäume, geht es Adam genauso. Wir wurden von einem Wespenschwarm angegriffen. Ich habe Wes-

11 Aufzeichnungen aus dem Feldtagebuch.

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pen in den Haaren, Wespen unter meinen Kleidern. Todmüde und mit mehreren Stichen fühle ich mich am Rande eines hysterischen Zusammenbruchs. Ich bin unglücklich, ich will nach Hause! Am liebsten würde ich alles hinschmeißen. Ich setze mich auf eine „hopka“12 und Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich schluchze eine Weile. Dann fällt mir ein, dass ich, wenn ich wollte, jederzeit nach Polen zurückkehren kann. Ich beruhige mich, beiße die Zähne zusammen und gehe zurück zu meiner Arbeit. Am Nachmittag pflücken wir erneut Erdbeeren und zu meiner Verwunderung läuft es besser. Das bestätigen sogar die Mädels. Die Stimmung wird besser. Am Abend bin ich mit dem Arbeitstag zufrieden und vergesse die morgendliche Panik.“

Abbildung 2: Beschneiden der Apfelbäume

Quelle: Autoren

12 Eine Kiste, auf die man sich stellt, um an die oberen Äste zu gelangen.

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Der hier beschriebene Tag war wahrscheinlich einer der schwersten meiner Feldforschung. Ich hatte Knie- und Rückenschmerzen vom Erdbeerpflücken, meine Hände taten mir weh vom Beschneiden der Bäume, ich war von Wespen zerstochen und zusätzlich machte mir die Hitze zu schaffen. Ich spürte den Druck meiner Kollegen, die mich antrieben, schneller zu arbeiten. Die Wespenstiche brachten das Fass zum Überlaufen. Schluchzend, hauptsächlich vor Wut auf die Insekten, wurde mir aber auch noch einmal bewusst, was mich eigentlich auf dieses Erdbeerfeld geführt hatte. Von diesem Moment an wurde jeder Tag besser und leichter. An die zwei folgenden Wochen erinnere ich mich sehr gerne. Ich empfand nicht mehr diese starke Müdigkeit, die Arbeit ging leichter von der Hand. Aber immer noch schien mir alles ziemlich neu zu sein. Ich löcherte meine Kollegen mit Tausenden von Fragen über die Saisonarbeit, die sie geduldig beantworteten. Die vierte und fünfte Woche brachten dann Langeweile und Routine mit sich. Und in den letzten Wochen zählte ich nur noch die Tage bis zur Abreise. Mit dem eigentümlichen Slang der Saisonarbeiter wurde ich schnell vertraut. Einige Begriffe kannte ich bereits aus früheren Interviews, andere begegneten mir erst vor Ort. Dabei handelt es sich in der Regel um polonisierte Formen deutscher Wörter: • • • • • • • • • • • • •

hendi – Handy hopka – eine Getränkekiste mit Griff, die als Tritt bei Arbeiten an Bäumen eingesetzt wird kista – Kiste, die zehn Schalen fasst pflukaü – pflücken rajka – Reihe rajkowy – Vorarbeiter, verantwortlich für die Arbeit der Gruppe robiü luft – Bäume beschneiden robiü pausamachen – Pause machen szalka – Plastikschale, in die das Obst gelegt wird szery – Baumschere szlechta – minderwertige Erdbeeren wystawki – Sperrmüll, in Polen praktisch unbekannt zjeĪdĪaü – nach Polen zurückkehren

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Anfangs war ich zu kaum mehr imstande, als zu arbeiten und zu schlafen. Außerdem war ich sehr vorsichtig, nicht durch zu starke Neugier aufzufallen. Da ich aber möglichst viel erfahren wollte, erfragte ich insbesondere in den ersten Wochen viele Details. Manche Kollegen lachten über mich, andere wiederum fühlten sich geschmeichelt und beantworteten selbst die sonderbarsten Fragen. Die Tage verliefen häufig dermaßen monoton, dass jedes neue Thema mit Dankbarkeit aufgenommen wurde. Zwar waren Gespräche während der Arbeit nicht immer möglich, stattdessen nutzten wir die Pausen, um einige Worte zu wechseln. Ich habe den Eindruck, dass sich meine älteren Kolleginnen freuten, ihre Erfahrungen aus früheren Aufenthalten in Deutschland mit mir zu teilen. Sie erzählten gerne, und ich war eine interessierte Zuhörerin. Eine der wichtigsten Ressourcen in der qualitativen Sozialforschung besteht darin, den Akteuren eine Plattform für ihre Ansichten, Meinungen und Erlebnisse zu bieten. Im Alltag der Akteure stellen die Geduld und das Interesse, mit der ein Sozialforscher persönlichen Berichten zuhört, eine Ausnahme dar. Mit jedem Tag tauchte ich, durch eigene Erfahrungen und die Erzählungen der Kollegen, immer tiefer in die Welt der Wanderarbeiter ein. Natürlich konnte ich mir dabei nicht immer Notizen machen. Schließlich wollte ich auch das Vertrauen meiner Kolleginnen nicht missbrauchen. Basia und Aneta waren während meines gesamten Aufenthaltes meine Lehrerinnen und Lotsen. Vielleicht weil ich sie gleich am Anfang mit den Worten „ich bin zum ersten Mal hier und habe etwas Angst“ bat, mir alles zu erklären, schlüpften sie bereitwillig in diese Rollen. Nach dem Prinzip, wonach der Forscher ein „akzeptabler Ignorant“ sein sollte, stellte ich ihnen permanent Fragen, und sie antworteten gerne. Aus Bekanntschaft wurde Sympathie und mit Basia bin ich trotz Altersunterschied und räumlicher Entfernung weiterhin in ständigem Kontakt. Basia ist eine Mittvierzigerin aus der Woiwodschaft Podkarpackie (dt. Karpatenvorland) in Südostpolen. Dort leitet sie eine Schulkantine, hat im Sommer wenig zu tun und reist in dieser Zeit nach Deutschland zur Arbeit. Von ihren vier Kindern arbeiten mittlerweile drei in Deutschland. Nur ihre älteste Tochter studiert in einer Woiwodschaftsstadt. Die drei jüngeren Kinder betrachten ihren Job jenseits der Oder als Chance fürs Leben, zu schlecht erscheinen ihnen die Möglichkeiten in Polen. Während meines Aufenthaltes auf dem Erdbeerhof lernte ich zwei ihrer Kinder, Kasia und Kamil, kennen. In dem Betrieb arbeitete auch Aneta, Basias dreißigjährige

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Freundin aus ihrem Heimatort. Für sie bildete die Saisonarbeit in Deutschland ihre Haupteinnahmequelle, denn weder sie noch ihr Mann hatten eine feste Anstellung. Basia und Aneta waren für mich unerreichbare Vorbilder in puncto Arbeitstempo und Gewissenhaftigkeit. Mit uns gemeinsam arbeitete auch Adam, ein dreißigjähriger Mann aus Niederschlesien. Er war glücklicher Besitzer von zwei Pässen, einem polnischen und einem deutschen. Dadurch konnte er schon seit mehreren Jahren ohne Einschränkungen in Deutschland arbeiten.13 Seine Familienmitglieder, die seit Jahren in diesem Betrieb arbeiteten, waren mit dem deutschen Landwirt befreundet, und er selbst verbrachte die meiste Zeit in Deutschland.

E IN T AG VON VIELEN Einen typischen Arbeitstag hielt ich in meinem Feldtagebuch folgendermaßen fest: „Wecken um 6.30 Uhr. Ich wache 10 Minuten früher auf. Im Dunkeln gehe ich ins Bad und hoffe, dass Kasia noch nicht auf ist, bevor ich fertig bin. Kasia reagiert auf viele Dinge ziemlich explosiv, und ich habe keine Lust, mir gleich am Morgen ihre schlechte Laune anzutun. Ich gehe den dunklen Korridor zurück und höre Bewegung im Zimmer von Aneta und Basia. Im Türspalt sehe ich Licht in unserem Zimmer, also ist Kasia bereits aufgestanden. Draußen ist der Himmel bedeckt. Aus dem Schrank hole ich eine lange Hose und eine Jacke, gehe zurück ins Bad, um mich umzuziehen. Auf dem Rückweg nehme ich aus dem Kühlschrank mein Frühstücksmenü: Kaffeemilch, Margarine, Schmelzkäse in Scheiben und Mayonnaise. In der Küche, die gleichzeitig Kasias und mein Schlafzimmer ist, stelle ich Wasser auf und mache Kaffee. Ich mache mir zwei Scheiben Brot, setze mich und beginne – immer noch leicht benommen – zu frühstücken. Basia kommt in die Küche und schaltet den Fernseher ein. Die morgendliche Dosis Fernsehgeräusche verbessert keineswegs

13 Aufgrund einer Sonderregelung zwischen Deutschland und Polen erhielten die Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen die Möglichkeit, beide Pässe zu besitzen. Der Nachweis wird aufgrund der deutschen Staatsbürgerschaft ihrer Vorfahren erteilt. Überwiegend gilt diese Regelung für Einwohner der Woiwodschaften Oppeln und Oberschlesien, deutlich seltener in Niederschlesien oder den nördlichen Woiwodschaften.

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meine Stimmung. Wir schauen eine polnische Nachrichtensendung und kommentieren die jüngsten Meldungen. Hier wird jedes Ereignis sofort aufgebauscht. Als sich unser Arbeitgeber Hans ärgert, dass wir seine Anweisungen nicht verstehen, liefert uns das für eine ganze Woche Gesprächsstoff, und als er uns am nächsten Tag besonders komplizierte Bäume kürzen lässt, vermuten wir eine Schikane. An diesem Morgen reden wir übers Wetter. In der Nacht hat es geregnet, deshalb ziehen wir regenfeste Hosen und Gummistiefel an. Ich bin fertig und versorge meinen Finger, den ich vorgestern beim Durchlichten der Bäume verletzt habe, und überprüfe, ob ich alles eingepackt habe: Wasser, Schmerztabletten, eine Mütze gegen die Sonnenstrahlen, eine Jacke, Socken, einen Regenumhang für den Fall, dass es nass werden sollte. Gummistiefel werden über längere Zeit unerträglich, deswegen nehme ich auch ein paar feste Schuhe mit. Weder Wetter noch Arbeitsbedingungen lassen sich so früh am Morgen vorausschauen. Wir setzen uns auf die Bänke vor dem Haus und warten auf das Zeichen des Bauern, der noch im Hof nach dem Rechten schaut. Wenn wir in der Frühe die Unterkunft verlassen, wissen wir nicht, wo und wie lange wir arbeiten werden. Deshalb schauen wir jeden Morgen aus unserer Kellerwohnung und prüfen den Regenmesser. In der Nacht gab es starken Regen. Mit einem kollektiven „Morgen!“ begrüßen wir den Bauern. Wir schauen zu, wie viele Kisten er in den Kleinbus packt. Davon hängt gewöhnlich die Dauer unserer Arbeit ab. Heute sind es nur sechs, aber kurz darauf legt er noch zwei hinzu. In der Haupterntezeit waren es noch 20 bis 30 Kisten, und im Laufe des Tages brachte er noch weitere. Aber damals konnte man mit einer Reihe Erdbeeren auch ganze Kisten füllen, heute sind es maximal drei Schalen. Hans fährt uns auf das nahe gelegene Feld. Hier umfangen uns, wie jeden Tag, derselbe niedrige Himmel, der Lärm von der nahen Autobahn und das Geschrei großer Vögel. Unsere Aufgabe ist es, vier Kisten guter Erdbeeren von den ‚alten‘ Pflanzen zu pflücken und zwei von den jungen. Das ist viel, trotzdem freuen wir uns, denn die Arbeit im Obstgarten hat uns neulich total geschlaucht, und wir arbeiten lieber auf den Erdbeerfeldern. Sobald Hans weg ist, nutzen wir die Gelegenheit zu einer kleinen Pause. Erst nach einer Weile machen wir uns an die Arbeit. Binnen einer Stunde sind die vier Kisten voll, und wir wechseln zu den ‚jungen‘ Früchten. Dort gibt es kaum Erdbeeren, somit brauchen wir eine weitere Stunde für die beiden anderen Kisten. In transparente Schalen pflücken wir die schönen, großen Beeren und in blaue Schalen die kleineren, nicht so ansehnlichen Früchte. Nach einer Stunde ist Hans zurück, gerade als wir die Schalen in Kisten packen. Die Kisten sind schwer, und ich fürchte, zu stolpern und alles umzuwerfen. Trotzdem schleppe ich die Kisten

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gerne, da ich so meinen Rücken immerhin mal kurz strecken kann. Mit seinem Kleinbus bringt uns der Landwirt in die Obstbaumplantage und sagt, wir sollten ‚Luft‘ machen, also Äste schneiden, damit die Äpfel mehr Licht bekommen. Um 12.00 Uhr hören wir sein Hupen und kommen zwischen den langen Baumreihen hervor. Manchmal ‚verliere‘ ich mich gerne zwischen den Obstbäumen und genieße einen der raren privaten Momente. Zurück in der Wohnung haben wir nun zwei Stunden Pause, also wärme ich meine Suppe auf, esse ein wenig und räume unsere Kellerwohnung auf. Dann habe ich etwas Zeit nur für mich, mache Notizen und schaue in die ‚Glotze‘. Um 14.00 Uhr kehren wir zur Arbeit zurück. Wieder machen wir ‚Luft‘, diesmal in der Plantage jenseits der Autobahn. Die Äste sind ungewöhnlich schwer zu entfernen. Wir prüfen, ob Hans irgendwo in der Nähe ist, und wenn das nicht der Fall ist, machen wir nach je anderthalb Stunden eine fünf- bis zehnminütige Pause. Ich setze mich auf die ‚hopka‘ zwischen den Bäumen und verschicke Kurznachrichten nach Hause. Heute erlaubt meine Kollegin Basia jedoch keine langen Pausen. Erneut versucht sie uns zu motivieren, indem sie erzählt, wie am Ende der vergangenen Saison unsere Arbeitgeber, Hans und Kathrin, sich persönlich bei ihr bedankten und etwas mehr bezahlten, weil sie so schnell gearbeitet hatten. Also beiße ich die Zähne zusammen, aber trotzdem müssen mir Basia und Aneta bei den letzten Bäumen helfen. Kaum sind wir mit der Arbeit fertig, taucht Hans auf und fährt uns nach Hause. Ich wasche mich und esse zu Abend, diesmal Pommes und Kartoffelsalat aus dem Supermarkt. Wie jeden Abend schauen wir rituell um 20.10 Uhr die lokale Wettervorhersage, die ich den Mädels ins Polnische übersetze. Wir schreiben die geleisteten Stunden auf, schauen irgendeinen Film und um 21.00 Uhr endet unser Tag. Morgen früh um fünf beginnt ein neuer Arbeitstag.“

A LLTÄGLICHE M ONOTONIE In den ersten Tagen meines Aufenthaltes in Deutschland herrschte in Mitteleuropa eine Hitzewelle. Wir standen sehr früh auf, da die Erdbeeren in der Hitze weich wurden und beim Pflücken beschädigt werden konnten. Deshalb arbeiteten wir am Morgen zwischen fünf und zehn Uhr, machten anschließend eine längere Pause und gingen dann nachmittags wieder auf die Felder. Als sich die Erdbeerzeit dem Ende zuneigte, arbeiteten wir im Obstgarten, da der Betrieb neben Erdbeeren auch Äpfel und Birnen anbaute. Zu unseren Pflichten gehörte das Durchlichten der Bäume, das Auspflücken der zu dicht wachsenden Früchte und am Ende der Saison das Pflü-

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cken der ersten reifen Äpfel und Birnen. Des Weiteren pflegten wir auch die Stauden, jäteten Brennnesseln und legten Stroh unter den Pflanzen aus. Eine angenehme Abwechselung war es für uns, wenn wir gebeten wurden, den Hof zu kehren und Wege von Unkraut zu befreien. Zwischendurch versuchte ich, so gut es ging, regelmäßig Notizen zu machen. Unsere Arbeitswoche umfasste sechs Tage. Nur in den Spitzenzeiten, um die Wende von Mai und Juni arbeiteten wir auch am Sonntag einige Stunden. Ob Hitze oder Nieselregen, bei jedem Wetter waren wir draußen auf den Feldern. Bei hohen Temperaturen begann die Arbeit früher, und die Mittagspause wurde verlängert. Nur während eines Gewitters ordnete der Bauer an, die Arbeit einzustellen. Wie sich später herausstellte, war vor ein paar Jahren im Nachbarort ein polnischer Arbeiter vom Blitz getroffen worden. Vielleicht war unser Landwirt aus diesem Grund so vorsichtig. Da wir nach Stunden bezahlt wurden, wollten meine Kollegen möglichst lange arbeiten. Wenn man auf zwölf Arbeitsstunden kam, waren sie glücklich. Ein Sechsstundentag galt als absolut misslungen. Einige schimpften dann, sie würden nach Polen zurückzukehren, sollte das so bleiben. Glücklicherweise hatten wir während meines Aufenthaltes überwiegend gutes Erntewetter, kurze Arbeitstage waren daher selten. In der Hochsaison beschäftigte der Betrieb sechs Saisonarbeiter. Nach ein paar Wochen reisten Kamil und Adam ab, zurück blieben nur wir vier Frauen. Adam arbeitete hier seit mehreren Jahren und genoss das Vertrauen der Eigentümer. Da er Deutsch sprach, war er „rajkowy“ (Vorarbeiter, die Bezeichnung stammt vom deutschen Wort „Reihe“), verteilte die Arbeit und fuhr uns auf die Erdbeerplantage oder in den Obstgarten. So wie alle Kollegen wollte er möglichst viele Stunden arbeiten, deswegen versuchte er, uns möglichst spät von den Feldern zu holen. Ab und zu gelang es uns, zwölf Stunden zu arbeiten, obwohl in der Regel nach neun bis zehn Stunden Feierabend war. Seitdem Adam nach Polen zurückgekehrt war, fuhr uns der Chef, und der Arbeitstag dauerte selten länger als acht Stunden. Die Erdbeeren trugen nicht mehr so viel, und die Äpfel waren noch nicht reif. Adams Weggang führte zu meiner „Beförderung“, da ich als Einzige Deutsch sprach. Aber trotzdem hatte ich große Probleme, mich mit Hans zu verständigen, denn mit meinem Schuldeutsch konnte ich seinen Dialekt kaum verstehen: „Hans vermischt seinen Dialekt mit einzelnen polnischen Wörtern, wodurch das Ganze erst recht unverständlich wird“, notierte ich in mein Tagebuch. Ich bekam ein Handy und sollte ihn anrufen, falls es einen

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Unfall oder plötzlichen Wetterumschwung gab, bzw. die Arbeit beendet war. Zunächst dachte ich, das Mobiltelefon diente dazu, Entscheidungen von Basia zu kommunizieren, da sie schon seit Jahren im Betrieb tätig war und mich in die Arbeit eingewiesen hatte. Für mich war sie Adams natürliche Nachfolgerin als „rajkowy“. Eines Tages wurde mir jedoch klar, dass mit dem Handy auch die Verantwortung für die Gruppe nun bei mir lag. An diesem Tag hatte sich Aneta eine leichte Zerrung zugezogen, und mehr aus Albernheit hatten wir ihre Hand in einen dicken Verband gelegt. Dabei lachten wir und hatten unseren Spaß. Als der Chef am Nachmittag Anetas Hand mit dem Verband sah, seufzte er, wandte sich von den Frauen ab und richtete sich nur an mich: „Ich verstehe nicht, warum ihr euch wie Kinder benehmt und die Hand hinter dem Rücken versteckt! Das ist ernst. Bei Schmerzen muss man eine Salbe auf die Hand auftragen, zum Arzt gehen oder einfach eine Pause machen. Stattdessen benehmt ihr euch wie Kinder und versteckt die Hand hinter dem Rücken. Seid endlich erwachsen. Wie alt seid ihr? Zwanzig, dreißig? So geht das nicht.“ „Aber“, versuchte ich zu erklären, „das ist nur eine Zerrung, nichts Ernstes, dieser Verband war vielmehr ein Spaß.“ „Und du“, – jetzt war der Bauer wahrscheinlich richtig wütend, denn er schaute mich mit einem Eulenblick an, hob den Finger und begann zu schreien: „Du solltest verstehen, du solltest verantwortlich sein, schließlich sprichst du Deutsch! Hast du verstanden?!“

Ich nickte nur und machte mich wieder an die Arbeit. Obwohl ich eine der jüngsten Arbeiterinnen mit den geringsten Erfahrungen war, hatte ich aufgrund meiner Sprachkenntnisse die Verantwortung für meine Kolleginnen bekommen. In der Regel erledigten wir mittwochs unsere Einkäufe. Alle freuten sich auf die Abwechslung und schon zuvor hatten wir sämtliche Werbeprospekte aller umliegenden Discounter gesammelt, die Preise miteinander verglichen und einzelne Angebote diskutiert. Die eingehende Analyse der Werbeblättchen gehörte neben der Wettervorhersage und dem Eintragen der geleisteten Arbeitsstunden zum allabendlichen Ritual. Außer den Lebensmitteln für den täglichen Bedarf kauften meine Kollegen auch Artikel, die sie nach Polen mitnehmen wollten. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Drogerieartikel und Süßigkeiten. Als es in einem Geschäft Wasch-

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pulver im Angebot gab, versuchten meine Kolleginnen mich zu überzeugen, dies unbedingt zu kaufen. Sie waren fast beleidigt, als ich mich weigerte. Ich hatte schlicht keine Lust, eine 10 kg schwere Packung nach Polen zu schleppen. Erst später realisierte ich, welche Bedeutung diese Einkäufe für Wanderarbeiter haben. In ihren Augen „veredeln“ sie auf diesem Weg ihren Verdienst. Es ist schwer zu sagen, ob das deutsche Pulver tatsächlich besser als das polnische ist – zumal es auf beiden Seiten der Grenze dieselben Marken gibt –, doch diese Meinung war weit verbreitet. Vielleicht kommt es daher, dass vor dem polnischen EU-Beitritt andere Normen galten und das polnische Waschpulver weniger konzentriert war. Heute dürfte es aber keine Unterschiede mehr geben. Als ich dann schließlich Mehl zum Brotbacken kaufte, das in Polen teurer als in Deutschland ist, gelangten sie zum Schluss, dass ich doch noch auf „meine Kosten kommen würde“ und immerhin etwas gelernt hätte. Wie bereits erwähnt, versuchte ich mein Verhalten dem meiner Kolleginnen anzugleichen. Ich wollte nicht auffallen, sondern von ihnen als gleichrangige Saisonarbeiterin akzeptiert werden. Deswegen legte ich mir nach den ersten Gesprächen über Einkäufe einen Einkaufszettel zurecht mit Artikeln, die von anderen polnischen Saisonarbeitern gekauft wurden. Da man bemüht war, soviel wie möglich zu sparen, kaufte man selbstverständlich nur bei Discountern ein. Für die notwendigsten Besorgungen an Lebensmitteln wollte niemand mehr als 20 Euro wöchentlich ausgegeben. In den ersten zwei Wochen verzehrte man die aus Polen mitgebrachten Produkte, erst dann versorgte man sich vor Ort. Ein typischer Einkaufszettel umfasste Fertiggerichte, Dosensuppen, vakuumverpackte Wurst und nicht zu vergessen Süßigkeiten. Zum Frühstück gab es belegte Brote, Brötchen oder eine chinesische Suppe. Mittags dann wieder die obligatorischen Suppen, häufig angereichert mit Wurst und Kartoffeln, die wir günstig bei unseren Arbeitgebern kaufen konnten. Das Abendessen bestand meist aus Pommes frites und Fertigsalaten. Eine kleine Sensation war für meine Kollegen der Hofladen, in dem Obst und Gemüse aus eigener Produktion angeboten wurden. Für die abgewogenen und verpackten Waren stand in der Mitte des kleinen Ladens eine Büchse, in die man den passenden Betrag hineinwarf. Aus ihrer Heimat kannten sie diese kleinen Läden nicht, in denen der Kunde in eigener Verantwortung das Geld hinterlegt. Von Zeit zu Zeit brachte uns Kathrin, die Bauersfrau, nicht verkauften Salat, Blumenkohl oder übrig gebliebene

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Tomaten aus ihrem Laden. Ohne diese Zugaben hätten wir kaum Gemüse gegessen. Uns Mitarbeitern standen eine ordentliche Küche mit Kühlschränken, Herd, Backofen und Mikrowelle zur Verfügung. Verglichen mit den Erfahrungen anderer Wanderarbeiter waren unsere Wohnbedingungen nicht schlecht: Im Keller des Wohnhauses unserer Arbeitgeber befanden sich ein recht kleines Dreibettzimmer, ein Bad mit Dusche und eine große Küche mit drei weiteren Doppelstockbetten. Dort standen auch ein Tisch, Stühle, ein Fernseher und Schränke. Gleich nach meiner Ankunft bekam ich eine Steppdecke, ein Kissen und Bettwäsche. Der einzige Nachteil lag darin, dass wir in unserer Kellerwohnung kaum Tageslicht hatten. In den Räumen gab es lediglich kleine Lüftungsöffnungen. Ich habe sie abends immer geöffnet, da ich ungern im Dunkeln aufstehe. Tagsüber kam dann die Chefin und hat sie wieder geschlossen. In den nächsten Tagen wiederholten wir dieses „Spielchen“ mit Öffnen und Schließen der kleinen Fenster. In der letzten Woche wurde sie schließlich nervös und sagte, die Fenster sollten geschlossen bleiben, weil „Leute reinschauen“. Ich hatte nicht genug Mut, ihr zu widersprechen. Aus dem Keller gelangte man direkt in den Hof, der streng unterteilt war. Uns Arbeitern „gehörten“ nur Tische und Bänke unweit der Kellertür. Jeder Aufenthalt außerhalb dieser Zone wurde von unseren Arbeitgebern, die auf dem Gehöft stets etwas zu erledigen hatten, aufmerksam beobachtet. In der Sortierhalle, in der auch eine Waschmaschine stand, konnten wir uns frei bewegen, doch schon der Weg zum Müllcontainer konnte Fragen provozieren. Ich fühlte mich eingeengt, verbrachte meine Freizeit jedoch ohnehin im Keller. Auf dem Hof von Hans und Kathrin gab es hinter der Sortierhalle noch weitere Mitarbeiterunterkünfte. Von hier aus gelangte man direkt in den Obstgarten, d.h., die dort untergebrachten Kollegen konnten sich freier bewegen. Sonntag war meist arbeitsfrei. Wir nutzten den Tag zum Wäschewaschen, Kochen und erholten uns in der Sonne. Einmal begleitete ich Kasia zum „Call Shop“ in die ungefähr vier Kilometer entfernte Stadt. Wir wollten zu Fuß gehen, aber schon bald hielt ein Wagen an, und der Fahrer fragte uns, ob er uns mitnehmen soll. Während der Fahrt unterhielten wir uns über Sehenswürdigkeiten der Umgebung. Für ihn war es anscheinend nichts Außergewöhnliches, an einer Landstraße zwei polnische Arbeiterinnen mitzunehmen. Polnische Wanderarbeiter gehören in den Sommermonaten zum

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gewohnten Bild in der Region. Neben dem Discounter war der „Call Shop“ ein Treffpunkt der „Saisonpolen“. Kasia traf hier gleich Bekannte vom vergangenen Jahr und auch der Eigentümer erkundigte sich sofort nach ihren Angehörigen. Sonnabends kauften wir meistens eine oder zwei Kisten Bier und verbrachten die Zeit gemeinsam, erzählten einander Geschichten, „tratschten“ und ließen die vergangene Arbeitswoche Revue passieren. Alkohol spielte dabei eine wichtige integrierende Rolle. Unter der Woche interessierten sich die meisten Arbeitnehmer nur wenig für Alkohol, aber samstags war keiner der Kollegen abgeneigt. Ein französischer Arzt, der die Geschichte und Tradition des Alkoholgenusses untersuchte, schrieb: „Alkohol ist eines der ältesten Elemente, die den Menschen auf seiner Wanderung durch Jahrhunderte begleiten. Er wurde immer und überall getrunken, bei konkreten Anlässen und auch ohne sie. Die Menschen hatten dabei ein Ziel – die Seele aus dem grauen Alltag zu befreien und sie in den Bereich der Freude, Fröhlichkeit und Vergessenheit hinüberzuführen.“14

Und so war es auch während meines Aufenthaltes auf dem Erdbeerhof: Nahezu rituell tranken wir einmal in der Woche gemeinsam einen Kasten Bier, um wenigstens für eine Weile die harte Arbeit und das Heimweh zu vergessen.

S KIZZEN

UND

R EFLEXIONEN

Bei der verdeckten teilnehmenden Beobachtung bewegt sich der Forscher in einer doppelten Rolle, zwischen Distanz wahrendem Wissenschaftler und agierendem Subjekt. Die „Verkleidung als Saisonarbeiter“ erlaubte mir zwar deren Alltag von innen einzusehen, doch muss der Wissenschaftler immer damit rechnen, mit seinem Verhalten Misstrauen zu wecken.15 In den ersten Wochen fürchtete ich, entdeckt zu werden. Während der samstäglichen „Partys“ hatte ich regelrecht Angst, Bier zu trinken, um nicht unter Alkoholeinfluss ein Wort zu viel zu sagen. Problematisch war es, Noti-

14 Fouquet/de Borde 1990: 8. 15 Herrera 1999: 331ff.

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zen zu machen, die ja ein zentrales Element von Beobachtungen bilden und auf deren Grundlage später eine Analyse der Daten erfolgen sollte. Ich hatte einen Laptop dabei, wusste aber nicht, ob ich ihn auf dem Bauernhof würde benutzen können. Bereits am ersten Tag stellte ich fest, dass meine Kollegen ebenfalls ihre Laptops dabei hatten, auf denen sie nahezu täglich Filme schauten. Somit hatte ich keine Bedenken, meine Notizen auf dem Computer zu schreiben. Jedoch blieb das nicht unbemerkt. Der Antwort auf die Frage, was ich so eifrig schreibe, konnte ich zunächst noch ausweichen, machte aber von nun an handschriftliche Notizen. Wie alle Saisonarbeiter hatte auch ich ein Heft, in dem ich die geleisteten Stunden notierte. Das kam mir jetzt zur Hilfe, und so konnte ich ohne aufzufallen nebenbei mein Feldtagebuch führen. Gerne hätte ich mich täglich wenigstens für eine Stunde irgendwo versteckt, um die Ereignisse des Tages, meine Gedanken oder die ersten Analysen festzuhalten. Eines Tages notierte ich: „Gestern holte Aneta ein Heft heraus, in dem sie und ihr Mann seit Jahren die geleisteten Stunden und bei Akkordarbeit die gepflückten Kisten notieren. Welch fantastischer Stoff wäre das für mich, dachte ich. Vielleicht gibt es dort auch Notizen, die man vergleichen könnte. Würde ich zugeben, was mein wahres Ziel ist, könnte ich sie bitten, mir ihr Heft zu leihen. Jetzt geht das aber nicht. Gleichzeitig haben die Aufzeichnungen für Aneta keinen Wert. Sie wird es wegwerfen, wenn es keine freien Seiten mehr gibt.“

Frustrationen dieser Art ereilten mich häufiger, trotzdem versuchte ich, möglichst viel zu sehen, zu hören und zu behalten, ohne „ertappt“ zu werden. In einem Lehrbuch über teilnehmende Beobachtung wird das gute Gedächtnis als die größte Stärke des Forschers im Feld beschrieben.16 Vor meiner Abreise hatte ich mir eine Ausrede überlegt, um zu erklären, warum ich nach Deutschland zur Arbeit gekommen bin. Um meine künftigen Arbeitskollegen und Arbeitgeber nicht zu täuschen, überlegte ich mir eine der Wahrheit nahekommende Fassung, bei der ich einige Fakten jedoch nicht erwähnte. Ich war eine Studentin, die in Deutschland das notwendige Geld für die Renovierung ihrer Wohnung verdienen wollte. Sollte jemand aber nachfragen, so wollte ich die Wahrheit sagen. Deswegen wuss-

16 Angrosino 2010: 111.

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ten am Ende einige Kolleginnen, dass ich eine Stude über Menschen schreibe, die im Ausland arbeiten. „Außerhalb Polens? Genauso wie wir!“, sagte daraufhin Basia eines Tages und schlug vor, mit ihr ein Interview durchzuführen. Ich teilte ihr mit, dass ich unsere Gespräche und meine Beobachtungen beim Erdbeerpflücken gerne in meiner Arbeit auswerten würde. Das hat sie mit unverhohlener Freude aufgenommen. Sie sah darin einen Ausdruck meiner „Cleverness“, in Deutschland nicht nur Geld zu verdienen, sondern die Erfahrungen auch noch für mein Studium zu verwenden. Sie ging jedoch stets davon aus, dass Geldverdienen mein Hauptziel in der „Sachsengängerei“ war. Eines Tages sprach ich mit Ania und Basia über ihre Erfahrungen mit Studenten: „Studenten sind nicht besonders beliebt, denn sie arbeiten schlecht. Doch besteht immer auch eine Chance, dass sie irgendeine Fremdsprache sprechen, und man sie als Dolmetscher nutzen kann. Sie arbeiten schlecht, sind langsam, und in Wirklichkeit weiß man nicht so richtig, ob man auf sie zählen kann und ob sie auch im nächsten Jahr wiederkommen.“

Mehrmals hörte ich von meinen Kollegen (niemals jedoch von meinem Arbeitgeber), ich sei keine „typische“ Studentin, weil ich solide und schnell arbeite. Basia, Aneta und Kasia mochten mich und versuchten mich jeden Tag davon zu überzeugen, auch in der nächsten Saison wiederzukommen. Immer wieder kamen sie darauf zu sprechen. Nach ihren Erfahrungen bot dieser Betrieb aufgrund seiner Größe eine abwechslungsreiche Arbeit und bildete mit seinen guten Bedingungen eher eine Ausnahme. Sollte ich im kommenden Jahr wiederkommen, so lag das auch in ihrem Interesse. Sie brauchten eine weitere Person für ihr vierköpfiges Team, mit der sie gut zusammenarbeiten konnten. Wir hatten uns in dieser Saison kennengelernt, kamen gut miteinander aus, und so lag es nahe, auch im nächsten Jahr wieder gemeinsam zu arbeiten. Das lag mir anfangs zwar fern, allerdings dachte ich, je länger ich mit ihnen zusammen war, tatsächlich immer öfter darüber nach, ob ich nicht doch nächstes Jahr eine weitere Erntesaison dranhängen sollte. Die Idee, meinen Lebensunterhalt durch Saisonarbeit zu finanzieren, wurde – zu meinem späteren Entsetzen – immer verlockender. Eine der am häufigsten genannten Schwächen der verdeckten Beobachtung ist das Problem von „going native“, also einer zu starken Identifikation

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mit der untersuchten Gruppe:17 „Die Freude an der Teilnahme an der Gruppe kann nicht nur zur Vernachlässigung der Forschungspflichten verleiten, sondern manchmal auch die erzielten Ergebnisse durch eine zu große Nähe zum untersuchten Milieu verzerren.“18 Würde das geschehen, so wäre die objektive Interpretation der Daten infrage gestellt. Im Vorfeld hatte ich nicht erwartet, dass dies auch mein Problem werden könnte. In meiner Vorstellung war die Welt der Wanderarbeiter himmelweit von meiner eigenen entfernt, aber die in Deutschland geschlossenen Freundschaften und die allmähliche Aneignung der für mich fremden Wirklichkeit zeigten mir auch die Nähe unserer Erfahrungswelten: „Das Gefühl der Geborgenheit, die ‚häusliche‘ Wärme ist ein beunruhigendes Signal. […] Es muss immer eine Rückzugsmöglichkeit, eine soziale bzw. intellektuelle Distanz übrig bleiben.“19 In diesem durch die Distanz zur untersuchten Welt abgesteckten Raum soll die analytische Arbeit eines Sozialforschers erfolgen. Um nicht zu „vergessen“, wer ich bin, las ich „Ein Tagebuch im strikten Sinne des Wortes” von Bronisáaw Malinowski, der als Pionier der Feldforschung gilt.20 Zwar hatte ich für seine Aufzeichnungen nur sonntags Zeit, trotzdem gewann ich dabei wieder Distanz zu meiner Forschungssituation: „Ich lese Malinowskis ‚Tagebuch‘ und immer stärker finde ich mich dort wieder. Darüber hinaus erinnert mich die Lektüre jedes Mal von Neuem daran, wozu ich hier bin, und stellt mich auf die Beine. Erneut empfinde ich Energie und Lust, meiner doppelten Arbeit nachzugehen. Und wenigstens erinnere ich mich daran, dass ich nicht einfach Saisonarbeiterin bin. […] Ich brauche Distanz und Zeit für meine Notizen. Dabei weiß ich nicht, was von beidem schwerer zu finden ist.“

17 Silverman 2007: 240. 18 Hammersley/Atkinson 2000: 118. 19 Ebd. 2000: 122. 20 Malinowski 1986. In dem Tagebuch notierte er die Eindrücke seines Feldaufenthaltes in Neuguinea zwischen 1914 und 1918. Durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges konnte er erst nach vier Jahren nach Europa zurückkehren. Das Tagebuch war ursprünglich nicht zur Veröffentlichung vorgesehen und schildert seine alltäglichen Schwierigkeiten in einer ihm fremden Kultur. Malinowski war für seine Umgebung aber immer als europäischer Beobachter erkennbar. Insoweit blieb er immer ein Fremder in der von ihm untersuchten Gesellschaft.

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Ein großes Problem stellte für mich die schreckliche Monotonie dar. Nach den ersten Wochen, als alles unbekannt war, und ich in Übereinstimmung mit der Maxime der Anthropologen über jedes mich umgebende Element gestaunt habe, kam Langeweile auf. Ich hatte den Eindruck, alle Geschichten bereits zu kennen. Auch in der täglichen Arbeit, die ich nun automatisch verrichtete, gab es kaum etwas Neues. Am liebsten würde ich meine Koffer packen und nach Hause fahren. Doch das Gefühl, Verpflichtungen gegenüber meinen Arbeitgebern zu haben und auch die anthropologische Neugier hielten mich vor Ort. Eines Tages kam Kathrin, die Bäuerin, auf mich zu und bat mich, bis Ende September zu bleiben. Ich atmete tief durch, denn ich befürchtete schon, dass man meinen Vertrag gerne über die zwei vereinbarten Monate hinaus verlängern würde. Es war Mitte August, und seit zwei Wochen wartete ich nur noch auf meinen letzten Arbeitstag, den Lohn und die lang ersehnte Rückkehr nach Warschau. Als ich meine Kollegen beobachtete, stellte ich fest, dass sich meine Empfindungen kaum von den ihrigen unterschieden. Einige hatten ihre Koffer bereits eineinhalb Wochen vor der geplanten Rückkehr nach Polen gepackt. Die körperliche Erschöpfung und die Sehnsucht nach ihrer gewohnten Umgebung, nach normalen Mahlzeiten einte alle. Gleichzeitig wurden immer häufiger Probleme erwähnt, die zu Hause warteten. Für die Mehrheit der polnischen Saisonarbeiter bedeutet die Zeit in Deutschland eine Distanz zu den Sorgen ihres polnischen Alltags, die sie auch als psychische Erholung wahrnehmen. Neben den finanziellen Gründen ist auch das eine Motivation, Jahr für Jahr in den Sommermonaten wieder als Wanderarbeiter nach Deutschland zu kommen. Nach zwei Monaten beendete ich meine Feldforschung. Es war für mich eine ungewöhnliche Erfahrung. Schon vor meiner Abreise hatte ich die Lebenssituation von Wanderarbeitern in ihren polnischen Wohnorten untersucht.21 Ich habe den Alltag einer kleinen Stadt im Norden Polens erkundet und Interviews mit Menschen geführt, die ihr Geld im Ausland verdienen. Aus diesen Interviews hatte ich zwar vieles über die „Sachsengänger“ erfahren, doch blieb mir ihr Alltag abstrakt. Erst am eigenen Leib habe ich verstanden, warum manche Erntehelfer behaupteten, sie fahren dorthin, um sich zu erholen. Ich habe verstanden, worin die Unwägbarkeiten der Saisonarbeit beruhen und begriffen, was an dieser Arbeit so fesselnd ist.

21 Neben dem zweimonatigen Aufenthalt in Deutschland umfasste die Feldforschungsphase weitere zehn Monate in den Herkunftsgesellschaften.

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„Wenn der Frühling kommt und der Boden zu duften beginnt, wirst du Sehnsucht nach dieser Arbeit empfinden“, erklärte Basia, und ich habe letztlich verstanden, was sie meinte. Wie ein Echo kehrten immer wieder die Worte einer Interviewpartnerin zu mir zurück: „Ich fühle mich dort fast wie im Urlaub.“ Verstehen wir die verdeckte teilnehmende Beobachtung als Teil einer methodischen Triangulation, neben Interviews und weiteren Dokumenten, so zeigt sich der empirische Wert. Ohne die Erfahrung der Saisonarbeit hätte ich mit Sicherheit viele Fragen übersehen, die mir erst in Deutschland bewusst wurden. Zwei Monate lang habe ich jeden Tag im Freien verbracht. Ich kehrte gebräunt und zufrieden zurück, sowohl aufgrund des gesammelten Forschungsmaterials als auch wegen meiner Erfahrungen. Nur die Hände schmerzten noch ein paar Wochen. Und für einen langen Zeitraum konnte ich keine Erdbeeren mehr sehen.

Arnswald – ein Dorf im Strukturwandel

Polnische Wanderarbeiter wurden in der deutschen Gesellschaft lange Zeit nicht wahrgenommen. Wie „Heinzelmännchen“1 scheinen sie Aufgaben unbemerkt in aller Stille zu erledigen.2 Sollten sie jedoch einmal nicht kommen, wie in den Jahren 2004 und 2005 nach dem EU-Beitritt Polens geschehen, wird das Fehlen von Erntearbeitern in der Landwirtschaft beklagt. Obgleich das Thema damit in den Fokus der medialen Berichterstattung geriet, blieb das Verhältnis zwischen polnischen Saisonarbeitern und lokaler deutscher Bevölkerung für den Außenstehenden bislang im Dunkeln. Vor diesem Hintergrund bestand ein Teil unserer Forschungsarbeit darin, exemplarisch zu untersuchen, wie die jährlich sich wiederholende Anwesenheit der ausländischen Erntearbeiter in einem Dorf im Norden Deutschlands wahrgenommen wird. Welche Berührungspunkte gibt es mit ihnen und wie werden Konflikte gelöst? Das sind einige der Fragen, denen wir nachgingen. Zunächst möchten wir aber dem Leser die Gemeinde, in der die Forschung durchgeführt wurde, vorstellen. Analog einer Skizze werden einige Aspekte umrissen, die für das Forschungsthema relevant sind. Für die Forschung wurde die Ortschaft Arnswald ausgewählt, da sie über eine entwickelte Infrastruktur verfügt. Zudem sind seit fast zwanzig Jahren im Frühjahr in Arnswald regelmäßig mehr als einhundert Erntear-

1

Becker 2010: 12.

2

Beispielsweise taucht der Begriff „Saisonarbeiter“ in einer ausführlichen Darstellung der landwirtschaftlichen Betriebe und ihrer Wirtschaftsstruktur aus dem Jahr 1994 nur unter der ungenauen Bezeichnung „teilbeschäftigte Mitarbeiter“ auf. Ausführlich wird dagegen auf die eher traditionelle Kategorie der mithelfenden Familienangehörigen eingegangen (Eckart/Wollkopf 1994: 32).

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beiter anwesend. Aufgrund der Gebietsreformen handelt es sich bei der Gemeinde um eine mehrfach gestufte Verwaltungseinheit. Sechs Gemeinden bilden dabei eine Samtgemeinde mit über 7.000 Einwohnern. Zu jeder der sechs einzelnen Gemeinden gehört wiederum eine unterschiedliche Anzahl von Ortschaften. Aufgeteilt auf zwei Ortsteile leben in Arnswald rund 1.500 Personen. Obwohl der gesellschaftliche Wandel deutliche Spuren in Form aufgegebener landwirtschaftlicher Betriebe hinterlassen hat, verfügt Arnswald – verglichen mit anderen Gemeinden – noch über eine relativ breite Infrastruktur.3 Zwei Bankfilialen, ein Lebensmittelladen, eine Schlachterei, eine Gärtnerei sowie verschiedene Dienstleistungs- und Handwerksbetriebe gehören neben Schule und einer evangelischen Kirche zum Ortsbild. Darüber hinaus hat sich mit zehn Vereinen – von den Taubenzüchtern über Kulturvereine bis zum Schützenverein – ein vielfältiges soziales Leben erhalten. Der viel beachtete demografische Wandel in Form von Bevölkerungsrückgang, verbunden mit einer Zunahme der älteren Einwohner, findet aber auch in Arnswald statt. Seit den 1960er Jahren ging die Einwohnerzahl um ungefähr 250 Personen zurück. Überwiegend junge, unverheiratete Leute verlassen die Gemeinde, während zugleich die Gemeindeverwaltung bemüht ist, jungen Familien mit günstigen Baugrundstücken einen Anreiz zur Rückkehr bzw. Neuansiedlung zu geben. Am deutlichsten sichtbar ist der ökonomische Wandel im Bereich der Landwirtschaft. Mit dem Inhaber des Lebensmittelgeschäftes unterhalte ich mich darüber, ob es in Arnswald im Vergleich zu den Nachbargemeinden mehr selbstständige Landwirte gibt: Jens Riesmann: „Nein. Glaube ich nicht. Gibt’s ja kaum noch. Ich glaube, die letzten Kühe gehen jetzt weg. Der letzte Bauer, der hier Kühe hat, der schafft sie jetzt auch ab. Da ist ja gar nichts mehr. In Liebenort gibt’s auch keine Kühe mehr, wenn ich mich nicht täusche. Landwirte vielleicht vier, fünf Stück, mehr gibt es heute nicht mehr.“4

Vor allem ältere Einwohner verbinden mit dem Wandel in der Landwirtschaft das Verschwinden der Kühe. Der auch als „Höfesterben“ beklagte Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft setzte in den 1950er Jahren

3

Vgl. Henkel 2012: 102ff.

4

Soweit nicht anders vermerkt, wurden alle Interviewzitate sprachlich geglättet.

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ein, ohne bis heute abgeschlossen zu sein.5 Regional führt der Konzentrationsprozess zu einer Zunahme von Monokulturen. In der Forschungsregion ist in besonderem Maß die Umstellung von Nahrungsmittelproduktion auf Energieerzeugung zu beobachten. Heute wird für den Betrieb von Biogasanlagen großflächig Mais angebaut, der als einzige Pflanze die notwendige Biomasse liefert. Da die subventionierte Biogasproduktion rentabler als der Getreideanbau ist, sind die Biogasproduzenten in der Lage, höhere Pachtpreise für landwirtschaftliche Flächen zu zahlen. Überwiegend bewirtschaften bäuerliche Betriebe neben eigenen Flächen auch Pachtland. Ist die Preisspirale einmal in Gang gesetzt, stehen die Landwirte im Extremfall bei Ablauf ihrer Pachtverträge vor der Alternative, ebenfalls auf Biogasproduktion umzustellen oder ihren Betrieb aufzugeben. Gewinner dieses Prozesses sind die Besitzer der Pachtflächen, bei denen es sich in der Regel um Landwirte handelt, die ihren Betrieb schon vor Jahren oder Jahrzehnten aufgeben mussten. Michael Stallberg hat seinen Betrieb schon in den 1970er Jahren geschlossenen und verpachtet seine Flächen: Michael Stallberg: „Wenn man auf der einen Seite die Nachteile für die konventionellen Betriebe sieht, muss man aber auch selbstverständlich die Vorteile sehen für diejenigen Familien, die auch hier leben, die jetzt durch das verpachtete Land eben ein deutlich höheres Familieneinkommen haben. Was gab’s denn hier vorher? 75 Mark für’n Morgen, ja. Dann warst aber schon gut dabei, das war’n dann 300 DM für ’nen Hektar.6 Dann warst aber wirklich schon gut dabei. 50 Mark für ’nen Morgen war hier Tango! Ja, und denn geh mal hin, der will Steuern, der will Wasserlasten, der hat dies, was bleibt denn dann über? Da blieb doch nichts bei über. Also, wie jedes Denken hat auch dieses Denken zwei Seiten, das darf, das muss man immer dabei sagen, ehrlicherweise, nech.“

5

In der EU verringerte sich zwischen 1965 und 1990 die Anzahl der landwirtschaftlichen Betriebe um 50 Prozent. Pro Jahr gaben ca. 500.000 Betriebe auf. Zugleich setzte ein Konzentrationsprozess ein, der dazu führte, dass in den 1990er Jahren 20 Prozent der Betriebe 80 Prozent der Produkte lieferten. Prognostiziert wird ein weiteres Schrumpfen der Anzahl von Betrieben bei gleichzeitigem Wachstum der Einzelbetriebe (Eckart/Wollkopf 1994: 32).

6

Regional bewegen sich die Preise für einen Hektar Ackerland im Jahr 2011 zwischen 400 und 800 Euro.

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Ausgehend von dem Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft findet in den Dörfern eine Verschiebung sozialer Interessenlagen statt. Ehemalige Landwirte, die ihren bäuerlichen Betrieb aufgeben mussten, erleben unter den verschärften Wettbewerbsbedingungen eine Interessenübereinstimmung mit den Inhabern hochrationalisierter Landwirtschaftsbetriebe. Bei auslaufenden Pachtverträgen können die Biogasbetriebe deutlich höhere Summen bieten, als im Getreideanbau zu erwirtschaften sind. Nur auf Sonderkulturen – wie beispielsweise Spargel oder Beeren – spezialisierten Betrieben gelingt es, vergleichbare Pachtpreise zu zahlen. Auf dieser wirtschaftlichen Grundlage entwickelte sich in der Forschungsregion ein Schwerpunkt im Mais- und Spargelanbau. Abbildung 3: Spargelernte in Norddeutschland

Quelle: Autoren

Der Strukturwandel in der Landwirtschaft bildet einen zentralen Aspekt des ländlichen Wandels. Begeben wir uns zurück nach Arnswald, so sehen wir manch leer stehendes Gebäude, und auch am einzigen Gasthaus im Ort wird der Besucher vor verschlossenen Türen stehen: Jens Riesmann: „Ja, es gab ja mal vier, fünf, sechs Lebensmittelgeschäfte in Arnswald. Es gab sechs, sieben Kneipen. Das gibt’s ja alles nicht mehr. [Lacht]“ M.W.: „Das können sich die Leute kaum noch vorstellen.“

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Jens Riesmann: „Ja, wenn heute jemand eine Tasse Kaffee trinken will oder irgendwas essen will, ist das nicht möglich. Kaffee haben wir inzwischen auch, aber mehr nicht. Also speisenmäßig, so restaurantmäßig ist hier gar nichts.“

Mit einem Lebensmittelgeschäft und einer Schlachterei gibt es in Arnswald, verglichen mit anderen Gemeinden, eine relativ gute Versorgung. Die nächste Möglichkeit zum Einkaufen bietet das Einkaufszentrum im zwölf Kilometer entfernten Lichtfelde. Für ältere Einwohner und durch kleine Kinder ans Haus gebundene Personen ist es da einfacher, einen Teil ihres Bedarfs in Arnswald zu decken. Umfangreichere Besorgungen erledigt man aber für gewöhnlich auf dem Rückweg von der Arbeitsstätte in Lichtfelde. Jedoch schätzen auch die mobilen Einwohner die Einkaufsmöglichkeit im Dorf und nutzen für die kleinen Einkäufe den „Laden um die Ecke“. Dabei handelt es sich nicht um reinen Pragmatismus, etwa weil man etwas vergessen hat. Vielmehr unterstützt man den Laden, da man hier noch Reste dörflicher Lebensqualität findet und das Geschäft im Dorf erhalten möchte. In der persönlichen Nähe zu den Nachbarn erlebt ein erheblicher Teil der Einwohner eine spezifische Qualität dörflichen Wohnens. Beispielhaft sei hier eine Stelle aus dem Interview mit Birgit Behrend angeführt: M.W.: „Was schätzen sie am meisten an dem Leben in so einem Dorf?“ Birgit Behrend: „Doch das persönliche Kennen, das [lacht] … Ja, wenn man mit Fahrrad jetzt auch durchs Dorf fährt, die Leute in den Vorgärten, man kennt jeden, man hält hier an und da an, und diese persönlichen Kontakte finde ich schon schön. Man kann hingehen zu Veranstaltungen wo auch immer, man gehört dazu. Man kennt viele oder fast alle und kennt sich überall aus und ist irgendwie doch, … find ich ganz gut.“

Der Lebensmittelladen bietet eine „Gelegenheitsstruktur“ für unverbindliche Gespräche und vermittelt das Gefühl sozialer Integration.7 Seit die Wirtshäuser geschlossen haben, ist der Laden die einzige Möglichkeit, einen Becher Kaffee oder belegte Brötchen zu bekommen, und bietet eine der wenigen Gelegenheiten, in denen informelle Sozialkontakte gepflegt werden können. Im Spontanen und Zufälligen liegt die spezifische Qualität des Lebensmittelladens als Kontaktfläche. Da der Eigentümer, Herr Riesmann,

7

Vgl. Müller/Rosenow/Wagner 1994: 154f.

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alle Kunden duzt, vermittelt er auch neu Hinzugezogenen ein Gefühl von Vertrautheit. Gleichzeitig handelt es sich um eine unverbindliche Form ohne weitere Verpflichtungen. Schließlich sollte man nicht übersehen, dass die Arnswalder Bürger ihre sozialen Kontakte natürlich nicht nur auf die Gemeinde beschränken. Von den traditionellen Veranstaltungen und Festen hat einzig das Schützenfest überlebt, die Bälle des Sportvereins und des Gesangsvereins hingegen finden schon seit einigen Jahren nicht mehr statt: Michael Stallberg: „So kann man das deutlich nenn’, ja. Durch die Mobilität ist natürlich hier auch so einiges verloren gegangen, ne, in dem, was es früher mal war. Und es ist ja auch, Herr Wagner, ganz klar, ähm, was früher für die Menschen in der kargen Nachkriegszeit mal ein dolles Ding war – ‚Mensch, ah, können wir mal feiern, alles vergessen und auch mal einen heben!‘ – nech, das ist heute auch Alltag. An jeder Ecke gibt’s ein Bier, in jeder Tanke gibt’s Alkohol, und, und herumdolmern ist doch, das ist doch jeden Tag gegeben, nech. Irgendwo, ich brauch nur jetzt heute Abend losgehen und irgendwohin, irgendwo, irgendwo ist was los, und dann, ja. Das war, früher war’n diese Sachen, die Menschen noch wat wert, heutzutage, natürlich auch ’ne Wohlstand..., meiner Meinung nach eine Wohlstandsfrage.“8

Seine Klage spiegelt nicht nur die lokalen Auswirkungen einer vernetzten Welt, sondern kann zugleich als Resultat eines unausgesprochenen Wettbewerbs der Gemeinden um attraktive „Events“ verstanden werden. Jede Tanzveranstaltung, jedes Schützenfest und jeder Verein steht heute in Konkurrenz mit Alternativangeboten. Obwohl es insgesamt zu einer Verarmung dörflichen Soziallebens kommt, ist seit einigen Jahren aber auch eine Wiederbelebung von Festen und Traditionen im ländlichen Raum zu beobachten.9 Man kann dies als gegenläufige Bewegung zur Abnahme der landwirtschaftlichen Funktion der Dörfer interpretieren, die eine Form der Selbstvergewisserung und lokalen Identifikation darstellt. Feste und Veranstaltungen der ländlichen Gesellschaft können nicht ausschließlich als überlieferte Relikte interpretiert werden. Vielmehr ist zu untersuchen, in welchem Maße die Traditionen einem Wandel unterliegen und, neu erfunden, im Ge-

8

Interview im originalen Sprachduktus.

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Henkel 2012: 163.

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wand der Überlieferung erscheinen.10 Auch Traditionen wandeln sich im historischen Prozess. Die Verbindung von Elementen vergangener Zeiten und der Gegenwart wird als authentischer Ausdruck einer Kultur wahrgenommen.11 Nachdem in dieser kurzen Skizze ein Eindruck von der Forschungsgemeinde gezeichnet wurde, wenden wir uns nun der Anwesenheit der polnischen Wanderarbeiter zu.

W ENN DIE P OLEN KOMMEN , BEGINNT DIE S PARGELSAISON Die Straßenkreuzung in der Ortsmitte von Arnswald bildet so etwas wie das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Ortes. Eingerahmt von alten Bauernhäusern befindet sich auf der einen Seite die evangelische Kirche mit Friedhof und Kulturhaus. Gegenüber stehen die beiden Banken, ein Laden und ein Gasthof, der seine Räume jedoch nur noch für private Feiern zur Verfügung stellt. Zwischen Laden und Gasthof befinden sich zwei Gebäude, in denen während der Erntezeit von Mitte April bis Ende Juni die polnischen und rumänischen Saisonarbeiter untergebracht sind.12 Von Juli bis April stehen beide Gebäude leer, die Jalousien sind heruntergelassen, die Türen verschlossen. Es handelt sich um ehemalige Gasthöfe, die einige Jahre leer standen, bevor sie von einem Landwirt als Unterkunft für seine Erntearbeiter hergerichtet wurden. In der Erntesaison leben in beiden Häusern ungefähr 100 Arbeiter, die mit betriebseigenen alten Linienbussen täglich zu ihren Einsatzorten gefahren werden. Am Morgen und Abend halten die großen Busse auf der Hauptstraße, wenn die Saisonarbeiter zu den Feldern oder zurück von der Arbeit gefahren werden. In der Dorfmitte entsteht bei Beginn der Erntezeit eine ungewohnte Betriebsamkeit. Ob beim Kirchgang, beim Besuch von Kulturveranstaltungen oder beim Einkaufen, man kann die Erntehelfer nicht übersehen. Sie werden wahrgenommen, ohne dass es Berührungspunkte gibt. Gisela Berghold schildert als regelmäßige Kirchgängerin die Schwierigkeiten einer Kontaktaufnahme:

10 Elwert 1984: 380ff. 11 Torkarska-Bakir 1996: 131. 12 Traditionelles Ende der Spargelsaison ist der Johannistag am 24. Juni.

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Gisela Berghold: „Ja. Ja. Da sind wir jedes Jahr wieder drüber erstaunt. Bevor der Gottesdienst anfängt, sind oft so zwei, drei, manchmal auch mehr in der Kirche und gucken sich die Kirche erst mal an. Manche gehen auch bis zum Altar vor und, ja, gucken sich eben alles an, und manche bleiben auch einfach nur stehen und lassen alles so auf sich wirken. So, das ist gut. Manche bleiben auch im Gottesdienst da. Ob sie es nun immer verstehen, weiß ich auch nicht. Ob sie so viel Deutsch können. Keine Ahnung. Man kommt auch nicht mit denen ins Gespräch. Kommt man einfach nicht. Die sind dann wieder verschwunden.“ M.W.: „Ja.“ Gisela Berghold: „Ja, das ist schade eigentlich, nech, aber ...“ M.W.: „Man kommt nicht ins Gespräch, weil man keine gemeinsame Sprache hat, oder weil die einfach nicht da sind, dann?“ Gisela Berghold: „Die gehen dann wieder weg. Wenn man auf sie zugeht, die gehen wieder weg.“ M.W.: „Ach so, direkt so, wenn man versucht, sie mal anzusprechen.“ Gisela Berghold: „Ja, mhm. Vielleicht ist es Scheu. Man weiß es nicht.“

Sicherlich stellen die sprachlichen Probleme die größte Hürde vor einer Kontaktaufnahme dar. In dem Bericht von Frau Berghold wird aber auch ihre offene Einstellung deutlich, die ein Ausdruck ihrer gelebten christlichen Grundeinstellung ist. Die Kontaktaufnahme bleibt aber schwierig, da sich beide Seiten mit der Scheu einander fremder Menschen begegnen. Es gibt keine konkrete Veranlassung, die Hürde zu überspringen. Anders ausgedrückt fehlen die räumlichen und sozialen Anknüpfungspunkte, also Gelegenheitsstrukturen, die eine Kontaktaufnahme ermöglichen würden: Jürgen Mentz: „Klar, mitkriegen, dass sie da sind, tut man auf jeden Fall. Das Haus ist halt …, halbes Jahr steht’s leer und dann ist es bewohnt. Also mitkriegen tut man’s auf jeden Fall. Inwiefern man das mitkriegt, ist sehr unterschiedlich. Was halt im Dorf auf jeden Fall auffällt, ist halt massiver Busverkehr [lacht], mit dem die Polen transportiert werden. Zu gewissen Zeiten geht man nicht zum Laden, weil man dann Schlange steht. Ansonsten ist das sehr unterschiedlich.“

Man bleibt sich fremd und selbst im Lebensmittelladen, schräg gegenüber den Unterkünften, vermeidet man die Kontaktaufnahme. Die Anwesenheit der Saisonarbeiter im Laden nimmt man eher als Störung des alltäglichen Ablaufs wahr. Zu bestimmten Zeiten ist der Laden voll, an der Kasse bildet

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sich eine Schlange wartender Kunden, also versucht man, den damit verbundenen Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen. An dieser Stelle können wir nun das Bild der polnischen Saisonarbeiter als „Heinzelmännchen“, deren Anwesenheit nur über ihre Arbeitsleistung registriert wird, auf der Ebene von dörflicher Teilgesellschaft differenzierter fassen. Obwohl zwischen Einwohnern und Erntehelfern nur wenige Kontakte bestehen, werden die polnischen Arbeiter wahrgenommen. Es ist keine Arbeit von „Heinzelmännchen“, wenn Spargel, Erdbeeren und Gemüse geerntet werden, denn die ländliche Bevölkerung sieht, wer die Arbeit macht. Ihre Anwesenheit ist eine sich im jährlichen Rhythmus wiederholende Erscheinung, die als Selbstverständlichkeit registriert wird. Mit treffenden Worten skizziert Birgit Behrend die Situation: „Irgendwie gehören die dazu, man weiß, die Spargelsaison beginnt, und dann sind die Polen da, und es ist okay.“ Mit Ankunft der Saisonarbeiter stellt sich auch der Besitzer des Lebensmittelladens auf deren spezielle Wünsche ein. Während außerhalb der Erntesaison pro Woche eine Kiste Bier verkauft wird, steigert sich jetzt der Konsum auf achtzig Kisten: Jens Riesmann: „Auch Rumänen sind da. Die Polen holen mehr Alkohol, Bier, Wodka und solche Sachen, aber auch Lebensmittel und viele Süßigkeiten. Also, es gibt Polen, die kaufen für 50, 60, 70 Euro Süßigkeiten, Haribo-Sachen, bevor die wieder nach Hause fahren.“

Neben den Süßigkeiten, berichtet Herr Riesmann weiter, kaufen die Polen vor ihrer Rückfahrt in die Heimat große Zehnkilopakete Waschpulver. Ihm bleibt unverständlich, was sie dazu veranlasst, gerade diese Alltagsprodukte „mitzuschleppen“, wie er sich ausdrückt. Vermutlich, so seine Erklärung, gibt es diese Artikel in ihrer Heimat nicht. Von den polnischen Arbeitern wird der Kauf hingegen mit der angeblich höheren Qualität dieser Produkte in Deutschland erklärt. Während es sich bei den Süßigkeiten vermutlich in erster Linie um Geschenke für die zu Hause gebliebenen Kinder handelt, bedarf der Kauf von Waschmitteln einer weitergehenden Interpretation. Nach unserer Erkenntnis handelt es sich bei dem immer wieder von Polen postulierten Qualitätsunterschied zwischen deutschen und polnischen

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Erzeugnissen um einen Mythos.13 Sowohl in ländlichen wie auch städtischen Regionen Polens werden die direkt aus Deutschland eingeführten Waschmittel den einheimischen Produkten vorgezogen, auch wenn sie von der gleichen Firma hergestellt und mit dem gleichen Produktnamen vertrieben werden. „Deutsche Waschmittel waschen besser und sind im Verbrauch sparsamer“, lautet die einhellige Ansicht. Schon beim Öffnen der Packung, so erzählt eine Polin, riecht man den unterschiedlichen Duft der Produkte. Selbst wenn die deutschen Produkte etwas teurer seien, benötige man aber weniger Pulver für eine Wäsche, womit sich der Preis wieder relativiere. Vor einiger Zeit, so erläutert sie weiter, wurde auch im polnischen Fernsehen über die Qualitätsunterschiede berichtet. Ihrer Ansicht nach betrifft das nicht nur Waschpulver, sondern auch Shampoo, Reinigungsmittel, und selbst löslicher Kaffee, gekauft in der gleichen deutschen Ladenkette und von derselben Firma produziert, schmeckt angeblich anders, wenn er in Deutschland gekauft wurde. Als Erklärung fügt sie noch an, dass ihrer Meinung nach die polnischen Produzenten ihre Kunden betrögen, indem sie schon kurz nach der Einführung eines neuen Produktes die Zusammensetzung ändern und die Qualität mindern würden. Interessant ist an der hier zitierten Auffassung, dass man nicht den deutschen Firmen, sondern deren polnischen Zweigstellenleitern betrügerische Absichten unterstellt. Zu den in Polen weitverbreiteten Klischees über Deutschland gehört die Vorstellung von „Ordnung“, die sowohl Sauberkeit wie auch eine herausragende Qualität der industriellen Produkte umfasst. In der Bevorzugung deutscher Waschpulver verdichten sich symbolisch diese Klischees. Findige Wanderarbeiter bringen von ihrem Aufenthalt in Deutschland große Mengen

13 Auf Nachfragen betont der Waschmittelhersteller Henkel die in Deutschland und Polen identische Qualität ihrer Produkte. Um den Bedürfnissen der polnischen Kunden und Kundinnen gerecht zu werden, so teilte die Firma Henkel weiter mit, enthält die Rezeptur des in Polen angebotenen Waschmittels ein zusätzliches Enzym, das auch in der Optik des Pulvers besonders hervorgehoben wird: „Da jedoch jeder Markt seine eigenen Besonderheiten hat, und Verbraucher in verschiedenen Ländern unterschiedliche Erwartungen und Bedürfnisse haben, muss Henkel darauf achten, auf den lokalen Märkten Produkte anzubieten, die den Ansprüchen der jeweiligen Verbraucher bestmöglich gerecht werden.“ (E-Mail vom 06.09.12, Business Unit and Brand PR/Laundry & Home Care, Firma Henkel Deutschland)

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Waschpulver mit und verkaufen es zu Hause. Selbst im Nordosten Polens, in der Woiwodschaft Ermland-Masuren, findet man derlei Angebote an Telegrafenmasten und Anschlagtafeln. In der Kreisstadt Bartoszyce hat sich sogar ein reguläres Geschäft auf den Verkauf direkt importierter Waschmittel spezialisiert. Die Bevorzugung deutscher Produkte geht über den Kauf von Waschpulver hinaus, wie im polnischen Straßenbild an der Überzahl von Fahrzeugen deutscher Hersteller zu erkennen ist. In einer erweiterten Perspektive symbolisieren diese Konsumgüter die Modernität ihrer Besitzer. Mit der Migration eröffnet sich für die Akteure der Zugang zu den Versprechungen einer bis vor wenigen Jahren unerreichbaren Konsumwelt.14 Von einigen Autoren wird dieser Prozess analog der finanziellen Rücküberweisungen in die Heimat als „kulturelle Remittende“ interpretiert, gemeint ist damit der kulturelle Einfluss auf die Heimat der Migranten.15 Selbstverständlich fahren auch die polnischen Saisonarbeiter überwiegend deutsche Fahrzeuge. Während es sich beim Auto oft um ein äußeres Statussymbol handelt, wirkt die symbolische Kraft des Waschpulvers subtiler. Es ist fast so, als würde die mit dem bevorzugten Mittel gewaschene Kleidung dem Träger das Bewusstsein von Modernität vermitteln. Er ist modern, da er sich erstens den Kauf der besseren Produkte leisten kann, und zweitens lebt er im Bewusstsein einer makellosen Sauberkeit. Persiflierend könnte man sagen „im Glanz deutscher Ordnung“. Die kulturellen Elemente des westlichen Nachbarlandes entfalten die symbolische Kraft einer Abgrenzung von dem Gewöhnlichen, Alltäglichen.16 Der Besitz einzelner Güter wird zum symbolischen Ausdruck eines gehobenen Lebensstils.17 Verlassen wir an dieser Stelle diese Überlegungen und kehren zu der konkreten Situation am Beispiel von Arnswald zurück. Da es im Alltag nur wenige Berührungspunkte zwischen den Bürgern von Arnswald und den Saisonarbeitern gibt, bleibt zu klären, ob besondere Anlässe wie z.B. öffentliche Feste ein anderes Bild ergeben. Von allen großen dörflichen Veranstaltungen ist einzig das Schützenfest übrig geblieben. Es wird an einem Wochenende im Juni gefeiert und trifft ungefähr mit dem

14 Bittner 2012: 17f. 15 Dürrschmidt 2012: 40. 16 Bourdieu 1982: 137, 355. 17 Neckel 1991: 241; Veblen 1958: 52.

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Ende der Spargelsaison zusammen. In den letzten Jahren nahmen immer wieder Gruppen polnischer Saisonarbeiter daran teil. Friedberg Oppel: „Die sind auch auf’m Schützenfest und letztes Jahr haben die Getränke mitgebracht, im Rucksack. Da ist ja der Wirt nicht zufrieden mit, nech. Ja, und denn haben sie die leeren Wodkaflaschen unter den Tisch geschoben und liegen gelassen, und die Biergläser haben sie in’ Rucksack gesteckt, die haben sie mitgenommen. Also, das wird dieses Jahr nicht wieder passieren! Der Vorstand vom Schützenverein hat gesagt: ‚So geht das nicht! Die können ruhig kommen auf’n Fest, aber dann müssen sie ihr Bier an der Theke kaufen.‘“

Das Verhalten der Arbeiter sorgte für Irritationen unter den Festbesuchern. Der Wirt ist auf den Verkauf seiner Getränke angewiesen, denn nur in Kombination mit ihm ist es dem Schützenverein möglich, das Fest als Veranstaltung für alle Einwohner zu organisieren. Da das Schützenfest sich nur auf ein Wochenende erstreckt, registrierte man den Vorfall lediglich, ohne direkt darauf zu reagieren. Erst im Nachhinein bemühte sich der Vereinsvorstand, ähnliche Störungen im kommenden Jahr auszuschalten, indem er den Arbeitgeber der Saisonarbeiter ansprach. Da alle Saisonarbeiter bei einem landwirtschaftlichen Großbetrieb angestellt waren, und der Arbeitgeber im Dorf bekannt ist, bot sich diese Konfliktlösung als einfachster Weg an. Dem Vorstand des Schützenvereins und dem Zeltwirt gelang es auf diesem Weg, einer offenen Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Im Zelt konnte man zunächst den Konflikt ignorieren, da der finanzielle Verlust minimal war. Bei einer offenen Austragung des Konfliktes bestand die Gefahr, eine ungleich größere Störung des Festes zu verursachen. Auch die polnischen Arbeiter stellten ihr Verhalten nicht öffentlich zur Schau, vielmehr bemühten sie sich, die Wodkaflaschen unter dem Tisch zu verstecken. Sie machten das, da sie sich ihrer nicht normgerechten Handlungen natürlich bewusst waren. Der vom Vorstand eingeschlagene Weg dokumentiert die Existenz informeller Konfliktlösungsstrategien, auf die an anderer Stelle noch einmal zurückzukommen sein wird. Bleiben wir vorerst noch bei der Teilnahme von Saisonarbeitern am Schützenfest. Richard Burgert kommentiert deren Erscheinen auf dem Fest mit folgenden Worten: Richard Burgert: „Das ist ein bisschen problematisch. Wenn ich es mehr auch so vom Erzählen weiß, muss ich sagen, dass man sie da eigentlich auch … Ja, da pas-

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sen sie im Grunde auch wieder nicht rein. Wenn da Schützenfest ist, dann gehen die eben doch in ihren Schützenuniformen da hin, das heißt also von der Bekleidung her schon ein gewisser Stil, will ich mal sagen. Ja, da geht’s schon los. So, dann geben die natürlich da nicht viel Geld aus für Getränke. Dann haben sie zum Teil versucht, ihre eigenen Getränke mitzubringen, das hat natürlich der Wirt dann wieder nicht toleriert. Also auch bei Schützenfesten sind im Grunde keine Kontakte. Es ist sicher nicht nur die Kleidung, es ist dann auch, leicht, ja, ich will mal sagen Vorbehalte gegenüber Fremden, hoffentlich klauen die hier nicht und … Im Grunde hat es vereinzelt, in den vergangenen Jahren auch wohl Fälle gegeben, ich bin da ja auch nicht beim Schützenfest, ne. Das ist mir dann immer etwas zu feucht. Wo’s Differenzen gegeben hat, und die dann rausgeflogen sind. Da ist die einheimische Bevölkerung unter sich, und da will man sie eigentlich auch nicht haben, und da sind sie auch nicht. Das ist eben auch schwierig. Ich weiß auch gar nicht, wie weit die auch Deutsch sprechen können oder … Das mag sicher auch besser geworden sein, aber in dieser kurzen Zeit, wo die hier sind, ist es auch schwierig, da Kontakte aufzubauen, glaub ich.“

Richard Burgert war kein Gast bei dem Schützenfest, doch gerade deshalb kommt seinem Bericht besondere Bedeutung zu. Spiegelt er doch Erzählungen, die im Nachklang des Festes unter den Dorfbewohnern kursieren und ihm zugetragen werden. Demnach handelte es sich in dem oben geschilderten Konflikt nicht um einen Einzelfall.18 Bedeutsamer scheint jedoch die in dem Interviewausschnitt erwähnte Distanz der Bevölkerung zu den Saisonarbeitern. Neben der fremden Sprache fallen sie durch ihre Kleidung auf. Sie wird als unangemessen beschrieben, da sie selbstverständlich nicht die Uniformen der Mitglieder eines Schützenvereins tragen. Trotzdem bedarf es einer Interpretation, wenn gerade dieser Aspekt angesprochen wird, da schließlich neben den uniformierten Mitgliedern der Schützengilde eine Vielzahl von nicht uniformierten Einwohnern in dem Zelt versammelt ist. Üblicherweise erwartet man von den Teilnehmern eine aus dem Alltag herausgehobene Kleidung, mit der die Festlichkeit der Veranstaltung betont wird. In der Regel werden die Männer ein weißes Hemd und ein Jackett wählen. Die Saisonarbeiter sind aber in ihrem Reisegepäck mehr auf ihren

18 Ein Einwohner berichtete davon, dass einmal einige Uniformjacken der Schützen verschwunden waren, die man am nächsten Tag bei den Saisonarbeitern wiedergefunden hat.

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Alltagsbedarf eingestellt, und so fallen sie schon durch ihre Kleidung auf. Während man jedoch gewillt ist, bei einem Einwohner des Dorfes eine legere Kleidung zu tolerieren, unterstellt man den Saisonarbeitern mangelnden Anpassungswillen. Neben Sprache und Verhalten wird die Kleidung zu einem Kennzeichen ihrer Fremdheit, und daher „passen sie im Grunde nicht rein“, wie Herr Burgert sagt. Zum Selbstverständnis der Schützenvereine gehört es, sich als Bewahrer einer über Jahrhunderte gewachsenen ländlich-dörflichen Tradition zu begreifen. Die Schützenvereine sehen es neben der Freiwilligen Feuerwehr als ihre Aufgabe an, eine lokale Gesellschaft symbolisch zu repräsentieren und sie in ihrer Definition als Gemeinschaft darzustellen:19 „Keineswegs empfinden Schützen ihre Vereinigungen als Freizeitklubs (wobei viele der Sportschützenvereine ausgenommen seien), sondern als Traditionsverbände, deren Charakter durch Symbole wie Fahnen oder Uniformen noch unterstrichen wird.“20 Ein dörfliches Schützenfest unterscheidet sich im Anspruch auf formelle Kleidung und korrektem Verhalten von einem städtischen Schützenfest, wie es beispielsweise in Hannover gefeiert wird.21 Bleiben wir an dieser Stelle noch bei dem Phänomen der Fremdheit und versuchen die Interviewszene in einem erweiterten Kontext zu analysieren. Um eine soziale Gruppe mit dem Etikett von Fremdheit versehen zu können, muss es Elemente von Gemeinsamkeit zwischen den beurteilenden und der beurteilten Personen geben. In der Regel handelt es sich um äußerlich sichtbare Elemente wie Kleidung oder religiöse Symbole.22 Während häufig die Perspektive auf die als fremd beschriebene Gruppe eingeschränkt wird, zeigt das Beispiel der polnischen Wanderarbeiter auf dem deutschen Schützenfest, dass es notwendig ist, auch die einheimische Grup-

19 Pfeil 1975: 122ff. 20 Schwedt/Schwedt 1989: 36. 21 Dörfliche Schützenfeste sind deutlich als Veranstaltung von Einwohnern für Einwohner erkennbar, was bei großstädtischen Schützenfesten nur selten der Fall ist. Bei letzteren bilden die Mitglieder der Schützengilde zwar einen Kern von aktiven Teilnehmern, die die Tradition pflegen, jedoch nimmt die Mehrzahl der Besucher davon nur am Rande Notiz. Einen Ausdruck findet diese Differenzierung bei großstädtischen Schützenfesten in der Bereitstellung eines speziellen Festzeltes, das den Mitgliedern des Schützenvereins vorbehalten ist. 22 Stenger 1997: 171.

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pe zu betrachten. Die Gruppenbildung über spezielle Kleidung erfolgt zunächst über die Schützen. Erst vor diesem Hintergrund erscheint die legere Alltagskleidung als ausgrenzendes Kriterium. Selbst Einwohner, die nicht Mitglied des Schützenvereins sind, passen sich mit „angemessener“ Kleidung der Schützengruppe an. Damit schaffen sie eine Form der Identität für die Einwohner des Dorfes und konstruieren unbewusst Grenzen der Fremdheit zu anderen Besuchern.23 Als fremd werden Eigenschaften, Verhaltensweisen usw. wahrgenommen, wenn sie mit der etablierten Selbstverständlichkeit von Werten und Normen nicht übereinstimmen.24 Voraussetzung für die Zuschreibung von Fremdheit ist die Wahrnehmung des Anderen und damit die räumliche Nähe: „Erst seine (physische) Nähe enthüllt seine (soziale, kulturelle) Entferntheit und Distanz. Anders gesagt: Nur durch eine bestimmte Nähe kann der Andere zum Fremden werden. […] Fremdheit als Form einer Beziehung hat also im soziologischen Sinne die Möglichkeit einer Beziehung – verstanden als Wechselwirkung – zur Voraussetzung.“25

Der Fremde steht somit nicht per se außerhalb eines sozialen Zusammenhangs, sondern erst seine Nähe zur einheimischen Bevölkerung weist ihm die Rolle des Fremden zu. In Anlehnung an Durkheim kann man sagen, dass der Fremde nicht außerhalb der Gesellschaft steht, sondern ein notwendiger und damit regulärer Teil der Gesellschaft ist.26 Die Beziehung hat neben der physischen Nähe auch weitere Schnittmengen in Form von Begegnungen, Kontakten usw. zur Voraussetzung. Simmel beschreibt den mobilen Händler als einen typischen Vertreter des Fremden. Um Waren zu verkaufen, nimmt dieser Kontakt mit den Einheimischen auf, ohne sich in den sozialen Kontext des Dorfes fest zu integrieren, da er bei nächster Gelegenheit weiterziehen wird.27 „Die Markierung von Fremdheit stellt Dis-

23 Vgl. Erdheim 1992: 40. 24 Scherr 1999: 51. 25 Stenger 1997: 161. 26 Durkheim 1961: 161. 27 Simmel 1958, Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Zit. n. Han 2005: 246ff. Zur Fremdheit auch Schäffter 1991: 12.

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tanz her und lässt Ambivalenz zu.“28 Unter diesem Blickwinkel stellen die Wanderarbeiter typische Vertreter des Fremden in Arnswald dar. Die tägliche Sichtbarkeit der Saisonarbeiter im Alltag sowie ihre Anwesenheit während des Schützenfestes bieten die Kontaktflächen zur einheimischen Bevölkerung, um sie als Fremde wahrzunehmen. Wenn wir jetzt die soziale Situation in Arnswald betrachten und diese Überlegungen zur Fremdheit einbeziehen, so lässt sich feststellen, dass die Saisonarbeiter von der einheimischen Bevölkerung zwar wahrgenommen werden, der Kontakt jedoch meist schon durch die unterschiedlichen Sprachen eingeschränkt ist. Man grüßt die Arbeiter mit einem „Hallo“ und sieht sie schon am frühen Morgen auf den Feldern angestrengt arbeiten. Damit wird ein minimaler Kontakt hergestellt, der nicht nur die Wahrnehmung der Saisonarbeiter durch die Einwohner ermöglicht, sondern auch dem dörflichen Wertesystem eines körperlich hart arbeitenden Menschen entspricht. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Anwesenheit einer weiteren Gruppe polnischer Arbeiter, die in einem Arnswalder Industriebetrieb tätig sind. Der Betrieb liegt etwas außerhalb des Dorfes, und die Arbeiter sind in einem alten Bürogebäude auf dem Werksgelände untergebracht. Auch bei ihnen handelt es sich um Polen, die jedoch ganzjährig oder zumindest über viele Monate dort arbeiten. Genauere Angaben konnte mir kein Einwohner von Arnswald machen, da die Arbeiter das von einem Zaun umschlossene Werksgelände selten verlassen und nur ausnahmsweise im Dorf gesehen werden. Eine Ausnahme war das Schützenfest des vergangenen Jahres, wo es zu einem größeren Konflikt zwischen den polnischen Industriearbeitern und polnischen Saisonarbeitern kam: Friedberg Oppel: „Und dann war letztes Jahr große Schlägerei.“ M.W.: „Zwischen den Polen?“ Friedberg Oppel: „Zwischen den Polen. Wir haben hier ja ein Industriewerk, und da sind auch alles Ausländer, auch Polen, und hier die Spargelstecher, und die haben sich ja gekloppt. Ich weiß nicht, wie viele Streifenwagen hier gewesen sind, vier oder fünf ...“

Eine Ursache für den Konflikt kannte keiner meiner Interviewpartner. Unabhängig davon stimmte man darin überein, in dem Verhalten der Arbeiter

28 Scherr 1999: 58.

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des Industriebetriebes das größere Problem zu sehen. Da die Industriearbeiter im Alltag des Dorfes nicht in Erscheinung treten, war es einfacher, sie als Verursacher des Streites zu beschuldigen. Wenn wir die obige Interpretation auf den Konflikt anwenden, so können wir sagen, dass die Arbeiter des Industriebetriebes nicht den Status haben, der sie zu einem Teil des sozialen Lebens des Dorfes macht. Sie bleiben im Dorfleben unsichtbar und stehen damit außerhalb der lokalen Gesellschaft. Im Sinne der obigen Überlegungen kann man sagen, sie haben noch nicht einmal den Status von Fremden, also von Personen, zu denen sich die Einheimischen in ein soziales Verhältnis setzen können. Lassen wir diese Interpretation einmal soweit stehen und nehmen die letzte Schilderung zum Anlass, uns der Erscheinung von Devianz bei den polnischen Saisonarbeitern und den Lösungsstrategien des Dorfes zuzuwenden.

S TRATEGIEN DER K ONFLIKTLÖSUNG Tatsächlich handelt es sich bei der oben geschilderten Schlägerei zwischen polnischen Arbeitern auf dem Schützenfest insoweit um eine Ausnahme, als in diesem Fall die Polizei zu Hilfe gerufen wurde. Während der Vorfall damit zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde, lösen die Einwohner Probleme mit den Saisonarbeitern in der Regel auf informellem Weg. Anstatt sich bei Diebstahl, Schlägereien oder auch belästigendem Verhalten in der Öffentlichkeit an die staatlichen Organe zu wenden, spricht man direkt den Eigentümer des landwirtschaftlichen Großbetriebes an, bei dem die Saisonarbeiter beschäftigt sind. Wie ein Mitglied der zuständigen Polizeidienststelle mitteilte, wird dieser Lösungsweg auch dahin gehend unterstützt, dass selbst bei Hinzuziehung der Polizei diese sich bemüht, den Konflikt mit Unterstützung des Arbeitgebers auf informellem Weg beizulegen. Diese informelle Konfliktlösung ist möglich, da die polnischen Saisonarbeiter im Alltag des Dorfes sichtbar sind, deren Arbeitgeber im Dorf bekannt ist, und dieser sich mit den Einwohnern auf ein entsprechendes Prozedere verständigt hat. Schon im Vorfeld etwaiger Konflikte und basierend auf Erfahrungen aus den vorangegangenen Jahren setzen sich beide Seiten in einem offenen Gespräch zusammen, um Strategien für einen möglichst konfliktfreien Umgang abzusprechen. Als der Ladenbesitzer Jens Riesmann zwei pol-

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nische Saisonarbeiter des Diebstahls in seinem Laden überführte, setzt auch er auf eine informelle Konfliktlösung: Jens Riesmann: „Ich habe direkt bei Falkenhagen [Eigentümer des Spargelbetriebes] bei dem Zuständigen angerufen, und zuerst haben wir auch noch die Polizei … Die Polizei wollte nicht unbedingt kommen, also, die konnten auch nicht mehr als verwarnen. Mehr würden die nicht machen. Obwohl, ich hab hinterher gesagt, das wär vielleicht nicht schlecht gewesen, wenn man ’ne Anzeige gemacht hätte. Die werden bei Falkenhagen nicht wieder auftauchen, aber die kommen ja vielleicht wieder hier nach Deutschland. Aber eigentlich meinte ich, jetzt hinterher braucht man auch nichts mehr machen, lohnt sich nicht. Das sind ja nicht diese Mengen. Aber wie gesagt, wenn was ist, und es spricht sich rum, dass es ist, ist es nie verkehrt, dass man sich in dem Moment nichts gefallen lässt.“

Der informelle Weg zur Konfliktlösung war in diesem Fall nicht nur schneller und ersparte weiteren Verwaltungsaufwand, sondern auch effektiver. Eine polizeiliche Verwarnung hätte lediglich eine geringe Geldbuße zur Folge, wohingegen der Arbeitgeber den Arbeiter entlässt, und diesem dadurch finanzielle Einbußen entstehen. Auch bei kleinkriminellem Verhalten steht den Arbeitern also eine ungleich härtere Reaktion bevor, als sie eine Anzeige nach sich ziehen würde. Dem Arbeitgeber ist es mit dem strikten Reglement aber möglich, eine große Gruppe von Arbeitern relativ konfliktfrei zu organisieren.29 Die Einwohner von Arnswald können sich wiederum auf den Arbeitgeber bei der schnellen Lösung von Konflikten verlassen, ist dieser doch auf die Toleranz der Arnswalder gegenüber der zeitweisen Unterbringung einer großen Anzahl von Saisonarbeitskräften angewiesen. Der zentrale Faktor für die informelle Konfliktlösung ist die Präsenz des Arbeitgebers in der dörflichen Gesellschaft. Zum einen beruht dies auf seiner Herkunft aus der Gemeinde und seinem Wohnsitz in der Nachbargemeinde, zum anderen wird sie unterstützt, weil der Betrieb auch für einige Einwohner als Arbeitgeber fungiert. In den polizeilichen Unterlagen lässt sich für die Zeit, in der die Erntearbeiter in dem betreffenden Landkreis anwesend sind, kein signifikanter Anstieg von Delikten feststellen. Selbst bei Bagatelldelikten wie Trunken-

29 Aufgeteilt auf verschiedene Standorte beschäftigt der Betrieb ca. 2000 Saisonarbeiter gleichzeitig und bis zu 3000 in der gesamten Erntesaison.

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heit am Steuer, Ladendiebstahl oder Ruhestörung handelt es sich eher um Einzelfälle. Bezogen auf die große Personenzahl von Saisonarbeitern bezeichnet die Polizei den Umfang der Delikte als unauffällig. Bedenken muss man hierbei auch die besondere Situation eines Landkreises, in dem die Mehrheit der Wanderarbeiter bei einem landwirtschaftlichen Großbetrieb arbeiten. Betriebe mit mehreren Hundert Saisonkräften sind bei der Arbeitsorganisation und Unterbringung sicherlich vor spezifische Probleme gestellt. Vor diesem Hintergrund muss das strikte Reglement des landwirtschaftlichen Betriebes verstanden werden, der auch kleine Verstöße schnell mit der fristlosen Kündigung ahndet. Aus polizeilicher Sicht treten die erwähnten Bagatelldelikte nur dann vermehrt auf, wenn es aufgrund von Witterungsbedingungen zu mehrtägigen Arbeitsausfällen kommt, die von den Betrieben üblicherweise nicht entschädigt werden. Schon aus eigenem Interesse bemühen sich die Betriebe auf geringere Erntemengen zu reagieren, indem sie rechtzeitig die Anzahl der Arbeiter reduzieren. Anderenfalls führt die besondere soziale Lage der Arbeiter in Verbindung mit Enttäuschung und Langeweile schnell zu einem Anstieg alkoholbedingter Zwischenfälle. Darüber hinaus kommt es auch innerhalb der Arbeitsgruppen immer wieder zu Problemen, wie Jürgen Mentz, einer der deutschen festangestellten Mitarbeiter im landwirtschaftlichen Betrieb Falkenhagen berichtet: Jürgen Mentz: „Es kommt zu Exzessen, es kommt zu Streitereien, das werd ich hier aber nicht weiter ausführen. Man könnte auf jeden Fall jedes Jahr ohne Probleme ein Buch vollschreiben. Wenn so viele Leute auf so wenig Raum sind. Und das sind ja nicht Freunde, die unterwegs sind. Sondern das sind einfach Leute, die zusammengewürfelt sind. Das sind ja auch stellenweise gemischte Gruppen, Rumänen und Deutsche und Polen. Also das ist ja, das ist halt sehr schwer. Das geht halt nur mit hartem Durchgreifen. Auch rigoros, wenn da irgendwas schief läuft, rigoros durchgreifen. Man darf einfach keine Gnade walten lassen. Das hört sich gemein an, aber ansonsten verlierst du irgendwann die Kontrolle. Und wenn du über solche, so eine Meute die Kontrolle verlierst, hast du, glaube ich, ein kleines bis etwas größeres Problem.“

Ein Beispiel, welche Probleme sich ergeben können, zeigt der folgende Bericht: Um am Ende des Arbeitstages die Einzelleistung abrechnen zu können, kennzeichnet jeder Arbeiter seine vollen Körbe mit einem individuellen Strichcode. Die Körbe werden am Feldrain gesammelt und gewogen,

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bevor sie zur Weiterverarbeitung kommen. Dabei stellte der Gruppenleiter fest, wie mehrere rumänische Arbeiter regelmäßig einen Teil ihrer Ernte in den Korb mit der Kennzeichnung einer anderen Person füllten. Nachforschungen ergaben, dass zehn rumänische Arbeiter auf diese Weise einen Teil ihres Verdienstes an einen Kollegen abgetreten hatten. Für die zehn Arbeiter reduzierte sich ihr Verdienst auf den Mindestlohn von 4,25 Euro. Ursächlich beruhte deren Verhalten vermutlich auf Abhängigkeiten aus ihren rumänischen Heimatgemeinden. Zum Verständnis der Reaktionsmöglichkeiten bei deviantem Verhalten ist es notwendig, die Organisation der Arbeitsgruppen im Betrieb Falkenhagen näher zu beschreiben. Auf den Feldern arbeiten Gruppen mit jeweils 40 bis 50 Personen. Dabei versucht man zwar, möglichst national homogene Gruppen zu bilden, jedoch gibt es auch sprachlich gemischte Einheiten, in denen Polen und Rumänen zusammenarbeiten. Jeder Gruppe ist ein Vorarbeiter mit der jeweiligen Nationalität zugeteilt, bei dem es sich um erfahrene Arbeiter handelt, die schon seit mehreren Jahren regelmäßig zur Saison in dem Betrieb arbeiten und über rudimentäre Deutschkenntnisse verfügen. Deutsche Mitarbeiter werden nicht als Leiter eingesetzt, da man neben den Sprachproblemen auch Konflikte mit chauvinistischer Konnotation befürchtet. Die Gruppe arbeitet zusammen auf dem Feld und ist auch gemeinsam in einem Haus untergebracht. Während die Arbeiter im Akkord arbeiten, wird der Gruppenleiter mit einem festen Basislohn sowie einer Zulage in Abhängigkeit vom Gruppenergebnis entlohnt. Der Gruppenleiter beteiligt sich selber nicht direkt an der Erntetätigkeit, sondern organisiert und überwacht die Ernte vom Rand des Feldes aus. Jedem Arbeiter wird eine Nummer mit einem Strichcode zugeteilt. Kommt es jetzt zu einem unregelmäßigen Verhalten, wobei es unabhängig ist, ob es sich um Frei- oder Arbeitszeit handelt, stellt ein deutscher Mitarbeiter die innerbetriebliche Nummer des Saisonarbeiters fest. Ansprechpartner für den deutschen Mitarbeiter ist aber nicht der Saisonarbeiter, sondern dessen Gruppenleiter. Jürgen Mentz schildert den Weg des betrieblichen Vorgehens: Jürgen Mentz: „Aber sonst, erstes Druckmittel ist halt Spesenabzug. Oder halt Lohnabzug.“ M.W.: „Ja. Aber Spesen, was kriegen die für Spesen?“ Jürgen Mentz: „Ja, die Stecher selber nicht, aber die Gruppenleiter. Du sprichst ja nicht mit den Stechern oder mit den Erntehelfern direkt, sondern du machst das alles

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über die Gruppenleiter. Dafür sind die da. Die sind das Bindeglied zwischen der Betriebsführung und halt den Kampftruppen. Sprachlich … und, ähm: Wir [deutsche Mitarbeiter] müssen im gewissen Maße neutral bleiben.“ M.W.: „Mhm.“ Jürgen Mentz: „Wir können uns nicht auf die Seite von irgendeinem oder vom anderen stellen. Und dafür ist halt dieser Gruppenleiter. Er kriegt dafür gutes Geld, dass er die ganze Gruppe in sich ruhig hält.“ M.W.: „Ja.“ Jürgen Mentz: „Und da geht man halt gleich ganz schnell mal an Prämien ran.“

Abbildung 4: Spargeldämme unter Folie

Quelle: Autoren

In der Auseinandersetzung halten sich die deutschen Mitarbeiter im Hintergrund.30 Der Gruppenleiter trägt den Konflikt aus, da sein persönliches finanzielles Interesse vom Verhalten seiner Gruppe abhängt. Mit diesem System einer diversifizierten Hierarchie ist es möglich, einen reibungslosen

30 Die deutschen Mitarbeiter mit Festanstellung nehmen in der betrieblichen Hierarchie eine Stellung oberhalb der polnischen und rumänischen Vorarbeiter resp. Gruppenleiter ein. Letztlich sind die deutschen Mitarbeiter also den polnischen und rumänischen Vorarbeitern gegenüber weisungsbefugt.

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Betriebsablauf auch mit einer großen Anzahl von Saisonarbeitern zu organisieren.

S PARGEL STECHEN IM A KKORD Unterhält man sich mit deutschen Landwirten, so hatte der unbeschränkte Zugang polnischer Arbeitskräfte nach Deutschland seit dem 1. Mai 2011 für sie nur eine untergeordnete Bedeutung. In der Regel bestehen zwischen den deutschen Arbeitgebern und ihren polnischen Wanderarbeitern langjährige, in einigen Fällen bis Anfang der 1990er Jahre zurückreichende Kontakte. Zwar musste die Anwerbung ausländischer Saisonarbeiter von der Agentur für Arbeit genehmigt werden, im Alltag war das aber ein problemloses Verfahren. Die Kontrolle der deutschen Arbeitsverwaltung beschränkte sich auf die Einhaltung der zeitlichen Befristung sowie die Überprüfung eines eventuell vorliegenden Einreiseverbots.31 Darüber hinaus oblag es der Agentur für Arbeit zu kontrollieren, ob die tariflich vorgegebenen Mindestlöhne nicht unterschritten wurden.32 Nach Auskunft der zuständigen Sachbearbeiterin vom Landvolk beim Landesbauernverband fanden Kontrollen jedoch nur statt, wenn eine Beschwerde der Arbeiter vorlag. Meist teilten die Betriebe lediglich den Akkordverdienst ihrer Erntehelfer mit, d.h., man legte einfach eine durchschnittliche Stundenzahl zugrunde. Bedenkt man die sprachlichen Probleme der Saisonarbeiter und das fehlende Wissen um ihre Rechte als Arbeitnehmer,33 so kann man sich vorstellen, welche Hürden für sie mit der Durchsetzung ihrer Lohnforderungen

31 Weniger bekannt ist, dass es auch vor dem 1. Mai 2011 eine Möglichkeit gab, die Befristung für Saisonarbeiter zu umgehen, und zwar wenn eine Person als Gastarbeitnehmer angefordert wurde. In diesem Fall bestand die Möglichkeit, zwölf Monate bei einem Betrieb zu arbeiten. Der Aufenthalt wurde als Weiterbildung gewertet, und im Anschluss erhielt die Person den unbegrenzten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. 32 Der Akkordlohn muss mindestens 20 Prozent über dem Stundenlohn im Vergleichszeitraum liegen. 33 Vgl. http://www.emwu.org/deutsch/deutsch.htm vom 29.01.13.

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verbunden sein können.34 Ungeachtet dessen ist davon auszugehen, dass der Tariflohn sowie der Akkordzuschlag von den meisten Landwirten eingehalten wurden. 2011 wurde der erhöhte Tariflohn für Landarbeiter von 6,70 Euro brutto zugrunde gelegt. Problematischer stellt sich die Situation für die Saisonarbeitskräfte seit dem 1. Mai 2011 dar, da seit Öffnung des Arbeitsmarktes der Tariflohn um bis zu einem Drittel unterschritten werden kann, bevor Kontrollgremien einschreiten.35 Damit ist ein tarifrechtlicher Schutz der Erntehelfer entfallen, dessen Konsequenzen von polnischer Seite anscheinend nicht erkannt wird, zumindest lassen diesbezügliche Kommentare und Gespräche mit Saisonarbeitern diesen Schluss zu.36 Überwiegend sind die Erntehelfer vier bis sechs Wochen in Deutschland beschäftigt. Da die Arbeiter ab 51 Arbeitstage sozialversicherungspflichtig werden, ist man bestrebt, diese Grenze nicht zu überschreiten. Hausfrauen, Studenten und Selbstständige bekommen den Bruttolohn netto ausbezahlt, polnische Arbeitslose hingegen müssen durchschnittlich 20 Prozent ihres Lohns an die Sozialversicherung abführen. Diese Regelung veranlasst die Arbeitgeber, möglichst wenige polnische Arbeitslose einzustellen. Hinzu kommt ein verbreitetes Vorurteil, Arbeitslose als unzuverlässig und wenig leistungsfähig einzuschätzen. Da bei den polnischen Vermittlern von Arbeitskräften das gleiche Vorurteil gegenüber Arbeitslosen besteht, wird verständlich, warum weniger als die Hälfte der polnischen Erntehelfer offiziell arbeitslos sind. Für Arbeitgeber bedeutet die Beschäfti-

34 Cyrus stellt fest, dass vor allem schlecht ausgebildete Wanderarbeiter von Ausbeutung bis hin zu Zwangsarbeitsverhältnissen betroffen sind. (Cyrus 2009: 200ff.) 35 Mündliche Auskunft beim zuständigen Referenten des Landvolkverbandes. Das Bundesarbeitsgericht hat in einer Entscheidung vom 22.04.2009 festgelegt, dass ein Lohn sittenwidrig sein kann, wenn er das tarifrechtliche Niveau um mehr als ein Drittel unterschreitet. (http://www.ra-schwiete.de/arbeitsrecht/123-wann-istder-arbeitslohn-sittenwidrig.html vom 26.01.13.) Nach Angaben von festangestellten Mitarbeitern eines landwirtschaftlichen Großbetriebes beträgt der Nettostundenlohn ca. 4,25–4,75 Euro. Durch die hohe Differenz zwischen Brutto- und Nettobetrag erklärt sich auch das Bestreben der Saisonarbeiter, nicht unter die Sozialversicherungspflicht zu fallen. 36 http://www.polityka.pl/spoleczenstwo/artykuly/1515818,1,jak-polakowi-pracuje -sie-u-niemca.read vom 29.01.12.

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gung von sozialversicherungspflichtigen Erntehelfern einen erhöhten Verwaltungsaufwand, und für die Arbeiter reduziert sich ihr Nettolohn. Aus diesen Gründen sind beide Seiten an einer Vermeidung der Sozialversicherungspflicht interessiert. Den einfachsten Weg bietet die Berufsbezeichnung „Hausmann“ bzw. „-frau“, da von deutscher Seite die Angaben nicht überprüft werden. Vermutlich verbirgt sich hinter dieser Tätigkeitsbeschreibung eine unbekannte Anzahl von Arbeitslosen. Da das polnische Sozialsystem nur in einem eng bemessenen Zeitraum Arbeitslosenunterstützung gewährt, und Arbeitslosigkeit nicht zum regelmäßigen Bezug von Sozialhilfe berechtigt, müssen Langzeitarbeitslose auch von den polnischen Behörden keine Kontrollen befürchten.37 Mindestens die Hälfte der Saisonkräfte geht in ihrer Heimat einer regelmäßigen Arbeit nach und nutzt ihren manchmal verlängerten Jahresurlaub für die Helfertätigkeit in Deutschland. Während der Erntesaison findet also alle vier bis acht Wochen ein Austausch der Arbeitskräfte statt, deren benötigte Anzahl zudem von der Witterung und dem Ernteertrag abhängt. Für die Landwirte ist es interessant, gute Arbeiter auch in der folgenden Saison wieder einstellen zu können. Obwohl es sich um eine Hilfstätigkeit handelt, sind für die Ernte neben den körperlichen Voraussetzungen auch Geschick und Ausdauer notwendig. Üblicherweise werden neue Arbeiter in den ersten zwei Tagen stundenweise bezahlt, um ihnen so eine Anlernzeit zu ermöglichen: Gerd Ernst: „Ein bis zwei Tage, nicht mehr. Kein Problem. Wenn er richtig drauf ist. Ich hab schon Leute gehabt, die haben eine Reihe gelernt und dann …, und manche lernen es gar nicht. Es gibt auch welche, die lernen es in der 2. Saison erst. Die kommen in der 2. Saison und lassen es richtig knacken da. Das gibt’s auch. Was da die Blockade ist, das weiß ich nicht. Aber es gibt viele Blockaden, ich weiß nicht wie und wo.“

Berichten anderer Landwirte zufolge hat die mehrjährige Erfahrung der Arbeiter einen erheblichen Einfluss auf die Menge und die Qualität der Arbeitsleistung. Daher ist es sowohl im Interesse der Arbeitgeber als auch der Erntehelfer, eine Kontinuität herzustellen. Herr Stallberg berichtet von seinen Beobachtungen bei der Spargelernte:

37 Zum polnischen Sozialsystem vgl. Wagner 2011: 70f.

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„So, und wie machen die das? Ja, das ist Routine. Die fühlen mit zwei Fingern, aha, da bricht er, da kommt er, und dann fühlen die so geschickt, wo kommt der her?, [pfeift zweimal] beim zweiten Mal dann haben sie ihn. Und nichts ist da unten verletzt oder angestochen, und auch da gibt’s Talente und weniger Talentierte, ne, kann man so sagen, ähm ja, aber eben was Sie auch gerade sagen, das ist im Grunde genommen so, das erste Jahr ist noch als Lehrjahr zu verbuchen.“

Zusammenfassend kann man feststellen, dass es sich bei der hier beispielhaft angesprochenen Spargelernte zwar um eine Hilfstätigkeit auf Anlernniveau handelt, das zu erzielende Einkommen gleichwohl von Geschick und erworbener Routine abhängt. Beim Versuch, den Verdienst der Saisonarbeiter festzustellen, stößt man jedoch auf einige Schwierigkeiten. Von den Landwirten und leitenden deutschen Mitarbeitern der Betriebe wird die große Bandbreite des Lohns betont. Herr Metzgen, der in seinem Familienbetrieb zur Erntezeit 20 bis 25 polnische Arbeiter beschäftigt, gibt einen Betrag zwischen 1200 und 3000 Euro an.38 Bei der Erdbeerernte kamen die Wissenschaftlerinnen Maria Piechowska und Kamila Fiaákowska auf einen wöchentlichen Nettoverdienst von 180 bis 250 Euro. Herr Falkenhagen, in dessen Betrieb gleichzeitig bis zu 3000 Erntehelfer angestellt sind, spricht sogar von einem Spitzenverdienst bis zu 5000 Euro. Auch über die Menge gestochenen Spargels werden extrem unterschiedliche Angaben gemacht. Zwischen 80 und 500 kg Spargel werden demnach von einem Arbeiter innerhalb eines Tages gestochen. Darüber hinaus wird bei der Mengenerfassung noch zwischen Brutto- und Nettoernte unterschieden, da beim Spargel ca. 30 Prozent als Abfall bzw. unverkäufliches Gemüse anfallen. Für den einzelnen Arbeiter ist selbstverständlich die Bruttomenge leichter zu überschauen als die Nettomenge, da er in den Ablauf der Sortierung keinen Einblick hat. Versuchen wir die unterschiedlichen Angaben einmal zu entwirren, so bietet sich am Beispiel der Spargelernte folgendes Bild. Der Akkordlohn für den Spargelstecher bewegt sich zwischen 0,45 und 0,65 Euro pro Kilogramm. Die Differenz kommt neben betrieblich unterschiedlichen Löhnen auch durch die im Verlauf einer Erntesaison schwankende Menge nachwachsenden Gemüses zustande. Zu Beginn und zum Ende einer Saison wächst deutlich weniger Gemüse, und die Arbeiter benötigen für die glei-

38 Alle Verdienstangaben beziehen sich auf das Jahr 2011.

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che Menge mehr Zeit. Daher wird in diesen Erntephasen ein höherer Kilopreis berechnet als in der Hauptsaison. Reduziert sich der Ernteertrag aufgrund von Witterungsbedingungen, wird der Akkordlohn soweit angehoben, dass umgerechnet auf die Arbeitsstunden der minimale Stundenlohn erreicht wird. Durchschnittlich erntet ein Arbeiter am Tag brutto 110 kg Spargel, in der Hauptsaison steigt der Durchschnittsertrag auf 160 kg. Bei einem Akkordsatz von 0,45 Euro/kg kommt er damit auf mindestens 50 Euro Verdienst am Tag. Im Durchschnitt erzielt ein Arbeiter im Monat 2000 Euro netto, wobei der Verdienst dreißig Arbeitstage voraussetzt. Um den Spitzenverdienst zu erreichen, muss eine Person 250 kg und mehr stechen. Arbeiter, die diese Leistung erreichen, begrenzen in der Regel ihren Aufenthalt auf zwanzig Arbeitstage. Nach zwanzig Tagen Höchstleistung gehen sie mit bis zu 5000 Euro nach Hause, sind dann aber auch in der Regel physisch erschöpft. Darüber hinaus geben die erwähnten Spitzenbeträge insoweit ein falsches Bild, als es selbst routinierten Arbeitern nur unter besonders günstigen Bedingungen möglich ist, diese Werte zu erreichen. Neben den Witterungsbedingungen und der Erntezeit beeinflusst auch die Bodengüte der jeweiligen Felder Gewicht und Menge der möglichen Erträge. Selbst ein schneller Erntearbeiter kann den Spitzenverdienst also nur erreichen, wenn er zu bestimmten Zeiten auf entsprechend guten Feldern eingesetzt wird. Nicht beantwortet werden kann die Frage, ob einzelne Arbeiter von ihren Gruppenleitern bei der Vergabe guter Ernteplätze bevorzugt werden. Analog zu unseren Forschungen in landwirtschaftlichen Betrieben mit Erdbeeranbau kann Letzteres jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Das Ziel der Saisonarbeiter ist es, innerhalb kurzer Zeit einen möglichst großen Betrag zu erwirtschaften, daher können sie Arbeitszeiten von zehn und mehr Stunden am Tag nicht abschrecken. Üblicherweise beginnen sie am Morgen zwischen fünf und sechs Uhr, unterbrechen dann ihre Feldarbeit für eine mehrstündige Mittagspause und arbeiten anschließend bis gegen 20 oder 21 Uhr. Für Unterkunft und Mittagessen werden ihnen zwischen vier und sieben Euro pro Tag berechnet, wobei sie Frühstück und Abendessen selber organisieren. In welcher Form und ob die Reisekosten nach Deutschland vergütet werden, unterscheidet sich von Betrieb zu Betrieb. Während Großbetriebe teilweise gemietete Reisebusse einsetzen, wird andernorts den Arbeitern pauschal ein Betrag als Zuschuss erstattet, oder die Fahrtkosten müssen von den Arbeitern selbst getragen werden.

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Für die Saisonarbeiter gehören zu den zentralen Faktoren, von denen die Dauer ihres Aufenthaltes abhängt: • • • •

der angestrebte Verdienst, die zeitliche Flexibilität, die physische Konstitution, die psychische Belastbarkeit.

Aufseiten der Arbeitgeber hängt der Beschäftigungszeitraum eines Saisonarbeiters in erster Linie von folgenden Bedingungen ab: • • •

Kosten für die Anwerbedokumente und Versicherungen, Wetterbedingungen und davon abhängige Erntemöglichkeiten, Akkordleistung.

„W ENN ES UM G ELD GEHT ,

DANN SIND SIE HART !“

Wer Arnswald zwischen April und Juni mit dem Wagen verlässt, fährt unweigerlich an Feldern vorbei, auf denen polnische Arbeiter Spargel stechen. Egal ob man am frühen Morgen auf dem Weg zur Arbeit ist oder am Abend noch einen Spaziergang in der Feldmark unternimmt, immer wird man die Arbeiter wahrnehmen. Bisher hatten wir festgestellt, dass es schon aufgrund der sprachlichen Probleme nur wenige Berührungspunkte mit der einheimischen Bevölkerung gibt. Dennoch haben die Arnswalder Vorstellungen von der Heimat der polnischen Arbeiter und Vermutungen über deren Motivation, auf deutschen Feldern zu arbeiten. Verglichen mit den ersten polnischen Wanderarbeitern, die vor zwanzig Jahren mit ihren eigenen, zumeist aus polnischer Produktion stammenden Fahrzeugen nach Arnswald kamen, fällt den Einwohnern die Zunahme westlicher Marken auf. Auch in Polen, so leitet man aus der Beobachtung richtig ab, ist in den letzten Jahren der allgemeine Lebensstandard gestiegen. Nur wenige Einwohner kennen polnische Regionen und Städte aus eigener Anschauung. Friedberg Oppel bildet eine Ausnahme, denn er hat mit seiner Frau vor wenigen Jahren Danzig besucht: „Ich hab mich gewundert, was das für eine schöne, saubere Stadt war, das hat uns gewundert. Und auch die ganze Stadt, also

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sauber war die, sauber, und auch alles tipptopp da. In den, in den, in den Einkaufläden alles tipptopp, die hatten alles.“ Offensichtlich setzte sie das Erscheinungsbild und das Warenangebot in Danzig in Erstaunen. Auch zwanzig Jahre nach der politischen Wende überwog bei ihnen noch das Bild eines ärmlichen Landes, wie Gisela Berghold zu entnehmen ist: „Ich denke mal, sie werden hier mehr Geld verdienen. Mit Sicherheit. Wenn man das so hört in den Medien, was die da kriegen an Geld, wenn sie hier ein viertel Jahr arbeiten oder wie auch immer, oder die ganze Saison über. Da können die ein ganzes Jahr von leben und noch länger.“ Abgesehen von Landwirten oder Mitarbeitern, die einen direkten Einblick in die Arbeitsbedingungen und Löhne haben, kennen die Einwohner die realen Verdienstmöglichkeiten der Erntearbeiter nicht, schätzen diese aber, wie sich in den Interviews immer wieder zeigt, als deutlich zu hoch ein. Sicherlich stellt der Kaufkraftgewinn den entscheidenden Faktor bei der Aufnahme einer Saisonarbeit in Deutschland dar, jedoch wird es nur bei sparsamer Lebensführung möglich sein, von dem Verdienst mehrere Monate den Lebensunterhalt in Polen zu bestreiten. Machen wir an dieser Stelle also einmal eine vergleichende Rechnung auf. Wenn wir von einem Nettoverdienst von 2500 Euro ausgehen, dann entsprach dieser Betrag 2011 rund 10.000 Záoty. Vergleichen wir jetzt den Verdienst mit dem realen Durchschnittslohn39 von 1.500 Záoty, dann hätte ein Saisonarbeiter die Möglich-

39 Der statistische Durchschnittsverdienst liegt in Polen zwar deutlich höher, bildet aber aufgrund enormer Einkommensunterschiede nicht die realen Verdienstmöglichkeiten ab. Auf der Basis unserer Forschung lässt sich feststellen, dass ein Nettoverdienst von 1500 Záoty monatlich als ein realistischer Betrag in den ländlichen Regionen, aus denen die Saisonarbeiter stammen (z.B. Niederschlesien, Ermland-Masuren, Lublin), angenommen werden kann. In den städtisch geprägten Landesteilen liegen die Verdienstmöglichkeiten teilweise deutlich höher. Allerdings muss dabei bedacht werden, dass ein Teil der Saisonarbeiter in ihrer Heimat zu einem geringeren Lohn arbeitet oder als Arbeitslose von den meisten Sozialleistungen abgeschnitten sind. Während der Forschung gaben die Interviewpartner in Niederschlesien auf die Frage, bei welcher Verdienstmöglichkeit sie die Arbeitsmigration aufgeben würden, wiederholt einen Betrag von 1.500 Záoty an.

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keit, ungefähr ein halbes Jahr von seinem Lohn auf einfachem Niveau zu leben. Abbildung 5: Sommerhitze bei der Spargelernte

Quelle: Autoren

Die Einwohner registrieren sowohl die physischen Belastungen, wenn z.B. nach tagelanger Hitze Staubfahnen die Arbeiter einhüllen oder stundenlanger Nieselregen die Felder aufgeweicht hat, wie auch die psychischen Bürden. Dazu gehört die Trennung von den Ehepartnern, Kindern und dem sozialen Umfeld. Doch warum nehmen sie diese Unbill auf sich? Stellvertretend für andere sei hier die Erklärung von Herrn Stallberg wiedergegeben: „Also wenn man eigentlich Falkenhagen hört, den Boss da, der sagt, die Deutschen halten das körperlich erst mal gar nicht aus. Die sind einfach austrainierter noch, ja, das ist ’ne Wohlstandsfrage meiner Meinung nach, nech, die sind einfach noch fitter da, ne.“ Ergänzend fügt Herr Oppel hinzu, die Polen hätten eben noch nicht solche Rückenprobleme wie seine im Laufe der Jahre verweichlichten Landsleute. Interessanterweise entspricht diese Sichtweise der Selbstwahrnehmung der polnischen Arbeiter. Agata Ritter kam Anfang der 1990er Jahre als Saisonarbeiterin nach Deutschland, verliebte sich und lebt heute mit ihrem deutschen Ehemann in Arnswald. Als fest angestellte Mitarbeiterin eines landwirtschaftlichen Betriebes dolmetscht sie während der Erntezeit für

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die Polen. Beispielhaft erzählt sie ein Erlebnis mit einem Saisonarbeiter, den sie wegen Rückenschmerzen zum Arzt begleitete: Agata Ritter: „Wir haben nicht nur Bauern. Aber ich rede jetzt von so einem Mann. Der hatte Rückenschmerzen, sagt er zu mir, schon ein paar Tage, sodass er nicht mehr atmen kann. Und er isst schon die Tabletten so drei-, viermal am Tag. Schmerzmittel Iboprofen 400 und 600 schluckt er wie Bonbons. Der Arzt schüttelt ihn einmal, das knackt wie verrückt, dann hat er die Blockade rausgeholt. Aber er sagt, sie dürfen jetzt ein paar Tage nicht arbeiten, weil das höllisch wehtut, weil der entzündete Muskel jetzt die Knochen verschoben hat. Und der Arbeiter sagt: ‚Mhmhm.‘ Wir gehen raus, er schmeißt die nächste Tablette ein und sagt: ‚[Ich gehe] auf Feld [Nr.] 240.‘ Nehmen wir mal einen Rumänen. Bei jeden Bauchschmerzen, bei jeden Rückenschmerzen schreien die.“

Agata Ritter schildert den Vorfall mit einem Unterton der Distanz, die ihrer gehobenen Position im Betrieb entspricht. Wenn sie Erlebnisse mit rumänischen und bulgarischen Arbeitern heranzieht, wird ihre Perspektive auf die eigenen Landsleute jedoch deutlich. Während die Angehörigen anderer Nationen bei Schmerzen klagen oder bei schlechtem Wetter die Arbeit auf den Feldern abbrechen, wie sie an anderer Stelle erwähnt, sind die Polen bereit, auch unter schwierigsten Bedingungen zu arbeiten. Betrachten wir die Erzählung von Agata Ritter aus soziologischem Abstand, so lässt sich ein enormer Arbeitsdruck feststellen, dem sich die polnischen Saisonarbeiter aussetzen. Der Arbeitsdruck geht insoweit indirekt von den Arbeitsbedingungen aus, als der krankheitsbedingte Verdienstausfall vollständig zulasten der Arbeiter geht. Als weitere Anreize, Krankheiten zu erdulden, wirken der in Relation zu einem polnischen Lohn hohe Verdienst, der notwendige Aufwand bei der Suche eines Arbeitsplatzes und die emotionale Belastung einer Erkrankung in einem fremden Land. Verstärkt wird das Phänomen durch den Gruppendruck der Arbeitskollegen, vor denen einzelne nicht als schwach oder unfähig erscheinen möchten. Um dies zu vermeiden, ist man bereit, an der physischen Konstitution Raubbau zu betreiben. Im Übrigen zeigen Berichte, in denen von der Unterdrückung auch schwerwiegender Erkrankungen oder Verletzungen erzählt wird, die

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weitreichende Relevanz des Phänomens.40 „Polak potrafi“, ein Pole kann das, lautet eine in Polen vielfach gehörte Redewendung, mit der auf eine überdurchschnittliche Arbeitsmoral und Fachkenntnisse hingewiesen wird. Man kann diese polnische Selbstdarstellung als eine Form des Nationalstolzes interpretieren, der ein Gegengewicht zu den vorurteilsbeladenen historischen Stereotypen zukommt, wie sie im Begriff der „polnischen Wirtschaft“41 deutlich werden. Wenden wir noch einmal die Perspektive auf die Einwohner von Arnswald. Auch die deutschen Landwirte sind begeistert von den vielfältigen Kenntnissen und Einsatzmöglichkeiten ihrer polnischen Arbeiter, die vom Dach bis zum Keller alle Reparaturen auszuführen vermögen, wie man im Dorf erzählt. In ihren Darstellungen wird neben einer Bewunderung für die physische Arbeitsleistung und Belastbarkeit der Polen ein fast archaisches Bild von ihnen entworfen. Demnach verfügen die polnischen Arbeiter noch über so etwas wie eine urwüchsige Kraft und natürliche Stabilität. Bleibt man bei dem Bild, so war den Deutschen dies auch einmal gegeben, bevor sie ein Leben in Wohlstand und der technische Fortschritt verweichlicht haben. Das Bild ist doppeldeutig, denn neben der Bewunderung wird den Polen damit auch eine einfache und härtere Lebensweise unterstellt. In diesem Kontext wird dann auch das Erstaunen verständlich, mit dem Herr Oppel von seinen Erfahrungen in Danzig berichtete.

V OM „ KÖNIGLICHEN “ G EMÜSE

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S AISONGEMÜSE

Am Wandel der symbolischen Bedeutung des Spargels in der deutschen Gesellschaft zeigt sich beispielhaft die Verflechtung ökonomischer und kultureller Faktoren. Um diese Entwicklung zu erkennen, müssen wir die Veränderungen in der Landwirtschaft seit Ende der 1970er Jahre betrachten. Schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte ein ökonomischer Konzen-

40 Eine Arbeiterin verschwieg ihre Verletzung, die sie sich bei einem Arbeitsunfall zugezogen hatte, und blieb zunächst in der Unterkunft. Als sie verspätet ins Krankenhaus eingeliefert wurde, stellte sich heraus, dass sie in dieser Saison nicht mehr arbeitsfähig war. Vermutlich versuchte sie zunächst, ihre Verletzung ohne ärztliche Hilfe auszuheilen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren. 41 Oráowski 1996.

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trationsprozess ein, der plakativ unter dem Begriff des „Höfesterbens“ beschrieben wird. Im Sonderkulturbau von Spargel, Beeren u.Ä. waren die landwirtschaftlichen Flächen der Betriebe auch in den 1970er Jahren noch relativ klein. In der Mehrzahl handelte es sich um Familienbetriebe mit deutlich weniger als 100 ha Anbaufläche. Spätestens im folgenden Jahrzehnt beschleunigte sich der Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft. Zunehmend entstanden industrielle Agrarbetriebe, deren bewirtschaftete Ackerflächen größer wurden und die ihre Produkte nicht mehr nur regional vermarkteten. Innerhalb des europäischen Wirtschaftsraumes führte der grenzüberschreitende Im- und Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu einem verschärften Wettbewerb. Dessen Auswirkungen auf den Spargelanbau lassen sich auf den Spargelfeldern beobachten. Bis in die 1970er Jahre sah man auf den Spargelfeldern vor allem einheimische Frauen. Heute bilden Frauen auf den Spargelfeldern eine Minderheit und einige Betriebe setzen mittlerweile grundsätzlich nur noch Männer zum Stechen des Spargels ein.42 Lange Zeit wurde die Saisonarbeit auf dem Land als eine interessante Nebenverdienstmöglichkeit für Frauen angesehen, weil diese auf dem eigenen Hof nur zeitweise entbehrlich waren und kein Interesse an einer langfristigen Tätigkeit hatten. Die Spargelsaison bot für zwei Monate ein zusätzliches Einkommen und nahm pro Tag nicht mehr als die Morgenstunden und den Vormittag in Anspruch. Das Frauennebenerwerbssystem funktionierte in dem Moment nicht mehr, als die Größe der Betriebe anstieg, und mit der Zunahme der bewirtschafteten Flächen auch der Bedarf an Arbeitskräften umfangreicher wurde. Noch in den 1980er Jahren wurden Saisonarbeitskräfte vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien angeworben und teilweise in Sonderzügen nach Deutschland gebracht.43 Diese Erntehelfer hatten ein Interesse daran, in kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Strebten wenige Jahre zuvor die deutschen Frauen an, gegen Mittag ihren Arbeitstag zu beenden, so wollten die ausländischen Erntehelfer nun möglichst lange Arbeitstage, was sich mit den Wünschen der deutschen Landwirte deckte. Je größer der Arbeitsumfang wurde, desto länger konnten die Erntehelfer arbeiten. Heutzutage nimmt die Spargelernte jeweils lange Arbeitstage in Anspruch. Damit waren die Frau-

42 Einige Landwirte betonen ausdrücklich, für sie würde es keine Gründe geben, nicht auch Frauen auf den Feldern einzusetzen. 43 Vor allem im süddeutschen Raum wurden Jugoslawen eingesetzt.

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en von den Feldern, aber auch aus den Dörfern verschwunden, denn seitdem pendeln sie außerorts zu ihren Arbeitsstätten. Herr und Frau Metzgen erwähnen im Interview aber noch einen weiteren Faktor, der zur „Maskulinisierung“ der Feldarbeit beigetragen hat: Paul Metzgen: „Ja, Falkenhagen hat ja auch mit Deutschen angefangen. Der hat ja auch anfangs Spargelstecher aus der Umgebung gehabt. Frauen und Männer. So hat das ja auch angefangen.“ M.W.: „Aber das Stechen ist schon früher überwiegend Frauenarbeit gewesen.“ Linda Metzgen: „Ja, mhm, früher war das ’ne Frauenarbeit.“ Paul Metzgen: „Hausfrauen.“ Linda Metzgen: „Das war eine Hausfrauenarbeit, die sich nebenbei, also ich komm aus dem Sachsentaler Raum oder Richtung Sachsental, und meine Mutter ist damals immer Spargel stechen gegangen. Die ging morgens um vier los und war dann um halb acht nach Hause.“ […] Paul Metzgen: „Nee, nee, das hat sich geändert durch die Spargelgeschichte. Dadurch ist das eine schwere Arbeit geworden.“ Linda Metzgen: „Die Folie meinst du.“ Paul Metzgen: „Die Folie. Die Folienarbeit.“ Linda Metzgen: „Ich muss ja heute auch die Folie runter heben, das brauchten die vorher nicht.“ Paul Metzgen: „Früher gab’s das ja gar nicht.“ Linda Metzgen: „Konnte man ja stechen und dann war’s das. Aber heute dieses Folie anheben, das ist schwer.“

Linda und Paul Metzgen bewirtschaften auch heute noch einen relativ kleinen familiären Betrieb. In der Saison stellen sie lediglich ca. zehn Erntehelfer ein. Bisher konnten immer einige kleine Betriebe im Sonderkulturanbau überleben, jedoch werden diese voraussichtlich nicht mehr von ihren Kindern fortgeführt. Man kann voraussehen, dass die Äcker an benachbarte Betriebe verpachtet oder verkauft und dadurch weitere Mosaiksteine im fortlaufenden Konzentrationsprozess bilden werden. So wie auch der Einsatz von Folien auf den Feldern dazu dient, den Saisonbeginn ein bis zwei Wochen vorzuziehen, um auf diesem Weg einen wirtschaftlichen Vorsprung

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gegenüber anderen Betrieben zu erlangen.44 Bei diesem Prozess handelt es sich um einen ökonomischen Sachverhalt, der technische Implikationen hervorgerufen hat und durch politische Entscheidungen ausgelöst wurde. Soziologisch interessant wird diese Entwicklung, wenn wir uns die kulturellen und sozialen Auswirkungen ansehen. Gerd Ernst bewirtschaftet einen mittleren Spargelbetrieb und stellt zur Erntezeit ungefähr 200 Saisonarbeiter ein. Er erzählt Folgendes über die Veränderungen der Beschäftigten: Gerd Ernst: „Das Image hat sich verändert. Es ist so negativ behaftet, ein bisschen. Wir haben in den 70iger Jahren angefangen, und da war das also überhaupt kein Problem. Was heißt Problem, man konnte also Leute finden, Hausfrauen kriegen, die dann die Arbeit gemacht haben, mit all den Problemen, die so anlagen: Klein Fritzchen hat Geburtstag, Opa muss zum Doktor, unsere Oma, die ist krank, und wir haben übermorgen Schützenfest und all so ein Schiet. Diese Probleme haben sie dann hier auch gehabt. So, da habe ich irgendwann angefangen und hab mal ein paar Türken hergeholt, oder Kurden waren das. Da hat mir eine, was ich jetzt sage, mein ich ganz ernsthaft, eine sehr gläubige Christin gesagt, die schon jahrelang bei uns war: ‚Na, wenn die kommen, wird’s jetzt aber Zeit, sich vom Acker zu machen!‘ Hat mich schockiert, ganz ehrlich, das hat mich ehrlich schockiert. Da hab ich das erste Mal darüber nachgedacht, wie negativ das Ding besetzt ist. Und das ist so. Und das ist heute noch so. Das gibt sehr viele, sehr viele Personen, die sehen das sicherlich, ähm, als minderwertige Arbeit an.“

Versuchen wir einmal, die Erfahrungen von Gerd Ernst zu interpretieren. Mit dem Wechsel von Frauen, die im Nebenverdienst arbeiteten, zu ausländischen Saisonarbeitern verbindet sich zunächst eine Professionalisierung des betrieblichen Ablaufs. Während die Frauen aus privaten Gründen immer wieder ausfielen, ist der Einsatz von Saisonarbeitern mittelfristig zuverlässiger zu planen. Dieser Teil seines Berichtes ist aber eingefasst in ei-

44 Mit Folie werden die Spargeldämme abgedeckt, um die Temperatur zu erhöhen, damit die Pflanzen früher wachsen. Die Folien sind auf der einen Seite dunkel und auf der anderen hell, so kann durch Umdrehen der Folie auch der gegenteilige Effekt bewirkt werden. Auch Feuchtigkeit wird auf diese Weise in den Dämmen gehalten. Der zeitliche Vorsprung relativiert sich selbstverständlich, da es mittlerweile in Deutschland vermutlich keine Spargelflächen ohne Folienabdeckung mehr gibt.

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ne Beschreibung des sozialen Status der Erntearbeit. „Das Image hat sich verändert“, sagt Herr Ernst, die Arbeit würde als „minderwertig“ angesehen. Was wir hier beobachten können, ist ein Absinken des sozialen Prestiges parallel zu der Anstellung ausländischer Arbeitskräfte. Es ist nicht einfach so, dass die deutschen Hausfrauen von ausländischen Erntehelfern ersetzt wurden, sondern indem nun Letztere den Spargel stechen, verliert die Arbeit für andere an Attraktivität. Anstatt in der Interpretation an dieser Stelle stehen zu bleiben, sollten wir aber versuchen, noch einen Schritt weiterzugehen. Denn der Prestigeverlust reicht bis auf den Mittagstisch deutscher Haushalte. Während vor 40 Jahren dem Spargel der Nimbus des „königlichen“ Gemüses anhaftete und er schon aufgrund seines hohen Preises dem Sonntagsmenü vorbehalten war, ist er heute zu einem preiswerten Massenprodukt geworden, das auch werktags gegessen wird. Mit der Vergrößerung der Anbauflächen hat ein Preisverfall eingesetzt, und das Gemüse wird mittlerweile zunehmend über Discounter vermarktet. Nach unserer Interpretation stehen das Ansehen der Arbeit und der Wert des Spargels in einer negativen Relation zu der Angebotsmenge. Mit zunehmender Menge des angebauten Spargels verringert sich sein Prestige.

S CHWERARBEIT

ZUM

N ULLTARIF ?

Wenn wir die politische Diskussion in Deutschland zur Frage der Anwerbung von osteuropäischen Wanderarbeitern bedenken und die eben dargestellte polnische Arbeitsmoral in Betracht ziehen, so wäre die Interpretation der Ansichten deutscher Einwohner unvollständig, wenn wir nicht auch die Frage der deutschen bzw. regionalen Arbeitslosigkeit ansprechen würden. In den Interviews und alltäglichen Gesprächen wurde daher auch nach den Gründen gefragt, warum man keine deutschen Arbeiter auf den Feldern antrifft. Die Frage lag nahe, da in den Jahren 2004 bis 2007 die Bundesagentur für Arbeit bestrebt war, Arbeitslose als Erntehelfer einzusetzen. Zur Unterstützung entwickelte die landwirtschaftliche Bildungsstätte DEULA45 spezielle Anlernkurse für das Spargelstechen. Von den Landwirten wurden

45 Deutsche Lehranstalt für Agrartechnik.

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diese Anstrengungen mit sarkastischen Kommentaren begleitet, wie in folgender Stellungnahme deutlich wird:46 „[…] dann hat man da Stöcke in die Erde gekloppt, in Form von Spargel, und dann hat man gesagt: ‚So, und jetzt wollen wir da beigehen‘, und hat ein’ Lehrfilm gemacht und alles so ein Quatsch. […] Man hat nur noch drüber gelacht [lacht] über die ganze Geschichte. Und man hat dann auch irgendwann eingesehen, dass es nicht geht. Das liegt an mehreren Dingen. Erstens, mal sollen wir mit Leuten zusammenarbeiten, wo wir wissen, es geht nicht, und die Leute sollen mit uns zusammenarbeiten und wissen, die Leute wissen, sie wollen es nicht und können es nicht. Können will ich mal dahin gestellt lassen. Sie wollen es nicht. Ich hab immer zu Journalisten gesagt, stellen sie sich mal vor, sie sind arbeitslos und irgendein Arbeitsamtfuzzi kommt zu ihnen und sagt zu ihnen, sie sollen jetzt Spargel stechen. Können sie sich das vorstellen? Nee. Alle haben gesagt: ‚Nee!‘ Männlein oder Weiblein. Hier sehen sie. Und wir sollen uns dann mit ihnen auseinandersetzen. Ich sag jedes Jahr wieder aufs Neue, immer wieder aufs Neue, irgendwann platzt ihnen einfach der Kragen […].“

Die Diskrepanz zwischen der alltäglichen Praxis in den landwirtschaftlichen Betrieben und einer davon abgehobenen Ausbildung wird besonders deutlich in Anbetracht der ein bis drei Tage Anlernzeit, die polnische Erntehelfer benötigen. Spargelstechen und andere Erntearbeiten sind körperlich anspruchsvolle Tätigkeiten, für deren Entlohnung ein erhöhter landwirtschaftlicher Tariflohn zugrunde gelegt wird.47 Nicht nur die in dem Interview zitierten Journalisten können sich im Fall von Arbeitslosigkeit nicht vorstellen, diese Arbeit auszuführen, auch unter den Einwohnern von Arnswald sind Erntearbeiten unbeliebte Tätigkeiten. Niemand würde freiwillig diese Arbeit übernehmen, doch zugleich fordern sie dies von den Arbeitslosen: Hilde Friedrich: „Ich denke, man hat es ja versucht, und da sind ja viele gescheitert. Die haben einfach gesagt, mit deutschen Arbeitern kriegen wir unseren Spargel nicht

46 Zum zusätzlichen Schutz des Interviewpartners wird auch kein Pseudonym angegeben. Es handelt sich um eine beispielhafte Stellungnahme, die in ähnlicher Form auch von anderen Landwirten zu hören ist. 47 Der Akkordlohn muss über dem tariflichen Stundenlohn liegen.

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geerntet, weil die nicht diese Arbeitsmoral hatten oder nicht diesen Anreiz. Die Polen müssen eben für ihr Geld arbeiten, vielleicht gibt es bei uns einfach noch durch die Hartz-IV-Geschichte oder wie auch immer andere Möglichkeiten, dass es da nicht so dringend notwendig ist, wirklich so schwer zu arbeiten. Also ich möchte auch kein’ Spargel stechen. […] Ich hab auch viel gearbeitet, aber ich glaub, ich hätte Spargelstechen auch nicht durchgehalten, jedenfalls nicht in dieser Intensität, wie die polnischen Arbeiter das machen. Diese vielen Stunden in dieser gebückten Haltung und von einem Acker zum anderen gefahren. Ich weiß es nicht, aber der Versuch, das mit Deutschen zu machen, ist ja offensichtlich gescheitert.“

„Hartz IV“ als ruhiger Hafen der Arbeitslosen? Versuchen wir einmal die rationalen Gründe zu erfassen und verweisen die Vorstellung einer höheren physischen Leistungsfähigkeit der Polen in den Bereich der Mythen. Zuerst müssen wir als zentralen Unterschied die Freiwilligkeit auf polnischer Seite und den zumindest relativen Zwang auf deutscher Seite festhalten, mit dem die deutsche Arbeitsverwaltung auf Arbeitslose einwirkt. Zudem wird der Unterschied erst verständlich, wenn wir die ökonomische Seite in Verbindung mit den sozialen Rahmenbedingungen analysieren. Gehen wir von 50 Arbeitstagen aus, bleiben also unterhalb der Schwelle einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit, dann beträgt der Nettoverdienst in diesem Zeitraum maximal 2.500 Euro. Nehmen wir an, der Betrag für Unterkunft und Mittagessen wurde schon abgezogen, dann müssen wir aber noch die Kosten für Frühstück, Abendessen und Getränke abrechnen. Als Minimum legen wir für diese Ausgaben einen Tagessatz von 6,50 Euro zugrunde,48 also wird unser Arbeiter in 50 Arbeitstagen noch einmal mindestens 325 Euro ausgeben. Es verbleiben ihm demnach 2.175 Euro. Für

48 Der Tagessatz im Warenkorb für Sozialhilfeempfänger beträgt 3,85 Euro bei 1.700 kcal Nahrungsaufnahme. Von Kritikern wird für eine ausreichende Ernährung ein Tagessatz von 6,53 Euro für einen Erwachsenen gefordert. Für Schwerarbeiter erhöht sich der Kalorienbedarf auf 3.600 kcal. Damit erhöhen sich die täglichen Ausgaben auf 13 Euro. Nehmen wir an, dass die Hälfte des Kalorienbedarfs (und damit der Kosten) über das vom Betrieb ausgegebene Mittagessen abgedeckt wird, so können wir verbleibende Kosten von 6,50 Euro annehmen. http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2008/RegelsatzRoth.aspx vom 20. 09.12; http://www.drziegler.at/Vorsorge/Ern%C3%A4hrung/Ern%C3%A4 hrung.htm vom 20.09.12.

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einen objektiven Vergleich ist es nun notwendig, diese Summe mit dem Kaufkraftgewinn eines polnischen Arbeiters zu vergleichen. Dafür ziehen wir bei dem deutschen Arbeiter einen monatlichen Durchschnittsnettolohn von 1.300 Euro heran.49 Dieser hätte also mit seiner 50-tägigen Arbeit die Möglichkeit, rund eineinhalb Monate zu leben, hingegen sein polnischer Kollege auf ungefähr sechs Monate käme. Zusätzlich verschlechtert sich die Rechnung für den Arbeitslosen, bedenkt man seine anfallenden zusätzlichen Mietkosten. Zwar kann er in den 50 Tagen seine Wohnung nicht nutzen, da er wie alle Arbeiter in einer Massenunterkunft untergebracht ist, jedoch muss er selbstverständlich für die Miete aufkommen. Nehmen wir also an, er muss für die rund eineinhalb Monate 800 Euro zahlen, so stehen ihm nur noch 1.375 Euro zur Verfügung. Unser fiktiver Arbeiter wird also einen Monat nach seiner Rückkehr wieder auf die Unterstützung durch Sozialhilfe angewiesen sein. Sollte er aber einen entsprechenden Antrag stellen, so werden ihm weitere Unannehmlichkeiten nicht erspart bleiben. Entgegen seiner eigenen Rechnung teilt das Sozialamt den Betrag von 2.500 Euro auf sechs Monate, berechnet also 416 Euro als monatliches Einkommen.50 Nehmen wir an, unser fiktiver Bezieher von Arbeitslosengeld II hätte einen monatlichen Anspruch auf 800 Euro (incl. Wohngeld), so würde er während der kommenden sechs Monate den Betrag abzüglich des selbst verdienten Geldes von 416 Euro ausgezahlt bekommen. Tatsächlich hätte sich an seiner wirtschaftlichen Situation durch seine Tätigkeit als Erntehelfer nichts geändert. In unserem Beispiel haben die Arbeiter für fast zwei Monate in einer Massenunterkunft unter einfachsten Bedingungen auf ihre Privatsphäre verzichtet und eine Siebentagewoche mit täglichen Arbeitszeiten von zehn Stunden unter harten körperlichen Anforderungen akzeptiert. Während der polnische Erntearbeiter anschließend in seiner Heimat mit deutlich gestiegenen Konsummöglichkeiten für seine Anstrengungen entlohnt wird, er-

49 Der Durchschnittslohn beispielsweise in einem handwerklichen Beruf weist in Deutschland starke regionale Differenzen auf. In ländlichen Regionen Norddeutschlands liegt er oft unter dem bundesweiten Durchschnitt von 2.139 Euro brutto. (http://www.gehaltsvergleich.com/gehalt/Handwerk.html vom 25.01.13.) 50 Es handelt sich hier nur um eine Beispielrechnung. Tatsächlich ist die Berechnung sehr kompliziert, da Werbungskosten abgerechnet werden, also der monatlich abgezogene Betrag einzelfallbezogen geringer ausfällt.

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STRUKTURWANDEL

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fährt sein deutscher Kollege keine Verbesserung seines Lebensstandards. Hätte der polnische Arbeiter die gleichen niedrigen Gewinnerwartungen, würde er selbstverständlich genauso handeln wie ein Arbeitsloser in Deutschland. Der Spargelbauer Gerd Ernst schildert die Probleme eines Arbeitslosen aus eigener Anschauung: „Wenn sie einen Arbeitslosen einstellen und das dann bekannt geben, wird dem sofort alles gestrichen. Der kriegt ja nicht übermorgen schon gleich Geld, ja. Das ist ja nicht gang und gäbe. Aber bei mir kam ein Vater einer Tochter an, arbeitete dann bei uns. Er sagt: ‚Herr Ernst, wir brauchen Geld, wir kriegen kein Geld mehr vom Arbeitsamt. Wir sind darauf angewiesen, was meine Tochter hier verdient. Ich hab normalerweise für meine Tochter das Geld auch gekriegt übers Arbeitsamt, jetzt fällt das flach, jetzt krieg ich gar nichts.‘ Ja. Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Muss ich ganz ehrlich sagen.“

Gruppenbildung zwischen Klatsch und Neid

Es war ein heißer Nachmittag im Juni 2010, als ich an einem mir unbekannten Ort ankam. Auf einem großen Bauernhof in Baden-Württemberg sollte ich die nächsten fünf Wochen mit dem Pflücken von Erdbeeren verbringen. Ich war die „Neue“ unter den knapp 200 Beschäftigten, die einzige Wissenschaftlerin und durch keinerlei Beziehungen mit den anderen Wanderarbeitern oder dem Landwirt verbunden. Bereits während meines Studiums hatte ich einen Teil meines Lebensunterhaltes als Saisonarbeiterin in Deutschland verdient. Aus dieser Zeit verfügte ich zwar über praktische Erfahrungen, jedoch begab ich mich jetzt mit einem Forschungsauftrag an einen mir unbekannten deutschen Erdbeerhof. Als Erntehelferin wollte ich in dieses Milieu eintreten, den Alltag in den Unterkünften und auf dem Feld mit meinen Kolleginnen teilen und zugleich meine Beobachtungen als Wissenschaftlerin festhalten, denn mein Ziel war es, die sozialen Beziehungen unter polnischen Arbeitnehmern in Deutschland untersuchen. Während ich als Studentin in einem bäuerlichen Familienbetrieb meine Erfahrungen gesammelt hatte, arbeitete ich nun in einem großen Betrieb. Da weder die anderen Erntehelfer noch der deutsche Inhaber meinen Forschungsauftrag kannten, tauchte ich, wie meine Kollegin Maria Piechowska, offiziell als Studentin in das soziale Geflecht der polnischen und rumänischen Wanderarbeiter ein. Ein mehrwöchiger Aufenthalt unter diesen relativ geschlossenen und von der Außenwelt abgeschnittenen Bedingungen sollte genügen, um die in diesem besonderen sozialen Umfeld geltenden Spielregeln kennenzulernen. Ich befand mich an einem Ort, an dem die Zeit nach einem anderen Rhythmus verläuft. Obwohl ich über mein Mobiltelefon in ständi-

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gem Kontakt mit Freunden und Angehörigen in Polen stand, schrumpfte meine Welt auf unsere kleine Arbeitersiedlung und die Angelegenheiten der Firma. Wichtig wurden Dinge, die hier und jetzt passierten. Saisonale Migration stellt insoweit einen besonderen Fall innerhalb der Migrationsformen dar, als in einem zeitlich engen Rahmen eine nationale Mikrogesellschaft an einem fremden Ort entsteht. Erntehelfer bilden eine mehr oder weniger zufällige Ansammlung von Menschen. Sie arbeiten und wohnen in gemeinsamen Unterkünften und verbringen ihre eng bemessene Freizeit im sozialen Kontext ihrer Arbeitskollegen. Der Betrieb bildet den sozialen Mikrokosmos einer zeitlich befristeten Gesellschaft. Es reicht zu erfahren, mit wem man im „Camp“1 untergebracht wird, um in kurzer Zeit dahinter zu kommen, mit wem man nicht sprechen sollte, wer klaut und wer dem Chef „petzt“. Mit der einen Gruppe trinkt man Kaffee und tratscht über eine andere, die ihrerseits mit einer dritten Gruppe vermutlich wiederum über uns redet. An einem Standort mit rund 200 Beschäftigten sind Klatsch, Misstrauen, kurzfristige Freundschaften und Bündnisse sowie persönliche Kleinkriege und Scharmützel an der Tagesordnung. Mit Sicherheit sind Kontroversen, Konkurrenz und moralisch umstrittenes Benehmen nicht auf die „Sachsengängerei“ beschränkt, sondern wohl grundsätzlich in Betrieben mit einem großen Arbeiterstamm häufiger anzutreffen. Kleine Betriebe beschäftigen dagegen oftmals erweiterte Familienverbände mit Eltern, Kindern, Onkeln, Tanten und Cousins. Dadurch herrscht dort eine dichtere soziale Kontrolle, die weniger Anlass für Klatsch bietet.

L OYALITÄT UND M ISSGUNST UNTER DEN „S ACHSENGÄNGERN “ Sofort nach der Ankunft musste ich wie jeder Erntehelfer lernen, mit Menschen, die man eben zum ersten Mal gesehen hat, in einem schrecklich engen Zimmer zusammenzuleben. Allmählich bildeten sich tägliche Rituale heraus: AĞka steht als Letzte auf, man muss immer aufpassen, dass sie rechtzeitig wach wird. GraĪyna wiederum ist am Morgen die Erste, also stellt sie das Kaffeewasser auf, während Teresa eine Zigarette raucht. Der

1

Als „Camp“ wurde die Ansammlung von Containern bezeichnet, in denen die Mitarbeiter einquartiert waren.

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wolkenfreie Himmel kündigt einen heißen Tag an. In Eile mache ich belegte Brote. Komme ich am Abend vom Feld zurück, führt mich mein erster Weg zum Lebensmittelladen, danach schalte ich die Waschmaschine ein, mit meiner und AĞkas Wäsche, während sie in der Zwischenzeit unser Geschirr spült. Nach einigen Tagen ändert sich die Perspektive, wir kennen unsere Gewohnheiten mittlerweile besser, schließlich verbringen wir sieben Tage die Woche rund um die Uhr gemeinsam. Als einziges Rückzugsgebiet bleibt mir mein Bett. Jedoch muss ich meistens zu einer „brutalen“ Uhrzeit, in der Regel um vier Uhr morgens, aufstehen. Am Morgen höre ich, wie GraĪyna den Wecker abstellt und beim Aufsetzen des Kaffeewassers brummt, dass seit Langem keiner mehr Kaffee gekocht habe. Gereizt denke ich mir, sie hätte den Wecker auch zehn Minuten später klingeln und uns noch etwas länger schlafen lassen können. AĞka schläft weiter, ohne zu bemerken, wie die Stimmung im Zimmer immer gereizter wird. Später wird sie sich dann in nervöser Eile für den Aufbruch vorbereiten. Ich hoffe, Teresa raucht ihre Zigarette diesmal nicht im Zimmer und träume davon, wenigstens für eine kurze Zeit alleine zu sein. Meine Kollegin Monika Olszewska kommentiert die gemeinsame Unterkunft in einem Interview: „Das sind scheinbar alles kleine Probleme, aber wenn man zusammenhockt, dann werden aus kleinen Problemen große. Es liegt auch an den unterschiedlichen Charakteren. Manchmal wurde es wirklich unangenehm, die Leute sprachen nicht miteinander, jemand sagte etwas Unfreundliches.“2

Selbst die Geduldigsten verlieren nach einer Woche in Deutschland die Nerven, wenn Kleinigkeiten und Gewohnheiten der Mitbewohner, vorher als kleine Unannehmlichkeiten akzeptiert, nun zu unüberwindbaren Problemen werden. Doch durch die gemeinsame Unterbringung kommen wir uns auch persönlich näher. Selbst wenn jede von uns die anderen Mitbewohnerinnen zu irgendeinem Zeitpunkt nicht mehr ausstehen konnte, gab es auch Momente,

2

Monika Olszewska: „No wáaĞnie, niby to są maáe problemy ale jak siĊ siedzi razem, to z maáych problemów robią siĊ duĪe problemy, taka prawda. I tam są róĪne, przeróĪne charaktery. Czasami byáo naprawdĊ nieprzyjemnie, ktoĞ siĊ do kogoĞ nie odzywaá, ktoĞ do kogoĞ coĞ niemiáego powiedziaá.“

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in denen wir füreinander gesorgt und kooperiert haben. Wir putzten unsere Containerunterkunft, bereiteten die Mahlzeiten gemeinsam zu und erledigten abwechselnd den Einkauf. Abgesehen von Gesprächen und Späßen endeten jedoch Kooperation und Zusammenhalt bei der Arbeit. Da wir einen Akkordlohn entsprechend unserer Leistung erhielten, konzentrierte sich jede darauf, einen möglichst hohen Ertrag zu erwirtschaften. Die Abende verbrachten wir im kleinen Kreis unserer Kolleginnen, da man in einer so großen Gruppe nur mit wenigen Personen einen engeren Kontakt pflegen kann.3 Unsere abendlichen Gespräche drehten sich meist um das Verhalten der Kollegen sowie um Erinnerungen an frühere Arbeitsplätze. Neben diesen Themen spielten in den Unterhaltungen die mangelnde Loyalität und Solidarität der Polen untereinander im Ausland eine maßgebliche Rolle, vor allem für die zweite Generation von Migranten war dies ein essenzielles Thema. Die Frage der Loyalität betraf dabei nicht nur die Beziehungen zwischen fremden Personen, sondern auch viele Freundschaften wurden während der „Sachsengängerei“ auf eine harte Probe gestellt oder gingen in die Brüche, wie GraĪyna StarzyĔska erzählt: „Hier war das auch unter Bekannten eher durchwachsen. So kannst du den Polen in der Fremde kennenlernen, langsam glaube ich selbst daran. Seit der Fahrt gibt es keinen Kontakt mehr.“4 Frau StarzyĔska hob hervor, dass bei der Arbeit die Ansicht vorherrscht, wer etwas verdienen will, muss Unannehmlichkeiten ertragen können, hartnäckig und manchmal auch skrupellos sein. Weiter berichtete sie von den Versuchen der Mitarbeiter, sich auf Kosten von Kollegen eine bessere Position zu verschaffen, „etwas zu kombinieren“5. Oftmals wurden

3

Der Betrieb beschäftige zeitgleich ungefähr 200 polnische und rumänische Arbeiter.

4

GraĪyna StarzyĔska: „Ale tutaj to tak Ğrednio miĊdzy nami byáo, takĪe to tak jest. Tak poznaje siĊ Polaka na obczyĨnie, coĞ takiego, zaczynam w to wierzyü. Od czasu wyjazdu kontakt nam siĊ urwaá.“

5

Gemeint ist die Vorteilsnahme einzelner Arbeiter zu Lasten der Kollegen. Im polnischen Alltagsjargon wird für diese kleinen Unkorrektheiten der Begriff „kombinowac“, abgeleitet vom deutschen Wort „kombinieren“, verwendet. Vgl. White 2011:39.

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die Kollegen jedoch selber wiederum von ihren Vorarbeitern übervorteilt.6 In der Folge werden Ungerechtigkeiten und Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung und Verteilung der guten und schlechten Arbeiten jeweils an die Schwächsten weitergegeben. „So sind die Menschen, so sind die Polen. Ein Pole würde dich dort im Ausland verkaufen“7, behauptete Zofia Marciniak, als sie sich an ihren Aufenthalt in Deutschland und ihre damaligen Erfahrungen erinnerte. Verstärkt wird diese häufig zu hörende Ansicht noch durch die Überzeugung, dass „die Rumänen oder Türken einander helfen. Und der Pole, wie halt ein Pole, nicht“8, so der Saisonarbeiter Jerzy Turniewicz im Interview. Interessanterweise haben jedoch vor allem Polen, die in der Landwirtschaft arbeiten, in der Regel kaum Kontakt mit Türken. Vielmehr resultiert ihre Ansicht aus Verallgemeinerungen von sporadischen Beobachtungen und verbreiteten Vorurteilen. Der Kontakt zu Türken beschränkt sich auf den Besuch von Imbissen oder Internetcafés. Gleichwohl kolportiert man dann in den Unterhaltungen Vorurteile über die angeblich vom „socjal“ (dt. Sozialhilfe) lebenden Türken. Etwas anders ist die Situation bei den Rumänen. Seit Ende der 1990er Jahre werden von den deutschen Landwirten zunehmend auch rumänische Erntehelfer eingestellt. Obwohl sie in denselben Betrieben arbeiten, treten Polen und Rumänen jedoch relativ selten in Kontakt. Genauso allgemein, wie über Türken geurteilt wird, vertritt man die Auffassung, wonach es sich bei den Rumänen um einen „Mob handelt, der zu allem Übel noch klaut“. In der Regel werden Rumänen mit Roma gleichgesetzt, wobei man schlichtweg von „Zigeunern“ spricht und sie mit einer Vielzahl negativer Stereotype belegt. Die sprachliche Barriere verstärkte die auf ethnischen Vorurteilen basierende soziale Distanz zwischen Rumänen und Polen. Auch in der Organisation des Betriebes spiegelte sich diese Distanz wieder,

6

Die polnischen Erntehelfer nennen ihren Vorarbeiter „rajkowy“. Der Begriff entstammt dem deutschen Wort für „Reihe“ (gemeint ist die Reihe der Pflanzen auf dem Feld), das polonisiert als Synonym für den Vorarbeiter benutzt wird. Der „rajkowy“ nimmt Kontroll- und Organisationsaufgaben war.

7

Zofia Marciniak: „No i tacy są ludzie, tacy są Polacy. Polak by ciĊ sprzedaá tam

8

Jerzy Turniewicz: „RóĪnie to jest, jak to miĊdzy Polakami, bo tam ci Rumuni

za granicą.“ czy tam Turcy to sobie pomagają. A Polak jak to Polak, nie.“

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indem beide Gruppen in getrennten Containern wohnten und in getrennten Wagen auf die Felder fuhren: Der Anhänger mit grüner Plane war „polnisch“, der mit blauer „rumänisch“. Jede Gruppe hatte ihre eigenen Waschräume und Waschmaschinen. Als dann aber eine Polin eine Liaison mit einem Rumänen einging, lieferte die Geschichte Stoff für Klatsch und wurde mit dem Satz quittiert: „Wie ist es nur möglich, dass eine Polin mit einem Rumänen …?!“ Die Rumänen wurden nicht nur „von oben herab“ behandelt, deutlich spürbar war ihnen gegenüber eine Haltung der Rivalität. Rumänen sind seit einigen Jahren immer stärker präsent auf Plantagen in Deutschland, woraus unter polnischen Arbeitern Ängste um ihren eigenen Arbeitsplatz erwachsen. Verstärkt wird die Konfrontation durch die Befürchtung, die deutschen Landwirte könnten demnächst die Polen zugunsten billigerer Arbeitskräfte aus Rumänien oder Bulgarien ersetzen. Jüngere Mitarbeiter machten häufig die Erfahrung, zunächst mit Distanz und Misstrauen von den erfahrenen älteren Kollegen behandelt zu werden. Man vermittelte ihnen das Gefühl, nur eine ungenügende Arbeitsleistung zu erbringen: Monika Olszewska: „Wenn es Personen in meinem Alter gab, Jungs, Mädels in meinem Alter, dann war das in Ordnung. Ältere Frauen, die dort waren, das war dann nicht mehr so schön, sie waren so … […] Gegenüber den neuen, so wie ich, sie waren neidisch, vielleicht waren sie böse, vielleicht hatten sie Angst, dass er für die nächste Saison Jüngere nimmt und nicht sie. Es gab diesen Neid.“9

Aufgrund ihrer geringeren Arbeitserfahrungen und ihres Alters kam es immer wieder zu Konflikten, die sich bis in die Freizeitgestaltung auswirkten. Monika Olszewska erzählte, wie unterschiedliche Wertvorstellungen zwischen den jüngeren und älteren Arbeiterinnen zu Auseinandersetzungen führten:

9

Monika Olszewska: „JeĪeli byáy osoby w moim wieku, byli cháopcy, byáy dziewczyny w moim wieku, to byáo w porządku. Starsze kobiety, które byáy, to juĪ nie byáo tak fajnie, bo byáy takie ... […] w stosunku do tych nowych, takich jak ja, to byáy zazdrosne, moĪe byáy záe, moĪe baáy siĊ, Īe na drugi sezon weĨmie te máodsze, a nie je. Byáa taka zazdroĞü.“

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„Es war Sonnabend, mit einem freien Sonntag danach, und wie das mit jungen Menschen so ist, sind wir auf ein Bier oder so etwas eingekehrt, ganz normal, wir waren 20, vielleicht 15 Personen und haben irgendetwas getrunken. Auch darüber gab es schreckliche Reibereien, sie haben darauf sehr schräg geschaut.“10

Wochenendpartys, bei denen Alkohol und vielleicht auch laute Musik eine Rolle spielten, erregten die Missbilligung älterer Kolleginnen. Sie reagierten nicht nur unwillig, weil damit ihre Nachtruhe gestört wurde, sondern für sie stand dieses Verhalten im Widerspruch zum Hauptzweck ihrer Reise. Zur ungeschriebenen Verhaltensnorm einer Saisonarbeiterin gehörte es, sich mit finanziellen Ausgaben in Deutschland zurückzuhalten und nur das Allernötigste zu kaufen, um das gesamte verdiente Geld nach Polen zu bringen. Einen Teil des Verdienstes für Alkohol und Unterhaltung auszugeben, galt als Verschwendung sowie jugendlicher Leichtsinn und wurde als mangelndes Verantwortungsbewusstsein interpretiert.

K ONTROVERSEN , K LATSCH

UND

L IEBSCHAFTEN

Große Aufmerksamkeit schenkte man auch den Beziehungen zwischen Männern und Frauen allgemein sowie diverser Bekanntschaften oder Liaisons im Besonderen: Iza Grochowska: „Wenn es um Arbeit geht, war das nicht schwer, schlimmer war es allerdings in psychischer Hinsicht, denn wenn ein Deutscher an dir vorbeigeht, das erste, zehnte, fünfzehnte Mal, sagt er dir immer wieder ein [freundliches] ‚Hallo‘. Und, sagen wir, eine Polin, die mit dem polnischen Chef eine angenehme Nacht verbrachte11, wird sich über dir postieren und sagen: ‚Hör mal, dort hast du eine

10 Monika Olszewska: „Przyszáa sobota, gdzie mieliĞmy niedzielĊ wolną i jak to máodzi, wstąpiliĞmy na piwo czy coĞ, normalnie, siedziaáo dwadzieĞcia osób, piĊtnaĞcie i sobie popijaliĞmy coĞ. I o to teĪ byáy straszne niesnaski, one strasznie krzywo patrzyáy na to.“ 11 Vielerorts haben Polen keinen unmittelbaren und alltäglichen Kontakt zum Inhaber des Betriebes. Die Funktion eines direkten Vorgesetzten hat in den meisten Fällen ein Pole inne, der im Betrieb langfristig angestellt ist und zwischen dem deutschen Eigentümer und den übrigen Polen auch sprachlich vermittelt.

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Erdbeere übrig gelassen […], und dieses Schälchen eignet sich für den Müll.‘ Ja, das war einfach so […] Ich behaupte immer, dass sich die Polen im Ausland zueinander schrecklich benehmen, und die Deutschen sind besser, mit einem Deutschen kann man sich besser verständigen.“12

Mit diesen Worten fasste Iza Grochowska, die einige Jahre regelmäßig als Saisonarbeiterin bei demselben Arbeitgeber verbrachte, ihre Erfahrungen zusammen. Ihre Erzählung konzentrierte sich vor allem auf die Kollegen und die innerbetrieblichen Verhältnisse. Frau Grochowska, selbst verheiratet, kommentierte kritisch das Verhalten von Frauen und Männern, die „bereits im Bus nach Deutschland ihre Eheringe versteckten“. In den Interviews wurde immer wieder der Vorwurf erhoben, unter Saisonarbeitern herrsche eine Art Doppelmoral. Obwohl sie verheiratet sind, würden sie den Aufenthalt in Deutschland für eine Liaison nutzen. Sicherlich trifft der hier geäußerte Vorwurf in dieser pauschalen Form nicht zu, jedoch wurden gerade Frauen von ihren Kolleginnen für ihr Verhalten verurteilt. Dabei bildet eine Vertrautheit, die sich manchmal an den Grenzen der sittlichen Normen bewegen kann, ein Element im Alltag der Saisonarbeiter. Der Alltag von Erntehelfern vollzieht sich relativ isoliert von der Umgebung in einem kleinen Kreis von Personen. Da man mit ihnen praktisch die ganze Zeit verbringt, schafft dies günstige Voraussetzungen für vertrauliche Beziehungen. Jedoch werden Intimitäten vom Umfeld meistens negativ wahrgenommen. Allerdings handelt es sich dabei um kein neues Problem, denn schon in den Anfängen der „Sachsengängerei“ im 19. Jahrhundert wurde es genau beobachtet und kommentiert. Gewöhnlich beurteilte man das Phänomen vor über einhundert Jahren nachsichtig. Wo in Galizien die kleinteiligen Höfe ihre Bewohner nicht ernähren konnten, bot die Arbeitsmigration den Frauen neben wirtschaftlichen Vorteilen auch die Chance,

12 Iza Grochowska: „JeĞli chodzi o robotĊ, to ciĊĪko nie byáo, tylko gorzej byáo pod wzglĊdem psychicznym, poniewaĪ jak Niemiec przechodzi kolo ciebie pierwszy, dziesiąty, piĊtnasty raz, nic ci nie powie tylko swoje ‚hello‘. A powiedzmy Polka, która miáą noc spĊdziáa z szefem Polakiem stanie nad tobą i ci powie: ‚Sáuchaj, uwaĪaj tam zostawiáaĞ jedną truskawkĊ […], a ta szaleczka to siĊ nadaje do wyrzucenia.‘ No to, to po prostu tak byáo […] Ja zawsze twierdzĊ, Īe Polacy za granicą są dla siebie okropni i lepsi są Niemcy, z Niemcem siĊ lepiej chyba dogadaü.“

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sich einer restriktiven sozialen Kontrolle und strengen Moral zu entziehen. In ihrer Studie zur polnischen Wanderarbeit schreiben Zaniecki und Thomas zu Beginn des 20. Jahrhunderts: „Hiesige junge Frauenzimmer begeben sich größtenteils unter preußische Herrschaft zur Arbeit. Ich weiß weder, wie sie dort ihr Geld verdienen, noch wie sich ihr Leben dort gestaltet; jeder darf aber vermuten, was sich ein Mädel ohne elterliche Obhut erlauben kann. Deswegen lachen auch deutsche Frauen, dass es eine Polin in Preußen zu mehr bringen kann als ein Pole. Und in der Tat haben wir hier bereits zwei von diesen deutschen Errungenschaften, die von den Jungfrauen aus Preußen mitgebracht wurden.“13

Mit der wachsenden Popularität einer Beschäftigung in der deutschen Landwirtschaft stieg seit Beginn des 21. Jahrhunderts auch der Anteil von Polinnen unter den Saisonarbeitern. Noch zu Beginn der 1980er Jahre war Saisonmigration aus Polen nach Deutschland eine Domäne der Männer.14 Seit Mitte der 1990er Jahre stieg jedoch der Anteil von Frauen an den polnischen Migranten von 30 Prozent bis 2002 auf etwas über 40 Prozent.15 Daher sollen an dieser Stelle die Beziehungen zwischen Männern und Frauen mit ihren Normen und Werten näher betrachtet werden. Von der Entscheidungsfindung über das Einsatzland bzw. den -ort, die Art der Arbeit bis zum Verhaltenskodex spielen geschlechtsspezifische Werte und Normen eine Rolle. Die spezifischen Attribute, Haltungen und Erwartungen an Männer und Frauen bilden ein gesellschaftliches Konstrukt, mit deren Hilfe zwischenmenschliche Beziehungen organisiert werden.16 Werte und Normen setzen sich aus Traditionen, Religion, Brauchtum sowie ökonomischen Grundlagen zusammen und verändern sich durch das Handeln der Akteure. Gesellschaftlich bedeutende Prozesse, wie sie die polnische Arbeitsmigration darstellt, verändern daher die akzeptierten Einstellungen und Verhaltensweisen. Während die Wanderarbeit zu einem

13 Znaniecki/Thomas 1976: 38. Das Original wurde 1918-1920 ausgearbeitet. Mit den „Errungenschaften“ sind Kinder gemeint, die polnische Saisonarbeiterinnen im 19. Jahrhundert aus Preußen mit in ihre galizische Heimat brachten. 14 JaĨwiĔska 2001: 121f., KĊpiĔska 2008: 160. 15 KĊpiĔska 2012: 6. 16 Vgl. Tong 2002.

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Massenphänomen der polnischen Gesellschaft wurde, bleibt aber ungewiss, in welchem Umfang sich die Auslandserfahrungen in einem wandelnden Rollenverständnis niederschlagen. Forschungen zum geschlechtsspezifischen Verständnis polnischer Migranten in Großbritannien zeigen eine große Kontinuität rollenspezifischer Verhaltensweisen.17 Frauen sind auch in der Migration einem deutlich stärkeren Druck zur Erfüllung traditioneller Rollenerwartungen ausgesetzt als Männer. Wie Siara feststellt, herrscht unabhängig von einer theoretisch denkbaren Erweiterung traditioneller Geschlechterrollen weiterhin ein starkes patriarchalisches System.18 Bei Wanderarbeitern übt ihre ländlich-kleinstädtische Herkunft eine starke Bindung an traditionelle geschlechtsspezifische Normen aus. Ein subtiler Wandel des traditionellen Rollenverständnisses wird in den Familien durch den Beitrag von migrierenden Frauen zum Haushaltseinkommen geleistet.19 So kann eine Saisonarbeiterin innerhalb von zwei Monaten ein höheres Einkommen erwirtschaften, als es ihrem Mann in Polen im Laufe eines halben Jahres möglich ist. Ob vor dem Hintergrund dieser ökonomischen Veränderungen auch ein kultureller Wandel einsetzt, der zu einer Veränderung sozialer Normen und Werte führt, bleibt jedoch fraglich. Vielmehr deuten die geschlechtsspezifisch differierenden moralischen Urteile auf einen widersprüchlichen Prozess hin. Einerseits haben traditionelle Normen und Werte ihre Gültigkeit gerade in Bezug moralisch akzeptierten Verhaltens nicht verloren, während andererseits der Aufenthalt in der Fremde zu einem Flirt oder einer Liaison genutzt wird. Hier entsteht ein Konflikt zwischen normativem Anspruch und alltäglichen Handlungen. Daher bieten Fragen der Moral ein wiederkehrendes Motiv in den Unterhaltungen der Wanderarbeiter. Moralische Forderungen richten sich in erster Linie an Frauen. Sowohl in den Interviews als auch in den Gesprächen während der teilnehmenden Beobachtung wurde die Einhaltung von sittlich-moralischen Normen und Werten deutlich häufiger von Frauen als von Männern thematisiert. Frauen sind jedoch nicht nur das Objekt strenger kultureller und sozialer Normen, sondern gleichzeitig auch Sachwalterinnen und Wächterinnen der Moral. Tatsächliche und vermutete Intimitäten lieferten den Stoff für Gerüchte und stellten ein kontroverses Thema dar. Unter Beschuss gerieten insbesondere

17 McIlwaine 2006: 4. 18 Siara 2009: 167. 19 Ebd.; Shah 2006: 93f.

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junge Frauen, wie mir Monika Olszewska und andere Frauen berichteten. Wie stark die soziale Kontrolle ausgeübt wird, zeigt beispielhaft das folgende Interviewzitat. Selbst kleinste Ereignisse werden schnell in Fragen eines moralischen Verhaltenskodexes interpretiert: Monika Olszewska: „Drei Kollegen gingen zum Telefon […], dann bin ich mitgegangen. Sofort gab es Gerüchte, von wegen, ich alleine mit drei Männern. Ich hatte schon immer viele Kollegen, ich habe in einer Firma gearbeitet, wo es zweihundert Männer und zwei Frauen gab, also ist für mich die Gesellschaft von Männern normal und ich machte mir dabei keine Gedanken. Als ich zurückkam, gab es sofort Klatsch, dass ich alleine mit den Männern und nicht mit Frauen […], was mich auch ärgerte, denn jeder wusste, dass ich einen Mann, ein Kind in Polen habe. Ich bin noch nicht lange verheiratet und das hat mich schon verletzt.“20

Schon im Vorfeld wird einer sich eventuell entwickelnden Intimität mit moralischen Kriterien begegnet. Darin ist der Versuch einer Ausübung von sozialer Kontrolle zu sehen, bei der die Kolleginnen untereinander über die Moral der Gruppe wachen. Indem die Frauen das Verhalten ihrer Kollegin schärfer kommentieren, als es dem realen Sachverhalt entspricht, wird sie auf die moralisch akzeptierten Grenzen hingewiesen. Die von Frau Olszewska geäußerte Verletzung deutet darauf hin, dass in den Bemerkungen für sie eine reale Bedrohung ihrer moralischen Integrität lag, da sie ihren „guten Ruf“ verlieren konnte. Agata Borowicz erzählt, wie die abendlichen Treffen nicht nur eine willkommene Ablenkung von dem monotonen Leben in der „Sachsengängerei“ waren, sondern auch zur Anbahnung potenzieller Liebesaffären führten. Missbilligend berichtete sie über das ihrer Ansicht nach unmoralische Verhalten einiger Erntehelferinnen:

20 Monika Olszewska: „Száo moich trzech kolegów do telefonu […] to száam z nimi. I zaraz byáy plotki, Īe ja sama z trzema facetami. Ja zawsze miaáam kupĊ kolegów, ja pracowaáam w firmie, gdzie byáo dwustu facetów i dwie dziewczyny, dla mnie normalne jest towarzystwo mĊĪczyzn, wiĊc nawet nie myĞlaáam o tym. A jak wróciáam, to zaraz byáy plotki, Īe ja sama, Īe z facetami, nie z dziewczynami […] co mnie teĪ draĪniáo, bo kaĪdy wiedziaá, Īe mam mĊĪa, Īe mam dziecko w Polsce. Jestem máodą mĊĪatką i we mnie to godziáo.“

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Agata Borowicz: „Das ist richtig, dass diese Frauen dann doch im Ausland, ich weiß nicht, wie ich das schön bezeichnen kann […] Sie gehen Beziehungen für zwei, drei Monate ein […] Aber das sind nicht immer Mädchen, die ledig sind, auch Verheiratete. Viele Menschen reisen und nutzen die Gelegenheit zu irgendwelchen Abenteuern […] Und in dieser Hinsicht herrscht eine andere Atmosphäre.“21

Weit entfernt vom Zuhause vermitteln die fremde Umgebung und das enge Zusammenleben in einem zeitlich begrenzten sozialen Mikrokosmos eine Atmosphäre relativer Freiheit. Immer wieder beschreiben Saisonarbeiter ihren Aufenthalt in Deutschland auch als „Urlaub“ von ihrem familiären Alltag in Polen. In dieser Situation liegt es nahe, Normen und Werte auch in moralischen Fragen zu relativieren. Eine der Befragten berichtete, dass man die heimische Kultur und Achtung vor anderen zu Hause lasse. In dieser Perspektive verändert sich das Verhalten der Erntehelfer durch die Abwesenheit von der Familie und den häuslichen Pflichten und Ritualen: Dorota Plicharska: „Wenige Kilometer von uns entfernt gab es freitags immer Tanz, und immer kamen irgendwelche Herren und nahmen zwei oder drei Frauen von uns mit […] Freitagabend, sie machen sich schick, alle an die 45, in Miniröcken, gehen zum Tanzabend, huschen davon … Ihre Ehemänner haben sie selbstverständlich zu Hause gelassen und gehen, als wäre nichts geschehen, mit fremden Männern tanzen.“22

Häufig rechtfertigen Frauen diese Bekanntschaften mit der besonderen Situation bei der Arbeit, allen voran mit der Rivalität, der Einsamkeit, dem

21 Agata Borowicz: „To jest prawda za granicą, Īe te kobiety jednak, nie wiem jak to áadnie nazwaü […] Zawierają sobie takie związki na dwa, trzy miesiące […] No ale to nie są zawsze dziewczyny wolne, tylko mĊĪatki. DuĪo osób jedzie i korzysta z tego, jakieĞ tam przygody […] I jest taka inna atmosfera pod tym wzglĊdem.“ 22 Dorota Plicharska: „Byáy piątki gdzie byáy dancingi parĊ kilometrów od nas i tam zawsze przyjeĪdĪali jacyĞ panowie, zabierali kobiety takie od nas, 2 albo 3, i na te dancingi jeĨdzili […] Piątek wieczór, one odstrojone, kobiety, które maja po 45 lat, w miniówkach krótkich, a one idą na dancing, wymykają siĊ […] mĊĪów w domu w Polsce zostawiáy oczywiĞcie, jak gdyby nigdy nic, a tutaj sobie na dancing z obcymi mĊĪczyznami wychodzą.“

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Verlangen nach Nähe und emotionalem Beistand von jemandem, der ihre Situation besser als der Partner in Polen versteht. In manchen Fällen bietet die Reise eine Fluchtmöglichkeit vor einer misslungenen Ehe, und der mehrwöchige Aufenthalt in Deutschland gilt als Erholung von einer destruktiven Partnerschaft. Einen Extremfall stellen „Saison“-Beziehungen dar, die Jahr für Jahr nur während des Aufenthaltes in Deutschland bestehen. Manchmal sind sogar die Kollegen davon überzeugt, dass es sich bei den Liebespärchen um Ehepaare handelt. Diese Freiheit gilt aber für Männer und Frauen in unterschiedlichem Maße. Über den Anteil der Männer an einer Liaison spricht man eher unaufgeregt. Gerüchte und Tratsch über Liebschaften kursierten vor allem unter den Frauen, während sich Männer selten daran beteiligten. Nach Auffassung der Frauen regeln Männer ihre Probleme auf andere Weise: „Sie tranken einen, stritten und sprachen danach normal miteinander, einer schrie den anderen an, hat ihn gehörig auf die Palme gebracht, während es mit Frauen anders ist.“23 In dieser Perspektive entfachen Konflikte zwischen Frauen einen „Schwelbrand“ aus Klatsch und Tratsch, wohingegen Männer eine kurze, heftige Auseinandersetzung führen. Traditionell gesteht man ihnen einen größeren Freiraum bezüglich moralischen Verhaltens zu. Nehmen Frauen die gleichen moralischen Freiheiten in Anspruch, werden sie als „unwürdig“, „naiv“ oder „dumm“ verurteilt: Justyna Bochniarz: „Sich für zwei Monate loszulösen, da hatte ich den Eindruck, dass es sich aushalten lässt ohne Mann, etwa zwei Monate für eine Frau … Einem Mann fällt es vielleicht schwerer. Übrigens ist ein Mann so veranlagt, dass er die Gelegenheit nutzt. Aber die Frauen waren so verliebt, dermaßen, dass sie über Scheidung nachdachten, über alles.“24

23 „Oni siĊ tam popili, pokáócili, a potem siĊ normalnie odzywali, huknąá jeden na drugiego, wkurwiá go tam porządnie, a kobieta to tak nie.“ 24 Justyna Bochniarz: „Na dwa miesiące siĊ oderwaü to mi siĊ wydawaáo, Īe siĊ da wytrzymaü bez faceta, jakieĞ dwa miesiące dla kobiety … Dla faceta moĪe trudniej. Zresztą facet ma taką naturĊ, Īe korzysta. Ale wáaĞnie one tak siĊ zakochiwaáy, do tego stopnia, Īe myĞlaáy o rozwodzie, o wszystkim.“

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Józef Dyduch kommt an einer Stelle unseres Interviews ebenfalls auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen während der „Sachsengängerei“ zu sprechen: „Generell möchten Menschen ihren Spaß haben … auch die weniger frivolen, und manche spüren keine Rute mehr, sie reisen ins Ausland und erlauben sich mehr, na und. Es gab Freundschaften, es gab Liebschaften. Von Ehen weiß ich nichts, es gab aber auch Ehebruch. Alles wird übertragen, das, was bei uns in Polen geschieht, wir übertragen, dorthin exportiert, da gibt es keinen Unterschied, bis auf den Ort, denn es sind Ansammlungen von Menschen, Menschen, die sich nicht kennen, einander unbekannt sind, sodass … in manchen ein größerer Mut freigesetzt wird.“25

In der männlichen Perspektive von Józef Dyduch relativieren sich die moralischen Fragen zu einem unspezifischen sozialen Phänomen. Nicht die Saisonarbeit stellt die Ausnahme dar, sondern in der fremden Umgebung werden Verhaltensweisen sichtbar, die im häuslichen Alltag verborgen bleiben. Wojciech Przybysz, der hauptsächlich in der Gesellschaft von Männern arbeitete, fasste das alles in kurzen Worten zusammen: „Wir haben auf unser Ansehen aufgepasst, man musste sich schlichtweg benehmen und die Arbeit zu Ende machen.“26 An dieser Stelle erscheint es angebracht, in einem kurzen Rekurs das Phänomen des Klatsches näher zu betrachten. Bergmann versucht in seiner Interpretation von Klatsch das Phänomen in seinem widersprüchlichen Charakter zwischen öffentlich und privat, genau und vage usw. zu fassen.27 Für ihn ist Klatsch „die Sozialform der diskreten Indiskretion“28, wobei im

25 Józef Dyduch: „Generalnie ludzie są rozrywkowi … i ci mniej rozrywkowi, no i niektórzy po prostu nie czują bata, wyjeĪdĪają za granicĊ, no i po prostu pozwalają sobie na wiĊcej, no i cóĪ. Byáy i przyjaĨnie, byáy i miáoĞci. O maáĪeĔstwach nie wiem, ale byáy i zdrady, Wszystko jest przenoszone, to co dzieje siĊ u nas, w Polsce, to jest przenoszone, eksportowane tam, to siĊ nie róĪni niczym innym, oprócz miejsca, bo chodzi o skupiska ludzi, ludzi sobie nawet nieznanych, nieznajomych, takĪe no … w niektórych siĊ wyzwala wtedy wiĊksza odwaga.“ 26 Wojciech Przybysz: „My tam szanowaliĞmy siĊ, trzeba byáo po prostu zachowywaü siĊ i zrobiü robotĊ.“ 27 Bergmann 1987: 205f. 28 Ebd. 210.

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Klatsch privates Wissen öffentlich gemacht wird. Dabei kann es sich auch um die begrenzte Öffentlichkeit einer Gruppe handeln, die damit ihre Integration stärkt und soziale Kontrolle ausübt. „Klatschen“ meinte ursprünglich das Schlagen der Wäsche, wenn sich die Frauen am Fluss oder See trafen und zugleich ihre, die Arbeit begleitende Kommunikation. Althans weist unter der Perspektive von Gender darauf hin, wie im Verlauf des 18. Jahrhunderts der Klatsch zunehmend als ein spezifisch weibliches Muster angesehen wurde.29 Den Frauen wird verstärkt eine naturgegebene Schwatzhaftigkeit unterstellt und dem angeblich auf Vernunft beruhenden Gespräch der Männer entgegengesetzt. Damit war es den Männern zwar möglich, die Rede der Frauen als „Geschwätz“ zu ignorieren, jedoch weist dies zugleich auf die Verletzbarkeit der Männer hin.30 Ursächlich stellt Althans diese Entwicklung mit dem guten Ruf des Geschäftsmannes in Verbindung, der für seinen finanziellen und symbolischen Kredit überlebenswichtig war. Als Geschäftsmann ist er abhängig von seinem untadeligen Leumund und muss sich von der üblen Nachrede, wie sie dem Klatsch eigen ist, abgrenzen.31 Betrachten wir jetzt unter dem Aspekt von Gender die oben zitierten Einstellungen zum Klatsch, so ist zu vermuten, dass sich darin nicht nur traditionelle Rollenklischees ausdrücken. Vielmehr erfordert die Erfüllung der männlichen Rolle als „Ernährer der Familie“ auch eine Abgrenzung von dem Verdacht der Untreue. Damit zeigt sich die Verletzbarkeit seiner Rolle, wenn der Mann seiner Verpflichtung außerhalb seiner Heimat nachgeht.

D IE SCHWIERIGEN A NFÄNGE DER W ANDERARBEIT Ein zentrales Motiv zahlreicher Migrationsgeschichten ist das mangelnde Vertrauen unter polnischen Migranten.32 Die polnische Soziologin Maágorzata Irek zitiert den drastischen Kommentar eines polnischen Migranten in England zum Verhalten seiner Landsleute im Ausland: „There is no bigger swine in this world than a Pole abroad.“33 Doch worin liegen die Ursachen

29 Ebd. 154ff. 30 Ebd. 79. 31 Ebd. 155ff. 32 Eade, 2007:37; ToruĔczyk-Rruiz 2010; vgl. auch Burell 2009. 33 Irek 2011: 2.

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dieser negativen Sicht und des Misstrauens? Um dieses Phänomen zu erklären, ist es notwendig, einen Blick auf die Entwicklung der jüngeren Arbeitsmigration von Polen nach (West-)Deutschland zu werfen. Die Anfänge dieser Reisetätigkeit liegen in den 1980er und 1990er Jahren und haben bis heute einen großen Einfluss auf die Wahrnehmung der Arbeitsmigration. Die illegalen und halblegalen Arbeitsaufenthalte in Deutschland markierten an einigen Orten den Beginn einer langjährigen Geschichte der „Sachsengängerei“. „Halblegal“ waren Reisen, die mit einem legalen Touristenvisum unternommen, aber zur Erwerbsarbeit genutzt wurden. Oder man blieb im Land, obwohl das befristete Arbeitsvisum bereits überschritten war. Diese Methoden begannen vereinzelt in den 1980er Jahren und wurden vor allem im darauffolgenden Jahrzehnt praktiziert. Neben einer informellen Arbeitsaufnahme nutzten viele Polen die Möglichkeiten vor allem für den Kleinhandel. Dabei waren die Gewinnspannen so umfangreich, dass beispielsweise mit dem Kauf und Verkauf von Produkten in Berlin an einem Wochenende mehr als ein üblicher Monatslohn in Polen verdient werden konnte. Im Verlauf der Jahre beteiligten sich zunehmend mehr Personen aus der räumlichen und sozialen Umgebung an der Migration. Auf diese Weise entstanden teilweise weitverzweigte soziale Netzwerke von Migranten. Obwohl während der Volksrepublik die Mobilität in Richtung Westen eingeschränkt war, stand ein enormes Arbeitskräftereservoir bereit, sein Glück im „mythischen“ Westen zu suchen.34 Ähnlich wie im 19. Jahrhundert sahen vor allem die Bewohner ländlicher Regionen darin eine Chance zur schnellen Steigerung ihres Lebensstandards, die sie sich nicht entgehen lassen wollten. Bereits zu Beginn der 1980er Jahre nutzten einzelne Polen ihren Urlaub, um als Bauhelfer auf Westberliner Baustellen zu arbeiten. Um als Tourist in die Bundesrepublik fahren zu können, musste man einen Pass beantragen und eine Einladung vorweisen. Erst dann erhielt man ein Visum für Deutschland. An der Grenze musste man außerdem eine bestimmte Geldsumme vorweisen, um passieren zu können. Andrzej Kozáowski, einer meiner Interviewpartner, erinnert sich: „Mit dem Pass ging das gar nicht so ratzfatz. Dort war es wie bei einer Beichte, man musste ein sauberes Konto haben …, man durfte nicht vorbestraft sein und politisch keine feindselige

34 Stola 2010: 334.

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Gesinnung haben. ‚Was willst du dort, wozu, wofür?‘ […] Man musste eine Einladung vorweisen.“35 Offiziell ermöglichte ihnen das Visum nur einen touristischen Aufenthalt in Westberlin und Westdeutschland, ohne Arbeitsaufnahme. Das Risiko, ausgewiesen zu werden, verbunden mit einem Einreiseverbot nach Deutschland, nahmen die polnischen „Touristen“ aber gerne in Kauf. Hauptsache, man kam erst einmal im Westen an, dann konnte man dort eine befristete Arbeit aufnehmen oder Kleinhandel betreiben. Der sogenannte Berliner „Polenmarkt“ Anfang der 1990er Jahre erlangte deutschlandweite Bekanntheit.36 Die Aussicht auf einen höheren Verdienst und den Aufenthalt in einem Land, das als „Schlaraffenland“ beschrieben wurde, war ein Hoffnungsschimmer in Zeiten allgemeiner Not und leerer Regale in der grauen polnischen Wirklichkeit der 1980er Jahre. Mit der politischen Wende erleichterten sich 1990 die Reisebedingungen, jedoch waren die legalen Arbeitsmöglichkeiten im Westen weiterhin beschränkt, wie die Erfahrungen von Andrzej Dyduch zeigen. Andrzej und seine Frau konnten sich, obwohl beide in Polen Arbeit hatten, nur einen sehr niedrigen Lebensstandard leisten. Das junge Ehepaar wohnte noch bei seinen Eltern, wo ihnen nur ein Zimmer zur Verfügung stand. Ein zeitlich begrenzter Arbeitsaufenthalt im Ausland sollte ihre Lebenssituation verbessern. Die Pläne nahmen konkretere Formen an, als sich zeigte, dass ein Bekannter von Andrzej in Deutschland lebte und versprach, Kontakte herzustellen und Einladungen von potenziellen Arbeitgebern zu vermitteln. Nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik bezogen die Dyduchs ein Dachbodenzimmer über dem Restaurant ihres künftigen Arbeitgebers. Wie sich bald zeigen sollte, hatte Andrzejs Bekannter die Adresse allen seinen Freunden und Verwandten gegeben. Und schon bald bewohnte ein Dutzend Personen aus demselben Ort den kleinen Raum. Das Mobiliar wurde im Sperrmüll gefunden, aus Decken errichtete man provisorische Wände, außer einigen Stühlen und einem Tisch gab es keine weiteren Einrichtungsgegenstände. Dabei hatten Andrzej und seine Frau noch Glück. Denn diejenigen, die oh-

35 Andrzej Kozáowski: „Ale Īeby ten paszport dostaü to teĪ nie byáo tak hop siup. Tylko trzeba byáo byü tam jak na spowiedzi, mieü, wiesz, czyste konto … no nie byü karanym, wrogo politycznie nastawionym. Dlaczego jedziesz, po co, na co. […] Zaproszenie okazaü.“ 36 Weber 2002.

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ne Kontakte und Arbeitsgenehmigungen nach Deutschland losgefahren waren, campierten manchmal tage- oder wochenlang in ihren kleinen Polski Fiats: Andrzej Dyduch: „Ein größerer Parkplatz, wo, so lange Ruhe herrschte, keine Polizei zu sehen war, aber bekanntlich, wenn Alkohol ins Spiel kam, na ja, dann haben sie [die Polizei] reagiert […] In der Nacht haben sie ein Auge zugedrückt, denn irgendwo musste man ja stehen, besser auf einem Parkplatz als am Straßenrand, da haben sie nichts gesagt, nicht reagiert. Das Schlimmste aber war, dass dort der Alkohol regierte, und dann nahmen Emotionen die Oberhand über der Vernunft.“37

Häufig berichteten meine Gesprächspartner von ähnlichen Erfahrungen aus der „Pionierzeit“ ihrer Wanderarbeit in den Jahren um 1990. Obwohl man mit Schwierigkeiten und Problemen gerechnet hatte, waren nicht alle diesen harten Lebensbedingungen gewachsen. Übernachtungen im Auto, ohne Waschgelegenheit und Küche, in einer Gruppe von Männern, unter denen sich früher oder später Frust und Enttäuschung ausbreiteten, setzte vielen Migranten zu. Als erschwerend erwies sich, dass kaum jemand Deutsch sprach. Je länger solch ein Aufenthalt dauerte, umso mehr stiegen Alkoholkonsum und damit um sich greifende soziale Missstände an. Zudem wollte kaum ein Arbeitgeber unrasierte, ungepflegte Männer mit Alkoholfahne einstellen, berichtete einer meiner Gesprächspartner von seinen Erfahrungen. Solange das Wohnen auf einem Parkplatz sich nicht zu sehr hinzog, konnte man es als „Überlebenstraining“ betrachten und anschließend zu Hause mit einem bitteren Lächeln von seinen Abenteuern erzählen. Bei einem längeren Aufenthalt ohne ausreichenden Verdienst wurden jedoch die finanziellen Reserven aufgezehrt. Manch einer musste sich das Geld für die Rückfahrt leihen und kam mit Schulden in die Heimat zurück. Vor dem Hintergrund dieser Probleme entwickelte sich eine angespannte Atmosphä-

37 Józef Dyduch: „WiĊkszy parking, gdzie jak byáo spokojnie to policja raczej nie zaglądaáa, ale jak juĪ wiadomo, Īe alkohol siĊ pojawiá gdzieĞ tam w miĊdzy czasie, no to reagowali […] na noc tam przymykali oko, no i wiadomo, Īe gdzieĞ tam trzeba stanąü, lepiej przecieĪ na jakimĞ parkingu, niĪ przy ulicy, to tam nic nie mówili w zasadzie, nie reagowali, najgorsze byáo to, Īe alkohol tam królowaá w wiĊkszoĞci przypadków i tam wiadomo, Īe emocje braáy górĊ nad rozumem.“

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re voller Misstrauen zwischen den Wanderarbeitern. Zudem schürte der Alkoholkonsum einzelner Arbeiter Vorurteile gegenüber Polen: Andrzej Kozáowski: Sie übernachteten in Autos, auf Parkplätzen. Stell dir vor, es ist März und noch kalt. Es schneit, und sie schlafen im Auto. Sie hatten kein Geld für Verpflegung, also haben sie geklaut. Sie sind ganz normal ins Geschäft gegangen und haben geklaut. Das war schrecklich. Es gab einen polnischen Parkplatz, wo etwa 40, 50 Autos standen. Sie haben dort campiert. Sehr viele haben getrunken. […] Einen Teil von ihnen hat die Polizei einkassiert, denn es war ein derartiges Rowdytum, dass es unter ihnen Schlägereien gab, es gab Rivalitäten. […] Und das sprach sich dann herum, man hielt uns für Diebe, Säufer, Menschen, die nur Krawall machen. Die Deutschen hatten Angst, uns näherzukommen, Arbeit anzubieten. Denn wenn ein Deutscher kam und Betrunkene sah, was sollte er dann mit einem Betrunkenen bei der Arbeit? […] Sehr viele kehrten mit leeren Händen zurück.“38

Die polnischen „Touristen“ auf Arbeitssuche trafen sich unter anderem an den „Klagemauern“, wie Waldemar Biernacki die Orte bezeichnete, an denen Annoncen mit Arbeitsangeboten hingen. Meist handelte es sich um Aushänge an Stellen, die unter Arbeitsmigranten bekannt waren, an einer Mauer oder in einem Geschäft. Besonders in den Morgenstunden waren das belebte Plätze, denn wer zu spät kam, befand sich gleich auf verlorenem Posten. So standen die Wanderarbeiter dort und warteten auf einen Wink des Schicksals in Form eines Arbeitgebers, der sie für ein paar Tage oder Wochen beschäftigen würde:

38 Andrzej Kozáowski: „Spali po parkingach, w samochodach. WyobraĨ sobie, marzec, jeszcze zimno, Ğnieg pada, a oni Ğpią w aucie. Nie maja pieniĊdzy na Īywienie, kradli w sklepach. Normalnie chodzili po sklepach i kradli. TakĪe to byáo straszne. Byá taki parking polski, gdzie po prostu staáo czterdzieĞci, piĊüdziesiąt aut. I oni tam, wiesz, koczowali. Bardzo duĪo ludzi piáo. […] CzĊĞü tam policja zwinĊáa, bo siĊ robiá taki bandytyzm, juĪ siĊ bili miĊdzy sobą, byáa rywalizacja. […] No i opinia o Polakach po prostu poszáa, juĪ mieli nas za záodziei, za pijaków, za takich ludzi, co lubią zadymy. Niemcy bali siĊ podjeĪdĪaü, braü do roboty. No bo jak siĊ biją, podjechaá Niemiec, zobaczyá, pijany. Po co braü takiego pijaka do roboty? […] Bardzo duĪo ludzi wróciáo z niczym.“

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Waldemar Biernacki: „Wir wussten nicht mehr, was wir machen sollen, wir hatten nicht mal Geld für die Rückreise. Wir trafen uns und gingen zu Fuß, denn es war schade, Geld für die U-Bahn auszugeben. Hin waren es 3,20 DM, zurück 3,20 DM, es waren ca. 6 km vom Wohnort, wir gingen also zu Fuß, dort gab’s eine ‚Klagemauer‘, wir nannten sie ‚Klagemauer‘, denn dort trafen sich alle Ausländer, die ohne Arbeit waren, und wir haben auch dort gestanden.“39

Waldemar Biernacki stand mehrmals an der „Klagemauer“. Endlich, an einem verregneten Tag, als viele bereits ihre Hoffnung verloren hatten, war ihm das Schicksal gnädig, oder besser gesagt, kam es in einem schwarzen Golf: Waldemar Biernacki: „Ein Deutscher fuhr vor und fragte auf Deutsch, ob wir arbeiten möchten. Deutsch kannten wir nur so viel wie „Guten Tag“ und „Heil Hitler“ [lacht], denn das war der Anfang [unserer Arbeiten in Deutschland]. Ich hatte mir auf einem Zettel aufgeschrieben, wie man nach Arbeit und der Uhrzeit fragt. Stunden, Wochentage lernte ich dann später, und da sagten wir: ‚JA, wir wollen arbeiten.‘“40

Trotz der anfänglichen Schwierigkeiten gelang es Waldemar Biernacki und vielen anderen, nach und nach relativ regelmäßige Beschäftigungsverhältnisse aufzubauen. In wiederholten Arbeitsaufenthalten lernten einige Wanderarbeiter genug Deutsch für die Alltagskommunikation. Gelernt hatten sie aber auch die Kunst des Überlebens, als die illegale Beschäftigung noch

39 Waldemar Biernacki: „Nie wiadomo byáo co robiü, juĪ nawet nie byáo za co wróciü, i spotykaliĞmy siĊ, chodziliĞmy piechotą, bo to szkoda byáo pieniĊdzy na to metro, tam w jedną stronĊ chyba trzy dwadzieĞcia w markach kosztowaáo, w drugą stronĊ trzy dwadzieĞcia, to byáo okoáo szeĞciu kilometrów od miejsca zamieszkania, chodziliĞmy tam piechotą, taka ‚Ğciana páaczu‘ byáa, to tak mówiliĞmy ‚Ğciana páaczu‘, bo siĊ spotykali wszyscy obcokrajowcy, którzy nie mieli pracy i myĞmy teĪ tam stali.“ 40 Waldemar Biernacki: „Podjechaá Niemiec, zapytaá siĊ po niemiecku, czy my chcemy pracowaü. A myĞmy po niemiecku tyle umieli co „guten Tag“ i „heil Hitler“ [Ğmiech], bo to takie początki byáy, ja tam na kartce miaáem napisane, jak siĊ zapytaü o pracĊ i godziny, dni tygodnia to juĪ siĊ uczyáem w trakcie, no i my mówimy Īe TAK, Īe chcemy pracowaü.“

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überwog, und jeder Blick eines Polizisten oder Grenzbeamten Angst vor Kontrollen hervorrief: Andrzej Kozáowski: „Die Razzien auf der Baustelle waren schrecklich. Ein paar Bekannte wurden dabei erwischt. Sie wurden mitgenommen, bekamen das Bärchen41 in den Pass, Einreiseverbot für fünf Jahre. Überhaupt, in alle Länder [der EU], kein Thema mehr. Uns hat aber Gott sei Dank keiner erwischt. […] Dort [im Weinberg] haben wir eigentlich nicht lange gearbeitet, insgesamt dauerte die Weinernte etwa vier Wochen. Aber das war schon ziemlich viel, man konnte einiges verdienen!“42

Zeigte ein Arbeiter bei der Rückreise den polnischen Grenzbeamten seinen Pass mit dem Einreiseverbot der deutschen Behörden vor, so wurde das Missgeschick nur ironisch kommentiert: „Na, Jungs, kommt ihr von der Arbeit zurück zur Maloche?“43 Diese Bemerkung, mit der in einem Fall Rückkehrer empfangen wurden, zeigt die in Polen verbreitete Toleranz gegenüber dem Versuch, unter formal schwierigen Bedingungen einer Arbeit im Westen nachzugehen. Wer erfolgreich war, kehrte nach Deutschland zurück und half Verwandten und Bekannten bei ihren ersten Schritten im Ausland. Nicht immer war diese Hilfe selbstlos. In vielen Fällen wurden Telefonnummern potenzieller Arbeitgeber an unerfahrene Migranten „verkauft“. Verzweifelte Menschen ohne Arbeit waren jedoch bereit, diese Investitionen auf sich zu nehmen, um überhaupt einen Einstieg zu finden. Hatte man erst einmal für ein paar Tage Arbeit, so dachten viele, würden sich aus diesem Kontakt vielleicht auch weitere Arbeitsmöglichkeiten ergeben. Manch einer fiel aber auch Betrügern in die Hände und stand dann mit einer unbrauchbaren Telefonnummer in den Händen da oder erhielt für geleistete Arbeit keinen Lohn. Wer erfolglos war oder betrogen wurde, hatte bei seiner Rückkehr

41 Slangausdruck für den offiziellen Vermerk des Einreiseverbots nach Deutschland. 42 Andrzej Kozáowki: „Na budowie to áapanki byáy straszne. Tam wtedy kilku znajomych wáaĞnie záapali. Zabrali, dostali misia, zakaz wjazdu na 5 lat. W ogóle, do wszystkich krajów, zero tematu. Ale nas jakoĞ tam dziĊki Bogu nikt nie záapaá […] Tam [na winnicy] pracowaliĞmy w sumie niedáugo, bo to wyszáo jakieĞ cztery tygodnie tego winobrania. Ale to byáo dosyü sporo, moĪna byáo zarobiü.“ 43 „No, cháopcy, wracacie z pracy do roboty?“

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einen schweren Stand, da jede Reise ins Ausland von den Angehörigen als Garantie für materiellen Erfolg betrachtet wurde. Zudem hinderte das kulturell gefestigte Bild vom Mann als Familienernährer, der jede Situation meistert, die Männer daran, als „Verlierer“ nach Polen zurückzukehren. Bis heute gilt das Stereotyp, dass wer in Deutschland „sitzt“, nicht über Mangel klagen kann. Diese Chance ungenutzt zu lassen, wäre ein Zeichen für absolute Untüchtigkeit gewesen, hätte zum Gesprächsstoff unter Angehörigen und Nachbarn geführt und den Ruf nachhaltig geschädigt. Wegen fehlender sozialer und kultureller Ressourcen44 sind zahlreiche Migranten auf die Unterstützung durch andere angewiesen. Sprachliche Schwierigkeiten verhindern die eigenständige Suche nach einer qualifizierten Arbeitsmöglichkeit und sind mitverantwortlich für die Unkenntnis ihrer Rechte als Arbeitnehmer.45 Zudem finden sie sich in einem von Rivalitäten gekennzeichneten Arbeitsalltag wieder, bei dem jeder Saisonarbeiter des anderen Konkurrenten ist. Zusätzlich schränkte die begrenzte Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes legale Arbeitsmöglichkeiten für Polen ein. Viele Gründe veranlassten einen Wanderarbeiter dazu, aus jedem Aufenthalt wie aus einer Zitrone finanziell alles herauszupressen. Dahinter stand auch die Befürchtung, es gäbe eventuell keine zweite Chance, in Deutschland Geld zu verdienen. Zudem beeinflusste der Charakter der Tagelöhnerarbeit in unsicheren Verhältnissen die Beziehungen zwischen den Arbeitern. Ständig war man auf der Suche, musste man als erster vor den Konkurrenten vor Ort sein. Viele hatten wochenlang keine Beschäftigung und wussten dann nicht, wie es weitergehen soll. Vor diesem Hintergrund bot vor allem die Arbeit in der Landwirtschaft einen Nährboden für das Entstehen von Rivalitäten, denn dort gibt es während der Erntezeit einen großen Arbeitskräftebedarf. Gearbeitet wird meistens im Akkord, wodurch die Konkurrenz unter Saisonarbeitern verstärkt wird. Es gibt Personen, die skrupellos ihre Kollegen ausbeuten, indem sie beispielsweise deren Kisten mit gepflückten Erdbeeren als eigene Leistung abrechnen lassen. Vielerorts zerbrachen während der „Sachsengängerei“ Freundschaften, und solidarisches Verhalten wurde auf eine harte Probe gestellt. Man wetteiferte nicht

44 Im Sinne von Bourdieu handelt es sich um soziales und kulturelles Kapital. 45 Hilfe bietet der Europäische Verein für Wanderarbeiterfragen, dessen Internetseite Informationen auf Deutsch, Polnisch und Englisch enthält: http://www. emwu.org/polnisch/polnisch.htm vom 09.04.2013.

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nur um die Ernte und höhere Löhne, sondern auch um das Wohlwollen des Arbeitgebers. Motivierend war dabei die Befürchtung der Saisonarbeiter, der Unternehmer könnte im folgenden Jahr andere Arbeitskräfte einstellen.46 Da für viele Wanderarbeiter die Beschäftigung in Deutschland die einzige oder doch zumindest die wichtigste Quelle für das familiäre Haushaltseinkommen bildete, sind diese Befürchtungen nachvollziehbar.

46 Tatsächlich handelt es sich hier um eine Befürchtung innerhalb der Gruppe der polnischen Saisonarbeiter. Die deutschen Landwirte haben hingegen ein starkes Interesse, einen festen Stamm an Saisonkräften aufzubauen, auf die sie sich auch in den folgenden Jahren verlassen können.

Polen und Deutsche – idealisiert und diskriminiert „Nüchtern kann man nicht aus Polen nach Deutschland kommen. Machen wir uns da nichts vor. Da ist immerhin ein Trauma. Es betrifft Spargelzuchtspezialisten und Schriftsteller gleichermaßen. Man kann nicht einfach mal locker nach Deutschland fahren. So wie zum Beispiel nach Monaco, Portugal oder nach Ungarn. Nach Deutschland fahren, das ist Psychoanalyse.“ ANDRZEJ STASIUK: DOJCZLAND1

Jan Budzowski war noch in den 1980er Jahren davon überzeugt, niemals nach Deutschland zu fahren. Der Grund waren die Erlebnisse seines Vaters während des Zweiten Weltkrieges. Dieser war zwar von dem deutschen Bauern, bei dem er als Zwangsarbeiter einquartiert war, korrekt behandelt worden, doch nach dem großen Angriff auf Dresden musste Jans Vater zwischen Toten und Leichenteilen die Trümmer aufräumen. Bis an sein Lebensende verfolgten ihn die Erinnerungen in seinen Träumen. Erst Anfang des neuen Jahrtausends, fast 20 Jahre nach dem Tod seines Vaters, begann Jan in Deutschland zu arbeiten. Seitdem fährt er regelmäßig für einige Wochen nach Süddeutschland. Mit seinem Arbeitgeber pflegt er mittlerweile einen freundschaftlichen Kontakt.

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Stasiuk 2008: 25.

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Gleichwohl verbinden Polen mit Deutschland weiterhin die leidvollen historischen Erfahrungen. Zugleich ist das Bild der fleißigen, umsichtigen und gut organisierten Deutschen weit verbreitet. Beide Aspekte bilden die konträren Seiten eines idealisierten und verfemten Bildes von Deutschland und den Deutschen. Schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg gehörten Berichte polnischer „Sachsengänger“ über die wohlhabenden Bürger des Nachbarlandes zum Standardrepertoire. Wohlstand ist in dieser Perspektive das Ergebnis von Fleiß und guter Organisation. Obwohl auch die DDR ein wirtschaftlich entwickeltes Land war, galt in der Volksrepublik Polen nur die Bundesrepublik als wohlhabend. Sie verkörperte den mythischen Westen mit Demokratie, einer kapitalistischen Wirtschaftsform und einem beneidenswerten System sozialer Absicherungen. Bis heute bevorzugen viele Polen Produkte aus dem westlichen Nachbarland aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen besseren Qualität, wie z.B. Justyna Grabowska: „Ja, als ich noch ein Kind war, herrschte bei uns die Überzeugung, wenn beispielsweise Sachen aus Deutschland mitgebracht wurden, also Elektrogeräte oder anderes, dass sie gut und haltbar sind. Anscheinend ist das unbewusst so [Lachen] innerlich kodiert worden.“2 Während Politiker die offenen Grenzen Europas als Ausdruck eines Abbaus der Stereotype zwischen den Völkern feiern, stellt sich die Frage nach den konkreten Erfahrungen. Umfragen bestätigen zwar das allmähliche Verschwinden negativer Stereotype, jedoch haben Wanderarbeiter nur sehr begrenzt Kontakt mit ihrem deutschen Umfeld. Untersuchungen des Warschauer Instytut Spraw Publicznych (Institut für Öffentliche Angelegenheiten) von 2001 und 2006 sowie Ergebnisse polnischer Meinungsforscher zeigen ein sich sukzessive verbesserndes Verhältnis der Polen zu den Deutschen. Mit steigender Häufigkeit besuchen Polen das Land jenseits der Oder nicht nur als Arbeitssuchende, sondern auch als Studierende und selbst als Touristen. Diese statistischen Befunde möchten wir durch das Prisma spezifischer Erfahrungen beleuchten, die Wanderarbeiter in der deutschen Landwirtschaft, als Haushaltshilfen, Raumpflegerinnen oder in der häuslichen Pflege gemacht haben. Dabei können nur wenige Wanderar-

2

Justyna Grabowska: „No, ale, no takie przekonanie byáo u nas, jak ja byáam dzieckiem, Īe na przykáad, jak z Niemiec siĊ przywoziáo sprzĊt, jakiĞ ten elektryczny, czy cos, to Īe to byáo dobre, trwaáe i tak chyba gdzieĞ tam podĞwiadomie [Ğmiech] zakodowane jest.“

POLEN

UND

D EUTSCHE

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beiter etwas über die Deutschen anhand eigener Erfahrungen sagen. In der Regel entsteht ihr Deutschlandbild durch Beobachtungen auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen und anlässlich von Feiertagen und Festen. Intensivere Kontakte zu Deutschen haben Personen, die in kleinen Familienunternehmen beschäftigt sind. In großen Firmen dagegen begegnet man dem deutschen Arbeitgeber nur bei der Auszahlung der Löhne oder sieht ihn aus der Ferne auf dem Feld. Wenn eine Polin als Haushaltshilfe auf einem Hof beschäftigt wird, eröffnet sich ein Blick in den Alltag der bäuerlichen Familie. Aus ihren Erzählungen erfahren dann die Arbeitskollegen etwas über Familienbräuche, die Kindererziehung und die häusliche Ordnung oder das mehr oder weniger harmonische Eheleben: Monika Olszewska: „Die Bäuerin hatte auch eine Polin, die ihr im Haushalt half, bei den Kindern, beim Putzen. Sie hatte immerhin vier Kinder. Das hat aber nichts geholfen, denn das war eine schreckliche Sauerei. Bei der Oma und beim Chef, denn es waren zwei Haushalte. Eine Hölle, ich weiß nicht, warum es bei den Deutschen so eine Unordnung gibt, es war eine Hölle. […] Ich bin einfach zu dem Schluss gekommen, dass die Deutschen …, nun, dass sie nicht sauber sind.“3

Monika Olszewska wunderte sich über den Widerspruch zwischen dem Alltag einer konkreten Familie und ihren stereotypen Bildern deutscher Ordnung. Dabei handelt es sich um eine weitverbreitete Erfahrung polnischer Hausangestellten, auf deren Spuren man immer wieder bei Gesprächen mit Polen gestoßen wird. Die Bücher von Justyna Polanska beispielsweise kultivieren diesen Widerspruch zwischen der Realität, wie sie eine polnische Putzfrau erlebt, und der sprichwörtlichen deutschen Ordnung.4 Widersprüche zwischen Stereotyp und persönlicher Erfahrung rufen ein Unbehagen hervor, und man sucht nach einer Lösung. Ein offensichtlicher Ausweg würde darin bestehen, das Stereotyp dahingehend aufzulösen, dass

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Monika Olszewska: „Oni mieli teĪ jedną PolkĊ, która im pomagaáa w domu [u pracodawcy], przy dzieciach, sprzątaáa. No bo to byáo czworo dzieci. Ale to nic nie dawaáo, bo tam byá okropny syf. I tam tej jego babci i u tego szefa, bo to byáy dwa domy i masakra, nie wiem czemu u Niemców jest taki baáagan, a tam byáa masakra.[…] Ja po prostu doszáam do wniosku, Īe Niemcy są … no, Īe nie są czyĞci.“

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Polanska 2011 und 2012.

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sich deutsche und polnische Familien hinsichtlich der im Haushalt herrschenden Ordnung eben nicht unterscheiden. Wie hartnäckig jedoch Stereotype verteidigt werden, zeigt sich in einer oft anzutreffenden Reaktion der Wanderarbeiter. Ihrer Ansicht nach gibt es in Deutschland einen Werteunterschied zwischen den Generationen. Demnach trifft man bei den über Fünfzigjährigen noch auf die alten Werte von Ordnung und Sauberkeit, verbunden mit einem hohen Arbeitsethos, hingegen sie bei den Jüngeren in Vergessenheit geraten sind. So wird die Alltagserfahrung polnischer Wanderarbeiter, dass in der Landwirtschaft keine deutschen Staatsbürger als Erntehelfer anzutreffen sind, mit der angeblichen Arbeitsunlust der jüngeren Generation erklärt. Adam SkórzyĔski berichtete dazu aus seiner Erfahrung: „Der Chef bemüht sich, in Ordnung zu sein, denn er weiß, wenn was falsch läuft, dann hat er niemanden, der ihm die Arbeit macht, nicht wahr? Er wird sich doch nicht an einen Deutschen wenden, ihn einstellen. Der würde doch nicht aufs Feld gehen, und das noch für dieses Geld. Er würde einfach nicht gehen, und die Jungen haben überhaupt keine Lust mehr zu arbeiten.“5

Die Beschäftigung der polnischen Arbeiter während der Erntezeit belegt in ihren Augen den mangelnden Fleiß und Arbeitseifer der Deutschen. Ausgeblendet wird dabei der wirtschaftliche Zusammenhang eines Kaufkraftgewinns durch den Transfer des Lohns in die Heimat der polnischen Arbeiter. Gelöst wird das Problem mit einem weiteren Vorurteil. Demnach hat das deutsche System der Sozialhilfe weite Teile der Bevölkerung dahingehend „verdorben“, dass sie keine Veranlassung mehr sehen, eine Arbeit aufzunehmen. Hier liegen vielleicht auch Ursachen für die Einschätzung des Instituts für Öffentliche Angelegenheiten, wonach immer weniger Polen die Deutschen als fleißig beschreiben: Karol WiĞniak: „Die Jungen sind manchmal etwas hochnäsig, aber sie sind auch faul, von einer schwierigeren und komplizierteren Arbeit lassen sie lieber die Finger.

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Adam SkórzyĔski: „Szefostwo stara siĊ byü w porządku, bo wie, Īe jak coĞ nie tak, to kto mu zrobi, nie? przecieĪ nie pójdzie do Niemca, nie zatrudni go. No bo na pole nie bardzo pójdzie i za takie pieniądze. Bo nie pójdzie, a máodym to juĪ w ogóle siĊ nie chce pracowaü.“

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Die Familien sind nach dem Krieg zu etwas gekommen, und man schickte die Kinder zur Schule. Und wer nichts gelernt hatte, wurde trotzdem vom Staat unterhalten. […] Aber jetzt ist es hart, denn auch dort wimmelt es ja von Magistern verschiedener Couleur, dafür fehlt es an Ingenieuren. Es gibt niemanden, der im Feld arbeiten würde […], und Wohlstand verwöhnt“.6

Die Etablierung des Vorurteils der von Wohlstand und sozialer Sicherung verwöhnten Deutschen, deren Arbeit jetzt von tatkräftigen Polen übernommen wird, erfüllt zugleich noch weitere Funktionen. Hier wird womöglich eine Argumentation konstruiert, um die Enttäuschung über die deutlich schlechtere soziale Sicherung in Polen zu dämpfen. Soziale Sicherung erscheint in dieser Perspektive auch eine negative Komponente zu besitzen und ist demnach nicht so erstrebenswert. Im gleichen Atemzug wird damit aber auch die polnische Leistungsfähigkeit hervorgehoben und mit einer Steigerung des Selbstbewusstseins verbunden.7 Immer wieder betonen Wanderarbeiter den Fleiß und die Zielstrebigkeit ihrer Landsleute, sodass man in manchen Erzählungen den Eindruck bekommt, die Saisonkräfte empfinden sich bezüglich ihrer Arbeitsleistung als die besseren Deutschen. In einer Mischung aus Nationalstolz und Verbitterung über die wenig gewürdigte Arbeit polnischer Wanderarbeiter betont Adam Michalski die Leistung seiner Kollegen auf deutschen Plantagen: „Die wären doch völlig aufgeschmissen, sie würden jammern, wenn die Leute eine Saison lang nicht zur Arbeit kämen. Wir stützen ihre Landwirtschaft.“8

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Jakub WiĞniak: „Niektórzy máodzi są zarozumiali troszeczkĊ, ale po prostu są teĪ leniwi, trudniejszej i skomplikowanej pracy nie chcą siĊ chwytaü. Bardzo wáaĞnie rodziny siĊ dorobiáy w latach po wojnie, no i dziatwĊ tą do szkoáy sáano, a kto siĊ nie uczyá to i tak miaá utrzymanie od paĔstwa. […] Ale teraz jest ciĊĪko, bo tam równieĪ masĊ magistrów roĪnej maĞci, a nie ma inĪynierów na przykáad, nie ma do pola komu iĞü […], a dobrobyt rozpieszcza.”

7

Wenn in polnischen Kneipen die Bundesligaspiele verfolgt werden, fachsimpeln die Zuschauer über die Leistungsfähigkeit und Bedeutung der Fußballer mit polnischen Namen und polnischer Abstammung für den Tabellenstand. Die Fußballspieler sind dann praktisch der hoch bezahlte Beleg für die Abhängigkeit der Deutschen von der polnischen Arbeitskraft.

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Adam Michalski: „PrzecieĪ oni by przepadli z kretesem, oni by páakali, gdyby jeden sezon ludzie nie wyjechali do pracy. My utrzymujemy ich rolnictwo.“

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Was hier von den Wanderarbeitern als Generationenkonflikt beschrieben wird, beschränkt sich nicht auf eine distanzierte Beobachtung, sondern wirkt sich konkret auf ihr Verhältnis zu den deutschen Arbeitgebern aus. Grzegorz Kozáowski arbeitet schon seit mehreren Jahren regelmäßig bei einem Landwirt und vergleicht dessen Umgangsweise mit seinem Nachfolger: Grzegorz Kozáowski: „Diese jungen Deutschen sind nicht gut, mit dem Alten konnte man sich verständigen. Die Jungen rufen nur: ‚Schneller, schneller!‘ Es kam sogar vor, dass sie gelacht haben und meinten, wir seien eine ‚polnische Maschine‘ [im Original auf Deutsch], dass sie nichts mehr tun müssen. Manchmal tat es einem schon weh.“9

Mit dem Generationenwechsel und steigendem wirtschaftlichem Druck verändert sich die Beziehung zwischen Arbeitgeber und den Erntehelfern. Persönlicher Umgang wird zunehmend durch eine sachbezogene Ebene ersetzt, bei der die Arbeitsleistung zum alleinigen Kriterium wird. Die Häufigkeit dieser Klagen deutet darauf hin, dass es sich nicht nur um Einzelfälle aufgrund individuellen Verhaltens handelt, sondern hier ein gesellschaftlicher Wandel deutlich wird. Mit der Übernahme der Höfe durch die Generation der Hoferben erfolgt eine Anpassung an veränderte wirtschaftliche Bedingungen. Im Zuge eines gewachsenen Konkurrenzdrucks vergrößern die Betriebe ihre Anbauflächen, spezialisieren sich auf einzelne Produkte und modernisieren kontinuierlich ihre technische Ausstattung. Als Folge dieses Industrialisierungsprozesses werden auch in der Landwirtschaft die sozialen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern zunehmend formalisiert. Neben diesen kritischen Anmerkungen betonen die Wanderarbeiter in der Regel das gute Verhältnis zu ihren Arbeitgebern. Besonders in kleinen Betrieben entwickelt sich leicht ein Vertrauensverhältnis zu der Eigentümerfamilie. Vereinzelt kommt es sogar zum Besuch der deutschen Familie bei ihren Mitarbeitern in Polen. Sicherlich handelt es sich bei so engen

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Grzegorz Kozáowski: „Ci máodzi Niemcy to nie są dobrzy, stary to … ze starym to siĊ czáowiek dogadaá, a máodzi to tylko pokrzykują: ‚Szybciej, szybciej!‘ A jeszcze siĊ zdarzyáo, Īe siĊ Ğmiali, Īe my to jesteĞmy ‚polnische Maschine‘, Īe oni to juĪ nic nie muszą robiü, to siĊ tak czasem przykro robiáo.“

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Kontakten um Einzelfälle, jedoch berichten Erntehelfer überwiegend von einer freundlichen und offenen Haltung der Deutschen ihnen gegenüber. Joanna und Edward BroĪek arbeiten beide seit über zehn Jahren bei deutschen Landwirten. Ihre Erfahrungen mit der deutschen Gesellschaft reduzieren sich, wie bei der Mehrheit der Wanderarbeiter, schon allein aufgrund fehlender Sprachkenntnisse und mangelnder freier Zeit auf Beobachtungen. Ihren Arbeitsort erleben sie als ausgesprochen ruhig, fast ohne Lebenszeichen: „Kein kläffender Hund ist im Dorf zu hören.“ Und Joanna ergänzt: „Nur am Wochenende gehen sie mit den Hunden spazieren.“10 Es sei eben, so erklären sie die Differenz, eine andere Kultur und sie könnten dort zwar gut arbeiten, sich aber nicht vorstellen, in dem Ort zu leben. In den Attributen von dörflicher Ruhe und dem sonntäglichen Spaziergang wird der Topos deutscher Ordnung aufgegriffen und zugleich kritisch kommentiert. Der beschriebenen Ordnung fehlt die Lebendigkeit, denn in den Dörfern sieht man kaum einmal einen Menschen, und Kinder fehlen gänzlich im Ortsbild. Man steht dieser „Kultur“ distanziert gegenüber, erlebt aber zugleich freundliche Reaktionen der sonntäglichen Spaziergänger, wenn diese die Erntehelfer auf den Feldern sehen, wie Edward BroĪek konstatiert: „Und das Wohlwollen der Deutschen uns gegenüber. Jeder winkt, lächelt und versucht [etwas über] das Wetter zu sagen oder ‚hallo‘ oder so. Das ist so nett. Bei uns gibt es das nicht.“11 Szymon Bulczak arbeitet den größeren Teil des Jahres in Deutschland und betont die Vorteile des deutschen Sozialsystems, bei dem er zwar monatlich relativ viel bezahlen muss, zugleich aber auch eine entsprechende Absicherung erhält. Hervorgehoben wird von ihm die Gleichbehandlung aller Versicherten, hingegen man, nach seiner Erfahrung, für eine ärztliche Behandlung in Polen privat bezahlen muss.12 Überhaupt wird die Lebens-

10 Edward BroĪek: „Wioska, a ja nie sáyszaáem tam szczekającego psa. Joanna: A, to tylko z pieskami wychodzą na spacery w wekeendy.“ 11 Edward BroĪek: „I ĪyczliwoĞü tych Niemców do nas. KaĪdy machnie, spróbuje, uĞmiechnie siĊ, pogada, czy ‚czeĞü‘ czy tam. To jest takie fajne. U nas tego nie ma.“ 12 Tatsächlich spricht er hier die verbreitete Korruption des polnischen Gesundheitssystems an. Immer wieder wird man in den Gesprächen damit konfrontiert, dass sowohl überlange Wartezeiten (in manchen Fällen warten Patienten mona-

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qualität der deutschen Gesellschaft hervorgehoben. Jan Budzowska arbeitet regelmäßig in den Sommermonaten für einen kleinen Forstbetrieb. Im Verlauf der Jahre sind seine Kollegen ein fester Teil der dörflichen Gesellschaft geworden, die bei Festen eingeladen werden: „Die Leute verstehen es, etwas gemeinsam zu machen. Sie machen schöne Feste, bei denen jeder zufrieden ist … [Lachen] … sie sind selbstkritisch. Aber in Polen fragt man, was habe ich davon?“13 Neben den überwiegend positiven Erfahrungen polnischer Wanderarbeiter werden uns auch Erlebnisse von Beleidigungen, Diskriminierungen und Misstrauen geschildert. Zu den negativen Erfahrungen gehört, dass eine polnische Unterhaltung in einem deutschen Laden das Misstrauen von Warenhausdetektiven wecken kann, ebenso wie Beleidigungen auf offener Straße durch unbekannte Passanten. Raumpflegerinnen werden von ihren Arbeitgebern anscheinend auch gerne auf ihre Zuverlässigkeit hin geprüft, indem ein wie verloren wirkender Geldschein hinterlegt wird.14 Vielleicht wurde er tatsächlich verloren, doch die Frauen erleben dies als eine Prüfung. Auch in Dörfern, in denen Saisonarbeiter untergebracht werden, erzählt man uns, dass nach ihrer Abreise immer wieder „Kleinigkeiten“ aus Hof und Scheune „verschwunden“ wären. Ein Grund für dieses Narrativ sind neben vereinzelten Vorfällen auch negative Erfahrungen von Landwirten. Werden Gruppen von mehreren Hundert Erntehelfern untergebracht, so kommt es anscheinend immer wieder zu dem Phänomen, dass Einrichtungsgegenstände der Unterkünfte beschädigt oder entwendet werden. Gerd Ernst hatte Anfang der 1990er Jahre für seine zweihundert Saisonarbeiter eine Unterkunft bauen lassen. Heute sagt er, es hätte sich nicht gelohnt, da zu viel Vandalismus aufgetreten sei. Verstärkt wird das Phänomen durch große Gruppen, die relativ anonym untergebracht werden. Im Allgemeinen sprechen die Einwohner deutscher Dörfer aber positiv von „ihren“ polnischen Saisonarbeitern. Hervorgehoben werden immer

telang auf eine notwendige Untersuchung) oder eine qualitativ bessere Versorgung nur über hohe Schmiergelder erreicht werden. 13 Jan Budzowska: „Tam ludzie siĊ potrafią zebraü, zrobiü, piĊknie pobawiü, kaĪdy bĊdzie, bĊdzie zadowolony … [Ğmiech] … robiĊ samokrytykĊ. A w Polsce siĊ po prostu pytają a co ja z tego bĊdĊ miaá?“ 14 Polanska 2011: 187ff. Auch unsere Interviewpartnerin Justyna Grabowska berichtete vergleichbare Erlebnisse aus ihrem Alltag als Reinigungskraft in Berlin.

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wieder deren umfangreiche handwerklichen Kenntnisse. Diese Wertschätzung der Fähigkeiten wird deutlich, wenn Einwohner wie Gisela Berghold sich lobend über einen Arbeiter äußern, z.B. über „Marek aus Masuren“: „Also er kommt dann auch für ein paar Wochen immer hier wieder her. Und dann ist er hier in drei, vier Gärten zugange. Macht alles wieder auf Vordermann. Hauptsächlich bei Älteren, die es ja nicht mehr so gut können. Tja, Fenster streichen kann er. Kleine Maurerarbeiten, Pflasterarbeiten kann er machen. Ja, Spargel stechen sowieso, aber das macht er ja jetzt schon gar nicht mehr, weil er teilweise immer so viele andere Sachen zu erledigen hat. Und ist gelernter Schlachter. Hat drüben auch in Polen eine eigene Schlachterei. Da fährt er dann hin und macht eben Hausschlachtung mit seiner Frau zusammen. Und wenn da dann wieder ein bisschen Pause ist, dann kommt er hier wieder her.“

Polnischen Wanderarbeitern eilt der Ruf voraus, flexibel und belastbar zu sein. Anscheinend gibt es im dörflichen Umfeld kaum eine Aufgabe, die von ihnen nicht gelöst werden kann. Neben der Geschicklichkeit betont man vor allem deren körperliche Leistungsfähigkeit. Polen, so erklären Arnswalder, seien eben noch nicht so vom Wohlstand verwöhnt. Ihnen fällt die anstrengende Arbeit auf den Feldern daher nicht so schwer, wie es vergleichsweise bei Deutschen der Fall wäre.15 Jedoch meint man auch bei den polnischen Arbeitern einen Wandel beobachten zu können, der sich im Verhalten der Generationen äußert. Jüngere Polen werden von den Landwirten nicht gerne eingestellt, da deren Leistungsbereitschaft deutlich gesunken wäre. Hier wird spiegelbildlich die Kritik der polnischen Erntehelfer an den jüngeren deutschen Landwirten aufgegriffen. Es ist kaum verwunderlich, wenn mit steigendem Wohlstand in Polen dort die Bereitschaft sinkt, Arbeiten mit schlechter Entlohnung und niedrigem sozialem Prestige auszuführen. Immer wieder urteilen die Wanderarbeiter aber auch kritisch über ihre Kollegen, denen sie die Schuld an einem negativen Polenbild der Deutschen zuschreiben. Agata Ritter kam schon vor über zehn Jahren nach Arnswald und arbeitet im Büro eines landwirtschaftlichen Betriebes. Bei Konflikten übernimmt sie die Aufgabe einer Dolmetscherin. Bei den reinen

15 Dieser Perspektive ist durchaus auch eine patriarchalische Sichtweise eigen, bei der der Bürger eines wohlhabenden Landes auf die ärmeren Nachbarn blickt.

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Männergruppen spielt Alkohol, wie sie sagt, in der knapp bemessenen Freizeit eine wichtige Rolle: Monika Ostrowska: „Ich wundere mich über die Deutschen überhaupt nicht, dass sie danach die Polen schlecht behandeln und sich fürchten, von ihnen bestohlen zu werden, wenn es Menschen gibt, wie diejenigen, die ich gesehen habe. Ich habe keine schlechten Erinnerungen an die Deutschen. Bei der Arbeit muss man sich bekanntlich anstrengen. Denn warum sollten sich die Deutschen den Polen gegenüber nicht unangenehm benehmen, wenn sie trinken, keine Lust auf Arbeit haben oder schlecht arbeiten? Ich war mehrmals da und habe gesehen, wie sich Polen bei der Arbeit hervortun können, das tat weh. […] Ich zum Beispiel habe ausgezeichnete Erinnerungen an die Deutschen, ich hatte dort überhaupt gar keine Probleme, wie gesagt, vielleicht hatte dort manch einer Probleme, schuld daran sind aber die Polen.“16

Monika Ostrowska distanziert sich von ihren Landsleuten und wertet sich auf diesem Wege symbolisch als „normale und fleißige“ Polin auf. Häufig spricht sie mit Bewunderung davon, wie gut in Deutschland alles organisiert werde und wie groß die Ordnung am Arbeitsplatz und im täglichen Leben sei, das sie außerhalb ihres Arbeitsplatzes beobachten konnte. Man kann es so beschreiben, dass ein Stück der positiven Stereotype auch auf sie abfärbt. Die Stereotype über Deutschland erfüllen in diesem Moment für die polnische Arbeiterin die Aufgabe der Distinktion. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk schreibt zu diesem Verhalten: „Meine Bekannten sprachen bewundernd von der reibungslosen Zivilisation, von der Lebensqualität, aber daraus ging nicht hervor, dass diese Reibungslosigkeit und diese Qualität das Werk von Menschen, also eben dieser Deutschen, war. Manchmal

16 Monika Ostrowska: „Ja w ogóle siĊ nie dziwiĊ Niemcom, jeĞli tacy siĊ ludzie trafiają jakich ja widziaáam, Īe oni potem Ĩle traktują Polaka, Īe oni siĊ go boją, Īe moĪe okradnie. Ja nie wspominam Ĩle Niemców, praca jak praca, wiadomo, Īe trzeba byáo pracowaü. No bo z czego Niemcy są nieprzyjemni do Polaków, jak oni piją, nie chce siĊ robiü, Ĩle wykonują prace. Ja jeĨdziáam i ja widziaáam jak potrafią Polacy siĊ wykazywaü w pracy, to byáo przykre patrzeü. […] Ja na przykáad Ğwietnie Niemców wspominam, ja nie miaáam tam Īadnych problemów, mówiĊ jak moĪe miaá ktoĞ tam problem, ale to jest wina Polaków.“

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hatte ich den Eindruck, sie führen in ein angenehmes [...] bequemes Land, das ein bisschen entvölkert war. Und außer meinen Bekannten lebte niemand dort.“17

„Mir gefällt Deutschland als Land, was es dort für eine Ordnung gibt! Mir gefallen sie“18, sagte Jadwiga Koáodziej, obwohl sie Deutsche nie persönlich kennengelernt hat, da sie kein Deutsch spricht. Andrzej Stasiuk bemerkt dazu, man könne ein Land auch ohne Kontakte zu seinen Bewohnern mögen, so als wären sie abwesend. Denn in der Tat, im Leben der Saisonarbeiter werden nicht die Bewohner Deutschlands wahrgenommen. Registriert werden stattdessen saubere Straßen, gerade Gehwege, gepflegte Beete, blühende Blumen in den Vorgärten und Autofahrer, die vor dem Zebrastreifen anhalten. Auf diese Grundlage projizieren sie dann ihren „typischen“ Deutschen: Adam Michalski: „Sie [die deutsche Landschaft] passte gerade zu den Menschen, eine so raue, ernste Landschaft, denn das sind auch keine besonders fröhlichen Menschen, die lachen würden, mit Phantasie. […] Das ist ein Volk, wo alles nach Richtlinien läuft. Wie es amtlich geplant ist, so soll es dann auch sein, diese ihre Ordnung und so weiter. Und daran halten sie sich, sie kennen gar keinen Spaß.“19

Man kann diese Beschreibung insoweit verallgemeinern, als die alten Stereotype weiterhin lebendig sind. Polen und Deutsche nehmen sich nach wie vor in diesen Klischees wahr, auch wenn parallel dazu realistische Einschätzungen zugenommen haben. Nicht zuletzt finden sich diese stereotypen Wahrnehmungen in einer Anzahl von Büchern wieder, deren Popularität Vorurteile bestätigt, selbst wenn sie vorgeben, Klischees auf humorvolle

17 Stasiuk 2008: 27. 18 Jadwiga Koáodziej: „Mnie siĊ Niemcy podobają jako kraj, jaki tam jest porządek! Mnie siĊ oni podobają.“ 19 Adam Michalski: „On pasowaá do tych ludzi akurat, taki surowy, powaĪny krajobraz, bo to teĪ nie są ludzie tacy weseli, to nie są ludzie tacy rozeĞmiani, z taką fantazją, to jest jednak taki naród, Īe wszystko jest wedáug wytycznych, tak jak jest urzĊdowo, jest w planie tak i ma byü, ten ich ordnung i tak dalej i oni siĊ tego trzymają, no na Īartach w ogóle siĊ nie znają.“

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Weise zu karikieren.20 Damit spiegeln sie unbeabsichtigt die Sichtweise der Wanderarbeiter auf das Nachbarland. Auf dem Weg zu einer realistischen Beurteilung ist weder die eingeschränkte Perspektive der Wanderarbeiter noch die literarische Tradierung von Klischees hilfreich. Zudem hat man den Eindruck, dass eine gewisse Gedankenlosigkeit im Umgang mit der deutsch-polnischen Geschichte herrscht. Einige Polen haben sich im Laufe der Jahre in Arnswald angesiedelt und erleben Deutsche und Polen aus der Perspektive ihrer veränderten Lebenssituation. Agata Ritter und Hanna Malic kamen zunächst als temporäre Arbeiterinnen nach Arnswald. Ihre Perspektive auf Deutsche und Polen ergänzt noch einmal den Eindruck der Wanderarbeiter. Hanna Malic lebt schon seit 20 Jahren gemeinsam mit ihrer Tochter Ewa in Arnswald. Ewa ist seit dem Kindergartenalter in Arnswald aufgewachsen, nur in den Ferien besuchen sie Verwandte in Polen. In den ersten Schuljahren wurde sie immer wieder von ihren Mitschülern gehänselt, die Polen nur als Erntehelfer kannten und daher automatisch annahmen, dass auch ihre Mutter als Saisonarbeiterin in Deutschland wäre. Neben diesen diskriminierenden Erfahrungen fällt Agata Ritter, die in Arnswald mit ihrem deutschen Ehemann und einem gemeinsamen Kind lebt, vor allem eine übertriebene Korrektheit ihrer deutschen Umgebung auf. Vor allem leidet sie unter der sozialen Kontrolle ihrer Nachbarn. Von denen, so schildert sie ihren Eindruck, wird sie schon kritisch angesehen, wenn das Rollo des Schlafzimmerfensters erst am späten Vormittag geöffnet wird: „Es gab auch in Polen Riten, es muss Riten geben, um zu existieren, aber nicht so. Die Leute gehen mit sich hier, hab ich manchmal das Gefühl, sehr streng um.“

20 Zu dieser Literatur gehören in Deutschland die Bücher von Justyna Polanska (2011 und 2012), in denen sie ihre Erlebnisse als polnische Putzfrau in Deutschland beschreibt. Außerdem Steffen Möller, der in Polen zwar mehr Bekanntheit als in Deutschland hat, aber gleichwohl auf der Welle polnisch-deutscher Klischees reitet (2009). Während Möller sich noch bemüht, das Spiel mit den Vorurteilen in einen humoresken Mantel zu kleiden, kolportiert Tobias Lehmkuhl in seinem Reisebericht über Masuren einfach die stereotypen Beschreibungen von Land und Leuten (2012).

Rudnica – Heimat polnischer Wanderarbeiter

Zum besseren Verständnis der motivierenden Faktoren der polnischen Saisonarbeiter ist es notwendig, die wirtschaftliche Situation in ihrer Heimat näher zu betrachten. Am Beispiel des niederschlesischen Dorfes Rudnica1, in dem ein Teil der Forschungen auf polnischer Seite stattfand, wollen wir einen Einblick in ihre Lebensbedingungen geben. Auf Landkarten erscheint Rudnica als eine Ansammlung von einigen Häusern entlang der Kreuzung zweier Landstraßen in Niederschlesien. Nur anhand weniger Spuren lässt sich erahnen, welch beträchtlichen Umfang das Dorf einst hatte. Obwohl am Ende des Zweiten Weltkrieges in dieser Region keine Kampfhandlungen stattfanden, und die Rote Armee erst, nachdem die Front bereits Berlin erreicht hatte, in Rudnica einmarschierte, hat sich das Dorf wirtschaftlich und demografisch seitdem nicht wieder erholt.2 An zentraler Stelle des Dorfes springt dem Besucher die Ruine eines Gutshauses ins Auge. Einst bemühten sich die Erbauer ihre wirtschaftliche Stärke zu präsentieren, indem sie ihrem Wohnhaus die Größe eines Schlosses gaben. Von der herrschaftlichen Pracht zeugt nur noch ein Gebäude,

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Alle Orts- und Personennamen sind anonymisiert.

2

Die Aussiedlung der deutschen Einwohner erfolgte erst im Sommer 1946. Nur wenige deutsche Einwohner mussten bzw. konnten in Rudnica bleiben. Ihnen wurde die Umsiedlung nach Deutschland erst ungefähr zehn Jahre später genehmigt. Die ersten polnischen Siedler aus Zentralpolen und den südlich von Warschau gelegenen Regionen ließen sich bereits im Herbst 1945 in Rudnica nieder.

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dessen Außenwände eingestürzte Decken und Treppen umschließen. Die hinter der Schlossruine liegenden Wirtschaftsgebäude lassen noch die Betriebsamkeit früherer Zeiten ahnen, doch auch hier schreitet der Zerfall sichtbar voran. An der Kreuzung steht unbeachtet ein Stein zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. In einer Bar versuchen am frühen Morgen die immer gleichen Gäste, ihre Perspektivlosigkeit mit einem ersten oder zweiten Bier zu bekämpfen. Im Nachbarraum bietet ein Geschäft die notwendigsten Güter an. Geht man durch das Dorf, so fallen neben zusammengefallenen Ruinen und Häusern, die mit einfachen Hilfsmitteln notdürftig repariert wurden, schmucke Einfamilienhäuser auf. In der ganzen Region trifft man auf diese zweigeteilte Baustruktur. Die verfallenen Häuser sind die Überbleibsel einer dauerhaften Abwanderung in wirtschaftlich florierende polnische Regionen oder ins Ausland. Wer als Wanderarbeiter seit Jahren erfolgreich zwischen Rudnica und den westlichen Nachbarländern pendelt, zeigt seinen Wohlstand in einem Neubau oder in einem von Grund auf sanierten Haus. Neben Deutschland sind vor allem Großbritannien und Irland bevorzugte Zielländer. In den abgewohnten Häusern hingegen wohnen diejenigen Dorfbewohner, die keine Beziehungen haben, um eine Arbeit im Ausland zu finden, oder durch Alter, Krankheit und andere Probleme an ihren Heimatort gebunden sind. Die wenigen kleinen landwirtschaftlichen Betriebe spielen in Rudnica keine Rolle mehr, da sie selbst die Haushalte der Besitzer nur auf niedrigstem Niveau sichern. Arbeitsplätze werden immer nur als Tagelöhnertätigkeit angeboten und sind zudem meist nicht angemeldet. Einzig an den Schulen sowie auf der Gemeindeverwaltung und den angeschlossenen Betrieben zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur gibt es langfristig gesicherte Arbeitsplätze. Für 2012 wird das landesweite monatliche Bruttodurchschnittseinkommen mit 3.521,67 Záoty (ca. 846 Euro) angegeben.3 Selbstverständlich verbergen sich hinter diesem Betrag große regionale und soziale Differenzen. Nachfolgende Grafik verdeutlicht die ungleiche Verteilung der Einkommen in Polen.4

3

http://www.infoseite-polen.de/newslog/?p=8431 vom 07.07.2013.

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Le Monde diplomatique 2007: 13. Die Grafik zeigt den Stand von 2001, die relative Ungleichverteilung besteht nach unseren Beobachtungen weiterhin. Das

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Abbildung 6: Einkommensverteilung im Vergleich

Quelle: Le Monde diplomatique

Um die Kaufkraft einschätzen zu können, müssen jedoch auch die Preisunterschiede zu Deutschland bei den Waren des täglichen Bedarfs beachtet werden. Während die alltäglichen Lebensmittel ungefähr ein Drittel weniger kosten als in Deutschland, besteht beispielsweise bei Treibstoffen für Kraftfahrzeuge nur eine Preisdifferenz von fünf bis zehn Cent, und auch die Preise für fast alle technischen Geräte des privaten Konsums haben sich mittlerweile zwischen beiden Ländern angeglichen. Immer wieder betonen die Arbeitsmigranten, dass sie bestimmte Güter, wie Kleidung und technisches Gerät, in Deutschland sogar preiswerter erwerben können. Wenden wir uns also den realen Verdienstmöglichkeiten in Rudnica zu, wie sie von den Einwohnern geschildert werden. Marta Budzowska verdient nach eigenen Angaben als Lehrerin monatlich 2.000 Záoty (ca. 500 Euro) netto. Ihr Schwager und dessen Frau verdienen mit nicht näher Deutsche Polen-Institut zeigt in einer Grafik die Abweichungen vom Bruttodurchschnittsverdienst, bezogen auf die Woiwodschaften. Von insgesamt 16 Woiwodschaften liegt in 12 das Einkommen ca. 10-40 % unter dem Durchschnittsverdienst, in drei Woiwodschaften ca. 10 % darüber und in einer Woiwodschaft (Mazowieckie mit Warschau) 60 % höher. (Deutsches Polen-Institut Darmstadt/Bremer Forschungsstelle Osteuropa/Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (Hg.): Polen-Analyse 103 (2012: 7).

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beschriebenen Berufstätigkeiten jeweils ungefähr 1.300 Záoty netto.5 Mit ihrem Verdienst gehört Marta Budzowska in der Region bereits zu den Spitzenverdienern, wenn wir einmal von wenigen Unternehmern absehen, deren Einkommen sich nicht ermitteln ließ. Eine Sekretärin, die in der nächstgrößeren Stadt arbeitet, bekommt 1.600 Záoty ausgezahlt. ElĪbieta Jeleniewicz ist Anfang fünfzig und beantwortet meine Frage nach der regionalen Verdienstspanne folgendermaßen: „Nun, ich denke durchschnittlich 1.200 Záoty. Sicher, es gibt Arbeiten, in den großen Firmen, wo die Autoteile gefertigt werden, da habe ich gehört, dass man 1.600 Záoty, und manche sagen 2.000, bekommt. Aber wenn man so normal eine Arbeit annimmt, dann sind 1.200 Záoty so …, hier arbeiten die Leute sogar für das geringste Geld.“6

Arbeitslosigkeit ist zwar generell in der Region ebenso wie in anderen ländlichen Randregionen im Norden und Osten von Polen weiterhin ein großes Problem, jedoch stellen die niedrigen Löhne für viele Arbeitsuchende das Hauptübel dar. Richtig einschätzen können wir die Klage von ElĪbieta Jeleniewicz nur im alltagspraktischen Kontext. Nehmen wir an, der von ihr angesprochene Arbeitsplatz befindet sich in der zwanzig Kilometer entfernten Stadt. Da die Busverbindungen unzureichend sind, ist sie auf den eigenen Wagen angewiesen. Wenn wir nur die Kraftstoffkosten für ihre Fahrten zur Arbeit berechnen und alle weiteren Ausgaben außer Acht lassen, so sind alleine dafür ca. 302 Záoty aufzuwenden.7 Ihr Nettoverdienst reduziert sich also auf 898 Záoty oder umgerechnet ungefähr 224 Euro. Die Rech-

5

Im Zeitraum der Untersuchung 2009-2011 lag der Umrechnungskurs zwischen Euro und Záoy ungefähr bei eins zu vier.

6

ElĪbieta Jeleniewicz: „No, myĞlĊ, Īe przeciĊtnie tysiąc dwieĞcie záotych. Są prace, owszem, Īe w tych zakáadach duĪych, gdzie te czĊĞci samochodowe robią, Īe tak sáyszaáam, Īe moĪna zarobiü tysiąc szeĞüset záotych i niektórzy mówią dwa dwieĞcie. Ale tak normalnie, jak siĊ tam chce gdzieĞ przyjąü do pracy, to tysiąc dwieĞcie záotych to jest taka …, nawet za mniejsze pieniądze ludzie pracują tutaj.“

7

Rechnung: 21 Arbeitstage à 40 km entsprechen 840 km pro Monat. 100 km entsprechen 6 Liter Benzin, 1 l = 1,50 Euro, 6 l = 9 Euro. 840 km = 75,60 Euro, d.h. 302,40 Záoty.

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nung verschlechtert sich zudem, wenn wir die Aufwendungen für Anschaffung, Versicherung und Reparaturen des Wagens einbeziehen. Dabei kann vor allem im Handel und Dienstleistungsbereich der Verdienst deutlich unter 1.200 Záoty betragen, wie Magda Welcz aus ihren Erfahrungen als Kassiererin in einem Supermarkt berichtet: „Bevor ich im Ausland arbeitete, war ich zuletzt Kassiererin in einem großen Laden, bei Carrefour8. […] Die Arbeit hat mir gefallen, aber … nur zu wenig Geld […]. Sie bezahlten zu wenig [Lachen], zu wenig zahlten sie, ja […] Und ich fuhr täglich allein mit dem Wagen dorthin, das lohnte sich für mich nicht. Es machte sich für mich nicht bezahlt, sodass mir vielleicht nur 200 Záoty blieben.“9

Für Magda Welcz fehlte der ökonomische Nutzen, um den Arbeitsplatz beizubehalten. Das „Angebot“ an Arbeitslosen bietet Unternehmern ein großes Reservoir an billiger Arbeitskraft und öffnet ein weites Feld informeller Ökonomie. Zum Beispiel erfolgte die Errichtung eines Einfamilienhauses in Rudnica durch einen handwerklichen Kleinbetrieb, den zwei Fachleute leiten. Das Haus mit ungefähr 90 qm Wohnfläche plus Garage wird im Rohbau für rund 40.000 Záoty erbaut. Auf der Baustelle arbeiten neben den beiden Firmeninhabern noch mehrere Arbeiter, deren Anzahl entsprechend der täglichen Arbeit wechselt. Als informell angestellte Tagelöhner arbeiten sie für acht Záoty Stundenlohn. Als ich ein altes Ehepaar, beide Anfang achtzig, kennenlerne, berichten sie mir von ihren wirtschaftlichen Problemen. Zusammen haben sie 1.400 Záoty Rente, doch 500-600 Záoty müssen sie monatlich allein für Medikamente und Arztbesuche ausgeben. Kurz vor Winteranbruch wissen sie oft nicht, wovon sie die Kohlen für ihre Kachelöfen bezahlen sollen. Nur mithilfe der regelmäßigen Zuwendungen ihrer Tochter können sie ihren Le-

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Es handelt sich um einen sogenannten Hypermarkt, die teilweise damit werben,

9

Magda Welcz: „Zanim wyjechaáa to, ostatnio wáaĞnie przed wyjechaniem byáam

das ganze Jahr über rund um die Uhr geöffnet zu haben. kasjerką w sklepie. DuĪym tu, w Carreufurze, […] Ale no wáaĞciwie to mi siĊ fajnie pracowaáo ale no za maáo pieniĊdzy […] Za maáo páacili [Ğmiech], za maáo páacili, tak […] A tam sama jeĨdziáam autem codziennie na dojazdy, i to mi siĊ nie kalkulowaáo. Nie opáaciáo mi siĊ, Īe miaáam, co zostaáo mi dwieĞcie záotych moĪe.“

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bensunterhalt finanzieren. Oft werden Senioren von ihren im Ausland arbeitenden Kindern oder Verwandten unterstützt. Auch die siebzigjährige Beata Majewska könnte von den 700 Záoty Rente ohne die Überweisungen ihres Sohnes aus Deutschland nicht einmal die wichtigsten Ausgaben bestreiten. Als sie Anfang 50 war, vermittelte ihr eine Verwandte zum ersten Mal eine Arbeit in Berlin. Acht Jahre lang bestritt sie zunächst mit der Betreuung von Kindern und später als Putzfrau in Privathaushalten das Einkommen ihrer Familie. Erst als ihr Mann schwer erkrankte, und sie ihn nicht mehr alleine lassen konnte, beendete sie ihre Berliner Tätigkeiten. Die begonnene Renovierung und Modernisierung ihres Hauses konnte nicht weitergeführt werden, halb fertige Arbeiten belegen deutlich den Stillstand. Bei meinen Besuchen erzählt sie mir von ihren Träumen und ihrem Leid. Noch heute schwärmt sie von der Zeit, als sie jede Woche von Montag bis Freitag in Berlin war und erst am Wochenende nach Rudnica zurückkam. Mittlerweile arbeiten einige ihrer Verwandten in Deutschland und Großbritannien, und ihre Enkelkinder nutzen die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes dazu, dort einen qualifizierten Arbeitsplatz anzunehmen. Zu den Gewinnern der Arbeitsmigration gehört die Familie von Marta Bulczak. Während Martas Mann seit mehreren Jahren in Deutschland arbeitet, hat sie in Rudnica einen kleinen, auf den Anbau von Himbeeren spezialisierten landwirtschaftlichen Betrieb aufgebaut. Als Grundlage dient ihr neben dem Verdienst ihres Mannes der Hof ihrer Eltern. Abgesehen von zwei oder drei Monaten, die er zu Hause verbringt, arbeitet Martas Ehepartner permanent in Deutschland.10 In Abständen von vier bis sechs Wochen besucht er regelmäßig seine Familie. In der Zwischenzeit betreut seine Frau die Landwirtschaft. Mithilfe der Arbeitsmigration konnten sie sich ein Einfamilienhaus bauen und ihren Lebensstandard verbessern. In der Landwirtschaft ist schon aufgrund des geringen Umfangs weniger eine tragfähige wirtschaftliche Perspektive zu sehen, als ein Element der Diversifikation von Verdienstmöglichkeiten. Zum Haushaltseinkommen steuert die Himbeerplantage nur einen relativ kleinen Betrag bei. Selber beschreiben sie

10 Unabhängig davon, dass er sich seit zehn Jahren jedes Jahr bis zu zehn Monate in Deutschland aufhält, unterscheidet sich sein Alltag nicht von dem anderer Wanderarbeiter. Vergleichbare Lebensrhythmen finden wir auch bei Putzfrauen in Berlin oder anderen Großstädten.

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den Anbau von Himbeeren als Hobby, mit dem noch ein Nebeneinkommen zu erzielen ist. Bei der Fahrt durch die Gemeinde fallen immer wieder Himbeerplantagen auf, denn eine größere Anzahl von Familien hat in den letzten Jahren mit dem Anbau von Himbeeren begonnen. Dabei handelt es sich immer um Flächen mittlerer Größe, mit denen nur ein zusätzliches Einkommen erwirtschaftet wird. Der Anbau geht auf die Initiative eines niederländischen Unternehmers zurück, dessen Betrieb auf die Weiterverarbeitung von Früchten spezialisiert ist. Neben Himbeeren werden auch andere Gartenfrüchte verarbeitet. Schon zu Volksrepublik-Zeiten arbeitete er mit polnischen Unternehmen zusammen und seit Mitte der 1990er Jahre hat er einen Betriebsteil in Niederschlesien angesiedelt. In Rudnica beschäftigt er ganzjährig zehn festangestellte Mitarbeiter, hinzu kommen noch weitere Saisonkräfte während der Erntezeit. Die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe sind mit dem Unternehmen lediglich über jährlich zu erneuernde Verträge verbunden. Ungefähr 100 Betriebe, von denen die Mehrzahl weniger als vier Hektar umfasst, liefern die Ernte bei ihm ab. Um den Anbau der Gartenfrüchte populär zu machen, hat er die Betriebe in der Anfangsphase vorfinanziert. Mit den Ernteerträgen konnten die Schulden dann beglichen werden. Darüber hinaus erhalten Betriebe im Sonderkulturanbau von Gartenfrüchten eine staatliche Sonderzahlung, wenn sie sich vertraglich verpflichten, ihre Ernte an ein weiterverarbeitendes Unternehmen zu verkaufen. Zwar könnte der Landwirt auf dem freien Markt einen höheren Preis erzielen, jedoch wird dieser Nachteil durch die Abnahmegarantie aufgewogen. Abgesehen von dem jährlich zu erneuernden Vertrag wirtschaften die einzelnen Landwirte unabhängig, d.h., sie könnten sich beispielsweise auch dafür entscheiden, ihre Ernte anderweitig zu verkaufen. Betrachten wir die wirtschaftliche Seite der Himbeerplantagen einmal genauer. Die vertraglich zugesicherte Abnahme garantierte den Landwirten im Jahr 2011 je nach Qualität einen Preis zwischen 3,50 Záoty und 4,50 Záoty.11 Im Jahr 2011 konnte Marta Bulczak sechs Tonnen ernten, während ein Jahr zuvor die Ernte mit acht Tonnen deutlich besser ausgefallen war. Bei einem Durchschnittspreis von 4,00 Záoty hätte sie 2011 eine Bruttoein-

11 Die Qualität der Früchte ist vor allem witterungsabhängig, Hitze und starker Regen wirken sich negativ auf die Beeren aus. Außerdem ist der Kilopreis in der Hochsaison niedriger.

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nahme von 24.000 Záoty erzielt.12 Da sie nach eigenen Angaben an die Pflücker pro Kilo 1,50 Záoty zahlt, reduziert sich der Betrag bei sechs Tonnen um ca. 9.000 Záoty. Über diese leicht errechenbaren Kosten hinaus fallen aber noch weitere Ausgaben für Spritzmittel sowie die Pflege der Plantage an. Außerdem benötigt sie einen Kleintransporter, um die Waren zum Aufkäufer zu liefern. Wenn wir dafür noch einmal einen geschätzten Betrag von 3.000 Záoty abziehen, bleibt Familie Bulczak ein Jahresgewinn von 12.000 Záoty.13 Werfen wir an dieser Stelle noch einen Blick auf die Einkommen der Erntehelfer. Auf meine Frage nach deren Verdienst erzählt Marta Bulczak von einem besonders guten Erntetag, an dem die Pflücker bis zu 50 Kilo pro Person geerntet haben. Pro Person wurde also ein maximaler Verdienst von 75 Záoty (ca. 19 Euro) erreicht. Jedoch wird man nur selten diesen Spitzenertrag erreichen. An durchschnittlichen Tagen verdient ein Erntehelfer nach eigenen Berichten nur 35 Záoty (ca. 9 Euro). Wenn die Himbeersaison allmählich dem Ende zugeht, sieht man in den Gemeinden einen mit Zwiebelsäcken beladenen Traktor. An mehreren Häusern werden jeweils einige Säcke angeliefert. Die Haushalte arbeiten ebenfalls als Zulieferer für das niederländische Unternehmen, das auch die Himbeeren aufkauft. Bei der Weiterverarbeitung der Zwiebeln handelt es sich zwar nur um einen relativ unbedeutenden Geschäftszweig, jedoch kann damit die Abhängigkeit von der Himbeersaison reduziert werden. Die Zwiebeln werden aus Westeuropa nach Polen geliefert, in Rudnica geschält und gehen anschließend zur Weiterverarbeitung in die Niederlande. Niedrige Löhne machen den Transport der Zwiebeln rentabel, da deren Haut in Handarbeit abgezogen wird. Anfänglich wurden die Zwiebeln in einer Halle des Betriebes geschält, da jedoch von den Abwässern wegen unzureichender Reinigung ein penetranter Geruch ausging, der zu Konflikten mit den Behörden führte, werden die Arbeiten jetzt in einzelnen Haushalten durchgeführt. Durch die Dezentralisierung verringerte sich im Einzelfall die

12 Nach Angaben von Marta Bulczak erhält sie pro Kilo nur 2,80 Záoty vom Aufkäufer. Die unterschiedlichen Angaben können hier nicht überprüft werden, vermutlich liegen ihnen aber insoweit vergleichbare Interessen von Aufkäufer und Verkäufer zugrunde, als beide ihren Gewinn gegenüber Dritten kleinzureden versuchen. 13 Die Kosten für die Anschaffung der Pflanzen sind hier nicht berücksichtigt.

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Abwassermenge, sodass es seitdem nicht mehr zur Belästigung der Nachbarn kommt. An einem Tag im Spätherbst besuche ich Joanna und Edward BroĪek. Beide sind in den letzten Jahren regelmäßig als Erntehelfer in Deutschland gewesen. Jetzt ist die Saison beendet und ich treffe sie zu Hause an. Ihr Haus stammt noch aus der Vorkriegszeit und weist etliche reparaturbedürftige Stellen auf. Obwohl sie jedes Jahr für einige Monate auf deutschen Höfen gearbeitet haben, ist es ihnen nicht gelungen, ihre prekäre wirtschaftliche Situation zu stabilisieren. Als ich das Haus betrete, schlägt mir ein beißender Geruch entgegen. Im Flur sitzt Joanna BroĪek zwischen Säcken und schält Zwiebeln. Von den Zwiebeln geht ein alles durchdringender Gestank aus. Die Arbeit belastet einseitig die Finger, die vom Saft der Zwiebeln gerötet sind. Zum Schutz der Hände hat sie sich Handschuhe mit offenen Fingerkuppen angezogen. Für die geschälten Zwiebeln zahlt ihr der niederländische Unternehmer 0,20 Záoty (ca. 5 Cent) pro Kilo. Joanna BroĪek macht die Arbeit schon seit mehreren Jahren als Überbrückung zwischen zwei Saisontätigkeiten in Deutschland. Das Prinzip der Verteilung von Arbeiten auf verschiedene Haushalte erinnert nicht nur aufgrund der geografischen Übereinstimmung an die schlesischen Weber des 19. Jahrhunderts. Damals stellte ein kaufmännischer „Verleger“ die Baumwolle zur Verfügung, die von Familien auf ihren heimischen Webstühlen zu Tuch verarbeitet wurde. Für das fertige Produkt bezahlte der Kaufmann anschließend die Weber, wobei es sich nicht um einen festen Lohn handelte, sondern der Preis schwankte je nach Marktlage und Qualität des Produktes. Oft mussten in den schlesischen Dörfern ganze Familien 16 Stunden für einen kargen Lohn arbeiten.14 Im Unterschied zu den Webern des 19. Jahrhunderts kennt Joanna zwar den Lohn für ihre Arbeit, aber auch heute ist ihre Familie entweder direkt oder indirekt in ihre Tätigkeit einbezogen.15 Um die Lieferung recht-

14 Welskopp 2013: 16ff. 15 Jürgen Kuczynski gibt einen Artikel des Niederschlesiers L. Jacobi aus dem Jahr 1868 wider: „Erwähnt sollte noch werden, dass Jacobi vielfach annimmt, dass die Arbeiter zwei Berufe haben. Zum Beispiel rechnet er damit, dass die Bauarbeiter an Regentagen zu Hause weben. Von Webern erwartet er auf der anderen Seite, dass sie des Nachts im Sommer Obstgärten bewachen. Was die Holzbeschaffung betrifft, so nimmt er an, dass das die Kinder tun, um die Eltern nicht von anderer Arbeit abzuhalten.“ (Kuczynski 1962: 157)

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zeitig fertigzustellen, schälen manchmal ihre Angehörigen mit oder übernehmen andere Aufgaben im Haushalt. Aber noch eine weitere Parallele zeigt sich zu den Webern, die vor 150 Jahren vermutlich auch in Rudnica ihren mageren Lohn erwirtschafteten. Wie die Weber so müssen auch heute die Heimarbeiter das Arbeitsgerät selber stellen. Nun steht der Wert eines Schälmessers in keinem Verhältnis zu einem Webstuhl, jedoch verändert sich die Relation, wenn man bedenkt, dass der Unternehmer die Klärung der Abwässer und die Einhaltung der Umweltbestimmungen umgehen kann. Indem die Heimarbeiter ein Rohprodukt veredeln, für das sie erst nach Abschluss ihrer Arbeit entlohnt werden, stellt das „Verlagssystem“ eine eigene Form von abhängiger Selbstständigkeit dar. Als Zwitter zwischen Lohnarbeit und Selbstständigkeit verlagert der Unternehmer die Nebenkosten, die zur Organisation eines Arbeitsplatzes verausgabt werden müssen, auf die Arbeiter, und kann so seine Profitrate erhöhen. Die Heimarbeiter sind sich zwar bewusst, eine schlecht bezahlte Arbeit auszuführen, jedoch sehen sie keine Ausweichmöglichkeit. Joanna und Edward BroĪek arbeiten seit über zehn Jahren regelmäßig als Saisonarbeiter bei der Erdbeerernte in Deutschland. Edward bewahrt noch immer einen zehn Jahre alten Taschenkalender auf, in dem er für jeden Tag seine Arbeitszeiten eingetragen hat. Der Kalender belegt die Arbeitsbelastungen und ist zugleich auch ein Erinnerungsstück, das die Bedeutung der Wanderarbeit in seinem Leben dokumentiert: M. W.: „Wann sind Sie zum ersten Mal zur Arbeit ins Ausland gefahren?“ Joanna: „Im Jahr 2000 oder 2001 zum ersten Mal, genau erinnere ich mich nicht. Aber ich musste. Dort ist mein Pass, glaube ich, in der Jacke, weil ich damals einen Pass machen ließ und das erste Visum bekam. Damals fuhr man nur mit Visum zur Arbeit.“ M. W.: „Wie kam es damals dazu, dass Sie entschieden, nach Deutschland zu fahren?“ Joanna: „Weil mein Mann schon früher dort arbeitete. Er fuhr früher zur Arbeit. Sehr, sehr viel früher, und so entschied ich mich, zu fahren, und schließlich sagte ich mir: ‚Entweder komme ich zurecht oder wenn nicht, dann kehre ich nach Hause zurück‘, richtig? Und so fuhr ich das erste Mal, das zweite Mal und so fahre ich weiter. Jedes Jahr.“16

16 M.W: „Kiedy Pani pierwszy raz wyjechaáa na pracĊ za granicĊ?“

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In den folgenden Jahren arbeiteten Joanna und Edward meistens abwechselnd im selben Betrieb in Deutschland. Häufig wechseln sich Familienmitglieder ab, was dazu führen kann, dass sie sich über mehrere Monate nur sehen, wenn sie einander ablösen. Die gemeinsame Zeit schrumpft dann auf wenige Tage zusammen. Immerhin kann dadurch ein Elternteil bei den Kindern sein und die Aufgaben zu Hause wahrnehmen. Beide Kinder von Joanna waren zu dem Zeitpunkt schon Jugendliche, die allerdings noch zur Schule gingen. Joannas Tochter hat mittlerweile auch ein Kind, das sie allein erzieht. Die damit verbundenen zeitlichen Einschränkungen behindern sie bei der Aufnahme einer Erwerbsarbeit. Ein Angebot, als Verkäuferin zu arbeiten, konnte sie nicht annehmen, da der Kindergarten bereits um 15.00 Uhr schließt, ihre Arbeitszeit aber erst nach 18.00 beendet gewesen wäre. Über ein Fernstudium verbessert sie derzeit ihre Qualifikation und hofft, anschließend einen passenden Arbeitsplatz zu finden. Der Sohn von Joanna hat die Schule abgeschlossen und arbeitet regelmäßig in einem kleinen Laden, den die Familie vor wenigen Monaten eröffnet hat. Seine Hoffnungen richten sich aber auf einen festen Arbeitsplatz in Deutschland. Vielleicht im Motorradwerk von BMW in Berlin, wo, wie er mir erzählt, zwei Freunde aus Rudnica arbeiten. Das Haushaltseinkommen von Familie BroĪek ruht auf drei Säulen: der Saisonarbeit, dem Laden und der lokalen Vertretung eines Kreditinstituts. Die Eröffnung des Geschäftes ist mit der Hoffnung verbunden, sich am Wohnort eine wirtschaftlich tragfähige Existenz aufzubauen. Mit der angebotenen Produktpalette ihres Ladens stehen sie jedoch zum Teil in Konkurrenz mit anderen lokalen Anbietern und den Einkaufszentren der Umgebung. Nebenbei vertritt Edward BroĪek noch ein Kreditinstitut. Er vermit-

Joanna: „W dwutysiĊcznym roku. A, w dwutysiĊcznym albo w dwutysiĊcznym pierwszym. Dokáadnie nie pamiĊtam. Ale musiaáabym, tam mam paszport chyba, w kurtce, bo ja wtedy paszport wyrobiáam i mam pierwszą wizĊ, bo kiedyĞ, wtedy siĊ jeĨdziáo na wizĊ do pracy.“ M.W: „Jak to siĊ staáo, Īe Pani zdecydowaáa, jadĊ do Niemiec, to byáo w tym okresie?“ Joanna: „Bo mąĪ tam wczeĞniej pracowaá. JeĨdziá do pracy wczeĞniej. DuĪo, duĪo wczeĞniej i tak siĊ zdecydowaáam, Īeby pojechaü i i i tak, w sumie mówiĊ: ‚Dam radĊ to dam, nie dam to wrócĊ do, do domu‘, prawda. I tak zaczĊáam jeĨdziü raz, drugi raz i tak jeĪdĪĊ. Co roku.“

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telt Kleinkredite zwischen 500 und 1.500 Záoty, die von Privatpersonen zur Überbrückung aufgenommen werden. Die Laufzeit der Kredite beträgt meist ein Jahr bei einem monatlichen Zinssatz zwischen acht und zehn Prozent.17 Einmal pro Woche kassiert Edward bei seinen Kunden die Raten und die Zinsen. Geworben wird für die Kredite durch Plakate an Telegrafenmasten und öffentlichen Anschlagtafeln. Im Frühjahr werden neue Plakate aufgehängt, auf denen mit einem Osterangebot für einen besonders günstigen Kredit geworben wird. Vor allem im Frühjahr ist das Interesse groß, da der vergangene Winter häufig die finanziellen Mittel aufgezehrt hat. Im Winter gibt es kaum Erwerbsmöglichkeiten durch Saisonarbeit, gleichzeitig sind aber die Kosten für Heizmaterial und Winterkleidung aufzubringen. Steht dann an Ostern vielleicht noch die Kommunion eines Kindes an, so können die finanziellen Probleme kurzfristig nur mit einem Kredit gelöst werden. Zugleich fällt es im Frühjahr auch leichter, sich Geld zu leihen, weiß man zu diesem Zeitpunkt doch häufig, dass man in den nächsten Monaten als Erntehelfer die Kreditsumme in kurzer Zeit tilgen kann. Außerdem benötigen Erntehelfer den Kredit, um die Kosten für Anreise, Lebensmittel und Kleidung für ihre Saisonarbeit aufbringen zu können. Damit sind wir bei der dritten und wichtigsten Säule des Haushaltseinkommens von Familie BroĪek angekommen, der Saisonarbeit auf deutschen Bauernhöfen. Nachdem Joanna und Edward mehrere Jahre abwechselnd als Erntehelfer gearbeitet haben, fährt seit einigen Jahren nur noch Joanna nach Deutschland. Ungefähr sechs Monate verbringt sie im Laufe eines Jahres auf deutschen Erdbeerplantagen, wobei die einzelnen Aufenthalte jeweils nicht länger als zwei Monate dauern. Als wir uns unterhielten, hatte sie gerade den August und September in Deutschland verbracht. Für November plante sie noch eine vierwöchige Tätigkeit in einem anderen Erdbeerbetrieb. Im Winter werden bei der Anzucht von Erdbeerpflanzen in einer Halle ebenfalls zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt. Beworben hat sie sich aufgrund eines vierfarbigen Faltblattes, mit dem der Betrieb in Polen nach Arbeitskräften sucht. Fotografien belegen die offerierten Arbeitsbedingungen:

17 Laut Internetplattform der Firma wird bei einem Kredit von 500 Záoty und einer Laufzeit von 45 Wochen eine wöchentliche Rate von 20,86 fällig, was sich auf einen Gesamtbetrag von 938,68 Záoty summiert. (http://www.provident.pl vom 24.04.2013.)

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kostenlose Unterbringung in Vierbettzimmern mit Doppelstockbetten, bezahlte An- und Abreise nach Deutschland, geregelte Arbeitszeiten von 4.00 bis 16.00 Uhr, Transport zum und vom Arbeitsplatz, Verpflegung.18

Das auf Hochglanzpapier gedruckte Angebot erweckt im ersten Moment den Eindruck, als sollten hier die Produkte des Hofes angeboten werden. Nachdem in den letzten Jahren der Zustrom polnischer Erntehelfer zurückgegangen ist, befürchten die Landwirte nun einen Mangel an Arbeitskräften.19 Als Joanna im Dezember nach Rudnica zurückkommt, erzählt sie mir, dass sie im zurückliegenden Monat täglich 70 Euro netto verdient hat. Exemplarisch zeigen die drei vorgestellten Haushalte von Beata Majewska sowie der Familien Bulczak und BroĪek das sozioökonomische Spektrum, in dem Wanderarbeit einen selbstverständlichen Faktor darstellt. Vergleichen wir die Haushalte miteinander, werden Bedingungen für den wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg der Arbeitsmigration erkennbar. Frau Majewska war mit Anfang 50 schon relativ alt, als sie zum ersten Mal eine Arbeit in Deutschland annahm. Aufgrund der schweren Erkrankung ihres Mannes gab sie ihren Arbeitsplatz in Berlin auf und verfügt seitdem nicht mehr über die finanziellen Mittel, die begonnene Renovierung ihres Hauses fortzuführen. Eine ganz andere Situation finden wir bei Familie Bulczak vor. Sie hat drei schulpflichtige Kinder und der Familienvater arbeitet seit ungefähr zehn Jahren überwiegend in Deutschland. Die physisch herausfordernde und auch psychisch belastende Arbeit ermöglicht der Familie die Stabilisierung ihrer materiellen Basis in Polen. Mit dem Einkom-

18 Von den Betrieben werden unterschiedliche Beträge für Unterkunft und Verpflegung berechnet. Mehrmals berichteten deutsche Landwirte auch, dass sie keine Vollverpflegung anbieten, da sie die Erfahrung gemacht haben, dass dann viele der bereitgestellten Lebensmittel vernichtet werden müssen. 19 In vielen Bereichen ist eine Mechanisierung nur begrenzt möglich. Um den Bedarf an Saisonarbeitern langfristig zu decken, berichten Landwirte immer wieder, dass sie auf Einreiseerleichterungen für Ukrainer hoffen. Das heißt, sie versprechen sich mehr von der bevölkerungsreichen Ukraine mit ihrem extrem niedrigen Lohnniveau als von der Zuwanderung aus den EU-Staaten Rumänien oder Bulgarien.

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men aus der Migration konnten sie ihr Haus bauen und nach westeuropäischem Standard ausstatten. Die Himbeerplantage ermöglicht zwar nur ein geringes Nebeneinkommen, jedoch bot sich damit die Möglichkeit, den kleinen ererbten Hof sowie die freie Arbeitskraft von Frau Bulczak zu nutzen. Deutlich schlechter ist demgegenüber die wirtschaftliche Situation der dritten Familie. Joanna und Edward BroĪek sind mit Mitte 50 ungefähr 15 Jahre älter als Herr und Frau Bulczak. Nicht nur, dass ihre Auslandsaufenthalte auf jeweils einige Monate begrenzt waren, zudem verdienten sie als Erntehelfer relativ wenig. Auch Joanna und Edward haben den Versuch unternommen, auf der Basis des Einkommens aus der Saisonarbeit sich im Heimatort ein wirtschaftliches Standbein aufzubauen. Ohne Ressourcen in Form von Immobilien oder Ähnlichem erscheint die Eröffnung ihres Ladens aber eher wie der sprichwörtliche Strohhalm, den man ergreift, um nicht unterzugehen. Anhand dieser Beispiele zeigt sich, dass die Arbeitsmigration nur im Kontext günstiger Umstände zu einer langfristigen Stabilisierung der Haushaltsökonomien führt. Krankheit, Alter, aber auch fehlende Kontakte zu anderen Arbeitsmigranten, die Arbeitsplätze vermitteln können, erweisen sich in vielen Fällen als unüberwindliche Hürden. Obwohl Arbeitsmigration in Rudnica für viele Familien ein alltägliches Phänomen ist, haben sich selbstverständlich auch Einwohner dagegen entschieden, wie z.B. Agata KwiecieĔ: „Das heißt, ich persönlich habe nie daran gedacht, ins Ausland zu fahren, weil ich mit meiner materiellen Situation zufrieden bin. Mein Mann genauso. Wir arbeiten beide in unserem Beruf, hier haben wir unser Studium beendet. Ich denke, das ist auch eine Frage des Charakters. Hier habe ich meine Familie, habe Bekannte und ich denke nicht, dass ich jemals wegfahren werde. Selbstverständlich, vielleicht in den Ferien irgendwohin.“20

20 Agata KwiecieĔ: „Znaczy ja osobiĞcie nigdy nie myĞlaáam o tym, Īeby wyjeĪdĪaü za granicĊ, poniewaĪ jestem zadowolona ze swojej sytuacji materialnej. Mój mąĪ tak samo. Obydwoje mamy pracĊ zawodową, tutaj skoĔczyliĞmy studia. No i teĪ myĞlĊ, Īe to jest kwestia charakteru. No ja tutaj mam rodzinĊ, mam tutaj znajomych i raczej nie wydaje mi siĊ, Īe, Īebym kiedykolwiek wyjechaáa. MoĪe na wakacje gdzieĞ tak oczywiĞcie.“

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Agata ist Anfang 30 und hat als Lehrerin einen festen Arbeitsplatz in Rudnica. Allerdings verdienen Lehrer eher weniger als andere Berufsgruppen. Es ist also nicht etwa eine überdurchschnittlich gute materielle Situation, die sie veranlasst, in Rudnica zu arbeiten. Vielmehr ist sie mit ihrem Lebensstandard zufrieden, wie sie sagt und unterstreicht, welche Bedeutung für sie die Ausübung ihres Berufes und die Pflege sozialer Kontakte in der Nachbarschaft haben. Mit dieser Skizze eines niederschlesischen Dorfes haben wir einen Einblick in unterschiedliche Lebenssituationen von Wanderarbeitern bekommen. Vor diesem Hintergrund einer offensichtlich schwierigen wirtschaftlichen Situation wende ich mich der Frage zu, mit welcher Argumentation die Entscheidung zur Arbeitsmigration begründet wird.

M IGRATION : A USWEG ODER S ACKGASSE ? In Rudnica bin ich mit Grzegorz Pilch verabredet, der seit Längerem für einige Monate im Jahr in der deutschen Forstwirtschaft arbeitet. Das Haus stammt zwar aus dem frühen 20. Jahrhundert, wurde aber modern umgebaut und renoviert. Grzegorz Pilch ist erst Anfang 50, doch als Staatsbediensteter hatte er die Möglichkeit, schon nach 15 Dienstjahren in Rente zu gehen.21 Bis auf wenige Personen haben alle Familienmitglieder in den letzten Jahren mindestens für einige Monate im Ausland gearbeitet. Auf meine Frage nach der wirtschaftlichen Situation in Polen antwortet Herr Pilch: „Das heißt … es ist schwer. Schwer wegen der Arbeit. Das ist das größte Problem, dass es schwer ist, Arbeit zu bekommen. Egal welche, um irgendeine zu bekommen. Weil … mein Sohn bekam keine. Er hat die Schule für Elektromechanik abgeschlossen und lernt weiter. Für die Jungen dreht sich alles um Arbeit, wenn sie aus der Schule kommen … Wenn es nichts gibt, kann man auch nichts bekommen.“22

21 Diese Regelung galt in Polen bis 2010 für Angehörige von Militär, Feuerwehr, Zoll und Polizei. 22 Grzegorz Pilch: „To znaczy … ciĊĪko. CiĊĪko o pracĊ. To jest najgorsze, Īe ciĊĪko o pracĊ. ObojĊtnie jak, kaĪdą Īeby zdobyü. Bo … syn ten mój zdobyá co nie. Jest po szkole elektromechanicznej to jeszcze dalej siĊ uczy. Wszystko

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Die fehlenden beruflichen Perspektiven dienen als Argumentation für eine Arbeitsmigration, bei der primitive Unterkünfte ebenso wie unqualifizierte Tätigkeiten akzeptiert werden. Gleichwohl bleiben Zweifel an dem monokausalen Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Migration, da das Einkommensgefälle zu den westeuropäischen Staaten als entscheidende Motivation zunächst nicht erwähnt wird. Erst im weiteren Verlauf des Interviews hebt Grzegorz Pilch die Verdienstmöglichkeiten in Deutschland und Großbritannien hervor. Daniel, der ältere Sohn von Grzegorz Pilch, ist ebenfalls während unseres Interviews anwesend. Vor wenigen Wochen ist er nach einem dreijährigen Aufenthalt in England wieder zurückgekehrt. Nachdem er sein Studium als Informatiklehrer in Polen abgeschlossen hatte, beschloss er, gemeinsam mit seiner Frau zunächst nach Großbritannien zu gehen, um dort das Geld für ein Auto und ein Haus zu verdienen. Zwischenzeitlich stiegen auch in seiner Heimat die Baupreise, daher ist ihr Haus noch im Rohbau. Beide überlegen nun, den restlichen Betrag in einem weiteren Arbeitseinsatz in England zu verdienen. Auf die Frage, wie er dazu kam, im Ausland zu arbeiten, antwortet Daniel Pilch: „Die Situation hat mich ein wenig dazu gezwungen … In Polen habe ich nicht befriedigend verdient, also fuhr ich ins Ausland.“23 Im weiteren Verlauf des Interviews erzählt er jedoch, dass ihm eine Stelle in Polen als Informatiklehrer angeboten worden war. Stattdessen zog er aber die Arbeit als Hilfsarbeiter in einem Warenlager in England vor und nahm es in Kauf, sich mit anderen Arbeitern einen Wohnraum teilen zu müssen. In seiner Argumentation erfolgte die Entscheidung nur „ein wenig“ aufgrund der ungenügenden Arbeitsmarktlage, d.h., dieser Zwang scheint weniger massiv, wie von ihm anfangs postuliert. Der eigentliche Grund für seine Entscheidung waren jedoch die unterschiedlichen Verdienstmöglichkeiten, nicht etwa, wie man vermuten könnte, die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten. Nun ist es sicherlich nicht erstaunlich, wenn man sich für einen besser bezahlten Arbeitsplatz entscheidet. Ungewöhnlich ist vielmehr die Argumentation, im ersten Moment auf situative Umstände zu verweisen und die tatsächliche Entscheidungsgrundlage erst nachträglich darzustellen.

chodziáo o pracĊ jest wáaĞnie. Dla takich máodych wáaĞnie po szkole … Jak nie ma siĊ gdzieĞ z czego to siĊ nie zaáapiĊ.“ 23 Daniel Pilch: „Sytuacja mnie trochĊ przymusiáa ...W Polsce nie zarabiaáem pieniąĪków takie jak mnie satysfakcjonowaáy, wyjechaáem za granicĊ.“

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Wir müssen also die Frage stellen, warum es für ihn von Bedeutung ist, einen Teil der Verantwortung für seine Entscheidung sozusagen von sich zu weisen. Eine Erklärung bietet die hohe Arbeitslosigkeit der vergangenen zwei Dekaden in Polen. Man kann davon ausgehen, dass es in der polnischen Gesellschaft einen Konsens gibt, den Hauptgrund für die Migration in der Arbeitslosigkeit zu sehen. Dabei können im individuellen Fall selbstverständlich auch andere Gründe ausschlaggebend sein. Entscheidend ist aber, welche Erklärung gesellschaftlich konform ist. Wenn eine Begründung bestimmter Verhaltensweisen gesellschaftlich internalisiert ist, also als wahre Interpretation allgemein akzeptiert wird, entfaltet sie eine enorme Kraft: „Tatsächlich wird das Individuum selbst, einen entsprechenden biographischen Kontext vorausgesetzt, Zeichen oder Symptome produzieren.“24 Das Individuum konstruiert sich seine Wirklichkeit in gesellschaftlicher Übereinstimmung. Etwas anders als bei Daniel Pilch stellte sich für Justyna Grabowska schon kurz nach dem Ende der Volksrepublik die Frage der Arbeitsmigration. Es war die Zeit der Hyperinflation in Polen, als man versuchte, die Kredite an die Geldentwertung anzupassen. Justyna Grabowska ist Mitte fünfzig, als sie mir den Beginn ihrer Wanderarbeit beschreibt: „Geld fehlte niemals, nun, weil es nie fehlt, wenn man arbeitet. Und dann ergab sich solch eine Situation, dass wir einen Kredit aufnahmen. Und am Ende des Jahres wollte ich ihn bezahlen, weil Geld da war, aber man sagte, dass die Raten verlängert wurden und die letzte Rate wird im Januar fällig. So ist das. Aber im Januar musste man mehr bezahlen, als der ganze Kredit wert war.“25

Frau Grabowska erschien es aussichtslos mit dem Gewinn aus der Landwirtschaft die restlichen Raten zu begleichen. Als ihr in der Situation eine

24 Berger/Luckmann 1969: 190. 25 Justyna Grabowska: „TakĪe nigdy pieniĊdzy nie brakowaáo, no bo nie brakowaáo, jak siĊ pracowaáo to byáo. A potem nastąpiáa taka sytuacja, Īe jeden kredyt wziĊliĞmy, taki niewielki kredycie tylko, no i na koniec roku chciaáam spáaciü, bo pieniądze byáy ale powiedziano, Īe to są raty rozáoĪone i ostatnia rata bĊdzie w styczniu. To jest a w styczniu trzeba byáo zapáaciü tyle, Īe ten caáy kredyt wiĊcej byá warty.“

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Kollegin für drei Monate eine informelle Arbeit in Berlin anbot, ergriff sie die Chance. Geplant waren drei Monate, letztlich sind daraus zwanzig Jahre geworden. Damals erlebte Frau Grabowska die Kreditforderungen als existenzbedrohend. Mit zeitlicher Distanz kann sie heute nur den Kopf darüber schütteln, doch damals sah sie keinen anderen Ausweg. Seit ungefähr zehn Jahren arbeitet der Ehemann von Marta Bulczak in Deutschland. In einem Interview erklärt sie, was sie damals veranlasste, diese Entscheidung zu treffen. Marta Bulczak: „Zuerst ging es bei uns um den Lebensunterhalt, nach einiger Zeit … Ja, mein Mann half den Geschwistern bei der Landwirtschaft, und später bot mein Bruder an, für drei Monate [nach Deutschland] zu fahren. [Mein Mann] fuhr damals während des Winters, für drei Monate, später für ein halbes Jahr und später schon für neun Monate. Und am Anfang war das für den Lebensunterhalt, dass man das für den Lebensunterhalt benötigt, weil es in Polen keine Arbeit gibt, aber später, nach einiger Zeit stellen wir fest, dass es schon zu viel Geld ist, dass man etwas damit machen muss. Man darf nicht so prassen, nun nahmen wir es und bauten das Haus.“26

Der entscheidende Impuls für die Arbeitsmigration geht von den extrem unterschiedlichen Verdienstmöglichkeiten in beiden Ländern aus. Dagegen spielt Arbeitslosigkeit als Antrieb für die Migration nur eine nachgeordnete Rolle. Auch in einer Forschung des Potsdamer Geografen Jörg Becker wurde Arbeitslosigkeit erst mit deutlichem Abstand an zweiter Stelle nach einer Verbesserung des Haushaltseinkommens als Migrationsgrund genannt.27 Wanderarbeiter leben zwar auf wirtschaftlich unterschiedlichem Niveau, jedoch findet man unter ihnen selten Menschen ohne berufliche Qualifikationen oder aus den ärmsten Bevölkerungsgruppen:

26 Marta Bulczak: „U nas najpierw byáo na Īycie, po jakimĞ czasie … Tak, bo on pomagaá rodzicom na gospodarstwie i póĨniej brat mu zaproponowaá, Īeby pojechaá na trzy miesiące. On wtedy pojechaá na zimĊ i pojechaá tak na trzy miesiące, póĨniej na póá roku i póĨniej juĪ na dziewiĊü miesiĊcy jeĨdziá. I z początku byáo tak na Īycie, Īe to trzeba na Īycie, bo w Polsce nie ma pracy, a póĨniej po jakimĞ czasie stwierdziliĞmy, Īe juĪ jest za duĪo tych pieniĊdzy, Īe coĞ trzeba z nimi robiü. Nie moĪna tak hulaü, no to wziĊliĞmy i robiliĞmy ten dom.“ 27 Becker 2010: 136.

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Agata KwiecieĔ: „Nach meiner Überzeugung und meines Wissens sieht es selten so aus, dass jemand sehr einfach lebt, dass er nicht imstande ist, die grundlegenden Bedürfnisse zu sichern und deshalb nach Deutschland fährt. Viel mehr geschieht das aus dem Grund, dass man ein neues Auto, das Haus renovieren oder einen Kredit ablösen will. Mein Vater […] fuhr nur [nach Deutschland], wie er sagte, um sich das erste Mal ein neues Auto anzuschaffen. Später gab es dann irgendwelche Renovierungen am Haus. Oder die Heizung, neue Fenster und so weiter. Jetzt fährt er wieder, weil er vorhat, das Auto zu wechseln. Also, wie ich gesagt habe, ohne diese Fahrten [zur Arbeitsmigration] leben wir ruhig auf einem mittleren Niveau. Es reicht auch für alles, es fehlt an nichts, aber man kann sich keine Extravaganzen erlauben.“28

In den Berichten von Justyna Grabowska und Marta Bulczak wird bezüglich des Verlaufes der Migration eine strukturelle Parallele sichtbar. In beiden Familien beginnt man die Arbeitsmigration zunächst als einmalige kurzfristige Möglichkeit zur wirtschaftlichen Verbesserung. Drei Monate erscheinen als ein überschaubarer Zeitraum. Aus zeitlicher Distanz betrachtet, würde man diese erste Kurzmigration vielleicht angemessener als einen Versuch beschreiben, um die Bedingungen, Belastungen und Erfolgsaussichten zu testen. Ähnlich ist die Situation bei Daniel Pilch gelagert. Zwar arbeitete er anfangs alleine in England, da ihm aber seine Frau nach wenigen Monaten in die Arbeitsmigration folgte, kann auch seine Fahrt als vorbereitender Test interpretiert werden. Man tastet sich an die Wanderarbeit, indem man gedanklich einen zeitlich begrenzten Aufenthalt anvisiert. Erst mit der positiven Erfahrung wird diese Form der Arbeitsmigration zu einer

28 Anna KwiecieĔ: „W moim przekonaniu i z mojej wiedzy wynika to, Īe tak rzadko to rzeczywiĞcie wygląda tak Īeby ktoĞ Īyá tak bardzo skromnie, Īeby nie byá w stanie sobie zapewniü podstawowych jakiĞ tam Ğrodków i dlatego wyjechaá do Niemiec. Bardziej to jest wáaĞnie z tego wzglĊdu, Īe chce nowy samochód, remont domu, bądĨ spáatĊ kredytów. Mój tato […] wyjechaá po to wáaĞnie, tak jak powiedziaá, Īeby uzbieraü sobie pierwszy raz na nowy samochód. PóĨniej byá remonty w domu jakieĞ tam. A to ogrzewanie, nowe okna i tak dalej. Teraz bĊdzie jechaá to po raz kolejny ma zamiar zmieniü sobie samochód. WiĊc tak jak mówiĊ, bez tych wyjazdów spokojnie bĊdziemy sobie Īyli na takim Ğrednim poziomie. TakĪe na wszystko starcza, niczego nie brakuje ale na ekstrawagancjĊ teĪ pozwoliü sobie nie moĪna.“

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längerfristigen Tätigkeit und in bestimmten Biografien zu einer Lebensperspektive. Letzteres tritt in der Regel nicht bei jüngeren Migranten wie Daniel Pilch ein, sondern bei Älteren, deren Berufs- und Verdienstmöglichkeiten eingeschränkt oder gar versperrt sind. Ein wichtiger Faktor für die Kontinuität der Wanderarbeit ist die Gewöhnung an einen höheren Lebensstandard. Neben der Anschaffung von langlebigen Konsumgütern oder dem Erwerb von Wohneigentum nimmt auch der alltägliche Konsum zu. Hier setzt ein Prozess der Gewöhnung ein, der von den meisten Wanderarbeitern durch ein Einkommen in Polen nicht ersetzt werden kann: Justyna Grabowska: „Das heißt, wie man bei uns in Polen sagt, der Appetit kommt beim Essen. Das war leicht verdientes Geld, man musste nur hingehen und täglich gab es frisches Geld. Aber, zum Beispiel in der Landwirtschaft, muss man ein Jahr lang Schweine mästen, um sie zu verkaufen und dafür Geld zu bekommen. […] Und später ist es schwer, man hat sich daran so gewöhnt, das dünnste Brett zu bohren. Das ist sehr schwer, ich sage ja, von einem alten Wagen zu einem tollen [das ist einfach], sich aber dann in so eine [alte] Kiste setzen (Lachen), das geht dann nicht mehr. Genauso sage ich, solange das die Gesundheit erlaubt, werde ich noch [in Deutschland] arbeiten. Nicht in dem Tempo wie jetzt, aber ich werde arbeiten.“29

Wanderarbeit, so lässt sich der von Justyna beschriebene Prozess beschreiben, stabilisiert sich als Erwerbsform durch die kontinuierliche Steigerung des Lebensstandards. Der materielle Wohlstand bildet sozusagen den „Brennstoff“, der die Wanderarbeit am Leben erhält. Unterstützt wird die Popularität der Wanderarbeit in Rudnica durch die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und die geografische Nähe Niederschlesiens zu Deutschland.

29 Justyna Grabowska: „To znaczy, jak to u nas siĊ mówi w Polsce, apetyt roĞnie w miarĊ jedzenia. To byáy takie pieniądze, Īe na nie trzeba byáo tylko iĞü i codziennie ĞwieĪy pieniądz, a na przykáad w gospodarstwie, to trzeba byáo na przykáad Ğwinie chowaü rok czasu, Īeby sprzedaü i za to pieniądz. […] A to potem ciĊĪko siĊ przyzwyczaiü tak, Īeby na ten niĪszy puáap zejĞü. To jest bardzo ciĊĪko, tak jak mówiĊ, ze sáabego samochodu na lepszy to fajnie, ale potem na taki gracik siĊ przesiąĞü (Ğmiech) to juĪ nie idzie wtedy. Tak samo mówiĊ i z tym, i, i, i z tym, mówiĊ dopóki zdrowie pozwoli, to bĊdĊ jeszcze robiü, nie w takim tempie jak do tej pory, ale bĊdĊ robiü.“

R UDNICA – H EIMAT

POLNISCHER

W ANDERARBEITER

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Festhalten können wir, dass in Rudnica typische Kriterien eines Wanderarbeiter-Dorfes zu erkennen sind: • • • •

eine in Relation zum landesweiten Durchschnitt hohe Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, kleine landwirtschaftliche Betriebe mit schlechter technischer Ausstattung und geringem Ertrag, und schließlich eine große Anzahl von erfolgreichen Arbeitsmigranten.

Aus der Kombination dieser Faktoren bietet sich Wanderarbeit als eine Erfolg versprechende wirtschaftliche Strategie an.

Wanderarbeit in emotional-sozialer Perspektive

Aus Rudnica und anderen Orten Polens begeben sich die Wanderarbeiter nicht nur für landwirtschaftliche Erntearbeiten auf den Weg nach Westen. Während in der Landwirtschaft sowohl Männer als auch Frauen anzutreffen sind, wird die Langzeitbetreuung von Alten, Kranken und Kindern ebenso wie Dienstleistungen als private Reinigungskraft bis auf wenige Ausnahmen nur von Frauen wahrgenommen. Zur Domäne männlicher Arbeiten gehören dagegen Forst, Bau und Messebau. Für alle gilt jedoch, dass die Tätigkeiten nur befristet, häufig auf eine Saison begrenzt sind. Wanderarbeit, so kann man feststellen, hat in Polen unterschiedliche Inhalte und Formen. Zentrale Differenzierungsmerkmale sind die Tätigkeiten und die Dauer der Abwesenheit aus Polen. Der schon im Kapitel über Rudnica erwähnte Informatiklehrer Daniel Pilch ging nach Beendigung seines Studiums nach England, um dort in unterschiedlichen Bereichen zu arbeiten: Daniel Pilch: „Ich habe im Großhandel für elektronische Geräte, mit Computern und Druckern gearbeitet. Einen Monat danach stellte ich die Tastaturen für … für Registrierkassen zusammen. Ein Jahr lang in einem jüdischen Geschäft. Und später reparierte ich ein Jahr lang Poller. Je schwerer die Arbeit, desto mehr verdient man. Vielleicht war die Arbeit nicht leicht, doch wurde sie etwas besser bezahlt.“1

1

Daniel Pilch: „Pracowaáem w hurtowni, ze sprzĊtem elektronicznym. Z komputerami, z drukarkami. Miesiąc czasu. PóĨniej miesiąc czasu skáadaáem klawiatury do … do kas fiskalnych. Rok czasu w sklepie Īydowskim. I póĨniej rok czasu

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Jeder Arbeitsbereich stellt spezifische Anforderungen an die physischen Kräfte und die psychische Belastbarkeit oder erfordert besondere Kenntnisse. Beispielsweise steht der körperlichen Herausforderung eines Forstarbeiters, der beim Fällen und Zuschneiden der Bäume eingesetzt wird, die emotionale Belastbarkeit in der Pflege gegenüber, wenn die Pflegekraft für zwei Monate rund um die Uhr ansprechbar sein muss. In der Landwirtschaft werden wiederum physische und psychische Kräfte gefordert. Bei der Erdbeerernte müssen bis zu 16-stündige Arbeitstage in hockender Stellung durchgehalten werden. Zudem wohnt man wochenlang mit anderen Arbeitern auf engstem Raum zusammen. Gemeinsam ist allen Arbeitsbereichen, in denen Wanderarbeiter tätig sind, der Aspekt einer Herausforderung, die in den allgemein üblichen beruflichen Tätigkeiten nicht gegeben ist. Dabei muss es sich nicht unbedingt um Arbeiten im typischen Niedriglohnsektor handeln. Rechnet man jedoch die überlangen Arbeitszeiten beispielsweise in der Pflege auf den Verdienst um, so befindet man sich eben doch wieder im Niedriglohnbereich. Im zeitlichen Umfang unterscheiden sich die Arbeitsbereiche zum einen darin, wie oft sich ein Arbeiter im Laufe eines Jahres im Ausland aufhält, und wie lange der einzelne Aufenthalt jeweils dauert. Das umfangreiche Spektrum reicht vom ganzjährigen Arbeitseinsatz, der lediglich von einem Urlaub unterbrochen wird, bis zum wöchentlichen Pendeln nach Berlin. Dazwischen sind alle anderen Varianten anzutreffen: Erntehelfer, die einmal im Jahr für sechs Wochen in Deutschland arbeiten, oder Messebauer, deren zehnmonatiger Arbeitseinsatz nur alle sechs Wochen für ein verlängertes Wochenende unterbrochen wird. Darüber hinaus haben die Wanderarbeiten auch eine unterschiedliche Bedeutung für die jeweiligen Personen. Vor allem Putzfrauen, die jede Woche für einige Tage nach Deutschland zur Arbeit fahren, haben sich damit eine dauerhafte Erwerbsform geschaffen. Einige Arbeiter halten sich im Verlauf eines Jahres deutlich länger in Deutschland als in ihren Heimatorten auf. So arbeitet der Ehemann von Krystyna Bojar schon seit sieben Jahren jedes Jahr für neun Monate bei einer deutschen Messebaufirma. Da der Betrieb europaweit auf Messen vertreten ist, wechseln seine Einsatzorte ständig:

polery naprawiaáem. Im ciĊĪsza praca tym wiĊcej pieniąĪków siĊ zarabia nie. A moĪe nie byáo lekko ale pieniąĪki trochĊ lepsze.“

WANDERARBEIT IN EMOTIONAL-SOZIALER PERSPEKTIVE | 147

Krystyna Bojar: „Nein, nein, nein, neun Monate ununterbrochen, ständig fährt er. […] Letztlich ist es zu weit entfernt, um am Wochenende zu kommen, siebenhundert Kilometer. Manchmal gelingt es ihm am Wochenende zu kommen, praktisch einmal im Monat. Dort gibt es keine [Freizeit], sogar sonntags muss man arbeiten. Praktisch ist dort von April bis September Saison, so richtig intensiv.“2

Unter hohem Zeitdruck muss Krystynas Mann vorgefertigte Bauteile an den Messeorten zusammenfügen. Immer wieder, so berichtet er mir, werden dabei auch Nächte durchgearbeitet. Für Familie Bojar ist klar, dass die körperlich anstrengende Arbeit nur für einige Jahre durchzuhalten ist. Sie versuchen daher, die Zeit des relativ hohen Verdienstes für Investitionen in Polen zu nutzen. Für Krystyna Bojars Mann galt aufgrund der besonderen Bedingungen seines Arbeitsbereiches die zeitliche Befristung osteuropäischer Arbeitskräfte für den deutschen Arbeitsmarkt schon seit dem EUBeitritt Polens 2004 nicht mehr. Ebenso konnten auch in der Landwirtschaft die saisonalen Arbeitszeiten allmählich über die Grenze von drei Monaten ausgedehnt werden: M.W.: „Wie lange haben sie dort immer gearbeitet?“ Joanna BroĪek: „Nun, bei uns waren es zu Beginn drei Monate, so lange war das Visum gültig. Als wir dann der EU beitraten, war es auch für drei, später, meine ich, für vier Monate, und jetzt [2010] kann man ein halbes Jahr arbeiten. Für diese Zeit fahren wir, weil es Saisonarbeiten sind, und wir legal arbeiten mit Arbeitsvertrag.“3

2

Krystyna Bojar: „Nie, nie, nie, dziewiĊü miesiĊcy ciągáe, ciągáe, zjeĪdĪają sobie. [...] W sumie teĪ daleko jest, bo jest osiemset kilometrów, to tak na jeszcze na weekend. Czasami im siĊ uda na weekend zjechaü, to tak praktycznie raz w ciągu […] miesiąca. Bo tam nie ma, tam nawet i w niedziele trzeba pracowaü, jest czasami tak, Īe […] tam jest od kwietnia do koĔca wrzeĞnia praktycznie jest sezon taki intensywny bardzo.“

3

M.W: „Jak dáugo zawsze to byáo, taka praca tam?“ Joanna BroĪek: „No u nas z początku byáo na trzy miesiące, na tyle na ile byáa wiza prawda. PóĨniej jak weszliĞmy do unii, teĪ byáo na trzy, póĨniej chyba byáo na cztery, a teraz póá roku moĪna pracowaü. Na tyle jeĨdziliĞmy bo to prace sezonowe, i jeĨdziliĞmy po prostu legalnie na umowĊ o pracĊ.“

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Wie schon im vorigen Kapitel bemerkt, unterteilt Joanna BroĪek den Zeitraum von sechs Monaten in Blöcke von jeweils zwei Monaten. In diesem Rhythmus pendelt sie von März bis November zwischen unterschiedlichen Arbeitsplätzen in Deutschland und ihrem Heimatort Rudnica. In Rudnica organisiert sie den heimischen Haushalt und erledigt liegen gebliebene Arbeiten. Häufig sind die ersten ein oder zwei Wochen in Polen für sie angefüllt mit Terminen. Aber auch wenn der Ehemann von Krystyna Bojar für ein Wochenende nach Hause kommt, warten schon einige Arbeiten auf ihn. Selbstverständlich erfordert das eine vorsorgliche Planung und eine enge Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern während der Abwesenheit. ElĪbieta Jeleniewicz war fast fünfzig, als sie Ende der 1990er Jahre für ein halbes Jahr in Spanien arbeitete. Als Hauswirtschafterin hatte man ihr eine Stelle in einem Wohnheim für katholische Priester angeboten. M.W.: „Auf welche Weise hielten Sie Kontakt mit ihrer Familie?“ ElĪbieta Jeleniewicz: „Telefonisch und brieflich.“ M.W.: „Das heißt, täglich gab es solche Gespräche per Telefon?“ ElĪbieta Jeleniewicz: „Nein, nein. Ich sag Ihnen, das konnte ich mir nicht leisten. Sogar von dem Verdienst, den ich dort hatte, konnte ich es mir nicht leisten, täglich zu telefonieren. Ich rief regelmäßig einmal in der Woche zu Hause an. Meist am Sonntag, Sonnabend, Sonntag, nur so und Briefe, Pakete, auf diese Weise.“4

In den 1990er Jahren waren die Kommunikationsbedingungen beschränkter als heute. Telefongespräche waren teuer, Mobiltelefonnetze wurden erst aufgebaut und standen schon allein wegen der Kosten nur professionellen Nutzern zur Verfügung. Zum World Wide Web hatten nur ganz wenige Zugang, somit gab es auch noch keinen Austausch via E-Mail oder Internettelefonie. In vielen polnischen Dörfern kam noch der eingeschränkte Ausbau der Festnetzanschlüsse hinzu. Oftmals gab es nur drei oder vier Te-

4

M.W: „W jaki sposób trzymaáa Pani kontakt z rodziną?“ ElĪbieta Jeleniewicz: „Telefoniczny i listowny.“ M.W: „To, powiedzmy, codziennie byáy takie rozmowy przez telefon?“ ElĪbieta Jeleniewicz: „Nie, nie. Powiem Panu to nawet nie staü nas byáo, przy, nawet przy tych zarobkach które tam miaáam to mnie nie staü byáo, Īeby co, codziennie dzwoniü. Dzwoniáam regularnie co tydzieĔ do domu. PrzewaĪnie w niedzielĊ. Sobota, niedziela, to tylko tak no i listy, paczki, hm w taki sposób.“

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lefonanschlüsse in einem Ort. Telefonate liefen dann über Nachbarn oder über eine öffentliche Telefonzelle, die angerufen werden konnte. Wollte Justyna Grabowska damals aus Berlin mit ihren Angehörigen sprechen, so musste sie zunächst einen Nachbarn in ihrem Heimatort anrufen. Der lief dann zu ihrem Mann, um ihn zu informieren, und sie rief nach einigen Minuten erneut an. Neben den eingeschränkten Telekommunikationsmöglichkeiten war allerdings auch die Erreichbarkeit mit Bus, Bahn oder Pkw begrenzt. Justyna Grabowska berichtet, wie sie nach zwei Monaten in Berlin zum ersten Mal einige freie Tage nutzte, um ihre Familie zu sehen. Jedoch wohnten sie unweit der litauischen Grenze, und die Reise über Warschau per Bahn und Bus hätte zu lange gedauert, sodass sie sich mit ihrem Mann und ihren Kindern 180 Kilometer entfernt von ihrem Heimatort traf. Nach einigen Stunden musste sie schon wieder die Rückfahrt antreten, um rechtzeitig ihren Berliner Arbeitsplatz zu erreichen. Mittlerweile hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Heute halten Arbeitsmigranten engen Kontakt zu ihren Angehörigen und auch ElĪbieta Jeleniewicz, die bis heute in Deutschland arbeitet, ist mit ihrer Familie in einem eng gespannten Kommunikationsnetz verbunden: ElĪbieta Jeleniewicz : „Ich kann jederzeit und zu jeder Stunde telefonieren. Ich rufe meinen Mann an, wann ich möchte. Ist er nicht zu Hause, weil er auf dem Feld ist, und mein Sohn kommt aus der Schule, dann rede ich mit ihm und am Abend mit meinem Mann. Während des Tages rufe ich meine Mutter an. Oder am Morgen beim Frühstück kann ich auch mit meiner Mutter sprechen. Viel geht über Telefon, weil ich weiß, wer gerade zu Hause ist.“5

Via „Skype“6 kommunizieren einige Familien von Wanderarbeitern täglich miteinander. Auf diese Weise sind die Arbeitsmigranten in die alltäglichen Belange ihrer Familien in der Heimat eingebunden. Einschränkend muss

5

ElĪbieta Jeleniewicz: MogĊ sobie o kaĪdej porze dnia i godziny dzwoniü. TakĪe dzwoniĊ do mĊĪa kiedy mam ochotĊ. MĊĪa nie ma, jest na polu, syn przyjdzie ze szkoáy to z nim porozmawiam, wieczorem z mĊĪem. W dzieĔ sobie zadzwoniĊ do mojej mamy, czy tam rano po Ğniadaniu, sobie z mamą mogĊ takĪe. To jest bardzo duĪo ten, ten telefon bo ja na bieĪąco wiem co w domu.“

6

„Skype“ ist ein Internetprogramm mit dem über den PC via Bildtelefon kommuniziert werden kann.

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man hier jedoch bemerken, dass die dafür verfügbare Zeit abhängig von den unterschiedlichen Arbeitsbereichen ist. Erntehelfer sind in der Regel auf das Mobiltelefon angewiesen. Putzfrauen und Pflegekräfte hingegen nutzen ihre Unterkünfte langfristig und verfügen dort dann auch über die entsprechenden technischen Voraussetzungen für einen Internetanschluss.

W ANDERARBEIT UND F AMILIE : EINE KONFLIKTBEHAFTETE V ERBINDUNG ? Auch tägliche Kontakte der Wanderarbeiter mit ihrer Familie im Heimatort können nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier zwei parallele Lebenswelten bestehen. Beide organisieren ihren Alltag nach jeweils eigenen Bedürfnissen und Notwendigkeiten. Mit Beendigung des Arbeitseinsatzes und Rückkehr zur Familie müssen die verschiedenen Positionen wieder in Übereinstimmung gebracht werden. Selbst Kleinigkeiten müssen dann oftmals neu ausgehandelt werden. Anschaulich schilderte Justyna Grabowska die Schwierigkeiten, als sie nach mehrmonatiger Abwesenheit von zu Hause selbst Messer und Gabel nicht mehr am gewohnten Platz fand und auch Szymon Bulczak machte die Erfahrung der Entfremdung: Szymon Bulczak: „Ich komme, und wo ist das, und wo hast du das hingelegt? […] Wenn ich komme, ist sie auch genervt. […] Wenn ich nicht zuhause bin, und wenn ich dann nach Hause fahre, sage ich, ich wohne hier noch! […] Kürzlich war alles umgestellt, und als ich aufstehe, frage ich: Wo sind die Socken, Hose? Ich werde nicht in allen Schränken suchen.“7

Nicht nur die Trennung, sondern auch das wiederholte Einfinden in den gemeinsamen Alltag erfordert von beiden Seiten Einfühlung und Toleranz. Obwohl Familie Bulczak täglich die Ereignisse und Entscheidungen via Internettelefonie bespricht, treffen bei der persönlichen Zusammenkunft un-

7

Szymon Bulczak: „Ja chodzĊ, a gdzie jest to, a gdzie poáoĪyáaĞ? […] To jak ja pojadĊ to znowu ona sie denerwuje. […] Jak mnie nie ma, jak czĊsto przyjeĪdĪam do domu, to mówiĊ, ja tu jeszcze mieszkam! […] Ostatnio nawet poprzestawiaáo w tym, i ja mówiĊ tak, wstanĊ, mówiĊ, teraz pytanie, czyje skarpetki, spodnie. Ja nie bĊdĊ po wszystkich szafach szukaá.“

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terschiedliche Erwartungen und Pläne aufeinander, was zu Konflikten führen kann. Als besondere Schwierigkeit erweist sich die zeitliche Dauer der Abwesenheit. Sowohl Szymon Bulczak als auch Justyna Grabowska halten sich mehr als sechs Monate pro Jahr in ihrem deutschen Arbeitsort auf. Ihr Aufenthalt in der familiären Wohnung hat daher vom zeitlichen Umfang eher den Charakter eines Besuches. Gleichwohl bleibt ihr Lebensmittelpunkt, wie später noch weiter auszuführen ist, im polnischen Heimatort. Generell lässt sich sagen, die Konflikte reduzieren sich mit der Regelmäßigkeit und der Kürze der Abwesenheit von zu Hause. Erntearbeiter und Pflegekräfte, die regelmäßig für zwei oder drei Monate in Deutschland arbeiten und dann wieder für den gleichen Zeitraum in Polen wohnen, stehen hier vor einem größeren Problem als Reinigungskräfte, die jede Woche für einige Tage zur Arbeit fahren. Verschärft werden die Konflikte, wenn der Haushalt während der Arbeitsmigration von einer Verwandten geführt wird. In der Regel betrifft das Familien mit Kleinkindern, in denen die Frau migriert. Unausweichlich verändern sich alltägliche Abläufe: ElĪbieta Jeleniewicz: „Ich muss Ihnen sagen, wenn ich nach längerer Zeit zurückkam, fiel es mir schwer, mich wieder zu Hause einzufinden. Es machte mich nervös, wenn meine Schwiegermutter kam und sich weiter um den Haushalt kümmerte, sie mir sagte, wie ich was zu machen habe. Ich fühlte mich entfremdet. […] Wissen Sie, es geht darum, dass sie sich während meiner Abwesenheit ohne mich behelfen müssen. Aber wenn ich nach Hause zurückkam und die Veränderungen sah, war es für mich genauso schwer. Man musste sich wieder neu einstellen, dass ich zu Hause bin. Alles muss wieder zur Normalität zurückkehren.“8

8

ElĪbieta Jeleniewicz: „I muszĊ Panu powiedzieü, Īe jak na dáuĪszy okres czasu to jak przyjeĪdĪaáam to mnie siĊ byáo bardzo trudno odnaleĨü na nowo w domu. Denerwowaáy mnie takie sytuacje jak patrzyáam, Īe teĞciowa przychodzi, zajmuje siĊ tutaj domem dalej, coĞ mi mówi jak ja mam robiü. Ja siĊ czuáam taka wyobcowana. […] Wie Pan o co chodzi, Īe to, no oni musieli sobie radziü bez mnie. Ale jak ja wracając do domu widziaáam tą zmianĊ i to byáo takie same takie trudne dla mnie prawda. ĩeby to na nowo jednak jakoĞ przestawiü Īe, jestem w domu. Musi wszystko wróciü do normy.“

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ElĪbieta Jeleniewicz hatte sicherlich den Vorteil, bei ihrer Rückkehr einen ordentlich geführten Haushalt vorzufinden. In anderen Familien stehen Frauen erst einmal vor dem Problem, eine Menge liegen gebliebener Arbeiten erledigen zu müssen. Als ich während der Feldforschung eine Familie besuchen wollte, fertigte mich der Mann an der Tür mit der Bemerkung ab, bei dem Durcheinander möchte er mich lieber nicht in die Wohnung bitten. Hoffentlich, ergänzte er, schlägt seine Frau in Anbetracht der Unordnung nicht die Hände über dem Kopf zusammen. Je fester Familien die alltäglichen Aufgaben gemäß traditioneller Rollenmuster verteilt haben, umso größer sind die Probleme. Vor allem die alltäglichen Arbeiten im Haushalt bleiben oft bis zur Rückkehr der Frauen unerledigt. An dieser Stelle ist es angebracht, einen Blick auf die soziale Rolle der Frau in der Wanderarbeit zu werfen. Unter dem Schlagwort einer Feminisierung der Arbeitsmigration wird dabei der gestiegene Anteil von Arbeitsmigrantinnen beschrieben.9 Da sie dadurch vielfach die wirtschaftliche Sicherung ihrer Familien übernehmen, wird mit dem Begriff zudem die Auflösung traditioneller Rollen erfasst. Mobilität verändert das Verhältnis der Partner und Familienangehörigen.10 Die räumliche Trennung vom familiären Haushalt und die Verfügungsgewalt über den wichtigsten häuslichen Einkommensbereich werden in der Migrationsforschung als emanzipatorische Faktoren beschrieben. In der oben beschriebenen Beobachtung wird jedoch auch deutlich, dass es sich hier nicht um einen automatischen Prozess handelt, sondern es vielmehr auch zu einer Doppelbelastung unter Beibehaltung der traditionellen Rollen kommen kann. Darüber hinaus ist die Fokussierung auf die migrierenden Frauen zu hinterfragen. Insoweit Emanzipation nur auf die Arbeitsmigrantinnen bezogen wird, findet eine verengte Perspektive auf den Lebenskontext der Haushalte statt: Marta Bulczak: „Bei uns ist das so, wenn unsere Männer nicht da sind, organisieren wir einfach, weil wir wissen, dass wir nur auf uns zählen können und wir müssen uns mit allem auskennen. […] Als Wasser auslief, sage ich, ich werde nicht den Klempner rufen. Ich meine ich bin nicht so ahnungslos, ich stand davor, sehe, hier

9

Körber 2011: 96f.; Kaáwa 2010: 84; Lutz 2002: 170ff.

10 Collet/Dauber 2010: 173.

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geht das Rohr, hier ist jenes Rohr, dort ist das Ventil, und wenn ich das zudrehe … Nun man muss selber logisch…“ Krystyna Bojar: „Aber man muss selber ausprobieren, richtig?“11

Wenn der Ehemann im Ausland arbeitet und sich längerfristig nicht im Haushalt befindet, erweitern sich die Aufgaben der Frau um Bereiche, für die traditionell der Mann zuständig war. Vor allem wenn Familien das Einkommen aus der Arbeitsmigration in ein Bauvorhaben oder die Gründung eines Betriebes investieren, ergibt sich ein breites Spektrum neuer Anforderungen. Während der Mann von Marta Bulczak für die finanziellen Grundlagen sorgt, überwacht sie den Baufortschritt des gemeinsamen Wohnhauses und organisiert den landwirtschaftlichen Betrieb. Der emanzipative Charakter der Arbeitsmigration wird somit auch für die im heimatlichen Haushalt verbleibenden Frauen wirksam, und aus dem erfolgreich bewältigten Alltag resultiert eine Stärkung des Selbstbewusstseins. Zudem relativiert sich die wirtschaftlich starke Position des hauptverdienenden Ehemannes, da er durch seine Abwesenheit Entscheidungen nur begrenzt beeinflussen kann. Ein Arbeitsmigrant formulierte z.B., dass er sich manchmal nur noch als Geldgeber fühlte und in anderen Belangen ausgeschlossen wäre. Im Übrigen tritt nach unseren Beobachtungen der Emanzipationseffekt bei Männern, deren Frauen im Ausland Geld verdienen, seltener auf. In einigen Fällen kochen Frauen dann für mehrere Wochen im Voraus, organisieren den Schulbesuch der Kinder und planen die anstehenden familiären Aufgaben. Trotzdem kann man diese Überlegungen dahin gehend zusammenfassen, dass als Folge der Arbeitsmigration bei allen Haushaltsmitgliedern emanzipative Entwicklungen eintreten, es zugleich aber auch zu sozialen Ausschlussprozessen kommen kann. Mit unseren Annäherungen an die sozialen Probleme der Wanderarbeiter sind wir jetzt an einem Punkt angekommen, an dem auch die emotiona-

11 Marta Bulczak: „U nas to jest tak, jak nie ma mĊĪów, to my siĊ po prostu organizujemy, bo wiemy, Īe musimy liczyü tylko na siebie, i musimy siĊ znaü po trosze na wszystkim, prawda. […] JakoĞ ciekáa woda, no i mówiĊ, no przecieĪ nie bĊdĊ sobie hydraulika woáaü. MyĞlĊ, no taka ciemna nie jestem, stanĊáam w tym, patrzĊ tu idzie taka rura, tu idzie taka rura, tam no tutaj dochodzi ten zawór, a jak zakrĊcĊ … No i sam czáowiek musi taką logicznie…“ Krystyna Bojar: „Ale czáowiek musi sam wypróbowaü, prawda?“

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len Schwierigkeiten deutlicher werden. Daher erscheint es angebracht, die psychischen Belastungen und Lösungsstrategien näher zu betrachten. Für landwirtschaftliche Erntehelfer, die beispielsweise nur einmal im Jahr für ungefähr sechs Wochen im Ausland arbeiten, sind die psychischen Belastungen andersgeartet als bei länger andauernden Einsätzen. Gleichzeitig setzt im Verlauf einer regelmäßig über Jahre ausgeübten Arbeitsmigration ein Gewöhnungsprozess ein. Wanderarbeiter beschreiben in diesen Fällen meist den Beginn ihrer Tätigkeit als außergewöhnlich belastend. ElĪbieta Jeleniewicz arbeitet seit ungefähr zehn Jahren in der häuslichen Betreuung pflegebedürftiger Senioren. Als sie zum ersten Mal in die Arbeitsmigration ging, waren ihre Kinder 15, 13 und vier Jahre alt. In den ersten beiden Jahren kehrte ElĪbieta jeweils nach einem Vierteljahr für zwei Monate nach Polen zurück. Zu Hause konnte sie sich, wie sie sagt, immerhin noch auf die Unterstützung ihrer Schwiegermutter verlassen, die in der Zwischenzeit den Haushalt führte. Dennoch belastete die Wanderarbeit ihre gesamte Familie: ElĪbieta Jeleniewicz: „Wenn es auf die nächste Fahrt zuging, dann war schon einen Monat vorher die ganze Familie krank. Jetzt haben wir uns schon daran gewöhnt [Lachen]. […] Aber Leute, die nicht im Ausland waren, wissen nicht, wie man dort arbeiten muss, sie wissen nicht, wie beschwerlich es ist, dass man jederzeit auf jeden Ruf [eines Pflegebedürftigen] reagieren muss. Ich muss das so machen, als hätte ich zu Hause ein behindertes Kind. Man ist die ganze Zeit verfügbar, so ist die Arbeit organisiert.“12

Neben der körperlichen Belastung stellt für ElĪbieta die emotionale Belastung ein Problem dar. Die psychische Herausforderung besteht für sie in der Abwesenheit von ihrer Familie und in ihren eingeschränkten Möglichkeiten der Einflussnahme auf den familiären Haushalt. Mit dem Ausblenden aller

12 ElĪbieta Jeleniewicz: „TakĪe, jak przychodziáo do kaĪdego kolejnego wyjazdu to juĪ miesiąc wczeĞniej caáa rodzina byáa chora. To juĪ tak przeĪywaliĞmy wszyscy (Ğmiech). […] Ale ludzie jacy nie jeĪdĪą, nie wiedza jak to siĊ pracujĊ, to nie wiesza jakie to jest uciąĪliwe, Īe czáowiek musi byü na kaĪde zawoáanie, na kaĪdą chwilĊ. No ja musze byü po prostu, tak jak no jakbym siĊ miaáo w domu niepeánosprawne dziecko prawda. To caáy czas czáowiek jest, i na tej zasadzie dziaáa ta praca.“

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häuslichen Belange und der Konzentration auf ihren Arbeitsbereich gelingt ihr, wie sie berichtet, die Stressreduzierung. Belastend erlebt sie aber vor allem die vierundzwanzigstündige Verfügbarkeit in der häuslichen Pflege. Tatsächlich wohnen die Pflegerinnen in der Wohnung ihrer Patientinnen und sind während ihrer zweimonatigen Arbeitsschicht Tag und Nacht erreichbar. Neben den Ruhezeiten der Patienten, die auch den Arbeiterinnen eine Ruhezeit ermöglichen, gibt es meist noch Vereinbarungen über einen freien Nachmittag. Eine extreme Einschränkung der Selbstbestimmung gibt es für Wanderarbeiter aber nicht nur im Pflegebereich. Auch in der Landwirtschaft relativiert sich die frei verfügbare Zeit durch überlange Arbeitszeiten und die eingeschränkte Privatsphäre in Gemeinschaftsunterkünften. Andererseits besteht für die Pflegerinnen häufig das Problem der Vereinsamung, da sie aufgrund ihrer Arbeit nicht in Kontakt mit anderen Arbeitsmigrantinnen kommen. Als Justyna Grabowska in der Berliner U-Bahn einmal Polnisch hörte, fuhr sie einfach ein paar Stationen weiter, nur um den vertrauten Klang ihrer Muttersprache zu genießen: Justyna Grabowska: „Es war schwer zu überstehen, täglich, einfach täglich … dachte ich nur an zu Hause. Tag für Tag nahm ich ab, 20 Kilo innerhalb von zwei Monaten, und das nicht etwa, weil ich nichts zu essen hatte, ich mochte einfach nichts essen. Ich schaute auf den Kühlschrank und dachte an zu Hause.“13

D AS E THOS DER W ANDERARBEIT Fast automatisch werfen die Schilderungen der psychosozialen Schwierigkeiten noch einmal die Frage nach den Gründen der Arbeitsmigration auf. An erster Stelle stehen natürlich wirtschaftliche Aspekte, denn ohne den relativ lukrativen Gewinn – gemessen am polnischen Lohnniveau – wäre Wanderarbeit nicht denkbar. Es lassen sich jedoch noch vier weitere Faktoren beschreiben, die für eine kontinuierliche Fortsetzung der Wanderarbeit ausschlaggebend sind. Als erster Faktor ist der Prozess einer Gewöhnung

13 Justyna Grabowska: „No ciĊĪko to przeĪyáam, po prostu codziennie, codziennie … myĞlaáam tylko o domu. Chudáam z dnia na dzieĔ, 20 kilo przez 2 miesiące schudáam i to nie dla tego, Īe ja nie, nie miaáam co jeĞü, ja po prostu nie mogáam jeĞü. Patrzyáam na lodówkĊ, myĞlaáam o domu.“

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an die Belastungen zu nennen. Wie in dem oben zitierten Interview von Justyna Grabowska deutlich wird, reduziert sich innerhalb eines über mehrere Monate und Jahre verlaufenden Prozesses die emotionale Belastung der Trennung von der Familie. Beim zweiten Faktor handelt es sich um einen Prozess der Gewöhnung an den gestiegenen Lebensstandard. Immer wieder berichten die Wanderarbeiter davon, dass ihre Konsumwünsche mit einem polnischen Arbeitseinkommen nicht zu befriedigen sind. Beide Gewöhnungsprozesse verlaufen in einer konträren Kurve: Während auf der zeitlichen Schiene die emotionale Belastung abnimmt, steigt spiegelbildlich das Interesse an einem erhöhten Konsum. Aus dem Zusammenspiel beider Faktoren entwickelt sich die Wanderarbeit als Lebensform. Als dritter Faktor kommt eine positive symbolische Bewertung der Wanderarbeit durch die Akteure hinzu. Unterstützt werden die Prozesse der Gewöhnung durch die symbolische Kategorie der Bewertung von Arbeitsmigration als Ausdruck moderner Lebensweise: Szymon Bulczak: „Wir arbeiten im Akkord. Klar, im Akkord verdient man mehr. Aber wenn ich beispielsweise am Sonnabend vor dem Fernseher sitzen könnte …, dann sage ich zum Chef: ‚Gib mir eine Arbeit! Ich bin nicht hergekommen, um rumzusitzen. Ich werde mich hinsetzen, wenn ich 60 bin.‘ […] Ich sage: ‚Gib uns irgendeine Arbeit, und wir erledigen sie!‘ […] Im Auto haben wir immer einen Computer. Wenn meine Frau zu Hause ist … [telefonieren wir], na ich sage, so, das ist die europäische Lebensart, weil wir um zwölf eine Pause haben.“14

Für Szymon Bulczak steht sicherlich auch der Verdienst an erster Stelle, doch zugleich beschreibt er seine mobile Arbeitsweise auch als Ausdruck „europäischer Lebensart“. Als Europäer bewegt er sich in der Europäischen Union und sucht sich dort seine Arbeitsmöglichkeiten. Bei allen emotionalen Problemen, von denen er auch berichtet, erlebt er seine Arbeitsweise als

14 Szymon Bulczak: „Bo my pracujemy w systemie akordowym. Wiadomo, w akordzie czáowiek zawsze wiĊcej zarobi. A jak ja miaáem siedzieü przykáadowo w sobotĊ, przed telewizorem...to ja mówiĊ do szefa: ‚Daj mi coĞ do roboty! Ja tu nie przyjechaáem siedzieü. Ja bĊdĊ siedziaá jak bĊdĊ miaá szeĞüdziesiąt lat.‘ […] Ja mówiĊ: ‚Daj cokolwiek nam do pracy, my bĊdziemy robiü!‘ […] Zawsze mamy komputer w samochodzie. Jak Īona jest w domu … no to mówiĊ, takie, ten jest styl europejski, bo od godziny dwunastej jest jakaĞ tam przerwa.“

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notwendige Anpassung an aktuelle ökonomische Entwicklungen. Hier spielt die Erfahrung der Transformation des polnischen Gesellschaftssystems aus einer osteuropäischen Volksrepublik in ein westliches marktorientiertes System eine zentrale Rolle. Die Öffnung der Grenzen und des europäischen Arbeitsmarktes stellt zweifellos eine moderne Entwicklung dar.15 Indem sie von Syzmon Bulczak allerdings ausdrücklich als „europäische Lebensart“ beschrieben wird, erhebt er seine Lebensweise zur Norm. Beziehen wir seine Aussage auf die soziale Situation seines Heimatortes Rudnica, dann kommen Einwohner, die nicht die Gelegenheit der Arbeitsmigration ergreifen, schnell in den Ruf rückwärtsgewandt oder faul zu sein. Arbeitsmigration wird zum Ausdruck einer modernen europäischen Lebensweise. In dieser Situation wird Wanderarbeit zu einem Symbol der Abgrenzung gegenüber denjenigen, die keinen Zugang zu dieser Erwerbsform haben. Diese symbolische Kraft entfaltet ihren distinktiven Charakter jedoch nur in der Gegenüberstellung mit jenen Akteuren, die zu Hause bleiben.16 Aufgrund dieses Prozesses werden die unqualifizierten Tätigkeiten der Wanderarbeiter im Niedriglohnsektor emotional nicht als belastend erlebt, da sie zu einer Statuserhöhung in ihrer Heimat führen. Der Arbeitsmigrant gehört häufig nicht nur aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel zur lokalen Elite, sondern auch durch seinen Lebensstil. In dieser Selbsterhöhung ist ein stabilisierender Effekt der Arbeitsmigration zu sehen. Die emotionalen Belastungen lassen sich mit dieser Konstruktion leichter ertragen und werden zum stabilisierenden Element der Migration. Wanderarbeiter beziehen ihr Selbstbewusstsein auch aus der Erfahrung, die Probleme der Migration gelöst und die Anforderungen erfüllt zu haben. In den Erzählungen dienen die physischen und psychischen Belastungen gegenüber dritten Personen als Beleg für eigene Fähigkeiten und Ausdauer. Dazu gehören Gesundheit, körperliche Kraft und emotionale Stabilität, aber auch Kenntnisse jeder Art. In den Interviews wird immer wieder

15 Der Zusammenbruch in Osteuropa 1989/1990 wurde von den Modernisierungstheorien als notwendiger Schritt gesehen. Demnach war die marktwirtschaftliche Veränderung eine notwendige Voraussetzung für die weitere Entwicklung (Pütz 1998: 56f.). In dieser Perspektive einer nachholenden Modernisierung wird jedoch unterschlagen, dass es sich bei Polen und den anderen Volksrepubliken in Mittelosteuropa um industrialisierte Staaten handelte. 16 Bourdieu 1992: 146; Neckel, 1991: 245.

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ein Arbeitsethos bemüht, wonach polnische Wanderarbeiter viel und lange arbeiten würden. Beispielsweise wird das deutlich, wenn eine Arbeitsmigrantin von einem Verwandten berichtet, der in Deutschland täglich siebzehn Stunden arbeitete und auf diese Weise innerhalb einer Woche 1.800 Euro verdiente. Auch wenn es sich in der Regel um Arbeiten im Niedriglohnsektor handelt, für die keine weitergehenden Fachkenntnisse erforderlich sind, werden sie zu einem Element der Stabilisierung des Selbstbewusstseins. Wobei diese Argumentation selbstverständlich nur auf der Grundlage eines deutlichen Kaufkraftgewinns in Polen zum Tragen kommt: Justyna Grabowska: „Obwohl, wenn mir jemand sagt, o putzen, was ist das schon, nimm einen Lappen und los. Falsch! Wenn jetzt jemand kommt, oder wenn ich jemandem eine Arbeit vermitteln will, das ist nicht so einfach! Mit vielen Jahren [Erfahrung] sage ich, ich sehe sofort, hier, hier, hier und schon ist alles klar. Jede Arbeit, sage ich, jede Arbeit ist wichtig. Als ich noch ein Schulkind war, da putzte meine Mutter in der Schule, und ich war deshalb verlegen. Und jetzt mache ich dasselbe, mit einem mittleren Bildungsabschluss.“17

Mit dieser Interpretation haben wir eine Perspektive eröffnet, die zeigt, dass in einem widersprüchlichen Prozess die Belastungen gerade nicht zur Beendigung der Wanderarbeit führen, sondern vielmehr deren Kontinuität sichern. Die daraus sich ableitenden gesellschaftspolitischen Folgen können innerhalb dieser Forschung nur skizziert werden. Deutlich wird aber auch, dass dieser widersprüchliche Prozess nicht zu einer Politisierung der Wanderarbeiter führt, die sie dazu veranlassen würde, eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen einzufordern.

17 Justyna Grabowska: „ChociaĪ jak ktoĞ by powiedziaá, Īe o posprzątaü to co to jest, wziąá szmatkĊ i tam tego. Nieprawda! Teraz, jeĪeli ktoĞ przyjedzie tylko i ja na przykáad chcĊ wprowadziü kogoĞ na na robotĊ, to nie takie to proste! JuĪ przez tyle lat to ja mówiĊ, to od razu siĊ tylko spojrzy, tu, tu, tu i juĪ wiadomo. KaĪda praca, mówiĊ, kaĪda praca jest waĪna. KiedyĞ jak moja mama sprzątaáa, jak ja byáam jeszcze dzieckiem i do szkoáy chodziáam, w szkole mama sprzątaáa, to tak krĊpowaáo mnie trochĊ, Īe a mama sprząta. A teraz ja robie to samo, ze Ğrednim wyksztaáceniem.“

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A RBEITEN IN D EUTSCHLAND – L EBEN IN P OLEN M.W.: „Die ganze Zeit arbeiten sie an dem gleichen Ort?“ Joanna BroĪek: „Ja, ja, ja.“ Edward BroĪek: „Ja, ja. Zum ersten Mal vor 15 Jahren, immer dort.“ Joanna BroĪek: „Nur dort.“ M.W.: „Und besteht dort irgendein Kontakt mit Deutschen?“ Edward BroĪek: „Nein. […] Es ist so, man weiß, dass man in Deutschland ist, aber man musste nicht einmal ein wenig [Deutsch sprechen]. Wenn man im Laden war, musste man ein wenig radebrechen [Lachen]. […] Aber im Allgemeinen arbeitet man mit Polen, daher sind wir unter uns. […] Man merkt nicht, dass man im Ausland, im Exil ist, und dass es weit nach Hause ist, weil dort so eine Menge von unseren Leuten ist.“18

Joanna und Edward arbeiten als landwirtschaftliche Erntehelfer in Deutschland. Obwohl sie seit einem langen Zeitraum, häufig mehrmals im Jahr, im gleichen Ort arbeiten, bestehen praktisch keine Kontakte zum deutschen Umfeld. Allenfalls bei den notwendigen Lebensmitteleinkäufen kommen sie mit der deutschen Umgebung zusammen. Jedoch handelt es sich auch hierbei lediglich um oberflächliche Kontakte. Tatsächlich besteht weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit, Beziehungen mit Einwohnern einzugehen. Da man auch nur mit polnischen Kollegen zusammenarbeitet, nimmt man kaum wahr, dass man sich im Ausland befindet. Dieses bemerkenswerte Phänomen wird immer wieder von Erntehelfern geäußert und betrifft in erster Linie Betriebe mit einer hohen Anzahl von Saisonarbeitern.

18 M.W.: „To caáy czas praca jest w tej samej miejscowoĞci.“ Pani: „Tak, tak, tak.“ Pan: „Tak, tak pierwszy piĊtnaĞcie lat temu i zawsze, zawsze tam.“ Pani: „Tylko tam.“ M.W.: „I czy istnieje jakikolwiek kontakt z Niemcami tam?“ Pan: „Nie. […] TakĪe, byáo to, no czáowiek wiedziaá, Īe jest w Niemczech ale nie musiaá ani zbytnio no jedynie, Īe jak siĊ do sklepu pojechaáo to siĊ musiaá trochĊ po gimnastykowaü Īeby coĞ [Ğmiech]. […] A tak w ogóle siĊ pracuje wĞród Polaków takĪe wiĊc jesteĞmy tak, wĞród swoich nie. […] Nie odczuwa siĊ tego tak bardzo, Īe siĊ jest za granicĊ na obczyĨnie i Īe do domu daleko, Īe tam jest takie skupisko tych ludzi.“

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Die Größe der Gruppe reduziert die Außenkontakte und fördert die soziale Abschottung. In Kleinbetrieben besteht zumindest ein engerer Kontakt zum Arbeitgeber und dessen Familie, der allerdings selten als intensiv bezeichnet werden kann. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass die polnischen Arbeiter zu dörflichen Feiern eingeladen werden, oder der deutsche Arbeitgeber in seinem Urlaub polnische Saisonkräfte in deren Heimatland besucht. Jedoch handelt es sich hierbei um seltene Ereignisse. Üblicherweise begrenzen schon die überlangen Arbeitszeiten den Spielraum für eine Begegnung zwischen den polnischen Arbeitern und deutschen Einwohnern und so entspricht die Beschreibung von Familie BroĪek, die schon seit fünfzehn Jahren am selben Ort arbeitet, der allgemeinen Situation. Zwar mag es Erstaunen hervorrufen, wenn sich im Verlauf dieser langen Zeiträume praktisch keine Beziehungen zwischen Deutschen und Polen ergeben, jedoch ist das Phänomen aufgrund der Rahmenbedingungen in der Landwirtschaft gut nachvollziehbar. Wie stellt sich die Situation aber für Wanderarbeiter aus anderen Tätigkeitsbereichen dar, z.B. für in Deutschland arbeitende Raumpflegerinnen? Sie kommen sowohl aus grenznahen Orten als auch aus weiter östlich gelegenen Woiwodschaften. Die Nähe zu Berlin eröffnet Frauen aus den an Deutschland angrenzenden Regionen ein schnell erreichbares Arbeitsfeld. Während Erntehelfer für mehrere Wochen in Deutschland sind, pendeln Raumpflegerinnen in einem mehrtägigen Rhythmus, beispielsweise zwischen Berlin und dem schlesischen Dorf Rudnica. Eine meiner Gesprächspartnerinnen, die schon seit über zehn Jahren in Berlin arbeitet, bezeichnet sich und ihre Tätigkeit als „Perle“. Ihre Arbeit konzentriert sich auf die Reinigung von Büroräumen und privaten Haushalten. Im Verlauf der Jahre hat sie sich einen festen Stamm an Kunden aufgebaut – neben einigen Unternehmen und Rentnern vor allem berufstätige Personen –, für die sie wöchentlich oder im zweiwöchentlichen Rhythmus arbeitet. Von den meisten Wohnungen besitzt sie einen Schlüssel, so kann sie dort während der Abwesenheit ihrer Arbeitgeber agieren. Oftmals sieht sie ihre Kunden monatelang nicht. Die Geldübergabe erfolgt auf Vertrauensbasis, indem der Betrag mit einer Notiz bereitliegt. Die Arbeit in Berlin ist für Frauen aus Schlesien attraktiv, da sie in kurzen Abständen zwischen ihren Familien in Polen und dem Arbeitsplatz in Berlin wechseln können. Zuzanna Jalowy beispielsweise verlässt ihren Wohnort Rudnica montagnachmittags und kehrt donnerstagabends aus Berlin zurück. Nur Raumpfle-

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gerinnen, die aus den östlichen Woiwodschaften kommen, bleiben immer für mehrere Wochen in Berlin. Ähnlich den Pflegekräften wechseln sie sich mit einer Kollegin alle vier bis acht Wochen ab. Das wöchentliche Pendeln der Frauen aus Rudnica erfordert von ihnen eine genaue Zeiteinteilung, um auch den Aufgaben zu Hause gerecht zu werden. In der kurzen Anwesenheit in Rudnica müssen nicht nur häusliche Arbeiten erledigt werden, sondern auch Arztbesuche, Elterngespräche mit Lehrern oder Behördengänge. Deutlich wurde das Problem während der Feldforschung, als vereinbarte Verabredungen für ein Gespräch in Rudnica immer wieder verschoben wurden. In einigen Fällen war es einfacher, sich in Berlin zu treffen, denn außerhalb der Arbeitszeit bestanden dort keine weiteren Verpflichtungen. Über den Berliner Alltag der Arbeitsmigrantinnen gibt Justyna Grabowska Auskunft. Sie arbeitet seit Beginn der gesellschaftlichen Transformation Polens regelmäßig in Berlin. Da sie aus einer Kleinstadt nahe der litauischen Grenze kommt und dort ihren Wohnsitz hat, ist sie immer für mehrere Wochen in Berlin: Justyna Grabowska: „Heute sage ich, wenn ich schaue: die Hälfte meines Lebens als Erwachsene in Berlin. Nur so: Arbeit, Zuhause, Arbeit, Zuhause. Ich sage ja, obwohl ich jetzt die Wohnung habe, und die Kolleginnen am Wochenende wegfahren, weil hier noch zwei Kolleginnen in dem zweiten Zimmer wohnen. Es ist auch ein wenig, ein wenig anders geworden. Aber am Anfang hatte ich auch ein Zimmer mit fünf Personen gemietet, damit es billiger ist, nur Matratzen ausgelegt. Aber jetzt möchte ich schon ein wenig psychischen Komfort, nicht auf einem Haufen, nur so ein wenig ruhiger.“19

Bei der Beschreibung von Justyna Grabowska handelt es sich um eine typische Wohnsituation polnischer Wanderarbeiterinnen, die in einer deutschen

19 Justyna Grabowska: „No i tak teraz mówiĊ, jak patrzĊ, poáowĊ dorosáego Īycia w Berlinie. Tylko tak praca, dom, praca, dom, no mówiĊ teraz to chociaĪ te mieszkanie mam, to koleĪanki na weekend wyjeĪdĪają, bo to koleĪanki dwie mieszkają w tamtym drugim pokoju jeszcze. TakĪe troszeczkĊ, troszeczkĊ tak inaczej, ale na początku teĪ siĊ wynajmowaáo jeden pokój, 5 osób, aby taniej byáo, materace tylko porzucane, a teraz juĪ siĊ chce takiego troszeczkĊ komfortu psychicznego, nie na gromadzie, tylko juĪ tak troszeczkĊ spokojniej.“

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Großstadt als Reinigungskraft arbeiten. Gemeinsam mit mehreren Kolleginnen mieten sie eine Ein- oder Zweizimmerwohnung an. Erst nach über zehn Jahren hat Justyna ein Zimmer für sich allein gemietet, während sich zwei Kolleginnen weiterhin den zweiten Raum teilen. Die räumliche Nähe, das Teilen von Bad und Küche erfordert Rücksichtnahme und wird von ihr als psychisch anstrengend erlebt. Unabhängig davon, ob sich eine Wanderarbeiterin, wie Justyna, immer für mehrere Wochen in Berlin aufhält oder jede Woche für einige Tage nach Polen zurückfährt, in den meisten Fällen leben sie am Arbeitsort unter spartanischen Bedingungen, um ihre Ausgaben dort so gering wie möglich zu halten. Dieses Prinzip gilt für alle Wanderarbeiter, egal ob sie als Erntehelfer, Reinigungsfrauen oder in der privaten Pflege arbeiten. Mit Justyna Grabowska treffe ich mich in ihrer Wohnung im Erdgeschoss eines Berliner Hinterhauses. Sie hat ihr Zimmer mit Schrank, Bett, Tisch und Sesseln wohnlich ausgestattet. Alle Einrichtungsgegenstände erhielt sie kostenlos von Arbeitgebern, die sich neu einrichteten, oder von Kolleginnen. Auf einem Schreibtisch steht ihr mit Kamera und Mikrofon ausgestattetes Notebook, mit dem sie den täglichen Kontakt zu ihrer Familie aufrechterhält. Bei unserem Gespräch sitzen wir an einem Couchtisch, unter dessen Glasplatte Fotos ihrer Angehörigen befestigt sind. Aus der Küche höre ich das Rundfunkprogramm eines polnischen Senders. Das Leben der Wanderarbeiter zerfällt in zwei Hälften, die sich geografisch, emotional und inhaltlich deutlich voneinander unterscheiden. Am Arbeitsort werden keinerlei Anstrengungen für eine soziale Verankerung unternommen. Um die Ausgaben zu verringern, verzichtet man auf den Besuch kultureller Veranstaltungen, auch Cafés und Restaurants werden nicht frequentiert. Alle Belange des Lebens, die über das reine Verdienen des Lebensunterhaltes hinausgehen, werden auf die Zeit in Polen verschoben. Pointiert kann man sagen, dass Wanderarbeiter ihre Arbeitszeit nicht als gelebte Zeit organisieren. Während diese Lebensweise für den ein- bis zweimonatigen Einsatz als Erntehelfer noch nachvollziehbar ist, finden wir bei den Reinigungsfrauen auch nach zehn oder zwanzig Jahren wöchentlichen Pendelns überraschenderweise das gleiche Phänomen. Der Kontakt von Wanderarbeitern zu ihrem deutschen Umfeld beschränkt sich, abgesehen von Ausnahmen und dem beruflich notwendigen Austausch, auf eine distanzierte äußere Perspektive. An einem arbeitsfreien Wochenende, so berichtet eine Raumpflegerin aus Berlin, fährt sie mit öf-

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fentlichen Bussen durch die Stadt und betrachtet das Leben auf den Straßen, ohne jedoch weiter in Kontakt zu treten. Aufgrund der hohen Zahl polnischer Wanderarbeiter hat sich in Deutschland in den vergangenen Jahren eine eigene Infrastruktur gebildet. Polnische Wanderarbeiter finden hier ein Angebot, das es ihnen ermöglicht, ihre Bedürfnisse weitestgehend in einem polnischsprachigen Umfeld zu erledigen. Schon vor der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes gab es für Reinigungsfrauen die Möglichkeit, sich als Einpersonenbetrieb selbstständig zu machen und auf diese Weise legal in Deutschland zu arbeiten. Die notwendigen Formalien hierfür, von der Anmeldung über die Versicherungen bis zur Einkommensteuererklärung, werden wiederum von Polen durchgeführt, die sich auf diesen Erwerbszweig spezialisiert haben. In Berlin hat man die Möglichkeit, den Führerschein in polnischer Sprache zu machen, Kirchen bieten polnische Gottesdienste an, und polnische Lebensmittelläden verkaufen polnische Waren. Die jeweiligen Adressen kursieren unter den Kolleginnen, sind im Internet abrufbar und werden in speziellen Zeitschriften publiziert.20 Während der Sommermonate fallen in den Landkreisen, in denen vermehrt polnische Erntehelfer anzutreffen sind, Wohnmobile mit polnischen Kennzeichen auf, die für die Versorgung mit polnischen Waren sorgen. Von der polnischen Mobilfunkkarte über Zigaretten bis zu heimischen Wurstwaren kann der Wanderarbeiter hier alles bekommen. Auf diese Weise hat sich eine an die Bedürfnisse der Arbeitsmigranten orientierte Infrastruktur gebildet.

20 In Berlin erscheint das Magazin „Kontakty“ (www.kontakty.org) als kostenloses Anzeigenheft. Seit 1995 findet der polnische Wanderarbeiter hier alle notwendigen Adressen polnischsprachiger Betriebe. Ärzte, Krankengymnasten, Rechtsanwälte, Steuerberater, Krankenversicherungen, Frieseure, Dolmetscher oder Bestattungsinstitute bieten ihre Dienste ebenso an wie Reiseunternehmen, Autoreparaturwerkstätten, Detektive und ein Tierarzt.

Erntehelfer in der Tradition der „Sachsengänger“

Ein mit Bigos in Gläsern, Konservendosen, Leberwurst und diversen Instantsuppen gefüllter Einkaufswagen, der durch den Laden einer polnischen Kleinstadt geschoben wird, ist ein untrüglicher Hinweis auf die Reisevorbereitungen eines Wanderarbeiters. Seine Arbeit wird ihm kaum Zeit fürs Kochen lassen, deswegen kauft er bevorzugt Instantartikel und Fertiggerichte mit langer Haltbarkeit. Vom Supermarkt macht er noch einen Abstecher in eine Apotheke, um sich mit Schmerzmitteln, Salben und Pflaster einzudecken, sollten die Glieder schmerzen oder andere Beschwerden auftreten. Wo Arbeitsmigrationen zur gängigen Praxis geworden sind, gehört dieses Bild zum Alltag, wie wir während der teilnehmenden Beobachtung in den polnischen Gemeinden Biágoraj, Olecko und ĝwierzawa feststellen konnten. Die Menschen reisen nach wie vor „na saksy“ (dt. nach Sachsen) oder „do raichu“ (dt. ins Reich), wobei diese populären Begriffe für eine kurzfristige Beschäftigung in Deutschland nicht zwingend eine Arbeit in der Landwirtschaft beschreiben.1 Im Jahr 2004, als Polen der EU beitrat, lag die Zahl der polnischen Wanderarbeiter in Deutschland bei rund 300.000 und bis 2008 stieg sie auf

1

Marek 2008: 11.

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455.000.2 Deutschland war zum Zeitpunkt des polnischen EU-Beitritts der größte „Importeur“ polnischer Arbeitskraft und auch heute übt die Saisonarbeit in Deutschland für viele Menschen aus Mittelosteuropa eine starke ökonomische Anziehungskraft aus. Gleichwohl setzte mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union ein Wandel traditioneller Migrationswege ein. Auf der Suche nach lukrativen Arbeitsplätzen entdeckten Migranten neue Ziele in Großbritannien und Irland. In Deutschland machten 2005 Gerüchte die Runde, wonach polnische Arbeitnehmer an einer Beschäftigung in der deutschen Landwirtschaft nicht mehr interessiert seien.3 Dementsprechend überrascht waren Beobachter in den folgenden Jahren, als sie feststellten, dass es nach wie vor sehr viele „Sachsengänger“ gibt. Obwohl in den Jahren 2005 und 2006 die Zahlen kurzfristig rückläufig waren, blieb Deutschland nach Großbritannien das wichtigste Zielland polnischer Arbeitsmigranten. Darin zeigt sich eine historische Kontinuität, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts unabhängig vom Verlauf der Grenzen, der staatlichen Zugehörigkeit einzelner Gebiete sowie ihrer jeweiligen Staatsform besteht. Historisch betrachtet war Deutschland, nach Nordamerika, seit dem 19. Jahrhundert das zweitwichtigste Auswanderungsland für Polen. Man kann hier eine strukturelle Kontinuität in der Ost-West-Migration zwischen Polen und Deutschland erkennen, bei der die geografische Nähe sowie das große wirtschaftliche Gefälle die treibenden Kräfte sind. Im Unterschied zu der auf Dauer angelegten Emigration haben die neuen polnischen Migrationen seit Beginn der 1990er Jahre hauptsächlich zirkulären Charakter.4 Bilaterale Abkommen zwischen Polen und Deutschland über die Entsendung von polnischen Arbeitnehmern nach Deutschland zielten schon in den 1990er Jahren auf eine Bekämpfung der polnischen Arbeitslosigkeit.5 Zu Beginn der 1990er Jahre durften polnische Saisonarbeiter maximal drei Monate legal in Deutschland beschäftigt werden. Erst all-

2

KĊpiĔska 2008: 145ff.; Frelak 2012: 17.

3

Vgl. z.B.: http://www.shortnews.de/id/706086/polnische-erntehelfer-keine-lustmehr-auf-deutschland vom 15.08.2012.

4

Vgl. JadĨwiĔska/Okólski 2001; Kaczmarczyk/àukowski 2004; Morokvasic 2004.

5

Ogólski 2004: 26.

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mählich verlängerte man von deutscher Seite die Frist auf zunächst vier, danach auf sechs Monate. Am 1. Januar 2011 wurden die Beschränkungen des deutschen Arbeitsmarktes für polnische Staatsbürger komplett aufgehoben.6 Der von einigen Kommentatoren befürchtete massenhafte Ansturm auf den deutschen Arbeitsmarkt blieb jedoch aus. Die Arbeitsverwaltungen vermitteln nur einen kleinen Teil der offenen Stellen, meist schließen deutsche Landwirte und polnischen Erntehelfer ihre Verträge unter Umgehung der Arbeitsämter mit Unterstützung informeller Vermittler. In der Regel kann ein Arbeitssuchender in Polen eine Stelle in Deutschland nur bekommen, wenn er zu einem von einem informellen polnischen Vermittler organisierten „Migrationsnetzwerk“ gehört.7 Annoncen im Internet werden von den meisten Interessenten misstrauisch betrachtet, da deutsche Arbeitgeber dort nur ausnahmsweise nach Erntehelfern suchen. Zudem fürchten polnische Arbeiter in der Anonymität des Internets betrogen zu werden. Vor diesem Hintergrund kann man vermuten, dass Informationen über offene Stellen für jene Polen, die nicht zu einem Netzwerk gehören, unerreichbar sind. Während die Vermittlung über das Internet nur eine marginale Rolle spielt, nutzen Arbeitsmigranten allerdings Internetforen zum Austausch von Informationen über Arbeitsbedingungen.8 Nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes tobten im Internet Diskussionen über die Beschäftigung „beim Deutschen“. Viele Fragen kreisten um Finanzen, Steuern, die Höhe der Lebenshaltungskosten, vor allem aber um die Frage, wie viel man „auf die hohe Kante legen“ kann. In Polen herrscht zwar die Überzeugung, dass man in Deutschland „Kasse machen kann“, doch zugleich bestehen häufig auch überzogene Erwartungen. Mit Neid schaut man auf den Nachbarn, der soeben mit gut gefülltem Portemonnaie aus Deutschland heimgekehrt ist, ohne sich Gedanken darüber zu machen, welch schwere Arbeit er hinter sich hat. Gleichzeitig kursieren immer wieder Gerüchte über „Arbeitslager“, in denen Saisonarbeiter ausgebeutet und unter schlechten Bedingungen untergebracht werden. Obwohl ein großer Prozentsatz der Bevölkerung

6

Arbeitsgenehmigungsverordnung BGBl I 2010/27, S. 1536.

7

Vgl. Becker 2010; KĊpiĔska 2008.

8

Beispiele dafür liefern z.B.: www.oszukany.pl, www.pracaseznowa-w-niem czech.pl vom 01.12.2010.

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Erfahrungen mit der Arbeit „na saksach“ (dt. in Sachsen)9 hat, erhält man nur schwer zuverlässige Informationen über das alltägliche Leben der Saisonarbeiter. In der wissenschaftlichen Literatur wird dieses Thema ausgeblendet und der Fokus eher auf die quantitative Erfassung des Phänomens gelegt. Die Saisonarbeit in der Landwirtschaft bildet eine besondere Beschäftigungsform, da Dauer und Intensität von der Ernte und der jeweiligen Wetterlage abhängen. In der Regel dauert die Hochsaison nur wenige Wochen, jedoch kann sie sich je nach Betrieb und Pflanzenart auch vom Frühjahr bis in den Spätherbst erstrecken. Selbst im Dezember gibt es noch Arbeit, z.B. beim Sortieren von Äpfeln im Kühllager oder bei der Anzucht von Erdbeerpflanzen in speziellen Gewächshäusern. Mehrheitlich kommen die Arbeiter für sechs bis zwölf Wochen nach Deutschland und versuchen ihren Aufenthalt in die Haupterntezeit zu legen, um die Monate mit den höchsten Verdienstmöglichkeiten zu nutzen. Erntehelfer kennen ihren Einsatzzeitraum nur ungefähr, den genauen Termin erfahren sie erst wenige Tage vor der Abreise. Auch während des Aufenthaltes in Deutschland ist man vorab weder über die Länge eines Arbeitstages, der zehn oder fünfzehn Stunden betragen kann, noch über die Dauer der Hochsaison informiert.10 Allen Arbeitern ist daran gelegen, auf viele Arbeitsstunden zu kommen, um in kurzer Zeit so viel Geld wie erreichbar nach Hause zu bringen. Zum Verdienst tragen neben Geschick und Engagement des Saisonarbeiters auch von ihm nicht beeinflussbare Faktoren wie das Wetter, die Erntemenge, die Organisation der Arbeit und die Größe des Betriebs bei. Bei optimalen Wetterbedingungen und einer guten Ernte kann man bei der Erdbeerernte in Deutschland wöchentlich bei sechs bis sieben Arbeitstagen 180 bis 250 Euro verdienen. Jedoch kann bei einer vertraglich geregelten Beschäftigung aufgrund von Wetterbedingungen auch früher gekündigt werden. Für die Saisonarbeiter sind das schlechte Ertragsjahre. Umgekehrt ist bei größerem Ernteertrag auch eine Verlängerung des Arbeitsverhältnisses möglich.

9

Abgeleitet vom Begriff der Sachsengänger und synonym mit „in Deutschland” benutzt.

10 KorczyĔska 2003: 107.

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Der Alltag des Saisonarbeiters bewegt sich zwischen den Eckpunkten der Arbeit und seinem kleinen improvisierten Haushalt. Mit seinen Kollegen verbringt er Wochen oder Monate auf engstem Raum. Sein Tagesablauf wird von der Zahl der Arbeitsstunden, der Art der Tätigkeit, den Witterungsbedingungen und der sozialen Nähe in den Gemeinschaftsunterkünften strukturiert. Dadurch wird jede Belegschaft zu einer geschlossenen Gesellschaft mit einer bestimmten Stimmungslage. Diese soziale Atmosphäre stellt einen wichtigen Faktor bei der Entscheidung für oder gegen einen erneuten Arbeitseinsatz in der kommenden Saison dar. Der Migrant verharrt in dieser Exklave mit nur marginalen Berührungspunkten zur lokalen deutschen Gemeinde. Abbildung 7: Wanderarbeiterunterkunft im „Camp“

Quelle: Autoren

Der Arbeitgeber ist verpflichtet, eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, somit muss sich der Saisonarbeiter darüber keine Gedanken machen. Die einzige Unbekannte ist die Frage, mit wem er seine Unterkunft teilen wird, denn in der Regel werden in einem Raum mehrere Personen einquartiert. Jörg Becker, der diese Art Migrationen untersuchte, bezeichnete Saisonar-

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beiter als „Heinzelmännchenarmee“, also gute Geister, die verlassene Ecken eines Hofes bewohnen und im Stillen die Arbeiten erledigen.11 „Heinzelmännchen“ ähnlich wohnen auch Saisonarbeiter auf Dachböden oder in Kellern und manchmal gleich in Wohncontainern am Feldrain. Neue Arbeitnehmer werden gewöhnlich gemeinsam untergebracht. Saisonale „Stammkräfte“ hingegen, die seit mehreren Jahren im selben Betrieb beschäftigt werden, haben einen informellen Anspruch auf ein bestimmtes Zimmer eines Wohncontainers, das sie mit bekannten Kollegen aus früheren Jahren teilen.12 Das Wissen darüber, mit wem man die nächsten Wochen oder Monate verbringen wird, wirkt beruhigend angesichts des sehr beengten Zusammenlebens. In einem von uns untersuchten mittelgroßen Betrieb mussten sich jeweils sechs Personen eine Wohnfläche von 18 qm teilen. Das bedeutete eine eklatante Verletzung der geltenden Vorschriften, die eine Fläche von mindestens 6 qm pro Person festlegen. Auch die sanitären Bedingungen und das Mobiliar waren unzureichend, denn es fehlte an Möglichkeiten, Lebensmittel aufzubewahren und Mahlzeiten zu kochen. „Im Camp gibt es keinen Kühlschrank, keinen Gasherd, kein Wasser und kein Licht“, erfuhr die Autorin als Erstes nach ihrer Ankunft. An den meisten Tagen gab es im Container keinen Strom, also musste man dort sein Leben im Schein einer Kerze organisieren, wobei der nächste Wasserhahn 30 Meter entfernt und kein Feuerlöscher vorhanden war. Weder die Arbeitsbedingungen noch die Unterbringung in einfachen Containern wurden in den Gesprächen der Kollegen thematisiert. Interessanterweise werden die Mindeststandards im Standardarbeitsvertrag aufgelistet und sollten daher eingehalten werden.13 Da die Saisonarbeiter nur ausnahmsweise über Kenntnisse ihrer Rechte verfügen, kommt es auch nur selten zu Beschwerden. Sie wissen häufig nicht, dass überbelegte Räume, fehlende Kühlschränke und Waschmaschinen sowie unzureichende sanitäre Bedingungen eine Verletzung ihrer elementaren Rechte darstellen. Erwähnt

11 Becker 2010. 12 Die Unterbringung in Containern wurde von den Saisonarbeitern als „Camp“ (poln. kampy) bezeichnet. 13 http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/A04-Vermittlung/a042-Vermitt lung/Publikation/pdf/V-Einstellungszusage_Arbeitsvertrag-polnisch.pdf 05.12.2010.

vom

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werden sollte aber auch, dass auf einem anderen, kleineren landwirtschaftlichen Betrieb die Wohnbedingungen gut waren, auch wenn es sich hier „nur“ um Kellerräume handelte, die jedoch eigens für die Saisonarbeiter umgebaut worden waren. Abbildung 8: Zwei Quadratmeter Privatsphäre

Quelle: Autoren

Oft beginnt der Arbeitstag eines Erntehelfers um 4.30 Uhr und erstreckt sich in die Abendstunden bis 21.00 Uhr, unterbrochen in der Regel nur von

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einer Mittagspause. In einigen Betrieben kommt noch die Fahrt aufs Feld hinzu, die in einem der untersuchten Betriebe bis zu eine Stunde in Anspruch nahm. Gut organisierte Betriebe bieten ihren Mitarbeitern ein warmes Mittagessen zum Selbstkostenpreis an. Wenn derlei Angebote nicht bestehen, sind die Arbeiter darauf angewiesen, selber eine warme Mahlzeit zu kochen. Nach Feierabend können sich die Essenszubereitung und die Körperreinigung bis in die späten Abendstunden ziehen. Da alle gleichzeitig waschen und kochen wollen, entstehen bei großen Arbeitsgruppen oft lange Wartezeiten, sodass für andere Beschäftigungen Zeit und Kraft fehlen.14 Zusätzlich ist das Reinigen von Küche und Toiletten in der arbeitsfreien Zeit obligatorisch und wird vom „rajkowy“ kontrolliert. In der knapp bemessenen Freizeit sorgte in einigen Unterkünften während der Abendstunden ein permanent laufendes Fernsehgerät mit polnischem Programm für Unterhaltung und Ablenkung. Mit Ausnahme der lokalen Wettervorhersage ignorierte man deutsche Sender. Viel Zeit widmete man Gesprächen über die Arbeit. Thematisiert wurden hier der Zustand der Erdbeerfelder oder Obstgärten und die vom Eigentümer ergriffenen Maßnahmen, was eventuell Rückschlüsse auf die bevorstehenden Arbeiten erlaubte. In vielen Gesprächen verglich man die Arbeitsbedingungen in den einzelnen Betrieben, erzählte von extrem harten früheren Einsätzen und tratschte über diejenigen, die bereits heimgekehrt waren, oder über Arbeitskollegen vom Vorjahr. Vielfach erörterte Themen waren die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes, die Löhne in der Landwirtschaft und der aktuelle Wechselkurs. Auf dieser Grundlage stellte man Überlegungen zur Rentabilität künftiger Arbeitseinsätze für das kommende Jahr an. Trotz allgemeiner Bekundungen der Arbeiter, dass sie keinerlei Bindungen an ihren Einsatzort empfänden und sie sich dort nur des Geldes wegen aufhielten, bemühten sie sich schon kurz nach der Ankunft, ihre Unterkünfte schöner zu gestalten und mit dem Kochen traditioneller Mahlzeiten eine heimatliche Atmosphäre zu schaffen. Schnell hatte jeder seine Lieblingsgeschäfte und -wege, auf denen er spazieren ging. Ihr Bemühen um Individualisierung ist als Versuch zu betrachten, in dem vorübergehend bewohnten Raum heimisch zu werden. Neben der gemeinsamen Herkunft aus bestimmten Dörfern oder Regionen wurde diese persönliche symbolische Aneignung zu einem wichtigen Bestandteil ihres Lebens. Dieses Ver-

14 KorczyĔska 2003: 164ff.

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halten konnte man vor allem bei den Kollegen beobachten, die schon zum wiederholten Male als Erntehelfer im gleichen Betrieb arbeiteten.

W ANDERARBEIT ALS „S ELBSTVERLEUGNUNG “ Die Motivation zur Wanderarbeit besteht darin, in kurzer Zeit – verglichen mit dem üblichen Verdienst in Polen – eine große Summe verdienen zu können. Allerdings erreicht ein Erntehelfer in der Landwirtschaft dieses Ziel meist nur, indem er sich mit relativ schlechten Arbeits- und Unterkunftsbedingungen arrangiert. Er muss bereit sein, unter ungünstigen Witterungsbedingungen eine körperlich anstrengende Arbeit auszuführen, die oftmals unter seinen beruflichen Qualifikationen liegt. Für mehrere Wochen muss er sein Leben den Erfordernissen der Arbeit in einem extremen Ausmaß unterordnen. Mit dem Verdienst kann der Wanderarbeiter zwar seinen Lebensstandard heben, jedoch zwingen ihn die Arbeitsbedingungen dazu, auf die Annehmlichkeiten seines alltäglichen Lebens zu verzichten. Aus der Diskrepanz zwischen anvisiertem Ziel und aktueller Alltagssituation entsteht eine emotionale Spannung, die vom betroffenen Individuum als belastend empfunden wird. Der Saisonarbeiter Andrzej Dyduch erklärte dazu: „Saisonarbeit wird dadurch gekennzeichnet, dass sie keine feste Anstellung ist, es ist eine spezifische Beschäftigungsform, dort geht es nicht um Selbstverwirklichung, es ist vielmehr eine Frage der Selbstverleugnung.“15 Mit einer Vielfalt von Erklärungen lenken sich die Saisonarbeiter angesichts der physischen und psychischen Herausforderungen und primitiven Unterbringungsbedingungen von ihrem Alltag ab. Als Begründung führen sie an, sie wollten ihre alltäglichen Probleme hinter sich lassen, alte Bekannte aus früheren Einsätzen treffen oder sich vom Stress der Arbeit in Polen erholen. Typische Aussagen von Saisonarbeitern lauten: „So schlimm ist es gar nicht“; „Die Arbeit ist zwar schwer, aber der Stress ist nicht so groß wie in Polen“; „Eigentlich kann man sich beim Arbeiten im Schoß der Natur auch erholen“. Ein weiteres Argumentationsschema betont die besondere Arbeitsleistung polnischer Saisonarbeiter, da „die Deutschen

15 Andrzej Dyduch: „Praca sezonowa ma to do siebie, Īe po prostu to nie jest praca na staáe, to jest specyficzna praca, tam nie ma kwestii samorealizacji, jest bardziej kwestia samozaparcia.“

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ohne die Polen keinen Spargel in ihren Geschäften hätten“, wie ein Arbeiter bemerkte. Das individuelle Selbstbild wird mit dem Rückgriff auf die kollektive Bezugsgröße der „fleißigen Polen“ aufgewertet, wohl wissend, einer anstrengenden, schmutzigen und relativ schlecht bezahlten Arbeit nachzugehen, die zudem mit einem niedrigen sozialen Ansehen verknüpft ist. In der Theorie der kognitiven Dissonanz wird davon ausgegangen, dass die Akteure mit großem Einfallsreichtum ihr Verhalten rationalisieren.16 Wir werden an anderer Stelle darauf zurückkommen. Während in einigen Fällen fatale Arbeitsbedingungen Saisonarbeiter zum Wechsel des Arbeitsplatzes oder der Arbeitsbereiche veranlassen, beispielsweise von der landwirtschaftlichen Saisonarbeit zur Altenpflege, überwiegen meistens die Vorteile einer befristeten Tätigkeit als Erntehelfer. So sind die kurzfristigen Beschäftigungsmöglichkeiten und flexiblen Einsatzzeiten für viele Saisonarbeiter sehr anziehend. Des Weiteren befördern auch in den vorangegangenen Jahren aufgebaute Kontakte die Entscheidung, kontinuierlich beim selben landwirtschaftlichen Betrieb zu arbeiten.

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Die unterschiedliche Organisation der Arbeit nach Akkord oder Stundenlohn hat einen großen Einfluss auf das soziale Verhalten der Saisonarbeiter untereinander und die innere Dynamik der Gruppen. Unsere Beobachtungen zeigen, dass Akkordarbeit Rivalitäten, Frustrationen und Aggressionen begünstigt. Die 30-jährige Akkordarbeiterin Maágorzata Góra berichtete: „Jeder arbeitet für sich, das ist in diesem System begründet. Dort arbeitet man nicht in der Gruppe, sondern individuell. Denn es handelte sich um Akkordarbeit, je mehr man pflückte, desto mehr hat man verdient […] Und in Wirklichkeit war jeder auch auf sich allein angewiesen. Man muss diese Kisten schleppen, keiner nimmt auf dich Rücksicht, sondern jeder versucht, sich möglichst viele Erdbeeren zu schnappen.“17

16 Aronson/Wilson/Akert 2008: 163ff. 17 Maágorzata Góra: „KaĪdy pracuje sobie, to jest taki system. Tam nie jest ta praca taka grupowa, tylko indywidualna. Bo to byáa praca na akord, wiĊc im wiĊcej siĊ nazbiera tym wiĊcej siĊ zarobi […]. TakĪe tam kaĪdy byá zdany tylko na sie-

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Selten helfen sich Saisonarbeiter untereinander, und so fällt die Arbeit von Ehepaaren oder Eltern mit Kindern besonders auf. Häufig arbeiten Mütter zusammen mit ihren Töchtern, oder man sieht Ehepartner gemeinsam bei der Saisonarbeit. Sie vermochten ihre Effizienz zu steigern, indem beispielsweise einer die volle Obstkiste ablieferte, während der andere schon die nächsten Schalen füllte. Bei genauer Beobachtung zeigte sich jedoch insoweit eine Einschränkung, als diese Zusammenarbeit nur dann zustande kam, wenn Familienangehörige, Ehepaare oder Verlobte gemeinsame Ausgaben planten. Sobald Verwandte in getrennten Haushalten leben, funktionierte diese Zusammenarbeit nicht mehr. In diesen Fällen kam es zu Spannungen zwischen den Verwandten, zu denen man jetzt in Konkurrenz stand. Überwiegend wird im Akkord entlohnt, nur vereinzelt werden Tätigkeiten im Stundenlohn verrichtet. Ob sich der Lohn nach der geernteten Menge oder der Arbeitszeit richtet, hängt auch von der jeweiligen Erntephase ab. Zu Beginn und Ausklang der Ernte, wenn es nur wenig reifes Obst gibt, wird häufig stundenweise bezahlt, in der Hochsaison hingegen überwiegt Akkordarbeit.18 Im Pflanzenanbau und der Weinernte gibt es jedoch Arbeiten, die ausschließlich im Stundensystem verrichtet werden. Bei Arbeiten im Stundenlohn geht es insgesamt geruhsamer zu. Gleichwohl besteht auch hier der Druck, sich dem Arbeitstempo der Kollegen anzupassen. Häufig mahnen die „rajkowe“ zu gemeinsamer Anstrengung: „Arbeitet im gleichen Tempo, niemand wird für euch arbeiten.“ Beim Stundenlohn sind diese Appelle besonders wichtig, denn ohne Rücksicht auf die besonderen Leistungen einzelner, zählt am Ende das Ergebnis der ganzen Gruppe. Dies führt dazu, dass sich die Erntehelfer gegenseitig unter Druck setzen und argumentieren, schnelleres Arbeiten würde allen Vorteile bringen in der Hoffnung, der Chef würde am Ende eventuell eine Prämie auszahlen. Außerdem sollen durch die gute Arbeitsleistung die Chancen auf eine Wiederbeschäftigung im kommenden Jahr garantiert werden. Darüber

bie tak naprawdĊ. Trzeba byáo te skrzynki dĨwigaü, nikt tam nie ogląda siĊ na ciebie, tylko kaĪdy, Īeby wiĊcej truskawek naáapaü.“ 18 Die Arbeitsbedingungen und Lohnkonditionen bei der Akkord- bzw. Stundenarbeit wurden bereits im ersten bilateralen Abkommen vom 08.12.1990 geregelt. Dort wurden konkrete Prinzipien festgelegt, nach denen Akkordsätze so berechnet werden sollten, dass der Durchschnittsarbeiter rd. 20 % mehr verdienen kann als bei Entlohnung nach Stunden.

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hinaus wollen sie mit ihrem Verhalten den guten Ruf polnischer Saisonarbeiter in Deutschland bestätigen und unterstreichen, dass „Polen arbeiten können“. Gleichzeitig erwartet die Gruppe aber auch vom einzelnen Mitglied, nicht schneller als der Durchschnitt zu arbeiten, da sein Verhalten auf die Kollegen ein schlechtes Licht werfen könnte: Andrzej Dyduch: „Jeder hatte seine Reihe. Wenn sich jemand von den anderen abheben wollte, wenn er sich anbiedern wollte, dann war er plötzlich 10 m vor uns. Und wie sieht das aus, nicht wahr? Dann hat er mehr geleistet, obwohl die Arbeit nach Stunden bezahlt wird. Manche wollen vielleicht beim Deutschen Pluspunkte sammeln, ich weiß nicht … Na ja, die Arbeit ist hart, da sollte man nicht drumherum reden, man muss sich aber gegenseitig achten, auf das Tempo aufpassen, nicht vor die Reihe tanzen, zusammenhalten.“19

Im Akkordlohn hängt die Intensität der Arbeit vom einzelnen Saisonarbeiter ab, theoretisch könnte er also die Pausen nach eigenen Entscheidungen festlegen. In der Praxis würde er aber den Unwillen seines Arbeitgebers und auch das Unverständnis seiner Kollegen hervorrufen. Bei der Stundenlohnarbeit wird die Arbeitszeit penibel kontrolliert, oder die Erntemaschine gibt den Rhythmus vor. Wird im Großbetrieb stundenweise gearbeitet, sind kurze Pausen möglich, die allerdings von der geleisteten Arbeitszeit abgezogen und infolgedessen von den Arbeitern kaum in Anspruch genommen werden. Sofern die gesamte Gruppe zustimmt, nutzt man im Kleinbetrieb die Gelegenheit zur Pause, wenn der Arbeitgeber nicht in der Nähe ist. Das Arbeitspensum muss natürlich trotzdem erfüllt werden. Eine tolerierte Möglichkeit für kurze Arbeitsunterbrechungen bieten Zigarettenpausen. Sie werden mehrheitlich von der Gruppe akzeptiert, auch wenn die Raucher etwas weniger arbeiten als die Nichtraucher.

19 Andrzej Dyduch: „KaĪdy miaá swój rządek, tą rajkĊ, i kaĪdy szedá, na przykáad no ktoĞ chciaá siĊ, Īe on sobie chciaá siĊ wyróĪniü, chciaá sie podlizaü i nagle siĊ okazuje , Īe on jest dziesiĊü metrów przed nami, no i jak to wygląda, prawda? I póĨniej jest taka sytuacja, Īe on to zrobiá wiĊcej, a jest páacone od godziny, ale po prostu niektórzy tak podchodzą, Īe chcą mieü, no nie wiem, jakieĞ punkty chcą záapaü u Niemca, nie wiem … No praca jest ciĊĪka , to nie ma co ukrywaü, po prostu trzeba siebie szanowaü, trzeba pilnowaü tempa, nie wyskakiwaü przed szereg, trzymaü siĊ razem.“

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Abbildung 9: Erntearbeit

Quelle: Autoren

H IERARCHIE UND K ONTROLLE Unabhängig von der Betriebsgröße haben immer die Mitarbeiter mit der längsten Arbeitserfahrung den größten Einfluss. Ebenso wichtig sind auch gute Beziehungen zu den Vorarbeitern, den „rajkowe“. Die „rajkowe“ verfügen in Großbetrieben aufgrund ihrer längeren Beschäftigungszeit im jeweiligen Betrieb über Einfluss und Macht. Sie nehmen den Ernteertrag in Empfang, überprüfen das Gewicht und die Qualität der Ware. Zu den Aufgaben der Vorarbeiter gehört auch die sprachliche Vermittlung zwischen den Saisonarbeitern und ihrem Arbeitgeber. Kommt ein Beschäftigter gut mit einem „rajkowy“ aus, so hat der Arbeiter die Chance, eine bevorzugte Position auf dem Feld zugeteilt zu bekommen, was wiederum Einfluss auf seine Erntemenge und damit auf seinen Tagesverdienst hat. Die meisten Saisonkräfte arbeiten auf dem Feld bei der Ernte. Eine kleinere Gruppe sortiert das Obst in der Halle und bereitet es zum Verkauf vor. Hier arbeitet man wetterunabhängig, kann mehr Stunden als auf dem Feld arbeiten und darf zudem auf kostenloses Obst und Gemüse hoffen. Diese nur an einigen Nachmittagen in der Halle durchgeführte Arbeit gilt

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als Beförderung. Neuen Kollegen wird sie nur selten zuteil. Es ist also wichtig, gute Beziehungen zu den „rajkowe“ zu pflegen. Um diese Schlüsselpersonen bildet sich jeweils ein Kreis von Saisonarbeitern. Häufig kennen sie sich schon aus der Heimat oder haben in den vorangegangenen Jahren gemeinsam gearbeitet. Sie haben die besten Aussichten, bis zum Saisonende in dem Betrieb bleiben zu können, wenn ein Teil der Belegschaft bereits nach Hause geschickt wird. Entscheidend für die Position des einzelnen innerhalb der Hierarchie einer Arbeitsgruppe ist auch sein Geschick bei der Arbeit: Monika Olszewska: „Bei neuen Arbeitern schauten die Vorarbeiterinnen genauer hin, ob man gut pflücken kann. Auch um zu zeigen, wie das gemacht wird. So war das also am Anfang. […] Wenn man gut pflücken konnte, von Anfang an solide war, dann ließen sie einen in Ruhe. Wenn jemand jedoch am Anfang nachlässig war, dann mäkelten sie herum. Man musste am Anfang Druck machen, sich selbst unter Druck setzen, dann war alles in Ordnung. Das war der Unterschied. Die Alten wussten, was und wie, deswegen wurde dort nicht so sehr hingeschaut. Eher bei den Neuen.“20

In kleinen Betrieben gibt es die Funktion eines „rajkowy“ nicht, hier arbeiten erfahrene Mitarbeiter ihre neuen Kollegen ein. Anders als in großen Betrieben trägt ein kleiner Mitarbeiterstamm zur größeren Transparenz bei, und es bildet sich eine Bottom-up-Hierarchie heraus, deren Ziel die Kontrolle der Mitarbeiter durch die Kollegen ist. In kleinen Betrieben ist die informelle Hierarchie jedoch flexibler und eine unerfahrene Person mit z.B. Sprachkompetenzen kann relativ schnell eine starke Position erlangen, bei der sie Kontrollfunktionen ausübt. Die Kontrolle kann auch darauf beruhen, dass diese Person Barrieren zwischen den Arbeitnehmern und dem Arbeit-

20 Monika Olszewska: „JeĪeli chodzi o nowych pracowników to na początku [rajkowe] bardziej Ğcigaáy w tym sensie, Īe chodziáy, patrzyáy, czy siĊ dobrze zbiera. ĩeby nauczyü teĪ po prostu. TakĪe to byáo na początku.[…] JeĪeli czáowiek dobrze zbieraá, byá solidny od początku, to potem odpuszczaáy. A jeĪeli ktoĞ od samego początku sobie folgowaá, coĞ robiá, to potem siĊ przyczepiaáy. Trzeba byáo na początku przycisnąü siebie, siebie samego, a potem juĪ byáo w porządku. Taka byáa róĪnica. Bo starzy to wiadomo, Īe wiedzieli jak, co i jak, to za nimi tak bardzo nie chodziáy, nie. Tylko bardziej za tymi nowymi wáaĞnie.“

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geber aufbaut, indem sie Informationen zurückhält oder nur bestimmten Kollegen weitergibt. Die Frage der Sprachkenntnisse ist in diesem Zusammenhang wesentlich, da selbst regelmäßig in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer häufig kaum Deutsch sprechen. Ihre Kenntnisse beschränken sich lediglich auf wenige Grundvokabeln aus dem konkreten Arbeitsbereich.

„T ELEPRÄSENZ “ – SOZIALE K ONTROLLE AUF D ISTANZ Wanderarbeiter sind zwar während ihres Aufenthaltes in Deutschland von ihren Angehörigen räumlich getrennt, jedoch stehen sie zugleich in einem engen telefonischen Kontakt mit ihrer Heimat. Das Mobiltelefon stellt die wichtigste Form der Verbindung zwischen Saisonarbeitern und ihren Angehörigen dar. Nach Umfragen aus dem Jahr 2003 telefonierten 63 % der Befragten mit ihren Angehörigen in Polen einmal und 18 % mehr als einmal pro Woche.21 Die häufige Abwesenheit von zu Hause und die damit verbundene Trennung der Familienmitglieder versucht man durch telefonische Kontakte zu kompensieren. Obwohl es sich nur um fernmündliche Gespräche handelt, besteht durch die Häufigkeit der Mitteilungen und die dauernde Erreichbarkeit eine gewisse Kontrolle zwischen der Familie in der Heimat und dem Saisonarbeiter. NiedĨwiedzki beschreibt die enge Einbindung der Familienmitglieder über Telefonkontakte als „teleobecnoĞü“22 (dt. „Telepräsenz“). Während der herkömmliche Briefwechsel seltener praktiziert wird, und man das Internet aufgrund des begrenzten Zugangs zum Netz nur sporadisch benutzt, besitzt nahezu jeder Saisonarbeiter ein Mobiltelefon. Man reduziert die Kosten für internationale Gespräche, indem deutsche Prepaidkarten genutzt werden. àukasz Mazur erinnert sich noch an die Schwierigkeiten der Kontaktaufnahme in den 1990er Jahren: „In den Neunzigern, als es noch keine Anschlüsse gab, da musste man laufen … Dann ging man zum Gemeindeamt oder man holte den Bürgermeister. Zwei, drei Jahre ist das so gegangen, als sie wegfuhren. Später das ist klar, als es Telefone gab,

21 KorczyĔska 2003: 158. 22 NiedĨwiedzki 2010: 317.

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telefonierte man jeden oder jeden zweiten Tag. Die ganze Zeit gab es Kontakt. Und weißt du, die Beziehungen haben dabei nicht besonders gelitten, wir haben deswegen eher keine Nachteile gehabt.“23

Auch während der Arbeit verschickt man Kurzmitteilungen per SMS oder ruft zu Hause in Polen an. Es werden nicht nur typische Informationen über Gesundheit und Wohlbefinden mitgeteilt, sondern auch komplexe familiäre Angelegenheiten erledigt. Wanderarbeiterinnen erziehen ihre Kinder am Telefon, bewerten deren schulische Leistungen oder entscheiden, was ihre Familien in Polen zu Mittag essen sollen. Zu diesen Einflussmaßnahmen kann beispielsweise auch die Kontrolle über den Fortgang von Renovierungsarbeiten gehören. Über das Handy werden dann Fliesenmuster und Küchenmöbel ausgesucht, während der Ehemann in Polen Farben, Muster und Preise mitteilt. In einem anderen Fall unterrichtete eine Arbeiterin ihre Angehörigen in Polen über den Verlauf ihrer Schwangerschaft, die sie erst nach der Ankunft in Deutschland bemerkt hatte. Per Handy teilte sie ihrem Partner die Neuigkeit mit, veranlasste ein Treffen zwischen ihm und ihren Eltern und regelte sogar Fragen der Trauung sowie des Geburtsortes. Schließlich berieten die beiden auch Probleme mit der gemeinsamen Wohnung über das Telefon. Ohne ihren Aufenthalt in Deutschland zu verkürzen, arbeitete sie bis zum Ende des vereinbarten Zeitraums. Nur selten sind Migranten gänzlich von ihren lokalen Heimatgesellschaften getrennt, häufiger reisen sie mit Angehörigen, Freunden oder Nachbarn.24 Nehmen mehrere Familienmitglieder eine Saisonarbeit wahr, so versuchen sie entweder zeitgleich im selben Betrieb angestellt zu werden oder teilen sich einen Arbeitsplatz im Wechsel. Häufig kehrt eine Person nach Polen zurück, während der Partner oder ein erwachsenes Kind die Stelle übernimmt. In einigen Familien verfügen alle Familienmitglieder über regelmäßige Arbeitserfahrungen im Ausland. Die soziale Kontrolle

23 àukasz Mazur: „W latach dziewiĊüdziesiątych tak jeszcze telefonów nie byáo to wiadomo, biegaáo siĊ … Tak, biegaáo siĊ do gminy, czy tam wiesz, wójta siĊ Ğciągaáo. To byáy dwa, trzy lata jak oni wyjeĪdĪali. PóĨniej wiadomo, telefony byáy, to codziennie, co drugi dzieĔ telefony byáy. Kontakt byá caáy czas. I wiesz, nie za bardzo te relacje jakoĞ tam specjalnie ucierpiaáy, nie ucierpieliĞmy chyba z tego powodu.“ 24 KĊpiĔska 2008: 145ff.

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zwischen Saisonarbeiter und Familie im Heimatort wird durch die Anwesenheit von Personen aus dem heimatlichen lokalen Umfeld und die enge Kommunikation über Mobiltelefone gewährleistet. Des Weiteren erstrecken sich die Bereiche sozialer Kontrolle auf das Verhältnis zwischen den Saisonarbeitern und ihrem deutschen Arbeitgeber sowie auf die Beziehungen zu anderen Saisonarbeitern. Der Einzelne ist auf diese Weise in ein sich dreifach überschneidendes Netz wechselseitiger Kontrollmechanismen eingebunden. Seine Arbeitsleistung wie sein Freizeitverhalten messen sich an den sozialen Normen der jeweiligen Arbeitsgruppen und seiner lokalen Herkunftsgesellschaft. Die Gegenwart von vertrauten Personen ist nicht nur im Hinblick auf Kontakte mit der Heimat wichtig, zugleich kommt ihr auch eine Aufsichtsfunktion zu und zwingt die Migranten zu normgerechtem Verhalten. Sollte sich ein Wanderarbeiter im Ausland etwas zuschulden kommen lassen, so muss er davon ausgehen, dass auch seiner Familie in Polen davon erfährt. Durch das enge Netz von Verwandten und Nachbarn, mit denen sich der einzelne Saisonarbeiter auf die Reise nach Westen begibt, besteht ein sicherer Austausch von Informationen mit den Angehörigen in der Heimat. Früher oder später würden Gerüchte über eventuelles Fehlverhalten im Ausland durchsickern. Als persönlich Betroffener bestätigt Darek Zielinski diesen Befund, da seine Frau in Deutschland einen anderen Mann kennengelernt und dies zu verheimlichen versucht hatte: „Keiner hat etwas gewusst, nichts drang durch. Erst später ist es bekannt geworden. Jemand hat sie einfach in Deutschland gesehen, und hier in der Stadt überschlugen sich die Gerüchte. Und hier, weißt du, ist das so ein Loch, da wussten im Nu alle Bescheid.“25

25 Darek Zielinski: „No nikt nie wiedziaá, nie skapnąá siĊ nawet. Dopiero póĨniej z czasem to wylazáo. Po prostu ktoĞ ją widziaá w Niemczech i tu poszáa fama no i poszáo po mieĞcie. A to jest wiesz, taki grajdoáek, Īe moment wszyscy wiedzieli.“

„Meist merkt man, dass etwas geschehen ist“ – die Kinder der Wanderarbeiter

Seit Anfang des neuen Jahrtausends gerieten die Kinder von Wanderarbeitern in den Fokus der Öffentlichkeit, indem die Frage nach den Auswirkungen der langfristigen und regelmäßigen Abwesenheit der Eltern für die Entwicklung ihrer Kinder gestellt wurde. Mit dem Begriff der „Eurowaisen“ wird ein durch die Trennung von mindestens einem Elternteil bei Kindern ausgelöstes Gefühl der Waisenschaft beschrieben.1 Dabei handelt es sich bei dem Phänomen weder um eine neue Erscheinung noch ist es auf zwischenstaatliche Migration beschränkt. Gleichwohl rückte das Phänomen erst im Zuge einer massenhaften zeitlich befristeten Migration in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Zuerst im Rahmen der so genannten „global care chains“ wurden seit Ende der 1990er Jahre Fragen der familiären Situation von Frauen aufgeworfen, die unter Zurücklassung ihrer Kinder in den industrialisierten Ländern in privaten Haushalten arbeiteten.2 In Europa zogen vor allem Polen und Rumänien seit ihrem Beitritt zur EU 2004 die Aufmerksamkeit in dieser Angelegenheit auf sich. Polnische Medien berichteten über einzelne Kinder, die für mehrere Monate in die Obhut eines Kinderheims gegeben wurden, während die Eltern in Westeuropa arbeiteten. Damit wurde zwar ein medialer Aufschrei ausgelöst, jedoch bleibt fraglich, ob die Skandalisierung von ausgewiesenen Einzelfällen, bei denen Eltern ihre Kinder außerhalb des Kreises der Verwandten unterbrachten, der realen Problematik gerecht wird. Andererseits ist aber auch darauf zu

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Matyjas 2011: 32.

2

Madianou/Miller 2011: 8.

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verweisen, dass eine rein technische Sichtweise, bei der einzig die schulischen Leistungen und die verbesserte materielle Situation der Kinder im Vordergrund stehen, zu kurz greift. Auch in Deutschland berichteten Hörfunk und Presse über die Lebenssituation von Kindern und Familien der Wanderarbeiter,3 aber vor allem polnische Medien greifen das Thema immer wieder auf. In einer Vormittagssendung von TVP2 unter dem Titel „Pytanie na Ğniadanie“ (dt. „Eine Frage zum Frühstück“) vom 11.10.2012 berichteten zwei junge Frauen von ihren Erfahrungen als Kinder, deren Eltern zur Arbeitsmigration nach Westeuropa fuhren.4 Die Sendung kann insoweit stellvertretend für die mediale Aufbereitung gelten, als hier der Versuch deutlich wird, das Problem als solches anzuerkennen und zugleich in seinen Auswirkungen als beherrschbar zu schildern. Auf anhaltende Kritik, sowohl von den Betroffenen als auch von Migrationsforschern, stößt der plakative Begriff der „Eurowaisen“ (poln. „Eurosieroty“), der zu Beginn der Berichterstattung von den Medien kreiert wurde. Wie die beiden Frauen in dem TV-Beitrag aussagten, verstanden sie sich nicht als Waisen, da ihre Eltern für sie auch im Ausland immer erreichbar waren. Andererseits zeigen schon die Zahlen der betroffenen Familien, dass es sich hier um ein gesellschaftlich relevantes Problem handelt. Auf der Internetseite von TVP2 schätzt man eine halbe Million betroffener Kinder für ganz Europa, von der die Mehrzahl in Rumänien lebt. Im Jahr 2009 arbeitete von 110.000 polnischen Familien mindestens ein Elternteil langfristig und regelmäßig im Ausland. Somit kann jedes fünfte Kind in Polen als „Eurowaise“ bezeichnet werden.5 Betrachtet man die wenigen Untersuchungen zum Problem der Kinder von Arbeitsmigranten, so bleibt ein ambivalentes Ergebnis. Die Forschungen fokussieren typische Migrationsgesellschaften mit einer armutsindizierten, in der Regel zeitlich befristeten Arbeitsmigration aus den Philippinen, aus Mexiko, Rumänien und Polen. Hervorgehoben wird die mit der Migra-

3

Einen Schwerpunkt der Berichterstattung bildeten rumänische Kinder. Deren Situation unterscheidet sich jedoch nicht grundsätzlich von polnischen Kindern. (http://www.renovabis.de/themen/reportagen vom 28.03.2013) Vgl. auch Mihai 2010: 8.

4

http://www.tvp.pl/styl-zycia/magazyny-sniadaniowe/pytanie-na-sniadanie/wideo /eurosieroty-gdy-rodzice-wyjada-za-praca/8769290 vom 28.03.2013.

5

Matyjas 2011: 32.

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tion verbundene traumatische Trennung der Familien.6 Eine Studie zur Situation rumänischer Kinder von Arbeitsmigranten betont die Zunahme von depressiven Symptomen.7 Am Beispiel polnischer Arbeitsmigranten verweist Matyjas darauf, dass die Abwesenheit des Vaters bei den Kindern zu einem sozialen Kompetenzverlust und aggressivem Verhalten führen kann.8 Detailliert zählt sie darüber hinaus eine Vielzahl von Einschränkungen auf, die mit der Arbeitsmigration verbunden sind. Dazu gehören die zeitliche Einschränkung familiären Alltags, Einsamkeitserfahrungen, das Fehlen stabilisierender sozialer Elemente und die Etablierung der Arbeitsmigration als oftmals einzige berufliche Vision für die nachfolgende Generation. Andere Untersuchungen stellen die psychosozialen Probleme der Kinder auch in Beziehung zur Abwesenheit der Mütter.9 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die Arbeitsmigration soziale und psychische Probleme verursacht, die sich in auffälligem Verhalten äußern können. Die negativen Effekte werden auch durch verbesserte Kommunikationsbedingungen aufgrund von fast jederzeit an jedem Ort verfügbarer Mobiltelefonate und Internetverbindungen („Skype“) nicht grundsätzlich aufgehoben.10 Positiv auf den Alltag der Kinder wirkt sich, wie die Studien ebenfalls berichten, die bessere finanzielle Situation der Familien aus. Dies kann zu einer besseren Unterstützung der Kinder in ihrer schulischen Ausbildung und generell zu einer Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen beitragen.11 Jedoch betonen Studien, in denen die emotionale Belastung aufgrund der elterlichen Abwesenheit von den mittlerweile erwachsenen Interviewpartnern beschrieben wird, dass die verbesserte ökonomische Situation für sie im Rückblick nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat.12 Im Rahmen unserer Forschung näherten wir uns dem Problem über die Lehrer und Sozialarbeiter an zwei Grund- und Hauptschulen einer nieder-

6

Castaneda/Buck 2011: 85.

7

Robila 2011: 330.

8

Matyjas 2011: 34ff.

9

Graham/Jordan 2011: 769.

10 Madianou/Miller 2011: 24. 11 Castaneda/Buck 2011: 105; Matyjas 2011: 35. 12 Zebrala 2009: 44ff., 95.

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schlesischen Gemeinde an.13 In fünf Grundschulklassen wurden Aufsätze mit dem Titel „Wie stelle ich mir mein Leben in zehn Jahren vor“ geschrieben. Mit dem unspezifischen Titel sollte eine enge Zielvorgabe auf das Thema Migration verhindert werden. Außerdem führten wir an einer Sekundarschule gemeinsam mit der Sozialarbeiterin eine Gruppendiskussion mit betroffenen Schülern durch. Als Anregung zeigten wir den dokumentarischen Film „Eurosieroty“, der von Schülern im Alter von 17 bis 18 der Abschlussklasse einer Poznaner Schule gedreht wurde. Beispielhaft zeigen die Schüler ihren Alltag in Polen, während ihre Eltern und jüngeren Geschwister im westlichen Ausland leben. Der Film wurde 2008 der Öffentlichkeit präsentiert und sorgte sowohl in Polen als auch in Deutschland für Aufsehen. Bevor die Ergebnisse unserer Forschung dargelegt werden, ist es jedoch notwendig, auf Probleme einzugehen, die sich bei unserer Suche nach Interviewpartnern ergaben und im Bezug zur Frage der „Eurowaisen“ besonders deutlich zum Tragen kommen. Während einige Lehrerinnen und Schulleiterinnen eine große Offenheit und Kooperationsbereitschaft zeigten, trafen wir in anderen Fällen auf Ablehnung. In einem Beispiel wurde uns einerseits eine Zusammenarbeit zugesichert, während man gleichzeitig über mehrere Monate mit neuen Argumenten eine Befragung von Lehrern oder Schülern verhinderte. Der Grund lag in einer starken rechtlichen Verunsicherung der Schulleitung in Anbetracht des gesellschaftlich kontroversen Themas. Versuchen wir also, an dieser Stelle zunächst einmal die Verunsicherung der Schulleitung in ihrer soziologischen Dimension zu analysieren. Hinter dem Schlagwort der „Eurowaisen“ steht die Anschuldigung, Eltern würden für ein höheres Einkommen ihre Familie vernachlässigen. In Polen argumentieren vor allem konservative Kreise dementsprechend, um die traditionelle Vorstellung einer an den Herd gebundenen Familie zu propagieren. Bei der katholischen Kirche wird neben der Sorge um die Familie auch die Befürchtung vor dem Verlust des kirchlichen Einflusses deutlich. Die moralische Verurteilung der Migranten durch die katholische Kirche

13 Interviews mit Kindern bzw. Schülern hätten aus rechtlichen Gründen immer die Zustimmung ihrer Eltern erfordert. Um die damit verbundenen technischen Probleme zu minimieren, wählten wir bei den Schülern Fragestellungen, die nicht auf die individuelle Lebenssituation bezogen waren, sondern das Problem der Wanderarbeit allgemein behandelten.

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stellen auch Studien zur mexikanischen Migration fest. Migration wird demnach ursächlich in einen Zusammenhang mit der Zerrüttung von Familien gestellt.14 Indem mit diesem moralisierenden Vorwurf gegenüber den Arbeitsmigranten argumentiert wird, ignoriert man den strukturellen ökonomischen Kontext der Migration. Wie die Migrationsforscherin Kalwa feststellt, wird der angeblich negative Einfluss auf das Familienleben vor allem den Frauen angelastet.15 Weibliche Migration widerspricht dem MutterMythos, deren Fürsorge für die körperliche und seelische Stabilität des Kindes unersetzlich ist: „Das Vorurteil der Öffentlichkeit gegenüber Müttern, die gehen, beruht auf einer Vorstellung von der Mutterrolle, die in unserer christlich-patriarchalischen Gesellschaft verwurzelt ist. In der westlichen Kultur ist das Mutterbild ein Konstrukt, durchsetzt von Ansichten und Botschaften, die aus der christlichen Symbolwelt stammen. Mit der ‚Jungfrau‘ Maria als Verkörperung der christlichen Nächsten- und Mutterliebe ist die Mutter der Inbegriff weiblicher Reinheit.“16

Mutterschaft als alleinige Aufgabe der Frau ist weder biologisch verankert noch unabhängig von historischen Entwicklungen. Diese ausschließliche Mutterschaft gibt es in der abendländischen Gesellschaft erst seit dem 18. Jahrhundert und ist nicht von der patriarchalischen, kapitalistischen Gesellschaft zu trennen.17 Rousseau beispielsweise sieht in der Mutterschaft eine „Urpflicht“, deren Missachtung „die ganze sittliche Ordnung [durcheinander] geraten“18 lässt. Tatsächlich geraten Frauen, wenn sie ihre Kinder zu Hause zurücklassen, um für Wochen oder Monate im Ausland zu arbeiten, in eine normative Zwickmühle. Denn die Gesellschaft erwartet von ihnen nicht nur die Betreuung der Kinder, sondern auch ihren Beitrag zur materiellen Sicherung des Lebensstandards.19 Derlei Vorwürfe verursachen bei vielen Arbeitsmi-

14 Castaneda/Buck 2011: 86. 15 Kalwa 2010: 77ff. 16 Jackson 1995: 51. 17 Ebd. 97. 18 Rousseau 1985: 19. 19 Eine Untersuchung über die Bewertung von mobilen Verhaltensweisen in Deutschland konstatiert: „Mobile und ihre Partner werden in unterschiedlicher

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grantinnen Schamgefühle, sodass sie ihre Auslandstätigkeiten verschweigen. In diesem Fall wird die Migration als Missachtung der gesellschaftlichen Normen und Werte erlebt, die sich auf die Sorge und den Umgang mit den Kindern beziehen. Normen und Werte werden im Verlauf der Sozialisation inkorporiert und die Nichterfüllung wird als psychische Belastung erlebt.20 Über die Einhaltung der Normen wachen nicht nur äußere gesellschaftliche Instanzen, sondern auch die von Freud als „Über-Ich“ beschriebene innere Instanz. Die Normen von gut und böse, von akzeptiertem und verurteiltem Verhalten sind jedoch insoweit relativ, als sie von Gesellschaften in konkreten historischen Situationen gebildet werden.21 Normen wandeln sich im Prozess der Geschichte und können auch innerhalb einer Gesellschaft regionalspezifische oder schichtspezifische Differenzen bilden. Für unsere Fragestellung ist dieser Aspekt insoweit relevant, als Arbeitsmigration in Polen regionale Schwerpunkte bildet und man darin einen Einfluss auf die psychosoziale Verarbeitung der Trennungserfahrung vermuten kann.22 Eine Untersuchung zur emotionalen Situation der „zurückgelassenen Kinder“ in Südostasien kommt daher zu folgendem Schluss: „Der hohe Anteil von Arbeitsmigranten in bestimmten Regionen wirkt als psychosozialer Schutz für die Kinder, auch bei der Abwesenheit der Mütter. Das Verständnis der Wirkung einer Trennung von Eltern und Kindern ist abhängig von den sozialen Normen.“23 In dem Maße, in dem die Abwesenheit eines Elternteils oder beider Eltern zur sozialen Normalität geworden ist, verringert sich demnach die psychische Belastung. Gleichwohl wir aufgrund dieser Forschungsergebnisse von einer besonderen regionalen Situation ausgehen können, bin ich der Ansicht, dass die soziale Norm der weiblichen Rol-

Intensität diskriminiert. Ihre Lebensumstände stoßen auf Ablehnung.“ (Schneider/Limmer/Ruckdeschel 2002: 123.) Wohlgemerkt zielt die Aussage nicht auf ausländische Migranten, sondern auf deutsche Pendler. Doch gibt die hohe soziale Bewertung familiären Lebens in Polen einen Anhaltspunkt für eine tendenzielle Gültigkeit. „Fernpendler, Multi-Mobile und Wochenendpendler fühlen sich häufiger belastet wegen der (fehlenden) Beziehungen zu ihren Kindern“ (Rüger 2010: 11). 20 Goffmann 1982: 448f. 21 Thomas 1965: 298. 22 Vgl. auch Mazurcato/Schans 2011: 708. 23 Graham/Jordan 2011: 781 [Übersetzung des Autors].

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le, neben dem Anspruch der materiellen Sicherung, wirksam ist, da nach meinen Beobachtungen traditionelle Rollenerwartungen in der polnischen Gesellschaft eine hohe Bedeutung haben. In dieser Situation löst das (vorgebliche) Hintenanstellen des Familienlebens eine soziale Verunsicherung aus, die mit Gefühlen der Scham verbunden sind.24 Als „AnpassungsScham“ wird die fehlende Übereinstimmung mit gesellschaftlichen Werten durch das Individuum beschrieben.25 Da hier, wie oben ausgeführt, zwei sich widersprechende gesellschaftliche Ansprüche bestehen, handeln die Akteure immer im Konflikt mit einem der beiden Werte. Aus der Nichterfüllung des gesellschaftlichen Anspruchs entsteht Scham. Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen möchte ich mich jetzt unseren Forschungsergebnissen zuwenden und dafür zunächst die Situation an einer Schule in einer typischen Migrationsregion Polens darstellen. Im Jahr 2011 gingen 162 Schüler der Klassen 7 bis 9 in die Sekundarschule (poln. Gimnazjum)26 der von uns untersuchten niederschlesischen Gemeinde. Knapp ein Viertel der Schüler lebte 2009 in Familien, von denen ein Elternteil im westlichen Ausland arbeitete. Im Jahr 2009 ging von 28 Schülern ein Elternteil langfristig einer Arbeit im Ausland nach, 2010 stieg die Zahl auf 34 Schüler. Deutlich geringer ist jedoch die Zahl der Familien, in denen beide Elternteile gleichzeitig im Ausland arbeiten: 2009 betraf dies nur zwei und 2010 drei Schüler.27 In der Grundschule der benachbarten Gemeinde erklärte sich die Lehrerin Agata KwiecieĔ zu einem Gespräch bereit. Auf die Frage nach der Anzahl von Kindern aus Familien, die der Arbeitsmigration nachgehen, antwortete sie: „In jeder Klasse finden sich einige, ja sogar zehn oder mehr Kinder, deren Eltern im Ausland sind. Man kann schon sagen, an den Fingern lässt sich abzählen, welche El-

24 Marks 2011: 13ff. 25 „Anpassungs-Scham ist nach ‚außen‘ gerichtet, sie orientiert sich an den Blicken, den erwarteten Bewertungen durch Mitmenschen. Sie wird etwa ausgelöst, wenn man die herrschenden Normen und Erwartungen der Gruppe oder Gesellschaft nicht erfüllt […].“ (Marks 2011: 17) 26 Das polnische Schulsystem teilte sich in die 1. bis 6. Klasse (Grundschule), 7. bis 9. Klasse (Gymnasium) und 10. bis 12. Klasse (Lyzeum). 27 Die Angaben wurden von der Schule in einer anonymen Befragung erhoben. Eine Überprüfung der Daten war nicht möglich.

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tern nicht ins Ausland fahren. Es sind sehr wenige Kinder, die nicht die Erfahrung der Auslandsarbeit ihrer Eltern haben. […] Derzeit habe ich zwölf Schüler in der Klasse, aber in diesem Jahr ist es eine erste Klasse, also die Kleinen, siebenjährige Kinder. Keiner der Eltern ist im Ausland, aber in den vorherigen Jahren hatte ich zum Beispiel Kinder aus 24 Familien. So über zehn bis fünfzehn Kinder waren in der Situation, dass die Eltern im Ausland arbeiteten.“28

Nehmen wir die Interviewsequenz als beispielhaft für das familiäre Verhalten, so lassen sich folgende Aussagen treffen. Für die Mehrheit der Kinder bildet die Abwesenheit von Erwachsenen aus ihrem Lebensumfeld eine alltägliche Erfahrung, die sie entweder in ihrer eigenen Familie oder in der unmittelbaren Nachbarschaft machen. Agata KwiecieĔ sagt aber auch, dass sie aktuell in der ersten Klasse keine Kinder unterrichtet, deren Eltern im Ausland arbeiten. Diese Information deckt sich auch mit unseren Forschungen in anderen Schulen. Mit dem Alter der Kinder steigt in den Familien die Bereitschaft, auch für längere Zeiträume eine Arbeit im Ausland anzunehmen. Gleichwohl trifft man in geringer Anzahl auch in den ersten Klassen Kinder von Wanderarbeitern. In einer anderen ersten Klasse der gleichen Schule arbeiten fünf Elternteile von 24 Schülern im Ausland. Auffällig ist, dass in der Regel immer nur ein Elternteil im Ausland ist, in der medialen Berichterstattung aber pauschal im Plural von den abwesenden Eltern die Rede ist. Unser Anliegen war es, im Rahmen der Forschung auch die Kinder zu Wort kommen zu lassen. Zwar setzte das Projekt hier enge Grenzen, gleichwohl gelang es uns, mit zwei unterschiedlichen methodischen Ansätzen einen Einblick in die Sichtweise der Kinder zu nehmen. In beiden Fällen wählten wir den Zugang über die örtlichen Schulen. Einen weiteren

28 Agata KwiecieĔ: „No w kaĪdej klasie zawsze znajdzie siĊ kilka, tak nawet do dziesiĊciu albo wiĊcej dzieci, których rodzice bĊdą, bĊdą za granicą. To juĪ tak moĪna powiedzieü na palcach da siĊ policzyü dzieci, których rodzice nie wyjeĪdĪają za granicĊ. Bardzo maáo jest takich dzieci, którzy nie doĞwiadczyli wyjazdu rodziców. […] Obecnie mam dwanaĞcioro uczniów w klasie ale w tym roku byáam pierwszą klasĊ, czyli maluszki, siedmioletnie dzieci. nie ma rodziców, którzy by wyjeĪdĪali za granicĊ ale z poprzednich lat na przykáad miaáam dwadzieĞcia, dwadzieĞcia czworo rodziców. To tak powyĪej dziesiĊciu do piĊtnastu dzieci miaáo taką sytuacjĊ, Īe rodzice pracują za granicą.“

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Einblick in die Lebenssituation der Kinder versprachen wir uns von Aufsätzen, die wir in den vierten, fünften und sechsten Klassen einer Grundschule schreiben ließen. Das Thema wurde von uns vorgegeben, und die Klassenlehrer stellten die Aufgabe im normalen Unterrichtsablauf, ohne dass wir in den Klassen anwesend waren. In dem Fall hatten wir also keinen direkten Kontakt mit den Schülern. Qualitativ kann man die Interpretation von Schulaufsätzen zwischen Interviews und Fragebögen einordnen.29 Man erfährt mehr als in einem Fragebogen, doch zugleich auch weniger als in einem Interview. Obwohl die Schulaufsätze von den Schülern individuell angefertigt werden, spiegeln die inhaltlichen Aussagen auch die sozialen Zusammenhänge ihres alltäglichen Erlebens wider.30 Individuelles Denken entwickelt sich in sozialer Kommunikation und ist Ausdruck sozialer Zusammenhänge. Nachteilig erweist sich die fehlende Möglichkeit, Nachfragen zu stellen oder Erklärungen zu erfragen. Auf der anderen Seite muss man die geringe Beeinflussung durch den Wissenschaftler als positiven Wert der Aufsätze betonen. Die Arbeitsmigration gehört zum Erfahrungshintergrund der Kinder sowohl auf der Ebene des individuellen Erlebens als auch durch die Beobachtung im nahräumlichen Umfeld. Daher beeinflusst sie wahrscheinlich auch die eigenen Zukunftsvorstellungen. Betrachten wir die Aufsätze, so unterscheiden sich die Vorstellungen und Träume der Kinder in der Mehrzahl zunächst nicht von denen Gleichaltriger westlich der Oder. Auch in Polen träumen die zehn- bis dreizehnjährigen Jungen davon, später als Fußballspieler eine Karriere zu machen, Automechaniker, Lkw-Fahrer oder Ingenieur zu werden, während viele Mädchen darauf hoffen, sich ihren Traum vom eigenen Friseursalon erfüllen zu können. Deutlich wird in den Lebensperspektiven eine geschlechtsspezifische Tradierung der Berufe und häuslichen Aufgaben. So überrascht es nicht, wenn eine Schülerin neben der Eheschließung, dem Einfamilienhaus und der eigenen Firma ihren späteren Aufgabenbereich darin sieht, den Haushalt zu führen. An dieser Stelle soll aber auch nicht unterschlagen werden, dass in der Mehrzahl der Aufsätze die Schüler keinen Bezug zum Ausland oder zu Migrationserfahrungen herstellen. Jedoch zeigt eine genaue Interpretation die Relevanz der Migration im Leben der Schüler. Bedenken müssen wir, dass die Aufsätze von Grundschülern geschrieben

29 Ballz 1988: 91. 30 Wagner 2001: 262.

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wurden. Entsprechend ihres Alters von zehn bis zwölf Jahren wird ihre Erfahrung und ihre Vorstellungswelt von dem lokalen Alltagserleben begrenzt. In der Regel konzentrieren sich in dem Alter die Lebensperspektiven noch auf das familiäre Umfeld. Umso außergewöhnlicher ist daher die Adaption der Migration in die Lebensentwürfe. Dies sind Aufsätze, in denen der Wunsch beschrieben wird, Orte und Verwandte im Ausland zu besuchen oder dort eine Arbeit aufzunehmen. Erwähnt werden Orte in Großbritannien, den USA und in Deutschland, d.h. in den Hauptzielländern polnischer Arbeitsmigranten. Die Schüler schreiben von der Notwendigkeit, Sprachkenntnisse zu erwerben, zumal die Reisen von den Schülern mit dem Ziel verbunden sind, eine Arbeit aufzunehmen. Konkretisiert wird diese Option, wenn man entweder in Polen keine Arbeit finden kann oder nur ein geringes Einkommen erzielt. Ein interessanter Aspekt zeigt sich in den Vorstellungen der Mädchen. Einerseits ziehen sie ebenso wie ihre männlichen Klassenkameraden die Arbeitsmigration als Lebensperspektive in Betracht, gleichzeitig dominiert in ihren Plänen aber der Aufbau einer Familie. Der Anspruch auf berufliche Selbstverwirklichung und Emanzipation bei gleichzeitiger Tradierung geschlechtsspezifischer Rollenmuster ist allerdings nur schwer durchsetzbar. So schreibt Beata, eine Schülerin der 6. Klasse, dass sie in zehn Jahren eine Familie und eine gute Arbeitsstelle haben und in einem Haus mit Garten wohnen wird. Sie beendet ihre Aufzählung mit dem Satz: „Aber wenn mir das nicht gelingt, fahre ich nach England. Und dort gründe ich eine Familie.“ England gilt hier als Synonym für die letzte Chance, den Mittelstandstraum von zufriedenstellender, gut bezahlter Arbeit, Familie, Haus und Garten zu realisieren. Je nach familiärer Migrationserfahrung könnten hier anstelle von England auch Deutschland oder die USA stehen. Auch wenn wir nicht die einzelnen Schüler befragt haben, so zeigen die Aufsätze deutlich genug, wie sehr doch die Begegnung mit der Arbeitsmigration im engen Erfahrungsumfeld der Schüler ihre Erzählungen und Wünsche beeinflusst. Verdeutlichen lässt sich der Zusammenhang zwischen Alltagserfahrungen und Zukunftserwartungen in einem längeren Zitat aus dem Aufsatz von Dominik, der ebenfalls die 6. Klasse besucht. Dominik beschreibt zunächst seinen Berufswunsch Ingenieur, jedoch fügt er sogleich an, es sei sicherlich schwierig, auch einen Arbeitsplatz zu finden. Weiter heißt es dann:

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„Wenn ich als Ingenieur keine Arbeit im Land finde, dann fahre ich nach England, denn dort kann ich als Bauingenieur arbeiten, weil Großbritannien ein Land ist, das sich fortdauernd entwickelt und in dem viele neue Gebäude errichtet werden. Vielleicht ist der Verdienst dort viel größer als in Polen, und ich werde ihn nach Polen schicken und ein eigenes Haus in meinem Land bauen. Meiner Familie verspreche ich, dass ich jedes Jahr zu den Feiertagen und in meinem Urlaub nach Polen kommen werde.“

Vermutlich gibt es eine Blaupause im engeren familiären Umfeld für Dominiks Lebenstraum. Alle Berichte, in denen die Schüler die Arbeitsmigration erwähnen, werden von einer Dichotomie zwischen eingeschränkten wirtschaftlichen Möglichkeiten in Polen und den vielfältigen Chancen im Ausland getragen. Angetrieben werden die (überzogenen) Erwartungen von der Differenz des Lebensstandards zwischen den altindustrialisierten Staaten Westeuropas und Polen. Einmal sind es die „vielen Bauprojekte“ in England oder in einem anderen Beispiel die „große Firma“ in Deutschland, in der man als Erwachsener arbeiten wird. Großbritannien, den USA und Deutschland haften in den Vorstellungen der Schüler etwas von „unbegrenzten Möglichkeiten“ an, die sich in den Attributen von „viel“ und „groß“ niederschlagen. Diese Länder bieten für sie nicht nur einen letzten Ausweg, der sich im Falle eines „Versagens“ in Polen auftut, sondern dieser Weg führt zudem mit Sicherheit zum Erfolg. Im Sinn von Bourdieu kann man hier von einer „Logik der Praxis“ sprechen, der zu einem Habitus der Arbeitsmigration in der Schülergeneration führt.31 An dieser Stelle bietet sich ein historischer Vergleich mit einer 1996 durchgeführten Studie an.32 Auf der Grundlage von Aufsätzen polnischer Schüler aus dem masurischen Dorf Oráowo wurden deren Zukunftsvorstellungen untersucht. Dabei erwähnten die Schüler in ihren persönlichen Darstellungen in keinem Fall die Möglichkeit der Migration. Zwar war Arbeitsmigration auch Mitte der 1990er Jahre in Polen schon ein alltägliches Phänomen, gleichwohl stieg sie in den Folgejahren noch deutlich an. Obwohl sich die Schulaufsätze von 1996 bezüglich der etwas anders gelagerten Fragestellung nur bedingt mit den Aufsätzen von 2011 vergleichen lassen, werden doch Unterschiede deutlich.

31 Barlösius 2011: 32ff. 32 Wagner 2001: 266ff.

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Im Jahr 1996 fanden wir in der Regel einen Familienangehörigen, dessen Saisonarbeit im Ausland das Familienbudget aufbesserte, während der familiäre soziale und ökonomische Mittelpunkt im Heimatdorf lag. Rein quantitativ stellen die Arbeitsmigranten auch in der 2011 untersuchten lokalen Gesellschaft weiterhin eine Minderheit dar, wenngleich deren Zahl deutlich zugenommen hat. Zumindest in polnischen Woiwodschaften wie beispielsweise Niederschlesien (poln. DolnoĞląskie), Lublin (Lubelskie), Heiligkreuz (ĝwiĊtokrzyskie) und Ermland-Masuren (WarmiĔsko-Mazurskie), aus denen eine große Zahl von Arbeitsmigranten stammt, ist eine Schülergeneration nachgewachsen, für die schon im Grundschulalter die Arbeitsaufnahme im Ausland eine Zukunftsperspektive darstellt. War es vor 15 Jahren noch eine kleine Gruppe, die aus der Woiwodschaft ErmlandMasuren zeitweise im Ausland arbeitete, so ist diese mittlerweile soweit angewachsen, dass sie eine gesellschaftlich prägende Kraft entfaltet. In regionalen Schwerpunkten ist die temporäre Arbeitsmigration zu einem Massenphänomen geworden.33 Arbeitsmigration ist zu einer sozial präsenten und akzeptierten Lebensform geworden. Damit vollzog sich ein qualitativer Wandel in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Arbeitsmigration. Verglichen mit der Situation von 1996 sind heute vielfach Familienhaushalte von der kontinuierlichen Arbeitsmigration abhängig. Hier spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob es sich um eine lose Folge von Saisonarbeiten oder um eine regelmäßige Tätigkeit handelt, bei der ein Familienmitglied die überwiegende Zeit des Jahres im Ausland verbringt. In beiden Beispielen sind die Familien wirtschaftlich vom Einkommen aus der Arbeitsmigration abhängig. Obwohl deutliche regionale Unterschiede bestehen, scheint es gerechtfertigt, vor diesem Hintergrund die polnische Gesellschaft als Migrationsgesellschaft zu beschreiben.34 Eine Auswirkung zeigt sich darin, dass auch minderjährige Schüler ihre Ferien zur Arbeit im Ausland nutzen. In einem Beispiel aus unserer Forschung berichtete ein Jugendlicher davon, wie er im Alter von 14 Jahren das erste Mal als Saisonarbeiter in den Niederlanden arbeitete. Seine Schule unterstützte ihn dabei, indem ihm das Zeugnis einige Tage früher ausge-

33 Zebrala 2009: 77. 34 In den wirtschaftlich prosperierenden städtischen Ballungsgebieten bildet die Arbeitsmigration eine Ausnahme. Siehe auch die Erfahrungen von Maria Piechowska in Warschau im Kapitel „Als Soziologin auf dem Erdbeerfeld“.

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stellt wurde. Die ersten Arbeitserfahrungen sammelte er gemeinsam mit seiner Familie, in den folgenden Jahren organisierte er dann in eigener Initiative einen jeweils sechs- bis achtwöchigen Arbeitseinsatz während der Sommerferien. Erleichternd wirkte sich für ihn dabei aus, dass sein Bruder nach Deutschland umgesiedelt war und er die Gelegenheit zu einer Begegnung mit ihm nutzte. Erwähnen sollte man aber auch, dass die Kinder keine negativen Erlebnisse im Zusammenhang mit der Migration erwähnen.35 Hier könnte man allenfalls einen Umkehrschluss von der Beschreibung der familiären Idylle, die sie sich für die eigene Zukunft wünschen, auf die aktuell vermissten Kontakte machen. Letztendlich sollte man auch den Widerspruch zwischen der Konstruktion einer Musterfamilie mit Eigenheim und der Arbeitsperspektive im Ausland erkennen. Beide Tendenzen sind Bestandteile der Lebenswelt, in der die Kinder aufwachsen und die sie in ihren Vorstellungen antizipieren. Arbeitsmigration, so kann an dieser Stelle festgehalten werden, hat die Relevanz einer Lebensform. Gleichwohl ist die Frage nach den psychosozialen Auswirkungen auf die Kinder der Migranten damit noch nicht beantwortet. Wenden wir uns also wieder den Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen zu, die täglich Umgang mit den Schülern haben, und lassen noch einmal Agata KwiecieĔ zu Wort kommen: Agata KwiecieĔ: „Ja, denn das sind kleine Kinder, und kleine Kinder sind offen und teilen solche Situationen mit. Zum Beispiel weiß man, wenn die Familie wegfährt oder sogar wann sie zurückkehren, weil die Kinder mitteilen: ,In einer Woche oder in zwei Tagen kommt meine Mutter.‘ Oder zum Beispiel kommen sie jeden Tag und sagen: ‚Nun dauert es noch zehn Tage. Dann kommt meine Mutter oder kommt mein Vater aus dem Ausland.‘ Also Kinder sagen das offen. Vielleicht drücken sich ältere Kinder nicht so offen aus, aber kleine kommen sofort und erzählen, dass meine Mutter nicht weggefahren ist, sie teilen die Situation mit, nicht wahr. Oder sie sagen leider nicht direkt, ‚ich bin traurig, mir geht es schlecht‘, aber sagen beispielsweise, dass es schade sei, dass sie weggefahren ist oder Mama lange nicht da sein

35 Mit biografischem Abstand zur eigenen Kindheitserfahrung wird die Abwesenheit der Eltern deutlich negativer bewertet. In der Studie von Annette Zebrala stellen erwachsene Interviewpartner fest, sie hätten die Arbeitsmigration der Eltern als belastend erlebt. Ein Interviewpartner spricht von einer traumatischen Erfahrung (Zebrala 2009).

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wird, weil sie weggefahren ist, nicht wahr. Auch an den Worten, am Tonfall kann man erkennen, dass es dem Kind einfach schlecht geht. Dass es das durchlebt. Es durchlebt diese Abwesenheit.“36

Durchgängig berichten alle Lehrerinnen der Grundschule von dem Einfluss der elterlichen Arbeitsmigration auf die emotionale Situation und das Verhalten der Kinder. Will man den Einfluss spezifizieren, so greift allerdings eine rein auf Lernleistungen orientierte Beurteilung zu kurz. Die Lehrerin Alina Budzowska sieht daher die Auswirkungen auch in erster Linie in einer emotionalen Erschütterung der Kinder. Tendenziell kann man von einer psychischen Belastung durch die Arbeitsmigration der Eltern ausgehen, solange sich die Kinder im Grundschulalter befinden. Innerhalb dieser allgemeinen Grundannahme zeigen die Schüler aber auch ein differenziertes Spektrum von Verhaltensweisen. Berichtet wird von sozialem Rückzug, von häufigem Weinen, aber auch von zunehmender Aggressivität. Alle Beschreibungen fußen auf Beobachtungen der Lehrerinnen, die eine Veränderung des Verhaltens mit der elterlichen Arbeitsmigration in einen Zusammenhang bringen. Mit zunehmendem Alter der Schüler werden die Auswirkungen für dritte Personen weniger deutlich. Doch auch die Schulsozialarbeiterin Halina Wilk berichtet von Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten aus Familien von Arbeitsmigranten. Neben einem Leistungsabfall in der Schule sind bei einzelnen älteren Jugendlichen Elemente der Verwahrlosung festzustellen. Eine von Halina Wilk beobachtete Ursache stellt

36 Agata KwiecieĔ: „Tak, bo to są maáe dzieci, a maáe dzieci są takie otwarte i one siĊ dzielą takimi sytuacjami na przykáad bardzo, wiadomo na przykáad kiedy rodzice wyjechali albo nawet kiedy rodzice wracają, bo dzieci siĊ tym chwalą. O za tydzieĔ albo za dwa dni przyjedzie moja mama. Albo na przykáad codziennie przychodzą, mówią, no jeszcze zostaáo tam dziesiĊü dni. Przyjedzie, przyjeĪdĪa moja mama albo przyjeĪdĪa mój tato. Tam zza granicy. WiĊc dzieci mówią o tym otwarcie. MoĪe starsze dzieci tak te nie uzewnĊtrzniają ale maluszki od razu przychodzą i mówią a bo mama moja nie wyjechaáa, dzielą siĊ takimi sytuacjami, prawda. Albo szkoda, nie mówią wprost, Īe jest mi smutno Īe jest mi Ĩle ale ale mówią na przykáad, Īe a jaka szkoda, Īe wyjechaáa albo mamy dáugo nie bĊdzie bo wyjechaáa prawda. TakĪe po sáowach, po tonie moĪna siĊ zorientowaü Īe dziecku, Īe dziecku jest Ĩle po prostu. ĩe przeĪywa to. PrzeĪywa ten wyjazd.“

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die mangelnde Kontrolle durch Großeltern oder Tanten dar, die mit dem Verhalten der ihnen anvertrauten Jugendlichen überfordert sind. Deutlicher als eine pauschale Leistungsminderung ist bei einem Teil der Schüler eine Leistungsverweigerung festzustellen. Der Sinn eines guten Schulabschlusses wird von ihnen nicht gesehen, da sie mit der Erfahrung aufwachsen, dass die Eltern mit einer Hilfsarbeitertätigkeit im Ausland einen höheren Lebensstandard erreichen, als es einer Fachkraft in Polen möglich ist. In der Schule erfahren die Lehrerinnen das Phänomen als ein Untergraben ihrer Autorität, wenn eine Mutter als Reinigungskraft in deutschen Haushalten deutlich mehr verdient als die Schulleiterin in Polen. Für die Schüler erschließt sich oftmals nicht mehr der Sinn eines weiterführenden Abschlusses, da sich die Arbeitsmigration als Lebensform etabliert hat. Migration stellt in dem Moment eine ökonomische und soziale Lebensperspektive dar, bei der vom konkreten Inhalt der Arbeit abgesehen wird.37 Beim Abfall schulischer Leistungen über einen längeren Zeitraum, der sich auf die familiäre Situation zurückführen ließe, handelt es sich jedoch um keinen automatisierten Prozess mit Allgemeingültigkeitsanspruch. Es sind immer wieder einzelne Fälle oder zeitlich begrenzte Einbrüche, von denen die Lehrerinnen berichten. Betont wird aber von allen Interviewpartnern die große Zahl psychosozialer Auffälligkeiten. In welchem Ausmaß es sich dabei um eine emotionale Belastung der Kinder handeln kann, zeigt folgende Episode, die sich während der Forschung ereignete. An einem Vormittag bat mich einer meiner polnischen Bekannten, ihn und seine ungefähr zehnjährige Tochter ins Krankenhaus zu fahren. Seine Tochter sei erkrankt, er wisse sich keine Hilfe, und da er keinen Wagen hat, könne er das Krankenhaus nicht erreichen. Auf der Fahrt erzählt er mir, seine Tochter würde jedes Jahr krank, wenn seine Frau nach Deutschland zur Spargelernte fährt. Vor zwei Tagen war sie wieder nach Deutschland gefahren, doch diesmal wäre er um die Gesundheit seiner Tochter besorgter als in den vergangenen Jahren. Ich weiß nicht, welche Diagnose im Krankenhaus ge-

37 Das Beispiel der massenhaften Arbeitsmigration aus der Karibik zeigt noch einmal in verstärkter Form vergleichbare Auswirkungen. In manchen Dörfern Guayanas gehen von einem Viertel der Kinder beide Elternteile einer regelmäßigen längerfristigen Arbeit im Ausland nach. Die Kinder werden mit der Vorstellung des schnell verdienten Geldes sozialisiert und ziehen daher die Migration anderen Tätigkeiten vor (Dürrschmidt 2012: 38ff.).

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stellt wurde, auf jeden Fall blieb das Kind über eine Woche in stationärer Behandlung.38 Ende März 2011 zeigten wir, wie schon erwähnt, den Film „Eurosieroty“ (dt. „Eurowaisen“) einer Gruppe von Schülern einer polnischen Schule der Klassenstufen sechs bis zehn. Obwohl es sich bei den im Film dargestellten Schülern um Abiturienten handelte, die dementsprechend älter als unsere Teilnehmer waren, bot der Film genügend Anregungen für unsere anschließende Diskussion. Ergänzen sollte man noch, dass der Film weniger die emotionalen Schwierigkeiten thematisiert, sondern vielmehr die technischen Aspekte der Haushaltsführung in den Mittelpunkt rückt. Im Film wird gezeigt, wie ein Schüler aus Polen via „Skype“ mit seinen Eltern in den Niederlanden kommuniziert. Maria Piechowska und Kamila Fiaákowska moderierten das Gruppeninterview und sprachen die Bedeutung von Kontakten via „Skype“ an: Maria Piechowska: „Was denkt ihr, es heißt, Skype war sehr wichtig, sie unterhielten sich über Skype […] War das wirklich so, dass der Sohn der Migranten in Polen alleine war? Hatte er wirklich die ganze Zeit Kontakt und war überhaupt nicht alleine?“ Mehrere Schüler: „Nein, er war nicht wirklich allein, er hatte Kontakt, hatte eine Kamera.“ Maria Piechowska: „Genau, was war beispielsweise wichtiger bei den Kontakten, das Gespräch über Skype, oder zum Beispiel ständige SMS …?“ Mehrere Schüler: „Gespräche über Skype, Gespräche, Gespräche.“ Kamila Fiaákowska: „Ersetzt das wirklich die Anwesenheit der Eltern am Ort?“ Mehrere Schüler: „Nein, nein!“ Schülerin: „Mit Sicherheit ersetzt es das nicht, solange wir nicht die… fühlen, niemals die Nähe fühlen, aber so auf die Entfernung, da können wir den anderen nicht berühren, uns anschmiegen.“39

38 Eine Schulsozialarbeiterin weist in unserem Interview zudem auf ungeklärte rechtliche Fragen hin, die entstehen, wenn beide Elternteile abwesend sind. In der Regel wird keinem weiteren Familienmitglied die erzieherische Vollmacht erteilt, d.h. bei einem notwendigen Krankenhausaufenthalt kann keiner der Betreuenden die Zustimmung zu einer Operation geben. 39 Maria Piechowska: „A co myĞlicie, znaczy, ten skype byá taki strasznie waĪny, znaczy pojawiaá siĊ , oni rozmawiali przez skypa […] Wiadomo, Īe wszyscy

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In den Überlegungen der Schüler wird eine Ambivalenz deutlich. Selbstverständlich bieten die modernen Kommunikationsmöglichkeiten eine Erleichterung, indem Kinder und Eltern oftmals jederzeit erreichbar sind. Gleichzeitig bleibt es aber immer eine Begegnung auf Distanz. Der via „Skype“ auf dem Bildschirm erscheinende Elternteil kann die physische Präsenz weder emotional noch kommunikativ ersetzen und wirft das Kind in Krisensituationen auf sich selber zurück. Zu einem ähnlich ambivalenten Ergebnis kommt auch eine Studie über den Kontakt philippinischer Mütter mit ihren Kindern via Telekommunikation.40 Im Verlauf des weiteren Gespräches fragten wir die Schüler, ob sie denn der Meinung wären, man könnte von „Eurowaisen“ sprechen, wie der Titel des Films suggeriert: Schüler: „Ich weiß nicht, sicherlich stimmt der Titel, denn zur Hälfte sind sie Waisen …“ [Stille.] Maria Piechowska: „Nun, aber gleichzeitig haben sie Kontakt mit ihrer Familie.“ Schüler: „Aber das ist doch nicht das Gleiche.“ Schülerin: „Aber sie haben nicht diese Nähe.“ Schülerin: „Obwohl ihm seine Oma geblieben ist [unverständlich]. [Lachen.]“ [Stille.]41

prawda rozmawiają tam przez gadu-gadu, przez skype i tak dalej, czy to naprawdĊ on bĊdąc w Polsce czy on byá samotny? czy on tak naprawdĊ caáy czas miaá kontakt i wcale samotny nie byá?“ Uczniowie: „Nie wáaĞnie nie byá samotny, miaá kontakt, miaá kamerkĊ.“ Maria Piechowska: „WáaĞnie co byáoby na przykáad waĪniejsze w tych kontaktach, czy wáaĞnie ta rozmowa na skypie czy na przykáad jakieĞ smsy bezustanne …“ Uczniowie: „Rozmowy na skypie, rozmowy, rozmowy.“ Kamila Fiaákowska: „A czy to tak naprawdĊ zastąpiáo obecnoĞü rodziców na miejscu?“ Uczniowie: „Nie, nie.“ Dziewczynka:„Na pewno nie zastąpiáo, skoro nie czujemy tej…, niby czujemy tą bliskoĞü, ale tak jakby na odlegáoĞü, nie moĪemy dotknąü tej drugiej osoby, przytuliü.“ 40 Madianou, Miller 2011: 24. 41 Cháopiec: „Nie wiem, na pewno siĊ zgadzaá z nazwą, poniewaĪ w poáowie są sierotami …“ [Cisza.]

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An diesen Stellen der Diskussion wird spürbar, wie sehr die Abwesenheit eines Elternteils für die Kinder als emotionales Defizit wahrgenommen wird. Sehr genau wurde von ihnen auch eine Szene des Films beobachtet, in der der jugendliche Hauptdarsteller seine Eltern in den Niederlanden besucht und auf dem Schoß seiner Mutter sitzend sich an sie schmiegt. Die Geste erscheint dem Zuschauer nicht mehr altersangemessen für einen Abiturienten, doch drückt sie offensichtlich den Mangel aus, der weder durch die wirtschaftliche Besserstellung noch durch die Großeltern ersetzt werden kann. Umso mehr Relevanz kommt den Aussagen der Schüler über ihre Einsamkeitserfahrungen zu. Am Ende unserer Diskussion waren sich die Schüler darin einig, dass der Film eine Realität zeigt, die zum Erfahrungsraum ihres Alltags gehört. Selbstverständlich sind die hier beschriebenen Auswirkungen der Abwesenheit von Eltern nicht durchgängig bei allen Kindern zu beobachten. Die konkreten Auswirkungen auf den Alltag der Kinder stehen immer im Kontext des jeweils individuellen Umgangs in den Familien und Kontakts zwischen den Familienmitgliedern. Die Abreise einer Vertrauensperson wird ein Kind als größeren Einschnitt in seinen Lebensalltag erleben, als wenn zu dem Arbeitsmigranten ein distanziertes Verhältnis besteht.42 Entscheidend ist die emotional und sozial stabile Beziehung zwischen dem Kind und einer betreuenden Person. Dabei spielt die miteinander verbrachte Zeit, die Form der Interaktion, Vertrautheit und Verständnis eine entscheidende Rolle. Erst im Kontext dieser Faktoren wird eine Beurteilung der Auswirkungen von langdauernder Abwesenheit eines oder beider Elternteile sinnvoll zu beurteilen sein. In dem Ansatz eines sozioökologischen Systems ist der Versuch zu sehen, die Verbindung von politischen, ökonomischen, sozialen und individuellen Faktoren theoretisch zu erfassen.43 Einen

Maria Piechowska: „No tak ale mają jednoczeĞnie ten kontakt z rodzicami.“ Cháopiec: „Ale to juĪ nie to samo. “ Dziewczynka: „Ale nie mają tej bliskoĞci.“ Dziewczynka: „Tu chociaĪ babcia mu zostaáa [niezrozumiaáe] [Ğmiech].“ [Cisza.] 42 Zebrala 2009: 80. 43 Ratliff/Rossano/Panico 2012: 125. Sie benutzen den englischen Begriff „ecosystemic theory“ und knüpfen an die Theory der „social ecology“ von Bronfenbrenner (1986) sowie Falicov (2007) an.

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vergleichbaren multiperspektivischen Ansatz verfolgt die Theorie der Vulnerabilität (Verwundbarkeit). Der Ansatz integriert ökologische, soziokulturelle sowie politische und ökonomische Faktoren.44 Im Unterschied zu dem Begriff des sozioökologischen Systems setzt die Theorie der Vulnerabilität die Schwierigkeiten eines Individuums oder Haushalts bei der Bewältigung der äußeren Einflüsse in den Mittelpunkt. Während sich mit dem Begriff der „Eurowaisen“ die Perspektive auf die Kinder einengt, sollte man jedoch auch die Eltern nicht vernachlässigen, denn auch diese berichten von der emotional belastenden Trennung von ihren Kindern. Justyna Grabowska ging in Absprache mit ihrer Familie Anfang der 1990er Jahre nach Berlin, um den Haushalt einer Berliner Familie zu führen und deren Kind zu betreuen, während sich ihr Mann in ihrer Abwesenheit um die drei gemeinsamen Kinder und den Haushalt kümmerte. Aus der anfänglich für drei Monate geplanten Ausnahmesituation entwickelte sich eine dauerhafte Tätigkeit, die regelmäßig von kurzen Besuchen in ihrer Heimat unterbrochen wurden. Emotional erschwerend war, dass sie ein „fremdes“ Kind beaufsichtigte, welches das gleiche Alter wie ihr jüngster, damals siebenjähriger Sohn hatte. Im Rückblick beschreibt Frau Grabowska, welchen Verlust es für sie bedeutete, ihren Sohn nur in großen zeitlichen Abständen sehen zu können. Justyna Grabowska: „Das Verhältnis zu dem Jüngsten, ich weiß nicht, ob ich mich irgendwann schuldig fühlen werde, dass ich ihn allein ließ. Das rumort in mir, obwohl er mir erklärte …, denn ich redete mit ihm über das Thema und ich sage: ‚Kind, ich weiß nicht, ich ließ dich allein, allein mit deinem Papa und den Geschwistern. Ich war nicht bei dir, als du aufgewachsen bist, so täglich […]‘Er erklärte mir, dass, dass das gar nicht so schrecklich war. Aber das schlug auf seine Psyche und ebenso auf meine. Weil er ist, so ..., sogar wenn er Freude zeigen will, oder etwas, dann hält er das zurück, er nimmt solch einen Ausdruck im Gesicht an, damit er die Freude nicht zeigt, damit so, damit niemand sieht, was in seinem Inneren so ist.“45

44 Schütte 2004: 4. 45 Justyna Grabowska: „Po prostu w stosunku do tego najmáodszego, to nie wiem, czy kiedykolwiek wyzbĊdĊ siĊ poczucia takiej winy, Īe ja go zostawiáam. To we mnie tkwi, chociaĪ on táumaczyá, bo rozmawiaáam z nim na ten temat i ja mówiĊ: ‚Dzieciaku, ja nie wiem, sam zostawiáam ciebie samego z tatem, z rodzeĔstwem. Nie byáo mnie przy tobie, jak ty dorastaáeĞ, jak na co, dzieĔ […]‘ On

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Mit dem Abstand von zwanzig Jahren beschreibt Justyna Grabowska ihre emotionale Unsicherheit gegenüber ihrem jüngsten Sohn, als einen unabgeschlossenen Prozess. Emotional entlastet sie ihr Sohn, der ihre Abwesenheit als „nicht so schrecklich“ beschreibt. Wenn wir das Phänomen der Arbeitsmigration unter einer erweiterten familiären Perspektive betrachten, wird die ideologische Verkürzung des Begriffs „Eurowaisen“ deutlich. Wie andere Interviews in unserer Forschung bestätigen, handelt es sich bei der Verlusterfahrung nicht nur um ein emotionales Problem der Kinder. Vielmehr ist zugleich der emigrierende Elternteil ebenso damit konfrontiert, vom alltäglichen Erleben seiner Kinder abgeschnitten zu sein. Reduziert sich der Kontakt dann, wie im Extremfall auf wenige Wochen im Jahr, so steht zu befürchten, dass einerseits eine Entfremdung einsetzt und andererseits die gemeinsam verbrachte Zeit immer abseits des Alltagserlebens in einer Atmosphäre des Außergewöhnlichen verbleibt. Die nachfolgenden Interviewsequenzen stellen die emotionalen Schwierigkeiten der Familien heraus. Marta Bulczak: „Es gab einen Moment, als die Tochter geboren wurde, die erste Tochter, und mein Mann wünschte sich sehr eine Tochter, als sie zwei Jahre alt war, und er wieder wegfuhr, da stand sie auf der Treppe und sie schrie, dass er nicht fahren sollte, da ging er weinend und fuhr los.“46 ElĪbieta Jeleniewicz: „Ja, ja, ja, das war überhaupt eine schwierige Situation für die ganze Familie, weil die ältere Tochter war, als ich zum ersten Mal wegfuhr, wie alt war sie da ... vierzehn? Nun, mehr oder weniger, vielleicht fünfzehn. Dreizehn war der ältere Sohn, ja und der kleine war vier. Nun, erst einmal, kleine Kinder, das sind noch solche Kinder, die die Mutter brauchen. Wenn die nächste Fahrt ins Ausland

mi tak táumaczy, Īe, Īe to wcale nic takiego strasznego. Ale to na jego psychice siĊ odbiáo i na mojej tak samo. Bo on taki …, nawet jak chce okazaü uczucie radoĞci, czy coĞ, to zaraz stara siĊ tak zahamowaü, tak wyraz taki twarzy zrobiü, taki Īeby nie okazaü tej radoĞci, Īeby tak, Īeby nikt nie widziaá, co u niego w Ğrodku siĊ dzieje, taki.“ 46 Marta Bulczak: „Byá taki moment, Īe jak urodziáam tą córkĊ, tą pierwszą córkĊ, a mąĪ chciaá bardzo dziewczynkĊ, to ona miaáa ze dwa latka i jak on wyjeĪdĪaá, to ona staá na schodach i ona krzyczaáa, Īeby on nie jechaá, to on z páaczem szedá, pojechaá.“

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bevorstand, dann war schon einen Monat vorher die ganze Familie krank. Jetzt haben wir uns alle schon daran gewöhnt [Lachen].“47

ElĪbieta Jeleniewicz arbeitete zur Zeit unseres Interviews bereits seit zwölf Jahren regelmäßig im Ausland. Nachdem sie die ersten drei Jahre in Spanien gearbeitet hatte, bot sich ihr die Möglichkeit, in Deutschland die private Pflege einer älteren Dame zu übernehmen. Der informelle Arbeitsplatz in Deutschland ermöglichte ihr, alle vier bis sechs Wochen zu ihrer Familie zu fahren, anstatt wie in Spanien nur alle drei Monate. Im Laufe der Jahre wechselte sie mehrmals die betreute Person und den Ort, blieb aber in Deutschland und kann mittlerweile ihren Arbeitsrhythmus im Wechsel zwischen fünf Wochen in Deutschland und drei Monate Pause einteilen. Betrachten wir einmal die Interviewsequenz, so betont ElĪbieta Jeleniewicz die emotionale Belastung für die Familie. Nicht nur die Kinder, sondern die ganze Familie erlebte die lange Abwesenheit als Stress. Die Entscheidung zur Arbeitsmigration hatte die gesamte Familie beschlossen und die Folgen mussten auch von ihr getragen werden. Regelmäßig wiederholte sich die Abreise von Frau Jeleniewicz und schon das Bewusstsein darüber in Verbindung mit der Erfahrung, die aus der vorangegangenen Migration resultierte, strahlte wie eine bedrückende Aura auf das Familienleben aus. Sie schließt mit der Bemerkung, sie hätten sich daran gewöhnt und einem Lachen. Man kann sich vorstellen, dass ein Gewöhnungseffekt eingetreten ist und zudem auch der jüngste Sohn in einem Alter ist, in dem er der familiären Obhut entwächst. So gesehen ist die Geschichte ihrer Arbeitsmigration gut ausgegangen, jedoch passt ihr Lachen nicht dazu. An dieser Stelle steht ihr Lachen im Widerspruch zu der Sequenz. Man kann diese Diskrepanz dahingehend interpretieren, dass zwar eine Gewöhnung eingesetzt hat, jedoch die Migration weiterhin als belastend erlebt wird und zudem die psychischen Probleme der Vergangenheit bis in die Gegenwart ausstrahlen.

47 ElĪbieta Jeleniewicz: „Tak, tak, tak. To byáa bardzo ciĊĪko sytuacja w ogóle dla caáej rodziny dlatego, Īe starsza córka miaáa, jak wyjechaáam pierwszy raz to ile ona miaáa lat ... czternaĞcie? No, tak mniej wiĊcej mówiĊ, piĊtnaĞcie moĪe. TrzynaĞcie lat miaá ten starszy syn no i ten maáy miaá cztery lata, no to pierwszy, maáe dzieci, to jeszcze dzieci takie, które potrzebują mamy. TakĪe, jak przychodziáo do kaĪdego kolejnego wyjazdu to juĪ miesiąc wczeĞniej caáa rodzina byáa chora. To juĪ tak przeĪywaliĞmy wszyscy [Ğmiech].“

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Bestätigt wird diese Interpretation, indem ElĪbieta Jeleniewicz den Stress betont, den ihr die Arbeitsmigration bereitet und sie zukünftig auf eine Arbeit in der Nähe ihres Heimatortes hofft. Gleichwohl unsere Interviewpartner immer wieder auf die emotional belastenden Erfahrungen der Trennung von den Kindern zu sprechen kommen, sind die uns zur Verfügung stehenden empirischen Informationen und wissenschaftlichen Studien widersprüchlich. Eine Studie zur Migration von Polinnen ins Ruhrgebiet kommt zu dem Ergebnis, dass die Betreuung der Kinder durch die Großeltern und Väter bei der Abwesenheit der Mütter „überwiegend ohne größere Konflikte“48 verläuft. Kritisch bleibt dabei zu fragen, ob es wie in dem zitierten Beispiel tatsächlich zielführend sein kann, das Thema auf der Grundlage von Leitfadeninterviews zu erfassen. Wenn das Thema, wie hier festgestellt, schambesetzt ist, werden die Betroffenen vermutlich dazu neigen, Probleme in ihren Antworten nicht zu erwähnen. Als problematisch bei der Analyse von psychischen und sozialen Auswirkungen der Arbeitsmigration auf die Kinder erweist sich das Fehlen von Langzeitstudien. So gibt es kaum Unterlagen, anhand derer man die Folgen der Migration in diesem Bereich erkennen kann.49 Eine sinnvolle Ergänzung zu den Migrationsstudien stellen Abhandlungen zur Situation von Arbeitspendlern dar, deren Abwesenheit von zu Hause ebenfalls mehrere Monate dauern kann. In einer umfangreichen ethnografischen Forschung zur Lebenssituation in der ostdeutschen Stadt Wittenberge stellen die Autoren die Probleme der Kinder heraus, die bei ihren Großeltern aufwachsen, während ihre Eltern im Ausland arbeiten: „Auf den Unterricht wirkt sich aus, dass viele Eltern in entfernte Arbeitsorte pendeln und nur am Wochenende oder noch seltener präsent sind. Die Lehrer stellen fest, dass die psychischen Auffälligkeiten der Jugendlichen zunehmen.“50 Den Kindern fehlt neben dem Bezug zu den Eltern auch die Erfahrung des elterlichen Arbeitsalltags. Studien zur Lebenssituation von Pendlern kommen zu dem Ergebnis einer höheren psychischen Belastung im Vergleich mit Ortsgebundenen. Stressfaktoren sind beispielsweise, die intime Partnerbeziehung nur zeitlich eingeschränkt zu erfahren, Tendenzen der Entfremdung vom familiären

48 Münst 2010: 345. 49 Kalwa 2010: 81. 50 Haese/Eckert/Willisch 2012: 56.

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Leben und generell das Fehlen von gemeinsam verbrachter Zeit. Wird regelmäßig über mehrere Tage oder Wochen gependelt, so besteht „ein erhöhtes Risiko, wegen Schwierigkeiten mit den Kindern oder aus Sorge um die Kinder häufig Stress zu erleben“51. Zudem stellt das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung fest, dass „Fernpendeln […] ein erhöhtes Risiko dauerhafter Gesundheitsbelastungen [birgt]“52. Relativiert werden die negativen Effekte jedoch durch die Zufriedenheit, die sich aus der Arbeit und dem finanziellen Zugewinn ergeben.53 Obwohl sich Schneider u.a. in ihrer Studie auf deutsche Pendler beziehen, kann man hier einen vergleichbaren Effekt in polnischen Migrationshaushalten vermuten. Während auf der einen Seite die fremde Sprache und Kultur den Stress der Wanderarbeiter erhöhen, ermöglicht der finanzielle Zugewinn einen Ausgleich der Belastungen. Am Ende dieser Überlegungen zur Frage der emotionalen Auswirkungen auf die Generation der Kinder und Jugendlichen sei es erlaubt, einen vorsichtigen Seitenblick auf die Forschungen einer anderen Fakultät zu werfen. Der Neurobiologe Hüther kommt zu dem Schluss, dass die Qualität der Bindungen zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen einen entscheidenden Einfluss auf die psychosoziale Stabilität hat.54 Jedoch erteilt er allen generalisierten Rollen- und Funktionszuweisungen innerhalb der Familie eine Absage. Wenn die Abwesenheit eines Elternteils von den Kindern als Stress erlebt wird, so ist aus seiner Perspektive zu fragen, ob sie die Emotion als kontrollierbar, also beherrschbar oder nicht erleben. Wird die Abwesenheit als kontrollierbarer Stress erlebt, kann sogar der Effekt einer Gewöhnung ohne negative Folgen eintreten. Sie kann sogar stabilisierend wirken, indem die betreffenden Personen souveräner mit Veränderungen umzugehen lernen.55 Es gibt keine eindeutigen Forschungsergebnisse, die zeigen würden, dass die Betreuung in der eigenen Familie für die Entwicklung des Kindes notwendig ist.56 Kibbuzerziehung, Großfamilien und Pflegesituationen zei-

51 Rüger 2010: 9. 52 Ebd. 11. 53 Schneider/Limmer/Ruckdeschel 2002: 164. 54 Hüther 2011a: 97ff. 55 Ebd. 100ff.; Hüther 2011b: 69f. 56 Rutter 1978: 27ff.

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gen andere Wege. Demgegenüber wird oftmals der Eindruck vermittelt, „der Familie wohne etwas Mystisches inne und es komme gar nicht darauf an, wie die Betreuung des Kindes qualitativ geschaffen sei“.57 Entscheidend sind vielmehr die begleitenden Umstände einer Trennung sowie die emotionalen Bindungen zwischen dem Kind und dem Migranten. Rutter kommt zu dem Schluss, dass gerade eine intensive Beziehung, die schon vor der Trennung bestand, dazu beiträgt, die Abwesenheit leichter zu bewältigen.58 Die psychosozialen Auswirkungen der Trennung von Familienmitgliedern aufgrund der Wanderarbeit muss als ein Zusammenspiel von ökonomischen, sozialen und psychischen Faktoren analysiert werden. Hierbei spielt die zeitliche Dauer der Trennung ebenso eine Rolle wie die Kenntnis und das Verständnis für die Umstände.59 Vorrangiges Ziel der Wanderarbeit ist immer die Steigerung des (familiären) Lebensstandards. Je mehr Erwartungen und Ergebnis übereinstimmen, umso leichter wird die Trennung verarbeitet. Gleichwohl der Aussage zuzustimmen ist, dass „mobile Lebensformen weitaus belastender (sind) als nichtmobile“60, können jedoch die konkreten Umstände deren Bewältigung erleichtern. So zeigt eine Untersuchung über mexikanische Wanderarbeiter, dass die zeitliche Befristung und theoretisch jederzeit zu beendende Arbeitsmigration den traumatischen Stress bei Müttern und Kindern minimiert.61 Als Fazit können wir vor dem Hintergrund unserer Forschung daher auf die Notwendigkeit einer detaillierten Analyse der individuellen Lebensumstände verweisen. Es gibt keine eindeutigen allgemeingültigen Ergebnisse, welche die Migration der Eltern und das Verlassen der Kinder erfassen. Die Erfahrung ist für die Kinder von den begleitenden Umständen abhängig, zu denen die Migrationskultur, die Reaktionen des sozialen Umfeldes und individuelle Erwartungen gehören. Regelmäßige Besuche erleichtern ebenso die Verarbeitung der Trennung wie die Etablierung weiträumiger, internationaler Familienstrukturen.62

57 Ebd. 29. 58 Ebd. 124. 59 Phoenix 2010: 77. 60 Schneider/Limmer/Ruckdeschel 2002: 158. 61 Nicholson 2006: 28. 62 Hajji 2008: 13, 27.

D IE K INDER

DER

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Als Ergebnis unserer Forschungen bezüglich der Frage von psychosozialen Auswirkungen der Wanderarbeit auf die Lebenssituation von Familien sind folgende Überlegungen hervorzuheben. Mit dem Begriff der „Eurowaisen“ werden die emotionalen Belastungen der Trennung einseitig auf die Kinder gelenkt. Demgegenüber ist es notwendig, die Familie bzw. die Haushaltsgemeinschaft als organisatorische und emotionale Einheit zu sehen, bei der sowohl Eltern als auch Kinder Trennungserfahrungen erleben. Forschungen zur Lebenssituation müssen dem gerecht werden und multiple Faktoren untersuchen, wie sie beispielsweise in dem Ansatz der „Verwundbarkeit“ vorliegen. Als großer Nachteil zeigt sich die zeitlich punktuelle Untersuchung des Phänomens. Gerade für die spezifische Situation der polnischen Arbeitsmigration fehlen Langzeituntersuchungen, welche die emotionalen Früh- und Spätfolgen erfassen. Erweitern wir die Perspektive von den Kindern hin zu den Familien und ihren emotionalen Strategien und sozialen Bezügen, so gerät die grundlegende gesellschaftspolitische Dimension der Frage nach den Lebensbedingungen in unser Blickfeld. Zu fragen ist nach den psychosozialen Belastungen und den sozialen Auswirkungen, wenn große Teile lokaler Gesellschaften über lange Zeiträume hinweg abwesend sind und nicht am politischen und sozialen Alltag teilnehmen. Am Ende dieses Buches wird darauf zurückzukommen sein.

Lokale Gesellschaften und „unvollständige Migration“

Auf der zwischenstaatlichen Ebene folgt die Arbeitsmigration zwischen Polen und Deutschland der Wanderung vom schwächer entwickelten zum wirtschaftlich stärkeren Land. Für die polnische Gesellschaft liegt der Vorteil darin, dass die Transformationskosten für die wirtschaftliche Unterstützung der Arbeitslosen abgefedert werden. Deutschland wiederum erhält durch die Anwerbung polnischer temporärer Arbeitsmigranten nicht nur billige Arbeitskräfte, sondern spart zugleich die sozialen und kulturellen Ausgaben für deren Integration. Temporäre Arbeitsmigranten behalten ihren Lebensmittelpunkt in ihrem Heimatland und kehren regelmäßig dorthin zurück. Betrachten wir Migrationen auf der makrosozialen Ebene, so erhalten wir ein auf die nationale Gesellschaft bezogenes Bild. Aus Sicht der Politik ist das Wissen über diese Prozesse notwendig, um den durch Migration hervorgerufenen Bevölkerungszuwachs bzw. die Abwanderung zu erfassen. Begeben wir uns dagegen auf die Mikroebene, dann erkennen wir die psychosozialen Prämissen und Konsequenzen der Migrationen für die Familien und Individuen. In dieser Perspektive wird es uns möglich, die durch den Migrationsprozess hervorgerufenen emotionalen und psychosozialen Spannungen zu erkennen. Darüber hinaus scheint die Verortung der Forschung auf einer lokalen und subregionalen Ebene1 einen vielversprechenden Aus-

1

Mit dem Begriff der „subregionalen Ebene“ wird auf die zunehmenden Schwierigkeiten mit der eindeutigen Bestimmung klarer Grenzen von Lokalität hinge-

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gangspunkt darzustellen. Auf dieser auch als Mesoebene beschriebenen Dimension gelangen die politischen, ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen in Verbindung mit den individuellen strategischen Überlegungen sowie den kulturellen Prämissen der Akteure in den Blick. In den 1990er Jahren entwickelte die polnische Migrationsforschung das Konzept der „unvollständigen Migration“, um den spezifischen Charakter der temporären grenzüberschreitenden Mobilität in Polen zu erklären.2 Entscheidend für die Form der Migration sind demnach historische Erfahrungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie sie auch in anderen mittelosteuropäischen Staaten anzutreffen waren. In den 1980er Jahren, also noch zu Zeiten der Volksrepublik, festigten sich Mobilitätsmuster, deren Vorgeschichte bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Nach dem Ende der Volksrepublik sind diese Mobilitätsmuster in der temporären Arbeitsmigration nach Westeuropa wiederzufinden. Während der Volksrepublik wurden Anstrengungen unternommen, die bislang vernachlässigte Industrialisierung nachzuholen und den Urbanisierungsgrad im überwiegend ländlich strukturierten Polen zu steigern. Ein Ziel war es, den Individuen dadurch einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Die Realität sah anders aus. Obwohl in unmittelbarer Nähe der schwerindustriellen Anlagen neue Arbeitersiedlungen und ganze Städte wie beispielsweise Tychy in Oberschlesien entstanden, herrschte weiterhin ein großer Mangel an Wohnraum. Folgerichtig behielten die „neuen“ Arbeiter weiterhin ihre kleinbäuerlichen Betriebe auf dem Land und pendelten täglich oder im wöchentlichen Rhythmus in die Städte. In ihrem Alltag verband sich die Industriearbeit mit einem kleinbäuerlich ländlichen Lebensmuster. Das Einkommen erwirtschaftete man im städtischen Umfeld der Großindustrie, während sich die Ausgaben an den Bedürfnissen des ländlichen Wohnortes orientierten. Dieser innerpolnische Pendelverkehr zwischen Land und Stadt erweiterte sich mit der Lockerung der Grenzkontrollen ab 1990 auf die internationale Ebene. Man pendelte jetzt zu den wirtschaftlich stärkeren Ländern Westeuropas, arbeitete dort legal oder illegal und investierte die Gelder in den ländlichen Herkunftsregionen Polens.

wiesen. Ein bedeutender Anteil von Handlungen, die sich früher auf das Lokale beschränkten, spielen sich heute in einer Dimension ab, die ich als subregional bezeichne, da sie benachbarte Städte und Landkreise umfasst. 2

JaĨwiĔska/Okólski 2001; Grabowska-LusiĔska/Okólski 2009: 40ff.

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Man kann den Prozess als räumliche Verschiebung des Arbeitsortes bei gleichzeitiger Beibehaltung der bewährten Verhaltensmuster interpretieren. Nachdem die westeuropäischen Staaten die Visumpflicht für polnische Reisende aufgehoben hatten, war es diesen möglich, sich bis zu drei Monate legal als Tourist in den entsprechenden Ländern aufzuhalten. Diese neuen Reisemöglichkeiten wurden weniger für touristische Exkursionen als für illegale Beschäftigungen und informellen Kleinhandel genutzt. Darüber hinaus vereinbarte Polen mit einigen europäischen Ländern Abkommen über die Entsendung von Saisonarbeitern für ausgewählte Arbeitsfelder. Zunächst erhielten jedes Jahr ca. 300.000 Polen eine dreimonatige Arbeitsgenehmigung für Deutschland.3 Überwiegend handelt es sich um Erntetätigkeiten in der Landwirtschaft sowie um Saisonarbeiten in der Gastronomie. In der „unvollständigen Migration“ gelingt es den Individuen, die Mobilität der Migranten mit der Immobilität von Sesshaften zu verknüpfen. Migration bedeutet in diesem Fall die befristete Abwesenheit vom polnischen Wohnort, der weiterhin für den Migranten und seine Familie den Lebensmittelpunkt bildet. Die Mobilität wird nicht als Migration im Sinne einer Verlagerung des Lebensmittelpunktes wahrgenommen, sondern als Arbeitspendeln erlebt. Von der räumlichen Veränderung erhoffen sich die Akteure eine soziale und berufliche Entwicklung, die sie als Modernisierung bezeichnen, ohne deren Inhalte näher zu definieren. Implizit drückt sich in dem Begriff die Vorstellung einer schnellen Steigerung des Lebensstandards aus. Die „unvollständige Migration“ bildet den Versuch, den negativen Folgen der Transformation individuell aktiv entgegenzuwirken, anstatt die schwierigen Zeiten passiv hinzunehmen. Arbeitsmigration wird in ihren unterschiedlichen Facetten mit verschiedenen theoretischen Ansätzen beschrieben. Erwähnt sei hier nur das Konzept des dualen Arbeitsmarktes4, die neue ökonomischen Theorie der Arbeitsmigration5 oder das soziale Migrationskapital und Migrationsnetzwer-

3

„Im Jahr 2000 waren in Deutschland 263.000, in der Schweiz 49.300, in Italien 24.500, in Spanien 21.000, in Schweden 19.400, in Großbritannien 10.100 und in Frankreich 7.900 osteuropäische Saisonarbeiter beschäftigt.“ (OECD 2003, Trends in International Migration, zit. n. Han 2005: 89.)

4

Berger/Piore 1980.

5

Stark 1991.

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ke6. Zweifelsohne verbirgt sich hinter jedem dieser Ansätze ein bedeutendes Erklärungspotenzial für Migrationsphänomene, jedoch bin ich der Ansicht, dass sie die empirische Situation der aktuellen polnischen Migration nur eingeschränkt beschreiben. In der polnischen Migrationsforschung wurde daher das Konzept der „unvollständigen Migration“ entwickelt. Die zentralen Aspekte lassen sich in folgenden Thesen zusammenfassen:7 •



Den wichtigsten Bezugspunkt für den Migranten bilden Familie, Nachbarschaft und die lokale Gesellschaft seines Herkunftsortes. Er arbeitet zwar „dort“, im Ausland, sein Lebensmittelpunkt bleibt aber „hier“, in Polen. Er bemüht sich, die „Transferkosten“ und die Aufenthaltskosten „dort“ auf das absolute Minimum zu reduzieren. Um das zu erreichen, reduziert er seine Bedürfnisse hinsichtlich Verpflegung und Unterbringung. Für seine Fahrten nutzt er das Angebot lokaler Transportunternehmer, die sich mit Kleinbussen auf internationale Verbindungen spezialisiert haben. Der Migrant versucht, alle Einkünfte in seinen polnischen Heimatort zu überführen. Diese investiert er vor allem in die Renovierung von Wohnraum oder den Erwerb von Immobilien, in die Ausbildung der Kinder sowie die allgemeine Steigerung seines Lebensstandards. Die Praxis der „unvollständigen Migration“ basiert auf einer historischen Tradierung kulturell verankerter Muster der Migration. Ihr Ausgangspunkt liegt in der Binnenmigration im Zusammenhang mit der Urbanisierung und Industrialisierung des Landes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Rahmen dieser sozialistischen Modernisierung entstand der so genannte „Bauernarbeiter“ (poln. cháoporobotnik) als eine stabile gesellschaftliche Kategorie. Während er in der Stadt eine einfache Unterkunft im so genannten „Arbeiterhotel“ fand, blieben seine Lebensziele mit der dörflichen oder kleinstädtischen Herkunftsgesellschaft verbunden.

Eine generelle Einschätzung der „unvollständigen Migration“ fällt schwer, da sich positive und negative Faktoren mischen. Einerseits wird betont, dass sich auf diesem Weg eine Gesellschaft des „demografischen Über-

6

Espana/Massey 1987.

7

JaĨwiĔska/Okólski 2001; Grabowska-LusiĔska/Okólski 2009: 40ff.

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schusses“ und der „überflüssigen Arbeitskraft“ entledigt.8 Unterschätzen sollte man aber andererseits auch nicht das Modernisierungspotenzial, indem neue Lebensformen und kulturelle Muster adaptiert werden. Die „unvollständige Migration“ wird in der Regel von der erweiterten Familie unterstützt, da nicht nur der Migrant, sondern auch seine Angehörigen davon profitieren. Es handelt sich also um eine gemeinsame Unternehmung der Haushaltsgemeinschaft mit dem Ziel, die Verdienstmöglichkeiten zu diversifizieren und ökonomische Risiken zu reduzieren. Diese Migrationsstrategie auf der Basis einer familiären Entscheidung kann zu einer Stärkung der Bindungen innerhalb der Kleingruppe führen. Mit ihr geht aber auch eine amorphe Lebenslage einher, die aus dem Bewusstsein der Vorläufigkeit resultiert. Aus der regelmäßigen Abwesenheit sowohl im „hier“ als auch im „dort“ resultiert ein Mangel an sozialen Bindungen in den lokalen polnischen Gesellschaften und in den Migrationsorten. Damit schließt sich der Migrant oftmals über Jahre aus dem öffentlichen Leben aus, und längerfristig droht ihm die soziale Marginalisierung an beiden Standorten. In vielen Fällen ist seine wirtschaftliche Lage unsicher, da nahezu alle Arbeitsangebote in prekären Bereichen des Niedriglohnes zu finden sind, wenn es sich nicht sogar um informelle Tätigkeiten handelt. Fokussiert man die Ursachen der „unvollständigen Migration“, so kann sie auch als Reaktion auf die Modernisierungserwartungen interpretiert werden. Dann erscheint die „unvollständige Migration“ als Antwort derjenigen Akteure, deren Hoffnungen nach Eintritt der Transformation von 1990 auf eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation enttäuscht wurden. Auf die wachsende Komplexität gesellschaftlichen Lebens antworten sie mit einer funktionalen Diversifizierung des sozialen Raumes.9 Da im Anschluss an die Transformation der polnischen Gesellschaft seit 1990 die Hoffnungen auf eine schnelle Steigerung des Lebensstandards nur für Teile der Gesellschaft in Erfüllung gingen, öffnete sich in der „unvollständigen Migration“ ein Weg zur wirtschaftlichen Stabilisierung. Gleichzeitig muss diese Strategie als Ausdruck einer pessimistischen Beurteilung des ökonomischen Wandels durch breite Bevölkerungsschichten gesehen werden, der mit dem Transformationsoptimismus des Establishments kontrastiert.

8

Martin/Taylor 1996: 43ff. Es handelt sich um den „migration hump“.

9

Lepisus 1990: 211ff.

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Während zwischen 1990 und 2003 Migrationen überwiegend temporären Charakter hatten, vollzog sich mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union 2004 eine Zäsur in den Migrationsbewegungen. Aufgrund der damit verbundenen Öffnung von Arbeitsmärkten, vor allem in Großbritannien und Irland, entstand ein neuer Migrationstypus. In einem bis dahin unbekannten Maße machten sich nun junge Menschen auf den Weg nach Westen, die häufig ohne jegliche Erfahrungen auf dem polnischen Arbeitsmarkt waren.10 Vieles deutet darauf hin, dass damit in Polen eine Schleuse geöffnet wurde, durch die unzufriedene Personen dauerhaft ins Ausland gehen. Vermutlich ergänzt und erweitert die außerordentlich starke Zunahme der polnischen Migrationen seit dem Beitritt Polens zur EU 2004 nach Großbritannien und Irland die alten Migrationsmuster nur, ohne sie jedoch grundsätzlich zu ändern. Gleichwohl die rechtlichen Rahmenbedingungen für eine dauerhafte Migration geschaffen wurden, sind wir tatsächlich mit der Kontinuität einer befristeten Migration konfrontiert. Eine Veränderung setzte lediglich insoweit ein, als die Dauer der einzelnen Arbeitsaufenthalte ausgedehnt und mehrmals im Jahr befristete Arbeiten aufgenommen wurden. Nicht allein die begrenzte Rationalität wirtschaftlicher Überlegungen spielt eine Rolle bei der Entscheidung zur temporären Migration. Vielmehr wird auch der emotionale Aufwand bedacht, so wie auch soziale Kontakte einen Faktor in den Überlegungen darstellen. Zudem nimmt Mobilität in regionalen Gesellschaften unter Umständen habituellen Charakter an und kann sich zu einer Kultur der Migration verdichten. Räumliche Mobilität hat in dem Fall Gewohnheitscharakter. Seit mehreren Generationen greift man fast automatisch zur Migration als der bewährten Methode der Lösung wirtschaftlicher Probleme. Ein Beleg dafür scheint die lange Geschichte der polnischen Arbeitsmigration nach Westen zu liefern, auch wenn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dieser Migrationsfluss unterbrochen war. Im Falle von saisonalen Wanderungen nach Deutschland haben wir es mit einer mehr als hundertjährigen Tradition zu tun.11 Zwar gab es nicht immer legale Reisemöglichkeiten, doch selbst in Zeiten des real existierenden Sozialismus bestanden eingeschränkte Reisemöglichkeiten in westeuropäische Staaten.12

10 Grabowska-LusiĔska/Okólski 2009: 85-90. 11 Bade. 2002; Han 2005: 87. 12 Vgl. Stola 2010.

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D IE A MBIVALENZ

ZWISCHEN M ODERNITÄT UND RESTRIKTIVEM A RBEITSMARKT

Seit dem Ende der Volksrepublik ist die polnische Gesellschaft von einem tiefgreifenden Wandel ergriffen. Die Transformation der Gesellschaft betrifft alle Bereiche des politischen und ökonomischen Lebens. Ihren sichtbaren Ausdruck finden die Veränderungen in einer Verbesserung der Lebensqualität, Erneuerung der Infrastruktur und einer Steigerung des materiellen Wohlstands. Während der gesellschaftliche Wandel Hoffnungen auf eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung geweckt hat, besteht für einen Teil der Bevölkerung nur ein eingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt. Obwohl die Arbeitslosigkeit im landesweiten Durchschnitt seit zehn Jahren kontinuierlich gesunken ist, gibt es weiterhin – mit regionalen Schwerpunkten im ländlichen und altindustrialisierten Raum – eine relativ hohe Zahl von Arbeitslosen. Eine Stellenvermittlung erfolgt nur in Ausnahmefällen über die Arbeitsämter. Arbeitslose melden sich dort i.d.R. lediglich, um ihren Anspruch auf Krankenversicherung zu wahren. Zudem ist der Zugang zum Arbeitsmarkt durch Korruption, Nepotismus und Klientelismus eingeschränkt. Bewerber sind davon überzeugt, dass gut bezahlte Stellen in öffentlichen Einrichtungen ebenso wie bei privaten Firmen weitestgehend über familiäre Kontakte und Bekanntschaften vergeben werden. „Hier bei uns auf dem Lande entscheiden weiterhin Beziehungen. Vielleicht ist es in Großstädten anders, aber in kleineren Orten kann man ohne Bekanntschaften kaum etwas erreichen“, berichtete eine Interviewpartnerin.13 Die polnische Migrationsforschung sieht in dem gespaltenen Arbeitsmarkt mit seinen soziokulturellen Implikationen ein Schlüsselelement des lokalen sozialen Raumes und einen Hauptverursacher für die Arbeitsmigration. Angesichts festgefügter sozialer Netzwerke aus verwandtschaftlichen Strukturen ist der Spielraum für Außenstehende begrenzt. Unternehmer begründen die Bevorzugung von Verwandten und Bekannten bei Neueinstellungen mit dem notwendigen Vertrauen in die Arbeitsleistung und Loyalität der Bewerber. Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt verlieren Ausbildungen und Hochschulabschlüsse an Bedeutung, zumal ein Teil der Hochschulabschlüsse geradezu inflationär über Fernstudien vergeben wird. Si-

13 Die Interviews wurden im Rahmen der Feldforschung in einer Stadt in Nordostpolen durchgeführt.

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cherlich gibt es auch einen offenen Arbeitsmarkt, der vor allem im städtischen Umfeld zum Tragen kommt.14 Allerdings sind Arbeitsplätze, die nicht dem reglementierten Zugang über informelle Strukturen unterliegen, gewöhnlich in „schlechteren“ Marktsegmenten angesiedelt, und die Tätigkeiten werden als „unbefriedigend“ eingestuft.15 In den meisten Fällen geht es dabei um eine mäßig bezahlte körperliche Arbeit oder um Stellen, die mit zusätzlichen physischen oder psychischen Belastungen verbunden sind wie beispielsweise Handelsvertreter oder Lkw-Fahrer. In Anbetracht des weitgehend abgeschotteten innerpolnischen Arbeitsmarktes stehen Bewerbern drei Handlungswege offen, wobei sich die Anpassungsstrategien je nach äußeren Bedingungen und Kompetenzen der betroffenen Person gestalten: •





Akzeptanz und Anpassung an die informellen Regeln des Arbeitsmarktes. Wer über die entsprechenden Beziehungen und familiären Verbindungen verfügt, hat damit gute Chancen. Gleichwohl die Beziehungen den Weg ebnen, müssen Bewerber die geforderte Qualifikation vorweisen. Die Strategie der Akzeptanz richtet sich nach der sozialen Stellung der Familien und vorhandener Netzwerke. Deklassierung der beruflichen Qualifikation und Orientierung in der informellen Ökonomie bzw. im Niedriglohnsektor. Wer keinen zufriedenstellenden Arbeitsplatz findet, dem bieten sich in der Schattenwirtschaft alternative Lösungswege an. Die Arbeitsbedingungen sind sehr schlecht und ermöglichen meist nur eine prekäre Existenzsicherung. Die Deklassierung bietet die geringsten Entwicklungsmöglichkeiten und stellt für die betroffene Person eine ernste Belastung dar. Migration kann als dritte Strategie verstanden werden, um bei blockiertem Zugang zum polnischen Arbeitsmarkt dennoch eine schnelle Steigerung des Lebensstandards zu erreichen. In den westeuropäischen Staaten finden die Migranten Arbeitsplätze, die ihnen in Relation zu

14 Ein Beispiel war die von uns untersuchte Stadt mit 60.000 Einwohnern in der Woiwodschaft Ermland-Masuren. 15 Die „befriedigende Arbeit“ wird unterschiedlich definiert. Es geht aber meistens um eine feste, nicht zeitlich befristete Stelle, am liebsten im öffentlichen Sektor. Die Höhe des Verdienstes spielt dabei keine entscheidende Rolle.

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den polnischen Verdienstmöglichkeiten deutlich bessere Einkommen ermöglichen. Migranten beteiligen sich nicht an dem Wettbewerb um Arbeitsplätze auf dem polnischen Arbeitsmarkt. Indem sie nach anderen Entwicklungsmöglichkeiten suchen, stellen sie die informellen Regeln des Arbeitsmarktes infrage. Mit der Migration hoffen sie sich Ressourcen zu erschließen, um in Zukunft ihre Stellung auf dem polnischen Arbeitsmarkt verbessern zu können. Zusammen mit den Deklassierten haben die Migranten die höchsten psychischen Kosten für ihre Suche nach Steigerung des Lebensstandards zu tragen. Migranten stehen in einem ausgeprägt ambivalenten Verhältnis zu dem lokalen sozialen Raum ihrer polnischen Heimat. Einerseits erfahren sie die engen Grenzen und Zugangsbeschränkungen zum Arbeitsmarkt und erleben andererseits die Herkunftsregion als emotional positiv besetzten Raum. Zahlreiche Emigranten empfinden starke emotionale Bindungen an ihre Heimat, die sie mit Familie, dem Zuhause und Freunden assoziieren. Ältere Personen können sich häufig ein Leben weit weg von der Heimat kaum vorstellen und erleben Arbeitsmigration als belastende Notwendigkeit. Erweitern wir etwas die Perspektive, so muss man davon ausgehen, dass sich die temporäre Arbeitsmigration im Kontext der sozialen und kulturellen Bedingungen entwickelt. Es ist nämlich keineswegs so, dass die Arbeitsmigration ausschließlich als reaktive Strategie anzusehen ist, mit der sich Individuen einen wirtschaftlichen Weg eröffnen. Sichtbar wird dieser Aspekt am Beispiel emigrierender Frauen. Der Arbeitseinsatz bietet ihnen nicht nur eine attraktive Verdienstmöglichkeit, sondern verschafft ihnen auch eine gewisse Distanz gegenüber ihrer traditionellen Rolle als Ehefrau und Mutter in der eigenen Familie. Sicherlich treffen wir hier auf keine spektakulären Emanzipationserscheinungen, zudem der Prozess auch in sich widersprüchlich ist. Es handelt sich eher um eine Entwicklung, in dessen Rahmen Handlungsräume gegenüber einer traditionellen Rollenverteilung größer werden. Das Modernisierungspotenzial der Arbeitsmigrationen kann dahingehend verstanden werden, dass kulturelle und soziale Veränderungsprozesse angestoßen werden. Viele von ihnen verbergen sich im veränderten Rollenverständnis von Mann und Frau und im neuen Verhältnis zwischen den Generationen. Temporäre Migration stellt eine Pause im beruflichen und alltäglichen Leben dar. In dieser Perspektive fördert sie die

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Distanz gegenüber der tradierten Kultur und sozialen Normen und Werten. Durch die temporäre Migration wird der Lauf der eigenen Biografie zeitweise „suspendiert“. Die Wahrnehmung dieser Unterbrechung im Lebenslauf reicht von einem Aussetzen der gesellschaftlichen Kontrolle bis hin zu einer verstärkten Beobachtung der Ereignisse in der Heimat, ohne dass sich die Gegensätze ausschließen müssen. Eine kulturelle Veränderung wird unter Umständen auch durch die spezifische Form der Verwendung des Verdienstes aus der Arbeitsmigration eingeleitet. In der überwiegenden Zahl der Fälle wird der Verdienst zweckgebunden für konkrete Investitionen wie eine Wohnungsrenovierung oder den Kauf bzw. die Reparatur eines Wagens verwendet. Der durch Wanderarbeit erzielte Verdienst stellt also im Prinzip etwas Besonderes dar und wird für eine größere Anschaffung angespart. Man kann das als eine zeitlich verschobene Belohnung für die Mühen der Arbeitsmigration interpretieren. Indirekt können dadurch Sparsamkeit und planmäßiges Vorgehen als kulturelle Werte gefördert werden.

Wanderarbeit zwischen Ideologie und Alltag

brauchbar sind die Mobilen/die Beweglichen/zum Beispiel/wenn’s mal keine Arbeit gibt/bei Krupp in Essen/nun/wird eben umgeschult/oder besser noch/dann zieht man dahin wo’s Arbeit gibt/nach München oder Hamburg/und vielleicht sogar/nach Rio oder Kapstadt/fremde Länder/Abenteuer/weg von Mutterns Ofen/ja der Arbeiter 2000/der wird wieder ein Nomade sein/ mit Sack und Pack und Campingwagen/ zieht er durch die Welt/ein freier Mann/für eine gute Arbeit zieht er meilenweit F.J. DEGENHARDT: ARBEITSLOSIGKEIT

Am Ende unserer Darstellung der Forschung soll der Versuch einer kritischen Reflexion der Ergebnisse unternommen werden. Da es sich hierbei nicht um „objektive“ Wahrheiten handeln kann, sondern Fakten immer erst in der Interpretation ihre Bedeutung gewinnen, werden an einigen Stellen auch offene Diskussionen aufgezeigt. Aus diesem Grund folgen zunächst zwei Anmerkungen zu dem Ansatz einer „unvollständigen Migration“, wie er in der polnischen Migrationsforschung entwickelt wurde. Zum einen handelt es sich um die Frage, ob die temporäre Migration eine spezifische Ursache in der polnischen Gesellschaft während der Volksrepublik hat, und

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zweitens um den Einfluss eines geschlossenen Arbeitsmarktes. Wie im Kapitel „Lokale Gesellschaften und ‚unvollständige Migration‘“ dargelegt, wird die temporäre Arbeitsmigration mit der historischen polnischen Erfahrung des Pendelns zwischen Land und Stadt erklärt. Der Ansatz einer „unvollständigen Migration“ grenzt sich mit einem historischen Element von dem in der Migrationsforschung verbreiteten Begriff der „Pendelmigration“ ab.1 Sicherlich handelt es sich bei der „Pendelmigration“ um eine „unvollständige Migration“, da die Umsiedlung oder Auswanderung in ein anderes Land vermieden wird. Dabei sprechen einige Argumente dagegen, in der historischen polnischen Erfahrung eine spezifische Erklärung für die temporäre Migration zu sehen. Erstens entstand diese Migrationsform nicht erst infolge der industriellen Modernisierung Polens seit den 1950er Jahren. Vielmehr erreichte die Wanderarbeit polnischer Saisonarbeiter in das Deutsche Reich schon vor 1914 einen vergleichbar großen Umfang wie seit 1990.2 Zweitens handelt es sich bei der „Pendelmigration“ nicht um ein spezifisch polnisches Phänomen. Den regelmäßigen Wechsel zwischen Heimatland und Arbeitsland findet man bei philippinischen Arbeiterinnen ebenso wie bei Lateinamerikanerinnen, die in Nordamerika oder Europa als Haushaltshilfen arbeiten.3 Drittens muss auf die weite Verbreitung der Wanderarbeit in der europäischen Geschichte verwiesen werden. Dazu gehören die aus Norddeutschland stammenden „Hollandgänger“ ebenso wie die „Schwabenkinder“, die aus den Alpenregionen nach Süddeutschland zur Arbeit gingen oder letztlich auch die bis ins Mittelalter zurückreichende Wanderarbeit von Einwohnern aus den Dörfern der Pyrenäen.4 Unklar bleibt in der Argumentation auch, warum

1

Andere Begriffe für das Phänomen sind „rotierende“ oder „zirkuläre Migration“ (Cyrus 2008: 175). Auch der von Grabowska-LusiĔska und Okólski (2009) benutzte Begriff eines „Lebens auf der Schaukel“ stellt eine treffende Beschreibung des Alltags der Wanderarbeiter dar.

2

Bade 2002: 158. Dabei handelte es sich um preußische Staatsbürger mit polnischer Sprache, die aber aus den ab 1918 wieder zum polnischen Staatsgebiet gehörenden Regionen kamen. Im Deutschen Reich wurden sie statistisch als Polen erfasst.

3

Rerrich 2006, 2007.

4

Brugger/Zimmermann 2013: 72ff.; LeRoy Ladurie/Emmanuel 1983: 75, 119, 153.

W ANDERARBEIT

ZWISCHEN I DEOLOGIE UND

ALLTAG

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die Theorie der „Pendelmigration“ nicht stärker auf die Erfahrung des in Polen häufig anzutreffenden informellen Kleinhandels seit den 1970er Jahren zurückgreift.5 Die Einwände deuten auf die Notwendigkeit, eine umfassendere Interpretation des Phänomens der Wanderarbeit zu entwickeln. Wir werden darauf zurückkommen. Jedoch soll vorher noch auf ein zweites auf Polen bezogenes Argument der Migrationsforschung eingegangen werden. Kritisiert wird in Polen, dass der Zugang zum polnischen Arbeitsmarkt auf der Basis persönlicher Beziehungen erfolgt. In dieser Form von Nepotismus wird der Zugang zu qualifizierten und gut bezahlten Arbeitsplätzen erst in zweiter Linie aufgrund der Qualifikation geregelt. Entscheidend ist vielmehr die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk aufgrund von Verwandtschaft oder Bekanntschaft. Bewerber, die nur auf ihre fachliche Eignung verweisen können, haben in diesem System kaum eine Chance. Da ihnen im Heimatland neben minderqualifizierten Tätigkeiten nur die Migration einen Ausweg bietet, wird in diesem Faktor ein bestimmendes Element der Arbeitsmigration in all ihren Formen gesehen. Erweitern wir aber einmal die Perspektive und vergleichen den Sachverhalt mit anderen Staaten, so verliert das Argument an Überzeugungskraft. Beschrieben wird in dieser Interpretation letztlich die soziale Homogenität der inhaltlich und ökonomisch höherwertigen Sektoren des Arbeitsmarktes. Dabei handelt es sich aber nicht um ein typisch polnisches Problem. Werfen wir einen Blick auf begehrte Arbeitsplätze in Deutschland, so zeigt sich hier eine vergleichbar hohe Zugangsbarriere. In der deutschen Wirtschaftselite stellt der „klassenspezifische Habitus“ das entscheidende Kriterium für den Zugang zur Elite dar.6 Die Qualifikation wird in den oberen Schichten der Gesellschaft bei Bewerbern vorausgesetzt, eröffnet aber sozialen Aufsteigern keine gleichberechtigten Chancen. Für Frankreich gehört die dementsprechende Analyse der „feinen Unterschiede“ mittlerweile schon zu den Klassikern der Sozialwissenschaft.7 Eine entscheidende Analyse der sozialen Abgrenzung von Eliten und der Errichtung von beruflichen Zugangshürden liegt von Michael Hartmann vor. Hartmann beschreibt für Deutschland die seit Jahrzehnten andauernde schichtgebundene Rekrutierung des Nachwuchses der Eliten von Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Dabei entsteht eine

5

Weber 2002: 57ff.

6

Wehler 2013: 89.

7

Bourdieu 1982, 2004.

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zunehmende soziale Abschottung bestimmter Teile des Arbeitsmarktes.8 Die soziale Auslese erfolgt nicht nur indirekt über den Zugang zur erweiterten Bildung, sondern durch eine qualifikationsunabhängige soziale Selektion.9 Wer als Studienabgänger aus Familien stammt, die Zugang zur Elite haben, dem öffnen sich die Tore für eine berufliche Karriere. Entscheidend ist der passende Habitus eines Bewerbers, mit der er die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht signalisiert. „Die Annahme stabiler individueller Nutzenfunktionen, auf deren Basis die Individuen frei entscheiden können, wo und wie viel sie arbeiten (und in der Folge verdienen), ist realitätsfern.“10 Vergleichbare Strukturen sind auch in der Europäischen Union anzutreffen. Während auf der normativen Ebene die Rekrutierung der Eliten aufgrund von fachlicher Qualifizierung erfolgen soll, reguliert tatsächlich eine verborgene soziale Exklusivität den Zugang zum Machtbereich der Union.11 Wir können also festhalten, dass es sich beim sozialen Schließungsprozess auf dem Arbeitsmarkt um eine in vielen Ländern anzutreffende Praxis handelt, die nicht auf Eliten beschränkt ist.12 Worin liegt aber dann das Besondere der polnischen Situation auf dem Arbeitsmarkt? Eine Erklärung bietet die gesellschaftliche Entwicklung in Polen seit den 1980er Jahren. Die gesellschaftliche Transformation in Polen wurde von der SolidarnoĞü-Bewegung vorbereitet und eingeleitet. Formal handelte es sich zwar um eine Gewerkschaft, doch muss man die SolidarnoĞü bis zum Ende der Volksrepublik als Volksbewegung verstehen.13 1981 war sie mit zehn Millionen Mitgliedern zu einer Massenbewegung geworden.14 Ihre Motivation bezog die Bewegung aus der schlechten Versorgungslage mit Konsumgütern bei gleichzeitiger sozialer Schließung gesellschaftlicher Sektoren durch

8

Hartmann 2002: 35.

9

Ebd. 70f.

10 Haller 2011: 11. 11 Haller 2009: 73ff. 12 Becker (2010: 145) weist für Deutschland ausdrücklich darauf hin, dass auch „im Bereich der un- und angelernten Arbeitskräfte […] viele Betriebe den internen Suchweg über die Bekannten- und Verwandtschaftsnetzwerke der Beschäftigten intensiv nutzen.“ 13 Holzer 2007: 85f. 14 Trutkowski 2007: 8.

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die herrschenden Eliten, denen eine bevorzugte Versorgung sowie Klientelismus vorgeworfen wurden.15 In ihrer Kritik entfernte sich die SolidarnoĞü allerdings nicht von einer sozialistischen Perspektive. Vielmehr einte die Bewegung eine Verbindung christlicher und sozialistischer Motive mit dem Ziel einer Gleichberechtigung aller Mitglieder der Gesellschaft.16 Getragen wurde die Bewegung von dem Gedanken, die gesellschaftlichen Ressourcen nach dem Ende der Volksrepublik entsprechend der Leistungsfähigkeit der Individuen zu verteilen. Tatsächlich verlief die Entwicklung jedoch in eine andere Richtung. In Folge der Transformation wurden Wirtschaft und Arbeitsmarkt liberalisiert, und es kam zu einer Intensivierung des Wettbewerbs.17 So entstand eine gespaltene Gesellschaft mit einem extremen Gefälle zwischen ökonomisch entwickelten und deprivierten sozialen Gruppen bei gleichzeitig starker regionaler Differenzierung. Einen Hinweis auf die Tragweite dieses Prozesses liefert der Gini-Koeffizient.18 Vor Beginn der Transformation lag der Gini-Koeffizient in Polen zwischen 0,207 und 0,242, bis 1995 stieg er auf 0,288.19 Zwischen 1997 und 2003 stieg die Ungleichverteilung noch einmal deutlich an und erreichte den Wert von 0,347.20 Demnach steht die soziale Schließung auf dem Arbeitsmarkt mit einem Prozess der steigenden gesellschaftlichen Ungleichheit zusammen, dessen Dramatik durch die enttäuschten Erwartungen des Transformationsprozesses der 1990er Jahre verstärkt wird.

15 Ebd. 24. 16 Ellis 2005: 15; Tischner 1982: 26ff., 73ff., 151. 17 Baranowksa 2011: 247. 18 Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß, mit dem die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen dargestellt wird. Der Gini-Koeffizient bewegt sich immer zwischen null und eins. Null bedeutet eine vollkommen ausgeglichene und eins eine vollkommen ungleiche Verteilung. Ein Gini-Koeffizient von eins würde bedeuten, dass in einem Land X eine einzige Person über das gesamte Vermögen verfügt. 19 Baranowska 2011: 250. 20 Haller 2011: 9. Damit lag der Wert in Polen höher als in der Mehrzahl der mittelosteuropäischen Staaten.

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V OM „ CARE CHAIN “

ZUM TRANSNATIONALEN

R AUM ?

Spontan antwortete Zuzanna Jalowy auf meine Frage, wie sie zur Arbeitsmigration kam: „Weil ich Glück hatte!“ Meine auf technisch-formale Abläufe zielende Frage beantwortete sie mit dem Enthusiasmus einer erfolgreichen Wanderarbeiterin. Die kurze Szene zu Beginn unseres Interviews verdeutlicht einen wichtigen Antrieb der Arbeitsmigration: Intendiert ist eine Anhebung des Lebensstandards. Nicht alle können ihre Ziele im erhofften Umfang realisieren, aber auch ein nur relativer finanzieller Erfolg lässt Wanderarbeiter Arbeitsbedingungen ertragen, wie sie im Kapitel „Erntehelfer in der Tradition der ‚Sachsengänger‘“ geschildert wurden. Entlang des Armutsgefälles haben sich in ostwestlicher Richtung seit 20 Jahren Wanderungsbewegungen entwickelt. Diese Wanderung aus östlichen Staaten nach Westen wird in der Migrationsforschung unter dem Begriff des „care chain“ beschrieben. In solch einer Kette von Pflegearbeitern überlässt die Ukrainerin ihre Kinder der Obhut von Großeltern, um in Polen als Kindermädchen, Putzfrau oder private Altenpflegerin zu arbeiten, während ihre polnische Arbeitgeberin in Deutschland ähnliche Beschäftigungen ausübt. Jedoch schränkt der Begriff des „care chain“ die Perspektive zu sehr auf den pflegerischen Bereich ein. Tatsächlich betreffen diese Ketten der Übernahme von unterschiedlichen Arbeitsbereichen durch billige Arbeitskräfte aus den jeweils östlich gelegenen Staaten viel mehr Tätigkeiten. Schon wenige Jahre nach dem Ende der Volksrepublik griffen polnische Landwirte auf die preiswertere Arbeitskraft ukrainischer Migranten zurück, während Mitglieder derselben polnischen Familien in Deutschland arbeiteten.21 Seit einigen Jahren hat sich zudem ein medizinischer Tourismus von Deutschland nach Polen und Tschechien entwickelt. Deutsche Patienten nutzen die preiswerten Leistungen polnischer Zahnärzte und fahren zur Behandlung ins Nachbarland. Gleichzeitig wanderte in den letzten Jahren eine umfangreiche Zahl von Ärzten nach Deutschland aus. In Niederschlesien konnte ich beobachten, dass russische Zahnärzte ihre Dienstleistungen in privaten

21 Mitte der 1990er Jahre beobachtete der Verfasser in Masuren, wie polnische Landwirte mit ukrainischer Abstammung ihre verwandtschaftlichen Kontakte in die Ukraine entsprechend nutzten. In einem Beispiel arbeitete ein Arzt, der in der Ukraine einen festen Arbeitsplatz in einem Krankenhaus hatte, während der Sommermonate auf dem Hof eines polnisch-ukrainischen Landwirtes.

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Wohnungen anbieten oder die Patienten zu Hause besuchen. Ein großer Bereich dieser Arbeitsmigration findet im informellen Bereich statt. Die informellen Strukturen bilden einen zentralen Gesichtspunkt der Wanderarbeit. Sichtbar wird er nicht nur in Form der „Schwarzarbeit“, sondern auch bei der Vermittlung von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft und bei Konfliktfällen zwischen Saisonarbeiter und Landwirt. Wie weiter oben dargelegt erfolgt die Anwerbung von Erntehelfern abseits der offiziellen Arbeitsverwaltungen durch informelle polnische Vermittler.22 Diese Vermittler nehmen im sozialen Feld der Wanderarbeit eine starke Position ein, zumal sie oftmals nicht nur den Zugang zu einem Arbeitsplatz regeln, sondern in Deutschland auch die Aufgabe eines Vorarbeiters übernehmen.23 Aus der Informalität der Vermittlung von Arbeitsplätzen entstehen zwei Probleme. Erstens lässt sich nicht überprüfen, in welchem Umfang von den Arbeitern zusätzliche Gebühren erhoben werden.24 Eine finanzielle Entschädigung für die Vermittlung von Arbeitskräften wird vom jeweiligen Arbeitgeber vorgenommen. Zweitens stehen die betroffenen Arbeiter während ihres Arbeitsaufenthaltes in Deutschland in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Vorarbeiter und schweigen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Vonseiten der Landwirte besteht ebenfalls kein Interesse, das System zu gefährden, wie ein Landwirt erzählt:25

22 Informelle Vermittler sind die „Gatekeeper“ der Saisonarbeit. Sie bilden für einen Teil der Bevölkerung eine Hürde, die ihnen den Weg zur temporären Migration verschließt. Dieser Funktion liegt ein sich logisch erschließendes Interesse der Wanderarbeiter zugrunde. Durch das Einkommen aus der Migration steigen regional z.B. die Preise für Bauhandwerker. Damit wird die Wanderarbeit tendenziell entwertet. Migranten haben ein Interesse, diesen Prozess zu verlangsamen. Würde die Vermittlung über die staatliche Arbeitsverwaltung laufen und böte allen Interessenten die gleichen Vermittlungschancen, so käme es zu einem beschleunigten Prozess der Entwertung. Informelle Strukturen schützen die Privilegien der erfolgreichen Wanderarbeiter. 23 Bock und Polach 2010: 161ff.; Becker 2010: 142ff. 24 Bock und Polach 2010: 162. 25 Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das betrügerische kommerziellprivate Agentensystem der Vermittlung von Saisonarbeitskräften beklagt (Bade 2002: 226f.). Die Agenten ließen sich ihre Tätigkeit von den Arbeitgebern und

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Gerd Ernst: „Steh ich ja auch zu. Ich arbeite auch mit einem Vermittler zusammen. Natürlich werden die da abkassiert, aber da kann ich nichts daran tun. Ich muss sehen, dass ich meine Leute kriege. Ich weiß mittlerweile auch, was die bezahlen. So schlimm find ich das nun auch nicht, wie viel die da bezahlen müssen.“

Bedenkt man die Abhängigkeit der Arbeiter von den Vermittlern, so vernachlässigt der von Münst benutzte Begriff einer „Brückenperson“, die den Kontakt zu einem deutschen Arbeitgeber herstellt, die hierarchischen Implikationen.26 Eine einseitige Fixierung der Abhängigkeit auf die finanzielle Ausnutzung der Arbeitssuchenden verkennt allerdings die sozialen Abhängigkeiten. Man erkennt diese Abhängigkeiten nur, indem die berufliche und soziale Position der Vermittler im lokalen Kontext der polnischen Heimatgemeinden analysiert wird. Jenseits eines finanziellen Nutzens kann der Gewinn für einen Vermittler in einer zu erwartenden Loyalität der Wanderarbeiter liegen, die sich vielleicht bei Gemeinderatswahlen oder lokalen Konflikten auszahlt. Einen Hinweis auf diese Machtstrukturen gibt die Nennung persönlicher Beziehungen zu Bekannten, die den Arbeitsplatz in Deutschland vermittelt haben.27 Bei den hier aufgezeichneten Problemen handelt es sich nicht um Einzelfälle, wie die Darstellung von Bock und Polach suggeriert.28 Vielmehr handelt es sich hierbei um eine zentrale Struktur der Wanderarbeit, auf die im weiteren Verlauf dieses Kapitels noch einmal

den Arbeitern bezahlen, außerdem waren sie in Deutschland zugleich als Vorarbeiter tätig und behielten einen Teil des Arbeitslohns ein. 26 Münst 2010: 236. Im Übrigen zeigt sich an der Kontrollfunktion, dass die von dem Ansatz einer „unvollständigen Migration“ formulierte Zugangsbeschränkung über Netzwerke von Bekanntschaften auch für die Arbeitsmigration gilt. 27 Becker kommt bei der Befragung in einem Betrieb auf knapp 73 Prozent der Arbeiter, die den Kontakt über Freunde bzw. Bekannte in Polen erhalten haben (Becker 2010: 143). Im Jahr 2010 erfolgte nach Angaben der zuständigen staatlichen polnischen Arbeitsvermittlung (Hufca Prace w Jelenia Góra) aus 23 Gemeinden die Vermittlung von 58 Personen zur temporären Arbeit nach Westeuropa. Der in unserer Forschung festgesellte Umfang an Migrationen war um ein Vielfaches höher. 28 Bock und Polach 2010: 170.

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eingegangen wird.29 Vorher werde ich mich aber noch mit der Frage auseinandersetzen, ob wir die hier beschriebene Form der Wanderarbeit migrationstheoretisch mit dem Begriff „Transnationalität“ erfassen können. Mit dem Begriff „Transnationalität“ wird versucht, Verbindungen zu erfassen, die Migranten zwischen ihrem Herkunfts- und ihrem Migrationsland aufbauen. Sicherlich haben beispielsweise auch europäische Auswanderer nach Amerika schon vor 100 Jahren diese Verbindungen gehalten. Jedoch ermöglichen in den letzten Jahrzehnten die verbesserten Kommunikationsverbindungen eine quantitative Intensivierung, die an einem schwer zu definierenden Punkt auch zu einer qualitativen Veränderung in den Kontakten führt.30 „Der Transnationalismus wurde dabei als ein Prozess definiert, in dem die Immigranten soziale Felder (social fields) erschließen, die ihr Herkunftsland mit ihrem Aufnahmeland verbinden.“31 Unter sozialen Feldern sind in diesem Zusammenhang die Beziehungen auf den Ebenen von Verwandtschaft, Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion usw. zu verstehen.32 „Transnationalität“ umfasst also mehr als das Überschreiten einer staatlichen Grenze. Eine transnationale Lebensweise verbindet verschiedene räumliche und soziale Orte in unterschiedlichen Staaten.33 In dieser Migrationsform bewegen sich die Akteure in beiden Orten und konstruieren dabei einen neuen, nämlich die Grenze überschreitenden sozialen Raum.34 Unterschiedlich interpretiert wird aber, welchen Umfang und welche Intensität Kontakte haben müssen, damit man von „Transnationalität“ sprechen kann. Während ein enger Begriff von einer hohen Intensität und Dauerhaftigkeit der Beziehungen ausgeht, schließt eine weite Definition alle Erfahrungen grenzüberschreitenden Austausches von der Kommunikation bis zu Zusammengehörigkeitsgefühlen ein.35 „Dichte, Häufigkeit, eine gewisse

29 Cyrus (2009: 207f.) analysiert die Abhängigkeitsstrukturen der Wanderarbeiter, die mangels Alternativen an Arbeitsplätzen bereit sind, auch schlechte Arbeitsverhältnisse zu tolerieren. 30 Scherke 2011: 80; Zoll 2007: 95. 31 Han 2005: 70. 32 Ders. 2006: 151. 33 Karakayali 2010: 291. 34 Pries 2008: 51f. 35 Mau 2007: 39.

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Stabilität und Langlebigkeit“ sind Kennzeichen eines transnationalen sozialen Raumes.36 Im Alltag konkretisiert sich der transnationale soziale Raum, indem sich die Akteure in beiden Kulturen, der des Herkunfts- sowie der des Ankunftslandes, bewegen und sie zugleich zu einer neuen, nämlich der transnationalen Kultur verbinden. Der transnationale Migrant ist somit nicht mehr nur in einer, sondern in beiden Kulturen zu Hause.37 Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich in beiden Sprachen zu bewegen.38 Erst dann verfügen sie über die Möglichkeit zur sozialen Interaktion in beiden Gesellschaften. Eine Skizze dieses Ansatzes in der Migrationsforschung soll an dieser Stelle ausreichen. Versuchen wir also nun, den Ansatz mit den Ergebnissen unserer Forschung zur Lebenssituation der Wanderarbeiter zu vergleichen. Zwar bewegen sich die Wanderarbeiter regelmäßig zwischen Polen und Deutschland, jedoch stehen die beiden Welten unverbunden nebeneinander. Landwirtschaftliche Erntehelfer verfügen in der Regel nicht über deutsche Sprachkenntnisse und ihnen steht generell auch zu wenig freie Zeit zur Verfügung, um Kontakte aufzubauen. Selbst bei Putzfrauen und Pflegearbeiterinnen reduzieren sich auch nach jahrelangen regelmäßigen Arbeitsaufenthalten in Deutschland die sozialen Kontakte überwiegend auf das polnische Umfeld.39 Magda Welcz betreut seit mehreren Jahren regelmäßig eine Frau in Deutschland. Jeder Arbeitseinsatz dauert zwischen einem und maximal drei Monaten. Für sie ist das eine Zeit außerhalb ihres Alltags im Heimatort, während der sie von allen Aktivitäten ihrer Familie abgeschnitten ist. Es ist eine Zeit, in der sie auf ein soziales und kulturelles Leben verzichtet und sich nur auf ihre Arbeit mit dem Ziel des Geldverdienens konzentriert. Wanderarbeiter, so kann man diese Überlegungen zuspitzen, sind nur physisch in Deutschland anwesend, jedoch sozial sowie kulturell in Polen geblieben. Wenn ich davon ausgehe, dass zur transnationalen Lebensweise mehr als das physische Überschreiten einer Grenze gehört, dann werden Wanderarbeiter mit dem Ansatz der „Transnationalität“ nicht erfasst. Für Birgit Glorius zählen „als Element einer transnationalen Infrastruktur“ die Rücküberweisung der Gelder nach Polen und die Existenz von Mi-

36 Faist 2000: 10. 37 Zoll 2007: 67; Scherke 2011: 82. 38 Düvell 2006: 109. 39 Münst 2010: 257.

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grationsnetzwerken sowie privaten Vermittlern.40 Dies scheint mir zu wenig. Zwar bemerkt sie auch die Abschottung der Lebenswelt von Wanderarbeitern gegenüber der deutschen Gesellschaft, erklärt dies aber als Ergebnis der politisch motivierten rechtlichen Reglementierung des Arbeitsmarktes bis 2011. Die Beharrlichkeit des Phänomens nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes kann dagegen als Beleg für die strukturelle Bindung der Wanderarbeit in seiner heutigen Form gelesen werden.41 Polemisch zugespitzt ist man geneigt zu sagen, „Transnationalität“ reduziert sich für polnische Wanderarbeiter auf den Kauf von Konsumgütern in Deutschland.42 Wir sind fast am Ende unserer Beobachtungen und Interpretationen der polnisch-deutschen Wanderarbeit angekommen. Daher sollte jetzt der Versuch einer kritischen gesellschaftspolitischen Analyse des Phänomens unternommen werden. In welchen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen entsteht Wanderarbeit, und warum stützen die Akteure paradoxerweise dieses Phänomen?

W ANDERARBEIT ALS SOZIALE B EFRIEDUNG Wanderarbeit ist ein heterogenes Phänomen. Abhängig vom jeweiligen wirtschaftlichen Kontext eines Haushaltes erreichen manche Migranten eine deutliche Steigerung ihres Lebensstandards, während anderen Familien auch mit großer Anstrengung lediglich eine prekäre Sicherung möglich ist. Auch wenn wir die Perspektive erweitern und nach dem sozialen Hintergrund der Wanderarbeiter fragen, zeigen sich Differenzen. Das Spektrum

40 Glorius 2003: 38. 41 Im Jahre 2010 gingen 560.000 polnische Arbeitsmigranten nach Großbritannien und 455.000 nach Deutschland (Frelak 2012: 17). Damit war Deutschland zweitwichtigstes Migrationsziel. Nur fünf Prozent der temporären polnischen Migranten in Deutschland sind außerhalb der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt (ebd. 25). In beiden Bereichen handelt es sich zu fast 100 Prozent um befristete Arbeitsverträge. 42 Anzumerken ist noch, dass es selbstverständlich fließende Übergänge von der Wanderarbeit über die transnationale Lebensweise bis hin zur dauerhaften Emigration gibt. Dabei wechseln die Akteure jedoch in andere Arbeitsbereiche und Arbeitsformen und verlassen die in dieser Forschung untersuchten Arbeitsfelder.

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reicht von Personen ohne qualifizierte Ausbildung bis zu Akademikern und Facharbeitern, denen berufliche Perspektiven in Polen offen stehen. In einer Stichprobe verfügen über 40 Prozent der landwirtschaftlichen Erntehelfer über einen festen Arbeitsplatz in Polen und nutzen ihren verlängerten Urlaub für einen Nebenverdienst.43 Das von politischer Seite vorgebrachte Argument einer Reduzierung der Arbeitslosigkeit in Polen durch Wanderarbeit wird dadurch zwar nicht revidiert, jedoch relativiert. Auch wenn wir zwischen wirtschaftlich erfolgreichen und weniger erfolgreichen Wanderarbeitern differenzieren, so zeigt sich bezüglich der Kontinuität temporärer Migration ein Zusammenhang. Die wirtschaftlich Erfolgreichen gewöhnen sich an einen für polnische Verhältnisse höheren Lebensstandard, was es ihnen erschwert, einen in der Regel geringer entlohnten Arbeitsplatz in Polen anzunehmen. Wir müssen uns den Zusammenhang als schrittweise verlaufenden Prozess vorstellen, an dessen Ende eine dauerhafte Karriere als pendelnder Wanderarbeiter stehen kann.44 Am Anfang sind es meist konkrete überschaubare Ziele wie die Anschaffung eines Wagens, die Renovierung des Hauses u.Ä. Hat man diese Ziele realisiert, so entstehen am Horizont neue Wünsche. Den weniger Erfolgreichen hingegen gelingt kaum mehr als die wirtschaftliche Grundsicherung des Haushaltseinkommens. Oftmals bringt schon die winterliche Arbeitspause das Haushaltsbudget an die Grenze der Belastbarkeit. Für Heizmaterial und familiäre Feiern wie Kommunion, Hochzeit etc. oder bei einer ernsteren Erkrankung ist man gezwungen, einen Kleinkredit zu Wucherzinsen aufzunehmen. Zurückzahlen kann man das geliehene Geld nur mit dem Verdienst aus der Saisonarbeit. Im Endergebnis werden beide Gruppen im folgenden Jahr wieder als Wanderarbeiter unterwegs sein. Temporäre Migration muss also als ein sich selbst erhaltendes System verstanden werden. Oberhalb der individuellen Ebene einzelner Migrantenhaushalte lässt sich sowohl in Deutschland als auch in Polen ein gesellschaftlicher Gewinn aus der temporären Migration erkennen. Auf deutscher Seite kann man auf diesem Weg auf billige Arbeitskräfte zurückgreifen und muss nicht die sozialen Folgekosten in Zeiten der Arbeitslosigkeit tragen. Zudem werden durch polnische Pflegekräfte die staatlichen Vorsorgeleistungen zur Pflege

43 Becker 2010: 133. 44 Kosic 2006: 248.

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entlastet.45 Billige und flexible Arbeitskräfte sind das „Schmiermittel“ des europäischen Kapitalismus. Daher besteht vonseiten der Kapitaleigner und Unternehmer ein Interesse daran, Arbeitslosigkeit als Herrschaftsmittel aufrechtzuerhalten.46 In Anbetracht von Arbeitslosigkeit und niedrigen Löhnen in Polen muss die temporäre Migration als Instrument der sozialen Befriedung verstanden werden. Die polnischen Eliten können den Anspruch breiter gesellschaftlicher Gruppen auf Umverteilung des erwirtschafteten Reichtums mit dem Instrument der Migration abwehren. Wanderarbeit schöpft einen Teil der Arbeitslosen ab, bietet ihnen potenziell einen Weg zur Stabilisierung ihres Lebensstandards und hat noch den Nebeneffekt der Entpolitisierung. Letzteres erfolgt durch den Rückzug der Arbeiter in das Privatleben, da schon die lange und regelmäßige Abwesenheit von zu Hause keine Zeit für ein wie auch immer geartetes Engagement lässt. Dem Aspekt einer sozialen Befriedung kommt meines Erachtens ein zentraler Stellenwert bei der Bewertung von Wanderarbeit im gesellschaftlichen Zusammenhang zu. Wie oben schon ausgeführt, besteht eine starke soziale und wirtschaftliche Spaltung der polnischen Gesellschaft, die zudem in den letzten zwanzig Jahren deutlich zugenommen hat. Darüber hinaus ermöglichten die Reisen, den hohen Lebensstandard in Westeuropa mit dem in Polen zu vergleichen.47 Mit steigender sozialer Ungleichheit wächst das Unruhepotenzial der Bevölkerung, und die Menschen verlieren die Motivation zu harter, vergleichsweise schlecht entlohnter Arbeit in Polen. Volkswirtschaften mit hoher Ungleichheit haben eine geringe Effizienz und Produktivität.48 Wanderarbeit kann den sozialen Druck auf die polnische Gesellschaft mildern. Wanderarbeit ist insoweit ein typisches Phänomen einer kapitalistischen Gesellschaftsform, als sie eine schnelle Steigerung des materiellen Lebensstandards verheißt. Saisonale Migration kann als die „Quadratur des Kreises“ für die Wirtschaft verstanden werden. Hier stehen kurzfristig niedrig entlohnte Arbeitskräfte für Tätigkeiten mit geringem Prestige zur Verfü-

45 Lutz 2002: 178. 46 Streeck 2013: 53. 47 In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre meldeten deutsche Medien, dass die deutsch-polnische Grenze weltweit die Armutsgrenze mit dem größten Gefälle ist. Damit wurde die mexikanische Grenze zu den USA abgelöst. 48 Stiglitz 2010: 149ff.

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gung, die ihre Arbeit sogar als zufriedenstellend erleben. Motivierend wirkt sich der Kaufkraftgewinn aufgrund des Wechselkurses von Euro zu Záoty aus. Außerdem bietet die zeitliche Begrenzung die Gewissheit, dass es sich auch bei körperlich schweren und emotional belastenden Arbeiten nur um kurze biografische Spannen handelt. Elementar für die Wanderarbeit ist die raum-zeitliche Trennung von Produktionszeit und Reproduktionszeit.49 Das System der temporären Migration benötigt politisch und wirtschaftlich unterschiedliche Lebensbedingungen. Den Produzenten bietet die kulturelle, juristische und politische Trennung zwischen Lebensmittelpunkt und Arbeitsort der Wanderarbeiter den Vorteil, dass soziale Forderungen nur eingeschränkt formuliert werden können. Fehlende Sprachkenntnisse, unterschiedliche Sozialstandards und kulturelle Werte sowie die zeitliche Begrenzung erschweren die politische Organisation.50 Die ungleiche politische Verfasstheit, in der sich Wanderarbeiter bewegen, führt zur Entäußerung ihrer arbeitspolitischen Interessen. Gleichzeitig bietet die wirtschaftspolitische Trennung zwischen Produktionsort und Reproduktionsort für die Unternehmen eine Möglichkeit der Gewinnmaximierung: „Der Wert der Ware Arbeitskraft entspricht […] den Reproduktionskosten.“51 Wanderarbeiter verlagern die Kosten der Reproduktion ihrer Arbeitskraft in das Herkunftsland. Daher ist es systemimmanent notwendig, dass der Lebensmittelpunkt polnischer Wanderarbeiter in Polen bleibt. Aktiv unterstützen sie diese Struktur durch die Bevorratung mit Lebensmitteln aus ihrer Heimat und indem sie sich vor Ort mit billigsten Produkten versorgen.52 Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem beruht auch auf der Veräußerung von Lebenszeit. In der Saisonarbeit wird dieser Prozess innerhalb eines begrenzten Zeit-

49 Vgl. Cyrus 2008: 181ff. 50 Vgl. Lutz 2002: 179. 51 Altvater 2012: 75. 52 Einerseits profitiert die westeuropäische Wirtschaft von den billigen polnischen Arbeitskräften, andererseits stellt Polen als das bevölkerungsreichste Land der EU-Osterweiterung einen wichtigen Expansionsmarkt dar. Dafür ist eine Steigerung der Kaufkraft erwünscht, die mit einer Steigerung des Lebensstandards einhergeht. Damit sinkt aber das Interesse der Polen an der temporären Migration. Langfristig sieht man in den Ukrainern ein großes Potenzial an Arbeitskräften, die bereit sind, für einen geringen Lohn in Deutschland Erntearbeiten durchzuführen.

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raumes intensiviert und später finanziell, zeitlich und symbolisch ausgeglichen. Auf diese Weise wird die Arbeitszeit von der Lebenszeit abgekoppelt und für die Akteure emotional tragbar. Die von Saisonarbeitern vielfach geäußerte Beschreibung, man betrachte die Erntearbeit als eine Art „Urlaub vom Alltag“, wird in diesem Kontext verständlich. Eine systemkritische Analyse der Beschäftigung von Saisonarbeitern in der Landwirtschaft zeigt zudem, dass es sich hier um eine Form patriarchalischer Arbeitsverhältnisse handelt.53 Insoweit stellt die Beschäftigung landwirtschaftlicher Wanderarbeiter einen Anachronismus dar. Selbst wenn mit den Erntehelfern formal korrekte Arbeitsverträge geschlossen werden, vollziehen sich die Arbeitsverhältnisse abseits aller arbeitsrechtlichen Regelungen. Verdeutlichen lässt sich das Problem am empirischen Beispiel. Wenn es in Arnswald zu Konflikten zwischen der einheimischen Bevölkerung und Erntehelfern kommt, dann löst man die Probleme durch das unmittelbare Eingreifen des Landwirtes. Werden einzelne Personen beispielsweise durch Ladendiebstahl oder eine gewalttätige Auseinandersetzung auffällig, so erfolgt die fristlose Kündigung. Selbst wenn die Polizei informiert wird, unterstützt sie das Vorgehen und überlässt dem Betriebsleiter die Reaktion. Die Einhaltung von Ordnung und Moral obliegt somit dem Landwirt und ist juristischen Regelungen entzogen. Rechtlich steht der Ladendiebstahl in keinerlei Verbindung mit dem Arbeitsplatz der betreffenden Person. Die Situation erinnert an die gutsherrliche Gerichtsbarkeit vergangener Jahrhunderte.54

53 Auch bei der privaten Pflegetätigkeit muss in Anbetracht der Bedeutung von Empathie und Sympathie von patriarchalischen Strukturen ausgegangen werden (vgl. Metz-Göckel 2010: 29). In den Arbeitsverhältnissen ordnen sich arbeitsrechtliche Regelungen persönlichen Beziehungen unter. 54 Für den Landwirt ist es schwierig, die relativ großen Gruppen, die sich in einer sozialen Ausnahmesituation befinden, ruhig zu halten. Gleichzeitig ist er auf die Zustimmung der deutschen Einwohner angewiesen, will er die Möglichkeiten der Unterbringung nicht gefährden. Jedoch erscheint es nicht akzeptabel, diese offensichtliche Problemlage im 21. Jahrhundert mit den Methoden des 19. Jahrhunderts zu lösen.

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M IGRATION

ALS

A USNAHME

Verfolgt man einschlägige Publikationen, so scheint es sich bei der Migration um ein Hauptmerkmal der modernen Gesellschaften zu handeln. Migration wird als eine „neue Kultur der Beweglichkeit“55 beschrieben und die Frage gestellt, ob Mobilität ein Grundbedürfnis und damit vergleichbar mit „Essen, Schlafen, sozialer Anerkennung“ ist.56 Ein ganz anderes Bild ergibt sich in Anbetracht des prozentualen Anteils von Migranten an der Weltbevölkerung. Migrationswissenschaftler schätzen die Zahl der außerhalb ihres Geburtslandes lebenden Migranten auf zwei bis drei Prozent.57 Selbstverständlich ist im Zuge des Anwachsens der Weltbevölkerung die absolute Zahl der Migranten gestiegen, gleichwohl bleibt die Ortsgebundenheit der Menschen festzustellen. Faist interpretiert die Bindung an den Ort als Ergebnis der „lokal, regional und national“ gebunden Kapitalien (Bourdieu).58 Selbst bei den immer wieder durch die Presse gehenden Beschreibungen des Elends der Flüchtlinge, die an den Küsten Südeuropas stranden, besteht eine Tendenz, die Nähe zur Heimat aufrechtzuerhalten. Europa stellt für Arbeitsmigranten keineswegs das Ziel ihrer Träume dar. Vielmehr erträgt der Migrant sein Schicksal oftmals nur, weil auf ihm die Erwartungen seiner Familie lasten:59 „Die meisten Menschen auf der Flucht versuchen vielmehr, in halbwegs erträglicher Entfernung zu ihren Familien, ihrem Eigentum und ihrem sozialen Leben zu bleiben, weil sie auf eine Rückkehrmöglichkeit hoffen.“60

55 Schneider/Limmer/Ruckdeschel 2002: 13. 56 Ebd. 42. 57 Kaáwa 2010: 61; Faist 1997: 63. Faist geht von freiwilligen Migrationen aus und klammert in der Rechnung Flüchtlinge aus. Die Zahlen beziehen sich auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts bis Anfang der 1990er Jahre. 58 Ebd. 80f. 59 Ein Beispiel zeigt der 2013 in deutschen Kinos gezeigte Dokumentarfilm „Fremd“ der Regisseurin Miriam Faßbender (http://www.foreign-documentary. com/de/der_film.html vom 07.07.2013). 60 Reckinger, Gilles: Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas. Wuppertal: Peter Hammer 2013.

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Eine plurilokale Lebensform birgt die Gefahr einer sozialen Destabilisierung.61 Mobile Lebensformen werden als stressbelastet beschrieben und für einen Anstieg der Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Störungen des Immunsystems verantwortlich gemacht.62 Eine empirische Prüfung würde den Rahmen dieser Forschung sprengen, jedoch deutet die Konstanz temporärer Migration darauf hin, dass die Akteure bestrebt sind, Auswanderung zu vermeiden. Die offenen Grenzen Europas veranlassen mitnichten die Massen zum Verlassen ihrer Heimat. Vielmehr versucht ein global agierender neoliberaler Kapitalismus, Migration als eine Zukunftsperspektive zu vermitteln, mit dem sich der Menschheitstraum von Freiheit erfüllen soll. Eine überwältigende Mehrheit der Menschen sieht diese Lebensform aber nicht als erstrebenswert an. Ein entfesselter Kapitalismus will den Bürgern die Illusion zur Pflicht machen, losgelöst von geografischen und sozialen Wurzeln als von Bindungen „befreites“ Individuum sein Glück zu suchen. Die Implantation dieser Lebenseinstellung, bis sie den Individuen selbst gewählt und selbstverständlich erscheint, hat eine jahrzehntelange Vorgeschichte, bei der in Osteuropa die Erfahrung der soziokulturellen Enge und der Mangelökonomie vor 1989 eine entscheidende Rolle spielt. Der „Unterschied zwischen selbst gewählter und erzwungener Mobilität, zwischen Freiberuflichkeit und Prekarität, Kündigen und Gekündigtwerden“63 ist für die Akteure vielfach nicht mehr zu erkennen. Obwohl die Akteure sich jeweils für oder gegen die Arbeitsmigration entscheiden, ist ihre Wahlfreiheit, wie Slavoj Žižek schreibt, „häufig nur eine formale Geste der Zustimmung zu [ihrer] eigenen Unterdrückung und Ausbeutung“64. In einer eigenwilligen Verdrehung der Realität verlassen die Wanderarbeiter ihre lokale, kulturelle und soziale Umgebung, um genau diese Faktoren lebenswerter zu gestalten. „Die Menschen sagen, sie würden so hart für die Familie arbeiten, doch ihre harte Arbeit beschneidet immer mehr die Zeit für die Familie, und das Familienleben leidet darunter. Die Mittel passen offenkundig nicht zu dem erklärten Zweck.“65

61 Cyrus 2008: 191. 62 Schneider/Limmer/Ruckdeschel 2002: 39. 63 Streeck 2013: 60. 64 Žižek 2011: 133. 65 Stiglitz 2012: 153 [Hervorhebung im Original].

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„Heimatlosigkeit“, so schreibt die Soziologin Eva Illouz, „ist inzwischen zur allgegenwärtigen Befindlichkeit der globalen Moderne geworden.“66 Gleichwohl mag dem Festhalten der Individuen an der räumlichen und sozialen Bindung an ihre Heimat auch ein Element der Widerständigkeit gegen die Illusion einer „schönen neuen Welt“ des Kapitals innewohnen: „Bindungslose Menschen ziehen irgendwo hin, tun Dinge, ohne sich groß um die Auswirkungen zu kümmern, gehen ziemlich leichtsinnig mit Geld um und setzen ebenso leichtsinnig ihr Leben aufs Spiel.“67 An diesem Punkt ist unsere europäische Gesellschaft aufgefordert, sich in kritischer Perspektive mit ihren Entwicklungswegen auseinanderzusetzen und bewusst zu entscheiden, wie wir in Zukunft leben wollen. Denn eine Gesellschaft, bei der sich die Individuen lediglich an die Verwertungsinteressen des Kapitals anpassen, wäre vermutlich mit dem Verlust sozialer Zusammenhänge und (lokal)politischer Gestaltungsfähigkeit verbunden. Polnische Wanderarbeiter, so muss man diese Überlegungen ergänzen, erleben ihre Arbeitsaufenthalte in Deutschland jedoch als emotionalen Zwiespalt. Es ist die eigenwillige Dialektik der Migration, dass nach dem Verlassen des Herkunftsortes dieser als Sehnsuchtsheimat erscheint, und mit dem Ende der Migration der Migrationsort zum Sehnsuchtsziel wird.

66 Illouz 2013: 39. 67 Solnit 2013: 13.

Literatur

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Autorinnen und Autoren

Fiaákowska, Kamila, M.A. pol. Universität Wrocáaw und M.A. Migration Studies Universität Sussex, Doktorandin Universität Warschau. Von 2012 bis 2013 KAAD-Stipendiatin an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Seit 2013 assoziierte Forscherin an der Universität Bielefeld im SFB 882 „Von Heterogenitäten zu Ungleichheiten“. Mitarbeiterin am Centre of Migration Research der Universität Warschau. àukowski, Wojciech, Prof. Dr., Politologe an der Universität Warschau (Europasoziologie, Modernisierungstheorie). Leitung verschiedener Forschungen. Mitarbeiter am Centre of Migration Research der Universität Warschau. Wichtigste Veröffentlichungen: Spoáeczne tworzenie ojczyzn. Studium toĪsamoĞci mieszkaĔców Mazur [Soziale Konstruktion von Heimat. Eine Studie zur Identität der Einwohner Masurens], Warszawa: Scholar 2002; Polskie studia lokalne: wczoraj, dziĞ i jutro, [Lokale Studien in Polen: gestern, heute und morgen], Warszawa: Scholar 2007; SpoáecznoĞü na granicy. Zasoby mikroregionu Goádap i mechanizmy ich wykorzystywania [Gesellschaft an der Grenze. Ressourcen der Mikroregion Goádap und die Mechanismen ihrer Nutzung.] Warszawa: Scholar 2009. Piechowska, Maria, M.A., Kulturanthropologin, Abschluss Osteuropastudien Universität Warschau, Doktorandin Universität Warschau. Forschungsthemen: Migrations- und Osteuropaforschung. Studienaufenthalt in Wien. Mitarbeiterin am Centre of Migration Research der Universität Warschau.

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Wagner, Mathias, Dr. phil., Soziologe an der Universität Bielefeld mit den Arbeitsschwerpunkten Armutsforschung, Polen, informelle Ökonomie, qualitative Sozialforschung. Lehraufträge an den Universitäten Bielefeld, Hannover und der Humboldt-Universität. Mathias Wagner veröffentlichte mehrere ethnografische Studien und Hörfunkbeiträge sowie einen Dokumentarfilm. Wichtigste Veröffentlichungen: „Wir waren alle Fremde.“ Die Neuformierung dörflicher Gesellschaft in Masuren seit 1945. Münster: LIT 2001; Fremde Heimat. Alltag in einem masurischen Dorf. Potsdam: Deutsches Kulturforum östliches Europa 2004; Die Schmugglergesellschaft. Informelle Ökonomien an der Ostgrenze der Europäischen Union. Eine Ethnographie. Bielefeld: Transcript 2011. Mathias Wagner und Wojciech àukowski leiteten das Forschungsprojekt „Wanderarbeit als Alltagspraxis. Soziokulturelle Effekte saisonaler Migration in lokalen Gesellschaften: Fallstudien aus Polen und Deutschland“. Weitere gemeinsame Forschungen zur sozialen Konstruktion von Heimat (1995-1998, Leitung Prof. Dr. Ulrich Mai, Universität Bielefeld) und zum Schmuggel an der russisch-polnischen Grenze (2005-2008, gemeinsam mit der russischen Universität Kaliningrad, Leitung Prof. Dr. Ulrich Mai, Dr. Mathias Wagner und Prof. Dr. Wojciech àukowski). http://www.uni-bielefeld.de/tdrc/ag_comcad/research/migratory_labour. html; http://www.migracje.uw.edu.pl/projekt/1344.

Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder Dezember 2013, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,90 €, ISBN 978-3-8376-2263-8

Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft Februar 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 27,90 €, ISBN 978-3-8376-2558-5

Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Februar 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Januar 2014, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2402-1

Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Januar 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2447-2

Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt März 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

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Kultur und soziale Praxis Lars Alberth Die Fabrikation europäischer Kultur Zur diskursiven Sichtbarkeit von Herrschaft in Europa November 2013, 260 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2554-7

Werner Binder Abu Ghraib und die Folgen Ein Skandal als ikonische Wende im Krieg gegen den Terror Dezember 2013, 548 Seiten, kart., 46,99 €, ISBN 978-3-8376-2550-9

Sonja Buckel »Welcome to Europe« – Die Grenzen des europäischen Migrationsrechts Juridische Auseinandersetzungen um das »Staatsprojekt Europa« September 2013, 372 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2486-1

Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen Januar 2013, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5

Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas Januar 2014, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4

Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung Mai 2013, 392 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2335-2

Hannes Schammann Ethnomarketing und Integration Eine kulturwirtschaftliche Perspektive. Fallstudien aus Deutschland, den USA und Großbritannien April 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2428-1

Mario Schmidt Wampum und Biber: Fetischgeld im kolonialen Nordamerika Eine maussche Kritik des Gabeparadigmas Dezember 2013, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2526-4

Caroline Schmitt, Asta Vonderau (Hg.) Transnationalität und Öffentlichkeit Interdisziplinäre Perspektiven April 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2154-9

Anett Schmitz Transnational leben Bildungserfolgreiche (Spät-)Aussiedler zwischen Deutschland und Russland Oktober 2013, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2328-4

Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus August 2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2089-4

Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht Mai 2013, 206 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3

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