Deutsche Zeitschriften des 17. [siebzehnten] bis 20. [zwanzigsten] Jahrhunderts 3794036034, 9783794036035

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Deutsche Zeitschriften des 17. [siebzehnten] bis 20. [zwanzigsten] Jahrhunderts
 3794036034, 9783794036035

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Die Zeitschrift im Kommunikationssystem
Acta Eruditorum (1682–1782)
Gespräche in dem Reiche Derer Todten (1718–1739)
Frankfurter Gelehrte Anzeigen (1736–1790)
Wöchentliche Osnabrückische Anzeigen (1766–1875)
Der Teutsche Merkur (1773–1810)
Deutsche Chronik (1774–1793)
Briefwechsel / Stats–Anzeigen (1776–1793)
Deutsche Vierteljahrsschrift (1838–1870)
Historisch-Politische Blätter für das Katholische Deutschland (1838–1923)
Die Grenzboten (1841–1922)
Die Gegenwart (1872–1931)
Deutsche Rundschau (1874–1964)
Die Neue Zeit (1883–1923)
Der Kunstwart (1887–1937)
Die Neue Rundschau (1890–1944)
Die Zukunft (1892–1922)
Die Hilfe (1894–1943)
Sozialistische Monatshefte (1895–1933)
Die Fackel (1899–1936)
Hochland (1903–1971)
Süddeutsche Monatshefte (1904–1936)
Die Weltbühne (1905–1939)
Eckart (1906–1960)
Die Tat (1909–1939)
Die Aktion (1911–1932)
Der Querschnitt (1921–1936)
Die Literarische Welt (1925–1934)
Nationalsozialistische Monatshefte (1930–1944)
Das Reich (1940–1945)
Personenregister

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EZH

PUBLIZISTIK-HISTORISCHE BEITRÄGE Herausgegeben von Priv.-Doz. Dr. Heinz-Dietrich Fischer

Band 3 Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts

EZH Verlag Dokumentation, Pullach bei München 1973

Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.)

Deutsche Zeitschriften des 17. bis 20. Jahrhunderts

EZH Verlag Dokumentation, Pullach bei München 1973

© 1 9 7 3 by Verlag Dokumentation Saur K G , Pullach bei München Druck: Julius Beltz, Hemsbach/Bergstr. Gebunden bei Kornelius Kaspers, Düsseldorf Printed in West Germany I S B N 3-7940-3603-4

WILMONT HAACKE

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dem Zeitschriftenforscher

"Die Zeitschrift, die ein vielseitiges, zahllosen Interessengruppen und mannigfachen Absichten dienendes Werkzeug ist, sollte nicht nur als das, was sie war und was sie, zeitungskundlich gesehen, im Laufe der Jahrhunderte geworden ist, geschildert werden, sondern vor allem in ihrer vielfältigen Verwobenheit mit der politischen, Geistes-, Wissenschafts- und Sozialgeschichte jener Zeitläufe, die sie durchlief". (Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und seine Probleme, Teil 1,2. Aufl., Wiesbaden 1958, S. 1)

VORWORT Gemessen an den zahlreichen Untersuchungen über Zeitungen, stellt der Gesamtkomplex Zeitschriften ein nach wie vor wenig bearbeitetes Terrain dar. Nur relativ wenige Forscher haben sich schwerpunktmäßig dieser publizistischen Gattung verschrieben. Mit diesem Band — dem dritten der Reihe — wird der bescheidene und möglicherweise nicht überall gelungene Versuch unternommen, "maßgebliche" deutsche Zeitschriften kurzmonographisch im Überblick zu porträtieren. Welche Periodika hierunter fallen könnten, darüber gibt es sicherlich recht divergierende Auffassungen, — ein verläßlicher Kriterienkatalog existiert nicht. Die notwendigerweise subjektive Auswahl des Herausgebers wird zudem reduziert durch den Umstand, daß nicht für jede ins Auge gefaßte Zeitschrift auch ein qualifizierter Bearbeiter gewonnen werden konnte. Schließlich kommt noch hinzu, daß manche der fest verabredeten Arbeiten von den Autoren — trotz deutlicher "Erinnerungen" und wiederholter Hinauszögerung des Redaktionsschlußtermins — nicht geliefert wurden! So sind denn die Gründe für das Fehlen bestimmter Zeitschriftenporträts in mehreren Umständen zu erblicken. Bei sämtlichen Beiträgen galt es als Bearbeitungsmaxime, die wesentlichen Daten, Fakten und Zusammenhänge aus der jeweiligen Verlags-, Redaktions- und Inhaltsgeschichte in möglichst chronologischer Reihung zu präsentieren, ohne indes in die Zone lexikalischer Knappheit zu geraten. Diese Aufgabe wurde — zum Teil materialbedingt — recht unterschiedHch gelöst. Daher mag der Band in gewissem Sinne heterogene Züge tragen. Dennoch sollte auch und gerade die Individualität von Problemauffassung und Darstellungsvermögen bei den einzelnen Beiträgen als Positivum gewertet werden, denn es handelt sich bei sämtlichen 29 Zeitschriftenporträts um Originalarbeiten, die speziell für diesen Band geschrieben worden sind. Ohne den Idealismus aller Mitarbeiter, die zum Teil recht arbeits- und zeitaufwendige Recherchen anzustellen hatten, hätte der Band nicht zustande kommen können. Dafür sei allen an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich gedankt. Die mühevollen Arbeiten am Personenregister hat wiederum Erika J. Fischer mit Bienenfleiß bewältigt. Ruhr-Universität Bochum im Juni 1973

H.-D. Fischer

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INHALTSVERZEICHNIS VORWORT 7 Heinz-Dietrich Fischer: DIE ZEITSCHRIFT IM KOMMUNIKATIONSSYSTEM 11 Ulrich Hensing: ACTA ERUDITORUM (1682-1782) 29 Ulrich Schmid: GESPRÄCHE IN DEM REICHE DERER TODTEN (1718-1739) . . 49 Claus Jansen: F R A N K F U R T E R GELEHRTE ANZEIGEN (1736-1790) 61 Ingo Petzke: WÖCHENTLICHE OSNABRÜCKISCHE ANZEIGEN (1766-1875). . 75 Volker Schulze: DER TEUTSCHE MERKUR (1773-1810) 87 Hans Gerd Klein: DEUTSCHE CHRONIK (1774-1793) 103 Ludolf Herbst: BRIEFWECHSEL / STATS—ANZEIGEN (1776-1793) 115 Eckehard Schneider: DEUTSCHE VIERTELJAHRSSCHRIFT (1838-1870) 127 Annekatrin Wacker: HISTORISCH-POLITISCHE B L Ä T T E R FÜR DAS KATHOLISCHE DEUTSCHLAND (1838-1923) 141 Eberhard Naujoks: DIE GRENZBOTEN (1841-1922) 155 Heinz-Alfred Pohl: DIE GEGENWART (1872-1931) 167 Hans-Wolfgang Wolter: DEUTSCHE RUNDSCHAU (1874-1964) 183 Gerhard Schimeyer: DIE NEUE ZEIT (1883-1923) 201 H. Fred Krause: DER KUNSTWART (1887-1937) 215 Dieter Stein: DIE NEUE RUNDSCHAU (1890-1944) 229 B. Uwe Weller: DIE ZUKUNFT (1892-1922) 241 Rolf Taubert: DIE H I L F E (1894-1943) 255 Alfons Breuer: SOZIALISTISCHE MONATSHEFTE (1895-1933) 265 Marianne Lunzer-Lindhausen: DIE F A C K E L (1899-1936) 281 9

Gerd Depenbrock: HOCHLAND (1903-1971) Jürgen Fromme: SÜDDEUTSCHE MONATSHEFTE (1904-1936) Heinz-Dietrich Fischer: DIE WELTBÜHNE (1905-1939) Karl-Werner Bühler: ECKART (1906-1960) Klaus Werner Schmidt: DIE TAT (1909-1939) Gerhard Hense: DIE AKTION (1911-1932) Christine Schulze: DER QUERSCHNITT (1921-1936) Bianka Minte-König: DIE LITERARISCHE WELT (1925-1934) Wilfried Scharf: NATIONALSOZIALISTISCHE MONATSHEFTE (1930-1944) Ingrid Pieper: DAS REICH (1940-1945) PERSONENREGISTER

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291 305 323 341 349 365 379 393 409 421 431

Heinz-Dietrich Fischer DIE ZEITSCHRIFT IM KOMMUNIKATIONSSYSTEM

In den modernen kommunikationspolitischen Erörterungen steht der Gattungsbegriff der Presse häufig zentral, ohne daß zunächst immer zwischen den Erscheinungsformen ihrer wichtigsten Arten — der Zeitung und der Zeitschrift — differenziert zu werden pflegt.D Die beiden Typenbezeichnungen haben sich "aus überlieferten, mehr oder weniger bestimmten Vorstellungen über zwei entwicklungsgeschichtlich unterschiedliche Erscheinungen der periodischen Presse konstituiert als ausgesprochene Gewohnheitsbegriffe, denen jede terminologische Eindeutigkeit fehlt. Unter diese an sich recht vagen Vorstellungen von der Zeitung und von der Zeitschrift wurden die — als Erscheinungen der periodischen Presse allgemein als gattungsgleich erkannten, aber in ihrer Art verschiedenen — Typen der periodischen Druckschriften getrennt und geordnet, in der wissenschaftlichen Betrachtung wie auch im praktischen Gebrauch'^). Wenn Kieslich jedoch schreibt, daß "die Bemühungen um eine Definition oder auch nur um eine Beschreibung des Phänomens Zeitschrift. . . — im Gegensatz zu entsprechenden Versuchen über die Zeitung — verhältnismäßig jungen Datums seien" und er sich dabei auf das Grimmsche 'Deutsche Wörterbuch' bezieht,3) so ist dieser Hinweis irreführend. Kirchner hat sich nämlich schon vor rund viereinhalb Jahrzehnten bemüht, den unterschiedlichen Beschreibungsversuchen für Zeitschriften nachzuspüren, und er wies darauf hin, daß anfangs fast nur das französische Wort Journal gebräuchlich war. Die wohl erste Wesensbestimmung des Phänomens Zeitschrift gab bereits 1732 Johann Peter Kohl in seinem Organ, den 'Hamburgischen Berichten von neuen Gelehrten Sachen', wo es heißt: "Ein Journal ist. . . bey den Frantzosen dasjenige, was bey den Griechen Ephemerides, bey den Lateinern aber Diarium, und bey den Italiänern un Giornale, so wie bey den Teutschen ein Tag-Buch pflegt genannt zu werden. . . Das Wort Journal" sei "heut zu Tage nicht sowol ein wöchentliches Blat mit gelehrten Neuigkeiten, als eine jede Schrift.. ., die entweder Monat- oder Viertel-Jahr- und Jahrweise zum Vorschein 1)

Vgl. hierzu die treffenden Bemerkungen bereits bei Otto Groth: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik), Bd. 1, Mannheim — Berlin — Leipzig 1928, S. 26. — Vgl. als ein Sammelsurium der in der alten Zeitungswissenschaft gebräuchlichen Termini die — antisemitisch-selektive — Bibliographie von Fr(itz) Franzmeyer (Bearb.): Presse-Dissertationen an deutschen Hochschulen, 1885—1938, Leipzig 1940.

2)

Robert Wiebel: Zeitung und Zeitschrift, phil. Diss. Leipzig 1939, Darmstadt 1939, S. 5; vgl. auch Werner Kienningers: Die Einteilung der periodischen Preßschriften, staatswiss. Diss. Erlangen 1932.

3)

Günter Kieslich: Die Zeitschrift — Begriff, in: Emil Dovifat (Hrsg.): Handbuch der Publizistik, Bd. 3, Berlin 1969, S. 370.

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k ö m m t " 4 ) . Und rund ein Vierteljahrhundert später, im Jahre 1784, formuliert Johann Georg Krünitz in der 'Ökonomischen Encyklopädie... der Staats- StadtHaus- und L a n d w i r t s c h a f t ' : " M a n nennt Journal eine periodische Schrift, welche wöchentlich, oder monathlich, herauskommt, und von den neuesten gelehrten Schriften, von den neuesten Erfindungen und Entdeckungen in den Künsten und Wissenschaften, oder auch von andern Vorfällen, Nachricht e r t h e i l t . . . " 5 ) . Seitdem sind unzählige Definitionsversuche 6) unternommen worden. V i k t o r Mataja hat jedoch auf dem Internationalen Statistischen Kongreß in Kopenhagen von 1908 die Trennung zwischen Zeitung und Zeitschrift und somit exakte Definitionen als unmöglich und sogar unpraktisch bezeichnet: "Das Leben, nicht der Begriff soll über die Einreihung entscheiden. . . Es ist unmöglich, das Gesamtgebiet der periodischen Presse, so verschieden auch die an entgegengesetzten Punkten gelegenen Teile sein mögen, verläßlich zu durchschneiden u n d eine Hälfte einwandfrei mit einem irgendwie konstruierten Zeitungsbegriff zu belegen und als Untersuchungsgegenstand zu qualifizieren, die andere aber davon ausschließen" 7 ). Und Wiebel stellt kritisch fest: "Bei den Bemühungen, die Zeitschrift begrifflich klar zu definieren, kam man zu keinem anderen Ergebnis als bedem, daß mit Zeitschrift eine Sammelbezeichnung aller Nicht-Zeitungen stimmt war. Das erklärt sich eben daraus, daß man die periodische Presse nur in zwei Arten schied. Da der Begriff Zeitung 8) in seinen Grenzen empirisch festlag und in engster Anlehnung an die Praxis formuliert werden konnte, so war es gegeben, die Zeitschrift, der diese Unmittelbarkeit einer tatsächlichen und begrifflichen Vorstellung fehlte, einfach von der Zeitung in dem Sinne abzusetzen. . .: Was man nicht Zeitung nennen kann, das spricht man dann als Zeitschrift an.. ."9). Auch Gerhard Menz wollte mit den spitzfindigen Abgrenzungsbemühungen aufräumen und meinte, daß Zeitungen und Zeitschriften "zwar nicht dasselbe, aber auch nicht grundsätzlich zweierlei" seien. 10) Zu den bekanntesten und am häufigsten diskutierten Definitionsversuchen gehört jener von Emil Dovifat: "Die Zeitschrift ist ein forlaufend und in regelmäßiger Folge erscheinendes Druckwerk, das einem umgrenzten Aufgabenbereich oder einer gesonderten Stoffdarbietung (Bild, Unterhaltung) dient. Danach 4)

Z i t . n a c h J o a c h i m K i r c h n e r : Die G r u n d l a g e n des d e u t s c h e n Z e i t s c h r i f t e n w e s e n s , I . T e i l , L e i p z i g 1 9 2 8 , S. 9 6 f .

5) Z i t . daselbst, S. 9 7 , A n m . 1. 6)

V g l . d i e Z u s a m m e n s t e l l u n g zahlreicher D e f i n i t i o n s v e r s u c h e bei R o b e r t W i e b e l , a.a.O., A n h a n g , S. X - X V .

7) V i k t o r M a t a j a : Die S t a t i s t i k des Zeitungswesens, i n : ' B u l l e t i n de l ' I n s t i t u t I n t e r n a t i o n a l de S t a t i s t i q u e ' (La Haye), T o m e X V I I / B e i l a g e N r . 14, 1 9 0 8 , S. 2 2 1 f f . 8)

9) 10)

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Ü b e r d i e P r o b l e m a t i k von Zeitungsdefinitionen vgl. H e i n z - D i e t r i c h F i s c h e r : Die Z e i t u n g als F o r s c h u n g s p r o b l e m , i n : H e i n z - D i e t r i c h Fischer (Hrsg.): D e u t s c h e Zeit u n g e n des 17. bis 2 0 . J a h r h u n d e r t s , M ü n c h e n - P u l l a c h 1 9 7 2 , insbes. S. 13 f f . R o b e r t W i e b e l , a.a.O., S. 4 7 . G e r h a r d M e n z : Die Z e i t s c h r i f t . I h r e E n t w i c k l u n g u n d ihre L e b e n s b e d i n g u n g e n , S t u t t g a r t 1 9 2 8 , S. 7 .

bestimmt sich ihre Öffentlichkeit, ihre Tagesbindung, ihr Standort, die Mannigfaltigkeit ihres Inhalts und die Häufigkeit ihres Erscheinens"! 1). Hierzu bemerken Koszyk/Pruys: "Die Begriffsumschreibung bietet den Vorteil, das Zeitschriftenwesen insgesamt zu erfassen, doch muß gefragt werden, ob eine Information damit verbunden sein kann, wenn Illustrierte und wissenschaftliche Fachzeitschriften spezialisierten Inhalts gleichermaßen Zeitschrift genannt werden. Wird der Umfang einer Definition weit gehalten, ist der konkrete Inhalt, den die Bezeichnung vermittelt, notwendig gering. Die Schwierigkeit, den Begriff der Zeitschrift aufrechtzuerhalten, w i r d verschärft durch die historische Perspektive. Die Geschichte der Publizistik hat zahlreiche Zeitschriftentypen hervorgebracht, die heute wieder verschwunden sind. Auch diese Erscheinungen des Zeitschriftenwesens wären durch die Definition 12) abzudecken. Die Aufgabe ist aber kaum lösbar. . ."13). Wie können dann aber Zeitschriften wissenschaftlich überhaupt systematisiert und erforscht werden? Diese Problematik klar erkennend, hat sich deshalb schon in der Frühzeit der universitär etablierten traditionellen Zeitungswissenschaft 14) ein Seitenzweig herausgebildet, der sich vornehmlich der Zeitschriftenkunde zuwandte. Daß die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen des Zeitschriftenwesens indes nicht erst nach dem Entstehen der Zeitungswissenschaft im Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg an deutschen Universitäten einsetzte, dafür hat Storz bereits für das Zeitalter des Absolutismus einige bibliographische Nachweise erbracht. 15) Danach gab es bereits im frühen 18. Jahrhundert erste Versuche der Beschäftigung mit Zeitschriften; die Studien erschienen ab 1714 in Freiburg, 16) Leipzig 17) und Berlin. 18) Karl d'Ester, der nach dem Urteil Ernst 11) Emil Dovifat: Zeitungslehre, Bd. 1, 5. Aufl., Berlin 1967, S. 14, Anm. 1. 12) Zur Definitionsproblematik der Zeitschrift vgl. Joachim Kirchner: Gedanken zur Definition der Zeitschrift, in: 'Publizistik' (Bremen), 5. Jg./Heft 1 (Januar-Februar 1960), S. 1 4 - 2 0 ; Günter Kieslich: Zur Definition der Zeitschrift, in: 'Publizistik' (Bremen), 10. Jg./Heft 3 (Juli-September 1965), S. 3 1 4 - 3 1 9 . 13) Kurt Koszyk/Karl H. Pruys: Wörterbuch zur Publizistik, München 1970, S. 391, Sp. 1. 14) Vgl. Otto Groth: Die Geschichte der deutschen Zeitungswissenschaft, München 1948. 15) Vgl. Werner Storz: Die Anfänge der Zeitungskunde (Die deutsche Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts über die gedruckten, periodischen Zeitungen), phil. Diss. Leipzig 1931, Halle/Saale 1931, insbes. S. 108 f f . 16) Vgl. Christian Gottfried Hoffmann: Aufrichtige und Unpartheyische Gedanken über die Journale, Extracte und Monatsschriften, worinnen dieselben extrahiret, wann es nützlich suppliret und wo es nötig emendiret werden, 24 Stücke, Freyburg 1714-1717. 17) Vgl. N.N.: Nachricht von denen heute zu Tage grand mode gewordenen Journal-, Quartal- und Annual-Schrifften, darinnen die einige Jahre her in Teuscher, Lateinischer, Fratzösischer, Italiänischer und Holländischer Sprache häufig geschriebenen Journale erzehlet und bey denen meisten gemeldet, wenn solche entweder angefangen, aufgehöret oder noch bis ietzo continuiret werden, Leipzig 1715. 18) Vgl. Julius Bernhard von Rohr: L'esprit des Journaus. Oder Unpartheyische Gedancken über die so häufig edirten u n d jetzo aufs höchste gestiegene Journale.

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Herbert Lehmanns namentlich "auf dem Gebiet der historischen Zeitschriftenforschung. . . sich besonders... Verdienste erworben"!9) hat, war selbst auch bemüht, die Frühphasen der Zeitschriftenforschung wissenschaftshistorisch nachzuvollziehen.20) Während der "Vater" der akademischen Zeitungswissenschaft, der Nationalökonom Karl Bücher, das Zeitschriftenwesen nur recht peripher beachtete,?!) lenkte Karl d'Ester, der sich im Sommer 1920 an der Universität Münster für "Wissenschaftliche Zeitungskunde und Geschichte der öffentlichen Meinung" habilitierte,22) namentlich durch seine zahlreichen Schüler das Augenmerk auf den Forschungsgegenstand Zeitschrift.23) Die grundlegenden systematischen Forschungen über das Zeitschriftenwesen der frühen Zeit wurden indes von dem Bibliothekswissenschaftler Joachim Kirchner vorgelegt, der auch eine Definition für den behandelten Zeitraum lieferte: "Die Zeitschrift des 17. und 18. Jahrhunderts ist eine mit der Absicht der unbegrenzten Dauer begründete, in mehr oder weniger regelmäßigen Zeitabschnitten erscheinende und für einen im allgemeinen begrenzten Interessenkreis durch mechanische Vervielfältigung hergestellte Publikation, deren einzelne Stücke als die (periodisch) wiederkehrenden Teile eines einheitlich geleiteten Ganzen erkennbar sind, und die innerhalb ihres besonderen Fach- oder Wissensgebietes eine Mannigfaltigkeit des Inhaltes anstrebt"^) Trotz gelegentlicher Erwähnung der Zeitschrift bzw. der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihr haben nahezu sämtliche Hochschullehrer, die in den zwanziger Jahren das Fach "Zeitungswissenschaft" an den Universitäten heimisch zu machen bemüht waren, sich in ihren Überlegungen im wesentlichen auf die Zeitung bezogen. Otto Jöhlinger redet nur generell von der Presse, und sein Beispielmaterial stammt fast ausschließlich aus Zeitungen.25) Auch Erich Everth konzentriert sich durchweg auf das Zeitungswesen, welches " i n das geistige Fortsetzung Fußnote 18) Durch welche dererselben Betrug gebührend entdecket, der Nutzen und Schaden so sie bringen, erwogen und ob sie in wohlbestellten Republiquen zu dulten, kürtzlich untersuchet wird, Berlin 1716. 19) Ernst Herbert Lehmann: Einführung in die Zeitschriftenkunde, Leipzig 1936, S. 8. 20) Vgl. Karl d'Ester: Geschichte der Zeitschriftenforschung vor 1800, in: 'Literarischer Handweiser' (Münster i.W.), N/. 7 - 1 0 / J g . 1911; Nr. 1, 7, 8/Jg. 1912; Nr. 15/Jg. 1914. 21) Vgl. Karl Bücher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Vorträge und Aufsätze, Tübingen 1917 (darin S. 2 2 9 - 2 6 0 , Kap. V I . : " D i e Anfänge des Zeitungswesens"). 22) Vgl. Institut für Publizistik der Universität Münster (Hrsg.): Studium der Publizistik, Münster 1961, S. 7. 23) Vgl. Wilhelm Klutentreter (Bearb.): Dissertationen der Schüler Karl d'Esters (1926—1951), in: Beiträge zur Zeitungswissenschaft. Festgabe für Karl d'Ester zum 70. Geburtstage von seinen Freunden u n d Schülern, Münster i.W. 1952, S. 9 5 — 1 0 3 . 24) Joachim Kirchner, a.a.O., S. 32 f . 25) Vgl. O t t o Jöhlinger: Zeitungswesen und Hochschulstudium, Jena 1919.

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Leben unserer Zeit hineinzustellen" sei.26) Erst die bekannte Arbeit Karl Jaegers, welche eine fachliche Ausdehnung der Zeitungswissenschaft zu einer generellen publizistischen Wissenschaft postuliert, enthält die deutliche Forderung, daß das Fach, soweit es sich mit der Presse befaßt, gleichermaßen Flugblatt, Zeitung, Zeitschrift, Jahrbuch und Kalender in die Erörterungen einzubeziehen habe.27) Als Folge dieser von Leipzig ausgehenden Impulse bezog der am gleichen Ort lehrende Walter Schöne schon die Betrachtung der — wie er sie noch nannte — "Journale" in das wissenschaftliche Konzept des Faches e i n . 2 8 ) Etwa zu dieser Zeit trat der — bereits erwähnte — fachliche Außenseiter Joachim Kirchner mit seinen ersten grundlegenden Forschungen zum Zeitschriftenwesen an die Öffentlichkeit.29) Im gleichen Jahr wie Kirchner publizierte der an der Leipziger Handels-Hochschule lehrende Gerhard Menz eine wirtschaftshistorisch orientierte Studie über die Zeitschrift.30) Aber erst mit Ernst Herbert Lehmann erhielt diese Forschungsrichtung eine spürbare Erweiterung und Systematisierung, welche den künftigen Weg wies. Lehmann vertrat konsequent die Auffassung, "daß die Zeitschrift eine eigengesetzliche Erscheinung innerhalb der Publizistik" darstelle.3D Im Oktober 1932 verfaßte Lehmann dann einen Plan, im Hinblick auf die wachsende Bedeutung der Periodica im Kommunikationsprozeß eine spezielle Zeitschriften-Forschungsstätte zu schaffen,32) wogegen sich einige Zeitungswissenschaftler, darunter Josef H. Krumbach,33) wandten. Unter den veränderten politischen Konstellationen gelang es schließlich Lehmann 34) und Gerhard Menz, in Leipzig und Berlin Zeitschriften-Forschungsabteilungen innerhalb der jeweiligen zeitungswissenschaftlichen Universitätsinstitute zu etablieren. Es war damit, wie Lehmann schreibt, "die Möglichkeit geschaffen worden,. . . das eigengesetzliche publizistische Mittel 'Zeitschrift' besonders eingehend zu studieren".35)

26) Erich Everth: Zeitungskunde und Universität, Jena 1927, S. 13. 27) Karl Jaeger: V o n der Zeitungskunde zur publizistischen Wissenschaft, Jena 1926, S. 6 6 . 28) W(alter) Schöne: Die Zeitung und ihre Wissenschaft, Leipzig 1928, S. 109 f f . 29) Vgl. Joachim Kirchner: Die Grundlagen des deutschen Zeitschriftenwesens. Mit einer Gesamtbibliographie der deutschen Zeitschriften bis z u m Jahre 1790, 2 Teile, Leipzig 1 9 2 8 - 1 9 3 1 . 30) V g l . Gerhard Menz, a.a.O. 31) Ernst Herbert L e h m a n n : Einführung in die Zeitschriftenkunde, Leipzig 1936, S. 11. 32) V g l . Ernst Herbert Lehmann: Die Bedeutung eines deutschen Forschungsinstituts für Zeitschriftenkunde, in: 'Die Zeitschrift' (Berlin), 35. Jg./1933, S. 2 f f . 33) V g l . Joseph H. K r u m b a c h : Grundfragen der Publizistik, Berlin 1935, S. 1 6 4 - 1 6 7 , 251. 34) V g l . Ernst Herbert Lehmann: Die neue Abteilung Zeitschriftenwesen, in: 'Mitteilungen des Deutschen Instituts für Zeitungskunde Berlin', Nr. 21 /Juli 1934, S. 8 f . 35) Ernst Herbert Lehmann: E i n f ü h r u n g . . . , a.a.O., S. 13; vgl. die K r i t i k an der Zeitschriftenkunde bis 1 9 4 5 bei Hans Bohrmann/Peter Schneider: Zeitschriftenforschung, Berlin 1 9 7 3 (in V o r b . ) .

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Während des Zweiten Weltkrieges stagnierte die zeitschriftenrelevante Forschung ebenso wie die allgemeine wissenschaftliche. Lediglich in Münster arbeitete Hubert Max vertieft auf diesem Gebiet und habilitierte sich am 4. März 1940 m i t einer zeitschriftenkundlichen Untersuchung.36) Nach der deutschen Kapitulat i o n dauerte es einige Zeit, bis publizistikwissenschaftliche Forschung wieder betrieben werden konnte. Der 1946 nach Münster berufene Walter Hagemann bezog die Zeitschrift sozusagen natürlich in seine theoretische Grundlagenstudie zur Publizistikwissenschaft ein 37) u n c j trat einige Jahre später auch selbst forschend auf dem Zeitschriftensektor hervor.38) In München setzte Karl d'Ester sein Bemühen f o r t , verschiedene Dissertationen über Zeitschriftenprobleme zu vergeben,39) doch arbeitete er selbst nur noch selten auf diesem Gebiet. Emil Dovifat, der 1948 an die Freie Universität Berlin berufen wurde, offerierte wiederholt Lehrveranstaltungen zum Problemkreis und edierte zusammen mit dem von ihm geleiteten Institut für Publizistik drei Nachschlagewerke, in denen dem Zeitschriftenwesen breiter Raum gewidmet wurde.40) A m weitaus produktivsten in Lehre und Forschung auf dem Gebiet der Zeitschriftenforschung nach 1945 war indes Wilmont Haacke, der an der Universität Göttingen fortlaufend Vorlesungen, Seminare, Übungen und Colloquien zur Geschichte der Zeitschrift und ihrer gegenwärtigen Situation veranstaltete 41) und mehrere Publikationen zum Thema vorlegte. 42) Bevor ein historisch-systematischer Überblick über die Etappen der Zeitschriftenentstehung gegeben werden kann, muß man sich im Vorfeld auch noch m i t der Frage befassen, wie es u m die Begriffsgeschichte steht. Die früheste Verwendung des Wortes Zeitschrift war lange Zeit umstritten. Sowohl das Grimm'sche 'Deutsche Wörterbuch -43) als auch Hermann Paul 44) geben Gottfried August Bürger als Schöpfer des Begriffes an; Bürger verwandte die Bezeichnung in einem Vorbericht zur Übersetzung von Homers 'llias' in dem 'Journal von und für Deutschland'. Vor einigen Jahren machte Hansjürgen Koschwitz jedoch die Feststellung, wonach "die bislang gültige These, daß Gottfried August Bürger das Wort Zeit36) Institut für Publizistik der Universität Münster (Hrsg.): a.a.O., S. 14; Titel der Habil.-Schrift von Hubert Max: Wesen und Gestalt der politischen Zeitschrift, Essen 1942. 37) Vgl. Walter Hagemann: Grundzüge der Publizistik, Münster 1947, S. 186 f. 38) Vgl. Walter Hagemann (Hrsg.): Die deutsche Zeitschrift 1949/50. Untersuchung von Form und Inhalt, Münster 1950 (hekt. vervielf.). 39) Vgl. die Arbeiten z.B. in der Publikation von Volker Spieß: Verzeichnis deutschsprachiger Hochschulschriften zur Publizistik, 1885—1967, Berlin — München 1969. 40) Vgl. Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin (Hrsg.): Die deutsche Presse 1954 (bzw. 1956, bzw. 1961). Zeitungen und Zeitschriften, Berlin 1954, 1956, 1961. 41) Vgl. Institut für Publizistik der Georg-August-Universität (Hrsg.): Das Studium der Publizistikwissenschaft in Göttingen, Göttingen o.J. (1967), S. 15 f f . 42) Vgl. u.a. von Wilmont Haacke: Die Zeitschrift — Schrift der Zeit, Essen 1961. 43) Jakob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, Leipzig 1956, Sp. 572. 44) Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch, 5. Aufl., Tübingen 1966, S. 823, Sp. 1.

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schritt in die deutsche Sprache einführte, beziehungsweise neu einbürgerte,.. . der K o r r e k t u r " bedarf.45) Denn "mehr als drei Jahrzehnte zuvor wurde Zeitschrift bereits als Gattungsname in eindeutig modernem Sinne verwandt. . . Der vermutlich erste Nachweis für das Wort Zeitschrift — gleichbedeutend m i t Periodikon — datiert aus dem Jahre 1751 ".46) | n den 'Oeconomischen Nachrichten' des betreffenden Jahrganges wird von der "Nutzbarkeit derer Zeit Schriften" gesprochen, bald ist sogar von "einer besondern periodischen Zeit-Schrift" die Rede, und ein Jahr später bezeichnet sich das Blatt schon selbst als "Zeits c h r i f t " / ^ ) — ein Begriff, der sich allerdings erst wesentlich später, " i m letzten Viertel des 18. J a h r h u n d e r t s " , 4 8 ) durchzusetzen begann. Ein grundsätzliches Problem stellt die Frage dar, ob und inwieweit nach welchen Kriterien die Zeitschriftengeschichte als Teil der allgemeinen Pressegeschichte zu Periodisierungen 49) neuerer A r t führen kann und soll. Denn gerade für die Publizistik-Historiographie müssen nicht notwendigerweise die aus der Profan-Geschichtsschreibung stammenden Zäsurbildungen einleuchtend sein.50) Vielmehr gibt es einige spezifische zeitliche Einteilungskriterien für eng pressebezogene und demnach aus den publizistischen Objekten heraus zu begreifende Periodisierungsbildungen. Einen solchen Versuch, bestimmte Zäsurensetzungen in der Zeitschriftengeschichte zu ermitteln, hat beispielsweise Margot Lindemann unternommen. Sie teilt indes nur in die zwei Grobraster: (a) " A n f a n g der deutschsprachigen Z e i t s c h r i f t " ^ ) und (b) " v o n der 'Gelehrten Zeitung' zur F a c h z e i t s c h r i f t " . ^ ) Nach diesen beiden Merkmalen wird der Stoff bearbeitet, wobei es bisweilen schwierig wird, gewisse typologische Charakteristika ausschließlich mit einem bestimmten Zeitschriftentypus zu identifizieren. Gerade die frühe Zeit zeigt nämlich, wie Lindemann hervorhebt, die "bisher noch wenig beachtete Verbindung zwischen Zeitung und Z e i t s c h r i f t " . 5 3 ) Diese These wird durch neuerliche Publikationen aus der Deutschen Presseforschung zu Bremen bestätigt.54)

45) Hansjürgen Koschwitz: Der früheste Beleg für das Wort 'Zeitschrift', in: 'Publizistik' (Konstanz), 13. Jg./Heft 1 (Januar-März 1968), S. 41. 46)

Daselbst.

47) Z i t . daselbst, S. 42. 48) Joachim Kirchner, a.a.O., Teil I, S. 95. 49) Vgl. allgemein z u m Problem Johann Jacob Hendrik van den Pot: De Periodesering der Geschiedenis. Een Overzicht der theorieen, s'Gravenhage 1951. 50) Vgl. derartige Überlegungen in der Rezension von Heinz-Dietrich Fischer: Margot Lindemann, Deutsche Presse bis 1815, in: 'Historische Zeitschrift' (München), Jg. 1973. 51) Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815, Berlin 1969, S. 187 f. 52) Daselbst, S. 188 f f . 53) Daselbst, S. 188. 54) Vgl. Else Bogel/Elger Blühm (Bearb.): Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis m i t historischen u n d bibliographischen Angaben, 2 Bde., Bremen 1971.

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E i n e n d i f f e r e n z i e r t e r e n Weg w ä h l t e b e r e i t s v o r m e h r als e i n e m J a h r z e h n t G ü n t e r K i e s l i c h . S e i n e r S t a m m t a f e l der d e u t s c h e n Z e i t s c h r i f t legte e r d i e s y n c h r o n o p t i sche S i c h t w e i s e z u g r u n d e u n d stellt p r o Z e i t r a u m j e w e i l s ganz b e s t i m m t e Z e i t s c h r i f t e n t y p e n f ü r eine der v o n i h m e n t w i c k e l t e n f ü n f E p o c h e n z e n t r a l . 5 5 ) Z u d e n V o r l ä u f e r n d e r Z e i t s c h r i f t ( 1 5 0 0 — 1 6 8 0 ) r e c h n e t K i e s l i c h u.a. K a l e n d e r , 5 6 ) Flugschriftensammlungen,57) sowie Meßrelationen.58) Eine zweite E p o c h e ( 1 6 8 0 — 1 7 0 0 ) w i r d geprägt von d e n historisch-politischen

Monatsschriften,59)

d e m T y p u s der w i s s e n s c h a f t l i c h e n U n i v e r s a l z e i t s c h r i f t 6 0 ) sowie v o n d e n sich hieraus e n t w i c k e l n d e n wissenschaftlichen Fachzeitschriften.61) Der Z e i t r a u m zwischen 1 7 0 0 u n d 1 8 0 0 w i r d — nach Kieslich — e i n d e u t i g b e s t i m m t v o n d e n s o g e n a n n t e n M o r a l i s c h e n W o c h e n s c h r i f t e n , 6 2 ) aus d e n e n s i c h i m L a u f e d e r Z e i t die T y p e n der Familien-63)# Frauen-64)f Kinder- u n d Jugend-65) sowie der Mo-

55) Günter Kieslich: Stammtafel der deutschen Zeitschrift, in: W i l m o n t Haacke, a.a.O., S. 256. 56) Vgl. Horst W e s t h o f f : Das deutsche Kalenderschrifttum. Seine Geschichte, Gestalt u n d publizistische Bedeutung, phil. Diss. Berlin 1941 (Masch.Schr.); F r i d M u t h : Das Wesensgefüge der deutschen Zeitschrift. Versuch einer Vorgeschichte der deutschen Zeitschrift, Würzburg 1938, S. 21 f f . 57) Vgl. Hermann Klöss: Publizistische Elemente im frühen Flugblatt ( 1 4 5 0 — 1 550), phil. Diss. Leipzig 1943 (Masch.Schr.). 58) Vgl. Felix Stieve: Über die ältesten halbjährigen Zeitungen oder Messerelationen u n d insbesondere über deren Begründer Freiherrn Michael von A i t z i n g , München 1881. 59) Vgl. Ingeborg Salzbrunn: Studien z u m deutschen historischen Zeitschriftenwesen von der Göttinger A u f k l ä r u n g bis zur Herausgabe der 'Historischen Z e i t s c h r i f t ' (1859), phil. Diss. Münster 1968, S. 17 f f . 60) Vgl. Joachim K i r c h n e r : Z u r Entstehungs- u n d Redaktionsgeschichte der ' A c t a E r u d i t o r u m ' , in: ' A r c h i v für Buchgewerbe' (Leipzig), Heft 4 / 1 9 2 8 (= Pressa-Heft), S. 75 f f . 61) Vgl. Gerhard Menz: Fachzeitschriften, in: Walther Heide (Hrsg.): Handbuch der Zeitungswissenschaft, Bd. 1, Leipzig 1940, Sp. 9 5 6 — 9 6 1 . 62) Vgl. aus der Fülle der Literatur z.B. die Überblicksarbeiten von Ernst Milberg: Die deutschen moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte, phil. Diss. Leipzig 1880; Walter O b e r k a m p f : Die zeitungskundliche Bedeutung der moralischen Wochenschriften. Ihr Wesen u n d ihre Bedeutung, phil. Diss. Leipzig 1934; Hanno Langenohl: Der pädagogische Gehalt der deutschen moralischen Wochenschriften in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, phil. Diss. Münster 1962. 63) Vgl. Eva-Annemarie Kirschstein: Die Familienzeitschrift. Ihre E n t w i c k l u n g u n d Bedeutung für die deutsche Presse, phil. Diss. Leipzig 1936. 64) Vgl. Hugo Lachmanski: Die deutschen Frauenzeitschriften des 18. Jahrhunderts, phil. Diss. Berlin 1 9 0 0 ; Francis Ising: E n t w i c k l u n g u n d Wandlung des Typs der Frauenzeitschrift. V o n den Anfängen bis heute. Mit einer Gesamtbibliographie, phil. Diss. Münster 1943. 65) Vgl. Fritz Sellmeyer: Die Entwicklungsgeschichte der Jugendzeitschrift u n d ihre Gestaltung in der sozialdemokratischen, kommunistischen und nationalsozialistischen Jugendbewegung, phil. Oiss. Heidelberg 1937. 18

d e z e i t s c h r i f t e n 6 6 ) h e r a u s b i l d e t e n . H i n z u k a m i n dieser E p o c h e das E n t s t e h e n der literarisch-kritischen bzw. literarisch-poetischen Zeitschriften m i t ihren Sondererscheinungen für Theater,67) Literatur 68) u n d Kunst.69) E i n e w e i t e r e D i f f e r e n z i e r u n g des d e u t s c h e n Z e i t s c h r i f t e n w e s e n s s e t z t e a b e t w a 1 8 0 0 e i n u n d h a t t e i m V e r l a u f eines J a h r h u n d e r t s g r a v i e r e n d e U m s c h i c h t u n g e n in der gesamten Landschaft der P e r i o d i k a zur Folge.70) Neben die fortbesteh e n d e n T y p e n g e s e l l t e n sich i m m e r m e h r Z e i t s c h r i f t e n , d i e sich p o l i t i s c h - g e s e l l s c h a f t l i c h e n F r a g e s t e l l u n g e n v e r s c h r i e b e n . Es e n t s t a n d e n z a h l r e i c h e k o n f e s s i o nelle B l ä t t e r , ? D dazu traten W i r t s c h a f t s p e r i o d i k a 72)

u n

d — spätestens u m d i e

J a h r h u n d e r t m i t t e — p a r t e i p o l i t i s c h a u s g e r i c h t e t e Z e i t s c h r i f t e n . 7 3 ) H i n z u kamen i m gleichen Z e i t r a u m politisch-satirische 74) sowie humoristische 75)

U

nd

schließlich auch illustrierte Z e i t s c h r i f t e n 76) verschiedenster A r t e n . Seit Beginn des 2 0 . J a h r h u n d e r t s s c h l i e ß l i c h k o m m e n eine g r ö ß e r e A n z a h l v o n S t a n d e s - u n d

66) Vgl. Lore Krempel: Die deutsche Modezeitschrift. Ihre Geschichte u n d Entwicklung nebst einer Bibliographie der deutschen, englischen u n d französischen Modezeitschriften, phil. Diss. München 1935. 67) Vgl. Wilhelm Hill: Die deutschen Theaterzeitschriften des 18. Jahrhunderts, phil. Diss. Greifswald 1915. 68) Vgl. Lisi Grüssen: Die deutsche Zeitschrift als Ausdrucksmittel der Literaturströmungen. Deutung des Werdens der deutschen Literaturzeitschrift vom Humanismus bis z u m deutschen Idealismus, phil. Diss. München 1938. 69) Vgl. Ernst Herbert Lehmann: Die Anfänge der Kunstzeitschrift in Deutschland, phil. Diss. Leipzig 1932. 70) Vgl. allgemein zur Entwicklung Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte u n d seine Probleme, 2 Teile, Wiesbaden 1 9 5 8 — 1 9 6 2 ; Heinrich W u t t k e : Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung, 3. A u f l . , Leipzig 1875, insbes. S. 6 7 - 9 0 , 251 f f . 71) Vgl. Focko Lüpsen: Evangelische Zeitschriften, in: Emil Dovifat (Hrsg.): Handbuch der Publizistik, Bd. 3, Berlin 1969, S. 4 8 7 - 4 9 5 ; O t t o B. Roegele/Hans Wagner: Die katholische Presse in Deutschland, daselbst, S. 4 9 6 — 5 0 7 ; Hermann Lewy: Die jüdische Presse in Deutschland, daselbst, S. 5 0 8 — 5 1 3 . 72) Vgl. Helmut Grossmann: Die 'Schlesischen Provinzialblätter' von 1785 bis 1849 u n d ihre Bedeutung als Wirtschafts-Zeitschrift, rechts- u n d staatswiss. Diss. Breslau 1924. 73) Vgl. K u r t Koszyk: Deutsche Presse i m 19. Jahrhundert, Berlin 1966, m i t zahlreichen bibliogr. Weiterverweisungen; Hubert Max, a.a.O.; W i l m o n t Haacke: Die politische Zeitschrift 1 6 6 5 — 1 9 6 5 , Bd. 1, Stuttgart 1968; W i l m o n t Haacke: Erscheinung u n d Begriff der politischen Zeitschrift, Tübingen 1968. 74) Vgl. Gertraud Kaup: Die politische Satire in München von 1848 bis 1871. M i t einer Bibliographie der politisch-satirischen Zeitschriften in München von 1 8 4 8 — 1 9 0 0 , phil. Diss. München 1938. 75) Vgl. Christian Gehring: Die E n t w i c k l u n g des politischen Witzblattes in Deutschland. Beiträge zu seiner Geschichte, phil. Diss. Leipzig 1929. 76) Vgl. Ernst Herbert Lehmann: " I l l u s t r i e r t e " , in: Walther Heide (Hrsg.): Handbuch der Zeitungswissenschaft, Bd. 2, Leipzig 1942, Sp. 1 7 7 5 — 1 7 9 7 ; Eberhard Seifert: Die E n t w i c k l u n g der 'Illustrierten Zeitung' Leipzig v o n 1843 bis 1906, phil. Diss. Leipzig 1942. 19

B e r u f s z e i t s c h r i f t e n , 7 7 ) die sich immer mehr differenzierende Fachzeitschriftenpresse 78) und auch das sozialpolitische Instrument der Werkzeitschriften 79) — um nur einige zu nennen — zu der bereits existierenden Typenvielfalt hinzu.

Obwohl Abgrenzungskriterien zwischen Zeitung und Zeitschrift bisweilen fließend sind und daher gerade die nachträgliche zahlenmäßige Erfassung aller Periodika früherer Jahrhunderte kaum zu leisten ist, so hat sich — im Zuge der durch Ernst Herbert Lehmann angeregten Schwerpunktforschung auf dem Sektor des Zeitschriftenwesens — Erich Lorenz der mühevollen Aufgabe unterzogen, eine Statistik der deutschen Zeitschriftenpublikationen seit etwa 1700 zu erstellen. Obwohl die einzelnen Ziffern bisweilen cum grano salis betrachtet werden sollten, so enthält diese statistische Aufgliederung der Zeitschriftentitel 80) nach 1700 doch mancherlei interessante Aufschlüsse;81) 1700 1710 1720 1730 1740 1750 1760 1770 1780 1790 1826 1848 1858 1867 1875 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1897 1898

58 Zeitschriften 64 119 133 176 260 331 410 718 1225 371 688 845 1217 1961 2727 2980 3202 3441 3536 3742 3829 4033 4327 4571 4702 Zeitschriften

1900 1901 1903 1905 1907 1909 1910 1911 1913 1914 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1934

5131 Zeitschriften 5545 5717 5715 5747 5861 6042 6178 6689 6421 3886 4552 4967 4802 3734 5061 6127 6739 6870 7116 7303 7475 7652 7284 6288 Zeitschriften

77) Vgl. Gerhard Menz: Berufsständische Presse, in: Walther Heide (Hrsg.): Handbuch. . ., Bd. 1, a.a.O., Sp. 532-537. 78) Vgl. Gerhard Menz: Fachzeitschriften, in: Walther Heide (Hrsg.): Handbuch. . ., a.a.O., S. 956—961; Josef Stollbrock: Das reichsdeutsche Fachzeitschriftenwesen (1914—1922), phil. Diss. Marburg 1923; Peter Lorch: Die Fachzeitschrift, in: Emil Dovifat (Hrsg.): Handbuch. . ., Bd. 3, a.a.O., S. 459-464. 79) Vgl. Winfried B. Lerg: Die deutschen Werkzeitschriften, in: 'Publizistik' (Bremen), 2. Jg./Heft 6 (November-Dezember 1957), S. 3 4 7 - 3 6 5 ; Dieter Hinze: Die deutsche Werkzeitschrift. Wesen, Entwicklung, Aufgaben, wirtsch.- und sozialwiss. Diss. (FU) Berlin 1956.

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Die Statistik zeigt, daß im Zeitraum des Entstehens der Untersuchung das deutsche Zeitschriftenwesen — bedingt durch die gewollten Konzentrationsmaßnahmen und das Einschränken von Zeitungs- und Zeitschriftenneugründungen im Dritten Reich — zum ersten Male seit langem wieder zahlenmäßig abnahm. Die zeitweilige Stagnation wurde 1938 geringfügig beseitigt, indem durch die "Angliederung" Österreichs die Anzahl der Zeitschriften im Großdeutschen Reich wieder etwas anstieg.82) Die letzte amtliche Statistik der Reichspressekammer vom Oktober 1944 nannte für das Zeitschriftenwesen diese Zahlen: während es 1939 noch 4789 Periodika gegeben hatte, war diese Ziffer bis Ende 1944 auf 458 Titel abgesunken, was nur noch 9,5% des Bestandes von 1939 entsprach.^) Wegen dieser geringen Stückzahl hielt Max Amann einen noch existierenden 'Reichsverband Deutscher Zeitschriftenverleger' nicht mehr für erforderlich. Er wurde aufgelöst und ab Herbst 1944 zu einer Unterabteilung des 'Reichsverbandes der Deutschen Zeitungsverleger e.V.' gemacht; dieser gliederte das noch vorhandene Zeitschriftenpotential nach inhaltlichen Gesichtspunkten neu.84) Gegen Ende des Krieges sank die Anzahl der Zeitschriften auf wenige Titel ab, die zum Teil noch bis Ende April 1945 herauskamen. Das im alliierten Gesetz Nr. 191 nach 1945 zunächst verhängte Totelverbot für publizistische Betätigung durch Deutsche 85) schloß Zeitungen und Zeitschriften gleichermaßen e i n . 8 6 ) Als dann schließlich am 12. Mai 1945 die 'Nachrichten-Kontrollvorschrift Nr. 1' in Kraft trat und ein schriftliches Genehmigungsverfahren für das Betreiben von Periodika durch Deutsche v o r s a h , 8 7 ) war von nun an in allen vier Besatzungszonen gleichermaßen die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften auf der Basis einer Lizenz möglich. Über die exakte Anzahl der in der Lizenzperiode zwischen 1945 und 1949 gegründeten und zum Teil wieder eingegangenen Zeitschriften gibt es nur grobe Orientierungsw e r t e . 8 8 ) Auch eine Untersuchung des Instituts für Publizistik der Universität 80) Über die Problematik von Zeitschriftenbenennungen vgl. die aufschlußreiche Studie von Joachim Matysiak: Die publizistische und kulturgeschichtliche Bedeutung der deutschen Zeitschriftentitel. Ihre Entwicklung seit den Anfängen des Journalwesens bis zum Jungen Deutschland, phil. Diss. (FU) Berlin 1955 (Masch.Schr.). 81) Erich Lorenz: Die Entwicklung des deutschen Zeitschriftenwesens. Eine statistische Untersuchung, Charlotten bürg 1937, S. 28. 82) Vgl. zur Aufgabenbestimmung in dieser Zeit Ernst Herbert Lehmann: Die deutsche Zeitschrift im politischen Kampf, Leipzig 1938. 83) (Fritz Schmidt): Presse in Fesseln. Eine Schilderung des NS-Pressetrusts, Berlin 1947, S. 182; vgl. auch Ernst Herbert Lehmann: Die Zeitschrift im Kriege, Berlin — Charlottenburg 1939. 84) (Fritz Schmidt), a.a.O., S. 212 f f . 85) V g l . ' A m t s b l a t t der Militärregierung Deutschland', No. 3, o.O., o.J. (1945), S. 36 f. 86) Vgl. zur Rechtsbasis allgemein Heinz-Dietrich Fischer: Parteien und Presse in Deutschland seit 1945, Bremen 1971, S. 34 f f . 87) Vgl. 'Amtsblatt der Militärregierung', No. 5, a.a.O., S. 69 f. 88) Vgl. den allgemeinen Überblick in: Handbuch der Lizenzen Deutscher Verlage. Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage, Berlin 1947, sowie: Lizenzen-Handbuch Deutscher Verlage 1949. Zeitungen, Zeitschriften, Buchverlage, Berlin 1949.

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Münster aus dem Zeitraum 1949/50 erbrachte mehr typologische und inhaltsbestimmende Erkenntnisse alseinen korrekten Gesamtüberblick.89) Allerdings enthält das 1947 und seit 1949 jährlich erschienene Nachschlagewerk von Willy Stamm 90) g U te Orientierungsziffern für den gesamten Nachkriegszeitraum. Darin sind jeweils zusammenfassend Zahlen sowohl über die drei Westzonen bzw. die spätere BRD als auch für die Sowjetzone bzw. die spätere DDR enthalten. Die erste wissenschaftlich exakte und umfassende Zeitschriftenuntersuchung der Nachkriegszeit, die über ein bloßes Reihen und Zählen der Titel hinausgelang1 te, legte das Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin in den frühen fünfziger Jahren vor. Danach existierten im Zeitraum 1953/54 in Deutschland insgesamt 5.238 Zeitschriften, von denen 4.884 auf die Bundesrepublik und West-Berlin sowie 304 auf die DDR entfielen.91) Bei einer zwei Jahre später vorgenommenen Untersuchung gleicher A r t wurden für die Bundesrepublik und West-Berlin zusammen 5.630 Zeitschriften verzeichnet, was einem Neuzugang von über 15% gegenüber dem vorangegangenen Erhebungszeitraum e n t s p r a c h . 9 2 ) Im gleichen Zeitraum war die Zeitschriften-Anzahl der DDR auf 492 Titel, also um rund 60 Prozent, angestiegen.93) Etwa parallel hierzu ermittelte das Institut für Publizistik der Universität Münster zusammen "5.784 in Originalen vorliegende Titel" für die BRD, West-Berlin und die DDR.94) Nach Angaben des 'Presseamtes beim Ministerpräsidenten' erschienen Anfang 1959 insgesamt 545 Zeitschriften in der DDR.95) Eine wiederum vom Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin zu Beginn der sechziger Jahre durchgeführte Erhebung ermittelte für die BRD und West-Berlin 6.482 Zeitschriftentitel, außerdem 587 aus der DDR.96) Seitdem sind keine Detailuntersuchungen dieser A r t mehr unternommen worden. Das Nachschlagewerk von Stamm gab für 1973 beispielsweise "10.066 Fach- und Unterhaltungszeitschriften sowie sonstige wenigstens einmal jährlich erscheinende Veröffentlichungen in def Bundesrepublik Deutschland und 680 in der Deutschen Demokratischen Republik" an. 97) 8 9 ) V g l . Walter Hagemann (Hrsg.): Die deutsche Zeitschrift 1 9 4 9 / 5 0 . Eine Untersuchung von F o r m und Inhalt, Münster 1 9 5 0 (hekt. verv.). 9 0 ) V g l . Willy S t a m m (Hrsg.): Leitfaden für Presse und Werbung, Essen 1 9 4 7 , 1 9 4 9 f f . 91)

Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin (Hrsg.): Die Deutsche Presse 1 9 5 4 . . . , a.a.O., S. 8 7 * .

92)

Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin (Hrsg.): Die Deutsche Presse 1 9 5 6 . . „ a . a . O . , S. 1 1 1 * f., 1 3 9 * .

93)

Daselbst, S. 1 5 9 * .

9 4 ) Walter Hagemann (Hrsg.): Die deutsche Zeitschrift der Gegenwart, Münster 1 9 5 7 , S. 15. 95)

E(lisabeth) M. Herrmann: Zur Theorie und Praxis der Presse in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Berlin 1 9 6 3 , S. 58.

96)

Institut für Publizistik der Freien Universität Berlin (Hrsg.): Die Deutsche Presse 1 9 6 1 . . . , a.a.O., S. 3 4 * , 6 0 * .

9 7 ) Willy S t a m m (Hrsg.): Leitfaden. . ., Essen 1 9 7 3 , S. 5.

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A l l diese Z i f f e r n v e r m ö g e n indes nur sehr w e n i g über die B i n n e n s t r u k t u r des deutschen Z e i t s c h r i f t e n w e s e n s auszusagen, d e n n in der rein statistischen Erfassung gelten — gemäß der D e f i n i t i o n v o n Walter Hagemann — als Z e i t s c h r i f t e n g r u n d s ä t z l i c h " p e r i o d i s c h e D r u c k w e r k e , die in höchstens v i e r t e l j ä h r l i c h e m R h y t h m u s erscheinen u n d deren S c h w e r p u n k t n i c h t auf der V e r b r e i t u n g a k t u ellen u n d universellen N a c h r i c h t e n s t o f f e s l i e g t " . 9 8 ) Hagemann ging sodann " v o n der Frage aus, welche i n d i v i d u e l l e n u n d gesellschaftlichen F u n k t i o n e n d i e Z e i t s c h r i f t e r f ü l l e n k a n n " u n d gelangte zu dieser E i n t e i l u n g des d e u t s c h e n Z e i t s c h r i f tenwesens;99) " 1 .Die Fachpresse: Diese Gruppe der Zeitschriften will dem Einzelmenschen bei der Ausübung seines Berufes helfen, sei er nun Hand- oder Kopfarbeiter, handele es sich um individuelle oder Team-Arbeit. Die Fachpresse ist für den arbeitenden Menschen ein stets gegenwärtiger Lehrer, ein ihn ständig begleitendes Lehrbuch, das ihm alle neuen Erkenntnisse, Verfahren, Vorgänge auf seinem Fachgebiet in belehrender oder informierender Form mitteilt oder in die Erinnerung ruft und ihn dadurch auf der Höhe seiner fachlichen Leistung hält. Diesen Begleiter braucht der Handwerker wie der Gelehrte, der Arzt wie der Techniker. Je anspruchsvoller die berufliche Leistung, desto wichtiger die ständige Verfolgung der Fachprobleme in einer gutgeleiteten Fachzeitschrift. Diese Lektüre ist gleichsam Ergänzung und Fortsetzung der Berufsausübung, die Ordnung der Sammlung der Nummern und Jahrgänge schenkt ihm ein Lehrbuch von manchmal dauerndem Wert. 2. Die Standes- und Verbandspresse: Jeder Mensch gehört durch Geburt und Tradition zu den natürlichsten Ordnungen des Alters und Geschlechts, zu religiös-weltanschaulichen, nationalen und kommunalen Gemeinschaften. Dazu treten in der modernen Industriegesellschaft zahlreiche freie Sozialgebilde wie politische Gruppen und Parteien, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände, Genossenschaften, Kameradschafts- und Geselligkeitsverbände. Sie alle bedürfen der Kommunikationsmittel zur Integration, Aussprache, Verteidigung und Werbung. Die Standes- und Verbandszeitschriften dürfen nicht verwechselt werden mit den Fachzeitschriften der eigentlichen Berufsausübung, wenn auch manche von ihnen nebenher verbandspolitische Funktionen erfüllen. 3. Die Freizeitzeitschriften: Diese dritte Hauptgruppe umfaßt alle jene Periodika, mit denen sich der Leser unabhängig von Beruf, Stand und Organisation in seiner Freizeit beschäftigt. Verschieden wie die geistigen Bedürfnisse und Ansprüche der Leser sind diese Zeitschriften, zu denen die anspruchslosen illustrierten Blätter ebenso zu rechnen sind wie die anspruchsvollen Kulturzeitschriften. In dieser Gruppe finden wir die Zeitschriften mit den höchsten Auflagen und der größten Vielfalt des Inhalts, wenn auch keine von ihnen die Aktualität und Universalität der Zeitungen erreicht oder erstrebt. Auch die politischen Zeitschriften gehören zu dieser Gruppe, soweit es sich nicht um Führungs- und Funktionärsorgane, also um Fachblätter bestimmter Parteien und Verbände handelt. Nicht erfaßt sind in diesen drei Hauptgruppen jene Zeitschriften, die primär nicht im Interesse des Lesers, sondern des Herstellers herausgegeben werden: die Kundenzeitschriften und die reinen Anzeigenblätter. Ihre Hersteller sind bestrebt, ihren Veröffentlichungen den Charakter von Unterhaltungs-oder Fachzeitschriften zu geben, damit sie in den Tagesrhythmus des Umworbenen Eingang finden und dort ihre Wirkung tun können."

98) Walter Hagemann (Hrsg.): Die deutsche Zeitschrift der Gegenwart, a.a.O., S. 8. 99) Daselbst, S. 9. 23

Hinzu kämen dann noch die sich als "Wochenblätter" bezeichnenden Periodika. Auf der Basis dieser typologischen Vorüberlegungen Hagemanns führte das Institut für Publizistik der Universität Münster die bereits erwähnte Zeitschriftenuntersuchung des Jahres 1956 durch. Die im Erhebungszeitraum ermittelten 5.259 deutschen Zeitschriften der Bundesrepublik und West-Berlins teilten sich nach den fünf "soziologisch-typologischen Gliederungen" Hagemanns folgendermaßen auf: 100) (1) (2) (3) (4) (5)

Standes- und Verbandszeitschriften Fachzeitschriften (und "Amtsblätter") Freizeitzeitschriften Werk- und Kundenzeitschriften "Wochenblätter"

2 185 Titel . . . . 1 737 Titel 598 Titel 565 Titel 174 Titel.

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die Differenzierung der Erscheinungsweise dieser 5.259 Zeitschriften: 63 kamen "weniger als einmal wöchentlich" heraus, 658 erschienen "einmal wöchentlich", 30 "zehntägig", 651 "zweimal monatlich", 6 "dreiwöchentlich", 2.354 "monatlich", 396 "dreimonatlich" 4 1 8 "unregelmäßig" und 3 5 2 Zeitschriften waren "ohne A n g a b e " . 1 0 1 ) Die 5.259 Periodika wurden in 1.102 Fällen von "Einzelpersonen" herausgegeben, in 450 weiteren von "Herausgebergremien", 2.660 von "Verbänden", 272 von "amtlichen Behörden", 80 von "Ministerien", 695 waren "ohne Angabe". 102) Über die verschiedenen vor und nach 1945 unternommenen — zum Teil kaum untereinander vergleichbaren — Versuche, das deutsche Zeitschriftenwesen globalstatistisch zu beschreiben, darüber hat Wilbert Ubbens eine bemerkenswerte Problemdiskussion und Materialzusammenstellung vorgelegt. Generell stellt der Autor bei der Frage nach den bisherigen "Möglichkeiten einer umfassenden Zeitschriftenstatistik" fest, daß diese Versuche "scheiterten an (1.) der uneinheitlichen Definition von 'Zeitschrift', (2.) an der Unzulänglichkeit der statistischen Erhebungen und dadurch (3.) an dem Ungenügen der Fragenkataloge. Das Problem der nicht gelösten Definition von Zeitschrift muß", so fährt Ubbens fort, "zurückweisen auf die Divergenzen in ihrer Funktionsbestimmung. Wenn aber Funktion nur bestimmbar ist innerhalb eines publizistischen Prozesses, der nicht allgemein, sondern spezifisch wird geklärt werden können, so wird eine allgemeine Definition von Zeitschrift sinnleer bleiben müssen. Die Beschrän kung auf eine spezifische Zeitschriftengruppe wird eine optimale Analyse dieser Gruppe in ihren Funktionen für den Rezipienten erlauben. . . Die Analyse der Gesamtheit von Zeitschriften würde, soweit sich eine solche Gesamtheit 'Zeitschrift' überhaupt noch als möglich erweist, zurückgestellt werden müssen"103)-

100)

Walter Hagemann (Hrsg.): a.a.O., S. 17.

101)

Daselbst, S. 25.

102) 103)

Daselbst, S. 24. Wilbert Ubbens: Zeitschriftenstatistik. Zur globalstatistischen Beschreibung des deutschen Zeitschriftenmarktes, Berlin 1969, S. 26.

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Aus diesem Grunde finden sich, wenn über das Zeitschriftenwesen in der Bundesrepublik gearbeitet w i r d , nahezu ausschließlich entweder unklare Generalf o r m e l n 104) oder nur Ausschnitte aus d e m Gesamtspektrum an Zeitschriften. 105) Arbeiten m i t komparativen Aussagen über den Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt, wie sie beispielsweise Enno Dreppenstedt oder Hans M a r t i n Kirchner herausgebracht h a b e n , 1 0 6 ) s j n d Ausnahmen. Relativ häufiger ist eine Beschäftigung mit einigermaßen fest eingrenzbaren Zeitschriftengruppen festzustellen. Sieht man einmal von neueren A r b e i t e n zu bestimmten Fachperiod i k a - T y p e n 107) a b f so hat namentlich das Gebiet der literarischen,108) politischen 109) bzw. der politisch-literarischen Zeitschriften 110) bei einigen Forschern Berücksichtigung gefunden. A u c h konfessionelle Blätter erlangten zunehmendes Interesse der wissenschaftlichen Beschäftigung m i t ihnen.111) Eine beträchtliche Literatur findet sich bereits über das Problem der Schülerzeitschriften. 112) Entsprechend der zunehmenden Orientierung der Publizistikwissenschaft an ausgesprochenen /Wassenkommunikationsmitteln 113) sind seit einigen Jahren 104) 105)

106)

107) 108) 109)

110)

111)

112) 113)

Vgl. Ralf Zoll/Eike Hennig: Massenmedien und Meinungsbildung. Angebot, Reichweite, Nutzung und Inhalt der Medien in der BRD, München 1970, S. 34 f f . Vgl. Hermann Meyn: Massenmedien in der Bundesrepublik Deutschland, erg. Neuaufl., Berlin 1971, S. 51 bzw. Harry Pross (Hrsg.): Deutsche Presse seit 1945, Berlin - München - Wien 1965, S. 135 f f , 159 f f , 173 f f . Vgl. Enno Dreppenstedt: Der Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt, Hamburg 1969; Hans-Martin Kirchner: Die Zeitschrift am Markt. Wert und Bewertung, Frankfurt a.M. 1964. Vgl. z.B. Dietrich Büchner: Hauszeitschriften für Ärzte. Eine werbesoziologische Untersuchung zur Kommunikation zwischen Industrie und Medizin, Stuttgart 1968. Vgl. z.B. die kritisch-bibliographischen Arbeiten von Fritz Schlawe: Literarische Zeitschriften, Teil I: 1885-1910, Teil II: 1910-1933, Stuttgart 1961-1962. Vgl. z.B. die Arbeiten über Nachrichtenmagazine, etwa jene von Dieter Just: Der Spiegel. Untersuchungen zur redaktionellen Arbeitsweise, zum Inhalt und zur Wirkung eines deutschen Nachrichtenmagazins. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Deutschland-Berichterstattung, phil. Diss. Berlin 1965. Vgl. Harry Pross: Literatur und Politik. Geschichte und Programme der politischliterarischen Zeitschriften im deutschen Sprachgebiet seit 1870, Ölten — Freiburg i.Br. 1963; Eva Kolinsky: Engagierter Expressionismus. Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik. Eine Analyse expressionistischer Zeitschriften, Stuttgart 1970. Z.B. Gerhard E(ugen) Stoll: Die evangelische Zeitschriftenpresse im Jahre 1933, Witten 1963; Michael Schmolke: Die schlechte Presse. Katholiken und Publizistik zwischen 'Katholik' und 'Publik', 1 8 2 1 - 1 9 6 8 , Münster 1971. Vgl. z.B. Jan-Peter Hintz/Detlef Lange (Hrsg.): Schüler und ihre Presse, Berlin 1969, S. 17 f f . Nicht jede Zeitschrift ist automatisch auch alsMarcenmedium zu klassifizieren, obwohl dies häufig so geschieht. Eine Kleingruppen-Publikation mit geringer Auflage — bisweilen um die 100 Exemplare — kann zwar als Objekt publizistischer Forschung, als Medium, kaum jedoch als Massenmedium apostrophiert werden (vgl. zur Diskussion z.B. Gerhard Maletzke: Psychologie der Massenkommunikation. Theorie und Systematik, Hamburg 1963, S. 28 ff.).

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Untersuchungen gerade auf diesem Sektor zu finden. Innerhalb der Großkategorie 'Zeitschriften' richtete sich das Augenmerk besonders stark auf die hierunter fallenden massenhaft verbreiteten Publikumszeitschriften, die sogenannten "Illustrierten". 114) Hier kommt die relativ geringe Zahl ausgesprochener Massenzeitschriften den Forschungsintentionen sehr entgegen. Auf dem überblickbaren Terrain von rund einem halben Dutzend "Illustrierten" mit Großauflagen lassen sich deutliche Konturen forschungsmäßig ermitteln, etwa auch die Fragen der inhaltlichen Strukturen 115) d e s allgemeinen redaktionellen Angebotes 116) oder beispielsweise der kommunikativen Beziehungen zwischen Illustrierten und jugendlichen Rezipienten. 117) Über die vielfältigen Anpassungsmechanismen der illustrierten Zeitschriften gegenüber dem Markt generell und dem einzelnen Leser speziell haben bereits vor mehr als einem Jahrzehnt Usko/Schlichting interessante Zusammenhänge aufgezeigt und mit anschaulichem Beispielmaterial verdeutlicht. 118) Abgesehen von dem zitierten Beispiel der Analyse von jugendlichen Illustrierten-Lesern liegt das Gebiet der Zeitschriften-Rezipientenforschung allgemein sehr im argen, obgleich dies auf den ersten Blick anders zu sein scheint. Denn die seit 1954 tätige 'Arbeitsgemeinschaft Leseranalyse e.V.' hat sich zwar auch mit der Zeitschriftenleserschaft befaßt und einige Orientierungsziffern über die Media-Nutzung geliefert. Jedoch geschah dies — obwohl der Titel der Publikation 119) eine generelle Auskunft erhoffen läßt — nur auf einer relativ schmalen Basis, indem nämlich 41 fast ausschließlich zu den großen Publikumszeitschriften zählende Periodika im Hinblick auf ihre Beziehungen zur Leserschaft analysiert w u r d e n . 1 2 0 ) Allerdings ist sich die Arbeitsgemeinschaft selbst der Problematik derartiger Leserschaftsanalysen in Bezug auf deren Verständlich-

114)

Vgl. zur Vororientierung Marianne Büssemeyer: Deutsche illustrierte Presse. Ein soziologischer Versuch, phil. Diss. Heidelberg 1930; Ernst Herbert Lehmann: " I l l u s t r i e r t e " , in: Walther Heide (Hrsg.): Handbuch der Zeitungswissenschaft, a.a.O., Sp. 1 7 7 5 - 1 7 9 7 .

115)

Vgl. Horst Holzer: Selbstverständnis und Inhaltsstruktur aktueller Illustrierten — dargestellt an den Zeitschriften 'Quick', 'Revue' und 'Stern', staatswirtsch. Diss. München 1966, S. 74 f f .

116)

Vgl. Werner M e f f e r t : Beziehungen zwischen der Entwicklung des redaktionellen Angebots u n d der Entwicklung der Auflage von vier großen deutschen Illustrierten, 1954 bis 1960, phil. Diss. (FU) Berlin 1967, S. 61 f f .

117)

Vgl. Hans-Jürgen Ipfling: Jugend und Illustrierte. Pädagogisch-zeitungswissenschaftliche Untersuchung, Osnabrück 1965, S. 57 f f .

118)

Vgl. Hans Jürgen Usko/Günter Schlichting: Kampf am Kiosk. Macht u n d Ohnmacht der deutschen Illustrierten, Hamburg 1961, insbes. S. 57 f f .

119)

Vgl. z.B. Arbeitsgemeinschaft Leseranalyse e.V. (Hrsg.): Der Zeitschriften-Leser 1963, Essen-Heidhausen 1963/64.

120)

Vgl. daselbst, Tabellen 6 und 3 8 b.

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keit, Datenselektion und Darstellungsform vollauf bewußt.121) Solange jedoch die Kommunikatorforschung zum Gesamtkomplex Zeitschrift keine umfassenden Resultate vorzulegen vermag, solange wird auch die Rezipientenforschung kaum über punktuelle Ansätze hinausgelangen können!

121)

Heinz Alpers: Zur Problematik der Ergebnisdarstellung bei Leseranalysen, in: Arbeitsgemeinschaft Leseranalyse e.V. (Hrsg.): Media-Forschung in Deutschland. Festschrift für Ernst Braunschweig, Baierbrunn 1968, S. 15, Sp. 1.

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Ulrich Hensing ACTA ERUDITORUM (1682-1782)

Ohne den 'Acta Eruditorum', dem 'Journal der Gelehrten', einen eigenen Artikel zu widmen, charakterisiert die zeitgenössische, im Geist der älteren Aufklärung verfaßte, umfassendste Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, nach ihrem Verleger "Zedier" benannt, in damals beliebter "umbständlicher" (=ausführlicher) Manier in den Artikeln "Gelehrten-Historie" und "Tage=Buch (Acta diurna, Manuale, Journal)" die Ziele von Gelehrtenzeitschriften,!) die am Beginn des Zeitschriftenwesens überhaupt standen. Die nach A r t einer Mode grassierende "Curiosität"^) (= Wißbegierde) des europäischen Gelehrtenstandes ließ die Zahl der neu gegründeten wissenschaftlichen Publikationsorgane von unterschiedlichster Qualität in relativ kurzer Zeit sprunghaft in die Höhe schnellen. 1732 wurden bereits 500 Titel dieser Art gezählt.3) Die Ursachen für diese die Aufklärung mitbegründende publizistische Aktivität der sozialen Gruppe der "Gelehrten"^), durch ihre Ausbildung privilegiert und durch den Gebrauch der lateinischen Sprache und das Selbstverständnis als eines geistigen Adels von anderen gesellschaftlichen Gruppen abgegrenzt, lassen sich bis in Humanismus und Renaissance zurückverfolgen. Die auf optimales, für den Rhetor nützliches Allgemeinwissen aufbauende selbstherrliche Position des Humanismus wurde seit dem 16. Jahrhundert von den sich machtvoll entwickelnden Naturwissenschaften bedroht, in denen sich empirischquantifizierende Methoden durchsetzten. In Reaktion darauf wandelte sich der humanistische Gelehrte zu einem homo literatus polyhistorischer Prägung, dessen Ziel es war, als rhetorisch-kritischer Bibliothekar die Masse des tradierten und ständig sich vermehrenden Wissens zu archivieren, die scheinbar verlorene Einheit des Wissens aufzuzeigen und zu allgemeinem Nutzen zu lehren, aus den theologischen und philosophischen Auseinandersetzungen der Zeit jedoch sich herauszu1)

Der Begriff " Z e i t s c h r i f t " als Übersetzung von "Journal", "Chronicle" ist seit 1751 belegt (vgl. Hansjürgen Koschwitz: Der früheste Beleg für das Wort 'Zeitschrift', in:: 'Publizistik' (Konstanz), 13. Jg./Heft 1 (Januar-März 1968). S. 41).

2)

" . . . Sie erwecket Nachdencken, Nachdencken bringet scharfsinnige Wahrheiten hervor, diese zeigen einen Vielfältigen, zuvor unerkannten Nutzen der Dinge. . . (Großes vollständiges Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden.. . Leipzig und Halle, Verlegts Johann Heinrich Zedier (zit.: Zedier), Bd. 24, 1740, s.S. 173 f.

3)

Katalog von J.A. Fabricius, Beilage zur 3. A u f l . des "Polyhistors" von Daniel Georg Morhof, zit. bei Conrad Wiedemann: Polyhistors Glück und Ende, in: Festschrift Gottfried Weber, hrsgg. von Heinz Otto Berger und Klaus von See, Berlin-Zürich 1967, S. 227.

4)

Der Begriff " e r u d i t i " bezeichnet keine Fachgelehrten, sondern alle Hochschulabsolventen (Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 224.)

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halten.5) Die Kommunikation der Gelehrten untereinander vollzog sich in gelehrten Kollegien und Gesellschaften der Wissenschaften, die nach dem Vorbild der frühen italienischen Akademien gegründet wurden und einen eigenen Arbeitsstil entwickelten: es mußten Protokolle geführt, Berichte erstattet und Arbeiten vorgelegt werden.6) Neben diesem Brauch sind noch weitere Wurzeln für den Beginn und den Charakter der wissenschaftlichen Publizistik zu berücksichtigen: im Bestreben, eine Literaturgeschichte zu schaffen, versah man die in den Meßkatalogen der Buchhändler aufgeführten Titel mit Anmerkungen. Außerdem erschienen im Sinne des scholastischen Rezensionsbetriebs systematische Anweisungen für das Exzerpieren von Büchern. Diese Intentionen führten zur Herausgabe der ersten Gelehrtenzeitschrift, des 'Journal des S?avans', am 5. Januar 1665 in Paris. Zur Abgrenzung gegen die nicht gelehrten Wochenzeitungen und zur Wahrung einer befriedigenden Aktualität entschloß man sich für das monatliche Erscheinen. Das Titelwort 'Journal' bezieht sich auf die Arbeitsweise: die Aufzeichnungen werden von Tag zu Tag fortgesetzt und so aufgenommen, wie der Tag die Dinge bringt.?) Der damals noch lebendige Zusammenhang innerhalb der abendländischen Kulturwelt und die inzwischen eingetretene sprachliche Sonderung begünstigten Nachahmungen.8) Wegen des kurzen Zeitraums offenbar unabhängig davon erschienen nur zwei Monate später, am 6. März 1665, in London die 'Philosophical Transactions, giving some accompt of the present undertakings, studies and labours of the ingenious in many considerable parts of the world'.9) Schon im Titel bekannte sich offen als Übersetzung des französischen 'Journals', um originale italienische Beiträge erweitert, die erste Gründung einer Gelehrtenzeitschrift auf italienischem Boden, das 'Giornale de' Letterati', das seit 1668 in Rohm erschien. 10) In Deutschland erschien 1667 die lateinische Übersetzung der ersten fünf Jahrgänge des 'Journals' als 'Ephemerides Eruditorum' des Gießener Professors Friedrich Nitsch in Leipzig. Nur die lateinische Sprache galt in Deutschland den Gelehrten als angemessen für ihre Kommunikation.11) Leibniz plante als erster gegen den überragenden französischen Einfluß die Gründung einer selbständigen, die Interessen der deutschen Gelehrten wahrnehmenden wissenschaftlichen Zeitschrift. Er wollte ab 1668 aus den halbjährlich erscheinenden Meßkatalogen des 5) Conrad Wiedemann, a.a.O., S. 2 1 8 - 2 2 1 , 225 f. 6)

Robert E. Prutz: Geschichte des Journalismus, Bd. 1 (= einziger Band.), Hannover 1845, S. 256. 7) Gerhard Menz: Gelehrtenzeitschriften, in: Walther Heide (Hrsg.): Handbuch der Zeitungswissenschaft, Bd. 1, Leipzig 1940, Sp. 1203 f. 8) Gerhard Menz: Die Zeitschrift. Ihre Entwicklung und ihre Lebensbedingungen. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie, Stuttgart 1928, S. 16.

9) Richard Treitschke: Burkhard Mencke. Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft im Anfange des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1842, S. 54. 10) Gerhard Menz: Gelehrtenzeitschriften, a.a.O., Sp. 1208. 11) Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig, Leipzig 1909, S. 184.

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Buchhandels 100 Werke auswählen und in einer 'Nucleus librariiis semestralis' benannten periodischen Veröffentlichung jedem eine Seite widmen sowie nach und nach die wichtigen älteren Erscheinungen nachtragen. Doch sein Ersuchen um ein Privileg des kaiserlichen Hofes in Wien wurde abgelehnt.12) Auf das 'Journal' und die 'Philosophical Transactions' als Vorbilder beruft sich die erste wirklich periodisch — allerdings jährlich — erscheinende wissenschaftliche deutsche Zeitschrift — seit 1670, zuerst in Leipzig — , deren Themen sich auf Medizin, Chemie und Naturhistorie beschränkten, die 'Miscellanea curiosa Medico-physica Academiae Naturae Curiosorum, sive Ephemerides medico-physicae Germanicae curiosae'.13) Die "gleichsam leere Stelle", die trotz des auch im Ausland erworbenen Ruhms der 'Miscellanea' durch die noch nicht unternommene Herausgabe eines universelleren Organs nach Art der Franzosen und Italiener in Deutschland besteht, versprechen die seit dem 1. Januar 1682 in Leipzig monatlich erscheinenden 'Acta Eruditorum' auszufüllen, — so das Grußwort an den "geneigten Leser".14) 'Acta Eruditorum Lipsiae Collecta',15) heißt es in der zeitgenössischen Literaturjß) "ist der Titel einer sehr beliebten und hochberühmten Monatsschrift, und zwar der allerersten, die man in lateinischer Sprache verfertiget hat. . . Der erste Director dieses schönen Werks war der berühmte Otto Mencke, Professor der Moral und Politik zu Leipzig, ein grundgelehrter Mann". Otto Mencke (22. März 1644— 29. Januar 1707) entstammte einer angesehenen und reichen Oldenburger Kaufmannsfamilie. 17) Aus seinem Lebenslauf 18) geht hervor, daß er das Gymnasium illustre in Bremen besuchte, offenbar hochbegabt war, und zu Büchern und zum Journalismus ein enges Verhältnis hatte: "Seit dem 17den Jahre seines Alters" hatte er "dermassen in kurtzem proficiret, dass er im folgenden Jahre 1662 (mit 18 Jahren) auff die hiesige Universität Leipzig zu ziehen vor tüchtig erkandt worden". A u f dem Weg dorthin wurde er " v o n Räubern ausgeplündert, rettete aber seine Barschaft dadurch, daß er sie in seinen Büchern versteckte". Zu seiner Bibliothek hatte er "schon als Gymnasiast in Bremen den ersten Grund geleget, als ein Buchladen sehr wohlfeil ausverkauft wurde. . . die Zeitungen, die er von der Post höhlte, lieferte er dem Vater nie eher ab, als bis er sie vorher ganz durchgelesen hatte. . . war auch in der Folge der erste, der ein so genanntes Zeitungs Collegium mit ungeheurem Zulaufe las". 12) Gerhard Menz: Leibniz und die Anfänge des wissenschaftlichen Zeitschriftenwesens, in: 'Zeitungswissenschaft', 11. Jg., 1936, S. 5 8 7 - 9 0 . 13) Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte und seine Probleme, Bd. 1, Wiesbaden 1958, S. 18, und Zedier, a.a.O., Bd. 21, 1739, S. 453 sowie Robert E. Prutz, a.a.O., S. 271, 274. 14) 'Acta Eruditorum', Lipsiae 1682, Lectori benevolo saluteml . . . Itaque, cum in lucem nondum prodient, qui universalius aliquod systema, Gallorum atque Italorum ad morem polliceretur; licuit. . . nobis. . . vacuum veluti locum occupare. 15) = in Leipzig gesammelt und herausgegeben. 16) Zit. bei Albert Tenbergen: Otto Mencke und Bremen, in: 'Der werbende Buch- und Zeitschriftenhandel', 70. Jg./H.6, Juni 1962, S. 156. 17) Der Vater war "Aeltester des Raths" (Zedier, a.a.O., Bd. 20, 1739, S. 6 2 9 - 3 1 . ) 18) 1707 seiner Leichenpredigt beigelegt, heute Deutsche Staatsbibliothek Berlin, zit. bei Tenbergen, a.a.O., S. 153.

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Leipzig, 1409 Universitätsstadt geworden, wurde im 15. Jahrhundert zu einer Hauptstätte der wissenschaftlichen Ausbildung für Ost- und Mitteldeutschland. A u f der Leipziger Messe strömte die gesamte literarische Produktion Deutschlands zusammen und verteilte sich von dort wieder über unzählige K a n ä l e . ^ ) Der Plan für Menckes neues Unternehmen erwuchs aus der Tätigkeit dreier in Leipzig ansässiger Gelehrtengesellschaften, die später verschmolzen. Die älteste, das "Collegium Gellianum", bestand von 1641—1673. Ihr universalistisches Programm wird aus der Benennung deutlich.20) | m "Collegium" referierten jeden Sonntag "Männer, berühmt durch gründlichste Studien und größtes Können.. . in lateinischer Sprache aus allen Wissensgebieten v o r d e m Konvent." "Dornigere Kontroversen" wollte man jedoch fernhalten. 21) Ähnlich verfuhr man im "Collegium Anthologicum" (gegr. 1655) und in der "Societas Conferentium" (gegr. 1664). Die Tätigkeit beschränkte sich aber nicht auf Kolloquien: die besten Arbeiten wurden schriftlich niedergelegt, gesammelt und den Mitgliedern zur privaten Benutzung zugänglich gemacht.22) Menckes Idee war es nun, den naheliegenden Schritt zur Veröffentlichung zu tun und sich dabei, im Gegensatz zum 'Journal', einen großen, über die Grenzen Deutschlands hinausreichenden Kreis von Mitarbeitern zu sichern: "Hiernechst gerieth er auff die Gedancken/, daß es vor die gelehrte Welt sehr zuträglich seyn würde/ wenn man/ was von Zeit zu Zeit in Europa an neuen Büchern herauskäme/ Monatlich durch kurtze Auszüge bekandt machte; Zu diesem Ende legte er mit großen Unkosten eine Correspondenz in Italien/Franckreich/ und an unterschiedenen Orten in Teutschland/und damit er sich sonderlich in Holland und Engeland unter denen Gelehrten gute Freunde machen möchte/ resolvierte er gar/ eine Reise in diese Lande vorzu nehmen".23)

Das war der erste Schritt zu einer äußerst dynamischen Herausgebertätigkeit, die neben der Bewältigung schwieriger organisatorischer Aufgaben — das Postwesen war noch nicht entwickelt — großen finanziellen Einsatz und intensive Anteilnahme an der wissenschaftlichen Diskussion, aber auch Lektoren- und Korrektoren19) Georg Witkowski, a.a.O., S. 1, 2, 4, 9. 20) Der Römer Aulus Gellius hatte im 2. Jahrhundert n.Chr. in Fortführung der sophistischen Tradition einer alle Wissenschaftsgebiete umfassenden Sammlertätigkeit Jahre hindurch aus wissenschaftlichen Schriften exzerpiert, was ihm bei seiner Lektüre interessant erschien, und begann, die Exzerpte in langen Winternächten in Athen auszuarbeiten. Die 20 Bücher 'Noctes Atticae' sollten jedem Leser etwas bieten: Grammat i k , A r i t h m e t i k , Geometrie, Antiquitäten. Ausführlich sind auch philosophische und moralische Probleme behandelt, Literaturkritik und Geschichtsschreibung, seltener Recht und Rhetorik. (Martin Schanz/Carl Hosius, Geschichte der römischen Literatur, 3. Teil, 3. A u f l . München 1922 (1959) S. 175—180). Tiefer in eine Materie einzudringen, vermeidet er, das würde den Leser ermüden. 21) Georg Christian Gebauer: Anthologicarum dissertationum über cum nonnullis adoptivis et brevi Gelliani et Anthologici collegiarum Lipsiensium historia, Lipsiae 1733. 22) Ex iis optima quaeque adnotare, atque haec in fasciculos, privatis ipsorum usibus inservituros, colligere solebant (Burckhart Gotthelf Struve: Bibliotheca historiae selecta, Jena 1761, Bd. 2, S. 825.) 23) Leichenrede, a.a.O., S. 156.

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tätigkeit erforderte. Während dieser Aktivitäten war Mencke siebenmal Dekan der Philosophischen Fakultät, und fünfmal verwaltete er zusätzlich das Rektorat der Universität Leipzig. Die Reise, die er im Juli 1680 zusammen mit dem "Professor der Mathesis und Bibliothecario bey der Universität", 24) Christoph Pfautz, antrat, führte ihn über Amsterdam, Utrecht, London, Oxford, Delft, Vianen, Leiden und Antwerpen zu wichtigen und berühmten, hauptsächlich naturwissenschaftlichen Gelehrten dieses Zeitalters,25) von denen heute wohl nur noch Robert Boyle (London) allgemeiner bekannt ist.26) Zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich, war eine solche Bildungsreise zu den traditionellen Hochburgen des Humanismus "adäquater Ausdruck einer Wissenschaftskonzeption, die um der Erkenntnis willen auf Gedankenaustausch und Kompilation bedacht war.. . Es galt, die in den Bibliotheken und Gehirnen gleichgesinnter Kollegen angehäuften Wissensschätze zu inspizieren, um durch Auswahl und Zusammenstellung aus ihnen das Mosaik der erforschbaren Wirklichkeit zu erstellen". 27) Während eines längeren Aufenthaltes in Oldenburg — im Verlauf seiner Rückreise war in Leipzig die Pest ausgebrochen — begann Mencke im Frühjahr 1681, in deutschen Gelehrtenkreisen für sein Unternehmen zu werben, wie zwei Briefe Menckes an Leibniz in Hannover vom 14. September 1681 und an Conrad Samuel Schurtzfleisch in Frankfurt vom 10. Februar 1682 erkennen lassen. Mittlerweile war die seit Menckes endgültiger Rückkehr nach Leipzig im Sommer 1681 28) " a | | e Mittewochen"29) in seinem Haus abgehaltene, aus den Mitgliedern der gelehrten Gesellschaften bestehende Gründungsversammlung bis zur Konzeption eines Probeexemplars (specimen) gediehen und Mencke bat Leibniz, ob er ". . . ein undt anderes von seinen inventis mathematicis, physicis undt dergleichen uns communiciren undt in obgedachtem specimine durchauß publiciren lassen wolte. . . quod illustri nomine tuo et lectoris curiositate dignum sit. . . Einmahl ist dieses unser Schluß, wir werden nichts ediren, biß wir von meinem hochgeehrten Patron.. . was 24) Zedier, a.a.O., Bd. 27, 1741, S. 1306. 25) Joachim Kirchner: Zur Entstehungs- und Redaktionsgeschichte der Acta Eruditorum, in: Joachim Kirchner: Ausgewählte Aufsätze. Aus Paläographie, Handschriftenkunde, Zeitschriftenwesen und Geistesgeschichte. Zum 80. Geburtstag des Verfassers am 27. August 1970 hrsgg. vom Verlag A n t o n Hiersemann, Stuttgart 1970, S. 157. 26) Nach ihm ist das Boyle-Mariottesche Druck-Volumengesetz der Gase benannt. " E r verstand Ebräisch, Griechisch, Rabbinisch, und auch Orientalische Sprachen, in der Theologie hatte er eine besondere Wissenschaft erlangt, und in der experimental-Philosophie und Chymie thaten es ihm wenige gleich, wie er denn des wegen ein eigenes Elaboratorium mit großen Kosten angeleget. Er hat auch Grotii Buch de veritate Religionis Christianae ins Arabische übersetzet, und zu Ausbreitung der christlichen Lehre viel Geld aufgewandt". (Zedier, a.a.O., Bd. 4, 1733, 946 f.) 27) Daniel Georg Morhof: Unterricht von der deutschen Sprache und Poesie, 1682, hrsgg. von Henning Boetius, Bad Homburg v.d.H. 1969, S. 418. 28) Briefe zit. bei Joachim Kirchner: Zur Entstehungs- und. . ., a.a.O., S. 157, d o r t auch Brief Friedrich Benedict Carpzovs in Leipzig an den Rektor Daum in Zwickau vom 20. August 1681: "Mencke. . . erst vor kurzem heimgekehrt. . . alle acht Tage Sitzungen der Teilnehmer!" 29) Zit. bei Albert Tenbergen, a.a.O., S. 157.

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ourieuses werden erhalten haben, welches dienen wird, unser vorhabendes werck so bald im anfang auch bey frembden beliebt zu machen. . .".30) über den Fortgang der redaktionellen Planungen für die Herausgabe informiert ein weiterer Brief Menckes vom 26. Oktober 1681, in dem auch die inhaltlichen Schwerpunkte der geplanten Zeitschrift benannt und organisatorische Probleme angedeutet werden. Dieser Brief, nur zwei Monate vor der Herausgabe des ersten "Stücks" verfaßt, enthält keine detaillierten Einzelheiten. Nicht einmal über den endgültigen Titel herrscht Einigkeit;31) " W i r wolten gern das werck dergestalt befördern, daß das erste Stück unserer Actorum Orbis eruditi (= Journal der gelehrten Welt) oder Historiae rei literariae (= Literaturgeschichte) oder Ephemeridum (= Tagebuch), oder wie wir sie noch taufen werden, den ersten Januarii künftigen Jahres heraußgeben, undt sodan ferner alle Monat den ersten tag desselben ein neues Stück ediret werden möge. . . in der praxi selbst sichs weisen wird, wie dem wercke am besten zu helfen seyn möchte, undt die oeconomie desselben vor jetzo in einer praefation nocht nicht wol so genau vorgestellet werden kan. . . Sonst en ist unser absehen dieses, daß wir so wol neue experimenta und observationes in re Mathematica, Physica, Medicy anführen, als auch recensum novorum librorum von anno 1681 an, auf die art wie in frantzösischen und römischen Journalen geschieht, vorstellen wollen. Zu dem Ende man sich bemühen wird, die bücher auß frembden landen zeitlich anherzuschaffen. Wen w i r auch in den Parisischen, die ich auf der Post m i t nicht geringen Kosten, anher bringen lasse, undt römischen journalen, die ich auch zeitlich genuch jedesmahl zu bekommen verhoffe, etwas finden werden, das anmerckens würdig, werden wir solches alß excerpta in die lateinische Sprache übersezen, und unsern actis inseriren. . . Wie groß das werk werden möchte, muß die Zeit lehren. . . es möchten ohngefähr alle monat 3 Bogen heraußkommen.. . in einem monat ein bogen mehr oder weniger, alß in dem andern. . . weil wir nicht alle Zeit an experimentis großen vorrath haben können, undt diejenigen auch, die bücher schreiben, nicht nach unß sich reguliren werden, daß wir unser deputat außfüllen könten".

Einen wichtigen Anteil an der schwierigen organisatorischen Arbeit, die erst die Voraussetzung für ein so umfangreiches Unternehmen wie die 'Acta' schufen, hatte Friedrich Benedict Carpzov, der einer berühmten Gelehrtenfamilie spanischen Ursprungs entstammte. Ihre Mitglieder zeichneten sich besonders auf den einst zusammengehörigen Gebieten Theologie und Jura aus. Er war einer der ausdauerndsten unter den Begründern.32) Nach Jurastudium u n d üblicher Bildungs-

reise hatte er es " i n Iitteris elegantioribus.. . so weit gebracht, daß nicht nur Teutschland, sondern auch Italien, Frankreich, England und Holland ihn unter die Gelehrtesten zu seiner Zeit gezählt hat". Als er sich " m i t eines Kaufmanns Tochter verheurathete, trat er zugleich die Handlung mit an, welches ihm in seinen studiis vielmehr beförderlich war, sintemahl er dadurch Gelegenheit bekam, sich mit denen gelehrtesten Leuten in Europa in eine Correspondenz einzulassen, zugleich aber auch einen vortrefflichen Vorrath von denen allerbesten Büchern 30) Z i t . daselbst; Kulturgeschichtliche Plaudereien, in: 'Der werbende Buch- und Zeitschriftenhandel', Jg. 62/1954, H. 6, S. 180. 31) Zit. bei Joachim Kirchner: Zur Efntstehungs- und . . ., a.a.O., S. 158 f. 32) Georg Witkowski, a.a.O., S. 185.

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a n z u s c h a f f e n " . 3 3 ) Mencke jedoch verblieb die weitaus schwierigere, finanziell ebenfalls aufwendige und sehr zeitraubende Aufgabe der redaktionellen Koordination. Bevor die zu rezensierenden Bücher auf umständlichen Wegen verteilt werden konnten, mußten erst die in Frage kommenden Rezensenten angeschrieben werden, die fachlich und — bei ausländischen Büchern — sprachlich kompetent waren. Nicht selten haperte es an der gleichzeitigen Erfüllung beider Bedingungen, zumal wenn es sich um englische Bücher handelte.

In einem Brief an Leibniz vom 15. Oktober 1684 klagt Mencke darüber, daß es in Leipzig "so gar sehr an Leuten mangelt, die der englischen Sprache mächtig seyen", und in einem weiteren Brief vom 25. Oktober 1684 meint er, selbst wenn einer oder der andere mit der englischen Sprache noch zurecht kommen möchte, so fehle es doch an der Wissenschaft der M a t e r i e . 3 4 ) Auch galt es, die Mitarbeiter zur Veröffentlichung eigener Arbeiten zu bewegen oder zu einer Stellungnahme zu den aktuellen Problemen der verschiedenen Wissenschaften anzuregen, wofür der Brief an Leibniz vom 17. Mai 1682 ein Beispiel liefert:35) "Sonst vernehme ich, daß mein h(oher). H(err). Patron an den H(errn). Seckendorff geschrieben, es hätte sich nunmehr der gantze Livius gefunden. Davon hätte ich gern particularia (Details), u n d t o b sichs allerdings so verhalte, damit wir in unseren Actis mit so guter Zeitung die gelehrte weld erfreuen können. Qbersendeihiebey ein extract auß dem Frantz. journal, u n d t möchte m(eines). h.H. Patrons Meinung hierüber wol wißen. Ob ihm auch gefallen möchte, seine eigene machine, die. . . in den Hartzischen Bergwercken gebrauchet werden sol, zu beschreiben u n d kundt zu machen: wobey dennoch ein oder ander Stück, daferne es so gefällig, oder nötig, zurückbehalten werden könte: möchte ich gern wißen, und solte mir solches u m b so viel lieber seyn, damit die Frantzosen sehen möchten, daß in Teutschland auch Leute seyn, die was verstehen. . .".

Mencke erwarb " m i t nicht geringen Kosten" die gelehrten Zeitschriften Frankreichs, Englands und Italiens und bemühte sich außerdem, über seine Verbindungen zu Buchhändlern und Gelehrten des In- und Auslands, seit 1681 erschienene Bücher anzukaufen. Bevor er sie an die Rezensenten weitergab, nahm er die Mühe auf sich, sich eingehend über deren Inhalt zu informieren, um den Fachreferenten zugleich mit den Büchern sein eigenes Urteil zuzuleiten. Den Transport der Bücherpakete übernahmen teils Buchhändler, die die Messen in.Frankfurt und Leipzig besuchten, teils reisende Kaufleute, teils Boten, die an bestimmten Wochentagen zwischen Leipzig und anderen Städten Mitteldeutschlands verkehrten. Die Buchhändler gaben die Rezensionsexemplare grundsätzlich nur gegen Barzahlung an Mencke ab, und er mußte die Rezensenten bitten, die Bücher entweder zurückzuschicken oder zu kaufen. Mencke mußte die Kosten vorschießen, und lange Zeit verging, bis er sie — z.T. durch Verkauf der zurückgelangenden Bücher — auf Auktionen wieder h e r e i n b e k a m . 3 6 ) " A u f die Herausgabe eines jeden Stücks ver33) Zedier, a.a.O., Bd. 5, 1733, S. 1135. 34) Joachim Kirchner: Zur Entstehungs- und . . ., a.a.O., S. 169. 35) Daselbst, S. 164. 36) Daselbst, S. 165 f, 169 f.

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wandte er Kosten", heißt es in einem zeitgenössischen Zeitschriftenkatalog.37) Honorare für die Mitarbeiter werden nirgends erwähnt. In einem Brief an Leibniz vom 9. August 1682 schreibt Mencke: "Die meisten appliciren sich bloß auß curiosität zu einer arbeit, die nichts einträgt".38) Sie erhielten lediglich Freiexemplare der einzelnen Nummern.39) Am 1. Januar 1682 erschien im Verlag Grosse und Gleditsch in Leipzig die erste Nummer der 'Acta Eruditorum' zum Preis von zwei G r o s c h e n . 4 0 ) Sie hatte noch einen bescheidenen Umfang von 32 Seiten Quart, jedoch schon in den nächsten Jahren steigerte sich die Seitenzahl eines Monatshefts beträchtlich. Gegenüber 402 Seiten des ersten Jahrgangs enthielt der zweite von 1683 bereits 561. Erklärende Tabellen, Zeichnungen und Kupferstiche sind besonders den mathematischen und naturwissenschaftlichen Artikeln häufig hinzugefügt. Der erste Jahrgang bietet bereits 21 (ca. 5%) davon, z.T. lassen sie sich sogar herausklappen. Diese kostspielige und auch sonst — abgesehen von häufigen Druckfehlern — gediegene Ausstattung macht es wohl verständlich, warum sich die Zeitschrift trotz der anzunehmenden Honorarlosigkeit der Mitarbeiter und den erheblichen Aufwendungen Menckes nicht selbst tragen konnte: sie erhielt vom Kurfürsten von Sachsen — in unveränderter Höhe während ihres hundertjährigen Bestehens — einen jährlichen Zuschuß von 200 Talern und hatte als Gegenleistung Rezensionsexemplare "curieuser" ausländischer Bücher an die Kabinettsbibliothek zu liefern. 41) Diese — nicht zuletzt vom Prestigedenken bestimmte Großzügigkeit des Kurfürsten — hat die Widmung der Zeitschrift zur Folge:"Den geheiligtsten Pfändern (= Kindern) unseres gnädigsten Herrn, Johann Georg (III., 1680—91). . ., den erlauchtesten Prinzen und Herren, Herrn Johann Georg (IV., 1691—94). . . und Herrn Friedrich August (I., 1694—1733). . .".42) Diese Bindung an den Hof sowie der in Leipzig herrschende Geist strenger lutherischer Orthodoxie erklärt die gesamte Haltung der Zeitschrift, deren Rezensenten nicht über Schriften von religiös und politisch brisantem Inhalt berichten sollten. Erst in der Zuschrift an die Prinzen im 3. Band von 1684 werden diese redaktionellen Grundsätze formuliert. Die Verfasser erklären, daß sie den Standpunkt jedes Andersgläubigen achten, selbst aber sich zum orthodoxen und der Heiligen Schrift entsprechenden Glauben bekennen, 43) und man solle ihnen nicht zumuten, diesen Standpunkt jemals zu verleugnen. Alle politischen Gegenstände schließen sie aus: "Diejenigen, die es unternehmen, die Rechte und Handlungen der Fürsten einer Prüfung zu unterziehen, werden sich über das tiefe Schweigen an dieser Stelle nicht 37)

Burckhardt Gottheit Struve, a.a.O., S. 8 2 6 .

3 8 ) Zit. bei Joachim Kirchner: Zur Entstehungs- und . . ., a.a.O., S. 172. 39)

Daselbst, S. 170.

40)

Daselbst, S. 171.

41)

Zit. bei Georg Witkowski, a.a.O., S. 187.

42)

Bd. 1, Jg. 1682, S. 3.

43)

Religionem orthdoxam sacrisque literis conformem conscientia tenent, Bd. 3, praefatio, S. 3.

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wundern, denn wir verheimlichen nicht, daß diese Art von Autoren absichtlich von uns übergangen wird".44) Bemerkungen zur Politik beschränken sich auf panegyrisch gestimmte Glückwünsche, z.B. die den Söhnen des Kurfürsten gewidmete Vorrede zum zweiten Band von 1683, die mit überschwänglichen Worten seinen Anteil am Sieg über die Türken heraushebt: " . . . Müssen wir auch euch, den anziehendsten Söhnen eines so großen Helden, unbedingt gratulieren. . . niemals waren zusammen mit dem christlichen Glauben auch die Wissenschaften einer größeren Gefahr ausgesetzt. . . durch den schon drohenden Feind, dessen Wut nichts mehr von der Pflege feinerer Bildung übrigläßt, wohin er auch die Grenzen seines Reichs ausdehnt",45) oder auch die Vorrede zum Jahrgang 1697, in der "die ergebensten Herausgeber" Friedrich August I. zu seiner Wahl zum König von Polen (August II.) am 27. Juni 1697 beglückwünschen. Die eigentlichen Absichten der Zeitschrift werden — für die Zeit erstaunlich knapp — auf zwei Seiten der Vorrede des ersten Jahrgangs umrissen, während die folgende Adresse an die Prinzen den doppelten Umfang hat. Nach der Überzeugung der Herausgeber brauchen die Prinzen nicht das ganze weite Meer der Wissenschaften zu durchpflügen, sondern sollen aus der so großen Ansammlung von Gegenständen das auswählen, was sich entweder als sicherer und solider Nutzen beim einstigen Regieren erweist oder wozu sie sich durch natürliche Neigung hingezogen fühlen. Dies kann ihnen einst bei den schwersten Sorgen des Regierens Erbauung und Erholung bedeuten.46) Das an die Leser gerichtete Vorwort kennzeichnet schon im ersten Satz den selbstgewissen Geist der wissenschaftsgeschichtlichen Epoche des Polyhistorismus, deren Zeitgenossen sich des Glücks rühmten, "daß alle Künste, Wissenschaften und alle möglichen Literaturstudien zur Höhe des Gipfels streben und von Tag zu Tag näher zu ihm hingelangen". 47) Nach einem kurzen lobenden Rückblick auf die Vorgängerzeitschriften und dem Vorsatz, "den Fleiß der Ausländer so gut wie nur immer möglich in Zukunft nachzuahmen", folgt die Ablehnung ihres Prinzips, in ihren Zeitschriften die Nationalsprachen zu gebrauchen: "Prägnante Gründe", über die absichtlich Schweigen bewahrt werde, veranlassen die Herausgeber, die lateinische der deutschen Sprache vorzuziehen. Diese Gründe

44) Qui jura principum et actiones editis libellis sub examen revocare sustinent, altum hic de suis silentium non mirabuntur, neque dissimulamus, id scriptorum genus consulto a nobis praetermitti, Bd. 3, Jg. 1684, S. 3. 45) . . . vobis quoque, dulcissimis tanti Herois Filiis, non possumus non gratulari. . . Numquam majori discrimini Christiana cum religione bonae etiam litterae fuerunt obiectae, isto iam imminente hoste. . . nec ullum humanitatis cultum, quacumque fines imperii porrigit, superesse patitur. 46) praefatio Bd. 1, Jg. 1682: . . .persuasum tamen habemus, non requiri a Vobis, ut t o t u m hoc literarum aequor, quod vastum satis vel haec Acta produnt, peraretis, sed seligenda ex tanto rerum esse cumulo, quae aut usum Vobis in gubernando aliquando Republica certum solidumque praebeant, aut in quae naturali propensione feramini. . . o l i m inter gravissimas imperandi curas, oblectationi Vobis atque recreationi futura. . . 47) . . .felicitatemi, quod Artes omnes Scientiaeque, & literarum quarumcumque Studia, summum ad fastigium enituntur, illudque indies propius attingunt.

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und die gesamte übrige A r t und Weise des Unternehmens sollen aus den 'Acta' selbst deutlich werden.48) Die von Anfang an feststehende Entscheidung, die Beiträge in Latein abzufassen, ist nicht nur auf den Anspruch der Herausgeber auf Universalität des Inhalts zurückzuführen, sondern auch auf die angestrebte Universalität des Verständnisses: die Zeitschrift sollte — bei der damals wenig verbreiteten Kenntnis des Deutschen — auch im Ausland abgesetzt und gelesen werden können. In einem Brief an Leibniz vom 14. September 1681 schreibt Mencke: "Also wiederhohle ich meine vorige Bitte an m.h.H. patron, nicht zweifelendt er werde so gern durch unß undt in seinem vaterlande, auch in lateinischer Sprache, seine höchstrühmliche meditationes undt inventa der gelehrten weld mittheilen, alß solches bißher durch frembde in denen Englischen und Frantzösischen Journalen geschehen".49) Mencke war über die Nachfrage im Ausland erfreut: schon am 9. August 1682 kann er Leibniz mitteilen: "Die Acta seyn in England noch ziemlich angenehm, wie ich dan von jedem monat 50 exemplar nach london senden muß" und erhofft eine Steigerung des Absatzes "wiewol wir unß biß dato daran vergnügen müßten, daß sie bey denen Frantzosen undt Engländern vor ein nicht unnützliches buch paßiert werden, auch darauß excerpta in die frantzösischen Journals nicht allein, sondern auch die Englischen Collections gebracht werden".50} Die Rolle der lateinischen Sprache als ideales Verständigungsmittel der gebildeten Kreise auch über die Sprachgrenzen hinweg war vor allem auch für die Verbreitung von wissenschaftlichen Studien wichtig, die in kleineren Ländern mit im Ausland weithin unbekannten Nationalsprachen veröffentlicht worden waren. Die 'Acta' zeigten sogar polnische und schwedische Bücher an.51) Wie die Mitarbeiter auf die eigene Sprache und eigene politische Ansichten verzichteten, glaubten sie auch, sich aus Rücksicht auf die Empfindlichkeit der Gelehrten kein literarisches Urteil erlauben zu dürfen. Im Sinne des Sprichworts: "Schuster, bleib bei deinen Leisten" wollten sie "keines Menschen Schriften mißgünstig anzeigen", distanzierten sich im gleichen Atemzug jedoch auch von Kritik an ihrem eigenen Unternehmen: "Aber uns darf auch nichts Böses nachgesagt werden, sei es die Ungleichheit des Stils, die gerade auch aus der Verschiedenheit der Materie erwachsen ist, und auch der Geister und Temperamente, die an diese Acta Hand anlegen, sei es die weniger genaue Ordnung bei der Disposition der Gegenstände, die natürlich in einer solchen Schrift, wie es die unsrige ist, am wenigsten gefordert werden kann". 52) 48) . . . Quemadmodum vero laudatarum Nationum unaquaeque lingua vernacula, suas secuta rationes, in hoc scribendi genere utitur: ita nos, ut Latinum nunc sermonem nostro praeferamus, praegnatibus utique causis adducimur. De quibus tarnen, ut & tota reliqua instituti nostri ratione, consulto plura nolumus nunc praefari. Nam ex ipsis Actis cognosci eam malumus. 49) Joachim Kirchner: Zur Entstehungs- und . . ., a.a.O., S. 160. 50) Daselbst, S. 159 f. 51) Bd. 3, Jg. 1684, S. 52, 79 ff. 52) praefatio Bd. 1, Jg. 1682: . . .ne autor ultra crepidam. . . nullius hominis scripta carbone esse notaturos: ast nec vitio verti Nobis debere, seu styli inaequalitatem, quae vel ex

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Der Wille, einen objektiven Inhalt zu präsentieren, ging so weit, daß die Bearbeiter hinter ihre Beiträge zurücktraten, die anonym erschienen. Gelehrtengezänk sollte vermieden werden, was Leibniz schon vor der Herausgabe forderte — in einem Brief vom 14. Oktober 1681 an Mencke: "Man möchte unter den vorfallenden Dingen eine rechte Wahl halten, also mässig und säuberlich reden, daß man undienliche Streitigkeiten meiden könne".53) Daß solche Vorsätze nicht immer eingehalten werden konnte, zeigt Menckes Handexemplar, das in den Randnotizen die Namen der Rezensenten enthält und auf die Spur eines der ersten Mitarbeiter der 'Acta' führt, des Leipziger Professors der Poesie und Bibliothekars, Joachim Feller (1638—91), Hauslehrer bei Thomasius und "ein sehr fertiger Lateinischer Poet", doch "nicht allemahl gar zu genau der Reinigkeit der Lateinischen Sprache beflissen. . . Seine Gelehrsamkeit zeigte er unter andern auch bey denen Actis eruditorum, dabey er ein fleißiger Gehülffe war, und öffters seine eigenen Gedancken mit einfl¡essen ließ, aber darüber mit Jac. Gronouio, Eggelingio und der Carola Patina, welche ihren Vater Carolum Patinum defendirte, in Streit gerieth. . . , " obwohl er "sich selber öffters sine feile Fellerum (= Feller ohne Gehässigkeit) zu nennen pflegte".54) Gronovius war Professor in Pisa, dann in Leiden, und gab etliche antike Schriftsteller heraus, darunter auch, zusammen mit seinem Sohn, den Aulus Gellius. Eine theologische Veröffentlichung jedoch, 'Exercitationes Academicae de Pernicie et Casu Judae', Leiden 1683, rief in der gelehrten Welt Widerspruch hervor, u.a. auch den des temperamentvollen Feller, der sie unter dem Namen Franciscus Dermasius angriff. Das Werk wurde, zusammen mit einer Verteidigung, wieder aufgelegt und blieb wieder nicht ohne Kritik, was sich noch zweimal wiederholte.55) Der 'Commentarius in antiquum monumentum Marcellinae', Padua 1688, des französischen Professors der Medizin Carl Patin (1633—94), der sich aus Liebhaberei mit dem Münzwesen befaßte, gab Feller Gelegenheit, einen neuen Streit vom Zaun zu brechen, wurde aber von dessen zweiter Tochter Carola, von den 'Acta' als "doctissima eius filia" gelobt, in ihrer 'relatio De Literis Apologeticis', 'Acta eruditorum' 1691, glänzend abgefertigt. In diesem Zusammenhang forderte Feller auch den "gelehrten Criticus und Antiquanus" Johann Heinrich Eggeling (1639—1713) zu einer Auseinandersetzung heraus. Eggeling hatte zwei Schriften veröffentlicht, die eine, 'Über seltene Münzen des Kaisers Nero', Bremen 1681, ging aus dem Briefwechsel mit Patin hervor, die andere handelte über eine Abbildung der Mysterien der Ceres und des Bacchus auf einem Salbgefäß aus Onyx, Bremen 1682, in den 'Acta Erudi-

Fortsetzung Fußnote 5 2 ) ipsa materiae, ac ingeniorum Actis hìsce manum admoventium, varietate nata est, seu minus accuratum in disponendo argumentis ordinem, in tali scilicet scriptione, qualis haec nostra est, minime requirendum. 53) Z i t . bei Albert Tenbergen: O t t o Mencke. . ., a.a.O., S. 156. 54) Zedier, a.a.O., Bd. 9, 1 7 3 5 , S. 513. 55) Zedier, a.a.O., Bd. 11, 1 7 3 5 , S. 1 0 2 6 f f .

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torum' 1684 bzw. 1683 von Feller rezensiert.56) Dem setzte Eggeling lediglich die Schrift 'Vernichtung der Fellerschen Mäkeleien', Bremen 1687, entgegen. 57) Doch nicht nur solche, eher aus dem Temperament einzelner 58) z u erklärende Streitigkeiten durchziehen die 'Acta Eruditorum', sie spiegeln auch die kontroversen großen geistigen Strömungen der Zeit wider: Konfessionalismus und Aufklärung, Offenbarungs- und Vernunftglaube, überlieferungsgebundene Theologie und freie Forschung. Im zweiten Jahrgang der Zeitschrift von 1683 erschien aus der Feder Johannes Cyprians (1642—1723), eines "Lutherischen Theologus", als "fleißiger Mann berühmt", die Rezension des Buches "Unsterbliche Vernunft, gegen die Atheisten und Skeptiker bewiesen', Bremen 1683, verfaßt von Johann Eberhard Schweling, nacheinander Professor der Physik, der Rechte und der "allgemeinen Practischen Philosophie". Er war Anhänger des "Vaters der neuen Philosophie" Renatus Cartesius (Descartes), der auf Grund des von individuellem Selbstbewußtsein geprägten Satzes "Cogito ergo sum", den er für unbezweifelbar hielt, das Dasein Gottes und der Welt als rational bewiesen ansah. Mit dieser Rezension wurde der Cartesianismus — eine Geistesrichtung, die Scholastik und theologisch-dogmatische Bevormundung der Kirche überwinden sollte — den Gelehrten ganz Europas nahegebracht. Die 'Acta Eruditorum' verletzten damit den Interessenbereich der katholischen Kirche, so daß man — auch noch in den späteren Jahren — "zu Rom diese Monatsschrift in das Verzeichnis der verbotenen Bücher hat setzen wollen. Allein, weil die Herren Mencken die Ehre gehabt, mit verschiedenen Cardinälen zu correspondieren, so ist solches unterblieben und haben sie bis jetzo noch einen freyen Pass in Italien. Sie werden auch wohl vor vielen anderen Monatsschriften in ihrem Werthe bleiben".59) Wandlungen im kirchlichen Denken, hervorgerufen durch das Unabhängigkeitsstreben der selbstbewußt gewordenen Vernunft, dokumentieren zwei weitere Bücher, die in den 'Acta Eruditorum' rezensiert wurden. Johannes Faes (1646—1722), Prediger aus Stade, widerlegte mit seinem Buch: 'Christus Incoenatus' (= 'C. hat nicht gespeist'), Bremen 1683, den Marburger Professor Johann Philipp Tilemann (1640—1708), Anhänger der mysterienfrommen spekulativen Theologie und eifriger Verfechter der These, Christus habe im Kreis seiner Jünger auch für sich selbst 56) De numismatibus quibusdam abstrusis Imp. Neronis disquisitio per epístolas Ínter V.CL. Carolum Patirium DMP & Johannem Eggelingium Reipubl. Brem. Secretarium, harum editorem Bremae 1681, in: 'Acta Eruditorum', Bd. 3, Jg. 1684, S. 3 5 - 4 2 ; Mysteria Cereris et Bacchi, in vásculo ex uno Onycha usw. Ferdinandi Alberti, Ducis Brunsvicens. usw. per epistolam ad eundem evoluta, a Johanne Eggelingio. . . Bremae 1682, in: 'Acta Eruditorum' Bd. 2, Jg. 1683, S. 140—147. 57) Zit. bei Albert Tenbergen: Otto Mencke

a.a.O., S. 157 f.

58) Auch die Autoren der rezensierten Bücher waren manchmal hitzig: " A n Jacobo Gronovio ist hauptsächlich sein ganz unerträglicher Stolz zu tadeln, und die bittere, beissende A r t , w o m i t er allen Gelehrten überhaupt, sonderlich aber denen begegnet, mit denen er Streit g e h a b t . . . " (Zedier, a.a.O., Bd. 11, 1735, S. 1026). 59) Titel: Mens immortalis contra Atheos Scepticosque demonstrata; S. 335, zit. bei Tenbergen, a.a.O., S. 159.

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das Abendmahl genommen. Otto Mencke selbst übernahm die Rezension des Buches von Faes, der sich mutig gegen die kirchliche Orthodoxie gewandt hatte, und er schien dieser Auseinandersetzung solches Gewicht verschafft zu haben, daß Faes einen Skandal b e f ü r c h t e t e . 6 0 ) Doch in seiner Aufgeschlossenheit gegenüber den großen Fragen der Zeit stellte Mencke sogar den Standpunkt des Gegners heraus. Mencke muß zum Lager des sehr konservativen "berühmten Philosophus und Theologuszu Leipzig", 1 6D Valentin Alberti ( 1 6 3 5 — 9 7 ) gerechnet werden, der im Streit um die Herleitung des Naturrechts die Ansicht vertrat, es stamme aus dem Zustand der Unschuld. Dennoch rezensierte er persönlich ein Buch des größten Gegners Albertis, der das Naturrecht aus dem Zustand der verderbten Natur ableitete, des Freiherrn Samuel Pufendorf, des ersten deutschen Professors des Natur- und Völkerrechts, der scholastische Grundsätze des Naturrechts "über einen Hauffen geworffen, so gerieth alles wider ihn in Harnisch, also daß man ihm durch die vielen Streitschriften das Leben ziemlich sauer m a c h t e " . 6 2 ) | n seinem Buch 'Über die Stellung des christlichen Glaubens zum staatlichen Leben', Bremen 1 6 8 7 , 6 3 ) verficht Pufendorf die aus dem Naturrecht stammende Ansicht, daß die Kirche kein Staat sei. Die 'Acta Eruditorum' zeigten jedoch auch uns heute verschroben anmutende Abhandlungen an. So leisteten sie z.B. der um sich greifenden Titelsucht des Zeitalters mit der Rezension der juristischen Abhandlung Gerhard Feltmanns 'Über die Ehrentitel',64) ihren Tribut, die in zwei Bänden 1691 in Bremen erschien und die verschiedenen Grade von Titeln untersuchte, mit denen alle möglichen Personen ausgezeichnet waren, ihre Eigenart und Anwendung in allen Lebensgebieten, "denn thut man der Sache zu wenig, so kan solches vor eine Injuria und Beschimpfung angenommen werden".65) Auch diese Rezension hatte Mencke übernommen. Doch den Hauptinhalt der 'Acta Eruditorum' bilden Rezensionen und Abhandlungen aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich — getreu dem Willen der Herausgeber, dem gerade auf diesem Gebiet florierenden Ausland zu zeigen, daß sich das exakte Wissen in einem Land von der Bevormundung der Theologie löste, das sich von den schlimmen Folgen der Glaubenskriege gerade erholte. Schon der erste Jahrgang bietet 85 Beiträge aus den Sparten "Medica et Pysica" sowie "Mathematica", während alle weiteren Sparten zusammen — angeführt von "Theologia et ad Ecclesiasticam Historiam spectantia" — über "Jurídica", "Histórica et Geographica" bis zu "Philosophica et Philologia Miscellanea" 109 Beiträge ausmachen.

60) In den 'Acta E r u d i t o r u m ' stellte er die Frage: " U t r u m ex hac sit metuendam scandalem? " , zit. bei Tenbergen, a.a.O., S. 160. 61) Zedier, a.a.O., Bd. 1, 1732, S. 948. 62) Daselbst, Bd. 29, 1741, S. 1186. 63) De Habitu Religionis Christianae ad v i t a m civilem, in: ' A c t a E r u d i t o r u m ' , Jg. 1687, S. 345. 64)

De titulis honorum.

65) Z i t . bei Albert Tenbergen, a.a.O., S. 164.

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Philosophie und Philologie sind also — auch in den folgenden Jahrgängen — nur in Form von kleineren, vermischten Beiträgen vertreten, die sogenannte schönere Literatur fehlt ganz, es sei denn, daß literarhistorisch-lehrhafte Werke exzerpiert oder angezeigt werden, wie Morhofs 'Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, deren Ursprung, Fortgang und Lehrsätzen, worbey auch von der reimenden Pöeterey der Ausländer mit mehrern gehandelt wird', Christian Weises 'Reiffe Gedancken/dasist/allerhand Ehren- Lust-Trauer- und Lehr-Gedichte/zur Verbesserung der überflüssigen Gedancken'. Darunter erscheint der Titel lateinisch, und in lateinischer Sprache wird festgestellt, die deutsche Sprache sei von den alten Schrecken zu einiger Zivilisation gelangt, und Weises guter Stil wird gelobt.66) Breiten Raum dagegen nehmen teilweise kuriose medizinische Aufsätze ein, die vor allem deshalb auf das Interesse der gelehrten Kollegen rechnen konnte, weil sie z.T. auf Beobachtung beruhten. So befaßt sich die "Observatio medica I " des Professors der Medizin Ettmüller mit M i t e s s e r n . 6 7 ) Die Abhandlung enthält einen ausklappbaren Kupferstich, der die verschiedenen Arten in furchterregender Größe illustriert. Der französische Arzt Spon berichtet über eine Anatomie an der Leiche eines Epileptikers. Er glaubt, verhärtete und verklebte Blutgefäße, die Blut und Lymphe ins Gehirn zurückströmen ließen, seien für die epileptischen Anfälle verantwortlich.68) Zwei weitere Abhandlungen sind Übernahmen aus dem 'Journal des S9avans' und den 'Philosophical Transactions'.®^) Die eine tritt, weil sie geistige Defekte, physische Krankheiten und andre Nachteile befürchtet, für das Säugen von Kindern ohne den Dienst einer Amme ein, die andere berichtet von der Entdeckung der Spermatozoen im Labor van Leeuwenhooks. Der in diesem Bereich produktivste und wichtigste Mitarbeiter war der Jurist, Historiker, Philosoph, Philologe, Mathematiker, Geologe, Biologe, Physiker, Theologe, Politiker, Techniker und Erfinder Leibniz, ein Studienkollege Menckes: 70) trotz umfangreicher Beschäftigung mit größeren Arbeiten verging bis zu seinem Tod (1716) kaum ein Jahr, in dem er nicht mindestens einen Beitrag in den 'Acta' veröffentlichte. Er war durch einen umfassenden Briefwechsel mit fast allen Bildungszentren seiner Zeit verbunden, und die Einrichtung einer deutschen Gelehrtenzeitschrift, um die er sich selbst bemüht hatte, konnte einen so universalen Geist nur zu intensiveren rezeptiven und produktiven Anstrengungen herausfordern. Bereits 1669 hatte er, angeregt durch eine Veröffentlichung in den 'Philosophical Transactions', seine Theorie der abstrakten und konkreten Bewegung entworfen, und 1675 seinen ersten Beitrag für das 'Journal' unter dem Titel " L e

66) Bd. 1, Jg. 1682, S. 271-277 bzw. S. 361 f. 67) De crinonibus seu comedonibus infantum, daselbst, S. 316 f. 68) Observatio medica rara in apertione cadaveris cuiusdam Epileptici, a Dn. Jac. Sponio, Jg. 1682, S. 287 f. 69) De riutritione infantum, sine ministerio nutricis und Observationes microscopicae Antonii Levvenhooek, circa liquorum globosas et animalia in semine insectorum masculino; Jg. 1682, S. 197-199 bzw. S. 321-327. 70) Albert Tenbergen: Kulturgeschichtliche Plauderei, a.a.O., S. 176.

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principe de justesse des horloges portatives" veröffentlicht.?"!) Schon im ersten Jahrgang der 'Acta' wird er, auch im Index, wie ein Gütesiegel fast nur mit seinen Initialen aufgeführt, z.B. "G.G.L. Überlegung zur Trennung von Salz und Süßwasser" und eine Arbeit über Optik, "Autor: G.G.L.".72) Nur die erste seiner mathematischen Abhandlungen — weil innerhalb des Jahrgangs an erster Stelle — führt seinen vollen Namen: "De vera proportione circuli ad quadratum inscriptum in numeris rationalibus, a Gothofredo Guilielmo Leibnitio expressa".73) Darin wird die arithmetische Kreisquadratur mit der Leibniz-Reihe behandelt. In dem Beitrag vom Oktober 1684: "Neue Methode der Maxima, Minima sowie der Tangenten, die sich weder an gebrochenen noch an irrationalen Größen stößt, und eine eigentümlich darauf bezügliche Rechnungsart" entwickelt Leibniz zum ersten Mal die Grundzüge seiner Differentialrechnung. Bereits seine Arbeit über die abstrakte und konkrete Bewegung von 1671, die bei der Frage nach der Na,tur der Körper die Fallgesetze Galileis heranzieht, läßt ein Bewußtsein von der Notwendigkeit eines neuen Kalküls zur Geschwindigkeitsbestimmung erkennen. Gerade an diesem Spezialfall des Geschwindigkeitsbegriffs fand Newton seine Infinitesimalrechnung. Auf Leibniz' Entdeckung des Infinitesimalkalküls jedoch wirkte Pascals "Traité de sinus du quart de cercle" katalysierend. Die Untersuchung der infinitesimalen Dreiecke Pascals führte Leibniz zu der jenseits aller Möglichkeiten cartesischer Mathematik liegenden Erkenntnis, daß die geometrisch vollständig verschiedenen Probleme der Inhalts- und Tangentenbestimmung inverse Probleme sind. Die Grundzüge seiner Differentialrechnung hatte er 1676 Newton brieflich mitgeteilt, der in der ersten Auflage seiner "Prinzipien" 1687 Leibniz' Selbständigkeit anerkannte. Der Prioritätsstreit brach erst 1699 aus. Die Arbeit von 1684 blieb, da sie — womöglich absichtlich — dunkel geschrieben und durch grobe Druckfehler entstellt war, längere Zeit unverstanden, bis schließlich zusammen mit den Brüdern Bernoulli der Wettstreit um die Ausgestaltung der Infinitesimalrechnung einsetzte und Mencke die Mathematiker warnte, "sie sollen sich etwas mehr der Kürze befleißigen, da fast kein Buchdruckergesell sich mehr zu dieser Arbeit wolle gebrauchen lassen, in dem sie lieber drei andere, als einen solchen Bogen setzen". Aus einem Brief Leibniz' vom 7. November 1699, als der Prioritätsstreit einsetzte und Leibniz vielfältige Differenzen auszufechten hatte, ergibt sich, daß Mencke die "Sachen" nicht gern aufnehmen wollte, aus Besorgnis, seine 'Acta' möchten ein Tummelplatz der Leidenschaften w e r d e n . 7 4 ) Doch diese Befürchtungen erweisen sich rückblickend als relativ bedeutungslos: Leibniz hatte in vielen Fortsetzungen in den 'Acta Eruditorum' die Infinitesimalrechnung entwickelt und 71) Daselbst, S. 37, 68. 72) Bd. 1, Jg. 1682, S. 3 8 6 - 3 8 8 bzw. 1 8 5 - 1 9 0 . 73) Daselbst, S. 4 1 - 4 6 . 74) Edurd Bornemann (Hrsg.): Der Briefwechsel des G o t t f r i e d Wilhelm Leibniz in der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover, Nachdr. d. Ausg. Hannover 1895, Hildesheim 1966, S. 180 f.

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dazu beigetragen, daß die mathematischen Disziplinen über zwei Jahrhunderte hinweg Grundlage des geistigen Fortschritts w u r d e n . 7 5 ) Nicht nur aus seinem persönlichen Engagement für diese Zeitschrift ist sein Urteil verständlich, das er im letzten Jahr seines Lebens in einer für den Zaren Peter den Großen bestimmten Denkschrift in Hinsicht auf die Zeitschriften des Auslands abgab: er erteilt "den acta eruditorum lipsiensia fast den Preis", für seine wissenschaftliche Arbeit schienen sie ihm so unentbehrlich, daß er sie sich auf seinen Reisen selbst bis nach Italien nachschicken Meß. Schon sehr früh haben die 'Acta Eruditorum' ein positives Echo im Ausland. Bayle sagt über sie im Vorwort zu seiner neuen Zeitschrift 'Nouvelle de la république des lettres' 1684: " . . .J'ay trouvé qu'ils surpassent la grande réputation qu'ils se sont acquise...", und im Entwurf zu seinem kritischen Wörterbuch von 1692 nennt er die Herausgeber "les savans hommes qui font le journal de Leipsic, avec beaucoup d'avantage pour la République des lettres. . . " 7 7 ) Sogar poetische Begeisterung erregten die 'Acta'. Der italienische Dichter Adamo besingt sie in einem canto: "Du siehst die Acta aus Leipzig — Erhabne Glieder fassen in sich tiefen Abgrund des Wissens, in ihnen erscheint abgebildet eine kleine literarische Welt, eine Nebenbuhlerin der großen". 78) Kritischer jedoch zeigte sich die erste in deutscher Sprache erscheinende Zeitschrift, die 'Freymüthigen, lustigen und ernsthafften, jedoch Vernunfft- und gesetzmäßige Gedancken, oder Monath-Gespräche über allerhand, vornehmlich aber neue Bücher', zwischen 1688 und 1690 von Thomasius herausgegeben, der schon früh erkannt hatte, "daß die Abgeschlossenheit der Gelehrten und der Wissenschaft durch Nichts so sehr befördert werde, als durch den ausschließlichen Gebrauch der lateinischen Sprache.. .".79) Seine Zeitschrift richtet sich ausdrücklich "gegen Pedantismus, Heuchelei und gelehrte Gesellschaften". Sie enthielt Rezensionen und Anzeigen in Gesprächsform. Das Thema des ersten Hefts der 'Monaths—Gespräche' bildet die Frage, welche Literatur unterhaltsam und nützlich zugleich sei. Darüber diskutieren vier einander unbekannte Personen, die in einer Landkutsche von Frankfurt nach Leipzig zur Neujahrsmesse fahren. Logik, Rhetorik, Metaphysik, Theologie, klassische Philologie und ihre Untersuchungen werden lächerlich gemacht, und als das Gespräch 75) Albert Tenbergen, a.a.O., S. 185. 76) Lieselotte Richter: Leibniz und sein Rußlandbild, im A u f t r a g der Akademie der Wissenschaften zu Berlin zum 300. Geburtstag ihres Gründers G o t t f r i e d Wilhelm Leibniz, 1946, zit. bei Tenbergen, a.a.O., S. 176. 77) Z i t . bei Georg Witkowski, a.a.O., S. 187. 78) Vedi di Lipsia gli A t t i : Auguste membra Abisso di saper chiudon profondo. Emolo in lorda. Massimo rassembra compendiato un letteratio mondo, zit. bei Richard Treitschke, a.a.O., S. 56. 79) Discours, welcher Gestalt man denen Frantzosen im gemeinen Leben u n d Wandel nachahmen sollte, Leipzig 1687, zit. bei Heinrich Kurtz: Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken aus den Werken der vorzüglichsten Schriftsteller, Bd. 2, 2. A u f l . , Leipzig 1857, S. 453.

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auf die 'Acta Eruditorum' kommt, stürzt der Wagen um und alle vier fallen in den Schnee. Das nächste Heft schildert, wie die "vier Personen im Schnee herumbkrochen, davon die eine sich bald auf die Beine machte, und den Kutscher, so sie umbgeschmissen, wegen seiner Nachlässigkeit, ausschalt, der andere lachete und schüttelte den Schnee von den seinen Kleidern, der Dritte war weder zornig noch freudig, sondern stund in seiner Selbstgelassenheit so da, und halff den vierdten auffstehen, der sich so sehr erbärmlich gehabte, weil er nicht allein den Arm sehr zerschällert, sondern auch ein großes Loch in den Kopf gefallen hatte", wodurch er, wie ein späteres Gespräch zeigt, wieder zu Verstand kam. Hatte schon die Herausgabe des ersten Hefts, das mit einem Epigramm auf die 'Acta Eruditorum' schloß, die Herausgeber dieser Zeitschrift so empfindlich getroffen,daß sie Klage einlegten, so versetzte sie das nächste Heft noch mehr in Rage, in dem Thomasius die "Satyrische Schreib-Art" fortsetzte, mit der er "die Fehler und Mißtritte der Gelehrten gar offenhertzig abmahlte", da man glaubte, er wolle "durch gedachtes sein Journal den Actis Tort thun." Da der übrige Inhalt "einem und anderen gar beissend und anzüglich vorkam", wurde eine Titeländerung verfügt und "das Versprechen, ernsthaffter zu s c h r e i b e n " . 8 0 ) Doch das Gespräch nahm sehr wohl ein ernsthaftes Ende: als nützlich und unterhaltsam zugleich wurde die Herausgabe von Journalen angesehen, deren Themen in deutscher Sprache abgehandelt würden, und bei Besprechung der Journale insgesamt die 'Acta Eruditorum' mit großer Anerkennung erwähnt. Die 'MonathsGespräche', die sich im Gegensatz zu den 'Acta' an ein breiteres Publikum wandten und kein Blatt vor den Mund nahmen, wenn es darum ging, den Leser mit offen vorgetragener Kritik und Polemik auf ihre Seite zu ziehen, sind der erste Ausdruck des Zweifels an den Zielen des Polyhistorismus, die neueren Nützlichkeitserwägungen nicht standhielten. Das Unvergnügen über die Rolle, die sich der Gelehrtenstand als Vertreter dieser Geistesrichtung angemaßt hatte, machte sich in der Gelehrtensatire Luft. In dieser Form der Kritik geißelt auch Johann Burkhard Mencke (8. April 1674-1. April 1732) in seinen Reden "De charlatanería eruditorum" 1713 und 1715, die Gelehrsamkeit als Komödie um eines schönen, curiösen oder großartigen Scheins willen, das Rezensionsunwesen, die Ausschreiberei der gelehrten Journale, die kritische Attitüde und die rednerische Amplifikationstechnik. Besonders streng geht er mit der Ruhmsucht der Gelehrten ins Gericht, ihrem rigorosen Streben nach Titeln, Ansehen und akademischer Macht.81) Der dieses schrieb, war der zweite "Director" der 'Acta Eruditorum' und der Sohn Otto Menckes, "denn als derselbe den Jenner 1707 zum Druck befördert, wurde er noch in selbigem Monat mit einem harten Schlag-Flusse überfallen, wovon er den 29dito verblichen".82) "Sein Herr Sohn (hat) ihm noch auf seinem Tod-bette versprechen müssen/die Herren Collectores inständigst zu ersuchen/daß sie dieses Werck mit bißheriger dexterität (= Anstelligkeit) fernerhin befördern/und zu 80) Zedier, a.a.O., Bd. 43, 1745, S. 1582 f. 81) Conrad Wiedemann, a.a.O., S. 230 f. 82) Zedier, a.a.O., Bd. 20, 1739, S. 630.

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glücklichster Continuation, worzu Gott seinen Segen geben wolle/alles möglichste beytragen m ö c h t e n " . 8 3 ) 1702 bereits hatte der Geschichtsprofessor Johann Burkhard Mencke eine Tochter des Verlegers der 'Acta', Gleditsch, geheiratet, was von "nicht geringem Einfluß auf das Gelingen der 'Acta Eruditorum' war".84) Er war selbst fleißiger Mitarbeiter der Zeitschrift, und seine Beiträge gehören zu den gründlichsten. Nach Bayles Vorbild betrachtete er alle als Bürger der Gelehrtenrepublik, und Unparteilichkeit zeichnet auch seine Rezension aus, wie z.B. die der Biografie Miltons, verfaßt von dem englischen "Freidenker" John Tollant. Der "Monarchist" Mencke spricht mit Anerkennung über den Charakter des großen Demokraten Milton.85) Gründlich und mit ernstem Interesse ist die Rezension über Christian Weises oratorisches Systema abgefaßt,86) bei seinem literarischen Engagement nicht weiter verwunderlich: 1717 erweiterte er die Görlitzer poetische Gesellschaft zu der Deutschübenden poetischen Gesellschaft, der Gottsched seit 1724 angehörte und bald zu ihrem Leiter wurde.87) In Ergänzung zu den 'Acta Eruditorum' gab Mencke seit 1715 wöchentlich zweimal die Leipziger 'Neue Zeitungen von gelehrten Sachen' heraus, die in deutscher Sprache die bedeutendsten wie die unscheinbarsten Ereignisse aus dem Gelehrtenleben darbot. Schon vor dem Tod Menckes am 1. April 1732 sorgte sein Sohn Friedrich Otto, Jurist, Leipziger Ratsherr und späterer königlich polnischer und kurfürstlich sächsischer Hofrat " m i t Glück" für die "gleichsam erblich überkommene Fortsetzung sowohl derer. . . 'Acta Eruditorum' als auch der deutschen gelehrten Z e i t u n g e n " . 8 8 ) Die 'Nova Acta Eruditorum', wie sie jetzt hießen, genossen jedoch nicht mehr das hohe Ansehen der 'Acta Eruditorum'. Nach Friedrich Otto Menckes Tod am 15. März 1754 wies die Witwe mit der Verpflichtung einer Anzahl hervorragender Gelehrter zu weiterer Mitarbeit nach, daß die Voraussetzung für die Erhaltung des Privilegs gegeben sei. Die Redaktion der 'Nova Acta Eruditorum' und der 'Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen' hatte sie dem ungarischen Professor der Dichtkunst, Universitätsbibliothekar und Hofrat Karl Andreas Bei übertragen. Das Privileg wurde am 26. September 1780 auf ihre ledige Tochter und ihren Schwiegersohn Professor GeNer übertragen, da ihr Sohn und sie selbst mittlerweile verstorben waren. Die Regierung tadelte, daß an Stelle gründlicher Besprechungen als Lückenfüller lediglich unwesentliche Programmata geliefert würden. Bald erschien die Zeitschrift überhaupt nicht mehr, und die Universität stellte fest, daß sie ihr Ansehen schon längst unwiederbringlich verloren hätte. 83)

Friedrich D. G o t t l o b Seligmann: Einen kurtzen E x t r a k t von der höchsten und besten Wissenschaft stellete bey Hochansehnlicher Leichenbestattung Des. . . Herrn Ottonis Menckenii, Leipzig 1707, zit. bei Tenbergen; O t t o Mencke. . ., a.a.O., S. 166.

84)

Richard Treitschke, a.a.O., S. 23.

85) ' A c t a E r u d i t o r u m ' , Jg. 1700, zit. bei Treitschke, a.a.O., S. 57. 86) Daselbst, Jg. 1707, S. 346. 87)

Flathe, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 21, Leipzig 1885, S. 310.

88) Georg W i t k o w s k i , a.a.O., S. 188 f ; Treitschke, a.a.O., S. 24, 58; Zedier, a.a.O., Bd. 2 0 , 1739, S. 619.

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Im Todesjahr Bels (1782) erschien erst der Jahrgang 1776, mit dem die Zeitschrift ruhmlos zugrunde ging. Eine Neuauflage kam nicht zustande, obwohl sich der Verlag Breitkopf, der die 'Neuen Zeitungen' weiterführte, am 8. November 1786 zur Fortsetzung der 'Acta Eruditorum' bereiterklärte unter der Bedingung, daß seine durch die Herausgabe der 'Neuen Zeitungen' erlittenen Verluste ersetzt würden, die er jedoch selbst verschuldet hatte.89) Im genau 100 Jahre umfassenden Zeitraum des Erscheinens der 'Acta Eruditorum' wurden 117 Bände ausgeliefert: 'Acta Eruditorum', 1682-1731=50 Bände; 'Nova Acta Eruditorum', 1 7 3 2 1776=43 Bände;90) 'Acta Eruditorum Supplementa' 91 ) 1692-1734=10 Bände; 'Ad Nova Acta Eruditorum Supplementa', 1735—1757=8 Bände; lndices=6 Bände. Die 'Acta Eruditorum' lösten die unter den Gelehrten übliche Kommunikationsform des Briefwechsels ab und ersparte ihnen, die vielfach finanziell schlecht gestellt waren, die Anschaffung eigener Bibliotheken, denn der Aufbau von wissenschaftlichen Gebrauchsbibliotheken steckte erst in den Anfängen. Das neue Kommunikationsorgan war universal und international zugleich. Als Produkt streng lutherisch-orthodoxer Polyhistoren zeigt es jedoch öfter Beweise des Autoritätsdenkens als die neue kritische Einstellung der Aufklärungszeit. "Trotzdem zählt die Zeitschrift durch die unvergleichliche Übersicht der gesamten wissenschaftlichen Produktion zu den wertvollsten Hilfsmitteln, die der Erweckung eines neuen wissenschaftlichen Geistes d i e n t e n " . 9 2 ) Doch die Gelehrtenrepublik alten Stils befand sich in der Auflösung, gelehrte Artikel wurden im Laufe des 18. Jahrhunderts in Tages- oder Wochenzeitungen a u f g e n o m m e n , 9 3 ) u n d mit der Abwendung vom Ideal des enzyklopädisch gebildeten humanistischen Gelehrten traten an die Stelle der Gelehrtenzeitschriften nach und nach die wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Eines ist indes unbestritten: "Die 'Acta Eruditorum' bildeten die Keimzelle zu einem ungeheuer reichhaltigen deutschen wissenschaftlichen Zeitschriftenwesen".94)

89) Georg Witkowski, a.a.O., S. 188, 190. 90) Nach Ende des Siebenjährigen Krieges, zwischen 1764 und 1767, erschienen, wohl wegen der Zerrüttung der finanziellen Verhältnisse Sachsens (Witkowski, a.a.O., A. 164) in je zwei Jahren nur ein Band (Prutz, a.a.O., S. 285). 91) Darin Bücher angezeigt, die zu spät in Deutschland eintrafen, um noch im entsprechenden Band der 'Acta Eruditorum' berücksichtigt zu werden. 92) Georg Witkowski, a.a.O., S. 186 f. 93) Gerhard Menz: Gelehrtenzeitschriften, a.a.O., Sp. 1217. 94) Albert Tenbergen: Kulturgeschichtliche Plauderei, a.a.O., S. 185.

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Ulrich Schmid GESPRÄCHE IN DEM REICHE DERER TODTEN (1718-1739)

Im August 1718 1 ) erschien in Leipzig eine Zeitschrift, die folgenden Titel trug: 'Gespräche In Dem Reiche derer Todten / Nebst dem Kern der neuesten Merckwürdigkeiten und sehr wichtig darüber gemachten Reflexiones', dazu der Untertitel: 'Erste Entrevue, zwischen Leopoldus I, Römischer Kayser / . . . und Ludovicus X I V , König in Frankreich / . . .'). Der anonyme Verfasser erklärte dabei in seinem Vorbericht zur Abfassung der Schrift:2) " M a n kann versichern/ daß diese Gespräche/ dem geneigten Leser keineswegs langweilig oder verdrüßlich seyn werden: Denn sie halten in sich die geheimen Absichten derer beyden Häuser/ Oesterreich und Bourbon; die daraus entstandene schwere Kriege und gemachte Friedensschlüsse/ und/ was sonsten von der Historie des Kaysers Leopoldi I und Ludovici X I V am merkwürdigsten ist; allerhand curieuse Fragen/ welche beyde Monarchen einer dem anderen/ zur Erforschung ihrer Hertzen thun; die Erzehlungen/ so sie von alledem/ was nach ihrem Tode auf der Welt passiret/ erstatten die Ablesung der neuesten Zeitungen/ so ein Secretarius verichtet; und endlich die Reflexiones, welche die beyde/ auf Erden so mächtig gewesene Häupter darüber machen. Woferne nun diese Erste Entrevue das Glücke hat wohl aufgenommen zu werden/ und ihre Leser zu contentiren; so wird man nicht ermangeln/ deren noch mehr/ monatlich heraus zu geben/ u n d jederzeit solche Personen zusammen zu stellen/ welche in der Welt einen hohen Rang gehabt/ derer Historie wichtig und merckwürdig/ und die von dem Lauff derer Zeiten gute Nachricht halsen/ und davon am besten zu urtheilen wissen. D.F. von W."

Wer war nun dieser " D . F . von W.", der hiermit ein Werk begann, das seine Zeitgenossen sowohl liebten und regelrecht verschlangen als auch scharf verurteilten, eine Fülle von Nachahmern hervorrief und von damals bis heute eine so unterschiedliche Beurteilung von Geschichts-, Literatur- und Publizistikwissenschaftlern erfahren hat. Als David Fassmann, der sich hinter dem Signum verbarg, mit der Herausgabe seiner 'Gespräche in dem Reiche derer Todten' begann, hatte er für den Inhalt seiner Zeitschrift, die bis 1739 noch insgesamt 240 Entrevuen (Zusammenkünfte) bringen sollte, durch sein bis dahin geführtes Leben, durch seine Bildung und sein Wissen einen enormen Erfahrungsschatz gesammelt und damit eine gute Grundlage geschaffen. Fassmann, 1683 in Wiesenthal (W.) im sächsischen Erzgebirge geboren, hatte eine Universität besucht, sich als Schreiber bei Ä m t e r n und Gesandtschaften durchgeschlagen, war vorübergehend Quartiermeister bei der Armee des Königs von Sachsen und Reisebegleiter eines englischen 1)

'Neue Zeitung von gelehrten Sachen', Nr. 62 vom 3.9.1718, S. 568; hier wird erwähnt, daß die 'Totengespräche' " v o r einigen Tagen. . . aus der Presse gekommen. . . " , zit. nach Wilhelm Damberg: Die politische Aussage in den Totengesprächen David Fassmanns ('Gespräche in dem Reiche derer Todten', 1718—1740). Ein Beitrag zur Frühgeschichte der politischen Zeitschrift, phil. Diss. Münster 1952, S. 141 (Masch.Schr.).

2)

'Gespräche in dem Reiche derer Todten', 1. Entrevue, Leipzig 1718, Vorbericht.

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Adeligen, m i t dem er die Welt durchreist und so Holland, England, Irland, Frankreich und Italien kennengelernt hatte. A b 1716 war er dann in Halle als Schreiber tätig und studierte dort Theologie und Philosophie, bevor er schließlich im Jahre 1717 nach Leipzig übersiedelte und zunächst als Sprachlehrer tätig war. Endlich aber begann er dann seine Arbeit als freier Schriftsteller und Journalist.3) Hier in Leipzig, der aufstrebenden Büchermessestadt Deutschlands und einer der bedeutendsten Buchhändlerstädte/*) begann für ihn die entscheidende Epoche seines Lebens: Fassmann wurde, nach Aussage Haackes, "einer der ersten deutschen Publizisten, die einen Teil ihres Lebensunterhaltes aus dem Redigieren und Expedieren einer Zeitschrift zu gewinnen w u ß t e n " ; 5) Nach Damberg war er "vielleicht der erste Vertreter eines selbständigen Journalistenstandes".6) Sieht man einmal von der Zeit am preußischen Hof in Berlin ab, in der er von 1726 bis 1731 Mitglied des "Tabakskollegiums" Friedrich Wilhelm I., Hofnarr und Zeitungsreferent war — in dieser Zeit führte er allerdings seine Arbeit an den 'Totengesprächen' weiter, wie er auch andere Publikationen betrieb — "so machte Fassmann niemals wieder, wie in früheren Jahren, den Versuch, einen anderen Beruf zu ergreifen"?) und blieb auch bis zu seinem Tode (1744) freier Journalist. Rechnet man die gesamte publizistische Schaffenszeit Fassmanns von 1717 bis 1744, so zog sich die Arbeit an den 'Totengesprächen' 22 Jahre davon hin, von 1718 bis 1740, so daß diese Zeitschrift zweifellos das Hauptwerk des Autors war. Insgesamt erschienen in diesen 22 Jahren 240 'Gespräche', die im Durchschnitt etwa 70 bis 80 Quartseiten stark waren. Eine feste gleichbleibende Periodizität konnte allerdings nicht eingehalten werden, was wohl auch bei anderen Periodica jener Zeit der Fall war. Im Schlußjahr 1739 erschienen noch fünf, sonst aber jährlich mindestens sieben, ansteigend bis zu sechzehn Exemplare. Die im ganzen 240 Entrevuen wurden zu je 16 in 15 Bänden, von meist über 1200 Seiten, zusammengefaßt. 8) A n das Ende eines solchen Sammelbandes von 16 Gesprächen stellte Fassmann ein "Register, derer remarquablesten Sachen, welche in dem. . . soundsovielten Bande derer Todtengespräche, von der . . . soundsovielten biß zur . . . soundsovielten Entrevue incl. enthalten sind", eine A r t Enzyklopädie also, welche den großen Wissensstoff alphabetisch ordnete. Dieses Register war in ei3)

Robert E. Prutz: Geschichte des deutschen Journalismus, Erster (=einziger) Teil, Hannover 1845, S. 398 f.; Wilmont Haacke: David Fassmann, in: 'Neue Deutsche Biographie', Bd. 5, Berlin 1960, S. 28; Karl d'Ester: David Fassmann, in: Walther Heide (Hrsg.): Handbuch der Zeitungswissenschaft, Bd. 1, Leipzig 1940, Sp. 973 f.; außerdem auch: Heinz Dietrich Fischer (Hrsg.): Deutsche Publizisten des 15. bis 20. Jahrhunderts, München - Berlin 1971, S. 87—97.

4)

Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels, Bd. 2, Leipzig 1909, S. 263, 343.

5)

Wilmont Haacke: Die Zeitschrift - Schrift der Zeit, Essen 1961, S. 44.

6)

Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 22.

7)

Daselbst, S. 41.

8)

Ludwig Lindenberg: Leben und Schriften David Fassmanns (1683—1744) mit besonderer Berücksichtigung seiner Totengespräche, phil. Diss. Berlin 1937, Berlin 1937.

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nem sowohl Personen- als auch Sachregister.9) Im Jahre 1740 folgte noch ein Supplementband, der noch umfangreicher war als die 15 Sammelbände. Dieser Ergänzungsband brachte ein Quellenverzeichnis, eine Inhaltsübersicht aller Entrevuen, ein Gesamtregister und einen Abriß über die Weltgeschichte.11^ Die äußere Gestaltung der 'Zusammenkünfte' war vom ersten bis zum letzten Exemplar gleich: Das Titelblatt blieb bis auf geringe Abweichungen unverändert, und jedem Gespräch war ein Bild, ein Kupfertiefdruck, vorangestellt, das die auftretenden Personen darstellte. Unter dem Bild stand ein Vierzeiler, so beispielsweise zu Beginn der ersten Unterredung zwischen Ludwig XIV. und Leopold I.: "Was uns verhinderte im Leben Freund zu seyn. Der Rang, Ehr und Gewalt insonderheit die Kronen ist unsern Augen jetzt nur Schatten dunckler Schein, Drum können wir in Fried nun wohl beysammen wohnen". Die Landschaft, in der sich die abgebildeten Helden befanden, entsprach zumeist den Orten, wo sich die Toten zu Lebzeiten aufgehalten hatten. Auch ihre Kleidung war milieugerecht. Äußerlich ist ferner noch festzuhalten, daß man die "Brotschrift in einer der heutigen Corpus nahekommenden Schriftgröße" verwandte. Ferner gab es die ersten Ansätze einer typologisch-graphischen Hervorhebung wichtiger Dinge durch Fettsatz und Übergrößen in fast jedem Gespräch.11) Auch der innere Aufbau der Handlung blieb durchgängig gleich. Wie aus dem Titel der Schrift bereits zu sehen ist, trafen sich je zwei berühmte historische Personen, teils alter teils neuer Zeit, im Reiche der Toten. Meistens waren es Monarchen; aber auch Feldherrn, Minister, Gelehrte, Schriftsteller, Geistliche Würdenträger und Mätressen u.a. waren darunter. Der Ort, an dem sich die beiden Unterredenden trafen, wurde meist nicht näher beschrieben. Es konnte eine "anmuthige Gegend", ein "gewisses Thal" o.ä. sein, auf jeden Fall aber eine Stelle im Totenreich. Der Zugang der Lebendigen aus der Welt war — wie in der griechischen Sage — durch das trennende Gewässer versperrt. Nur mit der Hilfe Charons, des Fährmanns auf dem Acheron, konnten die Aufzunehmenden in einem Nachen das Reich der Toten erreichen. 12) Bei der Zusammenkunft kam es sodann zu einem 'Gespräch', in dem die eine Person der anderen ihre Lebensgeschichte und überhaupt alles Wissenswerte — Merckwürdige — , was sich zu ihrer Lebenszeit und in ihrer Umgebung zugetragen hatte, erzählte. "Einer hörte dem anderen sehr aufmerksam und mit ganz "besonderem Pläsir" zu; auch unterbrach er die Erzählung manchmal durch Fragen, die teils zur näheren Charakteristik der ge-

9) Käthe Kaschmieder: David Fassmanns Gespräche im Reiche der Toten (1718—1740). Ein Beitrag zur deutschen Geistes- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, phil. Diss. Breslau 1934, Breslau 1934. 10) Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 66; Ludwig Lindenberg, a.a.O., S. 88, 130. 11) Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 68 f. 12) Robert E. Prutz, a.a.O., S. 403; Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 71.

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schilderten Personen, teils und hauptsächlich zur Anknüpfung und Einführung allerhand gelehrter Erläuterungen dienten". 13) A m Ende eines jeden 'Gespräches' erschien ein Sekretarius und las die neuesten Nachrichten aus dem Reich der Lebendigen den Unterredenden vor. Der Bote Merkurius hatte zuvor diese Nachrichten zugestellt: 14) "(Mercurius) . . . überreichet einem Secretario ein Paquet, derer neuesten Merkwürdigkeiten aus dem Reiche der Lebendigen/ welche sich die beyden Potentaten/ nach deme sie einander ihre Historie erzehlet/ vorlesen lassen/ und sonderbare Reflexiones darüber machen". Forderten die unterredenden Persönlichkeiten sowohl durch das Interesse, das man für sie erwarten durfte, als auch durch den Umfang der Überlieferungen zu breiterer Behandlung heraus, als es der zur Verfügung stehende Platz von normalerweise etwa 80 Quartseiten zuließ, so wurden die Dialoge fortgesetzt. So brachten nur 107 von 240 Entrevuen die Lebensgeschichte gleich m i t der gegebenen Zusammenkunft zu Ende, 50mal erstreckte sich die Erzählung über drei, je einmal über vier bzw. über fünf Entrevuen. Personen, die Fassmann mit einem fortgesetzten Bericht behandelte, waren z.B. Alexander der Große, Nero, Augustus, und Prinz Eugen.15) Die Form des Dialoges unter Verstorbenen war keine Erfindung Fassmanns. Sie ging auf den Satiriker und Spötter Lucian (120 bis 200 n.Chr.) zurück, der sie als Gattung in die Literatur eingeführt und 30 Totengespräche mit spaßhaften Plaudereien, Unterredungen historischer Persönlichkeiten und m i t einer ausgiebigen Satire der Zeitverhältnisse geschrieben hatte. Seitdem fand diese Form immer wieder Nachahmer: Reuchlin übersetzte 1495 den 12. Dialog Lucians, ferner benutzten sie Hutten, Erasmus sowie der Nürnberger Hans Sachs. In Frankreich waren es u.a. Boileau und dann Fontanelle, Fenelon und Voltaire. Auch nach Fassmann hatte diese Gattung weiterhin ihren festen Platz in der deutschen Literatur (Schlegel, Wieland), von der Rentsch sagt, daß es "für einen phantasie- und geistvollen Schriftsteller nicht leicht eine dankbarere Form zur Einkleidung herber Satire gibt". 16) Daß die Anregung zur Übernahme dieser Form für seine Zeitschrift von Fontanelle ausgegangen war und das Beispiel Lucians, Fenelons und Fontanelles gewissermaßen "ein literarisches Patronat" waren, gab Fassmann selbst zu. Sein Wagnis und damit sein Verdienst waren es aber, daß er in seiner Schrift "diese Form in die periodische Literatur hineintrug. . . In einer Zeit, in der das Räsonnement aus der Tagespresse verbannt war, erhielt die Zeitschrift damit durch die Übernahme der Totengesprächs-Form eine neue Möglichkeit zur getarnten Beeinflussung". 17)

13)

Robert E. Prutz, a.a.O., S. 404.

14)

'Gespräche in . . .', 1. Entrevue, Leipzig 1718, Erklärung des Kupfers.

15)

Ludwig Lindenberg, a.a.O., S. 129.

16)

Johannes Rentsch: Lucianstudien, Plauen 1895, S. 15, 32, 42.

17)

Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 141 f.

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Den Dialog als solchen sah Fassmann als das beste Verständigungsmittel an, um seine Gedanken klar, verständlich und einfach auszudrücken: 18) "Deshalb habe ich die Feder gleichfalls ergriffen und die beyde miteinander Redende aufgeführet, weil ich vermeint, auf diese Weise am allerbesten von dieser wichtigen Sache pro und contra discutiren und endlich einen unparteiischen Schluß darüber machen zu können". Neben dieser Form des Dialoges Verstorbener benutzte Fassmann aber auch noch ein weiteres Verständigungsmittel zwischen Zeitschrift und Rezipient der damaligen Zeit: seine persönliche Darstellungsgabe, seinen journalistischen Stil, seine Fähigkeit, Geschichte für den einfachen Mann — ob gelehrt oder ungelehrt — verständlich darzustellen. So bescheinigte ihm später selbst Prutz "den eigentümlichen Charakter dieser Schriften, daß sie Alles, was die Zeit damals an pikanten und lockenden Effecten einzeln hervorgebracht hatte, auf eine geschickte Weise in sich vereinigten. . . Sie strotzten von Belesenheit und historischem Wissen. Aber zugleich wußte diese Gelehrsamkeit sich so artig hinter allerlei novellenartigen Verkleidungen, in Gesprächsform und dramatische Situationen zu verstecken, daß der Leser sich unterhielt indem er zu lernen glaubte, und umgekehrt". Prutz fährt f o r t : "Der gute Fassmann kannte den Lauf der Welt zu wohl, um nicht mitten in diese moralischen Zierrathen unterweilen auch ein kleines Zötchen, eine feine Zweideutigkeit, ein saftiges Geschichtchen einzuflechten".19) Außerdem, so meint R.E. Prutz, beherrschte Fassmann "den Taschenspielerapparat der damaligen Gelehrsamkeit in seinem ganzen Umfange mit wünschenswert e s t e r Sicherheit: alte und neue, weltliche und geistliche Geschichte, Genealogie, Heraldik, Ceremonienwesen, Geographie, Statistik, Diplomatik, Strategie, Philosophie — er weiß es Alles, nach A r t der chinesischen Kästchen, wo immer das eine im anderen steckt, in seinem 'Schatzkasten mit historischen Kleinodien'(wie er die 'Todtengespräche' selber nennt) so künstlich ineinander zu schachteln, und dann wieder dem Leser so prompt und sicher hinzuspielen, daß man es nicht besser verlangen kann".20) So war es also ganz besonders der Mensch Fassmann, der die Zeitschrift formte. Die Persönlichkeit des Herausgebers war der entscheidende Faktor im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Ein-Mann-Zeitschriften.21) Fassmann wollte in seiner Zeitschrift verstanden werden. In bewußtem Widerspruch zu den gelehrten und allgemeinwissenschaftlichen Zeitschriften der frühen Epoche — Zeitraum vor 1700 — wandte er sich, zusammen mit einer großen Zahl anderer Verfasser historisch-politischer Zeitschriften an einen breiten Empfängerkreis. Fassmann wollte vor jedermann schreiben, "er wollte gelesen werden und keine Makulatur fabrizieren. Daher, so sagte er ausdrücklich, verwende er auch wenig Latein, Hebräisch, Arabisch und Malabarisch, was — und hier folgt einer 18)

'Extraordinäre Totengespräche zwischen dem Superintendenten Rösner u n d Ignatius von Loyola, Vorrede zu Bd. 8, zit. nach Käthe Kaschmieder, a.a.O., S. 10.

19)

Robert E. Prutz, a.a.O., S. 399.

20)

Daselbst, S. 401 f.

21)

Vgl. Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme. 2 Bde., Wiesbaden 1 9 5 8 - 1 9 6 2 , Bd. 1, S. 39.

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der vielen ironischen Seitenhiebe auf seine gelehrten Widersacher — nach deren Ansicht der größte Fehler der Totengespräche' sei".22) Nun, es war wohl nicht der "größte Fehler der 'Totengespräche'", denn gerade auf G r u n d dieser Allgemeinverständlichkeit, des Unterhaltungscharakters, der dialogischen Form und der Originalität des Inhalts verzeichnete die Zeitschrift einen riesigen Erfolg. Fassmanns Absicht, vor "jedermann, gelehrt und ungelehrt", zu schreibem wurde ganz und gar erreicht. Die Leser waren begeistert. S o bestätigte der schwäbische Journalist Schubart aufgrund des Fragments eines 'Totengespräches' zwischen Fassmann, Friedrich dem Großen und Hermann dem Cherusker den Erfolg des Autors: "Seine Totengespräche' waren die Lieblingsleserei der deutschen Fürsten, Minister, Generäle. Rumoren auch noch in den Wachstuben. Sie las der Prälat und der Dorfschulmeister, die Matrone und das Nähmädel mit gleichem Entzücken. Auch stifteten sie wirklich ungemein viel Gutes".23) Dieser Beifall hielt bis zu Fassmanns T o d unvermindert an, also fast ein Vierteljahrhundert, was damals beinahe ein Menschenalter war. S o wundert sich denn auch Prutz über die Beliebtheit der Lektüre Fassmanns: " D i e Generation von 1740 las ihn mit dem selben Eifer wie die von 1720".24) Selbst noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts, 1782, rühmte ein anderer Verehrer die Fassmannschen 'Totengespräche' als ein Werk, dem "mancher ehrliche Handwerker seine zeitkürzende erbauliche Lust und manche wißbegierige Seele Meere von historischen Kenntnissen noch bis auf diese Stunde demütig verdankt". 25) Freilich, die 'Totengespräche' hatten aber nicht nur Verehrer. Eine Reihe zeitgenössischer Kritiker, Spötter, Neider und Nachahmer stellte sich ebenfalls ein. Dazu "waren kirchlichen Würdenträgern und den preußischen und sächsischen Zensurstellen seine schier unangreifbare Schilderungsweise ein D o r n im Auge".26) In dem Gespräch zwischen dem Dichter Johann Christian Günther u n d einem Unbekannten (1738) urteilte der Verfasser nicht günstig über die Zeitschrift: " I c h liebe das Natürliche und hasse alles dieses, was diesem zuwiderläuft. Nichts ist mir unnatürlicher vorgekommen als diese Gespräche des Herrn Fassmann". 27) Ein Spötter, anscheinend ein Leipziger Student, verfaßte bereits 1724 ein "gar feines Gespräch im Reiche der Toten zwischen den abgeschiedenen Geistern eines Ochsen und eines Schweines".28)

22)

Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 22 f.

23)

Karl d'Ester: Das politische Elysium oder die Gespräche der Todten am Rhein, 2 Bde., Neuwied 1936-1937, Bd. 1, S. 134.

24)

Robert E. Prutz, a.a.O., S. 405.

25)

Johannes Rentsch, a.a.O., S. 34.

26)

Wilmont Haacke: Die Zeitschrift — Schrift der Zeit, a.a.O., S. 43.

27)

Karl d'Ester: Das politische . . ., a.a.O., S. 134.

28)

Johannes Rentsch, a.a.O., S. 36.

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Die große Resonanz u n d d i e h o h e A u f l a g e rief aber auch die Neider u n d Nachäffer auf d e n Plan, die Fassmann i m m e r w i e d e r in seinen 'Gesprächen' a n g r i f f , so z.B. auch a m Ende in seiner V a l e t r e d e : 29) "Der rasende Neid war demnach bedacht, alles zu thun, was ihm seine höllische Wuth inspirirte, um euch, und mich verhaßt zu machen. Da mußten Pasquillen und Comoedien wider uns, mit vielen Kosten angestiftet, und von Leuten, die rechter Teufelsart, ausgebrütet werden. Da hörte man uns in gewissen, aus unseren Feinden bestehenden, Gesellschaften, unaufhörlich verachten, und die ärgsten Lügen wider uns erdichten". In Bezug auf die Nachäffer heißt es da;30) "Denn es ist entsetzlich, was sich vor Nachäffer gefunden, die sich eingebildet und bestrebet, eben ein solches Glücke zu haben, wie ihr, ihr meine Todtengespräche gehabt, indem ihr viele kluge Liebhaber und Freunde gefunden. Also sind vielleicht mehr als sechzigerley Gattungen anderer Todtengespräche, dieser nicht zu euch gehören, zum Vorschein gekommen, haben aber auch insgesamt bey rechter Zeit, wieder aufgehöret und eingepacket". Neben diesem Haß u n d der F e i n d s c h a f t vieler A u t o r e n waren aber auch Widerstände v o n K i r c h e u n d Staat zu verzeichnen. V o n der Kanzel w u r d e gegen die Z e i t s c h r i f t gepredigt. Wie D a m b e r g herausfand, so brachte der J o u r n a l i s t e n b e r u f Fassmann mindestens " v i e r Z u s a m m e n s t ö ß e m i t der Zensur, 14 Tage Gefängnis u n d dazu n o c h F l u c h t u n d A n g s t e i n " . 3 1 ) Dazu b e r i c h t e t e der A u t o r selber in seiner V a l e t r e d e : " M i r habt ihr, ihr meine Todtengespräche bißweilen Verdruß und Händel gemachet. Den größten Lerm verursachte die confiscirte drey und achtigste Entrevue, zwischen dem Russischen Kayser Petro I Magno, und dem grausamen Czaar Iwan Basilowitz. . .". A u c h b e r i c h t e t e er, daß m a n i h n wegen eines 'Totengespräches' z u r Rechenschaft ziehen w o l l t e , das er g a r n i c h t v e r f a ß t h a t t e . 3 2 ) Ü b e r h a u p t war in Kursachsen zu jener Z e i t ein besonders gefährlicher B o d e n f ü r die p e r i o d i s c h - p o l i t i s c h e Zeits c h r i f t ^ ) u n d n i c h t o h n e G r u n d ließ Fassmann, " d e r es d u r c h a u s n i c h t l i e b t e , sein L i c h t u n t e r den S c h e f f e l zu s t e l l e n " seine 'Gespräche in d e m Reiche derer T o d t e n ' a n o n y m erscheinen. 3 4 ) In Leipzig w i e auch in W i t t e n b e r g , w o m a n a u f die Professoren als Zensoren z u r ü c k g r e i f e n k o n n t e , war der staatliche E i n g r i f f besonders h a r t zu s p ü r e n . 3 5 ) A n d e r e r s e i t s m u ß m a n zu b e d e n k e n geben, daß die Zensurverhältnisse der damaligen Z e i t so beschaffen w a r e n , daß v o r allen Dingen d i e Zeitungen sehr stark d a r u n t e r l i t t e n . Die Z e i t s c h r i f t e n w u r d e n dahingegen o f t als u n v e r f ä n g l i c h e r gehalten u n d h a t t e n so einen größeren Freiheitsraum.36)

29) 'Gespräche in . . .', 240. Entrevue, Leipzig 1739, Valetrede. 30) Daselbst. 31) Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 44. 32) 'Gespräche in . . .', 240. Entrevue, Leipzig 1739, Valetrede. 33)

Karl Biedermann: Deutschland im 18. Jahrhundert, 2 Bde., 2. Aufl., Leipzig 1880, S. 144 f. 34) Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 58. 35) Johann Goldfriedrich, a.a.O., S. 465. 36)

Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815, Berlin 1969, S. 196.

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Aber all diese aufgezählten Maßnahmen und Widerstände hatten zur Folge, daß der Erfolg der Zeitschrift nur noch größer wurde, so daß Fassmann sagen konnt e t ) " j a der Neid that eine ganz contraire Wirckung. Denn wie er am meisten wütete und tobte, stieget ihr aufs höchste und wurdet mit der größten Begierde gesuchet". Weitere den Erfolg der Zeitschrift begünstigende Faktoren in dieser Zeit auf der Wende vom Hochabsolutismus zum aufgeklärten Absolutismus waren vor allen Dingen politisch-historischer Natur. Damberg führt aus, daß "das Erscheinen der Totengespräche' in den Zeitraum fiel, in dem das Bürgertum begann, sich auf sich selbst zu besinnen, langsam wirtschaftlich und gesellschaftlich nach vorne zu drängen und dem Adel ein neues Selbstbewußtsein gegenüberzusetzen". Die große Breitenwirkung der Dialoge beruhte auf der Tatsache, daß "die Blütezeit des Fassmannchen Lebenswerkes mit der ersten Periode der Selbstbewußtwerdung des deutschen Bürgertums z u s a m m e n f i e l " . 3 8 ) Den Bürger drängte es, sein Wissen, seine Bildung auszudehnen. Leipzig als aufstrebende Büchermessestadt gewährleistete eine schnelle Nachrichtenbeschaffung. Dazu war Sachsen in jenen Tagen das "Land, in dem, gemessen am übrigen Deutschland, die meisten Bewohner lesen und schreiben konnten".39) Starke Impulse gingen ferner auch von Halle aus, die Bildung zu erweitern (Universität, Francksche Stiftungen). Schließlich hatte sich in Sachsen auch die Wirtschaftsgrundlage geändert: Handel und Gewerbe brachten Vermögen in die Städte und somit bildete sich ein neuer Mittelstand, dessen Geschäfte und Verbindungen dazu zwangen, "über die Mauer der Stadt hinaus, Einblick in das Weltgeschehen zu n e h m e n " . 4 0 ) Mit der großen Resonanz in der Bevölkerung stieg die Auflage des Blattes. Den enormen Absatz der Schrift gibt die Literatur zumeist mit einer durchschnittlichen Auflage von etwa 3000 Exemplaren an. Einzelne Entrevuen sollen bis zu fünf Auflagen erreicht haben.41) Darüber hinaus weiß man aufgrund der Untersuchung des Fassmannschen Quellenverzeichnisses im Supplementband, daß eine Reihe von 'Gesprächen' mindestens zweimal ediert worden ist. Das allein war schon für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ein ungewöhnlicher Erfolg, in einer Zeit nämlich, in der "100 Zeitschriften kaum zu einer zweiten Auflage kam e n " . 4 2 ) in einem Falle wollte Fassmanns Verleger sogar noch ein sechstes Mal auflegen; dabei soll die Zahl von 15.000 Exemplaren erreicht worden sein. Und bei alledem hatte der unermüdlich produzierende Fassmann — der ja bei seinen Werken alleine als Redaktion fungierte und auch sein eigener Herausgeber war, der außer seinen 'Totengespräche' noch gleichzeitig mehrere andere Zeitschriften

37)

'Gespräche in . . .', 240. Eritrevue, Leipzig 1739, Valetrede.

38)

Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 4 f .

39)

Daselbst, S. 59.

40)

Daselbst, S. 60.

41)

Käthe Kaschmieder, a.a.O., S. 6 4 ; Robert E. Prutz, a.a.O., S. 405.

42)

Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 66.

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auch Bücher schrieb, normalerweise 1 8 Stunden am Tag arbeitete und oft beim Schreiben Essen und Trinken vergaß 44) _ scheinbar zuerst nicht an einen Erfolg geglaubt. Ja, er konnte wohl zunächst für seine Dialoge keinen Verleger finden. So nahm er wohl den Vorschuß eines Freundes in Anspruch und verlegte die Zeitschrift selbst, gab sie in Leipzig in Kommission und machte sich dann auf eine Reise. Aber schon bald lösten seine Gläubiger die von ihm versetzten Kupferplatten und Exemplare ein und schauten sich nach einem Ersatzautor um, der die dritte Entrevue schreiben sollte, weil plötzlich eine nicht erwartete Nachfrage eingesetzt hatte. Da trat Fassmann, "für den dieses schnelle Reagieren geradezu typisch war, sofort wieder auf den Plan und setzte das Periodikum fort".45) Waren die ersten Totengespräche' noch "zu finden bey denen Cörnerischen Erben, auf dem Neuen Neu-Marckt, Leipzig Anno . . ." (von der ersten Entrevue 1718 bis zur achtzigsten 1724), so hieß es ab der 81. Entrevue (1725) bis zur letzten (1739): "Leipzig, verlegts Wolfgang Deer, in der Grimmischen Gasse".46) Ob Fassmann die ersten 80 Gespräche nur in Kommission bei den Cörnerischen Erben vertrieb, oder ob dieser Verlag, den Goldfriedrich zu den großen Leipziger Verlagsfirmen der damaligen Zeit rechnet, dann selbst die Zeitschrift verlegte, ist nicht bekannt. Jedenfalls verlegte Wolfgang Deer dann später bis zur Einstellung die 'Totengespräche'. Festzuhalten ist für diesen Mann, daß er seine Verlagsfirma zwischen 1720 und 1725 eröffnete und sich sodann in die Reihe der größten Verleger Leipzigs einordnete. 1752 verschwandt seine Firma wieder. Die örtliche Lage der beiden Verlagshäuser in der Stadt — Neuer Neumarkt und Grimmische Gasse — war sehr günstig. Ganz zentral lagen sie mitten im Buchhändlerviertel und im "Brennpunkt des allgemeinen Meßverkehrs" jener Zeit.47) Fassmann, der auf Grund der hohen Auflage (selbst aus dem Ausland kamen Nachfragen) gut verdiente — er taxierte seinen Verdienst auf tausend Taler, was für jene Zeit eine enorme Summe war 48) _ u n d zudem von seinen Gönnern Pensionen und Geschenke erhielt,49) lebte immer in Geldschwierigkeiten und kämpfte ständig mit seinem Verleger um Vorschüsse. Der Verleger richtete ihm sogar seinen Hausstand ein und lieh ihm viele Bücher. Fassmann jedoch, der gerne dem Wein zusprach, versetzte beides. Trotz allem aber "hielt der so oft geschädigte Verleger Fassmann, war doch dieser mit seinem sensationellen Erfolg bares Geld für ihn".5Q) herausgab,43)

43)

Andere Zeitschriften Fassmanns waren: 'Der auf Ordre und Kosten seines Kaysers reisende Chineser' ( 1 7 2 1 — 1 7 3 3 ) ; '(Sonderbare) Nationengespräche oder Curieusen Discurse über die jetzigen Conjuncturen u n d wichtigen Begebenheiten' ( 1 7 2 7 — 1 7 3 3 ) ; 'Der Staatsmann' ( 1 7 3 3 — 1 7 3 9 ) ; 'Das angenehme Passe-Temps' ( 1 7 3 4 — 1 7 4 3 ) .

44)

Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 23.

45)

Daselbst, S. 43.

46) 47) 48) 49)

'Gespräche in . . .', 1. Entrevue, Leipzig 1718, Titelseite, sowie 81. Entrevue, Leipzig 1725, Titelseite. Johann Goldfriedrich, a.a.O , S. 263 f. Robert E. Prutz, a.a.O., S. 405. Käthe Kaschmieder, a.a.O., S. 8.

50)

Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 49.

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Schließlich erschien 1739 die letzte Entrevue. In der "Valetrede des Autoris an seine Todten-Gespräche" nach der 240. Zusammenkunft hielt Fassmann noch einmal Rückschau. Er beginnt: "So seyd Ihr denn, ihr meine Todten=Gespräche hiermit geendigt und beschlossen, nachdem ihr, zwey und zwanzig Jahre lang, nebst mir, eurem Autore ein ganz sonderbares Schicksal gehabt". Im weiteren ging er dann auf seine Freunde, Neider, Nachäffer ein, rechtfertigte sein Werk und deutete auch die Widerstände gegen sein Blatt an. Auf das noch später erscheinende Supplement bezog er sich ebenfalls. Die Gründe für die Einstellung des Periodikums — sicherlich nicht alle — nannte er auch. So heißt es dazu: " A u c h jetzo höret ihr darum gar noch nicht auf, weil es euch an Patronen, Lesern und Liebhabern fehlen solte, sondern aus ganz anderen Ursachen. Deren eine ist, weil ihr zu weitläufig werdet. Das complete Werk ist zu kostbar vor die, so es nicht von Anfang her haben, sondern euch, ihr meine Todten=Gespräche, jetzo erst auf einmal, gerne anschaffen möchten; und gleichwohl solle doch bald diese, bald jene Entrevue immer wieder neu aufgeleget werden, welches dann euerm Herrn Verleger ein wenig beschwerlich fället".

Auch die Tatsache, daß sich "Nachäffer gefunden,... mehr als sechzigerley Gattungen anderer Todtengespräche. . .", trug sicherlich zur Einstellung mit bei. Schließlich vertröstete er diejenigen Leser, die "ein Mißfallen bezeigen, daß man mit denselben aufhöret", mit der baldigen Herausgabe neuer 'Gespräche' "von einer ganz besonderen A r t " , mit einem anderen Titel und "auch sonst gantz anders eingerichtet". Mit den Worten: "Hiermit gehabe sich der Leser wohl" schloß sodann der Autor dieses Kapitel seiner publizistischen Tätigkeit. Aber auch noch nach der Einstellung wurde die Zeitschrift weiter gelesen, und fast 100 Jahre lang tauchten immer wieder Nachahmungen und Nachfahren dieser Prägung in der deutschen Publizistik auf, so beispielsweise die 'Todtengespräche' in den Jahren von 1757—1763 von Christoph Gottlieb Richter oder aber dann die bekannteste Nachfahrin, die 'Politischen Gespräche im Reiche der Todten' des Moritz Flavius Trenck von Tonder, von 1786—1810 (auch 'Neuwieder' genannt).51) Abschließend sei noch auf die publizistische Bedeutung der 'Gespräche in dem Reiche derer Todten' als politische Zeitschrift kurz eingegangen. Hier bleibt festzuhalten, daß diese Funktion in oft ungerechtfertigter Weise "übersehen" worden ist. Schon Prutz fällte 1845 sein Verdammungsurteil über sie als "Zerrgestalt historischer Journalistik" und steckte sie ins publizistische Kästchen der "erzählenden Journale". 52) Von hier aus schließt sich dann gleich eine ganze Reihe von Literatur-, Geschichts- und Publizistikwissenschaftlern an: So qualifizierte Geiger den Inhalt der 'Gespräche' als "allerlei Neuigkeiten und belanglose politische Redereien" ab (1892) und Salomon schlug 1906 in die gleiche Kerbe wie P r u t z . 5 3 ) Sogar Everth strich 1931 die Entferntheit "von poli51)

Karl d'Ester: Das politische . . ., a.a.O., S. 133; Joachim Kirchner, a.a.O., S. 31 f.

52)

Robert E. Prutz, a.a.O., S. 406, 397.

53)

Ludwig Geiger: Berlin 1688—1840. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt, 2 Bde., Berlin 1892—1893, Bd. 1, S. 236; Ludwig Salomon: Geschichte des Deutschen Zeitungswesens, 3 Bde, Oldenburg — Leipzig 1900—1906, Bd. 1, S. 177.

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tischem Ehrgeiz" der 'Totengespräche' heraus und urteilte: "banales Zeug".54) Weder die Dissertation von Kaschmieder (1934) noch die von Lindenberg (1937) werteten die Schrift publizistisch-politisch. Bei Kirchner (1958) wurde sie zwar zu den historisch-politischen Zeitschriften gerechnet, ihr Auftreten allerdings zu den "keineswegs erfreulichen Erscheinungen des historischen Journalismus" gezählt.55) Erst 1942 nahm Hubert Max von diesen vorher vertretenen Negativurteilen und Einordnungen Abstand und stellte Fassmanns Werk "auf die Grenze zwischen betont'unterhaltender und politischer Publizistik". Erwies Fassmann in der Publizistikhistorie eine bahnbrechende Rolle zu und meinte, daß er "in jedem Falle aber mit dem bis dahin nicht gekannten Erfolg seiner Publizistik eine Schlacht für diese geschlagen habe, die der Zeitschriftenliteratur, ja der Presse überhaupt zugute k a m " . 5 6 ) Schließlich und endlich wies Damberg dann 1952 in seiner ausführlichen und "tiefer gehenden' '57) Dissertation — auf die sich der Verfasser dieses Beitrags auch größtenteils bezogen hat — den politischen Anspruch der Fassmannschen Publizistik durch die 'Totengespräche' eindeutig nach, von welchen Haacke sagte, daß sie ein "Dokument für die Methode kluger Aufklärungspublizisten w a r e n " . 5 8 ) So mag denn Damberg ausgewogenes Urteil und damit die Bedeutung der 'Gespräche in dem Reiche derer Todten' abschließend zu Wort kommen:59) "Fassmanns Publizistik ist ein Zeichen dafür, wie das sich hebende bürgerliche Selbstbewußtsein ansetzt, sich nicht nur im Bereich des Moralischen, sondern auch in dem des Politischen geltend zu machen. Was sie im einzelnen zur Stärkung dieses Selbstbewußtseins beigetragen hat, wird man nicht abmessen können. Aber man wird gut daran tun, nicht zu gering einzuschätzen, daß Fassmann immer wieder ins Bewußtsein der Zeit brachte, daß die Leistung eines Bürgers häufig höher ist als die eines Adligen, und daß nicht die Geburt, sondern das Können zum Aufstieg berechtigt. Gerade das nicht bis ins Einzelne Durchdachte und Ausgeführte, das Schlagworthafte,.. . setzte seine Publizistik in die Lage, die der gedanklichen Schulung noch entbehrenden breiten Schichten der Bevölkerung, die neu zur Lek türe stießen, zu erfassen und zu beeinflussen. Bei diesem Empfängerkreis, der kaum in der Lage gewesen sein dürfte, den großen Staatstheoretikern der zweiten Hälfte des 17. und der ersten des 18. Jahrhunderts zu folgen, kann eine Publizistik wie die Fassmanns zu einer 'geistigen' Macht in der Volksführung werden".

54)

Erich Everth: Die Ö f f e n t l i c h k e i t in der Außenpolitik von Karl V . bis Napoleon, Jena 1931, S. 265 f.

55)

Joachim Kirchner, a.a.O., S. 8.

56)

Hubert Max: Wesen u n d Gestalt der politischen Zeitschrift, Essen 1942, S. 69.

57)

Wilmont Haacke: Die Zeitschrift — Schrift . . ., a.a.O., S. 44.

58)

Wilmont Haacke: Die politische Zeitschrift, 1 6 6 5 — 1 9 6 5 , Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 9.

59)

Wilhelm Damberg, a.a.O., S. 112.

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Claus Jansen FRANKFURTER GELEHRTE ANZEIGEN (1736-1790)

Als am Freitag, dem 6. Juli 1736 in Frankfurt am Main die erste Nummer einer gelehrten Zeitschrift herauskam, war Frankfurt, ebenso wie Leipzig, noch eine Messestadt von internationaler Bedeutung. A m 3. Juli 1736 wurde die Ankündigung des neuen Periodicums ausgegeben, in der der Titel und das Programm des Journals genannt s i n d : D "Franckfurtische / gelehrte / Zeitungen, / darinnen / Die merckwürdigste Neuigkeiten / der / Gelehrten Welt, / S o wohl / In Ansehung der jetzt lebenden Gelehrten, / als auch / Aller zur Gelehrsamkeit gehörigen Wissenschaften, / Künsten und Sprachen umständlich berichtet, / U n d insonderheit / Der gegenwärtige Zustand aller in- und ausser Teutschland / blühenden / Hohen Schulen und Gesellschaften, / M i t unpartheyischer Feder entworffen."

Der Titel der ersten Nummer vom 6. Juli 1736 lautet hingegen: 'Franckfurter Gelehrte Zeitung'. A m Schluß des Jahres wurde das erste Titelblatt herausgegeben, dessen Wortlaut dem der Ankündigung entspricht. Hinzugefügt sind letztlich noch die Namen des Erscheinungsortes und des Verlegers: "Franckfurt am M a y n / Verlegts Samuel Tobias Hocker. Not. Caes. Publ. Immatr." Für die einzelnen Blätter oder Nummern des Jahrgangs 1736 und aller folgenden Jahrgänge, wird die Bezeichnung 'Franckfurter Gelehrte Zeitung' ( ' F G Z ' ) beibehalten.2) Doch wie auch immer die Benennung lauten mag, erinnert sie stark an den Titel der ersten deutschen gelehrten Zeitschrift, der 'Acta Eruditorum', und deren französisches Vorbild, das 'Journal des Scavans'. Die Zeitschrift, die später unter der Bezeichnung 'Frankfurter Gelehrte Anzeigen' ( ' F G A ' ) berühmt wurde, erschien wöchentlich zweimal, mit jeweils acht Seiten in Quart. Eine Nummer enthält durchschnittlich fünf bis sechs Rezensionen, die hauptsächlich anonyme Buchbesprechungen sind. Daneben stehen kurze Meldungen aus dem akademischen Bereich und Personal-Nachrichten. Nur ganz selten geht eine längere Rezension über ein oder zwei Stücke hinaus. Erster Verleger und Redakteur der Zeitschrift war der Notar Samuel Tobias Hocker, hinter dem als geistiger Urheber des Unternehmens der Senior des lutherischen Prediger-Ministeriums in Frankfurt, Dr. Christian Münden (1684—1742), stand, ein Orthodoxer mit pietistischem Einschlag.^) Zu Beginn des Jahrgangs 1737 erhielt der Verlag das kaiserliche Privileg, das auf jedem Titelblatt und vor jeder 1) Vgl. Wilhelm Scherer: Einleitung zum Neudruck der ' F G A ' v o m Jahr 1772, in: Deutsche Literaturdenkmale des 18. Jahrhunderts, Nr. 7 u. 8, Heilbronn 1883, S. V . 2) Vgl. zur Gesamtgeschichte dieser Publikation Hertha Frank: Die Frankfurter Gelehrte Zeitung ( 1 7 3 6 - 1 7 7 2 ) , phil. Diss. Frankfurt 1931. 3) Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen 1772, Tübingen 1966, S. 6.

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Nummer angezeigt ist: " M i t Ihro Römisch Kayserl. und Königl. Cathol. Majestät/ allecgnädigstem Privilegio." In einem Vorbericht der ersten Nummer des Jahrgangs 1737 kündigte der Verlag seinen Lesern und den "Liebhabern rei et notitiae literariae" an, daß fortan sämtliche Gelehrten, die bisher in den 'FGZ' erwähnt worden waren, in einem ordentlichen Nominal-Register erfaßt werden würden. Zudem sollten die zahlreichen Druckfehler vermieden und mehr von den "neuesten gelehrten Sachen" aus England und den Niederlanden berichtet werden. Gleich im ersten Beitrag des Jahrgangs 1738 wandte sich der Verleger Hocker erneut an die Leserschaft der 'FGZ'. Er zeigt sich erfreut darüber, daß sich nun auch eine literarische Zeitschrift der weltberühmten Stadt Frankfurt ebenso großer Beliebtheit erfreue wie viele politische Zeitschriften in Deutschland. Weiter heißt es im Text, daß der große Anklang, den die 'FGZ' gefunden haben, ihn, den Verleger, bewogen hätten, die Fortsetzung des Journals zu besorgen. Im Anschluß daran gibt der Brief an den Leser einige wichtige Hinweise auf den redaktionellen Aufbau und die Arbeitsweise des Unternehmens. Die Mitarbeiter des Journals und die Verfasser der Rezensionen sind "theils einheimische, theils frembde Gelehrten." Ihre Beiträge senden sie gegen ein Honorar oder oft auch freiwillig ein. Ihre Namen bleiben ungenannt, da die Rezensenten es für unnötig halten, ihre Namen zu nennen. "Sie sehen mehr auf das gemeine Beste, als ihre Ehre und Urtheil, und sind zufrieden, wann sie durch ihre Arbeit zeigen, daß unser Franckfurt nicht allein den Mercurius verehre (wie ehemals ein grosser Gelehrter von dieser Stadt unbillig urtheilte) sondern auch die Minerva hochzuschätzen wisse." Die Mitarbeiter, so heißt es weiter, unterstehen keinem Direktorium oder Direktor; weder Dr. Münden noch Hocker sind Aufsichtführende des Unternehmens. Doch nur wenige Zeilen später widerlegt Hocker diese wichtige Aussage indem er schreibt: "Viertens, der Verleger unterwindet sich zwar nicht den Liebhabern vorzu schreiben, wie dieselbe ihre Nachrichten einrichten mögen; doch bittet er dieselbige abzufassen, daß sie weder zu weitläufftig gerathen, noch mit gar zu vielem Saltz gewürtzet werden." Diese Äußerung Hockers bedeutet nämlich nichts anderes, als daß die Rezensenten unter seiner oder Dr. Mundens Kontrolle standen, und daß beide, sowohl der Verleger als auch der Initiator der Zeitschrift, mehr oder weniger streng darüber wachten, daß die Beiträge weder polemisch noch provokatorisch abgefaßt waren. Es läßt sich jedoch nachweisen, daß die aufsichtführenden Personen der 'FGZ' keinen Gebrauch von ihrem Recht machen mußten, Rezensionen zu mildern, zu kürzen oder zu streichen, denn Herausgeber und Mitarbeiter waren vorwiegend orthodoxe Theologen, "wie es sich für Frankfurt ziemte, da ihm der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze am 14. Juli 1772 bescheinigte, daß der rechte Gott noch in dem Frankfurtischen Zion sei.

Aufgrund dieser Tatsache brauchte das Journal auch keinen ernsten Konflikt mit der Zensur zu befürchten, die das lutherische Prediger-Ministerium, die Bücherkommission und der Rat der Stadt Frankfurt ausübten. Am 1. Juli 1743 übergab Samuel Tobias Hocker die 'FGZ' seiner Tochter, Anna Maria Gertraud Hocker. Anfang Dezember 1749 heiratete Fräulein Hocker einen gewissen Johann Sebastian Georgen, der von nun an als Verleger zeichnete. Nach nur einjähriger Tätigkeit als Verleger machte Georgen bereits 1751 seiner Frau 4) Dieses Referat bezieht sich auf den ersten Beitrag der Nr. I des Jahrgangs 1738 der 'FGZ'. Das letzte Zitat stammt von Hermann Bräuning-Oktavio: Vorwort zum Nachdruck der Ausgabe 'Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772', Bern 1970, S. 1.

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wieder Platz. Ende 1759 verkaufte Frau Georgen das Blatt an den Drucker und Buchhändler Heinrich Ludwig Brönner. Von 176o an erschien die 'FGZ', durch erneuertes kaiserliches Privileg auf weitere zehn Jahre geschützt, im Verlag der Brönnerschen Druckerei. Da der neue Verleger keinerlei Veränderungen vornahm, bewegte sich das Unternehmen in den gleichen Bahnen wie unter der Leitung der Hockers. Allein der Mitarbeiterkreis, der immer noch zum größten Teil aus Frankfurter Geistlichen wie Senior Johann Philipp Fresenius, Pietist und Gegner des Grafen Zinzendorf, und sein Nachfolger J.J. Pütt, ein Schüler Christian Wolfs, bestand, wurde durch Naturwissenschaftler, Mediziner und Juristen aus Frankfurt, Darmstadt und Gießen erweitert. Darunter befanden sich mit Sicherheit Dr. med. Johann Adolf Behrends und Dr. jur. Johann Daniel von Olenschlager. Besonders eifrige Mitarbeiter waren die Pfarrer Scriba aus Niederbeerbach im Odenwald.5) Unwahrscheinlich ist es hingegen, daß die 'FGZ' Mitarbeiter im westeuropäischen Ausland hatte, obwohl einige Rezensionen unter der Überschrift "Paris" oder " L o n d o n " darauf hindeuten. Viel naheliegender ist die Annahme, daß der Rezensent englische oder französische Rezensionen teilweise oder sogar ganz übersetzt hat.6) Oft auch war die 'FGZ' zu bequem oder zu vorsichtig, ihre eigene Meinung über deutsche Autoren abzugeben, denn eine große Anzahl von Buchbesprechungen wurde in den Jahren zwischen 1765 und 1770 aus anderen Journalen, insbesondere aus den Leipziger 'Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen', ohne Angabe der Quelle abgeschrieben. Viele dieser Rezensionen waren lobende Urteile über Lessing und Wieland.7) Daneben stehen aber auch zahlreiche selbständige Rezensionen über Werke der damals ersten Literaten der Nation, Rezensionen über Geliert, Klopstock, Lessing, Wieland und Winckelmann, über Uz, Gleim, Haller, Weiße, Schubart und Johann Georg Jacobi. Die Werke dieser Männer waren es, die der 'FGZ' neuen Auftrieb gaben; ihr Stil mußte auch den Stil der Rezensionen beeinflussen. Aus schwerfälligen, trockenen, in umständlichem Gelehrtendeutsch abgefaßten Beiträgen entstanden nach und nach Rezensionen, die in bezug auf Stil und Ton denen des berühmten Jahrgangs 1772 der Zeitschrift ähnlich sind. Das Neue kam nicht plötzlich über Nacht; es kündigte sich schon vorher an. Der Wandel von "akademischen Wortungeheuern''^) zu sachlich-scharfen, übermütigspöttischen und verletzend-bitteren Rezensionen vollzog sich Schritt für Schritt. Als am 27. Juli 1770 das kaiserliche Privileg für die 'FGZ' hätte erneuert werden müssen, zeigte Heinrich Ludwig Brönner nur wenig Interesse an der Weiterführung des Unternehmens. Anstatt das Privileg erneuern zu lassen, dachte er mehr und 5) Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. . ., a.a.O., S. 7. 6) Hermann Bräuning-Oktavio behandelt dieses Problem ausführlich im V. Kapitel seines Buches 'Herausgeber und M i t a r b e i t e r . . . ' (a.a.O.). Seine Ausführungen beweisen eindeutig, daß zahlreiche Rezensionen in der ' F G Z ' freie oder wortgetreue Übersetzungen aus der französischen Zeitschrift 'Mercure de France' u n d der englischen Zeitschrift 'Monthly Review' sind. 7) Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter . . ., a.a.O., S. 12. 8) Siehe daselbst, S. 24.

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mehr an den Verkauf des Blattes. Im Herbst 1771 faßte er schließlich den Entschluß, die Zeitschrift zu verkaufen. Der Hauptgrund für diesen Schritt des geschäftstüchtigen, aber vorsichtigen Verlegers mag die geringe Rentabilität des Unternehmens gewesen sein. In einem Brief vom 12. Dezember 1770 an Professor Böhm in Gießen beklagte sich Brönner über die viel zu kleine Auflage der Zeitschrift, die die Kosten von Papier und Druck kaum decken konnte. Als auch der Versuch der hessischen Regierung, eine 'Gießer gelehrte Zeitung' zusammen m i t Brönner herauszubringen, scheiterte, gab Brönner sein Journal an die Druckerei der Eichenbergischen Erben ab. Mitinhaber und Chef dieser Druckerei war der Fürstliche Waldeckische Hofrat Johann Conrad Deinet. 1735 in St. Goar geboren, hatte Deinet in Marburg Theologie studiert, sein Studium jedoch bald als 'verunglückter candidatus' — so wurde er öffentlich von seinen Gegnern genannt — abgebrochen, um von 1766 bis 1767 als Pagenhofmeister am Kasseischen Hof tätig zu sein. 1769 stellte ihn die Witwe des Frankfurter Buchdruckers Johann Ludwig Eichenberg als Erzieher ihrer Kinder ein. Nachdem Deinet am 8. Mai 1770 das Frankfurter Bürgerrecht erworben hatte, heiratete er am 28. Mai 1770 die Witwe Eichenbergs und wurde Mitinhaber der Druckerei.10) Im Gegensatz zu Brönner sah Deinet in der Herausgabe einer Zeitschrift wie der ' F G Z ' ein großes Geschäft; er, ein Reformierter, gedachte mit seinem Blatt im streng lutherischen Frankfurt Aufsehen zu erregen, war doch sein A u f t r e t e n an so einflußreicher Stelle der Geistlichkeit der Stadt ein Dorn im Auge. Daß es Deinet dabei mehr um das Geschäft als um irgendwelche Ideale ging, "bewies er, als er, 1780 kaiserlicher Bücherkommissar geworden, sein A m t gegen den Rat der Stadt richtete, der ihm 1772/73 so empfindlich zusetzte. Nun verfolgte, denunzierte, beschlagnahmte er alles das, was zuvor in den ' F G A ' 1772 Asyl und Anerkennung gefunden hatte."1 D Bei der Suche nach einem geeigneten Direktor für sein B l a t t , stieß Deinet auf den Aufklärer Karl Friedrich Bahrdt, der seit 1771 Professor in Gießen war. Schon bei seinem Eintritt in Gießen abgelehnt und verketzert, lag Bahrdt mit der alteingesessenen Orthodoxie in heftiger Fehde, so daß er Deinet mehr als willkommen gewesen wäre. Aber noch bevor ein Vertrag zwischen Deinet und Bahrdt zustande gekommen war, schaltete sich der hessische Erstminister Andreas Peter von Hesse ein. Hesse, der zugleich Kurator der Universität Gießen war, hatte bereits 1771 so schlechte Erfahrungen mit Bahrdt gemacht, daß er von einem so aufsässigen Mann wie Bahrdt als Direktor eines gelehrten Blattes in Frankfurt nur Streitigkeiten und Skandale befürchtete. Nach einer eindringlichen Aussprache mit Hesse in Darmstadt kam Deinet von seinem Plan ab, Bahrdt als Direktor einzustellen. Nur wenige Wochen vor Beginn des neuen Jahres wandte Deinet sich auf Anraten Hesses an den Kriegszahlmeister Johann Heinrich Merck in Darmstadt. Die Verhandlung mit Merck, einem Verwandten des Erstministers, hatte Erfolg, denn 9) V g l . daselbst, S. 3 2 f.. 10) V g l . daselbst, S. 4 4 . 11) Siehe daselbst, S. 4 5 .

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am 16. Dezember 1771 meldete Caroline Flachsland in einem Brief Herder die Neuigkeit: "Merck ist v o m Neuen Jahr an Directeur über die Frankfurter gelehrte Zeitung; wir freuen uns, daß er sich auch einmal geschäftig zeigt. Ich weiß nicht, ob ers Ihnen sagen oder mit dem ersten Zeitungsblatt überraschen will; lassen Sie sich also nichts merken, daß ich geschwätzt habe." 12) A c h t Tage später, am Heiligen Abend, machte Brönner in der ' F G Z ' bekannt, sein Blatt werde m i t dem Anfang des neuen Jahres als 'Frankfurter gelehrte Anzeigen' bei den Eichenbergischen Erben auf dem Trierischen Plätzchen gedruckt und ausgegeben werden. Die erste Nummer der neuen Zeitschrift erschien am 3. Januar 1772. Rein äußerlich unterschied sich das neue Blatt von der ' F G Z ' durch den neuen Namen und das kleinere Format. Statt wie bisher in Quart, erschien es wöchentlich m i t zwei achtseitigen Stücken in Oktav. Das T i t e l b l a t t des ganzen Jahrgangs hatte unter dem Titel 'Frankfurter / gelehrte / Anzeigen. / vom Jahr 1772.' eine Vignette, die vier übereinandergelegte und drei darangelehnte Bücher zeigt, auf denen eine kleine Schale m i t einer Pflanze, einem Tintenfaß und einem Federkiel steht. Links neben den Büchern befindet sich ein Kerzenständer. Unterhalb der Vignette, durch einen verzierten Querstrich getrennt, waren der Verlagsort und der Verlag angezeigt: " F r a n k f u r t am Mayn / bey den Eichenbergischen Erben." Beibehalten wurden die "Rubricae Conclusorum et Sententiarum des Kayserl. Reichshofraths und des Kayserl. Reichskammergerichts", die vorher in den ' F G Z ' als Teil jedes Stückes mitgezählt waren, nun aber in 27 besonderen Beilagen m i t besonderer Zählung (S. 1 — 2 4 2 ) mitgeliefert wurden. Die ' F G A ' von 1772 haben einen Umfang von 832 Seiten Text und elf Seiten Titel und Register. Der Jahrgang enthält 396 Rezensionen, die sich jedoch in 433 Einzelbesprechungen aufteilen lassen. In der ersten Hälfte des Jahrgangs überwiegen die Stücke m i t ein oder zwei Rezensionen. Das zweite Halbjahr weist hingegen überwiegend Stücke m i t drei, vier u n d mehr Rezensionen auf. Im ganzen gesehen zeichnen sich die meisten Rezensionen der ' F G A ' 1772 — zum Beispiel im Vergleich zu den Beiträgen in der 'Allgemeinen Deutschen Bibliothek' — durch ihre Kürze aus. Wie auch in den Jahren zuvor, sind sämtliche Rezensionen weder durch die Namen der A u t o r e n noch durch Siglen gekennzeichnet. Doch dürfte heute die Frage nach den Verfassern der Beiträge des Jahrgangs 1772 geklärt sein, wie zahlreiche Untersuchungen m i t Hilfe der S t i l k r i t i k , Stildiagnostik, Sprachanalyse und Sprachstatistik beweisen. In erster Linie sind hier die Untersuchungen von Wilhelm Scherer,13) O t t o Trieloff,14) Max

12) Siehe daselbst, S. 49. 13) Vgl. Wilhelm Scherer: Der junge Goethe als Journalist, in: 'Deutsche Rundschau' (Berlin), 17. Jg./1878, S. 6 2 - 7 4 ; v g l . auch Wilhelm Scherer: Aus Goethes Frühzeit. Bruchstücke eines Kommentars zum jungen Goethe, Straßburg 1879, in: Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker, 34. 14) Vgl. Otto P. Trieloff: Die Entstehung der Rezensionen in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen vom Jahre 1772, phil. Diss. Münster 1908.

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MorrisJS) Otto Modick 16) und vor allen Dingen von Hermann Bräuning-Okta« vio 17) zu nennen. Johann Heinrich Merck war als Direktor und Herausgeber der 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen' der geeignete Mann. Am 11. April 1741 in Darmstadt geboren, studierte er in Gießen, Erlangen und an der Dresdener Malerakademie, wurde anschließend Reisebegleiter und Hofmeister und lebte von 1767 an als Kanzleisekretär und Kriegszahlmeister in Darmstadt. Hier lernte er Herder und den aus Straßburg zurückgekehrten jungen Goethe kennen und übte auf beide bedeutenden Einfluß aus. Merck galt als ausgezeichneter Kenner der englischen Literatur und der deutschen Dichtung. Auf seinen Studienreisen durch Frankreich, Italien und die Schweiz traf er mit Voltaire zusammen. Seine umfassende Bildung und sein unbestechlicher, zu Schärfe und Spott neigender Intellekt machten ihn in Wielands 'Teutschen Merkur' und Nicolais 'Allgemeiner Deutschen Bibliothek' zum hervorragenden und gefürchteten Kritiker. Außerordentlich gute Beziehungen besaß Merck durch sein freundschaftliches Verhältnis zur Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt und zum hessischen Erstminister Andreas Peter von Hesse. Außer seinen Freunden in Darmstadt, dem Rektor Helfrich Bernhard Wenck, dem Prinzenerzieher Georg Wilhelm Petersen und dem Herrnhuter Diplomaten Louis von Schrautenbach, wurden Mitarbeiter der 'FGA' in Gießen der Jurist Ludwig Julius Friedrich Höpfner und dessen Kollege Helwig Bernhard Jaup, in Kassel der Jurist Rudolf Erich Raspe. Im März und April 1772 gewann Merck in Goethe und Herder zwei weitere Freunde und Mitarbeiter. Mitherausgeber in Frankfurt wurde sein Freund Johann Georg Schlosser, der mit großen reformatorischen Ideen in seinem 'Katechismus der Sittenlehre für das Landvolk' bereits von sich reden gemacht hatte. Dieser ungewöhnlich gut besetzte engere Mitarbeiterstab unter der Leitung Mercks versprach von Anfang an großen Erfolg für die reorganisierte Zeitschrift. Zu Beginn des Jahres 1772 ließ Deinet die Ankündigung der 'FGA' drucken und verbreiten. Merck legte darin dem Publikum sein Programm vor: 18) "Eine Gesellschaft Männer, die ohne alle Autorfesseln und Waffenträgerverbindungen i m stillen bisher dem Zustand der Literatur u n d des Geschmacks hiesiger Gegenden als Beobachter zugesehen haben, vereinigen sich, u m dafür zu sorgen, daß das Publikum von hier aus nicht mit unrichtigen oder nachgesagten oder von den Autoren selbst entworfenen Urteilen getäuscht werde. Jedes Blatt wird allezeit eine ausführliche Kritik nebst einigen kurzen Anzeigen enthalten.

15) Vgl. Max Morris: Goethes und Herders Anteil an dem Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, Stuttgart 1915. 16) Vgl. Otto Modick: Goethes Beiträge zu den 'Frankfurter gelehrten Anzeigen' von 1772. Zugleich Beitrag zur Kenntnis der Sprache des jungen Goethe, phil. Diss. Jena 1914. 17) Vgl. Hermann Bräuning (-Oktavio): Studien zu den Frankfurter Gelehrten Anzeigen v o m Jahre 1772, phil. Diss. Gießen 1911, Darmstadt 1912. 18) Siehe Hermann Bräuning-Oktavio:' Vorwort zum Nachdruck der Ausgabe 'Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772', a.a.O., S. 3 f..

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Nebst allen gemeinnützigen Schriften der höhern Wissenschaften wird man sich besonders mit Historie, Philosophie, schönen Wissenschaften und Künsten beschäftigen und bei allen Wissenschaften das Augenmerk dahin nehmen, daß dem Liebhaber der englischen Literatur vorzüglich nichts entgehe, was einer Anzeige wert ist. Hierunter zählt man auch die kurze Anzeige der schlechten und mittelmäßigen englischen Bücher, um wenigstens der Übersetzerwut einigen Einhalt zu tun. Zuweilen werden sich unsere Blätter mit einem Epigramm oder kleinen Gedichte schließen, das der künftigen deutschen Anthologie würdig sein möchte; so wie wir uns vorbehalten, wichtige Werke der Kupferstecherkunst mit einer kurzen Kritik anzuzeigen. Dies wird genug sein, um dem Publikum ein Ideal von den Obliegenheiten zu geben, die wir in Ansehung seiner auf uns nehmen. Und wir überlassen es seinem Richteramte, uns zu strafen oder loszusprechen.. . "

Dieses Programm wiederholte Merck in gedrängter F o r m auf der ersten Seite der ersten Nummer der ' F G A ' v o m " 3 . Jänner 1 7 7 2 " : "Frankfurt am Mayn. Nachricht an das Publikum. Um allen unbilligen Beurtheilungen und Forderungen zuvorzukommen, thut man hiemit die nähere Erklärung an das Publikum, daß diese gelehrte Anzeigen nicht eigentlich ein Repertorium aller in den höheren Wissenschaften neu herausgekommenen Büchern vorstellen werde. Man wird sich vielmehr bemühen, nur die gemeinnützigen Artikel in der Theologie, Jurisprudenz und Medicin zu beurtheilen und anzuzeigen, hingegen das Feld der Philosophie, der Geschichte, der schönen Wissenschaften und Künste in seinem ganzen Umfange zu umfassen. Besonders wird man für den Liebhaber der englischen Litteratur dahin sorgen, daß ihm kein einziger Artikel, der seiner Aufmerksamkeit würdig ist, entgehe, und die Preise der englischen Bücher wo möglich allzeit bemerken."

Im Gegensatz zur Ankündigung der Zeitschrift ist in der " N a c h r i c h t an das Publik u m " nicht mehr v o n Epigrammen, Gedichten u n d Kupferstichen die Rede; dennoch erschienen im Jahrgang 1772 genau 51 Einzelbesprechungen von Kupferstichen und mehrere Gedichte, jedoch nicht als selbständige Stücke am Ende der acht Seiten, sondern nur als Proben innerhalb einiger Rezensionen. Die kurzen Anzeigen, die vor schlechten und mittelmäßigen englischen Büchern warnen sollten, unterblieben bereits von Nummer V I an (21. Januar), da sie ihren Zweck völlig verfehlten. Man kann sich leicht vorstellen, daß eine kurze, abwertende K r i t i k nicht allein abschreckend w i r k t e , sondern auch einen geschäftstüchtigen Verleger dazu anregen konnte, eine deutsche Übersetzung des besprochenen Werkes herauszubringen. Die Warnung "Gegen die Übersetzer" 19) richtete sich bald auch gegen unbedeutende französische Werke. U m die Übersetzerwut der Deutschen zu bremsen, empfiehlt ein Rezensent ironisierend — wahrscheinlich Goethe oder Merck — am 23. Juni 1772 die Übersetzung deutscher Werke ins Französische, da " j a im gemeinen Leben ein Deutscher, u m von einer beträchtlichen Anzahl Deutschen gehört zu werden. Französisch reden müße".20) Dem Liebhaber der englischen Literatur war von Merck, einem großen Verehrer Shaftesburys, alles Wichtige in diesem Fach versprochen worden. Doch die meisten Urteile über etwa 5 0 englische Werke sind englischen Zeitschriften, o f t in wörtlicher Übersetzung, ohne Angabe der Quelle entnommen.

19) Siehe 'Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772', a.a.O., S. 40. 20) Siehe daselbst, S. 397.

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Sowohl in der Ankündigung wie auch in der "Nachricht an das Publikum" ist das Gemeinnützige der Zeitschrift entschieden betont. Zweierlei könnte Merck mit der Beschränkung der theologischen, juristischen und medizinischen Literatur auf das Gemeinnützige bezweckt haben wollen: Vielleicht dachte er daran, m i t dieser Maßnahme Spezialwissen und Gelehrtenstreit ausschalten und gleichzeitig einen größeren Leserkreis ansprechen zu können. Da laut "Nachricht an das Publikum" das Feld der Philosophie und der Geschichte in seinem ganzen Umfange berücksichtigt werden sollte, kann leicht der Verdacht aufkommen, die ' F G A ' seien ein mehr oder weniger politisches Blatt gewesen. Daß dies jedoch keineswegs der Fall gewesen ist, mögen einige Zahlen beweisen: Der Jahrgang 1772 enthält 140 Rezensionen über Werke der schönen Literatur, der Kunst, der schönen Wissenschaften und der Ästhetik (1771 waren es 62 Rezensionen); hinzu kommen noch Besprechungen von 51 Kupferstichen. Die Zahl der Rezensionen über Werke der Geschichte, Staatslehre und Nationalökonomie beläuft sich auf 38 (1771:65).21) Wenn auch die ' F G A ' in Rezensionen über Werke von Brechter, Basedow, Chalotais oder Lavater die philosophisch-pädagogischen Bestrebungen der Zeit bekannt machten, so doch nur als Theorien, ohne daraus radikale politische Forderungen abzuleiten. Das Hauptgewicht bei den ' F G A ' 1772 lag vielmehr auf literarischästhetischem Gebiet. Im ganzen gesehen hatte Merck zwar keine wichtige Disziplin vernachlässigt, doch obenan standen der Dichter, der Philosoph, der Maler, der Künstler, nicht der Jurist, der Politiker, der Historiker oder Naturwissenschaftler. Literatur, Kunst und Ästhetik standen im Mittelpunkt, unberührt von politischen Gegebenheiten. Vor allem aber wollten die ' F G A ' eines: unparteiisch sein. "Merck schrieb in seinem Brief vom 18. Januar 1772 an Bahrdt: man wolle bloß aus Liebe zur Wahrheit und nicht als Parteigänger rezensieren. Oder, wie es in dem öfter zitierten Brief vom 30. Januar d.J. heißt: nichts als Wahrheitsliebe solle den Tadel diktieren; nie solle 'der Scharfsinn des Kopfs und der Reichtum der Kenntnisse auf Kosten der Redlichkeit des Herzens scheinen'! Dagegen wolle man die 'Panegyristen Posaune' gleichermaßen schweigen lassen, 'wenn auch die Freundschaft den lieblichsten Ton dazu gesetzt hätte'!"22) Daß all diese guten Vorsätze nicht nur reine Lippenbekenntnisse Mercks waren, sondern auch tatsächlich verwirklicht wurden, beweisen mehrere Berichtigungen offenbar ungerechtfertigter Kritiken. A u f einen " F e h l e r " oder " I r r t u m " eines Rezensenten folgte meist unverzüglich in Form einer "Nachricht an das Publikum" die Berichtigung von Seiten der Redaktion. In einer Berichtigung vom 27. März 1772 erklärte die Redaktion der ' F G A ' : 2 3 ) "Unsere deutsche Litteratur ist besonders durch Hülfe der Journalisten so sehr zu einer Trödelbude geworden, wo falsche Waare gegen falsche Münze ausgetauscht wird, daß ein ehrlicher Mann, der sein Schild mit aushängt, wenigstens alle Gelegenheit ergreifen muß, um das Publikum zu überführen, daß man im Grunde ein ehrlicher Mann bleiben könne, 21) Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. . ., a.a.O., Übersicht S. 11 und Übersichten S. 742 f.. 22) Siehe daselbst, S. 78. 23) Siehe 'Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772', a.a.O., S. 199 f..

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ob man sich gleich in verdächtiger Gesellschaft hat betreten lassen. . . . Desto weniger ist es dem Recensenten zu verzeihen, daß er die Worte eines rechtschaffnen und gelehrten Mannes verdreht, oder, wie wir lieber glauben, flüchtig darüber hinausgesehen hat. Der Direktion ist es unmöglich, die Recensionen alle mit den Büchern selbst zusammen zu halten. Ihre Schuldigkeit erfordert es hingegen, bey solchen Vorfallenheiten, sobald sie ihr bekannt werden, das Publikum v o n den sich einschleichenden Ungerechtigkeiten u n d wichtigen Irthümern zu benachrichtigen. Wahrheit u n d Unpartheylichkeit ist unsere einzige Richtschnur, u n d w i r bringen ihr diese Opfer so von ganzem Herzen, daß w i r bey andern Fällen, w o w i r bescheiden erinnert werden, m i t eben der Ehrlichkeit die Fehler unsrer Recensenten, wenn sie von Wichtigkeit sind, anzeigen, als wir f o r t f a h r e n werden, freymüthig nach unsrer E m p f i n d u n g zu urtheilen."

A m 16. Juni 1772 wiederholten die ' F G A ' , daß sie "die Wahrheit aufrichtig suchen" und "aufrichtig wünschen, täglich besser und weißer zu werden".24) Aber — trotz aller Betonung der Wahrheitsliebe und der Objektivität — es herrschte in den ' F G A ' der subjektive Standpunkt des Einzelnen vor, denn jeder Rezensent schrieb aus seiner eigenen Lage, seiner persönlichen Erfahrung und sah die Probleme aus der Weite oder Enge seiner Ansichten; und gar o f t folgte er, wie vor allem Goethe es tat, allein seinem Gefühl, seiner Empfindung, seiner Laune und seinem Temperament. Aber das war ja gerade das Neue. Das war der neue Ton, der den Jahrgang 1772 der Zeitschrift so berühmt machte. Wenn Gottsched, Lessing, Wieland oder Matthias Claudius ihren Zeitschriften einen eigenen Stempel aufdrückten, so läßt sich von den 'Frankfurter Gelehrten Anzeigen' ein Gleiches nur insofern sagen, als hier — wie in der Ankündigung von Merck deutlich gesagt — eine Gesellschaft oder, um es mit einem Modewort auszudrücken, ein Team an die Stelle des Einzelnen trat. Ein Team von ungefähr dreißig Männern machte den Jahrgang 1772 zu einem wichtigen Dokument seiner Zeit. Den Kern dieses Teams aber bildeten vier Mitarbeiter: Merck, Goethe, Herder und Schlosser. Diese vier Männer prägten mit ihren Rezensionen im wesentlichen das Gesicht des Jahrgangs 1772. Jeder von ihnen schrieb aus anderen Beweggründen, und jeder hatte seinen eigenen Stil und Ton. Äußerst verletzend und herausfordernd, von kaum zu überbietender kritischer Schärfe sind die Beiträge Herders. Respektlos wandte er sich gegen die Göttinger Professoren Michaelis und Schlözer und erregte großes Aufsehen durch die Weite neuer geschichtsphilosophischer Gedanken. Oft genug spiegelt sich in seinem eruptiven Stil, in seinem verbitterten Ton und in der leidenschaftlichen Ichbezogenheit seiner Kritiken die Unzufriedenheit mit seinem Leben in Bückeburg wider. Kennzeichnend für Herder sind die Rezensionen über Michaelis, Denina, Schlözer, Semler, Miliar, Beattie, Chalotais, Pindar, Veithusen, Lambert, Harmar, Harles und die 'Auserlesene Bibliothek'. Der junge Goethe, zusammen mit Merck hellauf begeistert von Shaftesbury und Shakespeare, schrieb seine Rezensionen ganz im Vollgefühl des Dichters, der, gleich Prometheus, schafft wie die Natur. Sein übermütiger, spöttischer Ton, der sich in der Jacobi-Rezension vom 18. Dezember 1772 zu vernichtendem Hohn steigerte, ließ die Leserschaft der ' F G A ' schon früh aufhorchen. Besonders charakteristisch 24) Siehe daselbst, S. 3 8 3 .

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für Goethe sind die Rezensionen über Schummel, Sonnenfels, Hausen, Riedel, Geßner, Lavater und Jacobi. Als Glanzstück seiner kritischen Tätigkeit gilt die Rezension über die 'Gedichte von einem Polnischen Juden', die alles andere als eine ordentliche, kritische Buchbesprechung ist. Gleich zu Beginn verliert sich Goethe in poetischen Ergießungen und ruft sich am Schluß der Besprechung selbst zur Ordnung: "Es ist hier vom polnischen Juden die Rede, den wir fast verloren hätten, auch haben wir nichts von seinen Oden gesagt. »25) Etwa 40 Jahre später erschrak Goethe selbst über diesen Ton. Der Mitherausgeber Schlosser betätigte sich auf dem Gebiet der Philosophie, der Pädagogik und der Theologie. Wie auch bei Herder und Goethe beruhte alles das, was er von sich gab auf persönlichen Ansichten und Gefühlen. Seine Hauptaufgabe sah er darin, die orthodoxe Geistlichkeit, die sich ihm in Senior Pütt verkörperte, zu provozieren und zu attackieren. Immer wieder legte Schlosser sich — sehr zur Freude des Verlegers Deinet — in herausfordernder und höhnischer Weise mit der Frankfurter Geistlichkeit an. In dem jungen Prinzenerzieher Georg Wilhelm Petersen, der ebenfalls mit seinen Beiträgen in den 'FGA' die orthodoxe Kirche scharf angriff, fand Schlosser einen Verbündeten. Beide gingen soweit, daß bereits Ende Januar 1772 der Rat der Stadt Frankfurt alle theologischen Rezensionen verbieten wollte. Der Mann, der aber über alles seine schlichtende und zugleich schützende Hand hielt, war Merck. Seine Aufgabe war es, zu mäßigen, zu mildern, persönliche Angriffe zu entschärfen und zu mehr Sachlichkeit aufzurufen. Er, der Direktor der Zeitschrift, zeichnete sich durch nüchterne, sachliche, wenn auch manchmal scharfe Urteile aus, die jedoch immer seine große Kenntnis bezeugten. Mercks Rezensionen über Klopstock, Sulzer und Geliert hatten gleich zu Anfang des Jahres den 'FGA' großen Beifall eingebracht. Bedeutsam sind ebenfalls seine positiven Kritiken über Lessing und Herder. Von seinen Mitarbeitern erwartete Merck jedes Vierteljahr im voraus ein Verzeichnis all der Bücher, die sie rezensieren wollten. An Honorar zahlte Merck durch den Verleger drei Reichstaler für den Druckbogen; jedoch kam es auch oft vor, daß ein Mitarbeiter seinen Beitrag unentgeltlich einsandte. Der Preis für den Jahrgang der 'FGA' betrug — wie vorher bei der 'FGZ' — vier Gulden. Die Zahl der Abonnenten belief sich auf annähernd 200. Im Vergleich zu den 'Göttingischen Gelehrten Anzeigen', die es in ihrer Glanzzeit zu einer Auflage von ungefähr 2000 Exemplaren brachten, war die Auflage der 'FGA' äußerst gering.26) 1772 wurden die 'FGA' an folgenden Orten bezogen: Basel, Berlin, Bückeburg, Büdingen, Dieburg, Düsseldorf, Ehrenbreitstein, Erfurt, Göttingen, Halberstadt, Hamburg, Hannover, Helmstedt, Jena, Karlsruhe, Kassel, Koblenz, Leipzig, Lemgo, Lindheim, Marburg, Straßburg, Wetzlar, Zürich und Zwei-

25) Siehe daselbst, S. 558. 26) Vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter. . ., a.a.O., S. 81.

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brücken.27) Die gesicherten Mitarbeiter der Zeitschrift lassen sich in vier Gruppen zusammenfassen: 28) 1. Der Darmstädter Kreis: Merck, Wenck, G.W. Petersen, Herder, Dr. Leuchsenring; 2. Der Frankfurter Kreis: Behrends, Olenschlager, Deinet, Schlosser, Goethe und ein unbekannter Schauspielrezensent; 3. Die Mitarbeiter in Gießen: Bahrdt, Höpfner; 4. Andere Auswärtige Mitarbeiter: Waldin, Lebret, Raspe. Wie jeder andere Herausgeber auch, hatte Merck beträchtlichen Ärger mit dem Druckfehlerteufel. In einem Brief vom 30. Januar 1772 schrieb er: "Druckfehler hat es bisher noch schrecklich viele gegeben, weil der Correktor ein Halbgelehrter ist, und das was er nicht dechiffriren konnte, geändert hat. Indessen, wenn die Manuskripte nur künftig leserlicher eingeschickt werden, so wird sich diesem Hauskreuz auch abhelfen lassen."29) Daß jedoch keine Abhilfe geschaffen werden konnte, beweist eine Stelle im Register des Jahrgangs 1772, an der es selbstironisch heißt: "Druck- und Schreibfehler S. 1 — 8 3 2 " . Die ärgerliche Sache mit den Druckfehlern bereitete Merck aber nur kleine Sorgen. Viel größere Schwierigkeiten und Probleme sah er auf sich zukommen, als am 21. Juli erneut der Streit zwischen den ' F G A ' und der Geistlichkeit ausbrach, ein Streit, der sich mehr und mehr zu einem Kampf u m die Pressefreiheit entwickelte. Schlosser hatte in einer Rezension über Goezes 'Erbauliche Betrachtungen über das Leben Jesu auf Erden' nicht nur den Verfasser, sondern auch den Rat der Stadt Frankfurt respektlos und höhnisch abgefertigt. Als Merck sich in den Streit vermittelnd einschalten wollte, wie er es bereits im Februar des Jahres getan hatte, stieß er auf heftigen Widerstand von seiten Schlossers, Petersens und Deinets. Diesmal gelang es ihm nicht, die streitenden Parteien zu besänftigen. Enttäuscht und verärgert über die unbelehrbare Haltung Schlossers und Petersens zog Merck sich Ende Juli von den Redaktionsgeschäften zurück. Ein weiterer Grund für diesen Schritt mag in der Person des Ministers Friedrich Karl von Moser gelegen haben, der am 4. Mai 1772 Präsident von Hessen geworden war. Eine gute und erfolgreiche Zusammenarbeit mit diesem Mann schien Merck von vornherein aussichtslos zu sein. Schlosser, der nun an die Stelle Mercks trat, führte den Kampf mit der Züstimmung Deinets bewußt weiter. Immer heftiger und leidenschaftlicher wurden seine Angriffe gegen den Senior des lutherischen Predigerministeriums J.J. Plitt, dessen Predigten ihm verhaßt waren. Plitt, der sich nicht minder heftig wehrte, rief schließlich den weltlichen A r m zu Hilfe. Die Wirkung war eine ganz andere, als Schlosser sie sich erträumt haben mochte. Anfang November 1772 verbot der Rat der Stadt — bei einer Strafe von 100 Reichstalern — den ' F G A ' alle weiteren theologischen Rezensionen, außer wenn sie vorher die Zensur des lutherischen Predigerministeriums passiert hätten. Zudem wurde Deinet eine Stra27) Vgl. daselbst, S. 82. 28) Vgl. daselbst, S. 91 f.. 29) Siehe daselbst, S. 83.

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fe von 20 Reichstalern wegen Schlossers Goeze-Rezension auferlegt. Deinet, der sich diesem Spruch keineswegs fügen wollte, legte bei der Juristenfakultät in Leipzig Berufung ein. Das Urteil von Frankfurt wurde dort jedoch bestätigt, und Deinet mußte zahlen. Die ' F G A ' waren der politisch-kirchlichen Macht, verkörpert im Rat der Stadt und dem Predigerministerium, unterlegen. Um die Freiheit der Presse, wie sie Petersen immer wieder forderte, war vergebens gerungen worden. Augenblicklich wurden für ihn die ' F G A ' uninteressant, und es zog ihn nach Berlin zu Friedrich Nicolais 'Allgemeiner Deutschen Bibliothek'; hier setzte er den Kampf fort. Gegen Ende des Jahres 1772 faßten auch andere Mitarbeiter den Entschluß, der Zeitschrift den Rücken zu kehren. Unter ihnen befanden sich Merck, Goethe, Herder und Schlosser. Daß Merck dieser Entschluß keineswegs schwer gefallen war, beweist eine Stelle aus seinem Brief an Raspe vom 2. Januar 1773: "Es ist nun Gott lob alles glücklich mit diesem Jahre zu Ende, und weder Herder noch ich oder meine andern Freunde, die unbekannt sein wollen, werden den geringsten Anteil mehr an dieser Rauferei haben."30) In Goethes Nachrede vom 29. Dezember 1772, in der er dem Publikum im Namen der Herausgeber für die große Anteilnahme, für allen Tadel und für alles Lob dankt, ist ebenfalls ein Hinweis auf das Ausscheiden der wichtigsten Mitarbeiter zu finden: " A l l e n diesen Beschwerden, so viel möglich, abzuhelfen, wird unser eifrigstes Bestreben seyn, welches um so vielmehr erleichtert wird, da mit Ende dieses Jahrs diejenigen Recensenten, über deren Arbeit die meiste Klage gewesen, ein Ende ihres kritischen Lebens machen wollen. . . Indessen hoffen sie (die ausscheidenden Rezensenten) doch, manchen sympathisirenden Leser gefunden zu haben, dessen gutem Andenken sie sich hiermit empfehlen."31) Der folgende Jahrgang 1773 begann für den Verleger Deinet sehr erfolgversprechend, denn ein lang ersehnter Wunschtraum ging ihm in Erfüllung: A m 1. Januar des Jahres übernahm Karl Friedrich Bahrdt aus Gießen die Leitung der ' F G A ' . Doch daß die Besetzung des so wichtigen Postens des Direktors mit einem Mann vom Schlage Bahrdts nicht gut gehen konnte, beweisen die zahlreichen, sich über zwei Jahre hinstreckenden Reibereien zwischen Bahrdt und dem Minister von Moser. Obwohl Bahrdts Rezensionen, verglichen mit denen des Jahrgangs 1772, nicht schlimmer oder schärfer als Goethes oder Schlossers Beiträge waren, zog er sich mehr und mehr den Unwillen und den Zorn des Ministers zu. Als er schließlich 1775, auf von Mosers Veranlassung hin, Hessen verlassen mußte, wurde der Gießener Professor Christian Heinrich Schmid sein Nachfolger. Er behielt die Redaktion bis zum Ende des Jahres 1790. In Gehalt, Stil und Ton entfernte sich die Zeitschrift immer mehr von der Qualität des Jahrgangs 1772. Oft sogar machten sich die Mitarbeiter über den Ton ihrer Vorgänger lustig. So schrieben sie zum Beispiel: "Sie hatten so ihre eigene A r t , schwatzten so ein wenig über die Bücher hin, nahmen sich hier und da etwas heraus, wobei sie sich an einem Verfasser rei30) Siehe daselbst, S. 85. 31) Siehe 'Frankfurter gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772', a.a.O., S. 832.

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ben konnten, schnitten und modelten an einer Rezension so lange, bis sie einen Gedanken herausdrechselten, den sie gern anbringen wollten, und der oft dem hundertsten dabei eingefallen wäre, und fragten gar nicht, wen sie vor sich hatten. Und nun noch der Ton obendrein,/"32) Wenn in den Jahren zwischen 1773 und 1790 ein Lenz oder ein Klinger gelegentlich etwas im Stil des Sturm und Drangs beisteuerte, so war das nur eine seltene Ausnahme. Das Niveau und der Ruhm von 1772 wurden nie wieder erreicht. Ohne eine Verabschiedung und ohne ein Nachwort an den Leser stellten die ' F G A ' Ende des Jahres 1790 ihr Erscheinen ein. A m 31. Dezember 1790 erschien der letzte Beitrag der Zeitschrift, eine Rezension über den "Geist der spekulativen Philosophie von Thaies bis Socrates durch Dietrich Tiedemann, Hofrath u. Professor der Philosophie in Marburg."

32) Siehe Hermann Bräuning-Oktavio: Herausgeber und Mitarbeiter..., a.a.O., S. 393.

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Ingo Petzke WÖCHENTLICHE OSNABRÜCKISCHE ANZEIGEN (1766-1875)

Die 'Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen' ('WOA') waren die erste Zeitschriftengründung in Osnabrück. Das relativ späte Erscheinen eines Blattes in diesem Teil des westfälischen Raumes begründet Lenzing 1) mit den verheerenden Spätfolgen des dreißigjährigen Krieges sowie der Zensurpolitik von Clemens August (+ 1761), dem Bischof von Osnabrück und damit Landesherrn des Hochstifts. Andererseits forderte die sich mehr und mehr durchsetzende Idee des Intelligenzblattes 2) eine Zeitschriftengründung geradezu heraus. Der Osnabrücker Verwaltungsbeamte Justus Moser (1720—1794) betont denn auch in Punkt 10 seines Desideriums vom 27. Januar 1766 an den König, in dem er über eine mögliche Gründung referiert, daß nun alle proclamata, discussiones und moratoria allgemein bekannt gemacht werden könnten, was früher nicht möglich war. "Ja, es hat den Anschein", bemerkt Hollmann, "als sei Moser selbst nur als Verwaltungsbeamter an der Gründung innerlich beteiligt und nur auf die Schaffung eines Verordnungsblattes bedacht gewesen, dessen Spalten man dem Geschäftsmann öffnete, um durch Anzeigengelder und Verbreiterung des Abonnentenkreises seine finanzielle Basis zu sichern: in allen Erlassen zur Vorbereitung erschienen die 'Wöchentlichen Osnabrückischen Anzeigen' als Intelligenzblatt trockenster Art"3). Dies mag zum einen daran gelegen haben, daß der rein amtliche Charakter die Gründung eines Blattes als relativ gefahrlos erscheinen ließ,4) zum anderen scheint auch das Vorbeugen gegenüber eventuellen landesherrlichen Zensurgelüsten nicht von der Hand zu weisen zu sein. Die Veröffentlichung des Blattes geschah auf Wunsch und Antrag der Stände. Herausgeber war die Regierung, vertreten durch Justus Moser, der die Oberaufsicht führte und das Amt des Zensors innehatte. Die Kosten trug das Land 5). Die Leitung des Intelligenzkontors und der damit verbundene Vertrieb wurde dem cand. jur. Johann August Huxmann übertragen: "Das 'Osnabrücker Intelligenzblatt' war also kein Privat-, sondern ein öffentliches Unternehmen"*»). Entsprechend diesem 1)

Rudolf Lenzing: V o n Moser bis Stüve. Ein Jahrhundert Osnabrücker Pressegeschichte als Spiegel des Bürgertums, Osnabrück 1924, S. 9.

2)

Z u m Intelligenzwesen vgl. Margot Lindemann: Deutsche Presse bis 1815, Berlin 1969, S. 249 f f .

3)

Wolfgang Hollmann: Justus Mosers Zeitungsidee und ihre Verwirklichung, München 1937, S. 51 (im Anhang ausführliche Bibliographie).

4)

Daselbst, S. 51 f.

5)

Rudolf Lenzing, a.a.O., S. 11.

6)

Hermann Runge: Die 'Osnabrückischen Wöchentlichen Anzeigen' und die Kislingsche Buchdruckerei, in: Festschritt zur Feier des 200jährigen Bestehens der Buchdruckerei J.G. Kisling zu Osnabrück, Osnabrück 1909, S. 37.

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Charakter geschah die Werbung zunächst amtlicherseits: am 25. August 1766 erfolgte ein Reskript an alle Ämter im Hochstift Osnabrück mit Verordnungen, Citationes usw., das sich jedoch als Fehlschlag erwies. A m 1. September des gleichen Jahres wurde dann ein Publicandum in 1000 Exemplaren verbreitet, sowohl per Kanzelankündigung als auch per Anschlag. In diesem Publicandum machte Moser das angestrebte Programm bekannt, allerdings mit krassem Understatement. Die Beilagen beispielsweise, die das Gewicht der 'WOA' ausmachen sollten, wurden nicht angepriesen:7) "Publicandum wegen eines in diesem Hoch-Stifte auszulassenden Intelligentz-Blates. Der Vortheil, welcher dem gemeinen Wesen daraus zuwachset, wenn diejenigen Nachrichten, welche zu jedermanns Wissenschaft gehören, dem Publico zeitig und zuverlässig bekannt gemacht werden, ist so unstreitig, daß unter allen, zu Beförderung des gemeinen Besten abzielenden, Anstalten, diese aller Orten am wenigsten Wiederspruch gefunden hat. Er machet die Absicht der bekannten Intelligentz-Blätter aus, welche fast in den mehresten deutschen Provinzien mit Landesherrlicher Genehmigung herausgegeben werden. Man hat daher auch hiesiges Ortes dergleichen längst gewünschet. . . Die Einrichtung soll dem Endzweck möglichst gemäß gemacht werden. Alle Landesherrliche Verordnungen und Ausschreiben, welche Vorschriften für die Unterthanen enthalten, sollen wörtlich eingerücket werden. Alle bey den Gerichten dieses Hoch-Stifts vorfallende Edictal-Citationes, Subhastationes und andere Proclamata, Decreta praeclusiva, gemeine Bescheide, Constitutiones curatorum & tutorum, Steckbriefe und Anzeigen von geschehenen Diebstählen sollen durch dieses Blat bekannt gemacht werden. Die entstehenden Vacantzen geistlicher und weltlicher Bedienungen sollen, sowohl als die Beförderungen ihren Platz darinn finden. Wer etwas kaufen oder verkaufen, pachten oder verpachten, miethen oder vermiethen, Capitalien an- oder ausleihen. Bedienten oder Dienste suchen will, kann sein Verlangen durch das Intelligentz-Blat kund machen. Eben der Weg stehet denenjenigen offen, die etwas verlohren oder gefunden haben, und letzteres an den rechten Herren zu bringen wünschen. Künstler und Handwerker, die sich in diesem Hoch-Stifte besetzen wollen, Meister, welche Lehr-Burschen, und Oerter, welche Handwerker suchen, können solches dem Intelligentz-Blat inseriren lassen. Ueberhaupt soll alles, was zur Notitz des Publici gehöret, demselben einverleibet werden. So nützlich es seyn würde, wenn auch zur Ausbreitung der Wissenschaften und Gelehrsamkeit dienliche Aufsätze, wie an anderen Orten gebräuchlich ist, einen Platz in diesen Blättern finden könnten: so siehet man doch noch zur Zeit sich nicht im Stande, dem Publico darüber eine gewisse Versicherung zu geben: der dazu gehörige Aufwand kann im voraus nicht hinlänglich überschlagen werden. Immittelst wird man vorerst bemühet seyn, wenn jene nothwendigen Nachrichten einen Raum übrig lassen, von Zeit zu Zeit solche kurze Stücke mitzutheilen, welche zur Verbesserung des Policey-Wesens und der allgemeinen auch besonderen Land-Wirtschaft Anleitung geben, mithin einen unmittelbaren Einfluß auf das gemeine Beste haben. . .". Das Echo auf das Publicandum war schon erheblich besser, doch stieg erst nach drei weiteren Reskripten, in denen sowohl behördlicher Bezugszwang als auch die Pflicht festgelegt wurden, die amtlichen Termine nach der Erscheinungsweise der ' W O A ' festzusetzen, die Zahl der Abonnenten auf ca. 600.8) Mit dieser Auflage, die immerhin viermal so hoch war wie die des hannoverschen Intelligenzblattes9). 7) 8) 9)

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Wolfgang Hollmann, a.a.O., S. 55. Daselbst, S. 56. Daselbst, S. 57.

erschienen die 'WOA' erstmals am Samstag, dem 4. Oktober 1766. Geschäftsführer und Schriftleiter war der cand. jur. Huxmann, Oberaufsicht und Zensur besorgte Moser, gedruckt wurde die Zeitschrift bei J.G. Kisling. Die erste Ausgabe enthielt "Citationes Edictales", "Sachen so zu verkaufen", Verpachtungen, "Capitalien so gesucht werden", "Sachen so gestohlen" und " Z u r Nachricht". Darüber hinaus wurde ausführlich über die Möglichkeiten der Abonnierung und über Insertionsmodalitäten referiert. Obwohl im Publicandum vom 1. September ausdrücklich mitgeteilt worden war, daß gelehrsame und wissenschaftliche Artikel nicht gedruckt werden könnten (wohl auch aus Rücksicht auf die Landesregierung in Hannover, die durchaus gegen eine Verwischung des reinen Intelligenzcharakters eingestellt war), begann Moser sofort m i t einem insgesamt über vier Ausgaben laufenden Aufsatz, betitelt "Abhandlung von dem Verfall des Osnabrücker Linnenhandels und den Mitteln solchen wieder aufzuhelfen". Die Bedeutung dieses Aufsatzes lag nicht nur in der Durchbrechung der programmatischen Linie der 'WOA', sondern war auch der erste Ansatz für die von Moser entwickelte regional gebundene Publizistik (über die noch zu sprechen sein wird) und der Beginn des "Sozialhistorikers" Moser. " D i e Zeitschrift des 17. und 18. Jahrhunderts ist eine m i t der Absicht der unbegrenzten Dauer begründete, in mehr oder weniger regelmäßigen Zeitabschnitten erscheinende und für einen im allgemeinen begrenzten Interessentenkreis durch mechanische Vervielfältigung hergestellte Publikation, deren einzelne Stücke als die (periodisch) wiederkehrenden Teile eines einheitlich geleiteten Ganzen erkennbar sind, und die innerhalb ihres besonderen Fach- oder Wissensgebietes eine Mannigfaltigkeit des Inhaltes anstrebt", wie Kirchner 10) feststellt. Die ' W O A ' sind, wie bereits ausgeführt, ganz klar als Intelligenzblatt konzipiert gewesen. Aber: "Die Geschichte des Blattes ist die Geschichte des Teils, den man durch die Bezeichnung 'Beilage' um seinen wirklichen Charakter b r i n g t " , schreibt Hollmann ü ) : die zunächst 'Nützliche Beylagen zum Osnabrückischen IntelligentzBlate', dann, ab 1773 'Westphälische Beiträge zum Nutzen und Vergnügen' genannten Teile der 'WOA' machten ihre Bedeutung aus. A u f sie kann man mit einigem Recht die obige Definition Kirchners anwenden, und nur sie begründen die Einreihung unter die Rubrik " Z e i t s c h r i f t " , nicht zuletzt durch die bereits seit dem ersten Jahrgang herausgegebenen Jahres-Inhaltsverzeichnisse für die Beilagen, die das Selbstverständnis als Zeitschrift eindeutig belegen. Die 'Anzeigen' bestanden also streng genommen aus zwei grundverschiedenen, nur locker miteinander verbundenen Teilen, deren einer ein reines Intelligenzblatt, deren anderer jedoch eine moralische Wochenschrift darstellte, "allerdings ohne den sonst so beliebten moralisierenden Ton, den Moser nicht leiden konnte". 12) M i t 10) Joachim Kirchner: Die Grundlagen des deutschen Zeitschriftenwesens, Leipzig 1928, S. 32 f. 11) Wolfgang Hollmann, a.a.O., S. 59. 12) Conrad Henke: Die Osnabrücker Presse von der Märzrevolution 1848 bis zur Gegenwart, Münster 1927, S. 12.

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der 'Beylage' verfolgte Moser das Ziel, "das Volk durch sein Blatt zu Staatsbürgern zu erziehen". 13) Er beschäftigte sich hauptsächlich mit den kleinen Freuden und Leiden des Alltags, aber genausogut wurden Landtagspropositionen diskutiert. Zwar predigte er Lebenserfahrungen, aber philosophische Abhandlungen tauchten nicht auf; sie hätten das lokale bzw. regionale Kolorit nicht zugelassen, das Moser über alles ging, um das Volk zu erreichen. Die besten dieser Aufsätze sind in den "Patriotischen Phantasien" 14) zusammengefaßt, die gar Goethe und Heuss zu Betrachtungen angeregt haben. Bei dem Vergleich mit anderen Zeitschriften scheint sich "anzudeuten, daß die von Justus Moser hauptsächlich in den 'Osnabrückischen Intelligenzblättern' von 1766—1782 entwickelte Art landschaftsgebundener Publizistik Schule gemacht hat".15) Grundsätzlich gab es zwei Zeitungstypen amtlichen Charakters: zum einen ein offiziöses Blatt, welches personell oder durch direkten Besitz an Regierungsstellen gebunden war und deren Sprachrohr darstellte; zum anderen die amtlichen Kreisblätter, welche amtliche Anzeigen und Verordnungen zuerst und gegen Bezahlung abdruckten, also privatwirtschaftlich geführt wurden. Die 'WOA' waren aufgrund der Stellung Mosers als Regierungsbeamter, Zensor und Redakteur beides in einem. 16) Sehr deutlich wird der amtliche Ursprung beispielsweise durch die sehr häufige Publizierung gerichtlicher Vorladungen. Sie gehören zu einer der vier Sparten, die sich wöchentlich nachweisen lassen. Die 'Beylagen' begründeten den Ruhm der 'WOA', so daß sie bereits 1767 in Eigenanzeigen als Hauptbestandteil deklariert wurden.17) Hollmann bemerkt: "Über Politik berichtet wird in den 'Osnabrückischen Anzeigen' wenig, dafür jedoch systematisch Politik gemacht und politische Erziehung betrieben."18) Dies nicht nur in den 'Beylagen', auch der Anzeigenteil der 'WOA' unterstand den "politischen Prinzipien von Mosers Zeitungsidee". 19) Als Beispiel sei die Anzeige des Gastwirts und Gärtners Rudolf Böhmer im 20. Stück von 1784 angeführt, die sich über das Futterkraut "Lucerne" ausließ, dessen Einführung Moser sehr am Herzen lag. Die 'Beylagen' versorgte Moser vorzugsweise selbst, so daß Hatzig rühmen kann: "So entstanden jene reifen Gebilde von verschiedenem Umfange, denen das sorgsame Meditieren die vollendete Klarheit, der Charakter des Mannes aber jene anschauliche Lebendigkeit und Frische des Tons verlieh. Sein köstlicher Humor begleitete so oft als munterer Geselle die ernste Forderung. Moser zieht die Register der Ironie, der Satire. Der scherzende Plauderton des liebenswürdigen Gesellschaf13) Daselbst, S. 11. 14) Vgl. Justus Mosers Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe in 14 Bänden, Oldenburg - Berlin - Hamburg 1944—1972. 15) Hubert Max: Wesen und Gestalt der politischen Zeitschrift, Essen 1943, S. 141. 16) Wolfgang Hollmann, a.a.O., S. 73. 17) Daselbst, S. 126. 18) Daselbst, S. 106. 19) Daselbst, S. 85.

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ters wechselt mit dem vollen Pathos des Patrioten und Staatsmannes"^). Allerdings sollte nicht verschwiegen werden, daß Mosers Schreiblust auch negative Auswirkungen zeigte: " D i e 'Westphälischen Beyträge' erreichten ihren Tiefpunkt 1779, als Mosers 'Osnabrückische Geschichte' 49% des Gesamtinhalts ausmachte."21) Die 'WOA' erschienen jeweils samstags um neun Uhr. In der ersten Zeit wurden die Exemplare von vier Waisenknaben, jeweils zwei evangelischen und zwei katholischen, zugestellt, die dafür jährlich einen Taler erhielten. Es scheint jedoch so, als habe es viel unnötigen Arger aufgrund der Tatsache gegeben, daß zunächst die katholischen, später auch die evangelischen Waisenkinder Analphabeten waren, so daß eine ordentliche Belieferung der Abonnenten nicht sichergestellt war; dies geht aus einem Bericht des Geschäftsführers Huxmann an Moser vom 18. Juni 1771 hervor.22) Aber erst seit dem 1. April 1781 wurde die Zustellung so abgeändert, daß in Z u k u n f t ein erwachsener Mann für vier Taler jahrlich diese Arbeit übernahm. Die Zustellung außerhalb der Stadtgrenzen Osnabrücks erfolgte teils durch Boten, teils durch die Post. Uber 20 Boten versorgten die Abonnenten bis Damme, Fürstenau, Quackenbrück, ja sogar bis Minden und Lemgo. Der Botenlohn betrug sechs Mariengroschen jährlich pro Exemplar, die Post begehrte für den gleichen Dienst 24 Mariengroschen. Ein Austausch mit den Intelligenzblättern von Aurich, Braunschweig, Duisburg, Göttingen, Hannover, Lemgo, Lippstadt, Minden und Münster wurde bald wieder eingestellt, da er sich als finanziell unergiebig erwies, wohl hauptsächlich, weil für die auswärtigen Nachrichten zu wenig Interesse vorhanden war.23)

Die Abonnementspreise im Hochstift Osnabrück betrugen jährlich einen Taler und zwölf Mariengroschen (= ein Taler und sieben Schillinge), oder vierteljährlich zwölf Mariengroschen und sieben Schillinge. Der Einzelpreis betrug einen "Gutengroschen". Eingeschlossen waren darin jeweils die Botengebühren. Für die Postzustellung außer Landes, d.h. außerhalb der Stiftsgrenzen, kam; wie bereits erwähnt, noch ein Zuschlag von jährlich 24 Mariengroschen hinzu, was das Abonnement wesentlich verteuerte, nämlich um genau 50%. Die Auflagenhöhe schwankte relativ stark.24) sie betrug 1766 600 Stück, sank langsam auf 500 ( 1 7 6 7 - 7 4 ) und sogar 420 (1 775— 92) ab, u m dann rasch wieder über 450 ( 1 7 9 3 - 9 7 ) und 475 (1798/99) auf 500 im Jahre 1800 zu steigen. Die ursprüngliche Auflage von 600 Exemplaren wurde jedoch erst wieder 1805 erreicht. Sämtliche Angaben sind selbstverständlich Durchschnittswerte. "Einzelne Nummern sind offenbar nicht verkauft worden, da ein Erlös aus ihnen niemals in den Einnahmen angeführt w i r d " , teilt Hollmann25) mit.

20) O t t o Hatzig: Justus Moser als Staatsmann u n d Publizist, Hannover — Leipzig 1909, S. 31. 21) Wolfgang Hollmann, a.a.O., S. 165. 22)

Rudolf Lenzing, a.a.O., S. 17.

23)

Daselbst.

24) Wolfgang Hollmann. a.a.O., S. 59. 25) Daselbst. S. 4 0 .

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Breit gestreut war auch die Verteilung der Auflage. Hollmann 26) macht, ausgehend von einer Durchschnittsstückzahl von 504 Exemplaren, folgende Rechnung auf: 81% = 410 Exemplare gingen an Abonnenten; 34% = 1 7 0 Exemplare blieben in der Stadt Osnabrück, 42 weitere Prozent im Hochstift außerhalb der Stadt; fünf Prozent = 30 Exemplare gingen an Privatpersonen außerhalb der Landesgrenzen; der Rest von 19% wurde zum Teil zum Tausch mit anderen Intelligenzkontoren verwandt, zum Teil wurde er als Belegexemplare für gerichtliche Ankündigungen an die Parteien herausgegeben, sofern sie die Gerichtsverhandlung angekündigt hatten. 1772 wohnten im Hochstift Osnabrück 116.664 Einwohner in 19.684 Haushaltungen. Im Durchschnitt kam also ein Exemplar der 'WOA' auf 48 Familien mit jeweils durchschnittlich fünf Familienmitgliedern. Tatsächlich jedoch war die Streuung zwischen Stadt und Land ganz eklatant. Während in Osnabrück selbst ein Exemplar auf 60 Einwohner kam (170 Bezieher unter 10.000 Einwohnern), betrug das Verhältnis im übrigen Hochstift ein Exemplar auf 500 Einwohner (210 Bezieher unter 106.000 Einwohnern). Bedenkt man im übrigen, daß alle amtlichen Stellen gehalten waren, die 'WOA' zu abonnieren, verschiebt sich das Verhältnis noch ungünstiger gegenüber dem Lande. Der durchschnittliche Umfang des Intelligenzblattes betrug vier Seiten, je zweispaltig, insgesamt also 220 zwölfsilbige Zeilen. Stand nur eine geringere Zeilenzahl zur Verfügung, wurde mit Durchschuß und großem Satz gearbeitet. 27) Bei engstem Satz wurden umgekehrt die Mehrspalten nicht der 'Beylage' entzogen, sondern man erweiterte vielmehr das Gesamtstück durch eine neue B e i l a g e . 2 8 ) Die Anzeigen selbst waren nicht sehr kostspielig, ihre Berechnung erfolgte verhältnismäßig lasch: "Wenn sie nicht übermäßig groß waren"29), betrug der Einheitspreis zwei Gutegroschen. Gerichtliche Vorladungen und Urteile wurden seit Mai 1767 mit vier Gutengroschen berechnet, dafür bekamen die Parteien jedoch, wie erwähnt, jenes Exemplar kostenlos. Man sollte jedoch beachten, daß das Intelligenzblatt sehr viel anders aussah, als man es heute vermuten würde: "Einen Anzeigenteil in seiner heutigen graphischen Gestalt gab es nicht, die Anzeigen wurden äußerlich als Nachrichtentext gedruckt und auch wohl so gewertet"30). Ein Spartenbeispiel des Intelligenzblattes von 1787 gibt Auskunft über die verschiedenen Rubriken, die sich laufend — wenn auch so gut wie nie alle gleichzeitig — nachweisen lassen.31) Es sind dies: Gesetze und Verordnungen; Bekanntmachungen; Citationes edictales (laufende Gerichtsverhandlungen); gerichtliche notificationes (abgeschlossene Gerichtsverhandlungen); gutsherrliche Vorladungen; Martheilungs-Sachen (anläßlich der Grundbesitz-Reform); Verpachtungen (von Staatsgütern); Sachen so zu verkaufen; Sachen so zu verheuren; Capitalia so zu 26)

Daselbst, S. 122 f.

27) Daselbst, S. 97. 28) Daselbst, S. 99. 29) Z i t . nach Rudolf Lenzing, a.a.O., S. 16. 30) Wolfgang Hollmann, a.a.O., S. 59. 31) Daselbst, S. 86 f f .

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belegön; Capitalia so verlangt werden; Sachen so gestohlen; Sachen so verlohren; Sachen so gefunden; Personen so im Dienst verlangt werden; Personen so ihre Dienste antragen; Vermischte Nachrichten; Lotterie-Sachen; durchpassirte Fremde (vierzehntägig oder monatlich); Standesregister (jährlich); Korntaxe (nur gelegentlich); Sonderbeilagen; Beförderungen (Vorläufer der Familienanzeigen); Anzeigen unter dem Strich (sehr selten). Diese breite Fülle täuscht darüber hinweg, daß wirklich wöchentlich nachweisbar nur "citationes", "notificationes", "Sachen so zu verkaufen", "so zu verheuren" sowie die vermischten Nachrichten sind. Moser hat bis zum Ende seiner Leitung der 'WOA' 1782 laufend Aufsätze veröffentlicht, nach seinem Ausscheiden noch sporadisch, letztmalig nachweisbar in der Ausgabe vom 12. Mai 1792. Man kann bei dem unbestrittenen Format Mosers nicht umhin, die Bedeutung der 'WOA' direkt mit seiner Beteiligung an diesem Blatte zu verkoppeln; nach seinem Ausscheiden aus der Leitung verliert es schnell ar. Bedeutung. " D e m Nachrichtenteil (= Anzeigenteil, d.Verf.) war dann zuerst ohne besondere Kennzeichnung die Beilage angefügt, die die belehrenden und unterhaltenden Aufsätze enthielt. 1768 bekamen diese Beilagen aber den eigenen Titel 'Nützliche Beylagen zum Osnabrückischen Intelligentz-Blate'. 1773 werden sie in 'Westphälische Beyträge zum Nutzen und Vergnügen' umgetauft."32) Erweitert durch Gelehrte aus ganz Westfalen, sollten die Beiträge in großer Auflage erscheinen und wurden benachbarten Intelligenzblättern als Beilage empfohlen, da Unterschiede in Ländern, Sitten, Gewohnheiten bereits bei der Abfassung berücksichtigt worden seien.33) Diese Idee scheint jedoch kaum Anklang gefunden zu haben. Die 'Beylagen', zunächst also als wirkliche Beilagen gedacht, machten vom ersten Erscheinungstag an das Hauptgewicht der 'WOA' aus, nicht nur inhaltlich, sondern auch ganz klar umfangsmäßig. Von der Gründung (1766) bis zu Mosers Ausscheiden (1782) erschienen insgesamt 848 Stücke, von denen 458 eigenen Text aufwiesen. Das bedeutet, daß in diesem Zeitraum die 'Beylagen' 54% des Umfanges ausmachten, in manchen Jahren allerdings noch wesentlich mehr, bis zu 76%.34) Zwei Themenkomplexe, die naturgemäß Mosers Hauptanliegen waren, beherrschten von Anfang an die 'Beylagen', nämlich Wirtschaftspolitik und Staatspolitik, die 1766 = 55% bzw. 9% des Inhalts der Beilagen ausmachten, 1767 = 45% bzw. 17%. Überhaupt war Moser der dominierende Autor. Von den 796 Stücken, die sich zwischen 1766 und 1781 nachweisen lassen, stammen 453 aus der Feder Mosers, 39 von namentlich genannten Autoren, 113 von unbekannten Mitarbeitern, während 191 aus Füllmaterial bestanden. Darunter sind z.B. Landchroniken oder Nachdrucke aus anderen Intelligenzblättern zu verstehen.35)

32) Rudolf Lenzing, a.a.O., S. 15. 33) Daselbst. 34) Wolfgang Hollmann, a.a.O., S. 125. 35) Daselbst, S. 129.

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Erstaunlich mutet es an, daß bei sehr guten Autorenhonoraren (ein Bogen = vier Taler, ein halber Bogen = zwei Taler, ein viertel Bogen = ein T a l e r ) 3 6 ) die oben angeführten 39 Beiträge von nur 20 Mitarbeitern stammen, und das immerhin in einem Zeitraum von 12 Jahren. Diese Mitarbeiter waren hauptsächlich Beamte, die über ihren Wirkungskreis berichteten. Es waren sechs juristische Beamte, vier Ärzte, drei evangelische Pastoren, drei Professoren (ein Jesuit), zwei Handwerksmeister, ein Kaufmann und ein Landwirt, die — bis auf die zwei letztgenannten — Funktionen in der Landesverwaltung a u s f ü l l t e n . 3 7 ) Prominentester Autor war übrigens Lichtenberg. Moser versuchte, seine quasi Monopol-Autorenschaft zu vertuschen. Das Schreiben ganzer Debatten mit sämtlichen Pro und Contra war dabei nur ein Schritt.38) Vielmehr bemühte er sich, "das ursprünglich und mit normalen Mitteln nicht auszugleichende Mißverhältnis der Themengruppen zueinander zu retuschieren, d.h. durch Einführung vorgetäuschter Mitarbeiter aus Schichten, deren Gedankenwelt sich Moser mühsam erarbeiten mußte, die wahre soziale Schichtung der Mitarbeiterschaft zu v e r s c h l e i e r n " . 3 9 ) Hollmann hat sich in seiner Untersuchung eingehend bemüht herauszufinden, in welchem Maße Moser seine Autorenschaft zu verschleiern suchte.40) Danach schrieb er eindeutig siebzehnmal unter offener Namenssignatur, dreißigmal unter neutralen Signaturen, achtundzwanzigmal wählte er fremde Namen und Orte zur Unterzeichnung, viermal nannte er Berufe in der Signatur. Zur Untermauerung der Glaubwürdigkeit dieser angeblich signierenden Autoren machte er sich sogar die Mühe, beispielsweise deren vorgebliche vita zu berichten. Darüber hinaus ließ er achtundsiebzigmal vorgetäuschte Verfasser an 15 vorgebliche Adressaten schreiben (z.B. Herausgeber, Freund, Kaplan, eine Mutter), eine seiner beliebtesten Stilformen zum Anreißen kleinerer Probleme. Daneben bediente er sich wissenschaftlicher Abhandlungen, allgemeiner Abhandlungen, Plaudereien, Erzählungen sowie Erlassen der Zeitschrift als Stilmittel. Es lassen sich bei näherer Betrachtung sechs Themenkreise feststellen, über die Moser geschrieben hat: a) Staat und Recht; b) Wirtschaft und Soziales; c) Gesellschaftskritik; d) Geschichte; e) Allgemeinesund Literatur; f) Z e i t u n g s t h e o r i e 4 1 ) , deren Umfang innerhalb der 'Beylagen' sich für den Zeitraum von Mosers Mitarbeit (1766-1782) genau berechnen lassen: a) = 30%; b) = 18%; c) = 16%; d) = 29%; e) = 5%; f) = 2%.42)D iese Werte schwankten jedoch ganz erheblich in den einzelnen Jahren, je nach Mosers eigentlichen Interessen. Bereits erwähnt wurde der Block der "Osnabrückischen Geschichte", der damit dem Themenkreis "Geschichte" im Jahre 1779 quasi ein Monopol gab. Als plastisches Beispiel für die 36)

Rudolf Lenzing, a.a.O., S. 15.

37) Wolfgang Hollmann, a.a.O., S. 137. 38) Daselbst, S. 135. 39) Daselbst, S. 138. 40)

Daselbst, S. 147 f f .

41)

Daselbst, S. 157.

42) Daselbst, S. 168.

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Vielfalt der abgehandelten Themen können die A r t i k e l des ersten Jahrgangs gelten (in Klammern die Heftnummern), so zum Beispiel die erwähnte " A b h a n d lung von dem Verfall des Osnabrücker Linnenhandels und den Mitteln solchen wieder a u f z u h e l f e n " ( 1 — 4 ) , " M e m o r i a l eines geringen Kötters, den Verkauf fetter Ländereien b e t r e f f e n d " (10), " D i e Unschuld des Obstes bey Erzeugung der R u h r " (2), "Schreiben einer Mutter über den Putz der K i n d e r " (10), " D i e Spinnstube, eine Osnabrücker Geschichte" ( 6 — 8 ) oder "Eines Hochwürdigen Domcapituls K o r n t a x e " in N u m m e r 13. Welche Themen Moser für geeignet hielt, in der ' W O A ' abgehandelt zu werden, sprach er ganz deutlich in der Ausgabe vom 17. O k t o b e r 1767 aus, als er im Rahmen einer Betrachtung über eingesandte Manuskripte schrieb: " D i e Absicht dieser Intelligentz-Blätter ist nicht allgemeine Abhandelungen einzurücken. Es müssen daher aller moralische, physicalische, öconomische, historische, antiquarische, juristische und sonstige Abhandelungen, welche hierin einen Platz haben wollen, so viel immer möglich, hiesiges Land betreffen, u n d nicht zu sehr aus der engen Sphere fallen, w o r i n diese Blätter gelesen werden' '43) . Seit 1773 aber ist zu beobachten, daß dieser geforderte journalistische Stil mehr und mehr verfiel, wenn auch zugunsten eines mehr abstrakten Stils, dessen literarischer Wert w e i t höher steht. " A l l e jene Themenkreise und Stilformen, die Merkmal und Hauptmittel zur Erreichung von A k t u a l i t ä t und politischer Ausrichtung waren, weichen mehr und mehr zurück; alles, was nur m i t Vorbehalt für die Zeitung geeignet war, was vorher nur in beschränktem Maße herangezogen wurde, das gewinnt immer größeren Anteil und n i m m t schließlich überhand."44) Der Themenkreis Wirtschaft und Soziales verschwand fast völlig, ebenso Staat und Recht. Bereits am 15. O k t o b e r 1772 war dem Geschäftsführer und Schriftleiter H u x m a n n zu Neujahr gekündigt worden. Vorausgegangen war dieser Entscheidung ein bereits mehrjähriges Gerangel. Immer wieder war es von seiten der Abonnenten zu Beschwerden und Reklamationen gekommen, bei denen es hauptsächlich u m Mahnungen über längst bezahlte Rechnungen ging. Wegen unzureichender Führung von Rechnungen u n d Büchern mußte Huxmann sich bereits im Februar 1771 in einem Brief an die Landesregierung, zu Händen der Regierungsräte in Osnabrück, verantworten. Daraufhin half ihm die Regierung, durch die Vögte rückständige Beiträge eintreiben zu lassen; die Geschäftsführung wurde dennoch nicht besser. A m 4. November 1771 wurden H u x m a n n in einem M o n i t u m in elf Punkten seine Rechnungssünden vorgelegt. Nachdem er knapp ein Jahr später noch n i c h t einmal darauf geantwortet hatte, erfolgte seine Kündigung. Die Abrechnung über das Geschäftsjahr 1770 stand noch immer aus, in dem die Druckerei Kisling die erste Bezahlung seit Start des Blattes erhalten hatte. Huxmanns Nachfolger in der Geschäftsführung wurde der Kommissionär Christoph Gabriel Oldenburg, dem es tatsächlich gelang, nach einigen Jahren die ver43) Zit. nach Rudolf Lanzing, a.a.O., S. 20. 44) Wolfgang Hollmann, a.a.O., S. 181.

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worrenen Finanzen in Ordnung zu bringen. Dazu trug auch Moser bei, der genau wie Oldenburg jährlich 200 Taler für seine Mitarbeit zu bekommen hatte. Da die 'WOA' keinen staatlichen Zuschuß erhielten, sondern sich selbst tragen mußten, andererseits aber nie ein Überschuß von 400 Talern jährlich erreicht wurde, verzichtete Moser auf einen Teil seines Gehaltes, damit Oldenburg seine vollen 200 Taler bekam. A m 21. Dezember 1780 schrieb Moser sein Entlassungsgesuch, da er sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage sah, neben seinen vielen sonstigen Aufgaben — "Er diente dem Geheimen Rat als Geheimer Justizrat, der Justizkanzlei als Untersuchungsrichter und der Ritterschaft als Syndik u s " ^ ) — auch noch die 'WOA' zu leiten. Der Kanzleisekretär und spätere Kanzleirat Heinrich August Vezin übernahm ab 1782 das Blatt. Im September 1788 unternahm Oldenburg bei ihm auf Betreiben Mosers den Vorstoß, die 'WOA' u m einen politischen Teil zu erweitern. Dies wurde mit der Begründung abgelehnt, das sei Aufgabe für einen Privatmann, nicht für ein öffentliches Institut wie das Intelligenzkontor. Verworren wurde die Zeitungslage während der Zeit der französischen Herrschaft. Bereits am 1. Januar 1809 wurden die 'WOA' in 'Journal des District von Osnabrück im Weser Departement' umbenannt, allerdings wurden sowohl das alte Format (16 1/2 X 20 1/2 cm) als auch die wöchentliche Erscheinungsweise beibehalten. Im gleichen Jahr wurden die 'Beylagen' in 'Gemeinnützige Aufsätze' umbenannt, u m bereits am 31. März 1810 endgültig eingestellt zu werden. Einen Monat später wurde der Intelligenzteil in 'Öffentliche Anzeigen des Weser-Departements' umgetauft. Noch behielt man das alte Format bei, aber die Erscheinungsweise betrug nun zweimal wöchentlich, mittwochs und samstags. Seit dem 2. März 1811 hieß das Blatt 'Öffentliche Anzeigen', mit dem neuen Format von 20 x 23 cm, seit dem 20. April des gleichen Jahres 'Öffentliche Anzeigen des OberEms-Departements' mit dem auf 20 1/2 x 18 cm geänderten Format. Zehn Monate später, am 1. Januar 1812 hieß das Blatt 'Feuille d'Affiches, d'Annonces et d'Avis divers de la ville d'Osnabruck — Öffentliche Affichen und Anzeigen der Stadt Osnabrück', Format 19 x 24 cm. Seit dem 20. Januar 1813 tauchte das französische Wappen im Titel auf, der Zeitungstext war zweisprachig, das Format 21 x 25 cm. Schon am 13. Februar erfolgte die letzte Namensänderung während der Zeit der Franzosenherrschaft: 'Öffentliche Anzeigen und Bekanntmachungen' hieß es nun, bis seit dem 10. November das Wappen im Titel weggelassen wurde, dafür aber der Zusatz 'der Stadt Osnabrück' dem Titel hinzugefügt wurde; das Format betrug 19 x 24 cm.46) Als Ergebnisse dieser verwirrenden vier Jahre sind festzuhalten: zum einen erhielt das eigentliche Intelligenzblatt einen ungeheuren Aufschwung durch die Einführung des Abonnementszwanges für alle amtlichen Stellen, während auf der ande45) Ludwig Hoffmeyer: Chronik der Stadt Osnabrück. Bearbeitet und erweitert von Ludwig Bäte, 3. Aufl., Osnabrück 1964, S. 188. 46) H. Rauch: Das Osnabrücker Intelligenzblatt, unveröff. Seminarstudie am Institut für Publizistik, Münster 1951, Tafeln I, II, IV.

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ren Seite die 'Beylagen', also der Zeitschriftenteil, endgültig eingestellt wurden. Zufn zweiten ging aufgrund der gängigen französischen Pressepolitik die presserechtliche Verantwortung für das Blatt von der Regierung auf den Drucker J.G. Kisling über. Dieser Status wurde zwar nach dem Rückfall Osnabrücks an Hannover rückgängig gemacht, doch blieb Kisling im Besitz des Intelligenzkontors. Die folgenden sechzig Jahre bis zur Einstellung des Intelligenzblattes am 31. Dezember 1875 bei bereits täglicher Erscheinungsweise waren somit eine kontinuierliche Entwicklung zu einer Tageszeitung, die letztlich nur an der fehlenden politischen Orientierung aufgrund des apolitischen Charakters eines Intelligenzblattes scheiterte und damit symptomatisch für den Tod des Intelligenzwesens war. Deutlich wird dies vor allem am Umfang des Blattes, das im letzten Jahrzehnt seines Erscheinens als 'Osnabrückische Anzeigen' nur vier Seiten umfaßte, nicht mehr als zu Beginn der 'WOA' im Jahre 1766, deutlich weniger als zur unruhigen 'Franzosenzeit' mit durchschnittlich 16 S e i t e n . 4 7 ) Die pressehistorische Bedeutung der 'WOA' als Zeitschrift ist an das Erscheinen der 'Beylagen' geknüpft. Das Intelligenzblatt als 'Zeitung' ist 110 Jahre alt geworden, als 'Zeitschrift' nur 44 Jahre. Aus diesem Grund erscheint es ziemlich belanglos, die weitere Genealogie des Blattes nach 1810 näher zu untersuchen, als es geschehen ist.

47) Daselbst.

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Volker Schulze DER TEUTSCHE MERKUR (1773-1810)

Mitte April 1773 legte Christoph Martin Wieland der gebildeten Öffentlichkeit eine Zeitschrift mit dem Titel 'Der Deutsche Merkur' vor. Wieland war damals 40 Jahre alt und galt, als Verfasser des 'Don Sylvio von Rosalva' und des 'Agathon', als einer der bedeutendsten Schriftsteller im deutschen Sprachraum. 1751 hatte Wieland zum ersten Mal literarisch-kritisch für eine Zeitschrift gearbeitet: für das Zürcher Organ 'Crito'.D 1753 bis 1757 schrieb er für die 'Zyricher Freymüthigen Nachrichten', 1756 für die Moralische Wochenschrift 'Das Angenehme mit dem Nützlichen'. Schon in seinen Schweizer Jahren trug sich Wieland mit dem Gedanken, eine eigene Zeitschrift ins Leben zu rufen, eine Wochenschrift, die den Leser im Geiste der Aufklärung philosophisch bilden, ästhetisch erziehen und in ihm den sensus communis wecken sollte. Mit der Übersiedlung Wielands von Zürich nach Bern 2) ¡m Juni 1759 trat der Gedanke einer Zeitschriftengründung vorläufig zurück hinter dem Plan, eine Verlagsbuchhandlung einzurichten, die vornehmlich seine eigenen Werke verlegen sollte — ein Plan, den seine Freunde unterstützten, der sich aber zerschlug, als Wieland 1760 dem Ruf zum Ratsherrn seiner Vaterstadt Biberach folgte.3) Erst zwölf Jahre später griff er — nunmehr Prinzenerzieher am Hof der Herzogin Anna Amalia von Sachsen-Weimar — das Zeitschriftenprojekt wieder auf. Wieland beabsichtigte, mit einer gediegenen Zeitschrift auf ein breites Publikum informierend und geschmacksbildend einzuwirken und den "zahllosen journalistischen Mittelmäßigkeiten"^) seiner Zeit entgegenzuarbeiten. Zweifellos hat er sich auch von einem solchen Periodikum zusätzliche Einnahmen zu den 1000 Reichstalern jährlich, die ihm seine Stelle als Prinzenerzieher einbrachte, versprochen. 5) Im April 1773, nach knapp einjährigen Vorbereitungen, lagen die ersten drei Nummern einer Monatsschrift, als Vierteljahresband zusammengefaßt, zum Versand bereit. Wieland hatte der Zeitschrift den Titel 'Der Deutsche Merkur' gegeben. Der Name des Götterboten auf der Titelseit einer Zeitschrift trat zuerst beim 'Mercure galant' (1672) auf und wurde von dessen Nachfolgeblatt, der Monats1) Vgl. Hans Wahl: Geschichte des Teutschen Merkur. Ein Beitrag zur Geschichte des Journalismus im 18. Jahrhundert (Palaestra 127), Berlin 1914, S. 5 - 7 . 2) Vgl. Friedrich Sengle: Wieland, Stuttgart 1949, S. 108. 3) Vgl. daselbst, S. 117. 4) Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen. Seine Geschichte und seine Probleme, 2. Aufl., 1. Bd, Wiesbaden 1958, S. 180. 5) Vgl. Friedrich Sengle, a.a.O., S. 271.

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s c h r i f t ' M e r c u r e de F r a n c e ' ( T i t e l g e b u n g 1 7 2 4 ) f o r t g e f ü h r t . 6 ) 1 6 8 6 s t e l l t e der " g e w i s s e n l o s e K o m p i l a t o r u n d M e m o i r e n f ä l s c h e r C o u r t i l z de S a n d r a s " ? ) d e m a n g e b l i c h a l l z u p a r t e i i s c h e n 'Pariser J o u r n a l ' e i n e n ' M e r c u r e h i s t o r i q u e e t p o l i t i q u e ' e n t g e g e n , d e r i m Haag v e r l e g t w u r d e . Der ' M e r c u r e g a l a n t ' u n d sein N a c h f o l g e r ' M e r c u r e de F r a n c e ' s t a n d e n s c h l i e ß l i c h a u c h Pate bei der N a m e n s g e b u n g d e u t scher P e r i o d i k a : V o n 1 6 8 6 bis 1 6 8 7 erschien in K ö l n e i n ' H i s t o r i s c h e r u n d p o l i t i scher M e r c u r i u s ' , v o n 1 6 8 9 — 1 6 9 0 in F r a n k f u r t a m M a i n ein ' E u r o p ä i s c h e r Merc u r i u s ' . G u t ein halbes J a h r h u n d e r t später w ä h l t e C h r i s t o p h M a r t i n W i e l a n d d e n N a m e n des G ö t t e r b o t e n als T i t e l f ü r seine Z e i t s c h r i f t . V o n d e r ersten bis z u r l e t z t e n N u m m e r erschien ' D e r D e u t s c h e M e r k u r ' b z w . ' D e r T e u t s c h e M e r k u r ' 8 ) , w i e das B l a t t seit seiner s i e b e n t e n N u m m e r des ersten Jahrganges

hieß 9 ) , i m K l e i n o k t a v - F o r m a t , z u n ä c h s t

1 0 0 x 1 7 5 m m , seit 1 7 9 0

9 0 x 1 6 5 m m ; der h e l l b l a u e U m s c h l a g b l i e b äußeres K e n n z e i c h e n der Z e i t s c h r i f t — längst n o c h , als sich W i e l a n d v o n der herausgeberischen A r b e i t z u r ü c k g e z o g e n h a t t e . Eine V i g n e t t e — D a r s t e l l u n g des G ö t t e r b o t e n — z i e r t e die sonst s c h m u c k lose T i t e l s e i t e des ' T e u t s c h e n M e r k u r ' . Die ersten d r e i " S t ü c k e " — so Wielands B e z e i c h n u n g f ü r die E i n z e l h e f t e — k a m e n , z u n ä c h s t z u s a m m e n g e f a ß t zu e i n e m V i e r t e l j a h r e s b a n d , m i t e i n e m U m f a n g v o n 6) Vgl. nachfolgend: V i k t o r Heydemann: Der Name 'Merkur' zur Bezeichnung von Zeitschriften und Zeitungen, in: 'Zeitschrift für Bücherfreunde', Neue Folge, 18. Jg./1926, S. 3 4 - 3 6 . 7) Daselbst, S. 34. 8) Eine Begründung für die Titeländerung liefert die Sekundärliteratur nicht, der nachfolgende Exkurs versteht sich als DeutungsversMcA: Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich beide Schreibweisen des Adjektivs "deutsch" nebeneinander; das " d " im Anlaut erscheint vorzüglich in Norddeutschland, das " t " im süddeutschen Raum, dem Wieland entstammt. Die unterschiedliche Schreibweise darf jedoch nicht nur als regionale Eigenart gedeutet werden; sie stützt sich auch auf eine Auslegung der Sprachwissenschaft jener Zeit, wonach "teutsch" 'die (deutsche) Nation' umfassend, "deutsch" die außerhalb des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation liegenden deutschsprachigen Gemeinschaften bezeichnete. (Vgl, Theodor Heinsius: Vollständiges Wörterbuch der deutschen Sprache, 1. Bd ( A — E), 2. Aufl., 1835, S. 7 5 2 — 3 ; vgl. dazu: Jacob und Wilhelm G r i m m : Deutsches Wörterbuch, 2. Bd. (Biermörder-D), Leipzig 1860, Spalte 1043; vgl. dazu: Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch, 5. Aufl., hrsgg. von Werner Betz, Tübingen 1966, Sp. 132). Nach den Anfangserfolgen seines 'Merkur' scheint Wieland eine dem 'Mercure de France' entsprechende Nationalzeitschrift vor Augen gehabt zu haben. Von hierher ist auch die Vorrede des Herausgebers "an das Publicum" zum fünfjährigen Bestehen der Zeitschrift zu verstehen: " D e r teutsche Merkur — wie man nun einmal die monatliche Sammlung, zu welcher ich mich als Herausgeber und zum Theil als Verfasser bekenne, zu nennen gewohnt ist — hat nun bereits fünf Jahre gedauert, ohne daß weder die große Anzahl von Konkurrenten, die seit einigen Jahren unter allerlei Nahmen und beinah in allen teutschen und deutschen Landen hervorgetreten sind,. . . den Sukzeß des ersten Jahrgangs in der Folge beträchtlich vermindert hätten. . . " (Der Herausgeber an das Publicum, in: 'Teutscher Merkur', 5. Jg./1777, Dezember, S. 289). 9) Wahl (a.a.O., S. 9) gibt fälschlicherweise die Titeländerung schon für das 2. Stück an. Er berücksichtigt dabei nicht, daß Wieland die Titelseite, zusammen mit der Vorrede, datiert auf den 30. Juni 1773, erst dem zweiten Vierteljahresband beigegeben hat.

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288 Seiten heraus; seit Ende April war die Zeitschrift monatlich zu beziehen (nicht erst, wie Wahl, a.a.O., S. 27, schreibt, seit Juli 1773, oder an anderer Stelle: von 1775 an); sie konnte allerdings vierteljährlich (broschiert) oder halbjährlich (gebunden) abonniert oder im Buchhandel erworben w e r d e n . 1 0 ) w j e land veranschlagte das Einzelheft auf einen Umfang von sechs Bogen (= 96 Seiten) bzw. bot "alle Vierteljahre ein Bändchen von achtzehn bis zwanzig Bogen" 1 1 )an; djeses Versprechen hat der Herausgeber seinen Abonnenten bis zum Schluß gehalten; mitunter sogar — wenn unbefugter Nachdruck, gegen den noch kein wirkungsvoller Schutz bestand, den Verkauf erschwerte — als Lohn für "Treue zum Original-Merkur"! 2) überboten. Die Anfangsauflage war für eine Zeitschrift in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hoch: sie betrug 2500 Stück, davon waren im ersten Jahr 1870 Jahreslieferungen subskribiert, 1783: 1500, 1787: 1400, 1796: 1000, 1798: 800 13); die Gesamtauflage sank bis 1810 auf rund 1200 Exemplare. Der 'Merkur' hatte kein geschlossenes Verbreitungsgebiet; Verbreitungsschwerpunkte bildeten Hamburg, (das literarisch zu Deutschland gehörige) Kopenhagen, Miltau, Basel; nach Leipzig, an den Erscheinungsort von Chr. F. Weißes 'Neuer Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste' (1767 ff.) und nach Berlin, in die Domäne von Friedrich Nicolais Zeitschrift 'Allgemeine Deutsche Bibliothek' (1765 ff.) drang der 'Merkur' nur vereinzelt vor. Wieland gab seine Zeitschrift im Selbstverlag heraus; die Hefte des Jahrgangs 1773 enthalten die Angabe: "Weimar. Verlag der Gesellschaft". Nach seinen trüben Erfahrungen mit Nachdrucken während der Leipziger Messe 1773 14) änderte Wieland die Verlagsangabe; sie lautete nun: "Weimar bei Carl Ludolf H o f f m a n n " . Hoffmann war seit 1774 Drucker der Zeitschrift, nicht aber Verleger; die Änderung war nur als "Schreckschuß für Nachahmer 15) gedacht. Gleichzeitig bemühte sich Wieland (zunächst erfolglos um kaiserliches, dann) um königlich-preußisches Privileg für seine Zeitschrift, das ihm 1775 zugesichert wurde. Das Januar-Heft 1776 des 'Teutschen Merkur' trug zum ersten Mal unter dem Titel die Angabe: " M i t Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburg allergn. Privilegio" — dieses Vorrecht sicherte dem Herausgeber provisorischen Schutz gegen Nachdruck und Verkauf von Nachdrucken. Wieland widmete die Zeitschrift " I h r o Rom. Kais. Maj." Dem ersten Band seiner Zeitschrift stellte Wieland eine 20seitige "Vorrede des Herausgebers" voran, die über das Programm des 'Deutschen Merkur' eingehend 10) Vgl. Nachricht, in: 'Der Deutsche Merkur' (hinfort abgekürzt: 'DM'), 1. Jg./1773, Rückseite vom Titelblatt. 11) Daselbst. 12) Der Herausgeber an das teutsche Publicum, in: 'Der Teutsche Merkur' (hinfort abgekürzt:'TM'), 1. Jg./1773, Juni 1773, S. IX. 13) Vgl. Hans Wahl, a.a.O., S. 24. 14) 'TM', 1. Jg./1773, Juni, S. IX. 15) Hans Wahl, a.a.O., S. 23.

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unterrichtete. 16) Um von vornherein den Vorwurf zu entkräften, der 'Deutsche Merkur' stelle eine Nachahmung des 'Mercure des France' dar, wies Wieland auf die Unterschiede in der Struktur des kulturellen Lebens in Frankreich und Deutschland hin, die sich zwangsläufig in ihren "nationalen Journalen" spiegeln müßten: (1.) die "Nationalverfassung" beider Länder sei verschieden; (2.) Deutschland besitze "keine Hauptstadt, welche die allgemeine Akademie der Virtuosen der Nation und gleichsam die Gesetzgeberin des Geschmacks wäre"; (3.) auch fehle in Deutschland ein "feststehendes National-Theater"; die "besten Schriftsteller, Dichter und Künstler, sind durch alle Kreise des Deutschen Reiches zerstreut und größtenteils der Vortheile eines nähern Umgangs und einer vertraulichen Mittheilung ihrer Einsichten, Urtheile, Entwürfe usw. beraubt, welche zur Vervollkommnung ihrer Werke so viel beytragen würde". 17) Wieland bedauerte, daß es in Deutschland keine kulturelle Metropole gebe und deutete an, wie schwierig es für eine neu gegründete Zeitschrift sein müsse, mit diesen deutschen Gegebenheiten auszukommen und trotzdem ihr Anliegen zu verwirklichen: die publizistischen Ziele Unterrichtung und Unterhaltung mit dem pädagogischen Ziel der Belehrung sinnreich zu verbinden. Der 'Deutsche Merkur' verstehe sich als Organ für Philosophie, Wissenschaft und vor allem für Literatur, nicht aber als einseitig schöngeistiges Blatt: 18) "Den Künsten wird aus verschiedenen Ursachen kein besonderer Artikel eingeräumt. Die hauptsächlichste ist, weil wir bereits Journale besitzen, welche dem Liebhaber und selbst dem Kenner wenig zu wünschen übrig lassen." Die Sparte "Schauspiele" könne im 'Deutschen Merkur' keinen so großen Raum einnehmen wie im 'Mercure de France': "Wir können uns derweilen noch zu keinen historisch-kritischen Nachrichten von allen Schaubühnen Deutschlands anheischig machen, und, außer einer Art von allgemeinen Ephemeriden des deutschen Theaters, welche von Zeit zu Zeit geliefert werden sollen, wird von besonderen Schauspielergesellschaften nur alsdann die Rede sein, wenn wir etwas zuverläßiges und interessantes von ihnen zu sagen haben."

Von Theater und Kunst werde dann die Rede sein, wenn sie politischer Repräsentation dienten: 19) "Gleichwohl, da alles, wobey der Ruhm der Nation vorzüglich betroffen ist, innerhalb unseres Gesichtskreises liegt, werden wir nicht unterlassen, von solchen Kunstwerken, die in ihrer A r t eine Epoche machen und wodurch sozusagen der National-Reichthum vermehrt wird so, wie wir dazu Gelegenheit bekommen, Anzeige zu t h u n . "

Besondere Bedeutung maß Wieland der politischen Berichterstattung bei:20) " V o n den Politischen Begebenheiten in Europa wird das Neueste und Wichtigste in einer zusammenhängenden Erzählung jederzeit einen besonderen Artikel des letzten Stücks eines jeden Bandes einnehmen." Ferner sollten Neuigkeiten aller A r t jedem "Stücke am Schluß angehängt werden". 16) 'DM' 1. Jg./1773, 1. Bd.,S. I I I — X X I I . 17) Daselbst, S. V I — V I I . 18) Daselbst, C. VII. 19) Daselbst, S. V I I I . 20) Daselbst, S. V I I I .

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Der Herausgeber empfahl seine Zeitschrift wegen ihrer drei besonders gepflegten "Fächer" oder " A r t i k e l " (im Sinne von Sparten): (1) "Vermischte Aufsätze", (2) "Beurtheilung neuer Schriften", (3) "Revision bereits gefällter Urtheile". Hinzu komme das Fach "Dichtung". Wieland selber werde einiges dazu beisteuernd) ". . . dies ist gewiß, daß ich mich zwar nicht anheischig mache, etwas witziges, geschweige dessen viel zu schreiben, aber (wenn ich anders das, was einige meinen Genie oder meine Laune zu nennen belieben, recht kenne:) so werden die Leser des Merkurs (sie müßten denn nur Trauben von den Dornen und Feigen von den Disteln lesen wollen) noch ganz erträglich mit dem Herausgeber zufrieden seyn".

Begabten jungen Dichtern, so hieß es weiter, werde der 'Merkur' einen "Schauplatz . . . eröffnen, wo sie sich dem Publico zeigen können. . .".22) Schwerpunkte der Zeitschrift sollten die "Vermischten Aufsätze" über Geschichte, Naturkunde und Moral-Philosophie sowie die literarkritischen Beiträge bilden. Herausgeber und Mitarbeiter versicherten, künstlerische Werte sorgfältig und gerecht im Sinne von Alexander Popes "Essay on Criticism" zu b e u r t e i l e n . 2 3 ) Voraussetzung für gerechte Kritik sei die genaue Kenntnis der Werke: "Wir sind uns bewußt, daß nichts als die Schranken unsrer Einsichtten uns verhindern könnte, allezeit gerecht zu seyn; aber eben darum werden wir über nichts urtheilen, das wir nicht v e r s t e h e n . " ^ ) . . . Kurz, wir wünschen dem deutschen Merkur das Ansehen des Areopagus zu Athen zu erwerben, welches nicht auf Gerichtszwang, sondern auf den Ruhm der Weisheit und Unbestechlichkeit gegründet und so befestiget war, daß Götter selbst keine Bedenken trugen, ihre Fehden vor diesem ehrwürdigen Senat entscheiden zu lassen."25)

Wieland war sich bewußt, daß er diese hohen Ziele nur mit Hilfe einer Reihe "auserlesener Gehülfen" werde erreichen können. So rief er zu Beginn seines Unternehmens zu einer "allgemeinen Mitwürkung unsrer besten Köpfe" a u f . 2 6 ) Trotz einer ausreichenden Vorbereitungszeit gelang es Wieland zunächst nicht, namhafte Autoren für seinen 'Merkur' zu gewinnen. Viel zu sehr hatten sich seine Bemühungen nur auf Fragen der inneren Organisation des Unternehmens — Verlag, Druck, Privileg — beschränkt; erst spät wandte er sich an Lessing, Herder, Kant, Heinse, die er sich als Mitarbeiter vorgestellt hatte, die aber wegen anderweitiger Verpflichtungen ablehnten.27) |m Januar 1773 erhielt er die Zusage des Kritikers Johann Heinrich Merck (1741—1791); der Gießener Professor Christian Heinrich Schmid, dessen literarischer Ruf als gering galt, bot sich um den Preis der Anonymität zur Mitarbeit an. An redaktionellen Mitarbeitern standen Wieland in den ersten Jahren ferner nur noch Friedrich Heinrich Jacobi (1743—1819) und des21) Daselbst, S. X - X l . 22) Daselbst, S. IV. 23) Daselbst, S. XI. 24) Daselbst, S. X I I — X I I I . 25) Daselbst, S. X I I I . 26) Daselbst, S. IV. 27) Vgl. den von Hans Wahl, a.a.O., S. 26 f f . augewerteten Briefwechsel.

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sen um drei Jahre älterer Bruder Johann Georg (1740—1814), der bislang als Verfasser von Gedichten im anakreontischen Stil hervorgetreten war, zur Seite. Den Jacobis überließ Wieland schließlich die Sorge um weitere Autoren. Der erste Band des 'Deutschen Merkur' machte — wie Wahl es formuliert 28) — "vollkommen den Eindruck eines Organs von Wieland und Jacobi": Neben Aufsätzen in Briefform von Wieland enthielt die Zeitschrift Beiträge — hauptsächlich Gedichte und Buchrezensionen — der Gebrüder Jacobi und ihrer zwei Schwestern. Ferner waren beteiligt: Wielands Freund Johann Ludwig Gleim (1719—1803) mit einigen Gedichten, der Medizinstudent Marcus aus Halle mit einem Aufsatz im Februarheft "Über die Widersprüche der menschlichen Natur" (unterzeichnet mit AB), der junge Erfurter Statthalter Karl von Dalberg mit einem (fiktiven) "Schreiben an den Herrn Hofrath Wieland" und der Redakteur des 'Mercure des France', Delaharpe, dessen Aufsatz "Neueste Nachrichten aus der französischen Litteratur" einer der wenigen Namensbeiträge war. Im zweiten Band kamen als Mitarbeiter hinzu: der Erfurter Magister Hartmann (als Rezensent) und der Diakon Johann Samuel Schröter, der narurwissenschaftliche Aufsätze und einen Literaturbericht "Über die neuesten Schriften der Naturgeschichte" (in Fortsetzungen) verfaßte. Chr. H. Schmid, dessen Tätigkeit für den 'Teutschen Merkur' anonym bleiben sollte, debütierte im Maiheft mit einem Überblick "Über den gegenwärtigen Zustand des deutschen Parnasses". Wie wenig Wieland mit der Leistung des Gießener Professors zufrieden war, bewiesen die "Zusätze des Herausgebers zu dem vorstehenden Artikel", die dieselbe Seitenzahl beanspruchten wie der Hauptbeitrag (und im wesentlichen dem Urteil Schmids widersprachen). Wahl sieht in den redaktionellen Anmerkungen, die von Nummer zu Nummer zunahmen, "einen guten Teil der literarischen Tendenz" des "Teutschen Merkus'.29) Jedenfalls trat in diesen "Zusätzen" die geistige Persönlichkeit Wielands, des verbindlich plaudernden Erziehers, deutlich hervor. Spätere Mitarbeiter, wie Heinse und Goethe, haben sich "Noten und Postfacen" — so G o e t h e 30) _ verbeten.31) Bis Ende 1775 gelang es Wieland nur selten. Dichter und Schriftsteller von Rang heranzuziehen, zeitweise lieferten Johann Nikolaus Götz (1721—1781) — wie Gleim dem Halleschen Freundeskreis angehörig — und Friedr. Wilh. Gotter (1746— 1797), der Mitbegründer des Göttinger 'Musenalmanachs', Beiträge. Als Johann Georg Jacobi 1774 eine eigene Zeitschrift gründete ('Iris'), mußte Wieland vorerst auf die Mitarbeit der Brüder Jacobi verzichten. In den frühen Jahren des 'Teutschen Merkur' war Wieland sein bester Autor: Von den 288 Seiten des ersten Vierteljahresbandes hat Wieland — einschließlich der ihm allein vorbehaltenen Miszellen — dem Umfang nach ein Drittel der Zeitschrift (genau: 89 Seiten) selbst "geschrie-

28) Hans Wahl, a.a.O., S. 17 29) Daselbst, S. 66. 30) Goethe, zit. nach Wahl, a.a.O., S. 36.

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ben". Weitaus die meisten Seiten der Zeitschrift beanspruchten die umstrittenen "Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel 'Alceste'" (Januar und März 1773). In den ersten drei Jahrgängen füllte Wieland insgesamt 990 Seiten mit eigenen Beiträgen — von wenigen Seiten abgesehen: einen ganzen Jahrgang. Seine wichtigste Dichtung in diesen Jahren: Die "Geschichte der Abderiten", deren erste Kapitel im Januar 1774 erschienen. Im Juli 1774 folgte — anstelle der erwarteten Fortsetzung — ein launiger Bericht über die Entstehung des Werkes, seine bisherige Wirkung sowie der Plan der weiteren Ausführung. {Erst von Juli 1778 an setzte Wieland die "Geschichte" fort). Literarhistorisch relevant bleiben — neben den Dichtungen Wielands — die Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Literatur: die ablehnende Haltung Wielands Klopstock und dem 'Göttinger Hain' gegenüber, die sich beispielsweise in den kritischen Äußerungen über die "Nationalpoesie" in den "Zusätzen des Herausgebers" zu Schmids Aufsatz "Über den . . . Zustand des deutschen Parnasses" ausdrückten; dann die Kritik der Vertreter des Sturm und Drang an der Poesie Wielands.32) Der Widerspruch der jungen Generation hatte sich an dem Wielandschen Singspiel 'Alceste' (1766) und den im 'Merkur' darüber veröffentlichten "Briefen" entzündet. Die "Genies" lehnten die Überhöhung des Euripedeischen Stoffes ab und traten für das Original ein. Ihre Reaktion war Spott über den Verfasser, Goethe schrieb seine berühmte Farce "Götter, Helden und Wieland' (1774), die den Umgestalter des griechischen Dramas (satirisch) heftig attackierte. Wieland verhielt sich maßvoll-klug: er zeigte, äußerlich erheitert, das Werk als gelungene "heroisch-komisch-farcikalische (. . .) Pasquinade" im JuniHeft des 'Teutschen Merkur' an.33) | m selben Heft revidierte Wieland das unzutreffend-harte Urteil Schmids über Goethes 'Götz von Berlichingen' vom September 1773. Goethe hat sich offensichtlich über diese taktvolle Behandlung sehr beschämt gefühlt.34) Mit seiner Literaturkritik erreichte der 'Teutsche Merkur' weder Status noch Ansehen des "Arepagus zu Athen"; nach der kurzen Mitarbeit Mercks war das Fach " K r i t i k " bei Christian Heinrich Schmid in denkbar schlechten Händen. Wieland hat Schmids "schiefe Urtheile" oft genug revidieren müssen. In den ersten drei Jahren seines Bestehens waren kleinere Dichtungen, literarisch-ästhetische und moralphilosophische Beiträge — zumeist aus der Feder des Herausgebers — am stärksten vertreten. Die erstrebte Breite des Inhalts blieb aus Mangel an Autoren unerfülltes Programm. Wieland war nicht in der Lage, die Sparten "Philosophie" und (auswärtige) "Litteratur" mit festen Mitarbeitern zu besetzen. Die Sparte 31) Vgl. Bernhard Seuffert: Briefe Heinsesan Wieland, in: 'Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte', 6. Bd/1893, S. 238. 32) Vgl. Friedrich Sengle, a.a.O., S. 3 0 5 - 3 0 7 . 33) ' T M ' , 2. Jg./1774, S. 3 5 1 - 3 5 2 . 34) Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 15. Buch, in: Erich Trunz (Hrsg.): Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, 1950 f f . Bd 10, S. 5 8 - 5 9 .

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" P o l i t i k " entfiel schon 1774 — allerdings nicht wegen unzureichender Nachrichten oder eines ungeeigneten Bearbeiters: Politische Fragen waren in den Jahren vor der Französischen Revolution öffentlich noch nicht diskutabel.35) Obgleich der 'Teutsche Merkur' — gemessen an seinem Programm — nicht hielt, was sein Herausgeber versprochen hatte, fand die Zeitschrift bei der Mehrzahl ihrer Leser Anklang. "Der Merkur soll hauptsächlich unter den mittelmäßigen Leuten sein Glück machen und macht es auch", schrieb Wieland in einem Brief vom 2. November 1775 an F.H. Jacobi.36) Bei einer Auflage von 2 500 Exemplaren erreichte die Zeitschrift — rechnet man für eine Nummer bis zu zehn L e s e r 37) _ maximal 25 000 "mittelmäßige Leute": im Geiste der Aufklärung aufgeschlossene "Bildungsbürger". Wieland war, wie der Brief an Jacobi zeigt, wirtschaftlich mit dem Erfolg des 'Merkur' zufrieden, allerdings hatte er mehr Resonanz in den literarischen Kreisen erhofft.38) Während das gebildete Bürgertum zustimmende Briefe an die Redaktion des 'Teutschen Merkur' schrieb 39), reagierten die "Genies" und die "Empfindsamen" mit Spott oder Ablehnung. Einige einflußreiche Zeitschriften, wie die 'Frankfurter gelehrten Anzeigen' und die 'Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen', besprachen den 'Merkur' positiv.40) Sehr enttäuscht war Wieland, der eine empfehlende Besprechung in Nicolais 'Allgemeiner Deutscher Bibliothek' erwartet hatte, über dessen verspätete und recht unfreundliche Kritik im Januarheft 1774.41) Verärgert benutzte Wieland die nächste Gelegenheit, um in seinem 'Merkur' gegen Nicolai vorzugehen: Im Märzheft 1775 zeigte er in seiner Rubrik "Neue Bücher" die Nicolaische Goethe-Parodie "Leiden und Freuden Werthers des Mannes" an und bezichtigte den Verfasser mißgünstiger Gesinnung.42) Drohende Briefe und Schmähschriften wurden getauscht. Zu einem Bruch zwischen dem Herausgaber des 'Teutschen Merkur' und Nicolai wäre es nicht gekommen, hätte Wieland die Vermittlungsversuche von Freunden akzeptiert; er blieb aber unversöhnlich. Tiefpunkt ihrer Beziehungen war die offene Fehde Wieland-Nicolai im Jahre 1778.43) Lob der "Mittelmäßi35) Vgl. Hans Wahl, a.a.O., S. 56. Wieland bemühte sich später, mit Korrespondentenberichten politisches Interesse zu wecken; aber auch diese Beiträge fanden kein Echo. 36) Zit. nach Friedrich Sengle, a.a.O., S. 407. 37) Vgl. H u b e r t M a x : Wesen und Gestalt der politischen Zeitschrift. Ein Beitrag zur Geschichte des politischen Erziehungsprozesses des deutschen Volkes bis zu den Karlsbader Beschlüssen, Essen 1942, S. 8 5 — 8 8 . 38) Obgleich der 'Teutsche Merkur' nur einen Teil des Bürgertums als Leser gewann, vermochte er sich gegen alle nach- u n d gegengegründeten Zeitschriften durchzusetzen, so die 'Iris', 'Die deutsche Chronik' (von Schubart), 'Pomona' (Sophie La Roche), 'Das Gothaer Magazin' u.v.a. 'Das Deutsche Museum' ( 1 7 7 6 — 1 7 9 1 ) von Boie u n d D o h m in Leipzig. 39) Vgl. die ab 1774 abgedruckten Leserzuschriften i m ' T M ' . 40) Vgl. Oscar Fambach (Hrsg.): Ein Jahrhundert deutscher L i t e r a t u r k r i t i k ( 1 7 5 0 — 1 8 r J), Berlin 1957 f f . Band III (1959), S. 280 f f . 41) A b g e d r u c k t bei Oscar Fambach, a.a.O., S. 189 (Auszug). 42) ' T M ' 3 . Jg./1775, März, S. 2 8 2 - 2 8 4 . 43) Vgl. Hans Wahl, a.a.O., S. 73.

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gen", Spott und Ablehnung der literarischen Jugend und publizistische Fehden waren das Resultat der ersten Jahre des 'Teutschen Merkur'. Selbst während ihrer Blütejahre fand die Zeitschrift nicht ungeteilten Beifall. Eine Wende in der bislang einförmigen Entwicklung des 'Teutschen Merkur' brachte der Jahreswechsel 1775/1776: A m 7. November war Goethe der Einladung des Herzogs Karl August nach Weimar gefolgt, kurz darauf in den " M u s e n h o f " aufgenommen und von Wieland (der in dem jungen Goethe schon das künftige "Dichtergenie" sah) freundschaftlich empfangen worden. Binnen kurzer Zeit scheint Wieland ihn als Mitarbeiter für seine Zeitschrift gewonnen zu haben; denn schon im Januarheft 1776 war Goethe mit drei kleinen Beiträgen vertreten: " B r i e f an Lottchen", "Jägers Abendlied" und "Neue Arien (aus dem Schauspiel mit Gesang) ' E r w i n und E l m i r e ' " . Den Beiträgen Goethes stellte Wieland sein an Julie von Bechtolsheim gerichtetes Gedicht " A n Psyche" voran, das Goethe als " Z a u b r e r " und "Menschensohn", "der alle Güte und alle Gewalt/ Der Menschheit so in sich vereinigt", verherrlichte.44) Goethe folgte im März 1776 Jakob Michael Reinhold Lenz nach Weimar; im Herbst 1776 kam Herder. Wieland gelang es, beide Schriftsteller zur Mitarbeit an seinem 'Merkur' heranzuziehen. Im Februarheft 1776 erschien von Goethe "Hans Sachsens Poetische Sendung", das Maiheft brachte von Herder drei Fabeln und von Lenz eine Huldigung an die Herzogin-Mutter Anna Amalia (die die Lieder aus Goethes Schauspiel " E r w i n und Elmire" vertont hatte). Im selben Jahr 1776 erklärte sich Johann Heinrich Merck — nach vorangegangenem Briefwechsel m i t Wieland — bereit, nunmehr hauptsächlich den 'Merkur' zu bedienen. Und F.H. Jacobi, erster (Mit-)Redakteur des 'Deutschen Merkur', schickte die Fortsetzung seines Romans " A u s Eduard Allwills Papieren", dessen erster Teil in der Zeitschrift 'Iris' erschienen war, nach W e i m a r . 4 5 ) Als bedeutendste Dichtung Wielands erschien im Januar- und Februarheft 1776 "Das Wintermärchen". V o n der Jahresmitte 1776 an bis 1782 arbeiteten als feste Autoren bzw. Redakteure für den 'Teutschen Merkur': Merck, die Brüder Jacobi, Herder, Heinse und Jagemann, der Bibliothekar der Herzogin. Manches Heft hat Wieland allerdings m i t nur einem Mitarbeiter gestaltet. Gelegentliche Beiträge reichten ein: Goethe, Lenz, Gottfried August Bürger, Johann Heinrich Voß; später auch der (unbedeutende) Novellist Friedrich Schulz und der Musiksachverständige Sigmund von Seckendorff.46) Wieland veröffentlichte in diesen Jahren im 'Merkur' seine Versdichtungen "Wintermärchen", "Sommermärchen", "Pervonte", " O b e r o n " und zahlreiche Singspiele und einaktige Schauspiele. A u f den Rat Goethes hin entließ Wieland den wenig fähigen Professor Schmid und überließ Merck das Fach " K r i t i k " . Merck verfaßte hauptsächlich kritische Buchbesprechungen und Sammelaufsätze über literarische Neuerscheinungen, trat aber auch mit erzählerischen Versuchen 44) ' T M ' , 4. Jg./1776, Januar. 45)

Die Zeitschrift 'Iris', hrsg. von J.G. Jacobi, stellte 1776 ihr Erscheinen ein.

4 6 ) Vgl. Hans Wahl, a.a.O., S. 96.

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und Essays hervor. In einem fiktiven "Gespräch zwischen Autor und Leser", das der 'Merkur' im April 1780 brachte, wandte sich Merck gegen kleinliche Beurteilung und Geringschätzung der Dichtkunst durch die Deutschen. Merck widmete sich auch der Kunstgeschichte. In den ersten Jahren stand ihm Wilhelm Heinse mit seinen "Gemäldebriefen" als "Kunstrichter" zur Seite. Das Ressort "Philosophie" pflegte und prägte Herder mit seinen geschichtsphilosophischen und geistesgeschichtlichen Betrachtungen und mit zahlreichen historisch-biographischen Beiträgen. Seine Aufsätze über Hutten, Kopernikus, Reuchlin und Savonarola erschienen in den Jahren 1776 und 1777. Mit dem Problem der Seelenwanderung befaßte sich die völkerkundliche Studie "Über Hades und Elysium". Eine Reihe von Aufsätzen über die Volkskunst der Juden schloß sich an (1781). Der biographischgeistesgeschichtliche Aufsatz "Winckelmann, Lessing, Sulzer" bildete das Kernstück des Oktoberheftes 1781. In den Jahren 1776 bis 1782/83 präsentierte sich der 'Teutsche Merkur' als inhaltlich in sich geschlossene Zeitschrift bei annähernd gleichbleibender Qualität. Gleichzeitig erreichte Wieland mit seinen in seinem "Hausorgan" veröffentlichten Dichtungen, die Sengle als "humoristische Klassik" charakterisierte, einen "zweiten Gipfel in seinem Schaffen. -47) Die bislang vernachlässigte Literaturkritik gewann durch Merck besonderen Aufschwung. Die Mitarbeit so starker Persönlichkeiten (wie Goethe, Merck, Lenz, der Gebrüder Stolberg) und ihre Ansichten über die zeitgenössische Dichtung hatten zur Folge, daß die Wielandsche Literaturauffassung und seine eigene Dichtung (teilweise) diesen neuen Maßstäben nicht standzuhalten v e r m o c h t e n . 4 8 ) Die geistesgeschichtlichen Arbeiten Herders im 'Teutschen Merkur' galten als richtungweisend. Ein Konflikt zwischen Wieland und dem Sprachwissenschaftler Johann Christoph Adelung (1732—1806) stand am Übergang dieser von Dichtung, Literaturkritik und Geistesgeschichte bestimmten Blütephase des 'Teutschen Merkur' und der von der Philosophie Kants geprägten zweiten Blütezeit. 1782 gab Adelung das erste Stück seines 'Magazins für die deutsche Sprache' heraus, dessen Hauptbeitrag den Titel "Was ist Hochdeutsch? " trug. Adelung, der am Primat Obersachsens festhielt, verlegte damit das Geschmackszentrum und die nunmehr abgeschlossene Hochzeit der Literatur in das Leipzig G o t t s c h e d s . 4 9 ) Gegen diese Auffassung wandte sich Wieland unter den Pseudonymen Philomusos und Musophilus. In zwei Aufsätzen (TM November und Dezember 1782) erläuterte er, die Schriftsprache werde von guten Schriftstellern gemacht; ihnen stehe auch das Recht zu, die Sprache durch Dialekte und frühere Sprachstufen zu bereichern. Als Adelung auf diese Ausführungen Wielands im vierten "Stück" seines Magazins scharf rea47)

Friedrich Sengle, a.a.O., S. 3 2 0 - 3 8 1 .

48) Vgl. Hans Wahl, a.a.O., S. 106. 49) Vgl. nachfolgend auch: Friedrich Sengle, a.a.O., S. 4 1 3 f. Ferner: Ernst Richter: Wielands sprachliche Ansichten im 'Teutschen Merkur', in: Zeitschrift für Deutsche Philologie', hrsgg. von Paul Mercker und Wolfgang Stammler, 58. Bd/1933, S. 2 6 6 - 2 9 6 .

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gierte, meldete sich Musohilus im Aprilheft des 'Teutschen Merkur' in eben solchem Tone. Wieland wollte allerdings die Auseinandersetzung nicht weiter verschärfen; aus diesem Grunde trat er im 'Merkur' mit einem längeren Beitrag als Vermittler zwischen Adelung und "Philomusos" und "Musophilus" auf. Seit 1730 stand Friedrich Justin Bertuch, der den Herausgeber des Teutschen Merkur' von 1773 bis 1776 in kaufmännischen und technischen Fragen beraten hatte, wieder in geschäftlicher und persönlicher Beziehung zu Wieland.50) Ab 1783 beteiligte Wieland Bertuch direkt an dem Zeitschriften-Unternehmender überließ ihm ein Drittel der 'Merkur'-Einnahmen für tätige Mithilfe im "Bureau" und betraute ihn überdies mit redaktionellen Aufgaben. Nach dreieinhalbjähriger Mitarbeit trat Bertuch aus der Redaktion aus und widmete sich fortan der zusammen mit Wieland 1785 gegründeten "Allgemeinen Literatur-Zeitung'. In der Redaktion des 'Teutschen Merkur' arbeitete an Bertuchs Platz von nun an der ehemalige Jesuit und Lehrer der Philosophie Karl Leonhard Reinhold (1758—1825). 51) Reinhold hatte nach der Auflösung des Jesuitenordens im Jahre 1773 zunächst als Philosophielehrer, dann als freier (theologischer) Fachpublizist gewirkt. 1784 wandte er sich mit Empfehlungsschreiben aus Wien an Wieland, der ihn sogleich als Mitarbeiter in der Redaktion des 'Merkur' einstellte. 1785 heiratete Reinhold eine Tochter Wielands; 1786 wurde er hauptberuflich Redakteur des 'Teutschen Merkur'. Reinhold betreute die Sparte "Philosophie" und stellte sich zuweilen religiösen Problemen. Ihm gelang es, ein Manuskript des Philosophen Kant im 'Teutschen Merkur' zu veröffentlichen. Von 1786 an hatte Reinhold insgesamt acht "Briefe über die Kantische Philosophie" in Fortsetzungen erscheinen lassen. Reinhold stellte sachgemäß die "Kritik der reinen Vernunft" dar und ging auf das Verhältnis von Moral und Religion ein. Diese "Briefe" lenkten erstmalig die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Philosophie Kants. Krönender Abschluß dieser Serienveröffentlichung war der Aufsatz "Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie", den Kant als Manuskript an die 'Merkur'-Redaktion 1788 gesandt hatte. Von 1786 bis 1789 haben Wieland und Reinhold den 'Merkur' redaktionell ohne weitere Hilfe gestaltet. Beiträge schickten: Voß (dessen Versepos "Luise" von November 1784 an erschien), Johannes Müller, der Novellist Schulz, Gottlieb von Leon (1757-1832) und —nach wie vor: - Gleim. 1787 besuchte Schiller Wieland in Weimar und erörterte mit ihm den Plan einer gemeinsamen Zeitschrift, in der die (Schillersche) 'Thalia' und der 'Merkur' aufgehen sollten. 52) Einstweilen erklärte sich Schiller bereit, für den 'Teutschen Merkur' zu arbeiten. Erfreut kündig50) Vgl. Hans Wahl: Wieland und die 'Allgemeine Literatur-Zeitung', in: 'Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft', hrsgg. von Max Hecker, Weimar 1933, S. 167—202. 51) Zu Reinhold vgl. Karl von Prantl: Karl Leonhard Reinhold, in: 'Allgemeine Deutsche Biographie' (hinfort abgekürzt: ' A D B ' ) , hrsgg. von der Historischen Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, Berlin 1875 f f , Bd. 28 (1889), S. 8 2 - 8 4 ) . 52) Vgl. Hans Wahl, a.a.O., S. 173.

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te Wieland im Dezember 1787 an, "daß Herr Rath Schiller, mit bevorstehendem Jahrgang, Antheil am T. Merkur nehmen, und vielleicht jedes Monatsstück desselben mit einem Aufsatz von seiner Hand zieren wird, die schon in ihren ersten Versuchen den künftigen Meister verrieth, und nun, da sein Geist den Punkt der Reiffe erreicht hat, die Erwartung rechtfertigt, die das Publicum von dem Verfasser des Fiesco von Genua und des Don Carlos zu machen Ursache hatte. . .".53) Vom Januar 1788 an brachte der 'Teutsche Merkur' Fragmente aus der "Geschicht e t e s Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung". Schillers erster dichterischer Beitrag war das Anfang 1788 entstandene philosophische Gedicht "Die Götter Griechenlands", das im März des Jahres erschien. Schillers scharfe Stellungnahme gegen den christlichen Gottesbegriff erregte bei vielen Seiten Kritik. Friedrich Leopold von Stolberg trat als Verteidiger des Christentums auf; Franz von Kleist verfaßte ein Gegengedicht: "Das Lob des einigen Gottes", das Wieland im August 1788 abdruckte. In einer Anmerkung dazu behielt es sich der Herausgeber vor, " i n einem der nächsten Monatsstücke, nicht wohl im Nahmen der Griechischen Götter als in eigener Person, interveniendo vor Gericht zu ers c h e i n e n " . 5 4 ) Auf Anregung Wielands reagierte aber Schiller persönlich, und zwar mit dem Gedicht "Die Künstler" (veröffentlicht im März 1789). In der Zwischenzeit erschienen die "Briefe über 'Don Carlos' " . Die Mitarbeit Schillers sollte nicht von Dauer sein: Als er im Jahre 1788 an die Universität Jena berufen wurde, schickte er sein letztes Manuskript, die Jenaer Antrittsvorlesung "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? " (abgedruckt im Novemberheft des 'Teutschen Merkus'). Für die Dauer eines Jahres konnte Wieland noch einmal Goethe für den 'Merkur' gewinnen: Von 1788 an, kurze Zeit nach seiner Rückkehr aus Italien, begann er die Ergebnisse seiner Kunsterfahrung und seiner Studien in Aufsätzen für den 'Merkur' zusammenzufassen: "Zur Theorie der bildenden Kunst: Baukunst und Material der bildenden Kunst (1788); "Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil"; " V o n Arabesken"; "Über die bildende Nachahmung des Schönen von K. Ph. Moritz"; "Über Christus und die zwölf Apostel nach Raphael von Marc Anton gestochen und Herrn Professor Langer in Düsseldorf copirt" (1789). Hatte sich der 'Teutsche Merkur' in den Jahren 1776 bis 1782/83 als in sich geschlossene, vornehmlich der Literatur und der Literaturkritik gewidmete Zeitschrift ausgewiesen, so änderte das Blatt seinen Charakter in den nachfolgenden Jahren mehrmals. Nach dem Ausscheiden Mercks aus der Redaktion versandete das Fach " K r i t i k " : die Buchkritik wurde (mit wenigen Ausnahmen) eingestellt. Statt der Rezensionen, die bislang regelmäßig in den "Stücken" veröffentlicht wurden, ließ Wieland nur noch Buchbeschreibungen und "Buchanzeigen" von Verlagen und Verfassern drucken, die er allerdings seiner Zeitschrift nicht einverleibte, sondern gesammelt (und in sich fortlaufend numeriert), dem 'Merkur' 53) Der Herausgeber an die Leser des T.M., in: ' T M ' 15. Jg./1787, Dezember, S. 286/7. 54) Anmerkung Wielands, in: 'TM', 16. Jg./1788, August, S. 129.

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halbjährlich beilegte. Dichtungen und Auseinandersetzungen mit der Dichtkunst erschienen nur noch selten; wichtigste Dichtung der frühen achtziger Jahre war Voß' "Luise" (1784); Wieland selbst äußerte sich zur klassischen und zeitgenössischen Dichtung und zur Dichtungstheorie in seinen (drei) Briefen an einen jungen Dichter" (August und Oktober 1782; März 1784). Neue Schwerpunkte setzte Karl Leonhard Reinhold dem 'Teutschen Merkur' mit seinen theologisch-aufklärerischen, vor allem aber mit seinen von der Kantischen Philosophie bestimmten Beiträgen. 1788 und 1789, in eben jenen Jahren, die sich geistesgeschichtlich als Wende zur Klassik kennzeichnen lassen, gelang es Wieland — weniger durch intensives Bemühen als durch gute Gelegenheit — Kant, Schiller und Goethe zur Mitarbeit heranzuziehen. Diese literarisch sehr bedeutsame Phase des Teutschen Merkur' deckte sich aber nicht mit der Publikumswirksamkeit der Zeitschrift: Von 1783 bis 1789 hatte sich die Zahl der Abonnenten um 300 verringert; da der Herausgeber mit nur noch 1200 Abonnenten kaum mehr in der Lage war, die Kosten der Zeitschrift zu decken, bemühte er sich, das Blatt an den Verleger seiner Werke, Georg Joachim Göschen, zu v e r k a u f e n . 5 5 ) Als die Verhandlungen mit Göschen scheiterten, ja nicht einmal eine finanzielle Stützung zu erzielen war, entschloß sich Wieland, das Blatt unter verändertem Titel, aber vertrauend auf seinen publikumswirksamen Namen, ab 1790 fortzuführen. Unter der Rubrik "Anzeigen" kündigte Wieland den Lesern im November 1789 einen 'Neuen Teutschen Merkur' an, der den 'Teutschen Merkur' vom Januar 1790 an weiterführen werde: "Das Hauptsächlichste, wodurch diese Fortsetzung des nun schon sechzehn Jahre lang mit so vielem Wohlwollen aufgenommenen Teutschen Merkur sich unterscheiden wird, wird darin bestehen, daß der Herausgeber selbst mehr, als seit einigen Jahren geschehen ist, für denselben arbeiten, und sich vorzüglich auch mit der neuesten teutschen Litteratur mehr als ehemals beschäftigen wird."56) Mit der Namensauffrischung war eine Reihe von Änderungen verknüpft, weniger äußerer als innerer Art: Zwar erschien die Zeitschrift weiterhin unter der verantwortlichen Leitung Wielands, aber nahezu alle Mitarbeiter der Jahre 1773 bis 1789 hatten sich vom 'Merkur' getrennt. Wieland und — seit 1792 — sein neuer Helfer, der Weimarer Gymnasiallehrer Karl August Böttiger (1760-18341,57) redigierten das Blatt allein. Die Beiträge, die Wieland für das Publikum aufbereitete, stammten von Verfassern, deren Namen bisher nicht in literarischen Zeitschriften vertreten waren: Karl von Knoblauch, Benjamin Erhard, Bentzel-Sternau, Ernst Wilhelm Ackermann. Die Themen ihrer Beiträge: Staatsphilosophie und Tagespolitik. Auch die Mehrzahl der Aufsätze, die Wieland schrieb, befaßte sich mit politischen Problemen.

55) Vgl. Hans Wahl, a.a.O., S. 176. 56) ' T M ' , 17. Jg./1789, S. 2 1 1 - 2 1 3 . 57) Zu Bättiger vgl.: Ulrichs: Karl August Böttiger, in: ' A D B ' , Bd 3 (1876), S. 2 0 7 - 2 0 9 .

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Die fast ausschließliche Hinwendung der Zeitschrift zur Politik war eine Folge der Ereignisse in Frankreich: Die Französische Revolution fand in den gebildeten Kreisen des deutschen Volkes ein lebhaftes Echo. Als einzige literarische Zeitschrift unterrichtete der 'Merkur' regelmäßig über die französischen Vorgänge; bald füllten Kommentare und politische Glossen mehr als die Hälfte eines "Stücks". Von 1790 bis 1792 verbreitete Wieland das Gedankengut der Revolution. Wielands erster Beitrag über die Französische Revolution erschien im September 1789: "Über die Rechtmäßigkeit des Gebrauchs, welchen die französische Nation dermalen von ihrer Aufklärung und Stärke macht."58) Seine politischen Anschauungen hatten bis zum Ausbruch der Revolution sachlich denen der gebildeten aufgeklärten Theoretiker des 18. Jahrhunderts entsprochen. So begrüßte er die Juli-Ereignisse 1789 freudig; bis 1791 galt seine Sympathie den revolutionären Errungenschaften: Beseitigung des Feudalsystems, Erklärung der Menschenrechte, bürgerliche Verfassung. Nach dem Tode Mirabeaus befürchtete Wieland Anarchie in Frankreich, zerstreute aber seine Bedenken, als sich die Gironde herausbildete. Wieland erkannte die französische Republik von 1792 an, distanzierte sich aber gesinnungsmäßig von der Hinrichtung Ludwigs XVI. und der einsetzenden Schreckensherrschaft in Frankreich. Nach seiner Abwendung von der Revolution, deren Ideale er nach wie vor betonte, setzte er sich für Reformen und "vernünftige" Entwicklung im Rahmen einer konstitutionellen Monarchie in Deutschland ein. Mit seinen (fiktiven) "Gesprächen unter vier Augen" (1797—98) schloß Wieland das Thema "Revolution in Frankreich" ab: in politischer Weitsicht kündigte er den "homo novus" an: Napoleon Bonaparte. Neben seinen politischen Arbeiten ließ Wieland Literatur und Literaturkritik im 'Neuen Teutschen Merkur' verkümmern. Wie zufällig gelang es ihm doch, in diesen von der Politik geprägten Jahren einzelne Beiträge einer neuen Dichtergeneration in sein Blatt einzurücken: Im Januarheft 1791 trat der junge Friedrich von Hardenberg (Novalis) mit seinem Gedicht "Klagen eines Jünglings" im 'Merkur' zum ersten Mal an die Öffentlichkeit. Wieland schrieb eine zustimmende Anmerkung. Friedrich Schlegel lieferte den Aufsatz zur Ästhetik "Über die Grenzen des Schönen". August Wilhelm Schlegel schickte sein "Wort über die Originalität von Bürgers 'Leonore' " . Weitere schöngeistige Beiträge schrieben: Matthisson, Conz, Haug, und der dänische Klassiker Jens Baggesen (1764—1826). Wieland selbst äußerte sich nicht mehr zur Literatur; die Dichtungen, die nach 1795 entstanden, enthielt er dem 'Neuen Teutschen Merkur' vor, besonders seit dem Zeitpunkt, da Böttiger die Redaktion übernommen hatte. Vor seiner Reise in die Schweiz im Jahre 1796 übertrug Wieland die Redaktion der Zeitschrift seinem Mitarbeiter Böttiger — mit dem Gedanken, zum Jahresende den "Merkur sanft entschlafen zu l a s s e n " . 5 9 ) Als sich das Blatt Ende 1796 58) ' T M ' , 17. Jg./1789, S. 2 2 5 - 2 6 2 . 59) Z i t . nach Hans Wahl, a.a.O., S. 218.

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auch weiterhin als lebensfähig erwies, machte Wieland seinen Entschluß rückgängig und überließ Böttiger die redaktionellen Pflichten, zeichnete aber weiterhin als Herausgeber. Seit 1799 nannte sich Böttiger "Mitherausgeber". Dem Mitherausgeber gelang es, den 'Merkur'-Verlag zu verkaufen: zunächst (für ein Jahr probeweise) an Göschen, dann, als dieser zurücktrat, an die Gebrüder Gädicke in Weimar. Gegen eine Entschädigung an Wieland und Böttiger übernahm Friedrich Justin Bertuch, inzwischen Verleger und Drucker, 1803 die Zeitschrift in sein " Landes-Industrie-Comptoir". 1810 verstummte 'Der Neue Teutsche Merkur'. Spätestens seit der Übernahme der Redaktion durch Böttiger hatte der 'Merkur' seine Bedeutung — zumindest für die Literaturgeschichte — verloren. Wieland schrieb, abgesehen von den (politischen) "Gesprächen unter vier Augen" 1797/98 nur noch Geleitworte. Mitarbeiter der letzten Jahre waren: Fernow, Schnorr, Friederike Brun, Schubart jun., die Archäologen Hase, Winckler und Miliin (Paris) sowie Gerning aus Rom. Schon Schiller hatte sich 1794 in einem Brief an Cotta über den 'Merkur' und über seinen Herausgeber, den er ursprünglich als Mitarbeiter für seine geplante Zeitschrift 'Die Hören' vorgesehen hatte, abfällig geäußert: " I c h werde Wieland proponieren, den deutschen Merkur eingehen zu laßen, aber ich erwarte nicht sehr viel davon. Soviel als der Merkur ihm einträgt, kann er bey uns nicht verdienen, ohne sich weit mehr anzustrengen. Für den Merkur ist jeder Aufsatz gut genug. . .".60) Goethes Kritik richtete sich gegen den 'Merkur', wie er seit 1790 erschien. In seiner 445. Xenie (in Schillers "Musenalmanach für das Jahr 1797") monierte er, daß Wieland sich als Autor von seiner Zeitschrift fernhalte: "Wieland zeigt sich nur selten, doch sucht man gern die Gesellschaft, Wo sich Wieland nur selten der Seltene zeigt."61) Schärfer urteilte er in einer Invektive auf das Septemberheft 1802:62) "In's Teufels Namen! Was sind denn eure Namen! Im deutschen Merkur Ist keine Spur Von Vater Wieland, Der steht auf dem blauen Einband, Und unter dem verfluchtesten Reim Der Name Gleim." Sieht man von diesen literarisch unergiebigen Jahren des 'Teutschen Merkur' ab, hat die Zeitschrift sich in ihrer Blütezeit — wenn auch mit verschiedenen Schwerpunkten und ohne feste Linie — als bedeutendes literarisch-kritisches Organ erwiesen, 60) Zit. nach Günter Schulz: Schillers Hören. Politik und Erziehung. Analyse einer deutschen Zeitschrift, Heidelberg 1960, S. 22. 61) Erich Schmidt und Bernhard Suphan (Hrsg.): Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schi Her-Archivs, Weimar 1893, S. 50. 62) Zit. nach V i k t o r Heydemann, a.a.O., S. 34.

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als dichterisches F o r u m für Wieland selbst u n d für die Vertreter der verschiedenen Richtungen seiner Zeit und als Popularisator geistiger Strömungen. Trotz seiner Abneigung gegenüber der jungen Dichtergeneration hat Wieland sich mit ihr auseinandergesetzt und ihr einen Weg in die Öffentlichkeit erschlossen. Bewußt oder unbewußt gestaltete Wieland seinen ' M e r k u r ' zu einer "Sammelstelle für alle bedeutenderen dichterischen Schöpfungen der Zeit".63) Als politische Zeitschrift war der 'Teutsche Merkur' eines der wenigen Organe seiner Zeit, die sich kritisch mit der Staatsumwälzung in Frankreich und den Folgen der Revolution befaßten.

63) Karl Schottenloher: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum, Berlin 1922, S. 320.

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Hans Gerd Klein DEUTSCHE CHRONIK

(1774-1793)

Als der ehemalige Ludwigsburger Stadtorganist Christian Friedrich Daniel Schubart 1 ) im März 1774 in der Weberherberge zu Augsburg Zwischenstation macht — er befindet sich auf dem Weg nach Stockholm, um dort sein Glück zu versuchen — liegt hinter dem 35jährigen eine ruhelose Zeit privaten Unglücks und beruflicher Mißerfolge: Sein unsteter und sinnenfroher Lebenswandel hat ihn seiner Frau, die er in der Zeit seiner Tätigkeit als Schulmeister in Geislingen (1763—1769) geheiratet hat, und seinen beiden Kindern entfremdet; seine Art, jederzeit offen zu sprechen und eine ihm eigene, kritische Spottlust, haben ihn um seine Stellung als Stadtorganist in Ludwigsburg (1769—1773) gebracht. Seit er im Mai 1773 wegen eines Spottverses auf einen einflußreichen Höfling Herzog Carls von Württemberg diesen Posten verloren hat und des Landes verwiesen worden ist, führt Schubart ein plan- und zielloses Wanderleben, das ihn durch die Pfalz bis nach München geführt hat. Als Schubart nun nach Augsburg verschlagen wird, will es jedoch das Schicksal, daß diese Stadt nicht zu einer kurzfristigen Station in seinem Leben wird, sondern daß hier eine entscheidende, sein ganzes späteres Leben bestimmende Wende für ihn eintritt. Denn bald lernt er den Augsburger Buchhändler und Verleger Konrad Heinrich Stage kennen, der ihn bittet, etwas für seinen Verlag zu schreiben. Als darüber hinaus seine Gattin ihn in einem Brief anfleht, sie nicht ganz zu verlassen 2)( werden seine Bedenken zerstreut, und er entschließt sich, in Augsburg zu bleiben. Wie versprochen, beginnt Schubart, einen Roman zu schreiben, den er jedoch nach kurzer Zeit gelangweilt abbricht. Stattdessen schlägt er Stage als Ersatz für ein in dessen Verlag soeben gescheitertes 'Schwäbisches Journal' vor, eine Wochenschrift zu schreiben, für die er den Namen 'Deutsche Chronik' vorgesehen hat; ein Name, in dem sich Schubarts ausgeprägter Hang zum Patriotismus, aber auch die Absicht, inhaltlich über den schwäbischen Raum hinausgehend zu berichten, widerspiegeln. Daß Stage in diesen Plan sofort einwilligt, ist aus der Tatsache zu verstehen, daß sich Schubart schon zu diesem Zeitpunkt als Journalist, mehr jedoch noch als Dichter einen Namen gemacht hat. Mehrere Gedichtsammlungen sind schon während seiner Geislinger Lehrerzeit von ihm erschienen.3) In diese Zeit fällt auch seine Mit1)

Siehe auch Erich Schairer: Christian Friedrich Daniel Schubart (1739—1791), in: HeinzDietrich Fischer (Hrsg.): Deutsche Publizisten des 15. bis 20. Jahrhunderts, München — Berlin 1971, S. 118 f f .

2)

David Friedrich Strauß (Hrsg.): Christian Friedrich Daniel Schubart's Leben in seinen Briefen, 2 Bde., S. 203, in: Eduard Zeller (Hrsg.): Gesammelte Schriften von David Friedrich Strauß, Bonn 1878, Bd. 8 und 9.

3)

U.a. " D i e Baadcur" (1766) und "Todesgesänge" (1767).

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arbeit an der moralischen Wochenschrift 'Der neue Rechtschaffene', die jedoch, nachdem sie Anfang 1767 in Lindau erschienen ist, bald wieder eingeht. Darüber hinaus zeigen Briefe Schubarts an den Dichter Balthasar Haug und an Schubarts Schwager Böckh aus der Zeit vor Augsburg, daß der Plan, eine Wochenschrift zu gründen, schon immer ein Lieblingskind Schubarts gewesen ist.4) D u r c h die 'Deutsche Chronik' hat er nun die Möglichkeit, diesen Plan zu realisieren. A l s Ankündigung u n d Werbung geht der 'Deutschen Chronik' eine "Nachricht an das Publikum" voraus, die - so mutmaßt Adamietz 5) — ¡n Form eines Flugblattes oder einer Beilage den gängigsten Zeitungen und Zeitschriften beigegeben worden ist. In dieser Nachricht heißt es, daß die 'Chronik' zweimal wöchentlich erscheine, jede Ausgabe einen halben Bogen Oktav stark sein solle 6) und zu einem jährlichen 7) Bezugspreis von drei Gulden bei Stage in Augsburg und allen Postämtern in Deutschland zu erhalten sei. Politik, Literatur und schöne Künste sollen als Hauptthemen in freimütigster Weise behandelt werden. A b 31. März 1774 wird sodann, nach angekündigtem Modus, die 'Deutsche Chronik' zweimal wöchentlich, "am Montag und Donnerstag"*^, im Verlag des Buchhändlers Stage in Augsburg ausgegeben. Der Drucker der ersten Nummern ist unbekannt. Textlich klar gegliedert, ohne drucktechnisch besonders hervorgehobene Abschnitte und unbebildert, erinnert die äußere Aufmachung der 'Chronik' eher an einen gedruckten Brief 9) als an eines der üblichen Periodica. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den vertraulichen Gesprächston, den Schubart seinen Lesern gegenüber einschlägt. Des öfteren verfällt er in den pathetischen T o n eines Volksredners, als sei die 'Chronik' ein "Notbehelf für Volksreden, die er vor großem Kreis zu halten keine Gelegenheit. . ."10) hat. Das Papier der 'Chronik', der wesentliche Kostenfaktor bei der damaligen Zeitungsherstellung, ist nach Schubarts Willen besonders stark, "damit nicht unsre 4) David Friedrich Strauß (Hrsg.), a.a.O., Bd. 1, Briefe Nr. 21 (S. 59 ff), Nr. 2 8 (S. 7 9 f), Nr. 34 (S. 92 ff) und Nr. 8 9 (S. 182 ff). 5) Horst Adamietz: Christian Friedrich Daniel Schubarts Volksblatt 'Deutsche Chronik', phil. Diss., Berlin 1941, Weida/Thüringen 1943, S. 24. 6) Diese Erscheinungsweise behält Schubart stets bei; lediglich in Zeiten großer Stoffülle wählt er bis zu einem ganzen Bogen Oktav oder gibt Beilagen heraus. 7) Horst Adamietz (a.a.O., S. 30) spricht von einem Preis von 3 Gulden für ein Halbjahresabonnement. Schubart selbst berichtet jedoch zu einer Zeit, als die 'Chronik' eine A u f lage von etwa 4 0 0 0 Exemplaren hat und er pro Exemplar einen Gulden Honorar bek o m m t , von einem jährlichen Verdienst von 3 — 4 0 0 0 Gulden (David Friedrich Strauß, Hrsg., a.a.O., Bd. 2, Brief 310, S. 298 ff). 8)

'Chronik' 1774, S. 4. Daß in der Sekundärliteratur zur Schubartschen 'Chronik' der Dienstag und Freitag als Erscheinungstage angegeben werden, mag seinen G r u n d darin finden, daß das Blatt zwar am Montag bzw. Donnerstag ausgegeben wurde, jedoch wahrscheinlich erst a m jeweils darauf folgenden Wochentag zur Auslieferung kam.

9)

Horst Adamietz, a.a.O., S. 25.

10) Eduard Metis: Chr. Friedr. Dan. Schubart als Journalist, in: J. Ilberg/P. Cauer (Hrsg.): 'Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik' (Berlin/Leipzig), Jg. 19, 1916, Bd. 37, H. 9, S. 6 0 9 - 6 1 2 .

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Blätter, wenn sie durch einige Hände gegangen sind, zerschoßnen Fahnen gleichen. "11) Die 'Chronik' soll demnach kein Blatt für eine kleine Minderheit sein, sondern ein Volksblatt, das möglichst viele politisch und künstlerisch interessierte Bürger erreichen will. Die Einleitung zum ersten Stück der 'Chronik' bildet ein Gedicht " A n Chronos", an das sich ein Leitartikel anschließt, in dem Schubart sein Blatt ankündigt als "ein neues Wochenblat . . ., welches nach der Zeitfolge die wichtigsten politischen und litterarischen Begebenheiten enthalten soll". 1 2) Ein eindeutiges Programm will er seinen Lesern nicht mitgeben, da er eine stets gleichbleibende Linie seiner 'Chronik' nicht zu versprechen vermag. " D a ich nicht immer, weder vor meine Laune, noch vor meine Einsichten gut sprechen kann; so will ich meine Leser lieber den Charakter meines Blats aus der Folge selbst errathen lassen, als ihn zum voraus — vielleicht ganz unrichtig — bestimmen. . .".13) Ganz im Ungewissen über das zukünftige Bild der 'Chronik' läßt Schubart seine Leser jedoch nicht. Aus seiner anschließend folgenden, kritischen Beschreibung der zeitgenössischen Zeitungssituation läßt sich, wenngleich auch nur auf indirektem Weg, eine programmatische Charakterisierung der 'Chronik' sehr wohl herauslesen. Schubart beklagt hier 14) d e n "schlechten T h o n " vieler Zeitungen und ihre "politischen und litterarischen Vorurtheile" und eine daraus resultierende "Partheylichkeit". Er kritisiert den "albernen ceremoniösen T h o n " , der den Blick für das Wesentliche einer Nachricht nur verschleiere, und die ungeschickte Gruppierung der einzelnen Nachrichten: " D i e Begebenheiten sind auseinandergerissen, die Optik der Phantasie wird unendlich beleidigt, und wir müssen es uns gefallen lassen, auf den schwachen Flügeln der Zeitungsblätter von einem Pole zum anderen zu fliegen, ohne am Ende zu wissen, was wir gesehen haben". Den Journalisten selbst w i r f t er "Furchtsamkeit" vor, die daran schuld sei, daß die meisten deutschen "Scribenten. . . von ihrem Lande o f t gar nichts, oder doch immer im panegyrischen Thone. . . " berichten. Diese Vorwürfe zeigen deutlich, daß Schubart, trotz seines eingangs eingestandenen Wankelmutes, eine fest umrissene Vorstellung vom zukünftigen Aussehen seiner 'Chronik' und von seiner Aufgabe als Journalist hat. Ohne Furcht vor Obrigkeit und Zensur, unparteiisch und ohne Vorurteile will er in klar gegliederter und sich auf das Wesentliche beschränkender Form seine 'Chronik' schreiben. Im besonderen Maße aus Deutschland — "dieser Artikel soll immer der erste seyn, den wir mit dem wärmsten Herzen beleuchten w e r d e n " ! 5) _ w j | | Schubart seine Leser kritisch informieren. Jedoch schon wenige Tage nach Herausgabe der ersten Nummer der 'Chronik' gerät Schubart in K o n f l i k t mit der Obrigkeit: Allein durch die "Ankündigung an das P u b l i k u m " , in der er einen reisenden Deutschen nach 11) 'Chronik' 1774, S. 4 (die einzelnen Blätter jedes Jahrgangs sind durchnumeriert). 12) 'Chronik' 1774, S. 2. 13) ' C h r o n i k ' 1 7 7 4 , S. 2 f. 14) ' C h r o n i k ' 1 7 7 4 , S. 3 f. 15) ' C h r o n i k ' 1 7 7 4 , S. 5.

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einem Englandbesuch nur einen " H u t h v o l l " der englischen Freiheit für Deutschland wünschen läßt, sieht der Augsburger Bürgermeister von Kuhn die öffentliche Ordnung derart gefährdet, daß er schon nach der neunten Ausgabe den weiteren Druck der 'Chronik' in Augsburg verbietet. Daraufhin entschließt sich Schubart, den Druckort in die freie Reichsstadt Ulm zu verlegen. Er selbst bleibt als Redakteur in Augsburg und auch Stage behält weiterhin das Verlegen der 'Chronik'. A m Ende der zehnten Nummer der "Chronik' werden die Leser vom Wechsel der Druckerei unterrichtet: " U l m , gedruckt und zu finden bei Christian Ulrich Wagner, Cansleybuchdrucker, der Kaiserl. Akademie freier Künste und Wissenschaften in Augspurg, und der Herzogl. deutschen Gesellschaft in Helmstädt Mitglied". 16) Wegen des besonderen Umstandes, daß Redakteur und Verleger in Augsburg sitzen, das Blatt aber in Ulm gedruckt wird, ist eine termingerechte Auslieferung der 'Chronik' nicht immer zu gewährleisten. Dafür entschuldigt sich Schubart, indem er seine Leser bittet, "es nicht übel aufzunehmen, wenn die Blätter erst den andern Tag nach ihrer A n k u n f t ausgeteilt werden".17) Als Schubart in den darauf folgenden Nummern der 'Chronik' in mehreren Artikeln den 1773 von Papst Clemens X I V . aufgelösten Jesuitenorden in äußerst scharfer Weise kritisiert und ihm vorwirft, mehr geschadet als genutzt zu haben, macht er sich den immer noch sehr einflußreichen Orden zum Feind, so daß sein Leben im katholischen Augsburg immer gefährdeter wird. Ein Beitrag aus dem 74. Stück der 'Chronik', in dem sich Schubart über einen Pfarrer namens Gaßner empört, der als Quacksalber durch Schwaben zieht und "Höcker, Kröpfe, Epilepsien — nicht durch Arzneyen; sondern bloß durchs Auflegen seiner hohepriesterlichen Hand" heiltJS) löst bei Klerus und Jesuiten eine Welle von Intrigen und Angriffen gegen den Chronikschreiber aus. So ist es nicht verwunderlich, daß sich Schubart gegen Ende des Jahres 1774 mit dem Gedanken trägt, seiner 'Chronik' nach Ulm nachzuziehen. Als im Januar 1775 ein Regierungsbefehl Schubart aus Augsburg ausweist, setzt er diesen Plan in die Tat um und reist nach Ulm. Und hier im evangelischen Ulm, einer Stadt mit den "Resten altdeutscher Kraft und Freisinns. . .",19) beginnt für ihn ein — leider nur zwei Jahre dauernder — glücklicher und von wachsenden beruflichen Erfolgen gekennzeichneter Lebensabschnitt: Mit seiner Frau, die wieder zu ihm zurückgekehrt ist, führt er eine gute Ehe und es gelingt ihm bald, einen Kreis gleichgesinnter Freunde um sich zu scharen. In seiner 'Chronik' kann Schubart, bis auf wenige Ausnahmen vom Magistrat und der Zensur unbehelligt, seinem Ideal als Journalist, nämlich "so viel sich's thun läßt, Politik, Literatur, Dichtkunst, Musik und bildende Künste miteinander 16) 'Chronik' 1774, S. 80. 17) ' C h r o n i k ' 1 7 7 4 , S. 272. 18) ' C h r o n i k ' 1 7 7 4 , S. 589. 19) 'David Friedrich Strauß (Hrsg.), a.a.O., Bd. 1, S. 208.

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abwechslen . . ."20) z u lassen, weitgehendst nahekommen. Neben den politischen Beiträgen finden in der 'Chronik' besonders die Rubriken "Literarische Neuigkeit e n " und " T o n k u n s t " , in denen Schubart die neuesten Werke aus Literatur und Musik vorstellt, so großen Anklang bei seinen Lesern, daß er am 13. Februar 1775 in einem Brief an seinen Bruder Conrad, der Stadtschreiber in Aalen ist, voller Stolz über die Auflagenhöhe seiner Zeitschrift schreiben kann: "Schon werden 1600 Exemplare verschloßen".21) Doch leben kann Schubart, trotz dieser für die damaligen Verhältnisse recht respektablen Auflagenhöhe, von seiner 'Chronik' allein nicht. Da Stage ihm für die Herausgabe der 'Chronik' lediglich ein monatliches Honorar von 30 Gulden zahlt,22) schreibt Schubart Gedichte, Theater- und Konzertstücke, die ihm wesentlich mehr als seine 'Chronik' einbringen, um sich und seine Familie zu ernähren. Unter diesem Gesichtspunkt ist vermutlich auch seine Mitarbeit 1775 am 'Ulmer Intelligenzblatt' zu verstehen, von der er in dem bereits erwähnten Brief an seinen Bruder Conrad berichtet. Doch trotz des geringen Einkommens durch die 'Deutsche Chronik', die er ab 1776 'Teutsche Chronik' nennt, weil er erfahren hat, "daß teutsch unsere Nation und deutsch so viel als Deutlichkeit anzeige. . .",23) bleibt die Herausgabe des Blattes Schubarts große Leidenschaft. Ganz ohne Zusammenstöße m i t der Ulmer Zensur gehen jedoch auch diese beiden Jahre nicht vorüber. Interessant ist vor allem ein Vorfall, der eindrücklich das Verhältnis des Ulmer Zensors der 'Chronik', Ratskonsulent Dr. Harttmann, zu Schubart charakterisiert. In der Nummer vom 28. November 1776 läßt Schubart an eine Nachricht aus Paris: " m a n stellt bereits Wetten an, daß künftiges Frühjahr 80 000 Franzosen nach Teutschland marschiren werden." den Kommentar anschließen: "Sieht einer Weissagung aus dem Kaffeesatz ähnlich. 40 000. Hannoveraner und 60 000. Preußen werden in diesem Falle einen eisernen Gurt um Hannover, Braunschweig und Hessen ziehen, den gewiß die Französischen Galanteriedegen nicht so leicht durchhauen werden.. .".24) Als sich darüber der französische Gesandte beim Regensburger Reichstag beschwert, w i r d Schubart auf das Ulmer Bürgermeisteramt befohlen, wo er, nach Androhung des Entzuges der Druckerlaubnis, gezwungen wird, sich schriftlich für seinen Kommentar in der 'Chronik' zu rechtfertigen. 25) Der Ulmer Vertreter beim Reichstag entschuldigt sich für diesen unangenehmen Vorfall persönlich beim französischen Gesandten, demgegenüber Dr. Harttmann wie folgt erläutert: "Wenn mehrgen. Hrn. Mini20) Aus dem " V o r b e r i c h t " , m i t dem Schubart am 2. Juli 1774 seinen Lesern das erste Quartal seiner ' C h r o n i k ' präsentiert. 21) David Friedrich Strauß (Hrsg.), a.a.O., Bd. 1, Brief Nr. 1 0 1 , S . 2 1 3 f . Dies ist leider die einzige Angabe zur Auflagenhöhe der ' C h r o n i k ' für die Zeit bis zu Schubarts Einkerkerung. 22) Horst Adamietz, a.a.O., S. 30. 23) ' C h r o n i k ' 1 7 7 5 , S. 816. 24) ' C h r o n i k ' 1776, S. 753 f. 25) Siehe dazu Hermann Erich Schairer: Christian Friedrich Daniel Schubart als politischer Journalist, phil. Diss., Tübingen 1914, S. 172 f f .

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sters Excellenz den Verfasser der 'Teutschen Chronik', wie ich, von Person k e n n e t e n , . . . er würde von Hochdenenselben vielleicht das Privilegium zu sagen, was er will, erhalten, ein Privilegium so einer gewissen Klasse von Menschen ohne Nachteil gegeben werden kann".26) | n den Augen seines Ulmer Zensors ist Schubart demnach ein Mann, den man für unzurechnungsfähig halten muß. T r o t z dieser für die Herausgabe der ' C h r o n i k ' recht günstigen Zensurbeurteilung und t r o t z der relativen Freiheit, der sich Schubart in U l m erfreuen kann, zieht er sich durch seine journalistische Arbeit eine Anzahl einflußreicher Feinde zu. Die Folge davon ist, daß Schubart am 23. Januar 1777, nach Herausgabe des siebten Stückes der 'Chronik', auf Geheiß Herzog Carls von Württemberg aus der freien Reichsstadt U l m auf württembergisches Gebiet gelockt, v o l l k o m m e n überraschend in Blaubeuren verhaftet und ohne Prozeß oder eine Angabe des Verhaftungsgrundes auf der Festung Hohenasperg eingekerkert wird. Initiator der Verhaftung scheint der Kaiserliche Ministerresident in U l m , General von Ried, "aus persönlichen Gründen ein Feind Schubarts. . ."27) ( gewesen zu sein 28) f der den württembergischen Landesherrn, der selbst bisweilen von Schubart, u.a. wegen Verkaufs von Untertanen an England, in der 'Chronik' kritisiert worden ist,29) zu diesem Schritt veranlaßt hat. Als Stage nach der Verhaftung seines Chronikschreibers einen neuen Redakteur sucht, übernehmen zwei Freunde Schubarts, ein Mann namens Köhler und das Hainbund-Mitglied Johann Martin Miller, die Herausgabe des Blattes. Nach baldigem Ausscheiden Köhlers führt Miller die 'Chronik' bis in den Herbst 1777 allein f o r t . Das Honorar, das noch immer 30 Gulden pro Monat beträgt 30) # k o m m t der Frau Schubarts zugute. Das letzte Quartal der ' C h r o n i k ' vom Jahre 1777 schreibt ein neuer Redakteur, dessen Name jedoch nicht mehr festzustellen ist.31) Die Auflage der 'Chronik', die eng m i t der Person des Alleinverfassers Schubart verknüpft ist, sinkt in diesem Zeitraum auf 600.32) £ j n weiterer Grund, die Zeitschrift zeitweilig einzustellen, liegt möglicherweise auch in der Tatsache, daß von 1777 bis 1781 in Ulm eine Nachahmung der 'Teutschen Chronik' m i t dem Namen 'Chronik' erscheint, die zumindest rein äußerlich der Schubartschen ' C h r o n i k ' aufs Haar gleicht.33)

26) Horst Adamietz, a.a.O., S. 40, zitiert dies aus Ernst Holzer: Schubartiana, in: 'Süddeutsche Monatshefte', V, 1908, S. 6 5 9 - 6 7 2 . 27) Eduard Metis, a.a.O., S. 612. 28) So vermutet David Friedrich Strauß, a.a.O., Bd. 1, S. 232 f. 29) 'Chronik' 1776, S. 201: "Eine Sage. Der Herzog von Würtemberg soll 3000 Mann an Engelland überlassen, und dieß soll die Ursache seines gegenwärtigen Aufenthaltes in London sein". 30) Dies geht aus einem Brief hervor, den die Frau Schubarts an Miller schreibt (David Friedrich Strauß, Hrsg., a.a.O., Bd. 1, Brief Nr. 116, S. 259 ff). 31) Horst Adamietz, a.a.O., S. 42. 32) Wilmont Haacke: Die politische Zeitschrift, 1 6 6 5 - 1 9 6 5 , Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 36. 33) Horst Adamietz, a.a.O., S. 43.

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Nach mehr als zehnjähriger, erniedrigender Festungshaft, nach vielen vergeblichen Fürbitten der Familie Schubarts und einer Reihe berühmter Z e i t g e n o s s e n , 3 4 ) entläßt der Herzog von Württemberg auf Drängen Preußens endlich am 11. Mai 1787 Schubart aus der Haft und holt ihn sogar nach Stuttgart, wo er ihm das A m t eines Hofdichters und herzoglichen Theaterdirektors überträgt.35) Schon sechs Wochen nach seiner Entlassung wendet sich Schubart mit Erlaubnis des Herzogs wieder seiner 'Chronik' zu, die schon bald wieder seine Hauptbeschäftigung wird, " v o n dem doppelten Wunsche geleitet, ein Lehrmeister des deutschen Volkes in allen öffentlichen Fragen zu sein und seinen Gehalt durch die Einnahmen zu vermehren. "36) Es zeigt sich schon bald, daßseinejournalistische Eigenart, in freimütigster Weise zu den politischen Ereignissen seiner Zeit Stellung zu nehmen, auch nicht durch die lange Haftzeit verlorengegangen ist. Die Zeitschrift, die er jetzt aus patriotischen Gründen in 'Schubarts Vaterländische Chronik' umbenennt, wird nun in der Akademischen Druckerei der Herzoglichen Carlsschule gedruckt. Dadurch fließt zwar der größte Teil der Einnahmen durch die 'Chronik' in die Kassen des Herzogs von Württemberg; doch auch Schubart, der nun einen Gulden pro Exemplar der Jahresauflage als Honorar bekommt, verdient an seinem Blatt mehr als in der Augsburger und Ulmer Zeit. Als die Auflage der 'Chronik' in der Zeit nach der Asperghaft bis auf etwa 4000 ansteigt, kann sich Schubart "stolz zu den wenigen Zeitungsschreibern des 18. Jahrhunderts rechnen, die von ihrem Blatt — ohne jegliche Nebenverdienste — leben... "37) können. Mit dem Druckort der 'Chronik' wechselt auch ihr Verleger. A n Stelle des Augsburgers Stage t r i t t nun der Verlag des Kaiserlichen Reichspostamtes zu Stuttgart, wie auf dem Jahrgangstitel der Chronik von 1787 zu lesen ist. Nachdem ein Stuttgarter Zensurrat die Überwachung der Schubartschen 'Chronik' abgelehnt hat, entschließt sich Herzog Carl, durch Verordnung vom 2. Juli 1787 Schubart Zensurfreiheit zuzusichern. Mit Hilfe dieses Schachzuges kann der Herzog sämtliche Verantwortung für die 'Chronik' direkt auf ihren Redakteur selbst abwälzen. Mit einer Auflage von etwa 750 Exemplaren 38) erscheint Anfang Juli 1787 'Schubarts Vaterländische Chronik'. Das Anwachsen des politischen Nachrichtenstoffes, der Schubart zu dieser Zeit auch schon über eine Reihe von freiwilligen Korrespondenten eingeht, zieht eine steigende Politisierung der 'Chronik' nach 34) David Friedrich Strauß (Hrsg.) (a.a.O., Bd. 1, S. 245) nennt u.a. die Dichter Lavater und Campe. 35) Aus verständlichen Gründen wollte Carl Eugen von Württemberg so verhindern, daß Schubart das Land verließ und außerhalb Württembergs die despotische Regierungsweise des Herzogs anprangerte. 36) Rudolf Krauß: Zur Geschichte der Schubartschen Chronik. (Beschwerden und Widerrufe, Zensurfreiheit und Zensur), in: 'Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte', (Stuttgart) N.F., Jg. 12/1903, S. 7 8 - 9 4 . 37) Horst Adamietz, a.a.O., S. 31. 38) In einem Brief an seinen Sohn vom August 1787 nennt Schubart eine Auflage von 7 0 0 - 8 0 0 (David Friedrich Strauß, Hrsg., a.a.O., Bd. 2, Brief Nr. 270, S. 237 f f ) .

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sich, so daß die schöngeistigen Beiträge der "Literarischen Neuigkeiten" und der " T o n k u n s t " ganz in den Hintergrund gedrängt werden. Eine weitere Folge der umfangreicheren politischen Berichterstattung ist eine wachsende Zahl von auswärtigen Beschwerden über das Blatt. Zieht Schubart sich mit seiner ersten Chronikausgabe nach dem Asperg durch seine Ankündigung " A n mein Vaterland", in der er begeistert die antihierarchischen Reformen Josephs II. würdigt, lediglich einen Verweis Herzog Carls zu, " m i t gehöriger Moderation und Behutsamkeit. . ."39) zu schreiben, so wird er schon nach der ersten auswärtigen Beschwerde des dänischen Gesandten in Stuttgart, Baron von Wächter, gezwungen, einen Artikel des dritten Stückes der 'Chronik', in dem er Dänemark als " i n Absicht auf politische Regsamkeit wie in Todesschlaf versunken. . ."40) dargestellt hat, durch einen Widerruf aus der Welt zu schaffen. Als Schubart im 29. Stück der 'Chronik' im Oktober 1787 Nürnberg als eine " d u r c h Aristokraten niedergebeugte, in Schulden, Mutlosigkeit und verächtliche Stille versunkene Stadt. . ."41) beschreibt, wird er, nachdem der Nürnberger Magistrat deswegen Beschwerde bei Herzog Carl erhoben hat, angehalten, auch diesen A r t i k e l zu widerrufen 42), Darüber hinaus wird ihm das Verbot seines Blattes angedroht. Bleibt es in Stuttgart bei dieser Drohung, so k o m m t es im März 1788 doch zum Verbot der 'Chronik', die Schubart seit Beginn des Jahres 'Vaterlandschronik' nennt, in Pfalz-Bayern. Im 24. Stück der ' C h r o n i k ' v o m 21. März 1788 steht die Nachricht: "Der Churfürst von Pfalzbaiern hat mein Blatt in seinen Staaten zu lesen verboten". 43) Der äußere Anlaß für dieses Verbot mag wohl in einer Nachricht im 13. Stück der 'Chronik' vom 12. Februar 1788 zu suchen sein, wo es heißt: "Die Preßfreiheit ist in diesem Lande (Pfalz-Bayern) noch immer eingeschränkter, als in irgend einer Deutschen Provinz. Die Lichtköpfe wandern deßwegen aus, oder kleiden sich ins strengste Inkognito, oder — schweigen".44) Schubart selbst macht jedoch Zoglio, den päpstlichen Nuntius in München, für das Verbot verantwortlich.45) Damit entfallen für die 'Chronik', die zu diesem Zeitpunkt etwa eine Auflage von 2000 Exemplaren hat 46) t Städte wie München, Mannheim oder Heidelberg als Verbreitungsgebiete. Doch kann das Blatt, das auf seinem Höhepunkt nicht nur im ganzen süddeutschen Raum, sondern auch in den wichtigsten europäischen

39) Abgedruckt bei Rudolf Krauß, a.a.O., S. 79 f. 40) ' C h r o n i k ' 1 7 8 7 , S. 18. 41) ' C h r o n i k ' 1 7 8 7 , S. 226. 42) Dies geschieht in 'Chronik' 1787, S. 362 f. 43) ' C h r o n i k ' 1 7 8 8 , S. 196. 44) ' C h r o n i k ' 1 7 8 8 , S. 100. 45) David Friedrich Strauß (Hrsg.), a.a.O., Bd. 2, Brief Nr. 282, S. 260 f. 46) Daselbst, Bd. 2, Brief Nr. 282, S. 260 f.

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Hauptstädten 47) Abonnenten findet, diesen Verlust in wenigen Monaten wieder in Stuttgart genießt Schubart jedoch immer noch die Vorzüge der Zensurfreiheit. Auch als der herzogliche Geheime Rat, nach einer Beschwerde des Wormser Magistrates bezüglich des 50. Stückes der 'Chronik' vom 20. Juni 1788, die Aufhebung der Zensurfreiheit für die Zeitschrift fordert, sieht sich Herzog Carl zu diesem Schritt nicht veranlaßt; " n i c h t bloß aus zarter Rücksicht auf die Kasse der akademischen Druckerei, sondern zugleich auch im Gefühle, daß er viel an Schubart gut zu machen habe".49) wettmachen.48)

Im Verlauf des Jahres 1789 treten die Ereignisse der Französischen Revolution, von Schubart begeistert aufgenommen, immer mehr in den Vordergrund der Berichterstattung der 'Chronik', die im August 1789 eine Auflage von 2400 Exemplaren e r r e i c h t . 5 0 ) A b 1790 nennt Schubart sein Blatt, im Hinblick auf die wachsende Auslandberichterstattung, jedoch "ohne Beeinträchtigung der Treue gegen das deutsche Vaterland. . . " 5 1 ) , nur noch 'Chronik'. Hat Schubart im Frankreich vor der Revolution den unheilvollen Verderber deutscher Denkart und Sitten gesehen, so zieht jetzt das revolutionäre Frankreich seinen ungeteilten Beifall auf sich. Trotz der eindeutigen demokratisch-republikanischen Stimmung, die jetzt die ganze 'Chronik' durchzieht, bleibt die Zensurfreiheit für das Blatt erhalten. Selbst ein Gutachten des Geheimen Rates zur württembergischen Pressesituation vom 20. Dezember 1790 52)# ¡ n dem u.a. um die Beziehungen zu Frankreich gefürchtet wird, da viele Artikel der 'Chronik' ins Französische übersetzt und mit Begeisterung in Frankreich gelesen werden, bleibt ohne Wirkung für die Zensurfreiheit der 'Chronik'. Im Jahr 1791 — Schubarts letztem Lebensjahr — nehmen jedoch die ständig anwachsenden offiziellen Beschwerden gegen den Chronikschreiber einen immer bedrohlicheren Charakter an. Besonders ein Vorfall soll unangenehme Folgen für Schubart nach sich ziehen: In der 'Chronik' vom 1. März 1791 bringt Schubart m i t offensichtlicher Freude die Nachricht vom Sturz des bekannten preußischen Günstlings Bischoffwerder. Die Folge davon ist ein "furchtbares Gewitter. . .".53) Der preußische Gesandte in Nürnberg protestiert schärfstens, Schubart erhält einen anonymen Drohbrief, von dem er annimmt, daß er von Bi-

47) Horst Adamietz (a.a.O., S. 35 f.) nennt Petersburg, Berlin, Amsterdam, Paris, London, Zürich und Wien. 48) Schon im März des Jahres 1789 hat die 'Chronik' wieder über 2000 Exemplare. Dies geht aus einem Brief hervor, den Schubart am 7. März 1789 seinem Sohn schreibt (David Friedrich Strauß, Hrsg., a.a.O., Bd. 2, Brief Nr. 284, S. 263 ff). 49) Rudolf Krauß, a.a.O., S. 86. 50) Schubart schreibt zu diesem Zeitpunkt an seinen Sohn über die Auflagenzahl der 'Chronik': "Es fliegen ihrer 2400 in die Welt aus". (David Friedrich Strauß, Hrsg., a.a.O., Bd. 2, Brief Nr. 288, S. 271 f f ) . 51) David Friedrich Strauß (Hrsg.), a.a.O., Bd. 2, S. 217. 52) Auszugsweise abgedruckt bei Rudolf Krauß, a.a.O., S. 87. 53) Daselbst, S. 87.

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schoffwerder selbst s t a m m t , 5 4 ) und auch sein alter Gönner, Minister Graf von Hertzberg, schickt ihm einen groben Verweis. Trotz zweier für Schubart äußerst erniedrigender Widerrufe in den Chronikausgaben vom 22. und 29. März 1791 zehrt dieser Vorfall so sehr an Schubart, daß, nach Aussage seines Sohnes L u d w i g , 5 5 ) diese unglückliche Geschichte viel zu seinem Tod beigetragen hat. Durch die politischen Ereignisse und den Geheimen Rat gedrängt, erläßt Herzog Carl am 7. Mai 1791 ein Dekret, in dem er mitteilt, daß er sich bewogen sehe, "Sich zur gänzlichen Aufhebung der einigen Zeitungsschreibern erteilten Zensurfreiheit zu entschließen und Zu verordnen, daß alle dergleichen Schriften, wie zuvor, ohne Ausnahme einer genauen Zensur unterworfen sein s o l l e n " . 5 6 ) Als daraufhin am 13. Juli 1791 ein dreiköpfiger Zensurrat ins Amt gehoben wird, fällt auch die Zensurfreiheit der Schubartschen 'Chronik'. Da dieser Zensurrat anfänglich sein Amt nur sehr nachlässig vollzieht, kommt es auch weiterhin zu Beschwerden über den Inhalt der 'Chronik'. Am 23. September 1791 nimmt Herzog Carl selbst Anstoß an zwei Artikeln im 76. Stück der 'Chronik', in denen Schubart über eine militärische Exekution in Wien und über eine Predigt des ehemaligen württembergischen Hofpredigers Eulogius Schneider berichtet. Das darauf folgende Gutachten des Geheimen Rates, 57) in dem Schubart u.a. vorgeworfen wird, die übrigen Stuttgarter Blätter durch seine 'Chronik' negativ beeinflußt zu haben, fordert nun eine konsequente Strenge des Zensurrates. Von den dementsprechenden Verfügungen, die Herzog Carl daraufhin trifft, wird Schubart jedoch nicht mehr berührt. Er stirbt am Morgen des 10. Oktobers 1791 im Alter von 52 Jahren. Nach seinem Tod übernimmt der Dichter Götthold Friedrich Stäudlin, ein Mann von wesentlich radikalerer Revolutionsgesinnung als Schubart, zusammen mit Schubarts Sohn Ludwig, dem sein Vater die 'Chronik' als Erbe vermacht h a t , 5 8 ) die Schriftleitung der Zeitschrift. Als Ludwig bald jedoch wieder nach Nürnberg zieht, wo er als preußischer Legationssekretär arbeitet, führt Stäudlin das Blatt unter großen Zensurschwierigkeiten bis 1793 allein fort. Er kann es jedoch nicht verhindern, daß die 'Chronik', deren Gewinn der Witwe Schubarts zukommt, enorm an Auflage v e r l i e r t , 5 9 ) So daß eineinhalb Jahre nach Schubarts Tod nur noch etwa 1000 Exemplare abgesetzt werden 60). So erscheint am 19. April 1793 das 32. und letzte Stück der'Chronik'. Durch Dekret vom 24. April 1793 wird das herzogliche Privilegium für das Blatt zurückgenom-

54)

Daselbst.

55) Daselbst, S. 88. 56) Abgedruckt daselbst, S. 89. 57) Im vollen Wortlaut abgedruckt daselbst, S. 92 f f . 58) David Friedrich Strauß (Hrsg.), a.a.O., Bd. 2, Brief Nr. 310, S. 298 f f . 59) In einem Brief an Miller schreibt die Witwe Schubarts am 4. März 1792, daß die 'Chronik'viele Liebhaber verloren habe (David Friedrich Strauß, Hrsg., a.a.O., Bd. 2, Brief Nr. 311, S. 300 f f ) . 60) Horst Adamietz, a.a.O., S. 32.

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men. Als Entschädigung erhält Schubarts Witwe dafür von Herzog Carl eine jährliche Pension von 150 Gulden angewiesen.61) In Schubarts T o d (1791), nicht in Stäudlins politischem Radikalismus oder in den verschärften Zensurbedingungen, ist jedoch der wirkliche Grund für das Ende der 'Chronik' im Jahr 1793 zu suchen. Ganz geprägt von Schubarts politischer Gesinnung und Einsatzfreude, die Adamietz dazu veranlassen, in der 'Chronik' einen "Vorläufer der im 19. Jahrhundert groß werdenden politischen Gesinnungspresse. . ."62) z u sehen, und ganz geprägt vom journalistischen Stil Schubarts, der durch seine Plastizität des Ausdrucks, durch eine überaus bilderreiche Sprache den Leser der 'Chronik' zum Zuschauer des Zeitgeschehens macht und somit die 'Chronik' zu einem "Zeitdokument ersten Ranges. . ."63) werden läßt, kann die einst von Schubart herausgegebene 'Chronik' nicht mehr mit der Stäudlins vergleichbar sein. Wie eng das Gedeihen der 'Chronik' von der Persönlichkeit Schubarts abhängig gewesen ist, zeigen die deutlich zurückgehenden Auflagezahlen nach seiner Verhaftung im Jahre 1777 und nach seinem Tod. Schubarts journalistische Arbeit und die Bedeutung seiner 'Chronik' würdigt demnach sein Nachfolger Stäudlin in einem Nachruf auf ihn in der 'Chronik' vom 14. Oktober 1791,64) ¡n dem es u.a. heißt: " Z w a r verlor sich seine Prose manchmal zu sehr in den Regionen der Dichtkunst — aber manche süße Erinnerung wird Dir, lieber Leser! doch sagen, daß das Körnichte und Kraftvolle seines Ausdruks — die Kühnheit und der Freiheitssinn, die seinen Kiel regierten — und seine jovialische Laune öfters unwiderstehlich auf dich wirkten - daß diß Blatt manche große Gefühle in deinem Herzen wekte! — daß der große Wirkungskreis, den Schubart sich mit dieser Chronik eröffnete, sein wichtigstes und bleibendstes Verdienst um die Menschheit w a r ! " .

61) Rudolf Krauß, a.a.O., S. 94. 62) Horst Adamietz, a.a.O., S. 86. 63) Daselbst, S. 64. 64) 'Chronik' 1791, S. 671 ff.

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Ludolf Herbst BRIEFWECHSEL / ST ATS—ANZEIGEN (1776-1793)

In einer der bedeutendsten Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts wurde August Ludwig Schlözer eine bemerkenswerte Würdigung zuteil. Er sei, so hieß es in lapidarer Kürze, "der Ahnherr der neueren deutschen Geschichtsschreibung". 1) Für eine Zeit, in der Nietzsche die Historie auf ihren Nutzen und Nachteil für das Leben befragte und die herrschende Geschichtswissenschaft in die enge Bahn des Historismus eingeschwenkt war, sich also dem Leben — dem politischen wie dem sozialen — immer mehr entfremdete, ist dieses Urteil keineswegs selbstverständlich. Zwar mochte man den Herausgeber der Nestorchronik als Begründer der quellenkritischen Methode betrachten können, konnte aber nicht übersehen, daß Schlözer nie nur Gelehrter gewesen war, daß er als Staatswissenschaftler und Publizist auf praktische Veränderung, " a u f Besserung der herrschenden Zustände, auf die Erweckung des politischen Sinns"2) aus war. Die breite, alle Bereiche des staatlichen Lebens umspannende publizistische Tätigkeit Schlözers, die er ganz selbstverständlich als integralen Bestandteil und als sinnvolles Ziel seiner Gelehrtentätigkeit auffaßte, ist weit entfernt von der Selbstabdankung, die die Geschichtswissenschaft gegenüber der kritischen Mitgestaltung des politischen Lebens unter dem bestimmenden Einfluß des Historismus vorgenommen hatte und die bis zur Gegenwart noch nicht gänzlich überwunden ist. Für eine Geschichtswissenschaft, die sich heute unter dem Eindruck ihrer Krise erneut zu den entfremdeten Nachbarwissenschaften hin orientiert und ihre Rolle in der Gesellschaft kritisch zu reflektieren beginnt, mag Schlözer freilich in anderem Sinne als im 19. Jahrhundert als " A h n h e r r " zu betrachten sein. Die aus der Historie entstandenen Wissenschaften von der Politik und Publizistik werden es indes leichter haben, sich auf Schlözer zu berufen. August Ludwig Schlözer (1735—1809)3) begann wie viele hervorragende Zeitgenossen seine wissenschaftliche Laufbahn m i t dem Studium der Theologie. Die 1)

Hermann Hettner: Literaturgeschichte der Goethezeit, neu hrsgg. von Johannes Anderegg, München 1970, S. 541; vgl. auch Ingeborg Salzbrunn: Studien zum deutschen historischen Zeitschriftenwesen von der Göttinger Aufklärung bis zur Herausgabe der 'Historischen Zeitschrift' (1859), phil. Dlss. Münster 1968, S. 83 f f .

2)

Hermann Hettner, a.a.O., S. 542.

3)

Neben F(erdinand) Fensdorff: August Ludwig Schlözer, in: 'Allgemeine Deutsche Biographie', Bd. 31, S. 567 f f . , der noch immer wertvolle biographische Details mitteilt, ist zur Biographie Schlözers vor allem zu nennen: Friederike Fürst: August Ludwig von Schlözer, ein deutscher Aufklärer Im 18. Jahrhundert, Heidelberg 1928. Unter Verwendung umfangreichen Materials erschien jüngst zu diesem Thema Joan Karle: August Ludwig von Schlözer. A n Intellectual Biography, Ph.D. Diss. Columbia University, New York 1972; Über den Publizisten Schlözer vgl. Alois Winbauer: August Ludwig von Schlözer (1735—1809), in: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.): Deutsche Publizisten des 15. bis 20. Jahrhunderts, München - Berlin 1971, S. 109—117.

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Enge des Gelehrtendaseins war ihm freilich von Anfang an verhaßt, und so trug er sich bereits in Wittenberg, wo er 1751 immatrikuliert wurde, mit Reiseplänen. Als ihm 1755 in Göttingen, wo er sein Studium fortsetzte, eine Hauslehrerstelle in Stockholm angeboten wurde, griff er freudig zu. In Schweden vollzog sich Schlözers Hinwendung zu Politik, Geschichte und Statistik. Die vage Aussicht, den seit seiner Göttinger Zeit gehegten Wunsch, eine Orientreise zu machen, m i t Unterstützung der russischen Regierung verwirklichen zu können, führte Schlözer 1761 nach St. Petersburg; zunächst war er auch hier Hauslehrer, erhielt jedoch 1764 einen Ruf als Professor für Geschichte an die Petersburger Akademie der Wissenschaften. Seine Arbeiten zur russischen und schwedischen Geschichte, sowie die in St. Petersburg begonnene Edition der Nestor-Chronik begründeten Schlözers wissenschaftlichen Ruhm. Als er 1769 einem Ruf an die Universität Göttingen folgte, war er ein bekannter und weitgereister Mann mit vielfältigen persönlichen Verbindungen. Die von Schlözer seit seiner Studienzeit gehegte Abneigung gegenüber einem reinen Gelehrtendasein verblieb ihm auch in Göttingen und scheint der innere Antrieb für seine hier entfaltete umfangreiche publizistische Tätigkeit gewesen zu sein. Der von ihm seit 1776 als periodische Zeitschrift herausgegebene 'Briefwechsel' und dessen unter dem Titel 'Stats-Anzeigen'4) seit 1782 erschienene Fortsetzung wirkten unmittelbar auf das gesellschaftliche und politische Geschehen im partikular zersplitterten Deutschland ein und waren nach dem Urteil Hettners "der Schrecken aller schleichenden Kabinettspolitik und Beamtenwillkür".5) Der Plan, eine periodische Schrift zur Geschichte und zur gegenwärtigen Lage der europäischen Staaten herauszugeben, ist unmittelbar aus der Lehrtätigkeit Schlözers hervorgegangen. Im Wintersemester 1772/73 hatte er begonnen, Vorlesungen über Statistik, Politik und neuere Staatengeschichte zu halten, die er in den folgenden Jahren kursorisch fortsetzte. Dabei stieß er auf ein Problem, das m i t dem Stand der damaligen Nachrichtenübermittlung zusammenhing: "Statistische Vorlesungen", so schrieb er in seiner programmatischen Vorrede zum 'Briefwechsel', "haben eine ihnen eigentümliche Schwierigkeit. Man soll darin jedesmal den gegenwärtigen oder neusten Zustand eines Stats beschreiben. Nun herrschet aber, im innern und äußern der Staten, eine ewige Ebbe und Flut: ein geendigter Krieg, eine gelungene Revolution, ein neuer Tractat, oder auch nur ein neues Edict, macht ganze Kapitel der vorjärigen Beschreibung unrichtig, oder setzt sie aus der Statistik eines Landes in seine Antiquitäten hinüber. Wie erfährt nun derjenige Deutsche, der sich, entweder aus Pflicht, oder blos aus Neigung, ein Geschäffte daraus macht, über alle erhebliche Veränderungen auswertiger Staten eine Regi4)

Vgl. hierzu Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, Teil 1, Wiesbaden 1958, S. 129 f. Ferner die Spezialuntersuchungen von Renate Zeiger: Der historisch-politische Briefwechsel und die Staatsanzeigen August Ludwig von Schlözers als Zeitschrift und Zeitbild, phil. Diss. München 1953 (Masch.Sehr.) und die Arbeit von Gertrud Mehringer-Einsle: Der politische Ideengehalt von August Ludwig von Schlözer's 'Staats.Anzeigen'. Ein Beitrag zur Untersuchung der politischen Publizistik im 18. Jahrhundert, phil. Diss. Erlangen 1951 (Masch.Sehr.).

5)

Hermann Hettner, a.a.O., S. 542.

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stratur zu führen, wie erfärt er sie mit der gehörigen Zuverlässigkeit, Umständlichkeit, und Präcision? "6) Die beiden wichtigsten gedruckten Informationsquellen der Zeit, das Buch und die Zeitung, schienen Schlözer diese Aufgabe nicht oder jedenfalls nur unvollkommen zu erfüllen. Gegen das Buch sprach vor allem seine mangelnde Verbreitung. Der Buchmarkt war am Ende des 18. Jahrhunderts noch wenig entwickelt. Namentlich die vielen Deutschland durchziehenden Landesgrenzen hemmten einen über die Partikularstaaten hinausgehenden Austausch des in den einzelnen geistigen Metropolen erscheinenden Schrifttums. Fremdsprachige Bücher waren noch schwerer zu erhalten, ganz zu schweigen von den vielen in lokal- und auflagenmäßig beschränktem Umfange erscheinenden pièces volantes. Zeitungen — obschon leichter erreichbar und den neuesten Ereignissen näher — boten namentlich zu wenig Hintergrundinformation, enthielten zu viele Irrtümer und mußten gerade Nachrichten über die innere Staatsverwaltung oft verschweigen, weil sie, wie Schlözer bemerkt, nicht "nach dem Geschmacke des großen Haufens"?) seien und — wie man hinzufügen kann — vielfach auf unüberwindliche Zensurschranken stießen. Angesichts dieser Situation kam Schlözer der Gedanke, auf die umfangreichen Materialsammlungen historischer und statistischer Art, die er während seiner Aufenthalte in Schweden und Rußland zusammengestellt hatte, zurückzugreifen, sie durch Briefkorrespondenzen zu vervollständigen, auf dem jeweils neuesten Stand zu halten und periodisch zu publizieren. Der erste Versuch dieser Art, der 1775 im Verlage der Dieterich'schen Buchhandlung zu Göttingen erschienene 'Briefwechsel meist statistischen Inhalts', trägt noch unverkennbar die Züge einer vornehmlich für den akademischen Lehrbetrieb geeigneten Sammlung: er sollte den Studierenden als gedruckte Ergänzung der Vorlesung dienen und ein vertiefendes Studium ermöglichen. Freilich zwangen Gesichtspunkte der verlegerischen Rentabilität von vornherein, einen über den engen Kreis der Göttinger Studenten hinausgehenden Absatz anzustreben. (Die Gesamtzahl der in Göttingen Studierenden bewegte sich in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts zwischen 800 und 900, davon haben in Schlözers besten Zeiten etwa ein Viertel bis ein Drittel seine Vorlesungen besucht.^) Eine Erweiterung des Göttinger Absatzkreises erblickte Schlözer in all jenen Lesern "vom gelerten Stande", "für die die neuste Statskunde eignes Studium ist". Von ihnen, so erwog er in der Vorrede, lebten manche "an Orten, wo außer Büchern und Zeitungen wenig Zugang zu den neusten Nachrichten ist, und wo man die neusten Bücher entweder gar nicht, oder doch erst spät, erhält; sie sind nicht in Umständen, die auswärtige Correspondenzen verstatten; oder sie haben nicht Zeit, bei jedem neuen Vorfalle weitläufige Acten 6)

'Briefwechsel meist statistischen Inhalts', Gesammelt und zum Versuch herausgegeben von August Ludwig Schlözer, Göttingen 1775, Vorrede, (zit. 'BwS')

7)

'BwS', Vorrede.

8)

F(erdinand) Fensdorff, a.a.O.; Theodor Zermelo: August Ludwig Schlözer, ein Publicist im alten Reich, Berlin 1875, S. 21. 117

durchzuwühlen. Sollte diesen . . . nicht einiger Gefallen geschehen, wenn ein andrer einen Teil der Arbeit für sie thäte, und ihnen dadurch, in Zeit, Kosten, und Mühe, einige Ersparung machte? "9) Die inhaltliche Gestaltung des 'Briefwechsels' trug dem durch die avisierte Leserschaft bestimmten Zweck des Studiums der "neusten Statskunde" Rechnung. Dabei ist es typisch für Schlözer, daß er eine breit gefächterte und sehr praktischen Fragen zugewandte Publikation anstrebte und dem Gelehrten gerade auch Materialien zugänglich machte, die — wie er betont — "Lesern von andern Ständen alltäglich" seien, jedoch für die "meisten Gelerten... niegesehene Seltenheiten"^) darstellten. Von daher mag sich die Fülle der namentlich aus dem kaufmännischen, staatswirtschaftlichen und militärischen Bereich stammenden Materialien und Nachrichten erklären, die in diesem ersten Versuch und ebenso in seiner Fortsetzung dem Leser mitgeteilt wurden. Den Grundstock des Inhalts bildeten Korrespondenzen, zu denen Schlözer hin und wieder Anmerkungen machte oder denen er Schlußworte anfügte. Sie betrafen das Ausland ebenso wie das Inland und bezogen sich auf nahezu alle Bereiche des staatlichen Lebens. Daneben wurden Statistiken namentlich über den Rüstungsstand einzelner Mächte, über Militär- und Civiletats, über Bevölkerungswachstum und Sterblichkeit, über Handel und Wandel mitgeteilt. Auch offizielle Dokumente wie Erlasse, Kabinettsordres, Hirtenbriefe etc. fanden Aufnahme. Historische Rückblicke wechselten mit Auszügen aus historischen Büchern ab, die häufig, aber nicht immer, als Hintergrundinformation für aktuelle Tagesfragen gedacht waren. Eine systematische Anordnung der einzelnen Stücke fehlte ganz. So fand sich in dem schmalen Bändchen, zu dem die 14 Hefte ä ca. 15 Seiten zusammengebunden wurden, das Heterogenste beieinander. Neben einem Erlaß Ludwigs XVI. über Mischehen konnte der Leser sich über den Kriegs- und Civiletat Spaniens orientieren, sich anhand einer deutsch-englischen Handelsbilanz einen Eindruck vom rapiden Wachstum des englischen Exports in den sechziger Jahren verschaffen, Bevölkerungsstatistiken studieren und seinen Gefallen an einer Reisebeschreibung Roms oder an einem Bericht über die Korallen-Fischerei am Mittelmeer finden. Selbst Anekdotisches fehlte nicht. Der heterogene Charakter der Publikation änderte sich auch in dem nachfolgenden 'Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts' sowie in den darauf folgenden 'Stats-Anzeigen' nicht. Dem Unternehmen des 'Briefwechsels' scheinen vom Dieterichschen Verlag wenig Erfolgsaussichten eingeräumt worden zu sein. Jedenfalls mußte Schlözer sich für die Fortsetzung einen neuen Verlag suchen, den er in Vandenhoeck und Ruprecht fand. Im Mai 1776 konnte das erste Heft des 'Neuen Briefwechsels meist historischen und politischen Inhalts'^) erscheinen. Die Titeländerung mag sich empfohlen haben: "statistisch" war ein im akademischen Bereich gebildetes Kunstwort, 9) 'BwS', Vorrede. 10) Daselbst. 11) z i t . : ' B w P ' .

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das soviel wie "staatskundlich" oder "staatswissenschaftlich" bedeutete, jedoch noch wenig gebräuchlich und über den Lehrbetrieb hinaus kaum bekannt war. 12) (Ihre Grundlegung als Wissenschaft erfuhr die 'Statistik' später von Schlözer selbst.) Das Hineinnehmen der gebräuchlicheren und in ihrem Bedeutungshorizont weiteren Adjektive "historisch" und "politisch" 13) in den Titel des Periodikums signalisierte eine gegenüber dem ersten Versuch veränderte Konzeption. Ohne den Kern seines Vorhabens aufzugeben, strebte Schlözer doch eine im Anspruch an den Leser noch abgestuftere inhaltliche Gestaltung und eine breitere Interessentenschicht an. "Dieser Neue Briefwechsel", so zeigte er sein Vorhaben im ersten Heft an, "ist, wiewol nach einem etwas erweiterten Plane, eine Fortsetzung des im vorigen Jar, im Dietrichschen Verlage, bogenweise herausgekommenen Briefwechsels . . . Der größere Teil der Aufsätze w i r d immer aus solchen bestehen, die durch Correspondenz aufgetrieben werden. . . . Folglich wird diese Sammlung den Titel Briefwechsel, wenn ja etwas auf den Titel ankommen sollte, auch fernerhin mit Recht führen. Mit dem Allerneuesten wird Neues und Altes, mit dem Unbekannten wird das bereits aber ohne Detail und Präzision Bekannte, mit dem allgemein Lesbaren werden nur dem respective Kenner werthe, und folglich respective langweilige Aufsätze, mit blossen Nachrichten endlich werden ausgearbeitete und mit unter wol gar kritische politische Untersuchungen abwechseln: auf daß, wo möglich, jeder Heft für jede Klasse von Lesern, oben v o m praktischen Statsgelerten an bis zum bloßen Zeitungsleser herab, wenigstens etwas e n t h a l t e n " . ^ )

Namentlich für das nun dem erweiterten Plan gemäß angestrebte kritische Engagement boten die folgenden Jahre vielfältige Gelegenheit. 1776 erklärten die 13 Nordamerikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit vom Mutterland. Daß die Lösung des Konflikts mit militärischen und nicht mit friedlichen Mitteln angestrebt wurde, führte im 'Briefwechsel' zu Erörterungen über die Grundbedingungen der aufklärerischen Staatskonzeption. Sie wurde freilich nicht nur am Beispiel Nordamerikas diskutiert und auf die Deutung der Ereignisse angewandt, sondern durch Offenlegung von Mißständen in Deutschland selbst in ihrer praktischen Wirksamkeit verstärkt. Dabei mag es zunächst erstaunen, daß der aufklärerische Impuls des 'Briefwechsels' sich in Bezug auf die europäische und deutsche Szene als Kampf für Pressefreiheit und gegen Beamtenwillkür, für Toleranz und gegen religiösen Zwang auswirkte, dagegen im Falle des Unabhängigkeitskrieges zu einer Parteinahme für England führte. Manches haben hierzu die äußeren Umstände beigetragen, unter denen Schlözers Redakti'onstätigkeit stand: man hatte im Kurfürstentum Hannover Rücksichten auf England zu nehmen und durfte die — für damalige Vorstellungen sehr weitreichende — Pressefreiheit, die in Göttingen faktisch bestand, nicht überdehnen; auch waren die Korrespondenten, die Schlözer berichteten, naturgemäß eher von der englischen als von der amerikanischen Seite. Freilich wird man diese äußeren Faktoren nicht überschätzen dürfen. 12) Jakob Grimm/Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. X, S. 951. 13) Vgl. zum Begriff "politisch" im Zusammenhang mit dem Selbstverständnis von Zeitschriften im 18. Jahrhundert Wilmont Haacke: Die politische Zeitschrift 1665—1965, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 130 f f und passim; ferner ders.: Erscheinung und Begriff der politischen Zeitschrift, Tübingen 1968. 14) 'BwP', I (1776), Anzeige des Redakteurs.

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Der erste Beitrag, den Schlözer im 'Briefwechsel' über den Unabhängigkeitskrieg publizierte und mit dessen Grundanschauung er übereinstimmte, 15) skizziert die Voraussetzungen, unter denen der Standpunkt aufklärerischer Staatsauffassung zu diesem Thema im Schlözerschen Briefwechsel zum Tragen kam. Er trug den bezeichnenden Titel: "Empörung der Nordamerikaner" 16) und ging von den angestammten und naturrechtlich legitimierten Rechten Großbritanniens gegenüber den Kolonien aus. Die Forderungen der Aufständischen oder "Rebellen", wie man sie vielfach nannte, wurden dagegen als ungerechtfertigt angesehen, weil sie das Naturrecht mißachteten. Der Ursprung des Konflikts wurde weniger in konkreten Streitpunkten gesehen, als vielmehr in der fehlenden Bereitschaft der Nordamerikaner, den Ausgleich mit dem Mutterlande, der ihnen angeboten worden sei, zu suchen. Anstatt dessen hätte sie "nie einen Vorschlag gethan, der nicht auf Unabhängigkeit zweckte". 17) Die Forderung nach Freiheit bzw. Unabhängigkeit erscheint indes auf dem Boden einer historisch gebundenen Staatstheorie, für die die Freiheit nur für den Einzelnen und nur in einem abgegrenzten Freiraum geordneter Zustände zur Geltung gelangt, sowohl im Lichte eines falsche Tatsachen vorspiegelnden Betruges als auch eines grundsätzlichen Irrtums und Widerspruchs; denn sie verstößt gegen den Grundsatz: "da ist keine Freiheit, wo keine Subordination ist" und widerspricht dem aufklärerischen Freiheitsbegriff, dem die "Umkehrung aller Ordnung" zutiefst fremd ist. Daß die Nordamerikaner das "Naturrecht" der "Gleichheit und politischen und bürgerlichen Freiheit" unter Verletzung der naturrechtlichen Bindungen ans Mutterland durchzusetzen versuchen, wird in doppeltem Sinn als Gefahr verstanden. Einmal werde es Amerika in Anarchie stürzen und zum anderen die Despotie bestärken — und zwar nicht nur in Amerika, sondern auch in Europa; denn alle die vielfältigen Widersacher einer aufgeklärten Regierungspraxis würden unter Hinweis auf Englands Milde und ihre verderblichen Folgen, die Prinzipien der Aufklärung für "eine falsche Theorie, der die Erfahrung widerspricht",^) erklären. Die Furcht vor der Reaktion oder besser: der Kampf gegen sie, bestimmte auch das Engagement des 'Briefwechsels' auf der europäischen und vor allem auf der deutschen Szene. Dabei trat der 'Briefwechsel' mit Nachdruck für jenes vorrevolutionäre Reformprogramm ein, das mit dem Ausbau und der rechtlichen Verankerung der Pressefreiheit und der religiösen Toleranz, der Milderung und allmäh liehen Abschaffung der Leibeigenschaft und der Eindämmung der Behörden- und Amtswillkür in seinen Konturen zu umschreiben ist und das dem Grundsatz huldigte, daß "jeder Stat. . . nur in dem Maaße mächtig ist, als seine Untertanen glücklich, frei, und zufrieden sind". 19) Mit äußerster Schärfe wurden so etwa die in der Kur-Pfalz herrschende Intoleranz und die Bevorzugung der Katholiken bei 15) Siehe hierzu Schlözers K o m m e n t a r in: ' B w P ' , I (1776), S. 52 f. 16) 'BwP', I (1776), S. 2 8 f f . 17)

Daselbst, S. 34.

18)

Daselbst, S. 37.

19)

Daselbst, S. 38.

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der Ämterbesetzung gegeißelt oder die Leibeigenschaft in Mecklenburg in die unmittelbare Nähe der Sklaverei gerückt. Freilich — all dies geschah auf dem Boden eines ständisch gebundenen Naturrechts. So wurden die Mißstände in der Kur-Pfalz in einer von Schlözer gezeichneten Anmerkung auf die dort fehlenden Landstände zurückgeführt, in denen er "unabhängige Wächter"20) über gewährte Rechte erblickte. Ebenso warnte er davor, für eine plötzliche Aufhebung der Leibeigenschaft einzutreten: "Es kostete MenschenAlter, ehe man freie Menschen zwang Sklaven zu werden: es kostet andere MenschenAlter, ehe man gezämte Sklaven lert, der Freiheit wieder fähig zu werden".21) Die sich hinter diesen Ansichten offenbarende erzieherische und obrigkeitsstaatlich gesteuerte Reformpolitik auf ständischer Basis verband Schlözer mit den drei führenden Monarchen in Europa: Joseph II., Friedrich dem Großen und Katharina II. Vor allem die naturrechtlich ständischen Kodifikationen in Preußen und Österreich fanden in Schlözer einen eifrigen Befürworter. Die Aufmerksamkeit, mit der die Regierungsmaßnahmen der aufgeklärten Monarchen im 'Briefwechsel' bedacht wurden, ist indes nicht nur darauf zurückzuführen, daß Schlözer auf dem Boden der ihnen zugrunde liegenden Staatsauffassung stand. Schlözer war daneben auch immer ein Bewunderer großer staatlicher Machtentfaltung gewesen. So ist es nicht verwunderlich, daß der 'Briefwechsel' namentlich die für den Zeitgenossen großartige Entwicklung Rußlands widerspiegelt: Die ökonomischen Veränderungen im nachpetrinischen Rußland, deren nach außen sichtbarstes Symbol das Aufblühen St. Petersburgs war, und das Ausgreifen der russischen Macht nach Süden bis zum Azov'schen Meer und zum Kaukasus und nach Osten bis auf den amerikanischen Kontinent. In einer Anzeige des Redakteurs vom 14. April 1779 machte Schlözer seine Leser auf die Möglichkeit einer Titeländerung des von ihm herausgegebenen Periodikums aufmerksam. "Sollte sich das Werk", so hieß es, "bis zum zehenden Theile erhalten: so soll es alsdann, damit es nicht den Käufern durch seine Größe lästig werde, wenigstens dem Titel nach, geschlossen, und zu künftigem Gebrauche mit einem allgemeinen SachenRegister versehen w e r d e n " . 2 2 ) Zwei Jahre später war es soweit. Der 'Briefwechsel' wurde abgeschlossen und mit einem Registerband versehen. Die Fortsetzung der bisherigen Publikation erhielt den neuen Titel: ' S t a t s - A n z e i g e n ' , 2 3 ) Der Vorgang verdient Beachtung, und zwar umsomehr, als mit der Titeländerung weder eine neue Konzeption für die inhaltliche Gestaltung noch der Versuch verbunden war, durch einen attraktiveren und mehrversprechenden Titel neue Käuferschichten zu mobilisieren. Der von Schlözer angegebene praktische Grund war vielmehr ganz offensichtlich der allein ausschlaggebende.

20) ' B w p ' , V (1779), S. 40. 21) Daselbst, S. 407 f. 22) Daselbst, Verlagsanzeige. 23) Z i t . : ' S t A ' . 121

Damit ist freilich die Frage gestellt, wie weit Schlözers 'Briefwechsel' und die nachfolgenden 'Stats-Anzeigen' als 'Zeitschrift'24) anzusprechen sind. Deuten einerseits die periodische Publikation, die relative Einheitlichkeit des Programms und der zeitliche Abstand zum aktuellen Tagesgeschehen auf den Typus "politische Zeitschrift", so läßt andererseits die sich weitgehend auf eine kommentarlose Herausgabe der Stücke beschränkende Tätigkeit des Redakteurs eher auf eine Sammlung oder Reihe in Lieferungen und mit Buchcharakter schließen. Schlözer selbst verstand seine Publikation so. "Übrigens ist dies Buch keine Zeitung, sondern ein Buch, wie alle Bücher, die UniversitätsDocenten, für welche alles BücherSchreiben nur Neben- nicht Hauptsache ist, liefern können", 25) schrieb er 1782 im Vorbericht zu den 'Stats-Anzeigen'. Den Buchcharakter betonen zudem die vielfachen Rückbezüge und Querverweise. Hinzu k o m m t ein weiteres: die Nachfrage nach einzelnen Theilen der Sammlung hielt weit über den normalen Verkaufszeitraum an. Namentlich von den ersten Bänden wurde sehr bald eine zweite Auflage nötig, die 1778 erschien.26) Die steigende Nachfrage — 1781 waren mehr als 4000 Exemplare verkauft worden — führte offenbar zum Nachkaufen. Als Schlözer 1782 das erste Heft der 'Stats-Anzeigen' veröffentlichte, konnte er in seinem allgemeinen Vorbericht darauf hinweisen, daß vdm vorangegangenenen 'Briefwechsel' noch "sowohl ganze Bände, als auch die meisten Hefte, einzeln, in der Vandenhoeckschen Buchhandlung vorrätig" seien, da " m a n die ausgegangenen jedesmal sogleich wieder aufgelegt" habe 27) _ e j n Beweis mehr dafür, daß die Sammlung als Einheit betrachtet wurde. Gegen den Typus Zeitschrift mag schließlich auch die Tatsache sprechen, daß Schlözer sowohl für den 'Briefwechsel' als auch für die 'Stats-Anzeigen' einziger Redakteur blieb und auf jeden Versuch zur Bildungeines Redaktionskollegiums verzichtete. Die politische Programmatik — ein Kennzeichen jeder politischen Zeitschrift — mußte demzufolge in sehr viel geringerem Maße zum Tragen kommen, als bei einem homogenen Redaktionskollegium^ das in der Lage ist, einen guten Teil der Beiträge selbst zu schreiben. Schlözer mußte als einziger Redakteur schon aus praktischen Gründen weitgehend auf eigene Beiträge verzichten, zumal der Vorrat an früher gesammeltem eigenem Material rasch verbraucht war. " A n f ä n g l i c h " , so beschreibt Schlözer selbst die Entwicklung seiner Herausgebertätigkeit, " w a r diese periodische Schrift mein Werk. Nach dem ersten Plane. . . sollte solche nichts als StatsNachrichten enthalten, die ich selbst, mit Mühe oder Kosten, auf Reisen und durch Correspondenz, bereits zusammengebracht hatte, oder noch künftig sammeln w ü r d e . . . .Aber schon seit merern Jaren ist sie nicht mein Werk mer: ich bin blos Sammler, Herausgeber, Handlanger bei Andrer ihren Dienstleistungen, Ausspender 24) Zum Problemkreis vgl. Wilmont Haacke: Die politische Zeitschrift, a.a.O., S. 121 f und passim, ferner Hubert Max: Wesen und Gestalt der politischen Zeitschrift, Essen 1942, S. 94 f f . 25) 'StA', I (1782), Allgemeiner Vorbericht. 26) Goedecke, 6, S. 276. 27) 'StA', I (1782), Allgemeiner Vorbericht.

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fremder Wohltaten. Die Meisten — und ich übertreibe nichts, wenn ich sage, die allerwichtigsten — Aufsätze kommen mir ungebeten...; ich habe weder Mühe, noch Kosten, dabei".28) Es ist klar, daß politische Programmatik unter diesen Voraussetzungen nur sehr indirekt und vermittelt Ausdruck finden konnte: in der Auswahl, in der Textgestaltung und in jenen Anmerkungen und Notizen, die Schlöze,r einzelnen Beiträgen in steigendem Maße hinzufügte und mit denen er die kritische Gesamtlinie herstellte. Die Bearbeitung der einzelnen Stücke suchte Schlözer freilich nicht nur aus praktischen, sondern auch aus sachlichen Gesichtspunkten so geringfügig wie möglich zu halten. Dokumente wurden grundsätzlich in der Originalsprache wiedergegeben, auch fremdsprachige Beiträge in der Regel nicht übersetzt, da sie hierdurch an Reiz verlören und für den Kenner unbrauchbar würden. Neben inhaltlichen Kürzungen waren es wohl vor allem grammatikalische Korrekturen, die Schlözer bei manchen Zuschriften vornehmen mußte. Freilich hütete er sich vor zu starken Eingriffen, um nicht den "edlen Rost ganz abzuwischen, der den starken Styl des Geschäftsmanns, von dem niedlichen des Stylisten von Profession, auszeichnet".29) Der weitgespannte Kreis der Korrespondenten und Zulieferer, der den 'Briefwechsel' und die 'Stats-Anzeigen' vornehmlich trug, ist nur zum Teil bekannt. Schlözer bot all jenen, die ihren Namen nicht verlauten lassen wollten, die Garantie für absolute Verschwiegenheit. Er verpflichtete sich öffentlich (zum ersten Mal im November 1779, dann erneut 1782) dazu, ihre Namen nicht einmal in seiner eigenen Privatkorrespondenz zu erwähnen, jede handschriftliche Mitteilung vor dem Druck eigenhändig abzuschreiben und anschließend sofort zu vernichten oder dem Autor zu rückzusenden.30) Manche freimütige Äußerung in Schlözers Periodika mag sich auf diese Praxis zurückführen lassen. Allerdings bestand Schlözer in der Regel darauf, daß ihm selbst die Namen der Einsender bekannt wurden, um von der Person her zusätzliche Sicherheiten für den Wahrheitsgehalt der Mitteilungen zu erhalten. Unter den Einsendern befanden sich eine Reihe recht bedeutender Namen des öffentlichen und gelehrten Lebens der Zeit. 1782 gab Schlözer posthum die Namen des Herzogs Karl von Sachsen-Meiningen und des österreichischen Grafen Firmian bekannt. Schlözers Beziehungen reichten offenkundig bis in die Spitzen einzelner Landesministerien, bis hin etwa zu den preußischen Ministern Carmer und Hertzberg.31) So konnte Schlözer 1791 das Testament Friedrichs des Großen als erster veröffentlichen.32) Aus der gelehrten Welt ist vor allem der Name von Justus Moser unter den Einsendern zu nennen. Auch einzelne Göttinger Kollegen beteiligten sich an Schlözers Periodika. Ein nach Zahl und Umfang der Beiträge sowie nach ihrem Gehalt bzw. ihrer Tendenz bedeutender "Einsender" war für 28) Daselbst. 29) Daselbst. 30) Daselbst und 'BwP', V (1779), Vol-bericht. 31) Theodor Zermelo, a.a.O., S. 30 ff. 32) 'StA', X V I (1791), S. 450 ff.

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die 'Stats-Anzeigen' der unter dem Pseudonym "Austrasier" schreibende Christian Friedrich P f e f f e l . 3 3 ) Pfeffel stand im Dienst der französischen Regierung und kannte die dortigen Verhältnisse aus eigener Anschauung und Tätigkeit. Er berichtete zwar im Sinne seines Dienstherren, aber eben sehr sachkundig, und so ist es nicht verwunderlich, daß die 'Stats-Anzeigen' ihm, namentlich als die Entwicklung in Frankreich kritischer wurde, bereitwillig ihre Spalten öffneten. Empfahl sich Pfeffel durch seine Sachkenntnis, so waren die 'Stats-Anzeigen' ihm von Wert, weil er durch dieses bekannte Organ auf die Öffentlichkeit in Deutschland einwirken konnte, von der er sagte, sie werde KamCatka und Otahiti bald besser kennen als das Nachbarland Frankreich. "Läuft es dem Plane der Stats-Anzeigen nicht zuwider", so empfahl er sich Schlözer, "sich etwas mer mit diesem fremden Lande (eben Frankreich) zu beschäftigen. . ., so will ich versuchen, diese Lücke von Kenntnissen nach und nach a u s z u f ü l l e n " . 3 4 ) Die Kontroverse, die Pfeffel in den Seiten der 'Stats-Anzeigen' in den folgenden Jahren mit Büsching, dem Herausgeber der 'Wöchentlichen Nachrichten von neuen geographischen, statistischen u.a. Büchern' namentlich über die finanzielle Situation Frankreichs führte, schärfte das Bewußtsein für die Probleme des Nachbarlands und bot eine hervorragende Hintergrundinformation für die Ereignisse der Französischen Revolution. Obgleich Pfeffel die offizielle französische Politik und die finanzielle Situation des vorrevolutionären Frankreich zu positiv beurteilte, gab er doch ein im ganzen zutreffendes Bild von den Möglichkeiten und der ökonomischen Macht Frankreichs, die in den Revolutionskriegen — sichtbar für ganz Europa — hervortreten sollten. Die einzelnen Etappen der Entwicklung bis hin zur Revolution konnte'der Leser in den 'Stats-Anzeigen' sehr genau verfolgen. Da wurde über die Einberufung der Assemblées provinciales, über die Sitzungen der Assemblée de Notables ebenso wie über die Einberufung der Etats généraux oder die Rolle der Parlements berichtet und der Finanzreformplan Neckers und Calonnes bis ins Detail erörtert. Schlözer hat in den 'Stats-Anzeigen' selbst mehrfach das Wort ergriffen, vor allem zum Problem der Staatsform und der politischen Freiheit. Dabei war er stets als scharfer Kritiker der sogenannten "Frei-Staten" aristokratisch-demokratischer Prägung aufgetreten, zu denen er vor allem die Schweiz, Holland, Venedig und Genua, zuweilen auch Polen rechnete. "Welcher Schwindel treibt die Leute", so fragt er mit ätzender Schärfe, "Monarchie und Despotie für unzertrennliche Begriffe zu halten" und "als ausgemacht anzunehmen, daß Freiheit,freilich das höchste Gut der Menschheit, weit unsicherer bei Einem Erbherrscher, als bei DeuxCent erblichen oder alljärlich veränderten RatsHerrn, aufgehoben sei? "35) Schlözer bekannte sich offen zu dem von Georg III. in seiner Thronrede (5. Dezember 1782) aufgestellten Grundsatz, "zum Genüsse einer gesetzmäßigen Freiheit sei eine Monarchie notwendig". Von dieser Auffassung her überrascht es wenig, daß 33) Zu Pfeffel vgl. 'Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 25, S. 612 f f . 34) ' S t A ' , IV (1783), S. 326. 35) ' S t A ' , IV (1783), Vorbericht.

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Schlözer — solange das Königtum in Frankreich bestehen blieb — der Französischen Revolution keineswegs ablehnend gegenüberstand. Im Oktober 1791 anerkannte er, daß die Französische Revolution "ser viel Gutes für die gesammte Menschheit gestiftet"36) habe. Freilich — und dies gehört unmittelbar in die Einschätzung dieses Ereignisses hinein — schien sie ihm nur die Notwendigkeit der aufgeklärten Monarchie bewiesen zu haben: "sie lerte z.Ex. praktisch, was wir Deutsche schon längst, aber nur theoretisch, wußten. . ., daß der Souverän der erste Statsßeamte sei . . . und bei aller seiner Unverletzlichkeit, seinem Volke Red und Antwort von seinen Handlungen schuldig sei". 37) Eben weil Frankreich in Schlözers Perspektive den Prozeß der Aufklärung in der Regierungspraxis nicht mitgemacht habe, weil "die Regierung keine Oren für MenschenRechte hatte, und sich steif gegen ihr ZeitAlter sperrte", war die Revolution hier "notwendig" geworden. Dennoch vollzieht Schlözer die Erörterung der durch die Revolution aufgeworfenen Probleme im Blick auf das deutsche Publikum durchaus unter dem Motto: tua res agitur. Den Impuls zur Veränderung, der von Frankreich ausging, hielt er für segensreich, ohne die Form, den Modus der Veränderung zu begrüßen. "Uns Deutsche", so schrieb er, "beware der liebe Gott vor einer Revolution auf diese Weise, wie sie in Frankreich erfolgt ist"38). Anstelle dessen will Schlözer das aufklärerische Reformprogramm in Deutschland vorantreiben und hierzu den Modus der Französischen Revolution als abschreckendes Beispiel nutzen. Die Mißstände in Deutschland, die in Schlözers Periodika immer wieder gegeißelt worden wareü, sollten, ja mußten, im Sinne der Aufklärung behoben werden: "one Revolution, one Einwirkung des Volkes"39), und im Vertrauen auf die Kraft der Vernunft. Dem Schriftsteller — und das beleuchtet schlaglichtartig Schlözers Selbstverständnis — erkannte er die Aufgabe zu, die Mißstände zu "denuncieren" und "ins gehörige Licht"40) zu stellen. Was hier formuliert wurde, war die Theorie der "Revolution von oben", deren wirksame suggestive Kraft den Weg Deutschlands im folgenden Jahrhundert und darüber hinaus maßgeblich prägen sollte: "Menschenfreundliche und aufgeklärte Regierungen müssen selbst an diese Verbesserung Hand anlegen: so kommen wir Deutsche, wenn gleich langsamer, aber desto sichrer, one Mord und Brand, gerade so weit, oder wills Gott noch weiter, als die große französische Nation".41) Es blieb ein wichtiger Gedanke, der von Schlözer immer wieder vorgetragen wurde und die 'Stats-Anzeigen' dieser Jahre wie ein roter Faden durchläuft: das Thema Französische Revolution immer auch von den möglichen Auswirkungen auf 36) 'StA', X V I (1791), S. 456. 37) Daselbst, S. 457. 38) Daselbst. 39) Daselbst. 40) Daselbst, S. 458. 41) Daselbst.

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Deutschland her zu beleuchten, den positiven wie den negativen. S o wurde in den 'Stats-Anzeigen' die Gefahr erkannt, die ehedem schon als Folge des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges prophezeit worden war, daß der Gewalt die Reaktion folge, daß der gewaltsame Kampf für die Freiheit die Freiheit selbst ersticken werde. Freilich — die 'Stats-Anzeigen' blieben ein Organ der Aufklärung des Publikums, der Aufklärung von Mißständen und ein Organ der Reform. Bei aller Skepsis dominierte doch das Vertrauen in die Kraft der Vernunft. S o ist es nicht ohne tieferen Sinn, daß das letzte Exemplar der 'StatSrAnzeigen' — erschienen " a m letzten Tag des GräuelJars 1 7 9 3 " — mit einem Reformappell Schlözers schloß:42) " R e f o r m e n brauchen wir Deutsche; unmöglich kans immer beim Alten (das meist nicht einmal Alt, sondern M e d i u m Aevums Wust, ist) bleiben: aber vor Revolutionen bewar uns, lieber Herre G o t t ! Die brauchen wir auch nicht, die dürfen wir nicht fürchten: alles was geschehen muß, läßt sich, über kurz oder über lang, von sachten und sanften A b ä n derungen sicher erwarten. Denn w o ist ein Land in allen 5 ErdTeilen, w o wäre Aufklärung höher gestiegen, und vorzüglich unter Herrschern und Edlen, allgemeiner verbreitet wäre, als in Deutschland? "

Der Optimismus Schlözers erwies sich als falsch. Die unter dem Titel 'Neue StatsAnzeigen' geplante Fortführung des Periodikums wurde durch staatliches Verbot verhindert. Schlözer hatte im Grunde seit Jahren mit dieser Möglichkeit gerechnet. Und er war fest entschlossen, seine publizistische Tätigkeit von der Existenz der Pressefreiheit abhängig zu machen. " . . . so lange der Altar stehet", schrieb er 1782, " d e n die George, und Ihre gleich unsterbliche StatsBeamte, der noch hie und da im Gedränge befindlichen Freiheit und Warheit, hier in Göttingen errichtet, und bisher, unter lautem Dank und Segen der Zeitgenossen (gewißlich auch der Nachwelt), mächtig geschützt, haben: so lange — aber auch länger nicht — soll dieser Briefwechsel, oder wie er seit Ostern heißt, sollen diese StatsAnzeigen, ununterbrochen fortgesetzt werden".43) Der " A l t a r " stand nun — zehn Jahre später — in Göttingen nicht mehr. Die revolutionäre Gewalt hatte die Gewalt der Reaktion hervorgebracht und der Freiheit vorerst in beiden sich gegenüberstehenden Lagern den Boden weggezogen. Der Impuls aufklärerischen Reformwillens kam — anders als Schlözer gehofft hatte, aber dennoch als Folge der Revolution — schließlich zum Tragen, freilich nur halb, mit halbem Herzen vertreten, und auch nur vorübergehend. Was Schlözer vor und während der Revolution noch mit einigem Recht für den besseren Weg gehalten hatte, wurde unter den Bedingungen einer sich im Zuge der Industrialisierung rascher wandelnden Zeit zum Deutschen Verhängnis.

42) ' S t A ' , X V I I I (1793), S. 560. 43) ' S t A ' , I (1782), Allgemeiner Vorbericht.

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Eckehard Schneider DEUTSCHE VIERTELJAHRSSCHRIFT (1838-1870) Wir schreiben das Jahr 1838. Durch die Metternich'sche Reaktion und die Karlsbader Beschlüsse war die Begeisterung der Freiheitskriege verflogen. Die europäische Erschütterung durch die Juli-Revolution, die als Wiedergeburt und als Vollendung der Ereignisse von 1789 verstanden wurde, und die als politische Revolution und Ideenmacht lebendig blieb, lag zehn Jahre zurück. Der kurzen Glanzzeit des Journalismus von 1830 folgte das Zeitungssterben, ein Desinteresse des Publikums, eine allgemeine Müdigkeit. Die " A b k e h r von einem idealistischen Denken und romantischen Gefühlsüberschwang zu einer auf Tatsachen und Erfahrung gestützten Grundeinstellung" prägt die Zeit. 1 ) Die vierziger Jahre tragen das Bestreben in sich, einen Ausgleich zu schaffen zwischen Theorie und Praxis, Wissenschaft und Leben. Als im Januar 1838 der Inhaber eines der angesehendsten deutschen Verlagshäuser, Johann Georg IV. Freiherr Cotta von Cottendorf, der gebildeten Öffentlichkeit das erste Heft der 'Deutschen Vierteljahrsschrift'2) vorlegte, hieß es dann auch im vorangestellten Programm " W a s wir bezwecken":^) " U m Mitarbeitern und Lesern . . . mit wenigen Worten zu wiederholen, was wir zu erreichen wünschen, so ist es eine Reihe von Aufsätzen, welche die praktischen Fragen feststellen, zusammenfassend, berichtigend behandeln, leading articles für den jeweiligen Standpunkt des geistigen Lebens, nicht aufgefaßt im Geiste eines Tagblatts, sondern in dem, der einer Viertel-Jahrsschrift N o t h thut, also mit Entfernung der Leidenschaften des Tags, mit besonnener Beachtung des Nothwendigen und Wichtigeren. . . mit der ruhigen, würdigen Betonung, welche der Wissenschaft ziemt.. ."

Schon die Inserate der ebenfalls bei Cotta erscheinenden Augsburger 'Allgemeinen Zeitung' in den letzten beiden Monaten des Jahres 1837 versprachen in der Vorausschau auf die Zeitschrift "eine Verbindung zwischen dem einsamen Arbeitszimmer und den verschiedenartigsten Lebenskreisen", kurz alles, " w a s das Reich der Geister bewegt". Die "Abhandlungen sollten, wenn auch wissenschaftlich, doch zugleich praktisch sein, Zeitfragen beurteilen".^) Gemäß dieser ZielIi

Joachim Kirchner: Das deutsche Zeitschriftenwesen, seine Geschichte u n d seine Probleme, Bd. 2, Wiesbaden 1962, S. 68.

2) Diese Schreibweise findet sich in der Bogenzeile aller Hefte. Die beiden ersten tragen den Titel 'Deutsche Viertel-Jahrsschrift', bis zum 2. Heft 1856 heißt es 'Deutsche Vierteljahrs Schrift' und die letzten 58 Ausgaben sind betitelt 'Deutsche Vierteljahrs-Schrift'. 3) ' D V S ' , 1. H. 1838, S. V I . 4) 'Allgemeine Zeitung' (Augsburg) 40. Jg./Nr. 553/4 (9. November 1837) ao. Beil. S. 2214, zit. nach: Franz Deitmaring: Die Deutsche Vierteljahrsschrift, 1838—1869. E i n Beitrag zur Geschichte der deutschen Presse, phil. Diss. Münster 1922 (Masch.Schr.), S. 10. — Das letzte Zitat entstammt der Autobiographie des Mitbegründers W. Menzel; vgl. K o n r a d Menzel (Hrsg.): Wolfgang Menzel's Denwürdigkeiten, Bielefeld-Leipzig 1877, S. 350. Vgl. z u m Quellenwert dieser Erinnerungen den Artikel " M e n z e l " von Hermann Fischer, in: 'Allgemeine Deutsche Biographie' C A D B ' ) , Bd. 21, Leipzig 1885, S. 383.

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setzung bieten die einzelnen Hefte ein breites Spektrum der vielfältigsten Themen. Die Mitarbeiter sind oftmals Gelehrte von höchstem Rang. Begründet wurde diese Zeitschrift im Stil der englischen Reviews im Jahre 1837 von den beiden späteren Herausgebern Georg von Cotta und Friedrich von Kölle und dem Redakteur des Cotta'schen Literaturblattes, das als selbständige Beigabe zum 'Morgenblatt' erschien, Wolfgang Menzel.5) Menzel (1798—1873) war ein goethefeindlicher Literaturpapst mit germanisch-christlichen Anschauungen, der durch seine "polemische Natur"6) das Erscheinen der Zeitschrift belastete, da die 'Deutsche Vierteljahrsschrift' ('DVS') als das Organ jenes Kritikers gesehen wurde, "der in leidenschaftlichem Kampfe mit mehrfachen, wissenschaftlichen Gegnern in seinem Kredite Schiffbruch gelitten"?) hatte. Für die 'DVS' war es ein Vorteil, daß dieser gar zu fleißige und vielseitige Schriftsteller nur wenige Artikel veröffentlicht hat.8) Die 'DVS' war Cottas eigenste Schöpfung. Sie war ihm ans Herz gewachsen und er betreute sie wie keines seiner anderen Institute, wie er die in seinem Verlag geführten publizistischen Unternehmungen nannte. Johann Georg von Cotta (1796—1863) war der Sohn jenes genialen zu Lebzeiten berühmten Johann Friedrich von Cotta (1764—1832), des Verlegers und Freundes von Goethe und Schiller, des Begründers des Tageblattes 'Allgemeine Zeitung', von dem Heinrich Heine einmal sagte, daß er seine "Hand über die ganze Welt"9) habe. Georg von Cotta studierte nach seiner Stuttgarter Gymnasialzeit Philosophie, Ästhetik und Politik in Göttingen, Heidelberg und Tübingen. 1817 begleitete er — gesundheitlich geschwächt durch ein Lungen- und Herzleiden — seinen Vater nach Rom, wo er vielen geistig und künstlerisch hochstehenden Menschen begegnete. Gekräftigt zurückgekehrt, trat er 21 jährig in den Verlag ein. Seine Tätigkeit unterbrach er jedoch in den Jahren 1819—1820, in denen er in der Funktion eines Legationsrates zuerst in Frankfurt, dann in Wien als Gesandter der württembergischen Regierung an der Wiener Schlußakte mitarbeitete. Vorzeitig kehrte er auf Bitten seines Vaters in die Buchhandlung zurück. Aus einem sehr ergebenen Brief an König Friedrich Wilhelm IV., in dem er um die Aufhebung des Verbots der in Preußen in Ungnade gefallenen 'Allgemeinen Zeitung' bittet, erfahren wir, daß der Eintritt ins Familiengeschäft nicht die "freie Wahl seines Lebensweges" war. Vielmehr war er "nach dem Willen seines verstorbenen Va-

5) Konrad Menzel (Hrsg.), a.a.O., S. 63. 6) Hermann Marggraff: Deutschlands jüngste Literatur-und Culturepoche. Characteristiken. Leipzig 1839, S. 279. 7) 'Allgemeine Literatur-Zeitung' (Halle) 55. Jg./Nr. 204 (November 1839), zit. nach: Franz Deitmaring, a.a.O., S. 14. 8) ' A D B ' , a.a.O., S. 382. 9) Brief Heines an Georg von Cotta, zit. nach: Liselotte Lohrer: Cotta. Geschichte eines Verlags, 1 6 5 9 - 1 9 5 9 , Stuttgart 1959, S. 115.

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ters... zur Leitung der bedeutendsten Preßmittel" Deutschlands berufen worden. 10) Es folgte eine kurze Zeit schriftstellerischer Tätigkeit. Er verfaßte die im väterlichen Verlag a n o n y m erschienene Broschüre 'Die Schweiz aus dem europäischen Standpunkte', in der er den Gedanken eines neutralen Gebietes zwischen den Großmächten entwickelt Seit 1822 erstellte Georg von Cotta alljährlich ein Sachregister zur 'Allgemeinen Zeitung', das er bis zum Jahrgang 1861 fortführte. V o n 1824 bis 1826 teilte er sich mit seinem Vater die Redaktion des 'Morgenblatts'. Aber der im Alter schwierig zu behandelnde Vater, der es zeitlebens gewohnt war, alles selbst zu tun, hat den S o h n nicht recht an die Geschäfte herangelassen. Nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1832 konzentrierte sich Georg mit Erfolg auf die buchhändlerischen Aufgaben und sanierte den mit einer Million Gulden belasteten Familienbesitz, indem er die abseits liegenden Unternehmungen des Vaters abstieß.11) In diesen ersten Jahren der alleinigen Verantwortung arbeitete er sich mit Geschick ein und ordnete vieles neu. Er gliederte zwei bedeutende Firmen, Göschen in Leipzig und die Vogel'sche Bibelanstalt in Landshut, dem eigenen Hause an. Im Buchverlag führte er die Klassikertradition fort, die er durch die 'Volksbibliothek der deutschen Klassiker' verbreiterte. A n neuen Autoren auf literarischem Gebiet gewann er Platen, Lenau, Mörike, Klinkel, Freiligrath, Dingelstedt, Hebbel, die Droste, Simrock und Geibel, in der wissenschaftlichen Sparte neben Ranke und Gregorovius Autoren, auf die noch Bezug genommen wird. Als Ergebnis dieser Zeit der Konsolidierung und als Zeichen dafür, daß der "neue Cotta" die Aufgaben des Verlags fest in der Hand hält, können wir die Gründung der ' D V S ' sehen. Als Persönlichkeit — sie erschließt sich uns vor allem aus seinen Briefen und dem Führungsstil seiner Institute — ist Cotta durch und durch statisch, ein Systematiker, der von früh gefaßten und unbeirrbar verfolgten sittlichen Grundsätzen geleitet ist. Er ist ein ethisch und religiös bestimmter Mensch, für den aber alles Pflicht bleibt. Kein Überfluß ist in ihm, jede seiner Lebensäußerungen atmet Gemessenheit und Würde. Im Briefstil ist er selten frei von kurialer Feierlichkeit. " N o n inferiora secutus" war seine Devise, "noblesse oblige" trat nach seiner Nobilitierung hinzu. A n seinen Prinzipien festhaltend, fällt nie und nirgends ein Schatten auf sein Tun. Sein Charakter stand den Zeitgenossen schon eindeutig und unanfechtbar vor Augen. Fast ohne Entwicklung ist er früh fertig. Die zahlreichen Porträts zeigen mit geringer Wandlung immer das gleiche Gesicht; das Altersfoto enthüllt die Müdigkeit und Einsamkeit des Mannes, der sich sein gan-

10) Herbert Schiller: Briefe an Cotta, Bd. 3, S t u t t g a r t - B e r l i n 1934, S. 63. Vgl. die freundliche Würdigung von Ernst Herbert Lehmann: Briefe, die von Wert sind, in: 'ZeitungsVerlag' (Berlin) 36. Jg./Nr. 22 (1. Juni 1935), S. 3 8 4 f. 11)

In einem Erbvergleich einigte sich Georg mit seiner Schwester Ida auf hälftige Teilung und gemeinsame Weiterführung der Geschäfte, vor allem des Verlags. Georg von Cotta leitete ihn, sein Schwager Frhr. Hermann von Reischach stand ihm dabei zur Seite. V g l Liselotte Lohrer, a.a.O., S. 96.

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zes Leben lang in eiserne Zucht genommen h a t . 1 2 ) Geleitet hat Cotta die ' D V S ' gemäß der großdeutschen Gesinnung des Verlagshauses. Das Adjektiv "deutsche" im Titel ist so zu verstehen. Aus einem Brief Georgs vom 6. Mai 1851 an den leitenden Redakteur der 'Allgemeinen Zeitung', Gustav Kolb, erfahren wir das Cotta'sche Programm, das er mit allen seinen Instituten zu erfüllen betrieb: "Geistige Versöhnung zwischen Österreich und Deutschland, Vermittlung des ersteren im letzteren." 13) Noch aber prägt das Gesicht der Zeitschrift ein anderer Mann, nämlich der Mitbegründer und Mitherausgeber der ersten Jahre, Friedrich von Kölle (1781 — 1848). In ihm sah die Kritik der Zeit den ersten Unternehmer und H a u p t r e d a k t e u r . 1 4 ) Kölle ist eine vielseitige Natur, Diplomat und Literat, der, sehr auf das Praktische gerichtet, sich nicht in Abstraktionen verliert. Er ist auch ein begeisterter Kunstfreund. In der Politik ist er freisinnig, ohne Parteisucht. Seinem 1844 veröffentlichten Aufsatzband 'Einige Anliegen Deutschlands', der 18 seiner bis 1844 in der ' D V S ' publizierten Artikel sammelt, hat er als Motto vorangestellt: "Einheit im Nothwendigen, Freiheit im Zweifelhaften, Milde in Allem". Seine publizistische Absicht hat er im Vorwort der angeführten Zusammenstellung selbst charakterisiert: " S i e (die vorgelegten Aufsätze, d.Verf.) sind wirklich insgesamt Kinder des Bestrebens, den Vorschritt mit der geschichtlichen Grundlage zu vermitteln, die Erscheinungen unserer Zeit lieber zu erklären, als ohne Weiteres anzugreifen, und des Bedürfnisses, die Mittel aufzusuchen und anzugeben, durch welche sie zum Besten, oder wenigstens zum Besseren gewendet werden können." 15) In diesem Sinne tadelt er "Amtliche Vielschreiberei" und " D i e Nachahmungssucht der Deutschen". Sein Beitrag über "Freimaurerei", der die Wirkungsgeschichte dieses Bundes, der so erlesene Köpfe wie Friedrich der Große, Goethe, Herder, Lessing, Wieland heranzog, nachzeichnet, lenkt die Kritik der katholischen Publizistik auf das noch junge Organ.16) Nur einige Male sind seine Artikel mit seinem Namen versehen, oft tragen sie heute nicht mehr auszumachende Abkürzungen wie H.E., A.M., B.L., M „ A.M., P.S.M.

12) Vgl. Herbert Schiller: Georg von Cotta, in: Hermann Haering/Otto Hohenstatt (Hrsg.): Schwäbische Lebensbilder, Bd. 2, Stuttgart 1941, S. 5 4 - 6 6 und Liselotte Lohrer, a.a.O., S. 96 ff. 13) Vgl. zur programmatischen Bedeutung der Namensgebung einer Zeitschrift das Kapitel über den Titel in: Ernst Herbert Lehmann: Einführung in die Zeitschriftenkunde, Leipzig 1936, S. 8 6 — 9 0 und Wilmont Haacke: Erscheinung und Begriff der politischen Zeitschrift, Tübingen 1968, S. 9, 18. 14) 'Allgemeine Literatur-Zeitung' (Halle) 55. Jg./Nr. 2 0 4 (November 1839), zit. nach: Franz Deitmaring, a.a.O., S. 24. Vgl. die Entgegnung Kölles, in: ' D V S ' , 1. H. 1840, Nachw. S. 4 1 5 und die Anmkg. 4 bei Herbert Schiller: Briefe an Cotta, a.a.O., S. 125. E i n knappes Lebensbild Kölles gibt A. Witterlin in seinem Artikel " K ö l l e " , in: ' A D B ' , Bd. 16, 1882, S. 4 7 3 - 4 7 6 . 151 Friedrich Kölle: Einige Anliegen Deutschlands, Stuttgart 1844, S. I, I I I f. 16) A m Beginne des neunten Lebensjahrs, in: ' D V S ' , 1. H. 1846, S. 1 f.

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Einfach in ihrer A u f m a c h u n g , broschiert, ohne besonderen Einband, o h n e Illustrationen u n d Beilagen, gelegentlich mit Tabellen und Übersichten, erschien die ' D V S ' vorangekündigt in der 'Allgemeinen Zeitung' in handlichem Quartformat in Frakturdruck auf Velinpapier z u m Preis v o n 3 fl. oder 1 Rthr. 2 0 Gr. Ein Heft enthielt acht bis zehn Aufsätze auf 3 5 0 — 4 0 0 Seiten. In den turbulenten Jahren der Revolution von 1848, als sich die mitteilenswerten u n d zu kommentierenden Ereignisse jagten, war an einer vierteljährlichen Herausgabe nicht mehr festzuhalten. Die A b h a n d l u n g e n drohten den Zusammenhang mit dem Geschehen zu verlieren. S o erschien mit dem dritten Heft des Jahres 1 8 4 8 erstmals eine Ausgabe der ' D V S ' in zwei " A b t h e i l u n g e n " . U n d ganz gegen die Gewohnheit — u n d später auch nicht wieder — begab sich die sonst Würde u n d Gemessenheit ausstrahlende Zeitschrift mit dem einleitenden Beitrag dieser allerersten " A b t h e i l u n g " in die Arena des politischen Tageskampfes. David Friedrich Strauß ( 1 8 0 8 — 1 8 7 4 ) , der mit seinem Hauptwerk " D a s Leben Jesu, kritisch bearbeitet" (2 Bde., 1 8 3 5 1836) in dem er die Geschichtlichkeit Jesu der Evangelienberichte preisgab zugunsten einer unbewußten M y t h e n b i l d u n g in den urchristlichen Gemeinden, die Bürger verschreckt u n d die Theologen angegriffen hatte, publizierte hier seine 'Sechs theologisch-politischen Volksreden'. Er agitierte für eine Ä n d e r u n g des Wahlrechts zum Frankfurter Parlament. Mit dieser Hinwendung zur Zeitgeschichte folgt die ' D V S ' einer Wendung des Verlagshauses, das mit d e m Jahr 1 8 4 8 sich vermehrt — auch mit den anderen Instituten — den aktuellen politischen Ereignissen widmet. Dieser Linie ist die ' D V S ' nicht konsequent und auch nicht lange gefolgt. Die Regelung, statt eines großen Heftes alle drei Monate zwei kleinere Publikationen im A b s t a n d von etwa sechs Wochen herauszugeben, hat der Verlag bis z u m zweiten Heft 1 8 5 0 sechsmal getroffen. Häufiger erst — noch sechzehnmal — findet sich diese Praxis in den Heften, die im letzten Jahrzehnt dieser Reihe dem Publikum vorgelegt wurden. Entscheidend war aber jetzt nicht mehr das Bemühen, den A r t i k e l n ungeschmälerte Aktualität z u k o m m e n zu lassen, — dagegen sprechen die zeitlos-allgemein gehaltenen Themen. Der wahre G r u n d liegt darin, daß der Redaktion in dieser letzten Periode nicht mehr genug Manuskripte zur Verfügung standen. S o tragen die Betrachtungen dieser Jahre oft ein Entstehungsdatum, das nur knapp vor dem der Veröffentlichung liegt. Seit d e m zweiten Heft des Jahres 1 8 3 9 ziert die sonst schmucklose Ausstattung der Hefte auf dem Titelblatt eine kleine Vignette: dargestellt ist das Wappentier der Cottas, der Greif: nach rechts schreitend auf einem Sockel mit der römischen Zahl M D C X L , dem vermeindlichen Gründungsdatum des Hauses. A u f der Titelseite des ersten Heftes des die Tradition erschütternden Jahres 1 8 4 8 erblicken wir das Verlagssignet ein letztes Mal. 17) In diese Zeit der Wirren und Verwirrungen fällt auch der abrupte A b b r u c h einer anderen Übung, der das Erscheinungsbild ein wenig veränderte: Seit dem dritten Heft des Jahres 1 8 3 8 waren dem A u f satzteil " K u r z e N o t i z e n " angehängt, die mit dem letzten Heft des Jahres 1 8 4 7 17) Liselotte Lohrer, a.a.O., S. 120. 131

fortfallen und nicht wieder aufgenommen werden. Sie stellten einen — wenn auch unvollständigen — Beitrag zur Zeitgeschichte dar. Es waren Personalnotizen, Universitätsnachrichten, Literaturberichte in kurzen Auszügen aus dem Menzel' sehen Literaturblatt und viele Mitteilungen aus dem Ausland. Diese " K u r z e n Notizen" und die Abhandlungen allgemeiner A r t bildeten gewissermaßen das Feuilleton der Zeitschrift. Die Beiträge der 'DVS' waren in den ersten Jahrgängen einige Male m i t vollem Namen gezeichnet. Viel öfters erschienen die Aufsätze anonym oder Pseudonym; erst nach Cottas Tod 1863 trat eine größere Offenheit hervor. In den letzten Jahrgängen nennt jeder Artikel seinen Verfasser. 18) Mag dies in zensurgeplagter Zeit — doch gerade das konstitutionell regierte Württemberg ist hier eine erfreuliche Ausnahme — dem um die Zensur stets besorgten Cotta 19) gerechtfertigt erscheinen, so hat gerade dieser unpersönliche Zug der Verbreitung der Zeitschrift sehr geschadet. Doch anderes kommt hinzu. Die Stoffbereiche Politik, Wirtschaft und geistiges Leben sind in den 132 Heften der 'DVS' nahezu ausgeglichen behandelt, wobei die Politik der Wirtschaft und diese gegenüber dem Schöngeistigen überwiegt. In den politischen Schriften liegt der Primat mit der größeren Anzahl der Aufsätze auf der Innenpolitik. Hier werden bevorzugt die deutsche Frage erörtert, ferner militärische Überlegungen, Verfassungsprobleme und das Verhältnis Preußens zu Österreich. Die Arbeiten zur Außenpolitik streifen die politischen Krisen der Zeit und bedenken die Beziehungen zu Frankreich, England und Rußland. V o n den Bundesstaaten interessiert vor allem Österreich,weniger o f t wird Preußen berücksichtigt. Rein statistisch rangieren dazwischen die Mittelstaaten, in erster Linie Württemberg. In den Darstellungen zur Nationalökonomie überwiegen die Artikel zum Handel, speziell zur deutsch- österreichischen Zolleinigung, zur Geldwirtschaft, zum Verkehr und auch zur sozialen Frage. Selten werden technische und industrielle Probleme diskutiert.20) Das starke Aufgreifen wirtschaftlicher Fragen in der ' D V S ' zu diesem frühen Zeitpunkt spiegelt schon das hohe

18) Entgegen der Mitteilung Franz Deitmarings (a.a.O., S. II), daß die Cotta'sche Buchhandlung in Stuttgart keine Akten und Belege über die 'DSV' besitze, erklärt das Schiller-Nationalmuseum in Marbach am Neckar, in dem als Leihgabe der 'Stuttgarter Zeitung' seit 1952 die Cotta'sche Handschriftensammlung betreut wird, in einem Brief an d. Verf. vom 6. November 1972: " A n Unterlagen sind vorhanden: Briefe der Autoren an Cotta und Kopien der Antworten des Verlages. Kontobuch mit Abrechnung sämtlicher Artikel. Druckauftragsbücher, in denen Auflagenhöhe und Unkosten des Druckes verzeichnet sind. Das Archiv ist in dieser Zeit sehr ergiebig, eine Vollständigkeit kann man nie garantieren." Dies mit der Information aus dem: Bestandsverzeichnis des Cotta-Archivs. Veröffentlichung der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. 25, Stuttgart 1963, S. 21: "Lückenlos vorhanden ist die 'Deutsche Vierteljahrsschrift', über die ihr Honorarbuch so erschöpfende Auskunft gibt, daß sie gleichfalls als Redaktionsexemplar bezeichnet werden kann" bedeutet — und so auch im Brief an d. Verf.: "alle Autoren der Beiträge sind bekannt". 19) Vgl. Herbert Schiller: Briefe an Cotta, a.a.O., S. 200 f., 454. 20) Vgl. das "nach Fächern und innerhalb derselben nach Zeitfolge" geordnete Register der ersten 120 Hefte, in: 'DVS', 1. H. 1868, S. 297 ff.

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wissenschaftliche Niveau ihrer Autoren, die das erst Beginnende als das künftig Bestimmende erkannten. Der Anspruch, den die 'DVS' an den Leser stellt, ist hoch. Ein charakteristischer Zug der Zeitschrift ist ihre starke wissenschaftliche Fundierung und Betätigung. " M i t wissenschaftlicher Methode werden häufig auch politische, wirtschaftliche, literarische und religiöse Fragen erörtert. Gewisse Ereignisse werden in ihren historischen und soziologischen Zusammenhängen o f t so weit zurückverfolgt, daß dabei die Aktualität verlorengeht. Das führt gelegentlich zur Errichtung von Systemen, denen der Boden der realen Tatsachen f e h l t . " Wie an Beispielen nachgewiesen ist, geht die "Vernachlässigung wesentlicher Gegenwartsfragen. . . selbst für eine Vierteljahrsschrift zu w e i t " . Aber auch von der formalen Seite her verlangte die 'DVS' ein Publikum, das über eine erhebliche Bildung und viel Zeit verfügte, denn die "Verfasser schreiben viel, gehen gelegentlich am Thema vorbei, wiederholen sich und bauen o f t so unsystematisch auf, daß das Verständnis schwer wird."21) Den Stil — mitunter bildreich und schwülstig — kennzeichnet eine gelehrte Schwerfälligkeit, die der Zeit im allgemeinen eigen war. Die Aufsätze sind auch durchweg sehr lang, oftmals umfassen sie 5 0 — 1 0 0 Seiten. Die größeren Studien sind meist aber untergliedert, z.T. mit Kapitelüberschriften versehen und bewahren sich dadurch Übersichtlichkeit. A m Ende befinden sich manchmal Zusammenfassungen, die das Verstehen erleichtern. Ein großer Teil der Arbeiten aber — besonders Beiträge, die geistige Probleme abhandeln — lassen diese Übersichtlichkeit vermissen. So bereitete die 'DVS' schon in Aufbau und Sprache Schwierigkeiten, die einer starken Verbreitung entgegenstanden. Zwangsläufig beschränkte sich die Vierteljahrsschrift auf einen einflußreichen, nicht zahlreichen Kreis von Lesern.22) Eine "Redaktion im engeren Sinne des Worts" sollte es nicht geben, so lautete jedenfalls das V o r w o r t des 1838 im Januar vorgestellten Heftes. Und Wolfgang Menzel, der Mitbegründer und Mitarbeiter der ersten Jahre, erinnert sich in seiner gegen Ende des Jahrhunderts erschienenen Autobiographie: "Meinem Rate gemäß wurde keine Redaktion genannt, überhaupt keine eigentliche Redaktion aufgestellt, sondern die Garantie der in ganz Deutschland geachteten Verlagsbuchhandlung überlassen."23) Das Impressum lautete daher auch ohne Angabe einer Redaktion: "Stuttgart und Tübingen. Im Verlag und unter Verantwortlichkeit der J.G.Cotta'schen B u c h h a n d l u n g " . 2 4 ) £ s hat dennoch eine Redaktion und redigierende Persönlichkeiten gegeben: allen voran den engagierten Georg von Cotta und neben ihm den Mitherausgeber und Hauptmitarbeiter Friedrich von 21) Ingeborg B o l d t : Großdeutsch-bürgerliche Z e i t k r i t i k zwischen Revolution u n d Reichsgründung, dargestellt an Cottas Deutscher Vierteljahrsschrift, 1 8 5 0 — 1 8 7 0 , p h i l . Diss. Göttingen 1955 (Masch.Sehr.), S. 4 3 f. 22) A m Beginne des neunten Lebensjahrs, a.a.O., S. 3. 23) Konrad Menzel (Hrsg.), a.a.O., S. 3 6 3 . 24) Z u r Bedeutung des Impressums vgl. W i l m o n t Haacke: Die politische Z e i t s c h r i f t , 1 6 6 5 — 1965, Bd. 1, Stuttgart 1968, S. 48. Über den wechselnden Verlagsort vgl. Liselotte Lohrer, a.a.O., S. 120.

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Kölle. Nach Cottas T o d stand der Redakteur des Cotta'schen 'Morgenblatts', Dr. Hermann Hauff (1800—1863), der Zeitschrift leitend nahe. Doch auch er verstarb noch im gleichen Jahr.25) Erste und treue Mitarbeiter des neuen Instituts waren bewährte Redakteure aus der Cotta'schen Buchhandlung, — so Menzel und der Vetter und Freund Kölles, H. Hauff, der über die Naturwissenschaften, Völkerkunde und Kulturgeschichte referierte. Dr. Gustav Pfizer (1807—1890), der den poetischen Teil des 'Morgenblatts' betreute, erörterte religiöse und philosophische Fragen. Einen zweiten Kreis von Mitarbeitern gewinnt Cotta, indem er bei den Gelehrten selbst um Beiträge für sein junges Unternehmen anhält. Viele dieser Wissenschaftler waren ihm, Kölle oder Menzel bekannt, z.T. waren sie mit ihnen befreundet. Als ständige Autoren konnten sie aber nicht gewonnen werden. Aus Gefälligkeit und persönlicher Zuneigung steuerten sie meist einen einzigen Artikel bei. Das Bild der Zeitschrift haben sie mithin nicht entscheidend geprägt. Unter ihnen ragt der Name Alexander von Humboldts ( 1 7 6 9 - 1 8 5 9 ) heraus.26) Die Reihe derer, die an der ' D V S ' erheblicheren Anteil genommen haben, ist immens groß. In den 33 Jahren ihres Erscheinens sind regelmäßige Mitarbeiter der ersten Hefte verstorben, andere schieden in der Folge beruflicher oder familiärer Veränderungen aus, — an ihre "Stelle" traten neue Mitarbeiter. Männer der ersten Stunde und Autoren der ersten Jahre waren der Professor der Staatswissenschaften in Leipzig, Friedrich Bülau (1805—1859), der zugunsten des Proletariats und seiner Aufklärung schrieb, und der Vorkämpfer in der Sache des Zollvereins, Friedrich Nebenius (1785—1857), der bis 1843 mehrere Aufsätze publiziert hat. A u c h Karl Karmasch (1803—1873) zählt mit seinen orientierenden Darstellungen über die Industrie zu den fruchtbarsten Verfassern, die den Themenkreis Gewerbe und Handel, Steuern und Zölle bearbeiteten. In die erste Reihe der Mitarbeiter dieser frühen Jahre tritt der erst nach seinem T o d berühmt gewordene Nationalökonom Friedrich List (1789—1846). Nach bewegten Jahren und praktischer Tätigkeit in Amerika wieder nach Württemberg zurückgekehrt, formulierte er auf Anregung Cottas seine Gedanken über Freihandel und Schutzzölle. Dieser Beitrag in der ' D V S ' wurde die Keimzelle zu Lists bekanntestem Werk 'Das nationale System der politischen Ökonomie' (1841), das in der Cotta' sehen Buchhandlung in vier Jahren drei Auflagen erlebte. Cotta unterstützte in 25) Über die Zusammensetzung der Redaktion, besonders ihre Leitung nach Cottas Tod, kann nur das Cotta-Archiv in Marbach A u s k u n f t geben. Dies wäre aus der Korrespondenz zu ermitteln. Das Jahr 1863 markiert keinen Bruch in der geistigen Linie der Zeitschrift. Den Verlag übernimmt Georgs jüngster S o h n Carl, der jedoch erst 1876 alleiniger Geschäftsführer wird. Zur Bedeutung des Herausgebers einer Zeitschrift vgl. Hubert M a x : Wesen und Gestalt der politischen Zeitschrift. E i n Beitrag zur Geschichte des politischen Erziehungsprozesses des deutschen V o l k e s bis zu den Karlsbader Beschlüssen Essen 1942, S. 1 9 8 - 2 0 1 . 26) Das Autorenverzeichnis der in den ersten 120 Heften genannten Mitarbeiter gibt schnell A u s k u n f t über die nicht anonym publizierten Beiträge der Verfasser, in: ' D V S ' , 2. H. 1868, 2. Abth., S. 355 ff. Nähere A u s k u n f t gibt das Honorarbuch im Cotta-Archiv.

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der Württembergischen Kammer, der er von 1833—1849 angehörte, wie auch publizistisch Lists Eisenbahnpläne. Aus Dankbarkeit bescheinigte ihm List in der Vorrede: "Ich fühle mich gedrungen es hier öffentlich auszusprechen, daß der gegenwärtige Besitzer der berühmtesten Buchhandlung der Welt mir in der Sache der deutschen Eisenbahnen mehr Beistand geleistet hat als irgend jemand in Deutschland, und daß ich durch ihn aufgemuntert worden bin mit einer Skizze meines Systems in der Vierteljahrs-Schrift und hierauf mit dem gegenwärtigen Buch herauszutreten. "27) Mit großer Anhänglichkeit hat sich der Jurist Dr. Leopold August Warnkönig (1794—1866) der 'DVS' angenommen. Der politische Schriftsteller Ernst Moritz Arndt (1769—1866), der als Helfer des Freiherrn vom Stein mit leidenschaftlichen Flugschriften für die nationale Erhebung gegen Napoleon wirkte, meldet sich 1847 mit zwei Aufsätzen zu Wort; der im dritten Heft abgedruckte Beitrag wiederholt die "Hoffnungsrede vom Jahr 1810". Militärwissenschaftliche Abhandlungen flössen zumeist aus der Feder von Carl Eduard P(önit)z (1785—1858), der, vorbereitet durch Beiträge in der 'DVS', 1842 sein Werk 'Die Eisenbahn und ihre Benutzung als militärische Operationslinie' vorlegte. Seine Nachfolge hat Waldemar Streubel (1827—1873) angetreten, hinzu kommt Julius von Wickede (1819—1896), der meist anonym schrieb. Historisch-politische Themen behandelte Professor Chr. Friedrich Wurm (1803—1859) und später der Historiker Onno Klopp (1822-1903), der, wie viele Mitarbeiter der 'DVS', das Jahr 1848 freudig begrüßt hatte, aber in den fünfziger Jahren zu einer konservativen Haltung fand. Wilhelm Kiesselbach (1824-1872), der sich nach 1848 wieder volkswirtschaftlichen Studien zuwandte und sich für ein wirtschaftlich geeintes Mitteleuropa einsetzte, hat auch für andere Organe geschrieben. Dr. J.F. Faber, der sich als Pfarrer im Württemberg niederließ, sah es als seine Aufgabe an, der praktischen Politik der Regierung die geschichtsphilosophischen und kulturhistorischen Grundlagen zu geben. Auch Trauttwein von Belle (1832—1887) stand Cotta persönlich nahe. Gehindert, die Universitätslaufbahn einzuschlagen, wandte er sich der Publizistik zu. Zu den Autoren der 'DVS' zählte auch der führende Publizist der Zeit, der Privatgelehrte Constantin Frantz (1817—1891). Diese markante Persönlichkeit ist, wie viele andere Mitarbeiter der 'DVS', eine Übergangsnatur. Viele geistige Strömungen hat er in sich aufgenommen. Sein Denken hat oft scharfe Wendungen vollzogen. Aufklärerisches Erbe und romantisch konservativer Einfluß wirkten auf ihn ein. Vom Großdeutschen wird er seit 1848 zum sendungsbewußten Reichsdeutschen und in den sechziger Jahren zum förderalistischen Europäer. Einer der bedeutendsten Autoren war der Professor der Nationalökonomie, Albert Schäffle (1831—1903), den Hermann Oncken "eines der originalsten Talente" nennt, "das

27) 1. Ausg. 1841, S. X X X V f., zit. nach: Liselotte Lohrer, a.a.O., S. 104, 106.

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aus der deutschen Journalistik des 19. Jahrhunderts aufgestiegen ist".28) Er war weder reiner Publizist noch allein dem praktischen Leben zugewandter Gelehrter. In seiner Wirtschaftsauffassung ist er liberal, in der Politik eher konservativ. Wie man aus seinen Lebenserinnerungen weiß, hat ihm Cotta die 'DVS' für seine "ersten wissenschaftlichen Abhandlungen zur Verfügung" gestellt.29) In der vollen Höhe ihrer Wirksamkeit und öffentlichen Anerkennung, in den letzten Jahren des vierten Jahrzehnts und in den ersten des fünften,30) hat die ' D V S ' Männer als Mitarbeiter angezogen, die Deutschland unter seine ersten Gelehrten zählte. So gewinnt Cotta den Heidelberger Staatsrechtler und Reichs-Justizminister im Frankfurter Parlament, den späteren badischen Gesandten, Robert von Mohl (1799— 1875), und den Mitbegründer der historischen Schule in der Nationalökonomie, Wilhelm Roscher (1817—1894), den sein im historischen Denken wurzelnder konservativer Sinn zur Mitarbeit an der 'DVS' bewogen haben mag. Neben dem Praktiker List wendet sich der, in jüngerer Beurteilung "epigonale"31 ), Theoretiker und Begründer der modernen Staatswissenschaften Lorenz von Stein (1815—1890) an die Leserschaft. Auch ein Mann wie August Ludwig von Roschau (1815—1873) verfolgt trotz seiner liberalen preußischen Gesinnung die allgemeine Linie der Zeitschrift. Ein tiefes Freundschaftsverhältnis zu Cotta, wie es der äußerst anregende Briefwechsel ausweist, kennzeichnet die Mitarbeit des Kulturhistorikers, Volkskundlers und Novellisten Wilhelm Heinrich Riehl ( 1 8 2 3 - 1 8 9 7 ) , der in der ' D V S ' gewissermaßen den Geist der Restauration verkörpert. Die soziale Frage ist ihm in erster Linie ein sittliches, weniger ein wirtschaftliches Problem. Nach Riehl muß die Familie und ihr patriarchalischer Charakter, vor allem aber die Frau in ihrer zentralen Stellung, wieder zu Ehren kommen. Viele Briefstellen zeigen, daß sich Riehl mit Cotta über die einzelnen Studien in der Vierteljahrsschrift eingehend beraten hat, noch mehr aber über die daraus gestalteten B ü c h e r . 3 2 ) Ausschließlich über soziale Fragen schrieb der Sozialpolitiker Viktor Aimé Huber (1800—1869), der das dringlichste Problem der Zeit m i t der Hilfe des Christentum durch die Selbsthilfe der Arbeiterschaft mit Unterstützung der oberen Stände zu lösen dachte. Auch er entwickelte sich vom Liberalen immer mehr zum Konservativen. Lange Jahre hat der Redakteur des Cotta'schen 'Ausland', Oskar Peschel ( 1 8 2 6 - 1 8 7 5 ) , geographische Beiträge dem " I n s t i t u t " beigesteuert. Und schließlich finden wir unter den Verfassern der Artikel so bekannte Männer wie den Positivisten Dühring 28) Hermann Oncken: Ein großdeutscher Politiker: Albert Schäffle (1905), in: Hermann Oncken: Historisch-politische Aufsätze und Reden, Bd. 1, München—Berlin 1914, S. 149. Zur Wertschätzung Schäffles vgl. Wilmont Haacke: Die Zeitschrift — Schrift der Zeit, Essen 1961, S. 23. 29) Albert Schäffle: Aus meinem Leben, Bd. 1, Berlin 1905, S. 53. 30) Viktor von Geramb: Wilhelm Heinrich Riehl. Leben u n d Wirken, 1 8 2 3 - 1 8 9 7 , Salzburg 1 9 5 4 - 1 9 5 6 , S. 192. 31) Carlo Schmid in seinem Artikel "Lorenz von Stein", in: Die großen Deutschen. Deutsche Biographie, hrsgg. von H. Heimpel, Th. Heuß, B. Reifenberg, Bd. 5, Berlin 1957, S. 318. 32) Vgl. V i k t o r von Geramß, a.a.O., S. 1 4 7 - 1 5 0 , 1 9 2 - 1 9 5 .

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( 1 8 3 3 - 1 9 2 1 ) , den Chemiker Justus von Liebig ( 1 8 0 3 - 1 8 7 3 ) , den Erzähler und Literarhistoriker Theodor Mündt ( 1 8 0 6 - 1 8 6 1 ) und den Begründer der mathematischen Ästhetik, A d o l f Zeising ( 1 8 0 8 - 1 8 7 6 ) . Doch nicht sie allein prägen das Gesamtbild des Periodikums, hinzu treten etwa 200 weniger glanzvolle Autoren mit ihren "gediegenen" Aufsätzen.33) Allesamt noch stark dem geistigen Gehalt des 18. Jahrhunderts verhaftet, sind die Mitarbeiter der 'DVS' bereits von Strömungen des 19. Jahrhunderts getragen. Im Schnittpunkt der Kräfte ihrer Zeit stehend, sind sie Übergangsnaturen. 34) Es sind lebensernste Männer, meist Professoren und Gelehrte. Z.T. aber treten sie in der ' D V S ' erstmals mit ihren wissenschaftlichen Arbeiten an die Öffentlichkeit, und nicht selten wurden diese Artikel erste Manuskripte späterer Buchpublikationen, so bei List, Schäffle, Riehl, Constantin Frantz, Pönitz u.a.m. Hier angeregt zu haben, ist das Verdienst Georg von Cottas, der so die Interessen des Buch- und Zeitschriftenverlages eng zu verbinden wußte. So war für einige Autoren die 'DVS' — ähnlich wie es Heyck für die 'Allgemeine Zeitung' feststellen kann 35) _ e j n Sprungbrett aus ungeeigneter und hemmender Stellung in eine glanzvolle Position. In ihrer Mehrzahl haben die Autoren der 'DVS' auch an den anderen Cotta'schen Instituten, vornehmlich der 'A.Z.', mitgearbeitet, — später auch für andere Organe. Die politische, wirtschaftliche und schöngeistige Stellung der Vierteljahrsschrift war bestimmt von den Grundsätzen der dem maßvollen Fortschritt zugeneigten Herausgeber Georg von Cotta und Friedrich von Kölle, wobei bis ins Jahr der Revolution und des Todes von Kölle ein gemäßigt liberaler Zug die Zeitschrift durchweht, der nach 1848 jetzt mehr unter dem Einfluß Cottas und den Ereignissen der Unruhen einer konservativen Leitlinie weicht. Bringt der Rückblick " A m Beginne des neunten Lebensjahrs" im ersten Heft 1846 keine programmatischen Neuerungen, so können wir doch aus den Eigeninseraten, die seit 1857 die abgeschlossenen Jahrgänge "von 4 Heften zu 80 Bogen" zum Preise von " f l . 12.— oder Rthlr. 7. 10 Rgr." anbieten, eine Verhärtung in der nationalen Zielsetzung herauslesen. Sollten die Aufsätze ursprünglich " m i t deutscher Umsichtigkeit" verfaßt sein, " m i t welcher der guten Sache allein gedient werden kann", so heißt es jetzt über den Charakter der Arbeiten: Sie sollten " i m Geiste eines ächten deutschen Patriotismus" darlegen, was allein "der guten Sache des Vaterlandes frommen kann".36) Dominierendes und durchgängiges Thema der Innenpolitik ist die Schaffung eines großdeutschen Bundes unter der Ägide Österreichs. Diese Mitteleuropaidee wird zumeist wirtschaftlich begründet und publizistisch unterstützt durch die Vermittlung kommerzieller und politischer Interessen. So wird der Ausbau des Zollvereins und der Infrastruktur — durch ein dichtes Eisenbahnnetz — gefordert. Noch in den 33) So urteilt Karl d'Ester in seinem Beitrag " C o t t a " , in: Handbuch der Zeitungswissenschaft, hrsgg. von Walther Heide, Bd. 1, Leipzig 1940, Sp. 762. 34) Vgl. Ingeborg Boldt, a.a.O., S. 1 9 - 3 8 . 35) Ed(uard) Heyck: Die Allgemeine Zeitung, 1798—1898. Beiträge zur Geschichte der deutschen Presse, München 1898, S. 150. 36) Inserat, in: 'DVS', 3. H. 1862, dem Textteil nachgestellt.

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sechziger Jahren lesen wir über die Gesinnung der süddeutschen Staaten: "Wir können keine Sache für eine allgemein deutsche, für eine Reichssache ansehen, von welcher Österreich ausgeschlossen ist. . . Ohne Österreich wird uns Preußen niemals haben. . . Wir können nur miteinander stehen oder fallen.' '37) Und Trautwein von Belle verkürzt, Arndt zitierend: "Das ganze Deutschland soll es s e y n ! " 3 8 ) In der Frage zur Verfassung bewahrt sie eine Mittelstellung zwischen Zentralismus und Partikularismus, zwischen absolutistischer und republikanischer Staatsform. Sie fordert ein starkes und mächtiges Oberhaupt mit demokratischen und aristokratischen Schranken.39) Ihren Unmut über unzureichende Reformen äußert sie einfach und unumwunden: "Aber das Meiste ist noch zu thun übrig. Alles, was inzwischen geschehen, sind nur schwache Anfänge. . ."40) Und direkt an die Machthaber gerichtet, liest man: "Die Handhaber der Gewalt scheinen noch nicht so vollständig von der Wahrheit des Satzes durchdrungen zu seyn, daß man das geschichtliche Recht auch alsdann vollständig anerkennen müsse, wenn es für das Volk spricht; für die Regierungen wird es bekanntlich stets in Anspruch genommen. "41) Und vor der Revolution verlangt ein Verfasser "vermehrte Theilnahme der Regierten selbst an den öffentlichen Angelegenheiten" und die "Vereinfachung der ganzen Regierungsweise". 42) Gegen das allgemeine Wahlrecht wird nachdrücklich Stellung genommen. 43) Man ist liberal, jedoch antidemokratisch. Generell werden in der 'DVS' keine extremen Standpunkte vertreten. Wir lesen: Man "begnüge. . . sich mit dem Zweckmäßigen und Ausführbaren. Denn wer mit zeitraubender Ängstlichkeit das Allerbeste sucht, versäumt nicht selten unwiederbringlich das Gute."44) In der Außenpolitik gilt Frankreich als das Land der Revolution und des Depotismus, vor dessen Hegemonialpolitik selbst in Ausführungen über den Handel gewarnt wird. Weniger feindlich sieht man Rußland, wenn man auch den Panslavismus fürchtet. England dagegen wird häufig in Erörterungen sozialer, wirtschaftlich-technischer und landwirtschaftlicher Fortschritte als Vorbild hingestellt, andere Länder finden kaum Beachtung. Gemäß der Grundeinstellung der Autoren herrscht auf wirtschaftlichem Gebiet durchweg ein gemäßigter Liberalismus mit konservativen Bestandteilen, die sich in der Befürwortung einer maßvollen Staatsaufsicht und Betonung der Landwirtschaft zeigen. In der sozialen Frage bleibt die gesamte Diskussion im Theoretischen stecken: Die Verfasser zeigen viel Mit37) Die politische Lage, in: 'DVS', 1. H. 1862, S. 233. 38) Die Leberispriricipien der deutschen Volksnatur und die deutsche Zukunft. Zeitgenössische Studie, in: 'DVS', 3. H. 1869, S. 169. 39) Was ist zu thun? Vorschläge eines deutschen Reichsbürgers, in: 'DVS', 2. H. 1848, S. 354. 40) Über die Städte in Deutschland und ihre Verfassungen, in: 'DVS', 3. H. 1839, S. 96. 41) Friedrich von Kölle: Geschichtliches Recht und geschichtliche Grundlagen, in: 'DVS', 4. H. 1842, S, 237. 42) Der Staatsdienst und die Staatsdiener in Deutschland, in: 'DVS', 3. H. 1846, S. 152 f. 43) Allgemeines Wahlrecht und Christenthum, in: 'DVS', 3. H. 1850, S. 316. 44) Die materielle Begründung des deutschen Bundesstaates durch die organische Gestaltung der Staatengebiete, in: 'DVS', 3. H. 1848, S. 168.

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gefühl, aber wenig praktische Hinweise zur Verbesserung der Lage. Hier schreibt V . A . Huber und nicht Schulze-Delitzsch. Die Naturwissenschaften, die in der ' D V S ' durch Gelehrte ersten Ranges vertreten sind, werden in ihrem gewaltigen Fortschritt voll gewürdigt, wenn er auch im Hinblick auf eine zu materialistische Entwicklung für bedenklich gehalten wird. Das Interesse im künstlerischen Leben gilt der Literatur und dem Theater. Im Mittelpunkt stehen die "Dichterpersönlichkeiten" Goethe und Schiller. Biographisches finden wir über Görres, Hebel, Alexander von Humboldt, Gentz, Uhland u.a. Für das zeitgenössische Schaffen, speziell für die bildende Kunst und Musik, haben die Autoren kein Gespür, hier bleiben ihre Ausführungen epigonenhaft. Z u Religion und Kirche hat die Zeitschrift eine echte, positiv christliche Einstellung, die sich in ihrem Kampf gegen die Trennung von Staat und Kirche, wie auch Recht und Religion zeigt. Es ist eines ihrer Hauptanliegen, das gesamte Staatsleben mit christlich-sittlichem Gehalt zu erfüllen. Die gleiche Tendenz finden wir in den wenigen philosophischen Erörterungen.45) In der Betonung eines Kosmopolitismus und der Achtung vor dem Individuum, in dem gesuchten Ausgleich zwischen den Gebildeten und dem Volk, in der Bedeutung von Religion, Sitte und Recht sowie in der Wertschätzung der Ehe und Familie und vor allem in der Verwurzelung der Autoren in einem organisch-historischen Denken mit ihrer Berufung auf den Volksgeist und der Erinnerung an die mittelalterliche Kaiserpolitik und das Germanentum offenbart sich die geistige Verbindung der ' D V S ' mit der Romantik. Sie fordert zwar Realpolitik, macht aber eine Ideen- und Moralpolitik zur Grundlage ihrer Zeitkritik. Oft werden so Macht und Realität nicht klar erfaßt. Zukunftsausblicke werden mit geschichtlichen Vorgängen der Vergangenheit verknüpft. Die so gewonnene Stetigkeit der Anschauungen und Ideen geht zugunsten der Beweglichkeit. Doch sie ist auch nicht oberstes Gebot. Mit ihrem Verständnis von Journalistik als "Magistratur" ist die ' D V S ' ein Periodikum vom alten Schlag. Dem klassischen Bildungsideal verpflichtet, glauben die Mitarbeiter an die Verwirklichung des Strebens nach allseitiger und harmonischer Ausbildung des Menschen. Die Artikel der ' D V S ' fußen auf ethischen Postulaten und sind in der Absicht verfaßt, der Belehrung zu dienen und Mißständen durch vertiefte Bildung abzuhelfen. Entstanden aus dem Bedürfnis nach etwas Neuem, pflegte sie doch zugleich viel Altüberkommenes. So spiegelt die ' D V S ' mit ihren ungelösten Spannungen und der inneren Widersprüchlichkeit ihrer Hauptmitarbeiter die Antinomien der Zeit.46) Angetreten als eine "Zeitschrift, welche den Mangel an leitenden Artikeln in unsern, durch Censur und Postsperre eingeengten Zeitungen ersetzen" und mit ihren " d e m geistigen Leben des deutschen V o l k s im Allgemeinen'