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German Pages [380] Year 2010
BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von KARL GUTSCHMIDT, roland Marti, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY
Reihe A: slavistische forschungen Begründet von Reinhold Olesch (†)
Band 66
Intellektuelle in Prag Personen, Konzepte, Diskurse Herausgegeben von Steffen Höhne (Weimar), Alice Stašková (Prag/Berlin), Václav Petrbok (Prag) und Ludger Udolph (Dresden) Band 1
Deutsche – Tschechen – Böhmen Kulturelle Integration und Desintegration im 20. Jahrhundert
Herausgegeben von
Steffen Höhne und Ludger Udolph
2010 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N W EIM AR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.
Steffen Höhne ist Professor am Institut für Musikwissenschaft, Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar-Jena. Ludger Udolph ist Professor für Slavistik/Literaturwissenschaft an der TU Dresden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Prager Türme, aus: Karel Plicka, Prag. Ein photographisches Bilderbuch, Artia-Verlag, Prag o. J.
© 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion: Steffen Höhne und Ludger Udolph unter Mitwirkung von Christian Diemer, Sibylle Höhne, Carsten Wernicke und Wolf-Georg Zaddach Druckvorlage von Carsten Wernicke und Wolf-Georg Zaddach Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20493-8
Inhalt Zur Phänomenologie kulturellen und sprachlichen Wandels in den Böhmischen Ländern Steffen Höhne...............................................................................................................9 Fremdbilder in der tschechischen Literatur um 1900 (Bezruč, Šalda) Ludger Udolph...........................................................................................................19 Briefe an den toten Freund. Aussiedlung und gesellschaftlicher Umbruch in der tschechischen Nachkriegsliteratur Christiane Brenner......................................................................................................35 Heimat und ihre integrationsfixierte Desintegration. Die Exilprosa von Jan Křesadlo, Libuše Moníková und Iva Pekárková Alfrun Kliems.............................................................................................................47 Integrationsfrage der jüdischen Bevölkerung und das Schulwesen am Anfang des 20. Jahrhunderts Dana Kasperová.........................................................................................................63 Die Sprachenfrage in Böhmen nach 1900. Der tatsächliche Gebrauch der deutschen und tschechischen Amtssprache am Beispiel der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag Simona Švingrová, Marek Nekula.............................................................................73 Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische: Ein Sprachvergleich aus Lernerperspektive Barbara Schmiedtová..................................................................................................91 Nationale und kulturelle Attribuierungsprobleme bei Autoren aus den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert Kurt Krolop..............................................................................................................119 Max Brod: Ein jüdischer Dichter deutscher Zunge Hans-Gerd Koch......................................................................................................129 Max Brod und die tschechische Kultur 1909-1939 Barbora Šramková...................................................................................................137
Inhalt
Das Kino als Ort kulturellen Transfers in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakei (1896-1938) Ines Koeltzsch...........................................................................................................155 Vltava – Moldau. Zur deutsch-tschechischen Rezeption von Smetanas Má vlast im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert Linda Maria Koldau................................................................................................173 Baudenkmäler im Grenzland nach dem Zweiten Weltkrieg. Strategien der (Wieder-)Aneignung Michaela Marek.......................................................................................................193 Die deutsche und tschechische Pädagogik in Prag Tomáš Kasper...........................................................................................................231 „Wissenschaft im Volkstumskamp“ der Sudetendeutschen – mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland Klaas-Hinrich Ehlers...............................................................................................245 „Der Waffenmeister neben den Kämpfenden“. Zur politischen sudetendeutschen Volkskunde Karl Braun...............................................................................................................265 Die Prager Buchausstellung im Clam-Gallas-Palais vom November 1939 als Beispiel der NS-Literaturpolitik im Protektorat Böhmen und Mähren Peter Becher..............................................................................................................287 Die Königinhofer und Grünberger Handschriften – Mythos im 20. Jahrhundert? Gisela Kaben............................................................................................................303 Institutionalisierte Konfliktlösung: Die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission Mario Schulz............................................................................................................323 Personen- und Ortsregister.................................................................................367 Adressen der Autoren..........................................................................................377
Abkürzungsverzeichnis AAVČR
Archiv Akademie Věd České Republiky (Archiv der Tschechischen Akademie der Wissenschaft, Prag) AS Ausgangssprache AUK Archiv Univerzity Karlovy (Archiv der Karlsuniversität, Prag) AUVA Arbeiter-Unfall-Versicherung Prag BA Bundesarchiv (Koblenz bzw. Berlin-Lichterfelde) BKB Max Brod, Franz Kafka, Eine Freundschaft. Briefwechsel CC Collegium Carolinum ČM České místodržitelství [Böhmische Statthalterei] ČSFR Česká a Slovenská Federativní Republika [Tschechische und Slowakische Föderative Republik] 1990-1992 ČSR Československá republika [Tschechoslowakische Republik] DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DNT Der neue Tag Imperf imperfekter Aspekt KKAB Franz Kafka, Briefe KKAT Franz Kafka, Tagebücher L1 Muttersprache L2 jede weitere erlernte Fremdsprache. LA PNP Archiv im Denkmal des nationalen Schrifttums NA Národní archiv Praha [Nationalarchiv Prag] n.s. nicht signifikant Perf perfekter Aspekt RKZ Rukopis Královédvorský a Zelenohorský [Die Königinhofer und Grünberger Handschrift] SÚA-ÚŘP Státní ústřední archiv [Staatliches Zentralarchiv, Prag; URP [unlimited residence permit] TAdv temporale Adverbien
Abkürzungsverzeichnis
ÚNP ÚPD ZS ZÚ
Ústřední národní pojišťovna [Landeszentralversicherung]: Personalakten der AUVA-Beamten Úrazová pojišťovna dělnická [Arbeiter-Unfall-VersicherungsAnstalt] Zielsprache Zemský úřad [Landesbehörde]
Steffen Höhne
Zur Phänomenologie kulturellen und sprachlichen Wandels in den Böhmischen Ländern
1. Zur Einführung
Die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen in den böhmischen Ländern verliefen seit dem 19. Jahrhundert zunehmend konfliktär. Die nationalen Auseinandersetzungen fanden ihre Höhepunkte in den Jahren 1848/49, 1866/67, ferner dann fast durchgängig ab den 1880ern, bis mit der Auflösung der Habsburgermonarchie und der Gründung der Tschechoslowakei 1918 sich der politische Kontext grundlegend änderte, ohne dass es zu einem Ausgleich zwischen den Nationalitäten gekommen wäre. Letztlich kulminierte diese Entwicklung in den Katastrophen von 1938 und 1945, mit denen das Ende eines mehrhundertjährigen Zusammenlebens zweier gleichwohl nicht als homogene Entitäten zu verstehender Sprach- und Kulturgemeinschaften erfolgte. Bei dieser, oft als Desintegrationsprozess beschriebenen Entwicklung, spielten Intellektuelle, die bei der Formatierung kollektiver Vorstellungen und Identifikationsmuster eine prädestinierte Stellung einnahmen, eine zentrale Rolle, bilden sie doch eine Gruppe innerhalb einer Kulturgemeinschaft, welcher „kraft ihrer Eigenart bestimmte, als ‚Kulturgüter‘ geltende Leistungen in spezifischer Weise zugänglich sind.“ (Weber 2005: 678) Intellektuelle verfügen als gesellschaftliche Gruppe über ein mobilisierendes Potential, welches in radikalisierender und desintegrierender, aber auch in ausgleichender, vermittelnder Intention eingesetzt werden kann. Für beide Positionen finden sich Beispiele in der Kultur der böhmischen Länder, für die Prozesse kulturell-sprachlicher Integration und Desintegration seit dem 19. Jahrhundert charakteristisch sind. In diesem Sinne knüpft der vorliegende Band an eine Tagung zur Kultur in den böhmischen Ländern im 19. Jahrhundert an (Höhne/Ohme 2005). Der Fokus liegt im Wesentlichen auf Phänomenen nationalkultureller und -sprachlicher Kategorisierung, reflektiert werden somit Kultur und Sprache als Leitbegriffe nationaler Diskurse, in den Blick geraten aber auch Institutionen und Akteure.
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Ausgehend von Herder, der ein Vergleichsparadigma für jede Kultur einführte, entwickelten Intellektuelle Techniken der Identitätsbehauptung auf der Basis von Vergleich und Distinktion und, spätestens im 19. Jahrhundert, unter Zuhilfenahme von Paradigmen wie nationaler Geschichte, Literatur, Kunst, Musik, Sprache Wissenschaft etc., die an ein ‚Nationalvolk‘ und ein Territorium, ‚Na tionalstaat‘, gekoppelt werden. Unter dem Konstrukt der „Nation“ erfolgte „die Bewaffnung der Kultur für die Zwecke des Vergleichs“ (Baecker 2003: 68). Kultur wurde parallel zu anderen Bewegungsbegriffen wie Geschichte und Fortschritt normativ aufgeladen und mit binären oder manichäischen Oppositionen zu Natur, zu Zivilisation, zu Kunst, zu Massenkultur, zu Gesellschaft konnotiert und ideologisiert. Als Form und Praxis gesellschaftlicher Selbstverständigung fungierte Kultur zur Unterscheidung richtigen Verhaltens vom falschen (Talcott Parsons), weist auf Distinktionsgewinne oder -verluste im sozialen Feld (Pierre Bourdieu), definiert Inklusions- und Exklusionsmechanismen und -kategorien in nationaler und ethnischer Hinsicht.
2. Prozesse kultureller Differenzierung
Die innerböhmische Politik ist seit dem späten 19. Jahrhundert von einer wachsenden Desintegration zwischen den Bevölkerungsteilen geprägt. Die zunehmende gesellschaftliche Mobilisierung, vorbereitet mit dem Oktoberdiplom vom 20.10.1860, in dem eine relative Versammlungsfreiheit und das Tschechische als zweite Landessprache offiziell ermöglicht wurden, dem Februarpatent vom 26.2.1861, damit Wendung im Verfassungsstreit, sowie dem neuen Pressegesetz von 1863 führte nicht nur zu einer Abkehr vom Repressivsystem der 1850er Jahre, sondern zu einer breiten politischen Mobilisierung, mit der ein sich verstärkender Prozess nationaler Entmischung und Integralisierung verbunden war, durch die sich die Bedingungen für die böhmische Kultur veränderten. Seit den 1880ern und verstärkt dann in den 1890ern mit den Höhepunkten Badeni-Krise 1897 sowie, als Ausdruck des sich mit der Nationalisierung verschärfenden Antisemitismus, der Hilsner-Affäre 1899 entwickelte sich aus einem nationalen Kleinkrieg ein großer politischer Konflikt, fast ein „Bürgerkrieg“, der „die beiden nationalen Gesellschaften in ihrer Gesamtheit
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e rfasste.“ (Křen 1996: 207) Der damit freigesetzte Mechanismus einer „kumulativen politischen Destruktion“ (Křen 1996: 221) führte im Endeffekt zu verstärkter Separierung und Entfremdung der nationalen Gruppen. Erst die Ende des 19. Jahrhunderts parallel zur tschechischen Moderne einsetzende Prager deutsche Literatur kann – unter kultur- und mentalitätshistorischen Aspekten – auch als eine Möglichkeit intellektuell-künstlerischen Ausgleichs und Verständnisses zwischen Deutschen und Tschechen gesehen werden. Bei dieser allerdings auf der hochkulturellen Ebene angesiedelten Vermittlungstätigkeit spielten, neben den Übersetzungen, vor allem solche Periodika eine Rolle, die gemäß einem übernational-kulturellen Anspruch als Ausgleichspresse bezeichnet werden sollen. Der Neologismus weist dabei auf politische Kontexte, in denen sich Konzepte nationaler Identität und damit verbundene Inklusions- und Exklusionsmechanismen als übergeordnete Partikularitäten durchsetzten. Gegen deren desintegrative Tendenzen wurden schon im Vormärz Projekte der Vermittlung ins Leben gerufen, als prononciertestes dürfen die von Rudolf Glaser herausgegebenen Ost und West gelten, mit denen ein interkultureller Diskurs zwischen europäischem Osten und Westen, i. e. Tschechen und Deutschen initiiert werden sollte. Ost und West stellten sich in einen argumentativen Kontext, der deutlich vornationale Züge trug und der als ein wenngleich zunehmend marginalisierter, bohemistischer Paralleldiskurs die öffentliche Diskussion determinierte und in dem ein Integrationsmodell für die böhmischen Länder diskutiert und konzipiert wurde. Ausgehend von einer prinzipiellen Gleichheit im Sinne einer nichtprioritären, auch sprachlichen Gleichberechtigung der Böhmen ‚slawischen wie deutschen Stammes‘ (Smetana 1848) sollten nationale Divergenzen zwischen Tschechen und Deutschen zugunsten übernationaler, bohemistischer Einstellungen aufgelöst werden. Im Verlauf der 1840er Jahre verstrickten sich allerdings auch Ost und West in publizistische Kontroversen, spätestens in der Zeit der Revolution und mit der deutschböhmischen Präferenz für Frankfurt, d. h. dem Anschluss Österreichs und damit Böhmens an einen neu zu gründenden deutschen Nationalstaat, wurden die fundamentalen Interessendivergenzen deutlich, an denen auch Ost und West letztlich scheiterten. Die letzte Ausgabe erschien am 10.6.1848, Rudolf Glaser zog sich danach enttäuscht und in seinen Vermittlungsbemühungen gescheitert aus der Öffentlichkeit zurück. Der Anachronismus von Ost und West, und dies betrifft auch Folgeprojekte, lässt sich in der Fehleinschätzung liberaler Intellektueller ablesen, die mit Hilfe konstitutioneller Rechte die Frage der Nationalität und deren separierendes Potential marginalisieren zu können glaubten. Die sich nach 1849 anschließende Phase des Spätbohemismus (bis 1866/67) war ent-
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sprechend durch einen fortschreitenden Prozess wechselseitiger Abgrenzung gekennzeichnet, in dem utraquistische Mittlertätigkeit die ethnozentrische Fixierung nicht aufbrechen konnte. Adalbert Stifters Witiko, ein zeitgeschichtlich anachronistischer Versuch landespatriotischer Integration in einem universal verstandenen mittel- und gesamteuropäischen Kontext, blieb zunächst ohne Wirkung. So war vor allem das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts in Böhmen von wiederholtem Scheitern nationaler Ausgleichsversuche und einer Verschärfung der nationalen Auseinandersetzungen bei gleichzeitiger beschleunigter Modernisierung geprägt, begleitet von einem erfolgreichen Ausbau der tschechischen Gesellschaft in ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht. Faktisch entwickelte sich die tschechische Gesellschaft schon vor dem 1. Weltkrieg zu einer Staatsnation, die über alle Attribute staatlicher Selbständigkeit verfügte, ohne diese selbst schon zu erreichen (Křen 1996: 257). Für die Deutschböhmen lässt sich ab den 1890ern in kulturell-wissenschaftlicher Hinsicht eine Politik der Defensive und nationalen Sammlung erkennen. Neben der Gründung von Institutionen wie der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur, der späteren Deutschen Akademie der Wissenschaften (1891-1945), ist vor allem die Deutsche Arbeit zu erwähnen, die den Anspruch erhob, die gesamte deutsche Bevölkerung in Böhmen anzusprechen und damit zum führenden kulturellen und politisch-ideologischen Periodikum der Deutschböhmen zu werden. Neben einer Betonung nationalkultureller Eigenständigkeit und Gleichberechtigung war eine Überbrückung regionaler Vielfalt angesichts der Entfremdung vor allem zwischen Prager Deutschen und Sudetendeutschen intendiert, wobei man sich Anfangs durchaus in eine utraquistische Tradition im Sinne eines kulturellen Wettbewerbs mit der tschechischen Kultur stellte. Weitere Ausgleichsversuche sind in einer ersten Phase durch das Frühwerk Rainer Maria Rilkes wie durch Franz Werfels Glosse zur Wedekind-Feier (1914) markiert. In einer zweiten Phase ab etwa 1916 erfolgte eine Erweiterung der kulturellen Ausgleichsbemühungen um ein verstärktes politisches Engagement, Kurt Krolop (2005: 35) spricht von einer neuen Art kulturellen Mittlertums, das seine Arbeit als einen auch im politischen Sinne „völkerverbindenden Akt gewertet wissen wollte.“ Insgesamt setzte ein Differenzierungsprozess ein, der schon vor dem Krieg begann und bei dem es nicht mehr nur um wechselseitige kulturelle Kenntnisnahme ging, auch wenn diese Initiativen mehr oder weniger in dem „Meer chauvinistischer Stimmungen“ versanken (Křen 1996: 308). Insbesondere nach der Staatsgründung 1918 lässt sich ein Wandel des Gruppenbewusstseins von den Deutschböhmen zu Sudetendeut-
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schen und damit eine Verschärfung des bereits geschilderten Desintegrationsprozesses beobachten, der nach Hans Lemberg (2006: 99) bereits 1920/21 im Titelblattwechsel der in Eger erscheinenden bündischen Zeitschrift Böhmerland zu Der sudetendeutsche Bund signifikant wurde. Auch der kulturpolitische Diskurs wurde in den folgenden Jahren vom zentralen Thema des Volkstumskampfes dominiert, verbunden mit Topoi wie Existenzgefährdung der eigenen Gruppe, gesamtdeutsche Einbindung als Lösung oder das Verhältnis zu den Tschechen, denen man politisch unterlegen, kulturell-historisch aber überlegen sei (Jaworski 1987: 332f.).
3. Prozesse sprachlicher Differenzierung
Verschiebungen in kulturellen und sprachlichen Feldern lassen sich in allen Gesellschaften zu allen Zeiten finden, wobei sich im zentraleuropäischen Fall seit dem späten 18. Jahrhundert, im Kontext der Herausbildung moderner Nationalgesellschaften und -staaten, zunehmend kultur- und sprachmonistische Ideale herausbildeten, die auf Verlagerungen im gesellschaftlichen Machtverhältnis wiesen und zu Veränderungen von sozialem Status und zu Auf- und Abwertungen führten. Bezogen auf die Böhmischen Länder handelte es sich dabei um einen Prozess einer allmählichen Verlagerung von einer dominanten deutschen Sprache und Kultur zu einer tschechischen bei wachsender Marginalisierung der zuvor dominanten deutschen. Diese Prozesse sozialer und intellektueller Differenzierung seit der Zeit der Restauration lassen sich nur vor dem Hintergrund der Durchsetzung nationaler Identifikationskategorien als übergeordnete Partikularitäten betrachten. Sprache erhielt als Identitätsfaktor im Zuge der modernen Nationalismen eine zentrale mobilisierende Bedeutung mit dem Resultat einer Identifikation von Sprachcharakter mit dem Volks- oder Nationalcharakter und seiner Artefakte bis hin zur Instrumentalisierung von Sprache (und Kultur) mit Assoziationen der Überlegenheit bzw. Gefährdung über/durch fremde Sprachen, Völker, Rassen, Nationen und Kulturen. Sprachnationalismus entstand per Postulierung der Überlegenheit des Eigenen und Abwertung des Fremden. In der Folge dieser Entwicklung kam es zu einer Delegitimierung bilingualer Konzepte von Sprachpolitik, wie sie im Vormärz von Bernard Bolzano (Was ist Vaterland
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und Vaterlandsliebe? 1810, Über das Verhältnis der beiden Volksstämme in Böhmen, 1816) oder Joseph Matthias von Thun (Der Slavismus in Böhmen, 1845), im Nachmärz von Jan Evangelista Purkyně (Austria Polyglotta, 1867) formuliert worden waren, ein monolinguales, eigenkulturelles Ideal setzte sich durch, welches schon im frühen 19. Jahrhundert von Johann Gottlieb Fichte (Reden an die deutsche Nation, 1807/08) und Friedrich Ludwig Jahn (Deutsches Volkstum, 1810) auf deutscher Seite, von Josef Jungmann (O gaz yku českém [Über tschechische Sprache], 1806) auf tschechischer Seite konzipiert wurde. Entgegen solcher sprachpolitischer Programmatik war die sprachliche Realität in der Habsburgermonarchie bis weit in das 20. Jahrhundert von Mehrsprachigkeit geprägt. Selbst führende Repräsentanten der frühen tschechischen Nationalbewegung wie Karel Havlíček waren bilingual sozialisiert. Palacký schrieb den ersten Band seiner Geschichte wie auch die Briefe an seine Frau auf Deutsch. Tatsächlich relativert die reale Di- bzw. auch Polyglossie die These, Sprache sei ein Surrogat nationaler Merkmalszuschreibungen. Dies widerlegen die diversen austrobohemischen Soziolekte (Kuchel-Böhmisch, KuchelDeutsch, Mauschel-Deutsch) genau so wie Sprachwechsler, häufig bilingual gebildete Künstler oder Wissenschaftler, die sich für eine Sprache als Standardbzw. Prestigesprache entschieden, in der sie dann publizierten (z. B. die Gräfin Dubský/Ebner-Eschenbach, Karl/Karel Klostermann). Franz Thomas bzw. František Tomáš Bratranek berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass in seiner Familie Deutsch und Tschechisch gleichberechtigt benutzt wurden, daß man sich in einem Atem abwechselnd des Deutschen oder Slavischen bediente, je nachdem das Bedürfnis es mit sich brachte oder die oder jene Wendung des Vorstellens sich behaglicher, weil treffender, in der einen oder anderen Sprache wiedergeben ließ. (zit. n. Krejčí 1933: 402f.)
Der Formel Sprache gleich nationale Identität erteilt der „Nichtnationale“ Bratranek eine dezidierte Absage: Vollends brutal ist mir aber stets die Forderung erschienen, wenn auf Grundlage der Sprachenfrage ich mich für diese oder jene Nationalität als ihr ausschließlicher Angehöriger entscheiden sollte. Ganz abgesehen davon, daß ich später die Sprache keineswegs als das vorzüglichste oder gar einzige Kriterium der Nationalität anerkennen lernte, so war es mir schlechthin unmöglich, die deutschen oder slavischen Elemente in meinem Lebensganzen zu scheiden und durch Beseitigung des einen oder des anderen jenes Ganze zu zertrümmern. (zit. n. Krejčí 1933: 402f.)
Binationale, utraquistische Einstellungen, Personen oder Institutionen (Schulen, Museen, Vereine), die also zweisprachig waren, die die deutsche wie die tschechische Nationalität umfassten, denen eine Zwischenstellung zukam oder die eine beide Nationen übergeordnete Funktion hatten, sind somit glei-
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chermaßen, gewissernmaßen parallel zu den dominanten nationalen Narrativen, prägend für die Kultur der Böhmischen Länder.
4. Zu diesem Band
Offenkundig existieren kulturspezifische Perzeptionsmuster, die bis heute die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen determinieren. Programmatisch könnte man fragen, wie über die andere Ethnie kommuniziert wird bzw. wie die andere (fremde) Ethnie kommunikativ erst konstituiert bzw. konstruiert wird. Prozesse der Kommunikation konstituieren als distinkt anders wahrgenommene Ethnien und Kulturen. Für die kulturelle und sprachliche Situation in den Böhmischen Ländern bzw. der Tschechoslowakei im 20. Jahrhundert ergeben sich einige Leitfragen: 1) Wie verliefen – gerade angesichts der politischen Brüche (1918, 1938, 1948, 1968, 1989) – Prozesse der Konstitution kulturell-sprachlicher Identifizierung in den böhmischen Ländern? 2) Wie veränderten sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts Selbst- und Fremdkategorisierungen? Welche Kontinuität besitzen die historischen ethnischen Stereotype und Klischees? Welche Ausformungen nationaler Divergenz findet man in den unterschiedlichen kulturellen Konzepten? 3) Welche Ansätze zur Neutralisierung nationalkulturellen Denkens, Fühlens und Wahrnehmens begleiteten den Prozess der ‚ethnischen Antagonisierung‘, an dessen Ende (1938-1945) die völlige Desintegration steht? Kann man, ausgehend von dem Wirken kultureller Mittler und Grenzgänger zwischen Jahrhundertwende und dem Ende einer gemeinsamen böhmischen Kultur 1938 bzw. auch noch darüber hinaus neobohemistische Traditionen postulieren? Zu beleuchten sind die Entwicklungsprozesse der deutsch-tschechischen kulturellen und sprachlichen Beziehungen im 20. Jahrhundert, wobei neben kulturellen Erscheinungen im engeren Sinne (Sprache, Literatur, Theater, Musik etc.) auch deren Rahmenbedingungen (Institutionen, Kulturpolitik etc.) reflektiert werden müssen. In den drei Abschnitten werden demzufolge ff. Themen behandelt: Die Beiträge der ersten Sektion beleuchten kultur- und sprachwissenschaftliche Perspektiven und Prozesse, wobei es hier insbesondere um Phä-
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nomene der Sprachpolitik und des (bilingualen) Spracherwerbs bzw. des (öffentlichen) Sprachgebrauchs geht, darin involviert sind Erklärungsansätze für sprachlichen und kulturellen Wandel. Die zweite Sektion behandelt die Rolle von Kunst und Literatur. In dieser Sektion werden kulturelle Phänomene in multinationalen Kontexten untersucht. Dabei geht es um Fragen der Produktion, Rezeption und Distribution sowie um Aspekte der Kanonisierung nach Verbindlichkeitsvorgaben auf der Ebene der kulturellen Produktion wie Partizipation. Hierbei wird den ‚Kulturmittlern‘ ein besonderes Interesse gewidmet. Darüber hinaus werden gerade solche kulturellen Phänomene in den Blick genommen, die über die ästhetische Funktion im engeren Sinne hinaus von gesellschaftspolitischer Relevanz sind. In der dritten Sektion gelangen schließlich Institutionen und Diskurse in den Blick und damit Ausdrucksformen „böhmischer“ Identität und Kultur im Kontext kulturpolitischer und institutioneller Prozesse. Ohne die Institutionalisierung insbesondere des Pressewesens lässt sich die öffentlichkeitswirksame Durchsetzung eigen- und fremdkultureller Kategorien nicht angemessen erklären. Die Analyse von Prozessen kultureller Integration und Desintegration in Böhmen verlangt einen komplexen Zugang mit dem Ziel, Einblicke in kulturund sprachhistorische Entwicklungen zu geben, die das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in den Böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert determinieren.
Literatur
Baecker, Dirk (2001): Kultur. – In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hrsg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt. Stuttgart: Metzler, 510-556. Baecker, Dirk (32003): Wozu Kultur? Berlin: Kadmos. Höhne, Steffen (2002): Der Bohemismus-Diskurs zwischen 1800 und 1848/49. – In: Brücken NF 8, 17-45. Höhne, Steffen/Ohme, Andreas (Hgg.) (2005): Prozesse kultureller Integration und Desintegration. Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. Jahrhundert. München: Oldenbourg
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Jaworski, Rudolf (1987): Historische Argumente im sudetendeutschen Volkstumskampf 1918-1938. – In: Bohemia 28, 331-343. Krejčí, Jan (1933): Franz Thomas Bratraneks Selbstbiographie. – In: Germanoslavica II/3, Prag, 385-404. Křen, Jan (1996): Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918 (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 71). München: Oldenbourg. Krolop, Kurt (2005): Studien zur Prager deutschen Literatur. Hrsg. von Klaas-Hinrich Ehlers, Steffen Höhne, Marek Nekula. Wien: Praesens. Lemberg, Hans (2006): Von den Deutschböhmen zu den Sudetendeutschen: Der Beitrag der Geschichtswissenschaften und Geschichtspolitik. – In: Brenner, Christiane/ Franzen, K. Erik/Haslinger, Peter/Luft, Robert (Hgg.), Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen, Institutionen, Diskurse (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum, 28). München: Oldenbourg, 95-107. Smetana, Augustin (1848): Die Bestimmung unseres Vaterlandes Böhmen vom allgemeinen Standpunkte aufgefasst. Prag [NA in: Hagedorn, Ludger (Hg.), Tschechische Philosophen von Hus bis Masaryk. Stuttgart, München (DVA) 2002, 445-462.]. Weber, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt/Main: Zweitausendeins.
Ludger Udolph
Fremdbilder in der tschechischen Literatur um 1900 (Bezruč, Šalda)
1. 19. Jahrhundert
Innerhalb der tschechischen Nationalbewegung hatte sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein ausgeprägter Antisemitismus entwickelt. Gustav Eim schrieb 1899 in den Národní listy [Nationalblätter], er breite sich in Böhmen wie die Krätze [„svrab“] aus (Mikulášek 2000: 65). Schon auf einem Flugblatt von 1848 konnte man lesen: A ti židi, země vosy, to je teprv spřež, tu jen chopte bez milosti jako lesní zvěř, jak je žid oči odmýká, křesťana hned z kůže svlíká, kde je žid, má ho lid hned za chřtán chytit. Jen se nic nedejte a hned ho oběste, jen ho, jen ho, jen ho hned oběste! [Und diese Juden, die Wespen des Landes, das ist erst ein Pöbel, packt ihn nur ohn Erbarmen wie ein Waldtier, wie der Jude die Augen aufmacht zieht er dem Christen das Fell ab, wo ein Jud ist, soll ihm das Volk sofort an die Gurgel gehn. Laßt euch nur nicht unterkriegen und hängt ihn sofort auf, hängt ihn, hängt ihn, hängt ihn sofort auf!]
– wie übrigens auch den Adligen, den Priester, den Beamten und den Deutschen (Mikulášek 2000: 39). Ein solches auch aus Minderwertigkeitsgefühlen gespeistes Ressentiment hat in der tschechischen Literatur, der trivialen
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Ludger Udolph
wie anspruchsvollen, vielfach seinen Ausdruck gefunden.1 Die Schriften des Prager Theologieprofessors August Rohling, der den „Talmudjuden“ in den antisemitischen Diskurs einführte, erschienen in den 70er und 80er Jahren auch in tschechischen Übersetzungen (Mikulášek 2000: 26f., 10).2 In den katholischen Volkskalendern war der Antisemitismus stark vertreten. In Václav Novotnýs Erzählung Sousedi [Nachbarn] im Svatovádavský kalendář na obyčejný rok 1874 [St.-Wenzel-Kalender auf das Gemeinjahr 1874] wird Heršlík, ein Jude nach Rasse und Herkunft, nach Konfession aber Christ, zum Inbegriff des Bösen (Novotný 1974; Mikulášek 2000: 49). In diesem Jahrgang findet sich auch die Verserzählung Páže [Der Page] (als Autor zeichnet „m. p.“), die den geprellten Juden zum Gegenstand des Spottes macht: ein Page stiehlt die königlichen Kirschen und schiebt einem Juden einen Brief unter, worin die Anweisung steht, den Überbringer zu prügeln, was ein Korporal dann auch ausführt (m. p. 1874; Mikulášek 2000: 40). Der schreibende Pfarrer Vojtěch Hlinka, der unter dem Pseudonym František Pravda publizierte, schildert in seiner Erzählung Knihář Hranáč [Der Buchbinder H.], erschienen im Poutník [Der Pilger] 1870, wie sich ein treu katholischer, tüchtiger, arbeitsamer und ehrlicher Tscheche vor dem Zugriff des jüdischen Wucherers schützen kann; indem er die durchaus anerkannten Tugenden eines Juden (Sparsamkeit, Zähigkeit u. ä.) sich zu eigen macht, kann er sich gegen ihn behaupten – so die volkserzieherische Lehre dieser Erzählung (Mikulášek 2000: 59f.; zu Pravda ebd. 123-125). Seit 1885 hatten die Antisemiten auch ein Publikationsorgan, die České zájmy. Organ pro opravy národohospodářské a společenské [Tschechische Interessen. 1 Ältere Darstellungen zur Geschichte der Juden in Böhmen und Mähren verzeichnet Matiegka (1933: 286); neueste Darstellung: Where Cultures Meet, Tel Aviv 1990, tschechische Übersetzung: Bergerová (1992). Über die rassische Vermischung [„plemenná pomíšenost“] der Juden in der Tschechoslowakei handelt Matiegka (1933). – Die Juden Böhmens und Mährens orientierten sich nach ihrer formalen Befreiung 1867 in der Mehrheit an der deutschen Kultur, doch gab es auch eine Hinwendung zur tschechischen Sprache und Kultur; s. dazu Tripolis Praga (2001: 246-278); Bergerová (1992: 40-51); Mikulášek (1998: 8-23). Das unangenehme Thema ‚Antisemitismus‘ ist in der tschechischen Literaturgeschichtsschreibung erstmals von Oskar Donáth (1926, 1930), dann erst wieder von Alexej Mikulášek und seinen Mitarbeitern bearbeitet worden (Mikulášek 1998, 2000, 2002). 2 Rohling wurde 1839 in Neuenkirchen/Rhein geboren; Theologiestudium in Münster, 1863 Priesterweihe. 1867 Promotion in Jena, 1871 a. o. Prof. für Exegese in Münster, 1874 Prof. in Milwaukee; 1876 o. Prof. für alttestamentliche Exegese in Prag, 1892 Kanoniker an der Stiftskirche ebd. 1899 Aufgabe der Professur; gest. 1931 in Salzburg. – Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. VIII (1994), Sp. 577-583. Verlag Traugott Bautz, in: [Zugriff am 28.8.2007]. Der Talmudjude. Zur Beherzigung für Juden und Christen aller Stände, 1871; tschech.: Židé podle talmudu, Praha 1876.
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Organ für volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen]. Ihr Herausgeber, Jaromír Hušek, entwickelte unter dem Einfluss von Schönerer und Lueger erstmals ein tschechisches antisemitisches Programm (Svůj k svému; Nekupujte u židů [Jeder zu den Seinen; Kauft nicht bei Juden]), mit dem er erfolglos für den Landtag und den Reichsrat kandidierte. Seine Zájmy litten unter den Eingriffen der Zensur, häufigen Konfiskationen und der geringen Anzahl von Abonnenten, so dass Hušek in finanzielle Schwierigkeiten geriet, weshalb er die Zeitschrift aus seiner Unternehmertätigkeit subventionieren mußte (Mikulášek 2000: 120f.). Hušek ist vermutlich auch der Autor zweier Romane: Dvě bytosti [Zwei Wesen] aus dem Jahre 1887, erschienen unter dem Pseudonym František Funk; und Pohled do budoucnosti (Blick in die Zukunft), erschienen 1895 unter dem Pseudonym Karel Miroslav (Mikulášek 2000: 121, 55); beide kamen im Verlag der České zájmy heraus. Im Pohled macht der Erzähler Miroslav Hartig dank eines Zaubertranks eine Zeitreise aus dem Prag von 1848 in das um 1900. Er kommt in eine völlig ‚verjudete‘ [„požidovštěno“] Welt. Der Antisemitismus wird daher in diesem Roman zum politischen Programm: er wird verstanden als die Bemühung eines Volkes, Herr in seinem eigenen Hause zu bleiben. Seine Grundsätze beruhen auf Humanität, handelt es sich doch um die Wahrung der Rechte der Schwächeren und Unterdrückten gegenüber Vorrechten und Rücksichtslosigkeiten, womit der Antisemitismus auch sein wahrhaft christliches Gesicht zeige. Die Lösung des Problems sieht der Autor in der Ausweisung der Juden in ihre Ursprungsländer, also unter die Semiten Arabiens: Nutno tedy hlavně vyčistění země od Židů. […] boj proti nim jest zápasem existenčním, tedy národohospodářským, sociálním a plemenným. Antisemitismus nemůže tedy býti zpátečnictvím, leda by sežidovštění bylo pokrokem (Miroslav 1895: 150; Mikulášek 2000: 57). [Notwendig ist also hauptsächlich die Reinigung des Landes von den Juden. [...] der Kampf gegen sie ist ein Existenzkampf, also ein nationalökonomischer, sozialer und rassehafter. Der Antisemitismus kann also kein Rückschritt sein, höchstens wäre die Entjudung ein Fortschritt.]
Als 1907/08 eine tschechische Monarchie errichtet ist, drängen auch die Juden nach Böhmen und der neue Staat war eigentlich eine klerikal-konservativ-altjüdische nationale Frühgeburt von lakaienhaftem Aussehen (Mikulášek 2000: 58). Als rachsüchtige Schankwirte und Wucherer, die das Dorf zugrunderichten und die Bauern ruinieren, erscheinen die Juden in den großen Dorfroma-
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nen von Alois und Vilém Mrštík,3 Jan Herben4 und Josef Holeček.5 Sie werden reich durch die Vernichtung der Dörfer, kaufen sich dann eine Domäne mit Schloss oder in der Stadt eine Fabrik (Mikulášek 2000: 152f.). Nicht so glücklich ist der Schankwirt Salomon Steiner in Jindřich Šimon Baars Roman Jan Cimbura. Jihočeská idyla [J. C. Eine südböhmische Idylle] (1908, ²1921). Hier wird das jüdische Gasthaus von den Einheimischen gemieden, erst der Bau der Eisenbahn bringt ihm mit den Ingenieuren, Vorarbeitern und Arbeitern eine schnelle Konjunktur. Als sie weiterziehen, bleibt Salomon Steiners Kneipe wieder leer. Auf seine Frage, warum die Dorfbewohner sein Geschäft boykottieren, erhält er zur Antwort: „Protože nejste náš člověk ani krví, ani jazykem, ani vírou“ [Weil Ihr nicht unser Mensch seid weder durch Blut, noch durch Sprache, noch durch Glaube]. Als er das Dorf verlässt, machen die Frauen drei Kreuze hinter ihm und der Pfarrer seufzt und sagt zu seinem Vikar: „‚To jsem rád, zase je osada naše panenská.‘ ‚Jak to myslíte?‘ ‚Je osadou, na které není žida‘“ [‚Da bin ich froh, unsere Gemeinde ist wieder jungfräulich.‘ ‚Wie meint Ihr das?‘ ‚Es ist eine Gemeinde, in der es keinen Juden gibt‘] (Baar 1968: 284f.; Mikulášek 1998: 404). Die obsessive Angst vor einer jüdischen Weltherrschaft, verbunden mit der Angst vor den Polen, hat František Sokol Tůma, der sich selber als objektiven Beobachter verstand, in seinem Ostrau-Roman E’ Gešeftsman [Ein Geschäftsmann] zum Ausdruck gebracht, der 1901-02 zunächst in Fortsetzungen als Beilage des Ostravský obzor [Ostrauer Rundschau] erschien; unter dem Titel V záři milionů [Im Glanz der Millionen] wurde er 1923 Teil der Ostrau-Trilogie Černé království [Das schwarze Reich] (Mikulášek 2000: 61f.).6 Wird Eleazar Bauchbrenner, ein jüdischer Proletarier, dann ehrlicher Händler, der durch die Schuld rücksichtsloser Christenmenschen stirbt, mit deutlicher Sympathie gezeichnet, so zeigt Sokol Tůma an der Hauptperson des Romans, dem Sohn Chaim Bauchbrenner, den Aufstieg eines polnischen Juden, eines 3 Rok na vsi [Ein Jahr auf dem Dorf], 10 Teile, 1903-04, Ort ist das Dorf Habrůvka im Slovácko, wo mehrere Juden leben: ein Landstreicher, zwei Gastwirte: Max Katz und Weiner mit seiner hübschen Tochter Betty; Kohn, der Wucherer aus Borová (Mikulášek 1998: 404f.; Schamschula 1996: 290f.). 4 Do třetího a čtvrtého pokolení [Bis ins dritte und vierte Glied], 2 Teile, 1889-92; spielt in der mährischen Slovakei (Mikulášek 1998: 405; Schamschula 1996: 279-281). 5 Naši [Die Unsrigen], 10 Bände in 12 Teilen, 1898-1931. Die Jüdin Sara kommt mit ihrem zehnjährigen Jungen Leopold Muttermilch (gen. Leopoldka) in das Dorf Jezbery, sein Leben wird ab Teil V erzählt (Mikulášek 1998: 153f.; Schamschula 1996: 170f.). 6 Vgl. die Werbung für den Roman: ,Sensační román o 5 dílech ze života ostravských židů‘ [Sensationsroman in 5 Teilen aus dem Leben der Ostrauer Juden] in Sokol Tůma (o. J.: 480).
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Hausierers, Betrügers, Zutreibers, Börsianers und Händlers zum Millionär. Diesen Aufstieg versteht der Autor als Ausdruck jüdischer Rasse: Chtěl zbohatnouti, poněvadž dle ustáleného vědomí jeho nitra – vzniklého vědomím příslušnosti raçové – byl členem onoho národa, který osobuje si právo jako jeden z nejstarších na celé zeměkouli na všecko, co je na ni i v ní (Sokol Tůma o. J.: 41; Sokol-Tůma 1928: 59; Mikulášek 2000: 63). [Er wollte reich werden, weil er gemäß dem fixierten Bewusstsein seines Innern – entstanden durch das Bewusstsein der Rassenzugehörigkeit – ein Mitglied jenes Volkes war, das sich als eines der ältesten auf dem ganzen Erdkreis alles, was auf und in ihm ist, anmaßt.]
Chaim zeigt sich in seinem Gebet am Ende des Romans als Anhänger der Idee von der jüdischen Weltherrschaft: Ty, Hospodine, učinils, že zahanbení jsou nepřátele moji a v ponížení stojí přede mnou. Zachovej, ostříhej lid svůj o Pane aby nikdy nebyl nižším, ale vždycky vyšším, nikdy ocasem, ale vždy hlavou národů, neboť Hospodine tvoji vůli a rozkazem dán Tvému lidu svět v područí, aby mu vládl, panoval, poroučel a osudy jeho řídil lid vyvolený. (Sokol Tůma o. J.: 386; Sokol Tůma 1928: 477; Mikulášek 2000: 63) [Du, Herr, hast es getan, dass meine Feinde zuschanden sind und in Erniedrigung vor mir stehen. Bewahre, beschütze dein Volk, o Herr, dass es niemals erniedrigt, sondern allzeit erhöht werde, niemals der Schwanz, sondern immer das Haupt der Völker sei, denn, Herr, durch deinen Willen und Geheiß ist Deinem Volk die Welt in die Hand gegeben, dass sie beherrsche, befehlige und seine Geschicke leite das auserwählte Volk.]
Und schließlich hatten auch die Tschechen mit der ‚Hilsneriáda‘ ihre ‚Dreyfus-Affaire‘, als im Jahre 1899 der Schneidergeselle Leopold Hilsner des Mordes an der 19jährigen Häuslertochter Anežka Hrůzová angeklagt wurde, woraus dann mithilfe aller möglichen Medien ein Ritualmord wurde; Jaromír Hušek hatte in den České zájmy Hilsner als Täter ins Spiel gebracht, woraus die jungtschechischen Zeitungen dann einen Ritualmord machten. Der um eine Revision des Justizirrtums bemühte Prager Philosophieprofessor Masaryk sah sich jahrelang Pöbeleien, Anfeindungen und Beleidigungen ausgesetzt (Tripolis Praga 2001: 101f.; Mikulášek 1998: 253-258; 2000: 85f.).
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2. Petr Bezruč (1899/1900)
In den Jahren 1899 und 1900 schrieb Petr Bezruč den größten Teil seiner Slezské písně [Schlesische Lieder], die seit 1903 in der Zeitschrift Čas [Die Zeit] zu erscheinen begannen.7 Die profilierteste jüdische Figur dieser Lieder ist der Papírový Mojšl [Der Papier-Moischl], den wir zunächst mit den Augen des lyrischen Ichs zu sehen bekommen: ein Jude aus Polen, dicke Lippen, krumme Nase, krause Haare; einst ein Bettler, schikaniere er jetzt die Leute, kaufe die Bauern auf, habe das ius primae noctis. Das Ich trifft ihn dann in einer Winternacht und nimmt ihn mit in eine Kneipe, wo ihm Mojšl die Geschichte seiner unglücklichen Liebe erzählt. Wegen eines verdächtigen Briefes (den dann der Wind fortgeweht habe) hat er seine Braut erschlagen. Die Ärzte haben ihn für verrückt erklärt; nun zieht er durch die Welt, um den verlorenen Brief zu suchen. Gibt man ihm ein Stück Papier, steckt er es sofort in seinen Sack, gibt man ihm Geld, wirft er es weg. Mojšl also unterläuft alle antisemitischen Erwartungen: der hässliche Jude sucht, psychisch krank, nur nach dem Brief der Braut, er ist nicht geldgierig (was er doch zu sein hätte), er verführt die Bauern nicht zum Trinken, sondern bedarf selber des Alkohols. So wird er zur tragischen Figur menschlichen Leidens (Papírový Mojšl, in Bezruč 1951: 18-23). Ansonsten aber figurieren die Juden auch bei Bezruč als Ausbeuter des Dorfes, als Schankwirte, Wucherer und ‚Germanisatoren‘. Als Symbolbegriff für die Eindeutschung geistert der ‚Marquis Gero‘ durch die Schlesischen Lieder, eine Figur aus der Mythologie der tschechischen Nationalbewegung, die suggerieren soll, dass ‚die Deutschen‘ schon seit dem frühen Mittelalter – lies: immer – nur als Kolonisatoren und Unterdrücker der gutwilligen und schwächeren Slaven aufgetreten sind.8 In Par nobile treten der Jude Nathan Löw und markýz Gero im Doppelpack als Schädiger des arbeitenden Volkes, hier der Goralen, auf. Jude und Deutscher bringen diese durch Schnaps in ihre Abhängigkeit, gewähren weder Kredit noch Nachlass, sondern treten und spucken als Antwort auf entsprechende Bitten. Der Dichter hofft, dass aus den Knochen der Zugrundegegangenen ein Rächer erstehen möge, der Nathan Löw an die eine und markýz Gero an die andere Weide hängen wird 7 Zum Problem der Textgeschichte der Slezské písně s. František Buriánek in Dějiny (1995: 86f.) sowie die Ausführungen bei Smolka (2002). – Zu Bezruč s. Mikulášek (1998: 35-37; 2000: 80-83; Schamschula 1996: 491-499). 8 Zum historischen Gero, dem Markgrafen an mittlerer Elbe und Saale im 10. Jhd., s. Schlesinger (1964: 313-314) sowie mit anderer Bewertung Geros: Geschichte der Sorben (1975: 74).
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(Bezruč 1951: 130f.). Der gute Kantor Halfar ist ein aufrechter Tscheche, der sich den fremden Herrschaften in Lipina nicht unterordnen will und daher bei der Besetzung der Stelle immer übergangen wird. Schließlich erhängt er sich und wird in einer Ecke des Friedhofs begraben – „und so bekam Halfar eine Stelle“, wie der Dichter treffend kommentiert (Kantor Halfar in Bezruč 1951: 37f.). Des weiteren droht den Tschechen in Schlesien die Verdrängung, ja wohl Vernichtung durch die Polen; häufig finden wir in den Liedern das Motiv der polnischen Schule oder polnischen Kirche im tschechischen Dorf (z. B. in Domaslovice, Blendovice, Tošonovice). So begegnet dem Ich einst auf der Straße eine „šumná děvče“, eine „dźevuška švarna“ [ein blitzsauberes Mädel], das er anspricht. Wegen ihrer Sprache hält er sie für eine Polin, doch sie erwidert beleidigt, sie sei eine „Moravka“ [Mährin], lediglich der Rektor in der Schule, der ihnen polnische Bücher gebe, sei ein Pole. Ohne es zu bemerken also, ist sie auf dem Weg der Assimilierung, dabei aber fest davon überzeugt, eine Tschechin zu sein (Tošonovice, in Bezruč 1951: 48f.). Anders Bernard Žár aus Frydek, der sich Bernard Žor nennt, seine Herkunft verleugnet und dafür sorgt, dass die Sprache der verdammten Parias in seinem Haus nicht gesprochen werde. Daher schickt er seine Mutter aus dem Haus, wenn Gäste kommen, denn er schämt sich ihrer Sprache, die sie hinwiederum gern spricht. Sie steht, als er stirbt, an seinem Grabe, um, furchtsam zwar, damit der Tote nicht in Zorn gerate, gleichwohl in der Sprache der Parias für ihn zu beten. Der Konflikt Mutter-Sohn bleibt ungelöst, der Sohn ist uneinsichtig, die Mutter durch sein Gebaren verschreckt, hält aber treu zu ihrer Herkunft, die sie nicht verleugnet (Bernard Žár, in Bezruč 1951: 54f.). Aber nicht nur das Dorf ist bedroht, auch Ostrava, der neuen Industriemetropole, droht die Polonisierung. So heißt der rechts der Ostravice gelegene Teil der Stadt nun amtlich Polská Ostrava. In dem Gedicht gleichen Titels wendet sich die Stadt selber an ihr Volk, das mährische, das betrogen wird: „Já jsem Polská Ostrava, však lidu moravského“ [Ich bin Polnisch-Ostrau, doch mährischen Volkes]. Mit der Industrialisierung, die viele fremde Arbeiter aus dem Osten in die Region brachte, beschlossen die „konšelé ze západu“ [Ratsherren aus dem Westen] daher auch den Namen zu ändern. Nur der gleichgültige Zuwanderer [„Přibylec“] ändere die Namen der Vorfahren, nur der aufgeblasene Zuwanderer verderbe die Sprache und nenne die Lucina Lučina, Karviná Karvín und Dombrova Doubrava. Geholfen wird ihnen vom ledernen Gelehrten [„učenec kožený“], der das Leben nicht kennt und zwischen seinen Büchern sitzt wie die Spinne unterm Dach, der auf den Landkarten falsche Grenzen
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zieht und die Lachen zu den Mährern zählt.9 Von den Prager Tschechen ist keine Hilfe zu erwarten, sie lassen das dezimierte Grenzvolk gedankenlos im Stich (Polská Ostrava, in Bezruč 1951: 143). Die mythologisierenden Figuren der Selbstdarstellung sind daher getaucht in Untergangsstimmung. Wie Leonidas an den Thermopylen, so steht der schlesische Sänger zu Tode getroffen vor Těšín, mit durchstochenen Seiten auf die Lysá Hora – hier mit dem Dialektwort „Gigula“ bezeichnet – gestützt, wie das Gesetz es befahl (Leonidas in Bezruč 1951: 78f.); als Gladiator stirbt er in Michalkovice, niedergestochen von dem Thrakier German und dem Äthiopier Pol, von Deutschen und Polen also (Michalkovice in Bezruč 1951: 76f.); wie Christus ist er zwischen Bohumín, Ostrava, Tešín, Lipina und Lysá Hora ans Kreuz geschlagen (Vrbice in Bezruč 1951: 63). Und der hässliche Bergmann, dem das wenige ihm verbliebene Blut aus dem Munde fließt, fragt, wer seine Stelle einnehmen werde, wenn das Gras über ihm gewachsen ist und wenn er verfaulen wird (Kdo na moje místo? [Wer ist an meiner Stelle?] in Bezruč 1951: 80). So verdecken das Pathos, die Bilder der Gewalt, die großsprecherischen Gesten eigentlich nur das Gefühl der Schwäche, des Todes, der Vergeblichkeit in diesem ‚Volkstumskampf‘ im ‚Grenzland‘.
3. František Xaver Šalda (1904)
In einem halb erzählerischen, halb reflexiven Text aus dem Jahre 1904 mit dem geheimnisvoll-raunenden Titel Ležela země přede mnou, vdova po duchu... Dojmy a bolesti [Lag die Erde vor mir, eine Witwe im Geiste... Eindrücke und Schmerzen]10 zeigt uns František Xaver Šalda die Leidensfigur einer ‚neznámá Slovačka‘, einer mährischen Slovakin also aus jenem folkloristisch so ergiebigem Slovácko, der mährischen Slovakei, die seit den 1890er Jahren 9 Über den Versuch, eine lachische Volksgruppe mit eigenem Siedlungsgebiet zu behaupten, s. Vlastivěda Moravská (2000/01: 25f.), über die Erfindung einer lachischen Sprache durch Óndra Łysohorsky s. Schamschula (2004: 138-141), LČL 2/II (1993: 1257-1260); Kulturněhistorická encyklopedia A – M (2005 : 484-485); Zwicker (2009). 10 Für den Hinweis auf diesen Text sei Kurt Krolop an dieser Stelle herzlich gedankt!
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auch der Maler Joža Úprka für die Moderne entdeckt und wo Leoš Janáček seit 1875 bei Bauern und Hirten Musik aufzeichnete, die er auch als Vorbild seiner modernen Musik interpretiert hatte (noch Milan Kundera wird die Folklore des Slovácko zu einem zentralen Thema in seinem Roman Žert [Der Scherz] machen).11 Die Slovačka erscheint dem Erzähler als Inbegriff der gesamten Slovakei, eines aus einer vitalistisch-irrationalen Perspektive heraus als vormodern interpretierten ländlichen ‚Abseits‘ also, das kritisch der rationalen Moderne entgegengehalten wird: V tu chvíli viděl jsem v tobě ztělesněno celé Slovensko, zemi básníků a umělců, kteří o sobě nevědí a kteří se neznají – zemi dětske´ho lidu, naivnějšího ve zlém i v dobrém, než jsme my, v němž hlasitě hovoří ještě temné prameny instinktů – větev života, na níž stěsnalo se úže k sobě než jinde vysoké i nízké, krása i umirání. (Šalda 1948: 178) [In diesem Augenblick sah ich in dir die ganze Slovakei verkörpert, das Land der Dichter und Künstler, die nichts von sich wissen und die sich nicht kennen – das Land des kindlichen Volkes, naiver im Bösen und im Guten, als wir es sind, in dem vernehmlich noch die dunklen Quellen der Instinkte sprechen – der Zweig des Lebens, auf welchem sich enger aneinander als anderswo das Hohe und Niedere, Schönheit und Sterben drängte.]
Der Erzähler trifft diese slavische Erdmutter auf einer Wallfahrt, die ihm als volkstümlicher Brauch zwar als unmodern, aber deswegen auch als echt erscheint: Nemáte divadel, nemáte koncertů, nemáte romanů, nemáte výstav a cestování – máte jen svoji pouť. Dnes vyšla jsi sbírat koření života – jím budeš kořenit nestravitelnost dní a dní, nocí a nocí. (Šalda 1948: 179) [Ihr habt keine Theater, ihr habt keine Konzerte, ihr habt keine Romane, ihr habt keine Ausstellungen und Reisen – ihr habt nur eure Wallfahrt. Heute bist du gekommen, die Wurzeln des Lebens zu sammeln – mit ihnen wirst du die Unverdaulichkeit der Tage und Tage, der Nächte und Nächte würzen.]
Der Erzähler nutzt das Wallfahrtsmotiv zu antikirchlichen und antiklerikalen Überlegungen, deren Bezug allerdings nur das Verhältnis von Kirche und slavischer Erdmutter ist, die ‚Kirche‘ ist hier also Teil seines nationalen Diskurses. Er kenne die barbarisch scheckige Geschmacklosigkeit der Kirchen, die sie zu Tränen rühre, den theatralischen Gestus und das grobe Pathos der Prediger, das dem letzten Vorstadttheater entliehen sei, wodurch sie erregt 11 Zum Slovácko: Vlastivěda Moravská (2000/2001: 10/19-23); zu Úprka s. Walter Schmitz in Tripolis Praga (2001: 115f:); zu Janáček siehe Racek (1971: 35f., 71-78); Jiří Vysloužil: Vlastivěda (2000/2001: 10/174-176). Im Žert ist die Musik mit der Figur des Jaroslav verbunden; zum Volksbrauch der ‚Jízda králů‘, die im 7. Teil des Romans geschildert wird, s. Frolec (1990).
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werde, er kenne die falschen Korallen und Glasperlen, die sie blenden und betäuben (Šalda 1948: 179). Es ist also Lug und Trug, wodurch die gutgläubige Seele verlockt und verführt wird. Gegenstand ausführlicher Kritik werden dann die slavischen Säulenheiligen Cyrill und Method, deren Brauchbarkeit für einen katholischen Patriotismus ja gerade die 1848 gegründete Jednota moravská [MährischeVereinigung] (1849 umbenannt in Národní jednota sv. Cyrila a Metoděje [Nationalvereinigung der hl. Cyrill und Method] zu erweisen suchte (Hultsch 2007: 212-215). Sie seien, so der Erzähler, der an ihren Figuren vorbeigeht, „verlogene und parfümierte Leichen“ wie die ganze Kirche. Wenn diese einstmals im Aufschwung lebte mit Bernhard von Clairvaux, im Herzen mit Franziskus von Assisi, in der Vernunft mit Thomas von Aquin und in der Phantasie mit Philippo Neri und Juan de la Cruz, so heute mit der Polizei – den Jesuiten. Der tote Körper der Kirche liege schwer auf den Völkern, am schwersten aber – natürlich – auf „uns“, den schwächsten (Šalda 1948: 181). Den Grund dafür scheint der Erzähler in einer Art kultureller Verspätung, der verspäteten Christianisierung zu sehen. Er fasst sie in einem Bild: während die anderen Völker aus dem Kelch des Christentums rechtzeitig zu trinken abließen, tranken die Slaven aus ihm Schlummer und Gift; tranken jene noch das frische Wasser, so diese das abgestandene; tranken jene die Schönheit und die Abenteuerlust, den Aufschwung und die Mystik, so blieb diesen nur die Maische. So erstickte die Kirche sie mit den „Miasmen ihrer Zersetzung, mit dem Gift ihrer Verwesung“ (Šalda 1948: 182). Mit solchen prononciert antikatholischen Sentenzen vermochte Šalda durchaus bei einem Großteil seiner tschechischen Mitbürger Zustimmung zu finden – gerade in der anspruchsvollen, feinsinnigen ästhetischen Verpackung, die er ihnen zu geben wusste. Nicht anders dürfte es mit dem ästhetisch gedämpften Antisemitismus in demselben Text sein. Ort des Geschehens ist ein Städtchen in Ostmähren, in demselben ein Haus: solide, mit schwer geschmiedeten Türen und festen Eisengittern im Erdgeschoss. Es hat nichts Marktschreierisches, nichts Verlogenes, nichts Pappenhaftes, nichts auf Lug und Trug Berechnetes: „Jest to těžkopadná, holá a střízlivá obluda, která odstoupila trochu od silnice a malými, nedůvěřivými, zlostnými očky měří si všecko: [...]“ [Es ist ein schwerfälliges, nacktes und nüchternes Ungeheuer, das ein wenig von der Straße zurückgetreten ist und mit kleinen, misstrauischen und bösen Äuglein alles misst] (Šalda 1948: 183). Eher eine Festung als ein Haus, wendet es sich nach innen zum Hof; es interessiert sich nicht für draußen und will nicht paradieren. Dieses feindliche, abweisende, unkommunikative Haus gehört einem reichen Juden; gebaut hat es dessen Vater, der „mit bloßen Händen“ angefangen hat. Es hat ein charakteristisches, soziales Profil: im Erdgeschoß, das
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vermietet ist, gibt es eine tschechische Kneipe, eine Art „Eisenkäfig“, in dem die Walachen zechen und die letzten Bretter ihrer halbverfallenen Holzhütten vertrinken (Šalda 1948: 184). Erdgeschoß und erste Etage, verbunden nur durch eine kurze Treppe, haben nichts Gemeinsames. Wenn unten Armut, Verzweiflung und Verderbnis [„zahynutí“] wohnen, so oben Kultur, Literatur, Kunst und Vernunft – sie verstehen, wie der Erzähler sehr schön sagt, nur deutsch (Ebd.). So hört man von dort Tristan und Isolde, die Meistersinger oder Verse von Hofmannsthal und Hauptmann. Das reich gewordene, arrivierte Judentum passt sich – opportunistisch, wie wir mit dem Erzähler denken sollen – der Kultur der Oberschicht an. Die „dritte Generation“ interessiert sich nicht mehr für den Handel, sie arbeitet kulturell und literarisch, aber ephemer, surrogathaft, unoriginell, imitatorisch, blutleer, klischeehaft – ihre Poesie ist nur ein Aufguss einiger moderner Dichter (Šalda 1948: 184f.). In deutschen Provinzblättern gelten sie als mährischer Maeterlinck, Hauptmann oder Ibsen (Ebd.: 185). Die tschechischen Mährer, die Slováci und Walachen – sie erscheinen ganz in der Tradition der nationalen Selbstbehauptung der sog. kleinen Völker im 19. Jahrhundert auch hier als Opfer: Die schwache, kränkliche, duftlose Blume wuchs auf den Leichen der Landbevölkerung, auf einem Friedhof eingeäscherter Dörfer, der ihm als Dung dient (Ebd.: 184). Das Haus mit dem armen Erdgeschoß und der ästhetischen Beletage ist nicht aus Steinen, sondern Menschenschädeln erbaut (Ebd.). Der Jude ist Händler, Kaufmann, Fabrikant, nur ganz selten widmet er sich der weniger einträglichen Landwirtschaft. Meist geht er in die Fremde, in größere Städte (Ebd.: 185). Durch die neureichen Juden wird das Land seiner selbst entfremdet. Symbol dafür ist eben das abweisende Haus mit Stadtcharakter, „das das Blut des Landes ausgesogen, die Dörfer wie die Pest entvölkert hat und auf Leichen steht“ (Ebd.). Sein Eigentümer, der Jude, verwüstet das ganze Gebiet, schleppt dann die Beute wie einen Feind in die Großstadt, spekuliert oder bringt mit ihr sein weiteres Leben untätig zu, oder überlässt sie seinen kleineren Glaubensgenossen, die nun seinen Spuren folgen und die von ihm zurückgelassenen Knochen abnagen. Dieses nekrophile, makabre Bild ‚des‘ Juden ist vom oben skizzierten Antisemitismus der Trivialliteratur nur durch die schöneren Formulierungen unterschieden. Aber Šalda stellt auch die Frage nach der Schwäche der Tschechen gegenüber den Juden: „Proč vyssávají a ničí židé, kteří neublíží silnějším národům, proti nimž jsou jiní immunisování?“ [Warum saugen uns die Juden aus und vernichten uns, jene Juden, die den stärkeren Völkern nicht schaden, gegen die andere immun sind?] (Šalda 1948: 185). Šalda verhandelt dieses Problem in der biologistischen Rede von Krankheit und Körper, die das soziologi-
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sche und soziale Problem eher verschleiert als verstehen hilft. Die Krankheit vermag in den Körper einzudringen, weil dieser geschwächt ist. Die Gefährlichkeit des Juden ist Symptom dafür, dass „wir“ (d. h. die Tschechen) im Kern krank sind. Daher werden für Šalda die Juden, ihnen selbst nicht bewusst, zum Instrument einer „eigentümlichen und dunklen und gleichwohl klaren und logischen Macht.“ Wie Hunger und Pest, die nur die Schwächeren und schlecht Angepassten vernichten, erfüllen sie lediglich eine „fatalistische Sendung“, zu der sie dank ihres Charakters und ihrer Geschichte geradezu prädestiniert seien. Und der Antisemitismus des Textes erweist sich als religiös: Die Juden sind nicht als Volk oder Rasse ‚anders‘, sondern durch ihren Glauben, der geprägt ist durch den kalten, rachevollen Gott des Alten Testaments, der nichts verzeiht und der sein Opfer „mit mathematischer Genauigkeit“ fordert. Šalda entdeckt das jahwistische Gottesbild als Ursache der Fremdheit der Juden in ihrer Umgebung. Die jüdischen Tugenden: Zähigkeit, Ausdauer, Sinn für Pflicht und Ordnung findet der Erzähler in einem ihm bekannten Juden versammelt. Mit harter Zucht verband er sich die Familie, das Gesinde. Šalda versteht: ein solcher Mensch mordet [sic] nicht aus Leidenschaft oder Vergnügen [„rozkoš“], sondern gleichsam unpersönlich, aus Pflicht, im Dienst einer kalten Macht: er geht einen vorherbestimmten Weg wie die Pest, der Krieg, der Hunger, das Gift. „Je v službě zvláštní temné, osudné moci: demaskuje svět, trhá s něho larvu a pomáhá hlubší pravdě na povrch a k projevu“ [Er ist im Dienst einer eigenartigen, fremdartigen, schicksalhaften Macht: er demaskiert die Welt, reißt ihr die Larve ab und verhilft der tieferen Wahrheit nach oben und zur Erscheinung.] (Šalda 1948: 186). Eine solche Figur ist jedem Anti-Affekt, jedem Ressentiment letztlich entzogen, der Jude wird gleichsam eins mit seiner Gottheit; damit hat er aber letztlich Recht. Die Vernichtung des Schwächeren ist eine Unausweichlichkeit. So bekommt das Bild des Juden hier eine unheimliche Monumentalität, die der Notwendigkeit entspringt.12
12 Über Šaldas Verhältnis zum Judentum s. Mikulášek (1998: 321-327).
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Literatur
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Fremdbilder in der tschechischen Literatur um 1900
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Christiane Brenner
Briefe an den toten Freund: Aussiedlung und gesellschaftlicher Umbruch in der tschechischen Nachkriegsliteratur1 Der Zweite Weltkrieg ist in den letzten Jahren mit großer Vehemenz in die öffentliche Erinnerung in Deutschland zurückgekehrt – und damit auch die Erinnerung an Flucht und Vertreibung aus Ost- und Ostmitteleuropa (Frevert 2003). Das historische Narrativ, auf das sich ein großer Teil der zahllosen populären Darstellungen von Flucht und Vertreibung und auch so manche wissenschaftliche Publikation stützt, erklärt diese aus der Logik des (ostmittel-) europäischen Nationalismus, dessen Wurzeln im 19. Jahrhundert liegen und der im Zuge des 20. Jahrhunderts und dann vor allem während des Zweiten Weltkriegs eine extreme Radikalisierung erfuhr.2 Dieses Deutungsmuster lässt sich mit Zitaten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit unschwer untermauern. In den Reden von Politikern der von deutscher Besatzung befreiten Länder dominierte eine – aus heutiger Sicht – abstoßend wirkende antideutsche Rhetorik; nicht selten wurde direkt oder indirekt zu Gewalt aufgerufen, um über eine „nützliche Anarchie“ neue Fakten zu schaffen (Frommer 2005: 63). In der Tschechoslowakei, die im Zentrum der vorliegenden Betrachtungen steht, begründeten Politiker die Alternativlosigkeit einer restlosen Aussiedlung der Deutschen mit einem apologetischen und nationalpsychologisch fundierten Geschichtsbild.3 Sie richteten sich damit sowohl an die Alliierten, die es von den Umsiedlungsplänen und ihrer konsequenten Durchführung zu überzeugen galt, als auch an die eigene Bevölkerung, die nach den Jahren von Krieg und Okkupation reintegriert, mobilisiert und auch diszipliniert werden sollte. 1 Es handelt sich sich um eine erweiterte und überarbeitete Fassung eines Unterkapitels aus dem Band „Zwischen Ost und West“. Tschechische politische Diskurse 1945-1948 (Brenner 2009: 250-258). 2 Das Paradebeispiel für eine solche Deutung, die für sich in Anspruch nimmt, ,Lehrstück‘ für die gesamte Geschichte ostmitteleuropäischer nationaler Konflikte zu sein, ist Glotz (2003). Dazu vor allem Hahn/Hahn (2004). Zur Entwicklung deutscher VertriebenenErinnerungskultur Goschler (2005). 3 Um nur einige prominente Beispiele zu nennen: Beneš (1996); Drtina/Herben (1945); vgl. auch Glassheim (2000).
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Radikalisierter Nationalismus greift jedoch nicht nur als Erklärungsmuster für die Politik gegenüber den Deutschen zu kurz, er erfasst auch nur einen Teil des Bedeutungsspektrums des öffentlichen tschechischen Redens über Deutschland und die Deutschen. Denn auf den Ebenen jenseits politisch motivierter Rhetorik zeigte sich dieser Diskurs als vielschichtig und vieldeutig: So war die Reflexion über Deutschland und die Deutschen im tschechischen Fall integraler Bestandteil des gesamten Prozesses der Bilanzierung, Neuorientierung und Neuformulierung des staatlichen, politischen und nationalen Selbstverständnisses. Man reagierte damit unmittelbar auf die während Okkupation und Krieg erlebte Zerstörung der ,alten Welt‘ (Wingfield 2000; Abrams 2004). Sieht man sich diese Diskussionen an, entsteht – innerhalb der durch das politische System und seine beschränkte Öffentlichkeit gesetzten engen Grenzen (Drápala 2005) – ein durchaus heterogenes, zum Teil auch widersprüchliches Bild zeitgenössischer Gegenwartsdeutungen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängste. Ein solches literarisches Beispiel der Gegenwartsdeutung, in dessen Zentrum das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen sowie die feste Überzeugung steht, dass es keine Alternative zur endgültigen Trennung beider Nationen gibt, wird im vorliegenden Aufsatz vorgestellt. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie sich die Darstellung von Deutschen und Tschechen und ihrer gemeinsamen Geschichte in die Gesamtperzeption der geistigen und gesellschaftlichen Situation von 1945 einfügt, welche Rolle also die Auseinandersetzung mit der Beziehung zu den Deutschen in der kritischen Bilanzierung eigener Gesellschaftsentwürfe spielt.
1. Briefe an den toten Freund
František Kovárnas Briefe an den toten Freund erschienen 1945 und 1946 in insgesamt drei Auflagen bei den Prager Verlagen Elk und Václav Petr (Kovárna 1946a). Kovárna war Kunsthistoriker und -kritiker. In der Ersten Republik hatte er zwar nicht zum engeren Kreis linker Schriftsteller gehört, war jedoch Ende der 1930er Jahre in die Auseinandersetzungen um André Gide und um die stalinistischen Prozesse in der Sowjetunion involviert gewesen und hatte gemeinsam mit František Halas, Záviš Kalandra, Karel Teige, Toyen, Jaroslav
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Seifert und anderen gegen den Stalinismus Position bezogen (Lehár/Stich/ Janáčková/Holý 1998: 668). Nach Kriegsende wurde Kovárna zum Professor für Kunstgeschichte an der Prager Karlsuniversität ernannt, darüber hinaus war er journalistisch ausgesprochen aktiv (Kunc 1945: 404). Er verfasste für eine ganze Reihe von Zeitungen und Zeitschriften aus dem Umfeld der Partei der Nationalen Sozialisten Artikel zur Kunst- und Kulturpolitik, in denen er an seine Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Kulturverständnis aus der Zwischenkriegszeit anknüpfte,4 schrieb aber auch Kommentare zur politischen Situation und war damit – wie viele Künstler und Intellektuelle seiner Zeit – im öffentlichen Leben sehr präsent (Brousek 1987: 242; Kozák/ Kovárna 1947). 1946 gehörte Kovárna zu den Gründungsmitgliedern des Kulturní svaz [Kulturverbandes], der ein Gegengewicht zu der von vielen Künstlern als kommunistisch dominiert abgelehnten Kulturní obec [Kulturgemeinde] bilden sollte, schließlich war Kovárna auch unter den Autoren des Gründungsaufrufs der Kulturní jednota [Kultureinheit], die im April des Jahres 1947 als Versuch entstand, die Spaltung zu überwinden und, entsprechend dem Geist der Zeit, eine alle Gruppen umfassende, einheitliche Organisation der „Kulturschaffenden“ ins Leben zu rufen.5 Seine Briefe an den toten Freund hatte František Kovárna während der Okkupationszeit verfasst. Vorausgegangen war diesem Buch eine Studie über den tschechischen Nationalcharakter zwischen „Nüchternheit und Pathos“ (Kovárna 1939), die in gewisser Weise die Folie für die Briefe bildete, die als literarisches Portrait des deutschen Nationalcharakters angelegt waren. Die Briefe an den toten Freund wurden an verschiedenen Stellen positiv besprochen,6 nach dem Februar 1948, als Kovárna über Paris ins New Yorker Exil ging, sollten sie schließlich zu einem verbotenen Buch werden.7 Das Buch ist in 12 Kapitel untergliedert, die jeweils einen der auf die kurze Zeitspanne zwischen Januar und Februar 1943 datierten Briefe umfassen. Die erzählte Zeit, die von den späten Jahren der Ersten Republik bis kurz nach Stalingrad reicht, wird dem Leser durch knappe Andeutungen – oft nur über einen Begriff wie „Bismarck“, „Mitteleuropa“ (in deutscher Sprache), „München“ oder „Münchner Bräuhaus“ – vermittelt. Es wird also davon ausgegangen, dass 4 5 6 7
Eine Sammlung von Kovárnas Aufsätzen zu diesem Themenbereich erschien 1946. Zur Entstehungsgeschichte aller drei Verbände siehe Kladiva (1968, zu Kovárna: 214). Siehe die Rezensionen von Jiříček (1946: 315f.) und Jakubův (18.1.1947: 44). In der zweiten Auflage von Kunc’ Slovník soudobých českých spisovatelů wird Kovárna nicht mehr genannt. Dass er auch in dem Nachfolgeband aus dem Jahr 1957 fehlt, ist nicht erstaunlich (Kunc 1957). Doch auch in dem schon deutlich erweiterten Nachschlagewerk von 1964 fehlt der Exilautor (Kunc 1964). – Vgl. auch den Eintrag in Brabec (1991: 240f.).
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der Leser diese Topoi versteht und richtig zuordnet. In einigen Kapiteln fallen Momente großer Emotionalität mit dramatischen historischen Ereignissen zusammen, wodurch die Spannung des Erzähltextes gesteigert wird. Doch nie steht die Geschichte im Vordergrund, sie bildet vielmehr den Rahmen bzw. die als vertraut vorausgesetzte Kulisse, vor der die Erzählung einer zum Scheitern verurteilten Freundschaft zwischen dem tschechischen Briefschreiber und dem (reichs-)deutschen, unlängst an einem nicht genauer bezeichneten östlichen Kriegsschauplatz gefallenen, einstigen Freund entwickelt wird. Beide Protagonisten sind Wissenschaftler, Kunsthistoriker, und waren vor Kriegsausbruch an der Prager Universität tätig. Der Deutsche war als Stipendiat des tschechoslowakischen Staates dorthin gekommen, als Gast also. Zunächst ist die Fremdheit zwischen beiden groß. Doch nach und nach öffnet sich der anfangs steife Deutsche, zeigt nicht nur wissenschaftliches Können, sondern auch Interesse am Land und den Leuten, bald kann er sich ohne Probleme auf Tschechisch verständigen. Über die wachsende Nähe, die auch von der Ähnlichkeit der Lebensgewohnheiten von Tschechen und Deutschen und damit von einer zumindest oberflächlichen Verwandtschaft zeugt (Kovárna 1946a: 66), geraten die Eigenschaften und Ansichten des Deutschen, die dem tschechischen Erzähler als fremd und irritierend erscheinen, wie die Ablehnung Russlands und ein extrem hierarchisches Bild der europäischen Nationen, allmählich in den Hintergrund (Kovárna 1946a: 120-127). Im privaten Gespräch mit dem Tschechen äußert sich der Deutsche anfänglich beunruhigt und entsetzt über die politische Entwicklung in seinem Heimatland seit der nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar 1933. Doch fügt er sich bald dem allgemeinen Trend, reiht sich ein und ‚marschiert mit‘. Seinem tschechischen Freund erklärt er den Sinneswandel folgendermaßen: Das ist bei uns Gewohnheit. Bei uns wird einfach marschiert. Bei uns marschieren nicht nur die Soldaten in bürgerlicher Verkleidung, bei uns marschieren die Sozialdemokraten, die Kommunisten. Sobald zwei, drei Leute gehen, marschieren sie schon, ja es marschiert jeder allein. Und wenn beim Marschieren die Führung wechselt, marschieren wir weiter. (Kovárna 1946a: 68)
Die so verstandene Pflicht und den Gehorsam stellt er über persönliche Überzeugung, seine Individualität verschwindet im nationalsozialistischen Kollektiv. Sein Tod erscheint als logische Konsequenz dieses Verschwindens. Zurück bleibt der ehemalige Freund voller Fragen, die er in einem eindringlichen, hastigen, teilweise stark redundanten Monolog an den Toten richtet, zu dem, seit dem Zeitpunkt, an dem er im deutschen nationalen Kollektiv verschwand, keine Kommunikation und keine Nähe mehr möglich gewesen war.
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Diese Fragen muten auf den ersten Blick sehr persönlich an, sie sind an einzelne Stationen der gegenseitigen Annäherung, an gemeinsame Erlebnisse, kleine Szenen aus der Freundschaft geknüpft. Von Anfang an schwingt jedoch mit, was erst im letzten Drittel des Textes direkt formuliert wird: dass der Autor nämlich das persönliche Scheitern als paradigmatisch für das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen während der Zwischenkriegszeit begreift, den einstigen Freund mit dem deutschen Volk identifiziert: Ich habe gedacht, dass ich Dich sehe, nur Dich, und habe mehr den Menschen gesehen, der von Euch, ausgerechnet aus Eurem Land, in Deiner Gestalt kam und bereit war, sich mit mir und mit Europa zu verständigen, zumindest mit Westeuropa. Du warst mein Traum von der Zukunft, die wir mit dem Chiliasmus unserer Generation erwartet haben und im blendenden Strom der Säfte, mit denen der Selbsterhaltungstrieb die Wunden Eueres Ersten Weltkrieges heilte und bedeckte. Und dieser Traum verzauberte mich so, dass ich aufhörte, Deine eigenen Züge von ihm zu unterscheiden, und schließlich nicht mehr zurückgesehen habe auf die im Halbdunkel liegenden Wurzeln, die unsere eigenen Eigenschaften mit denen verbinden, die durch die Familie, den Stamm und die Nation geprägt und bestimmt sind. (Kovárna 1946a: 52)
Von der Frage ausgehend, ob die Freundschaft mit dem Deutschen auf einem Irrtum, auf Blindheit oder Täuschung beruhte (also der Suche nach dem eigenen Versagen), arbeitet sich der tschechische Briefschreiber zu einer Analyse des „deutschen Wesens“ vor, aus der er sich die Erklärung für den Sieg des Nationalsozialismus, das Funktionieren des nationalsozialistischen Systems und das millionenfache Morden von Zivilisten und im Krieg erklärt. Er findet diese Erklärung in der sonderbaren Schizophrenie, die das Wesen und Handeln des Freundes bestimmte: einer Trennung des privaten vom öffentlichen Menschen. Ist der private Deutsche ein biederer Bürger oder vielleicht sogar ein kultiviertes Wesen – also Vertrauen erweckend für seine nicht-deutsche Umwelt –, handelt es sich beim öffentlichen Menschen um eine marschierende Maschine, die jederzeit abrufbar ist. Hier setzt Kovárnas Erklärung für den Nationalsozialismus und die Entfesselung des Weltkrieges durch die Deutschen an: Eine entindividualisierte, gewissenlose Gehorsamkeitsstruktur habe die Deutschen von Luther zu Hitler geführt, nur wenn diese und der Glaube an die Überzeugung von der Notwendigkeit deutscher Führung in generationenlanger Arbeit abgebaut werde, bestünde eine Chance auf Frieden (Kovárna 1946a: 114). Die zentralen Topoi für die Charakterisierung der Deutschen sind „šílenství“ [Wahnsinn, Irrsinn] und „pochod“, „pochodovat“ [Marsch, marschieren]. Der Marsch symbolisiert sowohl die deutsche Ostsiedlung als auch Preußens Weg zur Führung Deutschlands. Er steht für den Aufstieg des Nationalsozialismus wie für den Zweiten Weltkrieg. Und auch die Hinwendung des Freundes zum Nationalsozialismus wird mit dieser Metapher beschrieben: „Du hast Dich mit
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Deinen Landsleuten auf den Marsch begeben“, „in ihren Marsch eingereiht“, „alle, die mit Dir marschierten“, „eure Gewohnheit, weiterzumarschieren“, „die marschierten wie eure preußischen Reihen“. In Zusammenhang mit dem Bild vom Marsch erscheinen häufig Uniformen, Maschinerien und Marionetten, Abläufe werden als „mechanisch“ dargestellt. Der marschierende Mensch wird als Mensch ohne eigene Verantwortung, ohne Willen und Individualität gezeichnet und repräsentiert den öffentlichen Deutschen. Wenn diese Facette bei dem einzelnen Deutschen auch zeitweilig in den Hintergrund treten kann – gleich der kaum noch wahrnehmbaren Mensur im Gesicht des einstigen Freundes (Kovárna 1946a: 20) – ist sie doch jederzeit durch Befehl von oben abrufbar. Als ‚typisch deutsch‘ beschriebene Eigenschaften – wie Selbstdisziplin, Pünkt lichkeit und Fleiß –, die im Umgang mit dem privaten Deutschen positiv, ja sogar beneidenswert erscheinen können (Kovárna 1946a: 21), werden im ferngesteuerten Kollektiv zu Instrumenten mörderischer Ziele. Der Erzähler selbst erscheint nicht nur als das tschechische Pendant, als typischer Vertreter seiner Generation und Träger tschechischer Eigenschaften, sondern steht auch stellvertretend für die Politik und die politischen Irrtümer der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Die Älteren, führt der Briefschreiber aus, die noch die Habsburgermonarchie gekannt und den Ersten Weltkrieg erlebt hatten, hätten sich stets eine gewisse Skepsis gegenüber den Deutschen bewahrt, ihnen hätte die aggressive Seite des Deutschtums, das deutsche Bedürfnis, zu herrschen und zu unterdrücken, immer vor Augen gestanden. Nur die, denen diese Erfahrung fehlte, hätten sich so weit auf die Deutschen eingelassen, sich ihnen so weit geöffnet, dass ihnen das Gefühl für die Unterschiede verloren gegangen sei. So erschrickt der Ich-Erzähler in der Erinnerung daran, mit dem Freund so geläufig Deutsch gesprochen zu haben, dass es ihm gar nicht mehr in den Sinn kam, eine Fremdsprache zu sprechen (Kovárna 1946a: 66). Die große Nähe zwischen beiden Protagonisten schien einer glücklichen historischen Ausnahmesituation geschuldet, in denen die Tschechen ihre Aufmerksamkeit für Deutschland und die Deutschen reduzieren und sich dem europäischen Westen wie Osten öffnen konnten (Kovárna 1946a: 40). Gerade diese Entspannung und Vertrauensseeligkeit sollte sich aber als tödlich für die Republik erweisen. So wie die Veränderung des deutschen Freundes eine rein oberflächliche blieb, „kaum wie Patina, eher wie eine dünne Staubschicht“, und er selbst folglich ein Fremder (Kovárna 1946a: 28), hatte auch Deutschland nichts von seiner Gefährlichkeit verloren. Die liberale Staatsidee der Zwischenkriegszeit lässt Kovárna seinen Helden, als er die eigenen Illusionen erkennt, mit einer Radikalität verwerfen, die ihn tatsächlich typisch macht für die Generation der jungen Erwachsenen von 1945 (Liehm 1968: 24f.).
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An den toten Freund richtet der Briefautor im letzten Kapitel die Frage, ob dieser kurz vor seinem Tod möglicherweise etwas von dem „ganzen Wahnsinn“, der von Deutschland ausging, begriffen habe. Er gesteht ihm die Erkenntnis als Möglichkeit zumindest zu, ein Ausweg aus der vollständigen Zerstörung der Freundschaft also bleibt. Für Deutschland aber sieht er keine Alternative zu einer gerechten Bestrafung und langfristigen Isolation von der Welt (Kovárna 1946a: 145f.). Kovárna greift bei seiner Beschreibung von Tschechen und Deutschen auf historisch überlieferte und fest verankerte Diskursstränge und traditionelle Stereotypen zurück (Schallner 1998; Rataj 2005), die er durch die Briefform, in der sein Roman abgefasst ist, einerseits, autobiographische Elemente andererseits, auf eine sehr persönlich wirkende Art und Weise vermittelt. Der Eindruck der Authentizität wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass sich die Atmosphäre verändert, je nachdem welche Episode sich der Briefschreiber vergegenwärtigt: Werden für die Zeit vor 1938 überwiegend private Szenen geschildert, die sich in häuslicher Umgebung, im Institut, beim gemeinsamen Gesang in einem Gasthaus abspielen, wird die Zeit nach dem Münchner Abkommen wie aus großer Distanz geschildert. Der tschechische Protagonist, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird, und seine Umwelt scheinen nun verstummt, das öffentliche Leben wie erstickt, der städtische Raum wird als menschenleer beschrieben. Die Okkupationszeit wird als Zeit geschildert, in der alles auf ein bloßes Überleben für die Zeit danach reduziert ist (Kovárna 1946a: 82). Kovárna erzählt also keine Heldengeschichte, sondern eine, in der auch Angst, Zweifel und Resignation zum Ausdruck kommen. Vor allem aber formuliert er ein Krisenbewusstsein, das über den Moment des unmittelbaren Erlebens hinausgeht und den Zusammenbruch der europäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit und der Werte, die mit diesen verbunden waren, reflektiert. Damit verbindet sich die Gewissheit, dass nach dem Krieg, dessen Ende seinem Protagonisten mal in weiter Ferne, mal zum Greifen nahe erscheint, die Welt eine radikal andere sein wird. Mit diesem Krisen- und Umbruchsbewusstsein ist Kovárna ein typischer Vertreter der Kriegs- und frühen Nachkriegsliteratur. Anders als in den Aufbau- und Grenzlandromanen, die von Fortschrittsoptimismus getragen sind, ist hier jedoch neben der klaren Feindstellung gegenüber Deutschland der Abschied von der alten Welt und die Unsicherheit gegenüber dem Kommenden ein bestimmender Zug.8 8 ��������������������������������������������������������������������������������� Einen sehr inspirierenden, systematischen Überblick über die Motivik in der Nachkriegspoesie, der sich auch auf die Belletristik übertragen lässt, bietet Wiendl (2004). – Ferner Galmiche (2005).
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Kovárnas namenloser Held identifiziert die Deutschen mit dem Na tionalsozialismus – lässt nur wenige Ausnahmen gelten (Kovárna 1946a: 107) – und spricht von der Strafe, die die deutsche Nation nach Kriegsende für ihre Verbrechen empfangen müsse. Allerdings ist auch dieser Gedanke begleitet von der Suche nach den eigenen Fehlern in Anbetracht der freundschaftlichen Verbundenheit, in der dieser sich mit dem deutschen Freund wähnte. Dieses offene Ende mag auch der Entstehungszeit des Textes geschuldet sein, der im Spätsommer 1944 abgeschlossen wurde, zu einer Zeit also, als der Kurs der tschechoslowakischen Politik allgemein und speziell gegenüber den Deutschen noch in der Planungsphase war. Das intensive Nachdenken über die eigenen Fehler und Verblendungen nahmen die Rezensenten des Buches indessen zum Anlass, dieses als besonders tiefes Zeugnis der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen zu sehen (Hrubý 1946: 197-199). Gerade die Tatsache, dass sich der Held einer so ausgiebigen Selbstkritik unterziehe und beiden Seiten Gerechtigkeit widerfahren lasse, aber doch zu keinem anderen Schluss komme, als dass eine Verständigung zwischen beiden Nationen unmöglich sei, schrieb etwa Edvard Jíreček in der Brünner katholischen Zeitschrift Akord, beweise, dass die gegenwärtige Bestrafung der Deutschen gerecht und moralisch berechtigt sei (Jiříček 1946: 316). So wurden gerade die quälenden Selbstzweifel und die skeptische Perspektive, die Kovárna seiner tschechischen Hauptfigur zuschrieb und die seinem Briefroman eine insgesamt eher düstere Atmosphäre verleihen, die ihn deutlich von den meisten nach dem Mai 1945 entstandenen publizistischen Texten zum Themenkreis der Vertreibung unterscheiden, die nach dem Mai 1945 entstanden, als Beweis der Berechtigung der tschechoslowakischen Deutschenpolitik seit Kriegsende aufgenommen. Bedienten Kovárnas Briefe damit also offensichtlich ein Bedürfnis nach leiseren Tönen, wichen sie in diesem Punkt doch keineswegs von den ungeschriebenen Schreibregeln ab. Denn anders als die politische Rhetorik der Zeit, die immer kämpferisch-optimistisch war, und im Unterschied zu den in der zeitgenössischen Presse geführten Debatten über „die Deutschen“, in denen die Grenzen des Sagbaren sehr eng abgezirkelt waren und Ansätze zur Kritik gleich als „Verrat“ galten, ließ die Literatur diesen Freiraum für negative und widerstrebende Gedanken, für Ambivalenzen, unheldische Kriegsgeschichten und Schuldgefühle. Man denke nur an Werke wie Václav Řezáčs Nástup (1951) [Der Antritt]9 oder Anna Seldmajerovás Dům na ze9
In deutscher Übersetzung erschien der Roman unter dem Titel Die ersten Schritte mit einem Nachwort von F. C. Weiskopf 1955 in Berlin. Vgl. dazu Lehár/Stich/Janáčková/Holý (1998: 739); Bock (2003: 78); Zand (2004: 88-106); Tomáš (2004: 76-87); Frankenberg (1995).
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leném svahu [Haus am grünen Hang] (Sedlmayerová 1947),10 die als literarische Unterstützung des sozialistischen Aufbaus im einst deutsch besiedelten Grenzland konzipiert wurden – selbst hier haben die Protagonisten mit eigener Unsicherheit und Verlustgefühlen zu kämpfen. Auch geht Kovárnas Allegorie auf das tschechisch-deutsche Verhältnis weiter, als es auf den ersten Blick möglicherweise scheinen mag. Sicher wird in den Briefen an den toten Freund mit der Kombination aus Nationalpsychologie und Geschichte argumentiert, die dem tschechischen nationalen Diskurs seit dem 19. Jahrhundert eingeschrieben ist. Doch wird nicht nur die Konfliktlinie zwischen Tschechen und Deutschen durch die Jahrhunderte gezogen, um in der nationalsozialistischen Aggressions- und Vernichtungspolitik zu kulminieren und eine definitive Entscheidung zu erzwingen. Kovárnas Bilanz erstreckt sich nicht allein auf das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen, sondern umfasst die gesamte ‚alte Ordnung‘, ihre Sicherheiten, Selbstverständlichkeiten und Hoffnungen. Wenn Kovárna die Idee als gescheitert erklärt, friedlich mit den Deutschen in einem Staat und in Frieden mit dem benachbarten Deutschen Reich zu leben, nimmt er damit auch Abschied vom Liberalismus und der – wie er es beschreibt – weltbürgerlichen Offenheit der Zwischenkriegszeit. Sein Buch nur als Abrechnung mit den Deutschen zu lesen, würde also eindeutig zu kurz fassen; es handelt sich um eine viel weiter gefasste Auseinandersetzung mit dem Ende der 1930er Jahre von außen aufgezwungenen Transformationsprozess. Was Kovárna nur andeutet – und das unterscheidet sein Buch wiederum von anderen sehr erfolgreichen Titeln aus den ersten beiden Nachkriegsjahren wie den bereits genannten Grenzlandepen von Řezáč und Sedlmayerová – ist die Zukunftsperspektive. Für Kovárna steht zwar außer Zweifel, dass es keine Rückkehr zum Status Quo ante geben kann, keine Wiederauflage der liberalen Demokratie der Zwischenkriegszeit, die nationale Revolution, die er voraussieht, verknüpft er aber nicht mit der politisch-sozialen. Sein Roman steht damit für den qualitativen Sprung, den die Zerstörung der alten Welt und ein intensives Krisenerlebnis für die traditionellen nationalen Denkwelten bedeuteten, aber eben nicht für den Kampf zwischen alter und neuer Ordnung, dem in Literatur und Publizistik zunächst noch ein starkes nationales Moment zugeschrieben wird, der sich aber bald schon in Richtung überwiegend politisch definierter Kategorien und Feindstellungen verschiebt. Die Briefe an den toten Freund kamen auf den Index, als Kovárna 1948 die Tschechoslowakei verließ. Gut denkbar, dass sie den Umbruch vom Februar 10 Vgl. dazu auch die Besprechung von Jahoda (1948).
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auch sonst nicht lange überdauert hätten, nicht etwa weil sie gegen die gängige Interpretation der Konfliktgeschichte zwischen Tschechen und Deutschen verstoßen hätten, sondern weil sie deren Klassencharakter nicht einmal andeuteten.
Literatur
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Alfrun Kliems
Heimat und ihre integrationsfixierte Desintegration. Die Exilprosa von Jan Křesadlo, Libuše Moníková und Iva Pekárková
1. Heimat im Exil – ein Topos der Integration?
Unter Erinnerungsorten verstand Pierre Nora symbolische Orte – also auch und vor allem kulturelle Ausdrucksformen. Als solchen haben Etienne François und Hagen Schulze „Heimat“ in der deutschen Kultur ausgemacht und hierunter die illustren Subkategorien Schrebergarten, Gesangsverein, Karneval, Dresden, Neuschwanstein, das Straßburger Münster und den Mythos „Blut und Boden“ versammelt (Schulze/François 2001 III: 363-470). Im Gegensatz dazu verstehe ich ‚Heimat‘ nicht wie sie unter dem Label „Erinnerungsort“ – auch wenn einiges für diese Einordnung spricht –, sondern als literarischen Topos: als Denkschema im Sinne von Ernst Robert Curtius. Topoi, so Ludger Lieb (2000: 131), sind „konventionalisierte Elemente“, die im „kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft Selbstverständlichkeit und Geltung beanspruchen.“ Genauer fasst es Lothar Bornscheuer; für ihn sind die einen Topos ausmachenden Kriterien: Habitualität, Potenzialität, Intentionalität und Symbolizität. Habitualität meint den Standard des von der Gesellschaft internalisierten Habitus im Verhalten, in der Sprache, im Bewusstsein. Der Topos determiniert demzufolge das Selbstverständnis, das eine Gesellschaft von sich besitzt. Potenzialität bezieht sich auf die Verwendbarkeit in vielen Kontexten – ein Topos zeigt also in einem bestimmten Problemzusammenhang Perspektiven in der Argumentation auf, die nicht den Allgemeinplatz denken, sondern konkreter Natur sind. Intentionalität schließlich meint das Absinken des Topos zum Klischee – was passiert, wenn er nicht mehr aktualisiert wird. Kurz, Topoi verfügen über eine aktualisierbare Funktion. Wichtiger: Unter Symbolizität fällt die Frage nach der Immunität des Topos, der, eben weil er eine große Faszinationskraft hat, der Verdichtung und Verdinglichung ‚nicht‘ entgeht (Bornscheuer 1976). Das sind die Kategorien,
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die, wenn auch nicht kontinuierlich auf sie Bezug genommen wird, für die Überlegungen zu ‚Heimat‘ eine Rolle spielen. Ich möchte an drei Romanen zeigen, wie in der Exilliteratur des 20. Jahrhunderts das Konzept ‚Heimat‘ als movens negativer Bezogenheit funktioniert. Hierfür gehe ich von den Romanen Mrchopěvci [Die Totensänger], Péra a perutě [Truck Stop Rainbows] und Eine Schädigung aus, die Jan Křesadlo (19261995), Iva Pekárková (*1965) und Libuše Moníková (1945-1998) im englischen, amerikanischen beziehungsweise deutschen Exil geschrieben haben. Dabei handelt es sich um eine Problemstellung, die nicht allein die deutschtschechischen Kulturbeziehungen zum Thema hat, sondern darüber hinausgeht, weil nicht die konkrete kulturelle Verankerung eine Rolle spielt, sondern die Auseinandersetzung mit der Idee ‚Heimat‘ selbst. Und insofern ist die Problemstellung natürlich auch eine deutsch-tschechische. Was vereint die hier zusammengeführten Schriftsteller hinsichtlich des Themas ‚Heimat‘ als Topos der Integration? Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist – banal gesagt – der tschechischsprachige Hintergrund und die verbindende Erfahrung von Exil, Sprachverlust und Neuorientierung. In ihren Romanen beziehen sie sich auf einen konkreten Heimatraum, nämlich einen tschechisch kodierten. Dieser funktioniert auf sozialer Ebene desintegrierend: Er exkludiert die Erzählfiguren aus seinem Gefüge. ‚Heimat‘, gemeinhin als Konzept erachtet, das auf soziale Integration angelegt ist, erweist sich als externe, übergriffige Kategorie, der kaum eine der Figuren zu entrinnen in der Lage ist. Die jeweiligen Entscheidungen, die die Romanprotagonisten treffen, ob sie sich nun zum Gang ins Exil entschließen oder aber daheim bleiben, lassen keinen Zweifel daran, dass ‚Heimat‘ von ihnen als Zwangskonzept verstanden wird: ‚Heimat‘ promiskuiert, prostituiert und vergewaltigt.
2. Literarisierung von Heimat zwischen Integration und Desintegration
Unter ‚Heimat‘ wird im Folgenden eine Identifikationskategorie mit kohärenzstiftender Wirkung verstanden: Der „Zugehörigkeitsraum“ (Mecklenburg 1987: 50) ‚Heimat‘ erfährt unter den Bedingungen des Exils emotional und begrifflich eine wesentlich schärfere Pointierung als dies im Selbstver-
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ständnis der entsprechenden territorial und staatlich eingeschlossenen Ethnie der Fall ist. Zum einen, weil die Umstände im Exil in höchstem Maße identitätsverunsichernd sind. Zum anderen, weil ‚Heimat‘ ein ebensolcher Schwundbegriff ist wie Identität – ein Begriff also, der auf Wandel verweist, sich über Wandel definiert. ‚Heimat‘ bemisst sich zuallererst über ihren Verlust, ihr Verschwinden.1 Edward Said geht in seinem Essay Reflections on Exile davon aus, dass es in erster Linie physische Verlustvorstellungen sind, die den Wert von Heimat vergegenwärtigen (Said 1984). Wegen der realen Dislozierung erfolgt Heimatreflexion im Exil über die Imagination des Verlusts. Sie kann in eine verklärend-idyllisierende Sicht auf die verloren gegangene ‚Heimat‘ münden; sie kann aber auch eine bis hin zur Heimatbeschimpfung reichende Distanzie rung hervorbringen. Letzteres heißt soviel wie: ‚Heimat‘, die ihre Eliten verstößt oder verrät, diskreditiert sich damit und ist einer Zuwendung oder Loyalität nicht mehr wert. Seitdem hat Elisabeth Bronfen den Gedanken des Schwunds aufgegriffen und daraus drei Heimatkonzeptionen entwickelt, die, so Bronfen, dem Exilschriftsteller die Möglichkeit bieten, seine biographische Bruchstelle, das Exil, zu kompensieren – über seine Figuren und in der Literatur wohlgemerkt. Die literarischen Figuren können erstens die Fähigkeit aufbringen, „ein Paradies imaginär zurückzuerobern.“ Sie können zweitens die Kraft haben, einen neuen „Ort als Paradies umzusemantisieren.“ Und drittens bleibe ihnen eine Haltung „des Verharrens im stets prekären Dazwischen des Exils“ (Bronfen 1993). Doris Bachmann-Medick präzisierte daraufhin die Konzeption eines solchen Dazwischen: Räume des Dazwischen würden sich „durch eine instabile Kommunikationslage“ auszeichnen. Diese gewinne „aus der Deplazierung und Dekontextualisierung von Personen und Gegenständen sowie aus dem Aufeinandertreffen kulturdifferenter Verhaltensweisen eine eigene Spannung und Beweglichkeit“ (Bachmann-Medick 1998: 22). Bachmann-Medick kommt in ihrer Definition ohne die ambivalenten Zuschreibungen aus, mit denen Konzepte wie „Dazwischen“ gemeinhin konfrontiert sind. Wie die Räume eins und zwei muss auch der Raum des Dritten oder Dazwischen als neutrale Positionierung begriffen werden und nicht als Verhandlungsmasse für die „not-quites“ (Bharati Mukherjee), für diejenigen also, die sich weder in der einen noch in der anderen Kultur verankert fühlen. 1 ��������������������������������������������������������������������������������������� Die hier angestellten Überlegen zu ���������������������������������������������������� ‚Heimat‘�������������������������������������������� stützen sich zum Teil auf eine größer angelegte Studie, die sich auf das ostmitteleuropäische Exil 1945-1989 allgemein bezieht. Sie gehen allerdings darüber hinaus beziehungsweise wurden für den Beitrag ergänzt (Kliems 2004: 393-437).
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In meinen Überlegungen wird es weniger um den Raum des Dazwischen gehen, sondern um die erste und die zweite Möglichkeit des Schreibens von ‚Heimat‘ im Exil: um die imaginäre Rückerlangung eines Paradieses und um die imaginäre Umsemantisierung eines Ortes zum Paradies, wobei letzterer ein anderer, ein neuer, ein zweiter Ort ist – also nicht die ursprüngliche ‚Heimat‘ meint. Beide Schreib- und Sichtvarianten implizieren durch ihre Benennung einen grundsätzlich positiven Tenor. Den bringen notgedrungen die Konnotationen des Wortes „Paradies“ mit sich. Imaginäre Rückeroberung des heimatlichen Paradieses schließt aber auch die desintegrierenden Heimatentwürfe in der Literatur des Exils ein und imaginäre Umsemantisierung eines Ortes zum Paradies auch die gescheiterten Einlebungsversuche der Figuren in der Fremde. Zugleich wird es gegen die oben vorgestellten auf einen deutlich weniger „positiven“ Tenor hinauslaufen: auf das Gift im Topos selbst, wie paradiesisch konnotiert auch immer. Die Auseinandersetzung mit ‚Heimat‘ und Heimatkultur stellt nicht einfach nur einen nostalgieträchtigen Gegenpol zu Fremdheit und Entfremdung im Exil dar. Vielmehr kann das literarische In-Beziehung-Setzen zum Wertterritorium ‚Heimat‘ als Ausdruck dessen angesehen werden, wie es dem jeweiligen Autor im Exil gelungen ist, Kategorien des Eigenen und des Fremden ins Verhältnis zu bringen. Das Leben in der Fremde und die Ungewissheit der Rückkehr fördern zum einen den verklärenden Blick auf die verlassene ‚Heimat‘, der sich zumeist auf die nationale Geschichte oder die Herkunftslandschaft richtet. Vorstellungen werden aktiviert und sekundäre Mythen geschaffen, die bestimmte Geschichtsepochen glorifizieren oder dem „Paradiesischen“ heimatlicher Natur Gefühle von Zugehörigkeit und Geborgenheit assoziieren. Der andere, entgegengesetzte Pol steht unter dem Zeichen der Desintegration, das heißt, Haltungen der Distanz, des Grolls und der Abnabelung von ‚Heimat‘ bestimmen die Behandlung des Topos. Eine gegenläufige Tendenz zu beiden Komplexen bildet die Öffnung hin zu einem den Gegebenheiten der zeitgenössischen Welt entsprechenden übernationalen und überregionalen Heimatgefühl. Groll angesichts der Unfähigkeit des Heimatlandes, die Schreibenden zu halten, und Enttäuschung über dessen politische Entwicklung erzeugen eine Haltung der Distanz und der Verachtung, ja des radikalen Bruchs mit der ‚Heimat‘. Die emotionalen Register reichen von kritisch rechtender oder spöttischer Betrachtung über die satirische Verhöhnung heimatlicher Traditionen bis hin zur Heimatbeschimpfung, Heimatschänderei. Dieser so ganz andere Typus von Heimatidee ging vor allem aus der Mitte derjenigen hervor, die sich an den Orten, an die sie durch Geburt oder politische Zwänge gebunden gewesen waren, fremd und wurzellos gefühlt hatten. Sie übten die
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heftigste Kritik und sie ersetzten die so genannte Heimatliebe durch eine aus dem Impetus der Empörung geborene Analyse nationaler Spezifika.
3. Jan Křesadlo oder Heimat prostituiert
Mit seinem Roman Mrchopěvci (1984) stieß Jan Křesadlo einen Diskurs an, der gleichermaßen verzweifelt-anklägerisch, bestrafend und prophetisch verlief. Im Vorwort wird der empfindsame Leser vom Autor auf widerwärtige Text stellen eingestimmt, die dem Geist der Zeit geschuldet seien: Tato kniha může být v některých svých partiích pokládána za hnusnou. To nese sebou jednak duch doby, jednak doufám, že tato hnusota není samoúčelná. Doufám také, že je vyvážena jinými, positivnějšími faktory. Tento druh slátaniny je ostatně charakteristický pro život na této planetě, který jsme se tu pokusili odrazit aspoň v určité míře jeho vlastní složitosti. (Křesadlo 1984: 7) [Dieses Buch kann man, was einige seiner Passagen anbelangt, für widerwärtig halten. Das bringt einerseits der Geist der Zeit mit sich, andererseits hoffe ich, dass diese Widerwärtigkeit kein Selbstzweck ist. Ich hoffe zudem, dass sie durch andere, positivere Faktoren ausgeglichen wird. Diese Art von Flickschusterei ist im Übrigen charakteristisch für das Leben auf diesem Planeten, das hier wenigstens in einem bestimmten Umfang seiner ihm eigenen Kompliziertheit versucht wurde abzubilden.]
Bereits hier setzt das Spiel mit dem Leser an, der ja schließlich die entsprechenden Passagen überblättern könne. Obwohl der Roman mit der märchenhaften Formel „Es war einmal“ [„Bylo nebylo“] eingeleitet wird, sind Ort und Zeit der Handlung problemlos zuzuordnen: eine Kleinstadt in der stalinistischen Tschechoslowakei. Schnell wird der Leser durch die Wir-Erzählung zum Komplizen des Erzählers gemacht. Zderad, Křesadlos Hauptfigur mit dem sprechenden Namen „Gernhier“, ist ein in innerer Emigration lebender Totensänger. Wegen einer in griechischer Sprache verfassten – erkennbar parodistischen – Ode an Stalin wird er erpresst. Tatsächlich ist der in der Schule entstandene Text ein harmloser Jungenstreich. Dem unerfahrenen westlichen Leser muss nun erläutert werden, welche politischen Konsequenzen ein solcher Spaß in einem totalitären System nach sich ziehen kann. Die Konsequenzen der Erpressung sind in der Tat weitreichend: Der Erpresser, vom Erzähler durchweg „obluda“ – also Ungeheuer oder Monster – genannt, zwingt Zderad in einer abgelegenen Friedhofsgruft zum
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Geschlechtsverkehr. Der anfangs völlig verängstigte Zderad geht auf die Sexual praktiken des Erpressers ein und erhält dafür von diesem Geld. Was die Schwierigkeit der Beziehung ausmacht, spiegelt sich in einer Passage zu Briefen des Hl. Hieronymus an Eustochia über die Jungfräulichkeit. Diese bezieht Zderad auf seine eigene Situation und kommt zu einem beunruhigenden Ergebnis: Mezi jeho vývody patří i these, že znásilněná panna nehřeší a netratí morální stav panenství, jestliže při tom nepociťuje rozkoš. Na tuto věc Zderad vzpomněl, když se mu vzpomínka nakonec brutálně protlačila do vědomí. V zelenavé ztuchlině totiž zjistil s určitým překvapením, že povrchní mechanické dráždění jisté krajně soukromé části jeho anatomie, je schopno vyvolat vlny pocitů, normálně spojených s jinou, byť i nepříliš vzdálenou částí jeho těla. [...] Bylo zřejmé, že obluda přece jen nakonec vyhrál. (Křesadlo 1984: 49f.) [Zu seinen Ausführungen gehört auch die These, dass eine vergewaltigte Jungfrau nicht gesündigt habe und ihren moralischen Stand der Jungfräulichkeit nicht verliere, wenn sie dabei keinerlei Wolllust verspürt habe. Daran erinnerte sich Zderad, als ihm das Erlebte schließlich brutal ins Bewusstsein drang. Im grünlichen Moder stellte er nämlich mit einiger Überraschung fest, dass eine oberflächliche mechanische Stimulation äußerst privater Teile seiner Anatomie Wellen von Gefühlen hervorzurufen im Stande ist, die normalerweise mit einem anderen, wenn auch unwesentlich entfernten Teil seines Körpers zusammenhängen. [...] Es lag auf der Hand, dass das Monster am Ende doch gewonnen hatte.]
Das Ergebnis ist umso beunruhigender, als Zderad auch das Geld des Ver gewaltigers annimmt und für eigene Zwecke auszugeben beginnt. Obwohl er sich für sein Verhalten schämt, nutzt er nicht nur die monetären Annehmlichkeiten, sondern reflektiert auch den eigenen, ihm bislang unbekannten sexuellen Genuss. Als jedoch seine sich ihrerseits politisch prostituierende Ehefrau in das Spiel einbezogen werden soll, entschließt sich das Paar zur Tötung des „Monsters“ und verlässt anschließend mit seinem Kind die ‚Heimat‘. Der Roman ist eine schwarze Anti-Utopie, die jede Illusion von einem sozialistischen Miteinander zerstört. Zderad gelingt es dennoch, sich aus dem Netz aus Selbstaufgabe, Unterwerfung, Scham und Abhängigkeit zu befreien, indem er die Macht des namenlosen Grauens mit dem Gestus einer religiösen Beschwörung bricht: Der im Gewand eines Intellektuellen versteckte teuflische Erpresser verliert dadurch an Macht, dass Zderad seines Namens habhaft wird. Dass der Leser nicht alle Einzelheiten der Geschichte erfährt, ist im Status des Erzählers begründet, der sich selbst als Exilant zu erkennen gibt. Als äußerst gebildeter sogar: Es folgen nämlich Erläuterungen zu Etymologie und Übersetzungsproblemen, in Fußnoten finden sich ganze literarhistorische Abhandlungen, französische Zitate, Exkurse zu Freuds Sexualtheorie oder zum Einfluss der Zigeunersprache auf das Tschechische. Nicht ohne Seitenhieb heißt es gegen Ende des Romans:
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Halt pozor! praví tu hypothetický laskavec, potrhuje nervosně hyperkritickým chobotem: Zdá se, že s fabulační schopností autora je to ňáko slabší: Sexuální vydírání za komunismu na základě protistátní literatury – to už jsme někde četli, že ano – i když jen jako episodu a v podstatně příjemnější, rokokovější formě. [...] Ještě lépe: Na př. ve všech těch t. zv. kofbojkách, zvaných správně ,Westerns‘, se střílí z revolverů, jezdí na koních a hází lasem, vyskytují se v nich podplacení šerifové a nepodplatitelní hrdinové a.t.d. To už nese sebou líčení téhož prostředí a jeho typických rysů. Podobně v ,Easterns‘, kterýžto genre zdá se proklubávati, se musí zákonitě vyskytovat fízlové, vyděrači, kurvy a jiní typičtí rysové. (Křesadlo 1984: 130) [Halt Achtung! sagt hier der hypothetische Wohlwollende und unterstreicht das nervös mit seinem hyperkritischen Rüssel: Es scheint, um die Fabulierfähigkeit des Autors steht es irgendwie nicht zum Besten: Sexuelle Erpressung im Kommunismus auf der Grundlage gegenstaatlicher Literatur – das haben wir doch schon irgendwo gelesen, nicht wahr – und wenn auch nur als Episode in wesentlich angenehmerer Rokoko-Form. [...] Besser noch: Zum Bsp. in allen diesen s.g. Wildwestfilmen, korrekt ,Western‘ genannt, wird aus Revolvern geschossen, auf Pferden geritten und mit dem Lasso geworfen, in ihnen tauchen bestechliche Sheriffs und unbestechliche Helden auf usw. Das bringt allein schon die Schilderung dieses Milieus und seiner typischen Züge mit sich. Ähnlich im ,Eastern‘, dessen Genre sich langsam durchzusetzen scheint, wo gesetzmäßig Spitzel, Erpresser, Nutten und andere typische Dinge aufzutreten haben.]
Die beruhigend einwirkende Stimme des Erzählers, sein fürsorgliches Einbeziehen des Lesers und seine offenkundige Sympathie für den Anti-Helden wechseln mit bewusst inszenierten, naturalistisch-brutalen Schilder ungen der Sexszenen bis zum minutiös dargelegten Erstickungstod des „Monsters“. Der Tabubruch besteht weniger im Umgang mit dem Thema Homosexualität, sondern in der Gleichsetzung der ‚Heimat‘ mit einer Zuhälterin, der man einzig durch das Exil entfliehen könne – ein Verbleiben führe zwangsläufig dazu, sich auf Lebenszeit prostituieren zu müssen. Durch die Projizier ung des Geschehens in das vulgäre Zuhältermilieu, durch die Übertragung auf in geistiger Beschränktheit und Banalität versinkende Protagonisten und mit Bildern von traumatisierender Besudelung leistete Křesadlo eine Verzerrung ins Groteske, die eine gewollte Beleidigung der verlassenen ‚Heimat‘ darstellt. Desillusion, Amoralität und Provokation zeichnen sie aus. Seinen Figuren bleibt in der heimatlichen Enge nicht viel: exzessive Flucht in den Alkohol, endlose Kneipentouren, Hurerei, auch mit Minderjährigen, Überleben in asozialem Umfeld. Und es bleibt ihnen – da entpuppt sich der Autor zu guter Letzt denn doch als Romantiker – die Liebe, welche schließlich zum Katalysator des Happy Ends wird.
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4. Iva Pekárková oder Heimat promiskuiert
Ein ähnlich provozierend-negatives Heimatbild entwarf die damals in New York lebende Iva Pekárková mit ihrem Roman Péra a perutě (1989).2 In diesem Debütwerk schildert sie einen Emanzipationsversuch besonderer Art: Der unbezähmbare Drang einer jungen Pragerin nach Freiheit und Flucht aus spießig-beklemmender Atmosphäre führt dazu, dass sie sich willig Fernfahrern anbietet. Die sich als unersättliche Tramperin stilisierende Erzählerin findet ihren Tritt nicht in einer Welt der Enge und Normierung. Fialka oder Viola identifiziert denn auch als einen der Gründe dafür das Gesellschaftssystem, in dem zu leben sie sich gezwungen sieht: Und wenn es eine weniger abscheuliche, weniger graue und ausdruckslose Welt gibt, als die, in der wir leben, dann bin ich überzeugt, daß die Suche nach ihr eher ein geographisches als ein zeitliches Problem darstellt; […] Wir lebten in der Finsternis. Wir lebten in der Finsternis hinter dem Eisernen Vorhang, in einer Finsternis, die nur noch von dem verdämmernden roten Zwielicht fünfzackiger Sterne erhellt wurde. […] Und dennoch: Einen Spaltbreit war die schwere Bleitür zum Westen geöffnet, genug, um einige Sonnenstrahlen hereinzulassen. […] Und dabei wußten wir nicht, ob das Licht, das zu uns vom Westen durchdrang, ob das Licht echte Sonnenstrahlen waren oder aber ungesunde flackernde Neonleuchten, die die Augen verderben. (Pekárková 1995: 8, 131f.)
Wie in Zderads Spiel mit der Sprache ist es auch in der Sexualität Violas das ungeheure Freiheitsbedürfnis, das die Ich-Erzählerin in die Promiskuität treibt. Das feiert sie als einen Schritt zu sich selbst, den sie auch genießt und der ihr einen Ausweg aus der Sterilität des einengenden, weil vorgegebenen Alltagstrotts eröffnet. Das Trampen funktioniert anfangs wie eine Droge, an die das serienweise „Durchvögeln“ der Fernfahrer gebunden ist. Für sie garantiert einzig der Augenblick der Lust auf den Pritschen der LKW-Fahrer ein Nachlassen des Weltschmerzes, eine Befreiung von Normierung und Einengung. Hierzu gibt es eine Spiegelhandlung, nämlich die Fotografie, genauer die Makroaufnahmen, die Viola von Pflanzen in den Bergen macht. Diese Naturaufnahmen der Bergwelt sind letztlich nur ein anderer Ausdruck für die 2 ��������������������������������������������������������������������������������������� Eigentlich müsste die Übersetzung des Titels lauten: Federn und Schwingen. Im tschechischen Original erschien der Roman 1989 im Torontoer Exilverlag Sixty-Eight Publishers. Die englische Version wurde 1992 in New York bei Farrar, Straus & Giroux publiziert. Nachfolgend wird aus der deutschen Übersetzung von Natascha Drubek-Meyer und Ladislav Drubek zitiert, in die Änderungen, die Pekárková für die englische Ausgabe tätigte, eingeflossen sind.
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Lust an der Berührung von Dingen – und Körpern. Ihre gesteigerte Taktilität ist auch eine Form von Distanzüberwindung und Besitzergreifung, die aber nie als übergriffige beschrieben wird. Viola inszeniert sich als Einzelgängerin und gleicht darin Křesadlos Zderad. Leitmotivisch zeigt sich in jeder Passage ein pointiertes: „Ich war anders.“ Der Umschlag von gelebter Promiskuität in erzwungene Prostitution bindet sich an einen engen Freund, der todsterbenskrank dringend einen Rollstuhl benötigt. Hierfür beginnt Viola ein Doppelleben und sucht sich auf den Fernstraßen Kunden aus dem Westen. Es ist eine Maske, die sie sich auferlegt – anfangs ohne es zu wissen. Diese Maske wird Viola später selbst als Maske der Vulgarität identifizieren. Um es kurz zu machen: Am Ende gewinnt die ‚Heimat‘ über den Impuls der Flucht, der wiederholt geäußert wird: Und so kam mir immer öfter der Gedanke, daß dieser graue, homogenisierte, krebserregende Saustall, in dem ich gezwungen war zu leben, einen normalen Menschen eines Tages einfach zwingen würde zu fliehen. (Pekárková 1995: 293)
Der Gedanke an das Exil ist das eine, das Land körperlich zu verlassen das andere. Viola kann Prag nicht verlassen, also wechselt sie symbolhaft von der südlichen Trasse, der Strecke der mit Geld oder Naturalien in Form von Haarshampoo und Kosmetik zahlenden TRANSIT-Fernfahrer, wieder zurück auf die nördliche Trasse, die nicht mehr und nicht weniger ist als eine Verkörperung der ‚Heimat‘ in Gestalt der Liebhaber, die ohne Geld und aus purer Lust Tramperinnen wie Viola auf die Pritsche nehmen. Mit der Wahl der Trasse trifft die Protagonistin – anders als die empirische Autorin – ihre Wahl gegen das Exil und entscheidet sich dafür, zu Hause zu bleiben. Beide Romane entreißen ‚Heimat‘ dem Raum des Privaten, indem sie zeigen, was hinter der Metapher für den sozialistischen Aufbau steht. Sie zeigen, wie all jene eo ipso zu Heimatverrätern erklärt wurden, die sich am Aufbau nicht hatten beteiligen wollen. Inwieweit es ihren Schöpfern in ihrer distanzierten Haltung darum ging, die Entscheidung für eine frei gewählte geistige ‚Heimat‘ im Kontrast zum politisch unwürdigen und verlassenswerten Vaterland zu begründen, sei dahingestellt.
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5. Libuše Moníková oder Heimat vergewaltigt
In völligem Gegensatz zum wirkmächtigen kulturellen Diktat der Heimatliebe als einer sentimentalen Heimatkonzeption stehen auch die Werke Libuše Moníkovás. Ihr geht es ebenso wenig wie Jan Křesadlo und Iva Pekárková um idealistische an Tugend und Gemeinwohl orientierten Heimatideen oder um eine vom Staat gewünschte nationale Harmonie. Sie fordert für ihre Figuren die Autonomie des „Ich“ jenseits von Vaterlands- und Heimatliebe ein. Die Bandbreite emotionaler Hoch- und Tiefflüge ihrer Protagonistinnen ist groß. Mit ihnen leistet Moníková die „Rückeroberung des Paradieses“, die „Umsemantisierung eines anderen Ortes zum Paradies“ und das „Verharren im Dazwischen“, wiewohl ihre Entwürfe keinesfalls paradiesisch sind. In ihrem Debüt graviert Moníková männliche Gewalt in einen weiblichen Körper ein, der zugleich symbolhaft die Stadt Prag und damit Heimat markiert. Die Erzählung Eine Schädigung (1981), von Moníková als Parabel auf den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten gedacht, setzt mit einer nächtlichen Straßenbahnfahrt durch Prag ein. Die Studentin Jana wird am Ende dieser Fahrt von einem Polizisten brutal vergewaltigt, den sie daraufhin mit seinem Knüppel erschlägt. Es sind eindringliche Schilderungen: die Vergewaltigung wie die sich anschließende Tötung des Vergewaltigers. Moníková kehrt in dieser Szene die Situation um und macht das geschändete passive Opfer zur handelnden Täterfigur: Nach der langen schmerzhaften Starrheit hat sie das Bedürfnis, die Hand zu beschäftigen und in Bewegung zu halten. Sie schlägt mit dem Knüppel, auch wenn der Polizist schon auf dem Boden liegt, sie prügelt noch, als sich schon nichts mehr bewegt und nichts mehr zu hören ist, sie haut und prügelt, schlägt, holt aus und drischt, schlägt, dass das Blut spritzt. (Moníková 1990: 18)
Eine Schädigung ist ein hoch spannender Text über radikale Subjektpositionen, über die Zersplitterung von Identität und immer wieder beschworene Geschlechtsunterschiede. Es geht in diesem Text aber auch um einen weiblich konnotierten Stadtkörper, um die Gleichsetzung und Austauschbarkeit von Frau und Stadt, von Frau und ‚Heimat‘. Das Vergewaltigungsopfer Jana durchlebt versinnbildlicht das, was dem städtischen Frauenkörper im Verlauf der Okkupation widerfuhr, und es verleiht der Stadt Prag darüber eine authentische weibliche Stimme.3 3 Siehe zu Moníková als Exilautorin Kliems (2002: 97-144). Zur Frage der Schädigung des weiblichen Körpers auch Kliems (2005: 247-264).
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Als Repräsentantin des städtischen Kosmos legt Jana ihre gesamte Heilserwartung wiederum in eine Frauenfigur, in die außenseitig agierende Mara. Mara, Idealtypus des Dissidentischen, fungiert als moralischer Widerpart zur Normalisierung. Und die Normalisierung beginnt, den heimatlichen Stadtkörper nachhaltig zu schädigen: Unter der Obhut von Hausfrauen angepaßte Kinder; verhinderte Schläger nahmen den Polizisten mit ihren Blicken die Arbeit ab. Die Stadt schrumpfte zusammen unter dem Betongürtel der Neubauten. Dort waren Abweichungen schon unterbunden, und der Horizont ließ keine Hoffnung. (Moníková 1990: 71)
Die sozusagen private Körperschändung Janas durch den Polizisten wird um das Spektrum systematischer Aggressivität erweitert. Die Stadt, so signalisiert der Text, bietet keinen oder wenig Raum, um sich in ihr zugehörig oder geborgen zu fühlen, vor allem weil ihre offiziellen Repräsentanten die Schädigungen ausführen. Dementsprechend heißt es eingangs, der Kontrakt mit der ‚Heimat‘ gehöre gelöst, denn: „In dieser Stadt kann man nicht mehr leben.“ (Moníková 1990: 21) Der Schluss bleibt offen, die Konsequenz, die Jana aus ihrer und der Geschichte der Stadt ziehen wird, bleibt dem Leser vorbehalten: „Sie weiß noch nicht, ob sie fahren wird“ (Moníková 1990: 104). Im Großen und Ganzen ergeht es Jana kaum anders als Pekárkovás Viola, die Flucht nicht als ein probates Mittel ansieht, der heimatlichen Misere zu entkommen. Nein, beide Frauen erachten das Bleiben sogar als eine Möglichkeit der Einflussnahme zum Besseren beziehungsweise im Umkehrschluss das Gehen als die (vorgeblich) erträglichere Alternative. Moníková öffnet später ihr Heimatkonzept, bindet es nicht mehr an die politische Situation des Landes, sondern zeichnet Figuren, die ‚Heimat‘ zuallererst als Verstrickung in Zwangsbeziehungen empfinden, aus denen es sich zu befreien gilt. Ihre Figuren stellen vor allem die psychologische Frage als wesentlich für die emotionale Situierung des Individuums gegenüber einem bestimmten Lebensschauplatz heraus. War Herkunft mit ihren affektiven Erfahrungen der zumeist paradiesischen Kinderjahre ausschlaggebend oder war die freie Wahl eines das Überleben garantierenden Ortes der aus tiefenpsychologischer Sicht entscheidende Faktor? Moníkovás Frauenfiguren mögen sich da nicht wirklich festlegen. Und das ändert sich auch nicht mit dem Anwachsen der Zeitspanne, die sie im deutschsprachigen Raum verbringen. Was die Frauenpersonen allerdings verbindet, das ist ihre Herauslösung aus weiblichen Opferrollen über radikale Körperwahrnehmung und Körperbeschädigungen. Mit Francine Pallas aus Pavane für eine verstorbene Infantin (1983) und Leonora Marty aus Verklärte Nacht (1996) schuf Moníková Figuren, die im deutschen Exil leben beziehungsweise aus dem deutschen Exil zu Besuch
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in die tschechische Heimat fahren. Beiden steht dem geheimen Wunsch nach Akzeptanz durch die Gemeinschaft eine selbst kultivierte Außenseiterposition entgegen. Die Gier, die beiden eigen ist, ist die Gier nach Normalität, das heißt nach einem Leben mit Bindungen jeglicher Art – familiärer, kultureller, partnerschaftlicher, sprachlicher. Und dass sie diese nicht zu erfüllen imstande sind oder nicht in diesem herkömmlichen Sinne erfüllen wollen, liegt weniger an einer exilbedingten Asozialität oder am zutiefst brüchigen Exildasein als vielmehr an einer Grundkonstellation der Moderne. George Steiner (1971) stellte in seinen sprachphilosophischen Überlegungen die Frage, ob nicht die Exterritorialität selbst ein Zeichen für den Status eines Schriftstellers der Moderne sei. Das würde bedeuten, für die ästhetische Positionierung eines Schriftstellers ist es vollkommen unerheblich, ob er dort schreibt, wo er geboren wurde, ob er sich im Exil befindet oder Teil der globalen Migration ist. Modern meint in diesem Sinne, sich beim Schreiben nicht sklavisch einer Sprache verpflichtet zu fühlen, die ausschließliche Verhaftung in einer Kultur abzulehnen. Steiners ästhetisch verstandene Exterritorialität ist ein Konzept, das auf einen Raum uneingeschränkter Kreativität abzielt, der nicht Ortlosigkeit meint. Das mag eine Erklärung für die inwendige Verhaftung der Moníková-Figuren in Kunst und Literatur geben, diese sind schließlich nicht-territorial par excellence und dafür, dass die Figuren Un-Gebundenheit zu ihrem Konzept erheben. Mit ihnen kultiviert Moníková also nicht den Verlust von Heimat im Exil, sondern verweist auf einen universalisierenden Diskurs des Exils.
6. Schlussüberlegung oder wie funktioniert Heimat als Topos im Exil
Mechanismen der Anpassung, der Verwurzelung und Entwurzelung bilden den Hintergrund der Romane, und diese Mechanismen sind weniger auf das Exil als auf die politische Situation in der Heimat zugespitzt. Worin deren spezifische Perfidie liegt: Zurückgelassen immer noch überzugreifen. Heimat, so die vordergründige Lesart der Texte, hat als ein auf soziale Integration angelegtes Konzept ausgedient. Sie wird durch den vergewaltigenden Polizisten oder den erpresserischen Staatsdiener repräsentiert, die
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körperlich übergriffig werden und so jede Integrität beschädigen. Die Entscheidungen der Figuren, mittels derer sie ihre Integrität retten wollen, fallen unterschiedlich aus: Die erste geht ins Exil, die zweite bleibt (als Dissidentin) zu Hause, die dritte schwankt zwischen den Optionen. „Heimat als Topos der Desintegration“ meint hier zunächst die (Selbst-)Exklusion des Einzelnen aus einer imaginierten Gemeinschaft. An keinem Punkt stützen die Romane die Selbstverständlichkeit, mit der die Rede von der Heimat gemeinhin positiv habitualisiert wird. Sie nutzen den Topos weniger als einen der Integration, sondern spreizen die desintegrierenden Momente von Heimat auf. Bleibt, mit Elisabeth Bronfen, die „Autorität der Erfahrung“ eine „Legitimationsstrategie“ der Texte? Die empirischen Autoren aktualisieren in ihren Exilromanen den Topos „Heimat“ auf eine ungemein hartnäckige Art und Weise, indem sie nämlich immer wieder auf ihn zurückgreifen, ihn nicht an das Klischee preisgeben wollen. Allein sie können seiner symbolischen Verdichtung nicht entkommen. Gescheiterten Integrationsversuchen stellen sie scheinbar gelingende gegenüber, überhöhen das Exil, auch den Rückzug in die Dissidenz, das innere Exil als Gegenkonzept. Bloß wenn auf den Entstehungskontext der Romane bezogen auch ideologische Gründe die Absage an ein integrierendes Heimatkonzept verantworten mögen, so verweigern doch auf der ästhetischen Ebene die Texte selbst eine dahingehende Eindeutigkeit: In Křesadlos Mrchopěvci durch das poetische Verfahren, das Zitiergeflecht, die spielerische Leichtigkeit zwischen Erzähler und Leser, die im Gegenzug die Tragik des Erzählten augenzwinkernd zur Disposition stellen, auch wenn zum Schluss nichts bleibt als der Weggang. In Pekárkovás Truck Stop Rainbow durch die Freiheitswut der Protagonistin, der im Grunde genommen nur in Großstädten wie London, New York oder Berlin, also klassisch definierten Anti-Heimaten, zu seiner Entfaltung finden kann, dem auch ein postsozialistisches Prag niemals beikommen könnte. In den Romanen Moníkovás dadurch, dass die Figuren ihre Heimat immer dann ohne Scham zelebrieren können, wenn es eigentlich geographisch unmöglich ist, in ihr zu leben: im deutschen Exil (Pavane für eine verstorbene Infantin), in der sibirischen Tundra (Die Fassade), in einem normalisierten und normierenden Prag (Eine Schädigung). Um auf den Anfang zurückzukommen: „Heimat“ als Erinnerungsort zielt auf Zugehörigkeit und Integration ab. Eine Erörterung des Topos „Heimat“ kann auch Abgehörigkeit in den Blick nehmen – Abgehörigkeit im Sinne von integrationsfixierter Desintegration. Was das Exil anbelangt, so haben wir immer einen Ort, aber zwei, die um ihn kämpfen: der Gebliebene und der Gegangene. Oder drei, denn der Ort, „die Heimat“, ist ein veritabler Kämpfer in eigener Sache. Das ist der Punkt, an dem Bornscheuers Topos-Kriterien
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gegen das intuitiv Unheimliche von „Heimat“ konvergieren: Habitualität, Potenzialität, Intentionalität und Symbolizität meinen im letzten die unkalkulierte, sich noch der (vermeintlich) souveränsten Ausrechnung entziehende Überwältigungsmacht des Topos selbst. Das ist die eigentliche Immunität, ja Souveränität des Topos „Heimat“. Wenn die exkludierten Schriftsteller das desintegrierende Moment von Heimat zu ihrer Reintegration nutzen – in eine wahrhaftige, heißt: nicht übergriffige Heimat –, dann fechten sie erfolglos gegen ein harmonisierendes und damit harmlos scheinendes Konzept von Heimat und dessen Verwalter. Sie können ihm nicht entkommen. Deshalb rücken ihre Exilwerke wieder ins Klischee: weil nur die absetzende Beziehung zum Konzept „Heimat“ Integrität sichern zu können scheint. In dieser Hinsicht bietet auch die Idee des Dazwischen keine befriedigende Lösung, denn das Dazwischen ist eben nur dann ein wirkliches Dazwischen, wenn es die Räume eins und zwei mit einbezieht, womit es unweigerlich im unentrinnbaren Gravitationsfeld der Heimat landet. In den Romanen kommt der Wille zur Entwurzelung im Sinne eines selbstbestimmten Lebens meist aus den Figuren selbst – nur leisten sie keine Selbstentwurzelung. Lieber binden sie sich an das Konzept und liefern sich seiner Gravitationskraft aus. Denn „Heimat“ ist ein Ameisenlöwe unter den Topoi. Unentrinnbar, sobald man einmal den Rand seines Fangtrichters berührt hat.
Literatur
Bachmann-Medick, Doris (1998): Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung. – In: Breger, Claudia/Döring, Tobias (Hgg.), Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume. Amsterdam: Rodopi, 19-36. Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen schaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Bornscheuer, Lothar (1976): Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bronfen, Elisabeth (1993): Exil in der Literatur. Zwischen Metapher und Realität. – In: Arcadia 2, 167-183. Kliems, Alfrun (2002): Im „Stummland“. Zum Exilwerk von Libuše Moníková, Jiří Gruša und Ota Filip. Frankfurt/M.: Peter Lang.
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Kliems, Alfrun (2004): Heimatkonzepte in der Literatur des Exils. Zwischen Erinnerung und Konstruktion. – In: Behring, Eva/Kliems, Alfrun/Trepte, Hans-Christian (Hgg.), Grundbegriffe und Autoren des ostmitteleuropäischen Literaturexils 1945-1989. Versuch einer Systematisierung und Topologisierung. Stuttgart: Franz Steiner, 393-437. Kliems, Alfrun (2005): Der physische Druck von Fremdheit und Exil. Variationen des Körperlichen bei Irena Březná und Libuše Moníková. – In: Dies. (Hg.), Slowakische Kultur im Selbst- und Fremdverständnis. Ludwig Richter zum 70. Geburtstag. Stuttgart: Franz Steiner, 247-264. Křesadlo, Jan (1984): Mrchopěvci [Die Totensänger]. Toronto: Sixty-Eight Publishers. Lieb, Ludger (2000): Der Jahreszeitentopos im ,frühen‘ deutschen Minnesang. Eine Studie zur Macht des Topos und zur Institutionalisierung der höfischen Literatur. – In: Schirren, Thomas/Ueding, Gert (Hgg.), Topik und Rhetorik. Ein interdisziplinäres Symposium. Tübingen: Niemeyer, 121-142. Mecklenburg, Norbert (1987): Die grünen Inseln. Zur Kritik des literarischen Heimatkomplexes. München: Iudicium. Moníková, Libuše (1990): Eine Schädigung. München: dtv. Pekárková, Iva (1995): Truck Stop Rainbows. München: Piper. Said, Edward (1984): Reflections on Exile. – In: Granta 13, London, 159-172. Schulze, Hagen/François, Etienne (Hgg.) (2001): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. I-III. München: Beck. Steiner, George (1971): Extraterritorial. – In: Tri-Quarterly 17, Evanson, 119-127.
Dana Kasperová
Integrationsfrage der jüdischen Bevölkerung und das Schulwesen am Anfang des 20. Jahrhunderts
1. Vorbemerkung
Die böhmischen Länder in Mitteleuropa, heute mehr oder weniger ein national und kulturell homogenes Gebilde, galten in der Vergangenheit als ein Beispiel einer interkulturell bunten Gesellschaft in Bezug auf Sprachen, Glauben, Kulturen und verschiedene Lebensweisen. Das gesellschaftliche Leben in der multinationalen ČSR, welches auch von Deutschen, Juden, Karpathenrussen, Polen oder Magyaren geprägt war, verkomplizierte sich zunehmend in der Zwischenkriegszeit. Dabei handelte es sich, wie bekannt, nicht immer um ein friedliches Zusammenleben. Die Begegnung der deutschen, tschechischen und jüdischen Kultur in den böhmischen Ländern war sowohl im 19. Jahrhundert, als auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Spannungen und Rivalitäten gekennzeichnet. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage der Integration von Juden in die deutsche und tschechische Gesellschaft im 19. Jahrhundert sowie in der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik insbesondere in Hinblick auf den schulischen Bereich. Der erste Teil befasst sich mit den Aspekten der Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft in Böhmen in Bezug auf Fragen ihres Schulbesuches und ihrer universitären Ausbildung. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Integration der Juden in die tschechische Gesellschaft, die unter anderem durch die steigende Schülerzahl jüdischer Kinder in den tschechischen Schulen gekennzeichnet war.
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2. Die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft in Böhmen im 19. Jahrhundert.
Die Integration der Juden in die deutsche Gesellschaft begann in Böhmen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und hing mit dem europäischen Prozess der sog. jüdischen Emanzipation eng zusammen, als die traditionellen Werte und sozialen Beziehungen in der damaligen homogenen jüdischen Gemeinschaft immer mehr an Gewicht verloren, wodurch sich die jüdischen Mitglieder auf dem komplizierten Weg der Suche nach einer neuen Identität befanden. Die Juden nahmen Abschied von ihren kulturellen und religiösen Traditionen und waren offen für die kulturellen Verhaltensweisen anderer Nationen der Länder, in denen sie lebten.1 Eine vergleichbare Situation herrschte in den böhmischen Ländern. Die meisten Juden wandten sich damals der deutschen Nation und Kultur zu und begannen, die deutsche Sprache aktiv zu verwenden. Bei dieser Entwicklung spielten die Reformen Kaisers Joseph II. eine große Rolle, aufgrund derer die deutsche Sprache im Habsburger Vielvölkerstaat als Staatssprache festgelegt wurde. Auch sollten die Juden ihre hebräischen Namen nicht mehr benutzen und bekamen neue deutsche Namen, ihre Matrikel- und Geschäftsbücher sollten sie ebenfalls auf Deutsch führen (Pěkný 2001: 486). Zur deutschen Identitätsstiftung der jüdischen Bevölkerung trugen ebenfalls wesentlich die Schulreformen Kaisers Joseph II. bei, die zur Gründung jüdischer Schulen mit deutscher Unterrichtssprache führten. Fast alle traditionellen jüdischen Schulen Cheder und Jeschiva, in denen auf Jüdisch unterrichtet wurde und die sich auf die Interpretation von Tora, Talmud und anderen wichtigen religiösen Texten konzentrierten, wurden aufgelöst. In den deutschen josephinischen Schulen verlagerte sich das Gewicht auf die Seite der weltlichen Ausbildung (unterrichtet wurde auch Erd- und Naturkunde, Mathematik und Geschichte), wobei auch Grundkenntnisse des Judaismus übermittelt wurden. Die deutsche Sprache wurde bevorzugt, weil gute deutsche Sprachkenntnisse eine Voraussetzung für die erfolgreiche Teilnahme am ge1 Jedoch ließen die immer wieder ausbrechenden Wellen des Antisemitismus und vor allem die antijüdischen Pogrome und der Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts an der erfolgreichen jüdischen Integration zweifeln und standen bei der Geburt des Zionismus Pate, der sich für die Gründung eines selbständigen jüdischen Staates und für die Anerkennung der jüdischen Nationalität einsetzte.
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sellschaftlichen Leben und für den beruflichen Aufstieg bedeuteten. Die volle rechtliche und soziale Gleichstellung der Juden in der Habsburger Monarchie im Jahre 1867 bildete eine wichtige Grundlage für die ‚Dankbarkeit und Zuneigung‘ der jüdischen Bevölkerung zur kaiserlichen Hoheit und dadurch zur deutschen Kultur. Auch für die große Zahl von Studenten, die daraufhin freien Zugang an die Universitäten gewannen, stellte Deutsch eine wichtige Voraussetzung für ihren sozialen Aufstieg dar. Über die an der Prager Universität und der Technischen Hochschule studierenden jüdischen Studenten liegen aus der Zeit um die Jahrhundertwende einige Angaben vor (Otruba 1983: 350), denen man entnehmen kann, dass die meisten jüdischen Hörer das Studium in deutscher Sprache bevorzugten: Universität Prag 1863 1890 1900 1910 Technische Hochschule 1863 1890 1910
Gesamtprozentzahl 10,2 % 29,7 % 28,9 % 21,6 %
an der deutschen 10,2 % 27,9 % 26,9 % 19,5 %
an der tschechischen --1,8 % 2,0 % 2,1 %
4,8 % 20,7 % 32,6 %
4,8 % 19,8 % 29,5 %
--0,9 % 3,1 %
Tabelle 1: Der Anteil jüdischer Studenten an den deutschen und tschechischen Prager Universitäten und technischen Hohschulen in Prag (Wlaschek 1990: 29)
Interessant scheint die Verteilung der jüdischen Studenten auf die einzelnen Fakultäten: Ein großer Teil dürfte sich an Stelle der Medizin hauptsächlich den technischen Studien zugewandt haben, denn parallel mit dem Rückgang der Hörer der Medizinischen Fakultät nimmt die Frequenz der technischen Hochschulen erheblich zu. Verhältnismäßig am wenigsten vertreten sind die Juden an der philosophischen Fakultät, da sie hier die geringsten Aussichten auf Erlangung eines praktischen Berufes, d. h. einer Anstellung als Gymnasiallehrer etc. haben. (Wlaschek 1990: 29)
In der Ersten Tschechoslowakischen Republik blieb die Zahl der jüdischen Studenten an den deutschen Universitäten und Hochschulen konstant oder sank teilweise, stattdessen erhöhte sich die Zahl der jüdischen Studenten an den tschechischen Universitäten und Hochschulen, was man als Beispiel einer neuen Entwicklung sehen kann – der Integration der Juden in die tschechische Gesellschaft und Kultur. An der tschechischen Prager Universität stieg die Zahl der jüdischen Studenten, die im Jahr 1913/14 und im Jahr 1919/20
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bei 3,7 % lag, bis auf 14,7 % im Jahr 1931/32. Dieser Trend verstärkte sich nach 1933, nach der Machtergreifung Hitlers im benachbarten Deutschland (Havránek 1998: 28). Im akademischen Jahr 1929/30 wurden an der tschechischen Karlsuniversität in Prag sogar mehr jüdische Studenten immatrikuliert als an der Deutschen Universität Prag: 1921 1922 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931
tschechische Karlsuniversität 469 369 800 746 805 960 1146 1421 1613
Deutsche Prager Universität 1400 1321 1390 1379 1380 1431 1281 1069 ---
Tabelle 2: Jüdische Studenten an der tschechischen Karlsuniversität und an der Deutschen Prager Universität (Society for the History of Czechoslovak Jews 1971: 178).
3. Integration der Juden in die tschechische Gesellschaft
Die Einstellung der jüdischen Bevölkerung zur tschechischen Kultur und zur tschechischen Sprache änderte sich schon seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als – nicht gerade zufällig – die erste tschechischjüdische Bewegung ins Leben gerufen wurde – Spolek akademiků Židů [Bund jüdischer Akademiker]. Die Akademiker konzentrierten sich hauptsächlich auf die kulturelle und gesellschaftliche Ebene der jüdischen Assimilation. Nach den Satzungen des Bundes war die Grundaufgabe des Bundes „die Bildung und Pflege des tschechischen Bewusstseins bei den in böhmischen Ländern geborenen oder lebenden Juden“ (Stein 1926: 5). In der ersten Generation der sog. „Tschechischjuden“ bildeten die Juden aus dem tschechischen Umland (hauptsächlich aus Südböhmen), wo sie innerhalb der tschechischen Kultur lebten, die größte Gruppe. Es zeigt sich, dass in den Herkunftsorten der ersten „Tschechischjuden“ die ersten tsche-
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chischen Mittelschulen und Gymnasien gegründet wurden. Nach dem Beginn des Studiums in Prag lernten die „Tschechischjuden“ die jüdischen deutschakademischen Bünde kennen, zu denen sie ein Gegengewicht entwickeln wollten (Čapková 2005: 96). Gleichzeitig wurde die tschechische Sprache mehr und mehr zur Sprache der höheren sozialen Schichten und der Intellektuellen.2 Seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Juden, die bei Volkszählungen Tschechisch als ihre Umgangssprache angaben. Unter der jüdischen Bevölkerung gaben in Böhmen im Jahre 1910 genau 51,5 % Tschechisch und 48,4 % Deutsch als ihre Umgangssprache an. In der Ersten Tschechoslowakischen Republik nahmen die Juden eine gleichberechtigte Stellung ein. Nur in der Tschechoslowakei war es möglich, sich zur jüdischen Nationalität zu bekennen, ohne dass man die Kenntnis einer jüdischen Sprache (Jiddisch oder Hebräisch) oder die Zugehörigkeit zur Jüdischen Gemeinde nachweisen musste. Bei der Volkszählung im Jahre 1921 gaben 1,3 % der Bevölkerung an, jüdischer Nationalität zu sein, genauso viel wie im Jahre 1930.3 Die offizielle Anerkennung seitens des Staates unterstützten bekannte Persönlichkeiten des politischen und kulturellen Lebens – nicht nur Präsident Masaryk, sondern auch die Philosophen Emanuel Rádl, František Krejčí sowie die Schriftsteller Arne Novák und Max Brod. Über die fortschreitende Integration der jüdischen Bevölkerung in das tschechische kulturelle Milieu geben die Schulstatistiken hinsichtlich der Anzahl der Schüler jüdischen Glaubens, die in den Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache während der Ersten Tschechoslowakischen Republik insbesondere in Böhmen stetig anstieg, wichtige Auskunft. Die Zahl der jüdischen Schüler erhöhte sich massiv hauptsächlich in den Volks- und Bürgerschulen mit tschechischer Unterrichtssprache (siehe Tabelle Nr. 3). Eine ähnliche Situation kann man auch in Mähren verzeichnen. Wenn im Jahre 1921/22 noch 30,1 % jüdische Schüler die Volks- und Bürgerschulen mit tschechischer Unterrichtssprache besuchten, dann änderte sich die Situation bis zum Jahr 1930/31 radikal, die Zahl lag dann bei 67 %. Demgegenüber bevorzugten die meisten jüdischen Gymnasiasten in der gesamten Zwischenkriegszeit sowohl in Böhmen als auch in Mähren und Schlesien die Bildungsanstalten mit deutscher Unterrichtssprache. Im Jahre 1930 besuch2 Im Jahr 1890 wurde die Tschechische Akademie der Wissenschaften gegründet. Mit dem Aufstieg der tschechischen Kultur entwickelte sich gleichzeitig auch das tschechische Mittelschulwesen. 3 Vgl. Československá statistika. Heft 9, Bd. I. Praha 1924 und Československá statistika. Heft 98, Bd. I. Praha 1934.
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ten in Böhmen 57 % der Studenten jüdischen Glaubens deutsche Mittelschulen und 43 % tschechische. Diese Situation spiegelt sich in der Erinnerung damaliger jüdischer Schüler wider: „Ich besuchte eine tschechische Volksschule und dann wählte ich das deutsche Gymnasium. So war es bei uns üblich. Budweis war eine zweisprachige Stadt und so machten es alle.“ (Lorenzová/Hyndráková 1999: 109) Ähnlich erinnert sich eine andere Zeitzeugin an ihre Schuljahre: „Ich war ein bilinguales Kind. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr, welche Sprache ich früher sprach. Ich besuchte hauptsächlich deutsche Schulen, aber auch einige tschechischen Schulanstalten.“ (Lorenzová/Hyndráková 1999: 109) Böhmen Volksschulen
tschechisch deutsch Bürgerschulen tschechisch deutsch
1921/22 3 195 2 582 859 948
55,3 % 44,7 % 47,5 % 52,4 %
1930/31 2 871 1 828 532 273
61,2 % 38,9 % 66 % 34 %
Tabelle 3: Die Anzahl jüdischer Schüler auf den Volks- und Bürgerschulen in Böhmen in den Jahren 1921 und 1930 (Československá statistika 1923: 536f; Zprávy 1931: 704f.)
Allen nationalen Minderheiten der ersten Tschechoslowakischen Republik sicherte der Staat das Recht zu, in der eigenen Muttersprache unterrichtet zu werden (Kasper 2007: 156-163). Im Falle der jüdischen nationalen Minderheit war die Situation jedoch kompliziert. Die Mehrheit der Juden in der Tschechoslowakei sprach Tschechisch oder Deutsch. Hebräisch galt zwar als die „nationale“ Sprache, die jedoch nur eine geringe Zahl der Juden beherrschte und sprach. Dazu kam, dass sich in den böhmischen Ländern zu der neu anerkannten jüdischen Nationalität eine so kleine Prozentzahl der Bevölkerung bekannte, dass es sich für den Staat nicht lohnte, Schulen mit hebräischer Unterrichtssprache zu gründen. Laut Gesetz war eine bestimmte Anzahl von schulpflichtigen Kindern erforderlich, um eine öffentliche Schule in ihrer Muttersprache zu gründen. Anhand der Statistiken kann festgestellt werden, dass fast keine Volksund Mittelschulen mit hebräischer Unterrichtssprache in Böhmen sowie in der Tschechoslowakei in der Zwischenkriegszeit eröffnet wurden. Nur in der Karpathenukraine, im östlichsten Teil der Tschechoslowakei, gab es eine Volksschule mit hebräischer Unterrichtssprache, die im Jahr 1926 bis zu 600 Kinder besuchten. Bei einer Gesamtzahl von etwa 1,8 Millionen schulpflichtigen Kindern handelte es sich um eine verschwindend geringe Zahl. Trotz der niedrigen Prozentzahl von gläubigen und auch jüdisch national Juden, trotz der erfolgreichen jüdischen Assimilationsbewegung verzichteten
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die Zionisten nicht darauf, sich für ihre Ziele auch in der Schulfrage aktiv einzusetzen. Dank des Engagements der tschechoslowakischen Zionisten entstand in Prag eine jüdische Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache und in Brünn neben der jüdischen Volksschule auch ein Realgymnasium – beide mit tschechischer Unterrichtssprache. In Nordmähren gab es jedoch mehrere jüdische Volksschulen mit deutscher Unterrichtssprache. Mit dem Schuljahr 1920/21 wurde in Prag im jüdischen Stadtviertel Josefstadt in der Jachymova Strasse eine private Volksschule eröffnet, die vom Verein Sion finanziert wurde. An der festlichen Schuleröffnung nahmen bekannte Persönlichkeiten des Prager jüdischen Kulturlebens teil. Die Eröffnungsrede hielten der jüdische Schriftsteller Max Brod und der Prager Rabbiner Prof. Reach. Unter den Lehrern findet man auch Franz Kafkas Schwester Valli. Auch die Brünner Schulen erzogen und unterrichteten im jüdischen Geiste. Nicht nur jüdische, sondern auch über den jüdisch nationalen Kulturkreise hinausweisende Unterrichtsinhalte wurden hier angeboten. Der Unterricht sollte „nicht nur zum Verstehen des jüdischen Geistes, sondern auch des Weltgeistes führen. Kein enges nationales, sondern ein vorurteilfreies und offenes Kulturdenken“ (Drachmann 1936: 6) wurde im Schulunterricht gefordert. Das jüdische Brünner Gymnasium spielte im Protektorat Böhmen und Mähren eine wichtige Rolle, als die antijüdischen Maßnahmen im Schulwesen eingeführt wurden und die jüdischen Schüler von den öffentlichen deutschen und später auch tschechischen Mittelschulen ausgeschlossen wurden (Kasperová 2005: 220). Das Brünner Gymnasium blieb die letzte Möglichkeit, wo sie ihr Abitur ablegen konnten. Daneben findet man später im Ghetto Theresienstadt viele ehemalige Brünner Gymnasiallehrer, die sich aktiv dem illegalen Unterricht im Ghetto widmeten und ihre Kräfte für die pädagogische Arbeit unter den katastrophalen Bedingungen des Ghettolebens einsetzten. Auch die Prager jüdische Volksschule erhielt in der späteren Geschichte wichtige Aufgaben. Nach 1933 nahm sie viele Kinder jüdischer Flüchtlinge aus dem Dritten Reich auf und auch nach dem Münchner Abkommen 1938, als aus dem Gau Sudetenland die jüdische Bevölkerung in den Rest der Tschechoslowakei flüchtete, stellte sie Plätze zur Verfügung. Im Protektorat Böhmen und Mähren blieb sie der letzte Ort, wo jüdischen Kinder vor ihrer Deportation nach Theresienstadt eine, wenn auch sehr begrenzte und provisorische Schulbildung bekommen konnten.
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4. Schluss
In der jüdischen Kommunität in Böhmen zeigten sich im 19. Jahrhundert alle Merkmale der Modernisierung und Emanzipation – sie gehörte zur mittleren und höheren sozialen Schicht, zeichneten sich durch hohe Urbanisierung, durch das Verlassen von religiösen Traditionen und durch die schnelle Integration in die kulturell und sprachlich dominante deutsche Gesellschaft aus. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts sank jedoch die Zahl der Juden, die sich zur deutschen Nationalität bekannten und Deutsch sprachen. Mit diesem Trend korrelieren die sinkenden Zahlen jüdischer Studenten an den deutschen Universitäten und Hochschulen. Die Integration der jüdischen Bevölkerung in die tschechische Gesellschaft fand ihren Höhepunkt in der Tschechoslowakischen Republik. Kontinuierlich steigende Zahlen jüdischer Schüler in den tschechischen Schulen beweisen diese Integrationsentwicklung.
Literatur
Československá statistika (1923): Československá statistika [Tschechoslowakische Statistik], Bd. 6. Prag. Čapková, Kateřina (2005): Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 19181938 [Tscheche, Deutsche, Juden? Nationale Identität im Böhmen 1918-1938]. Praha: Paseka. Drachmann, Eduard (1936): K otázkám židovského školství [Fragen zum jüdischen Schulwesen]. Brno: Spolek „Židovská škola“. Havránek, Jan (1998): Univerzita Karlova, rozmach a perzekuce 1918-45 [Die Karlsuniversität, Aufstieg und Verfolgung 1918]. – In: Havránek, Jan/Pousta, Zdeněk (Hgg.), Dějiny Univerzity Karlovy 1918-1990. Bd. IV: Karlsuniversität – Entwicklung und Persekution 1918-45. Praha : Karolinum, 235-246. Kasper, Tomáš. (2007): Výchova či politika? Úskalí německého reformně pedagogického hnutí v Československu v letech 1918-1933 [Erziehung oder Politik? Probleme des deut-
Integrationsfrage der jüdischen Bevölkerung und das Schulwesen
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schen reformpädagogischen Bewegung in der Tschechoslowakei in den Jahren 1918-1933]. Praha: Karolinum. Kasperová, Dana (2005): Vzdělávání židovských dětí v Protektorátu Čechy a Morava v letech 1939-42 [Ausbildung von jüdischen Kinder im Protektorat Böhmen und Mähren in den Jahren 1939-42]. – In: Pedagogika 55, 217-230. Krejčová, Helena/Svobodová, Jana (1998): Postavení a osudy židovského obyvatelstva v Čechách a na Moravě v letech 1939-1945 [Stand und Geschichte der jüdischen Bevölkerung im Böhmen und Mähren in den Jahren 1939-45]. Praha: AV ČR. Lorencová, Anna/Hyndráková, Anna (1999): Česká společnost a židé podle vzpomínek pamětníků [Tschechische Gesellschaft und die Juden nach den Erinnerungen von Zeitzeugen]. – In: Terezínské studie a dokumenty 1999, 97-119. Pěkný, Tomáš (2001): Historie Židů v Čechách a na Moravě [Geschichte der Juden im Böhmen und Mähren]. Praha: Sefer. Soukupová, Blanka/Zahradníková, Marie (2003): Židovská menšina v Československu ve dvacátých letech [Jüdische Minderheit in der Tschechoslowakei in den zwanziger Jahren]. Praha: Židovské muzeum. Stein, August (1926): Ze začátků Spolku českých akademiků – židů [Vom Beginn des Bundes tschechischer Akademiker – Juden]. – In: Vzpomínky a úvahy 1876-1926. Praha: Akademický spolek Kapper. Wlaschek, Rudolf (1990): Juden in Böhmen. München: Oldenbourg. Zprávy (1931): Zprávy Státního československého úřadu statistického [Berichte des Staatlichen tschechoslowakischen statistischen Amtes], Jg. XII, Prag.
Simona Švingrová, Marek Nekula
Die Sprachenfrage in Böhmen nach 1900. Der tatsächliche Gebrauch der deutschen und tschechischen Amtssprache am Beispiel der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag
1. Die Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt in Prag
Es war etwa 4 Uhr früh, ich wache auf, wundere mich über merkwürdig viel Speichel im Mund, spucke es aus, zünde dann doch an, merkwürdig, es ist ein Patzen Blut. Und nun beginnts. Chrlení, ich weiß nicht, ob es richtig geschrieben ist, aber ein guter Ausdruck ist es für dieses Quellen in der Kehle. (Kafka 1974: 39)1
So beschrieb der damals 34-jährige Beamte der Arbeiter-Unfall-VersicherungsAnstalt für das Königreich Böhmen in Prag (AUVA) Franz Kafka Ende August 1917 den ersten Anfall seiner Krankheit, als er in einem Brief seiner Schwester Ottla die Qualen schilderte. Abgesehen davon, dass es sich um eine der intimen Mitteilungen handelte, von denen es in der gegenseitigen Korrespondenz beider Geschwister wimmelte und die das weitere Leben Franz Kafkas prägten, ist der Autor dieses Zitates bzw. sein Sprachgefühl als faszinierend zu bezeichnen. Nicht den deutschen Ausdruck „Speien“, sondern das tschechische Wort „chrlení“ findet er zutreffend, um seinen nächtlichen Vorfall in Worte zu fassen, was bei ihm nicht nur auf ein besonderes Niveau der Tschechischkenntnisse hindeutet, sondern auch auf die Fähigkeit, die Sprache zu fühlen, in ihren Kategorien zu denken bzw. ihren Klang wahrzunehmen (Nekula 2003). Dass er sich in so einer schweren Situation auf diese Art und Weise dem Tschechischen zuwandte, signalisiert ein Verhältnis zur tschechischen Sprache, das in Kafkas privatem Leben später noch einerseits durch die Heirat seiner Schwester Ottla mit Josef David, andererseits aber auch durch die Beziehung zu Milena Jesenská gestärkt wurde (Kafka 1983). Und 1 Brief Kafkas an seine Schwester Ottla, Prag, 29.08.1917.
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schließlich wurde er 1918 auch beruflich mit der Einführung der tschechischen Amtssprache konfrontiert, nachdem die Tschechoslowakische Republik gegründet worden war. Bei einem österreichischen, im Prag der Jahrhundertwende geborenen Beamten, der gleichzeitig aber auch literarisch tätig war, mag die Zwei sprachigkeit sicher nicht überraschen. So oft aber Fragen nach Kafkas Sprachkompetenzen und Identität gestellt wurden, so wenig hat man danach im Falle seiner Kollegen im Amt gefragt. Die Fremd- und Selbstdefinition der eigenen Identität, die in den sprachnational polarisierten böhmischen Ländern und im Prag der Kafka-Zeit über die Sprache erfolgte und zu erfolgen hatte, spielte etwa im Zusammenhang mit der Wahl der Schule oder im Hinblick auf das Sprachverhalten in öffentlichen Institutionen eine wesentliche Rolle.2 Kafka war als Zweisprachiger in seinen Dienstjahren (1908-1922) keine Ausnahme, im Gegenteil: Sein Profil entsprach fast dem Idealbeamten, obgleich er sich im geschriebenen Tschechischen etwas unsicher fühlte (Nekula 2003: bes. 2-3, 154; Hermsdorf 2003: 78).3 Von Anfang an waren bei der AUVA Beamte mit Kenntnissen in beiden Landessprachen gefragt, zumal dort die sog. institutionelle Kommunikation der Anstalt mit ihren Klienten – den versicherten Unternehmen und deren Arbeitern, aber auch mit öffentlichen Institutionen auf Deutsch und Tschechisch erfolgte: Nach den Taaffe-Stremayrschen Sprachenverordnungen (April 1880) wurde eine Gleichberechtigung beider Landessprachen als äußerer Amtssprachen garantiert. Die Arbeiterunfallversicherungspflicht bezog sich laut Gesetz vom 28. Dezember 1887 (mit Wirksamkeit vom 1. November 1889) auf „alle in Fabriken und Hüttenwerken, in Bergwerken auf nicht vorbehaltene Mineralien, auf Werften, Stapeln und in Brüchen sowie in den zu diesen Betrieben gehörigen Anlagen beschäftigten Arbeiter und Betriebsbeamten“ (Kafka 2004: 38). Die Betriebe wurden je nach dem Unfallrisiko in 15 Gefahrenklassen einge2 Dies lag auch dem Projekt Sprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen sprachlichen und kulturellen Kontext vor. Das Projekt wurde am Bohemicum der Universität Regensburg betreut und als ein Teilprojekt entstand die Dissertation von Simona Švingrová, die sich mit dem Gebrauch der Amtssprache in den böhmisch-österreichischen und tschechoslowakischen öffentlichen Institutionen der Kafka-Zeit beschäftigt. Dabei ging sie insbesondere von den Archivquellen der AUVA aus, die im Nationalarchiv in Prag aufbewahrt werden. Zeitlich ist der Rahmen der Studie etwa mit der Entstehung der AUVA (1889) und der Pensionierung Franz Kafkas (1922) bzw. seinem Tode (1924) abzugrenzen. 3 ������������������������������������������������������������������������������������������� So ließ Franz Kafka z. B. einen Teil seiner Briefe für die AUVA nach 1918 von seiner Schwester Ottla und ihrem Mann Josef David ins Tschechische übersetzen bzw. korrigieren.
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teilt, nach denen die Höhe der Versicherungstarife bemessen wurde: Davon fielen 90 % dem Arbeitgeber und 10 % dem versicherten Arbeitnehmer zur Last (Kafka 2004: 47). Die Kommunikation vollzog sich entweder direkt (Abb. 1a), indem sich die Unternehmen, aber auch die staatlichen und autonomen Institutionen (in Abb. 1 als Parteien bezeichnet) unmittelbar an die AUVA wandten, oder auch auf indirektem Wege (Abb. 1b), wenn sie eine Anzeige über einen Unfall erstatten bzw. gegen einen Bescheid protestieren wollten: Die Eingabe war dann zuerst bei der k.k. Statthalterei in Prag (oder einer ihr untergeordneten Instanz – einer k.k. Bezirkshauptmannschaft) einzureichen und erst dann wurde sie an die AUVA vermittelt. 1a. direkt
AUVA
1b. indirekt
Partei äußere/innere Amtssprache
AUVA
Statthalterei innere Amtssprache
Partei äußere/innere Amtssprache
Abbildung 1: Institutionelle Kommunikation
Die staatliche Aufsicht über die AUVA war in erster Linie durch die k.k. Statthalterei in Prag als zuständige politische Landesbehörde gesichert, was praktisch auch bedeutete, dass diese der nächste Partner im Wirkungsbereich der inneren Amtssprache war. Außerdem spielte die k.k. Statthalterei die Rolle einer Zwischenstelle, die die Mitteilungen zwischen der AUVA und den Organen der Staats- und autonomen Verwaltung (insbesondere den k.k. Bezirkshauptmannschaften, den k.k. Gewerbeinspektoraten sowie den Stadtund Gemeindeämtern) organisierte (vgl. Abb. 2a) – obwohl dies in einigen Fällen zwischen der AUVA und den Kommunikationspartnern auch direkt geschah, wie bereits erwähnt wurde (vgl. Abb. 1b). Diese Vermittlung hatte aber in der Regel formale, inhaltliche, aber auch sprachliche Modifizierungen der Korrespondenz in beiden Richtungen zur Folge, bevor diese weitergeleitet wurde. In letzter Instanz unterstand die AUVA dem k.k. Ministerium des Innern in Wien. So war die vermittelnde Funktion der Statthalterei in der
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Kommunikation mit der Zentralstelle im Bereich der innersten Amtssprache unvermeidlich (vgl. Abb. 2b). 2a. innere Kommunikation AUVA
Statthalterei innere Amtssprache
innere Amtssprache
Staats- u. autonome Verwaltung
2b. innerste Kommunikation AUVA
Statthalterei innere Amtssprache
Ministerium innerste Amtssprache
Abbildung 2: Extrainstitutionelle Kommunikation
Im Hinblick auf den Sprachenkampf in Böhmen ist gerade der Sprachgebrauch im inneren Dienst zum Zankapfel der nationalen Auseinandersetzungen um die Jahrhundertwende geworden. Gemäß dem Gesetz sollte als innere (bzw. innerste) Amtssprache – also auch in der Kommunikation zwischen der AUVA und den Staatsorganen – vor 1918 Deutsch benutzt werden. In Wirklichkeit eroberte aber das Tschechische nach und nach mehr Terrain, wie im Weiteren gezeigt wird. Nachdem die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897 außer Kraft gesetzt worden waren (1899), scheiterte auch der Versuch, das Tschechische in der inneren Amtsführung der Staatsbehörden in Böhmen einzuführen. Ministerpräsident Kasimir Badeni stieß auf heftigen Protest der Deutschen, indem sie die Anordnung über die Beherrschung beider Landessprachen ablehnten, die ab dem 1. Juli 1901 hätte Gültigkeit erlangen müssen (Slapnicka 1988: 153). Im Falle der Kommunikation mit autonomen Behörden – also mit Stadt- und Gemeindeämtern war die Situation anders, da diese in ihrem Wirkungsbereich über die Amtssprache selbst entscheiden konnten und keiner legislativen Regelung unterlagen, obwohl darüber mehrmals (insbesondere in den Jahren 1900-1901 und 1909-1910) verhandelt wurde (Hlavačka 2006: 145-146).4
4 ���������������������������������������������������������������������������������� In der Dissertation von Simona Švingrová ��������������������������������������������������� wird ����������������������������������������� der Kommunikation der AUVA mit autonomen Behörden ein eigenständiges Kapitel gewidmet.
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Die Sprachenfrage in Böhmen nach 1900
Als letzte Stufe der internen Kommunikation ist noch die sog. intrain stitutionelle Kommunikation zu erwähnen (Abb. 3), die dem Informations austausch innerhalb der AUVA diente, d. h. der Kommunikation zwischen Vorstand, Direktion, Sekretariat und den Abteilungen. Dabei kamen beliebige Kommunikationspartner miteinander in Kontakt, so wandten sich z. B. die Beamten (als Abteilungen unter Abb. 3a dargestellt) an den Vorstand, wenn sie eine Beförderung oder Gehaltsanpassung anstrebten. Seit 1896 hatte die AUVA auch ihre lokalen Filialen, die sich in Reichenberg, Teplitz, Königgrätz, Pilsen und Budweis befanden;5 1898 wurde noch eine in Jungbunzlau errichtet.6 Ihre Kompetenzen waren jedoch ziemlich beschränkt: Alle wichtigen Entscheidungen mussten sowieso von der Zentrale in Prag getroffen werden und wie alle anderen Abteilungen unterstanden auch die lokalen Filialen direkt dem Direktor (3b). 3a. innerhalb der AUVA in Prag AUVA Vorstand
Direktion Sekretariat interne Amtssprache
Abteilungen
3b. mit den Lokalexposituren Direktion
AUVA Sekretariat
Abteilungen
interne Amtssprache Abbildung 3: Intrainstitutionelle Kommunikation
Die ‚interne Amtssprache‘ war zwar legislativ nicht geregelt und obwohl bei der AUVA das Prinzip der Zweisprachigkeit immer wieder betont wurde, ist innerhalb der Institution – zumindest im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz (1889 bis etwa 1900) – die ausschließliche Dominanz des Deutschen wahrscheinlich. Erst nach 1900 begann sich das Tschechische in der intrainstitutionellen Kommunikation durchzusetzen und bis 1918 konkurrierte es – mit wachsender Intensität – mit dem Deutschen. Die Wahl des sprachlichen Kodes war 5 NA: ČM Praha (1884-1900), Kt. 6523, Sig. 53/2/1a. Brief der AUVA an die k.k. Statthalterei, September 1896, unterzeichnet von Direktor Jakob Haubner und Obmann Otto Přibram, in dem die Leitung der Anstalt ihre Entscheidung begründet, 5 lokale Filialen zu errichten. 6 Ebd. Brief der AUVA an die k.k. Statthalterei in Prag vom 29.08.1898.
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immer sehr individuell geprägt und im Großen und Ganzen von Position, Ausbildung und Sprachkompetenzen des jeweiligen Sprechers abhängig bzw. davon, wie man sich selbst präsentieren wollte. Durch die Entscheidung für die eine oder die andere Landessprache zeigte man sich nicht nur sprachlich, sondern vor allem national zugehörig, und so entstanden auch im Alltag der AUVA Kategorien wie „Beamte böhmischer Nationalität“ oder das Gegenteil „Beamte deutscher Nationalität“.7
2. Deutsch und Tschechisch in der Alltagskommunikation der AUVA
Die erwähnten legislativen Maßnahmen wurden bei der AUVA in den Be reichen innere und innerste Amtssprache bis etwa 1900 ohne Einschränk ungen in die Praxis umgesetzt. Die innere und innerste Kommunikation vollzogen sich in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts ausschließlich auf Deutsch und auch nach 1900 dominierte auf diesem Gebiet das Deutsche. So wurde in der AUVA beispielsweise am 1. Juli 1911 ein Bericht über die Begutachtungspraxis der k.k. Gewerbeinspektorate auf Deutsch formuliert und von Direktor Robert Marschner mit einer deutschen Zuschrift an die k.k. Statthalterei in Prag gesandt und von da aus an das k.k. Ministerium des Innern in Wien weitergeleitet.8 Hochlöbliche k.k. Statthalterei in Prag! Die gefertigte Anstalt erlaubt sich in der Beilage die Abschrift einer Eingabe zur geneigten Kenntnisnahme zu unterbreiten, die sie an das hohe k.k. Ministerium des 7 Diese Kategorisierung liegt einer Aussage des Professors Josef Gruber, Vorstandsmitglied der AUVA in den Jahren 1908-1918, zugrunde, die er in einer Vorstandssitzung im März 1913 machte: „Herr Prof. Dr. Gruber konstatiert, daß von den 12 Konzeptskräften bei der Anstalt nur 4 böhmischer Nationalität sind und spricht den Wunsch aus, daß bei der Besetzung künftiger juristischer Konzeptsstellen ein Konkurs ausgeschrieben und dieser Wunsch betreffend die Besetzung der Stellen dem Vorstande zu Beschlussfassung vorgelegt werde.“ – In: NA: ZÚ, Kt. 89. Protokoll der Vorstandssitzung vom 07.03.1913. 8 ��������������������������������������������������������������������������������������� NA: ZÚ, Kt. 94. Brief der AUVA an die k.k. Statthalterei in Prag vom 01.07.1911, unterzeichnet von Direktor Robert Marschner mit einem 24-seitigen Bericht über die Begutachtungspraxis der k.k. Gewerbeinspektorate.
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Innern in Angelegenheit der gegenwärtigen Begutachtungspraxis der Mehrzahl der k.k. Gewerbeinspektorate im Einspruchsverfahren gegen die Neueinreihung 1910 gerichtet hat. Der Director: Dr Marschner (Ebd.)
Im Oktober desselben Jahres unterzeichnete Robert Marschner einen Brief für die k.k. Bezirkshauptmannschaft in Náchod, der aber auf Tschechisch geschrieben war und in dem die AUVA darum ersuchte, dem Tischler Karel Škoda in Náchod den beigelegten Bescheid auszuhändigen.9 Slavné c.k. okresní hejtmanství v Náchodě! Podepsaný ústav zdvořile žádá, by přiložený výměr znějící na jméno pana Škody Karla v Náchodě po laskavém nahlédnutí jmenovanému proti potvrzení na připojeném přijímacím lístku doručiti a stvrzenku tu pro případ podání námitek u tamního úřadu uschovati si neobtěžovalo. Ředitel: Dr Marschner (Ebd.) [Hochlöbliche k.k. Bezirkshauptmannschaft in Nachod! Die austellende Anstalt erlaubt sich die höfliche Bitte, den beiliegenden, auf den Namen von Herrn Škoda Karel in Nachod lautenden Bescheid nach geneigter Einsichtnahme dem Besagten gegen Bestätigung des beigefügten Rückscheins auszuhändigen und diesen Bestätigungsschein für den Fall einer Rekursschrift beim dortigen Amte aufbewahren zu wollen. Direktor: Dr Marschner]
Es handelt sich um zwei fast parallel entstandene Dokumente, die von einer Person signiert und beide an die Organe der Staatsverwaltung gerichtet wurden, und trotzdem gab es darin einmal die deutsche und einmal die tschechische innere Amtssprache, was im Widerspruch zu der in Gesetzen und Verordnungen intendierten Sprachwirklichkeit stand. Das zweite Beispiel war im Alltag der AUVA nach 1900 keine Ausnahme und es deutet auf eine spontane, legislativ nicht geregelte Zunahme des Tschechischen in der inneren Amtssprache bei der Amtsführung der AUVA hin. Jedoch muss zwischen diesen zwei Beispielen eine Trennungslinie gezogen werden. Das auf Tschechisch formulierte Anschreiben des Direktors Marschner wurde an die k.k. Bezirkshauptmannschaft in Nachod gesandt, aber in der Angelegen heit eines bei der AUVA versicherten Unternehmers, der mit ihr auch auf 9 NA: ZÚ, Kt. 127. Brief der AUVA an die k.k. Bezirkshauptmannschaft in Náchod vom 21.09.1911, unterzeichnet von Direktor Robert Marschner.
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Tschechisch korrespondierte. Aufgrund des ihm zugestellten Bescheides leitete dann Karel Škoda ein Rekursverfahren gegen die Entscheidung der AUVA ein.10 Das Tschechische als äußere Amtssprache des Rekurrenten, also als Sprache der (ersten) Eingabe – man könnte sie auch als Rekurssprache bezeichnen – war ein wichtiger Faktor, der auch die Wahl der Sprache in der inneren Amtsführung der AUVA beeinflusste. Im Rekursverfahren Karel Škodas erfolgten dann alle Schreiben der AUVA auf Tschechisch, bis auf den deutschen Ministerialrekurs, in dem die AUVA gegen die Entscheidung der k.k. Statthalterei in Prag protestierte.11 Bis auf die innerste Amtssprache, also die Kommunikation mit dem Ministerium, war die Rekurssprache der AUVA in diesem Falle Tschechisch. Schließlich informierte die k.k. Statthalterei die Parteien über den Ministerialerlass, nachdem sie für beide eine tschechische Übersetzung hatte anfertigen lassen.12 Die Rekursverfahren lassen sich – je nach Sprache der Eingabe – in deutsche und tschechische aufteilen, wobei in keiner dieser Gruppen nur die eine Rekurssprache verwendet wurde. Die deutschen Rekurse neigen zwar stärker als die tschechischen dazu, nur in der Rekurssprache erledigt zu werden. Dies gilt aber nicht für alle Fälle. Und in den tschechischen Rekursen ist bei der Bearbeitung wiederum fast immer auch in Deutsch geschrieben worden, obgleich die Beantwortung gegenüber der Partei (äußere Amtsprache) in der Regel auch auf Tschechisch erfolgte. Selbst die k.k. Statthalterei bediente sich im Bereich der inneren Amtssprache des Tschechischen, wenn sie mit der AUVA bei Rekursverfahren verkehrte. Allerdings nur dann, wenn eine tschechische Eingabe vorlag und nur im Kontakt mit der AUVA, während mit den anderen Organen der Staatsverwaltung – in derselben Angelegenheit – auf Deutsch korrespondiert wurde.13 Beide Institutionen respektierten also deutsche sowie tschechische Eingaben, was Gerald Stourzh (1985: 120) als zweisprachige Gleichberechtigung bezeichnete, die Statthalterei jedoch nur im Kontakt mit der Partei und der AUVA: Falls eine 10 Vgl. dazu den auf Tschechisch formulierten Rekurs des Tischlers Karel Škoda aus Nachod vom 12.11.1911. – In: NA: ZÚ, Kt. 127. 11 Ebd. Ministerialrekurs der AUVA vom 07.10.1912. 12 Ebd. Tschechische Übersetzung des Ministerialerlasses vom 31.10.1913, expediert am 01.12.1913. 13 So auch im Rekursverfahren Karel Škodas. Am 27.12.1911 ersuchte die k.k. Statthalterei in Prag die k.k. Bezirkshauptmannschaft in Nachod in einer auf Deutsch formulierten Zuschrift darum, die Anstaltsäußerung dem Rekurrenten vorzulegen, und derselbe sollte nach einer Erklärung gefragt werden. Auf der zweiten Seite des Dokuments befindet sich ein auf Tschechisch geschriebenes Protokoll der mündlichen Verhandlung mit Karel Škoda vom 19.01.1912. – In: NA: ZÚ, Kt. 127.
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deutsche Beantwortung (z. B. vom Ministerium) vorlag, ließ sie die Statthalterei sowohl für den Rekurrenten wie auch für die AUVA ins Tschechische übersetzen. Dagegen verfasste die AUVA im Falle eines tschechischen Rekurses alle ihre Erledigungen an alle interessierten Institutionen in der Regel auf Tschechisch (mit Ausnahme derer, die für das Ministerium bestimmt waren, s. o.), bei deutschen Rekursen herrschte fast hundertprozentig das Deutsche vor. Obwohl die AUVA verschiedenste Betriebs-, Unfall- und Entschädigungsstatistiken führte, ist die Zahl der jährlich eingereichten oder erledigten Rekurse nirgendwo aufgeführt. Genauso schwierig ist es, in den AUVA-Statistiken die sprachliche Aufteilung zu bewerten, denn mit den Kategorien deutsch oder tschechisch/ böhmisch hat man darin nur ausnahmsweise gearbeitet. Auch für die sprachliche Aufteilung der versicherten Betriebe gibt es keine Statistiken, aber eine 1907 unter den Unternehmern durchgeführte Umfrage der AUVA über die freiwillige Versicherung der Werkstattarbeiter ergab, dass 53,1 % tschechische und 46,9 % deutsche Antworten (610 tschechische, 539 deutsche Antworten) gegeben wurden, wonach man den proportionalen Anteil der tschechischen sowie deutschen Firmen mutmaßen könnte.14 Ein ähnliches Verhältnis ließe sich auch für die sprachliche Aufteilung der Rekursverfahren annehmen: Von 105 im Archiv erfassten Rekursen, die in den Jahren 1900-1918 getätigt wurden, waren 49 deutsch und 56 tschechisch (je nach der Sprache der Eingabe).15 Die Prinzipien, die in den Badenischen Sprachenverordnungen enthalten waren – also eine Ausdehnung der Zweisprachigkeit auf den Bereich der inneren Kommunikation, setzte die AUVA mit Erfolg – und eigentlich im Widerspruch zur offiziellen Legislative – dadurch um, dass sie nicht nur die Rekurse gemäß der Sprache ihrer Eingabe führte, sondern auch das ganze Verfahren überwiegend in dieser Sprache (abgesehen von den Ministerialrekursen). Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass die gegenseitige Position der k.k. Statthalterei und der AUVA eher als Verhältnis von Behörde und Partei darzustellen ist, obwohl beide Institutionen dem k.k. Ministerium des Innern unterstanden. Jedenfalls sind ihre Kommunikationsregeln bei Führung der Rekurse mit denen vergleichbar, die im Bereich der äußeren Amtssprache zwischen Behörde und Partei herrschten. Daraus ergibt sich, dass die Position der AUVA im österreichischen Verwaltungssystem gegenüber den Staatsorganen unterschiedlich war 14 NA: ÚPD, Kt. 26. Zpráva o činnosti Úrazové pojišťovny dělnické pro království České v Praze za dobu od 1. ledna 1907 do 31. prosince 1907 [Bericht über die Tätigkeit der Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag für die Zeit vom 1. Januar 1907 bis zum 31. Dezember 1907]. Im Selbstverlag. Praha: 1908, 11-13. 15 Vgl. die Rekursverfahren in folgenden Archivbeständen: NA: ÚPD, Kt. 95-98, 100, 101, 127-130.
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– nicht nur statutarisch (als öffentlich-rechtliche Korporation), sondern auch im Einsatz der inneren Amtssprache, wo sie andere Strategien wählte bzw. wählen konnte und wodurch sie auch das Vordringen des Tschechischen innerhalb der staatlichen Verwaltung stützte. Dabei muss betont werden, dass die AUVA und die k.k. Statthalterei in allen anderen Angelegenheiten, in denen keine Eingabe auf Tschechisch vorlag, in deutscher Sprache miteinander kommunizierten. Somit gehören gerade die Rekurse zu Kommunikationsprozessen, bei denen die dominante Position des Deutschen als innerer Amtssprache offensichtlich gebrochen wurde. Im Falle der Rekursverfahren kann man aber auch die Kommunikation zwischen der k.k. Statthalterei in Prag und den k.k. Bezirkshauptmannschaften verfolgen, wo bis 1918 ausschließlich Deutsch die innere Amtssprache war. Die k.k. Bezirkshauptmannschaften als niedrigste Instanzen der staatlichen Verwaltung korrespondierten auch mit den Stadt- und Gemeindeämtern, also mit den autonomen Behörden. Um noch einmal auf das tschechische Anscheiben des Direktors Marschner zurückzukommen: Dieses Dokument wurde von der k.k. Bezirkshauptmannschaft in Nachod an das Gemeindeamt der Stadt Nachod weitergeleitet, allerdings mit einem tschechischen Kommentar (NA: ZÚ, Kt. 127). In der Kommunikation mit den autonomen Behörden bedienten sich die k.k. Bezirkshauptmannschaften in der Regel der Amtssprache, in der die jeweilige Gemeinde amtierte. Der Gebrauch der Landessprachen war bei den autonomen Behörden nicht etwa Ergebnis einer gezielten oder programmmäßigen Sprachpolitik des Staates; darin kamen zwar regionale politische, ethnische bzw. sprachliche Verhältnisse in dem jeweiligen Gebiet zum Ausdruck, viel wichtiger war aber die gegenseitige Verständigung zwischen Bürger und Behörde, denn „der Wechsel zwischen beiden Sprachen ist also nicht mehr funktional bedingt, sondern macht einen eher willkürlichen Eindruck“, wie Tilman Berger (2005: 271) feststellte. In diesem Zusammenhang spielt auch der geographische Faktor eine Rolle: Die Sprache der Gemeinden (einmal als äußere Amtssprache in der Kommunikation mit der Partei, einmal als innere Amtssprache in der Kommunikation mit der k.k. Bezirkshauptmannschaft) war von dem jeweiligen (deutschen, tschechischen oder gemischten) Sprachgebiet abhängig. Dies stützt einerseits die von Milan Hlavačka (2006: 151) formulierte These, dass die administrative und nationale Teilung des Königreichs Böhmen nach ethnischen Prinzipien kurz nach 1900 im Großen und Ganzen abgeschlossen war. Andererseits bestätigt die Kommunikation mit den Gemeinden die von Tilman Berger (2005) zitierte These (s. o.), nämlich dass sich der Sprachgebrauch bei autonomen Ämtern eher aus tatsächlichen sprachlichen und ethnischen Verhältnissen in der Region ergab und nicht eine geplante und durchdachte Kom-
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munikationsstrategie verfolgt wurde, während bei Staatsorganen – wie die Rekursverfahren zeigen – Deutsch als staatsintegrierendes Element dominierte und somit der repräsentativen und symbolischen Funktion der (Amts-)Sprache Rechnung trug. Anhand dieser Schlussfolgerungen drängt sich allerdings die Frage auf, ob die Ergebnisse dieser Studie auf allgemeine Entwicklungstendenzen im Gebrauch der deutschen und tschechischen Amtssprache in Böhmen nach 1900 schließen lassen. Die erfassten Archivquellen machen zwar nur einen winzigen Teil der amtlichen Dokumente der Zeit nach 1900 aus, trotzdem besitzen sie eine starke Aussagekraft. An den von der oder gegen die AUVA geleiteten Rekursverfahren waren alle wichtigen Strukturen der österreichischen Staats- und autonomen Verwaltung beteiligt, was die Kommunikationsprozesse nicht selten komplizierte und verlängerte, aber gerade dadurch können sie ein vielseitiges Modellbild darstellen. Die Regeln, die sich im Alltagsgebrauch beider Amtssprachen oft spontan herausbildeten und nicht immer der Legislative entsprachen, ließen sich mit Sicherheit auch auf andere Wirkungsbereiche der Staats- und autonomen Behörden übertragen. Letzten Endes konnte festgestellt werden, dass der Gebrauch des Tschechischen als innere Amtssprache in der Staatsverwaltung von zwei Richtungen ausging: sowohl ‚von unten‘ – von den autonomen Organen und von der AUVA selbst, was schließlich ihrer Intention, nämlich dem Prinzip der Zweisprachigkeit innerhalb eines Territoriums entsprach.
3. „Deutsche“ und „tschechische“ Beamte nach 1900: ein Generationenwechsel
Der Gebrauch des Tschechischen nimmt nach 1900 ebenfalls immer mehr in der intrainstitutionellen Kommunikation zu, deren wichtiger Teil der Schriftverkehr zwischen den Beamten und der Direktion bzw. dem Vorstand war. Dabei reagierten die Leitungsorgane der AUVA in der Regel in der Sprache, die der Mitabeiter in seinem Ersuchen wählte. Das war im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts oft Deutsch, auch bei den Angestellten, die schon tschechische Schulen absolviert hatten und Tschechisch als Erst-/ Muttersprache anzunehmen ist.
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Ottokar/Otakar Černý (1867-1926), der seine Stelle bei der AUVA bereits im November 1889 antrat, war Absolvent einer k.k. böhmischen höheren Realschule, später legte er noch eine Prüfung in Rechnungskunde an der deutschen Universität ab.16 Als Vertreter der alten, noch vollkommen deutschsprachigen Generation, die ihre Ausbildung entweder ganz oder zumindest zum Teil noch an deutschen Schulen erhielt, gehörte er zu den Beamten, deren Kenntnisse in beiden Landessprachen sehr gut waren und deren Karriere noch vor 1918 seinen Höhepunkt erreichte. 1907 wurde Černý zum Leiter der Buchhaltung ernannt. Das deutsche und tschechische Ernennungsdekret erhielt Černý vom Vorstand der AUVA erst im März 1908, nachdem seine Ernennung vom k.k. Ministerium des Innern bewilligt worden war.17 Zweisprachige Ernennungsdekrete waren nicht so üblich, aber Černý bewarb sich um die genannte Position in einem zweisprachig abgefassten Brief und so wählte auch die AUVA beide Korrespondenzsprachen.18 Sonst präsentierte sich Černý sprachlich in erster Linie deutsch – insbesondere nach seiner Einstellung in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Offensichtlich aber war Tschechisch bei ihm so dominant, dass er darin immer häufiger seine Briefe an die AUVA abfasste, bis bei ihm diese Tendenz nach 1900 deutlich überwog. Bei Beamten seiner Generation, bei denen das Tschechische mehr oder weniger präsent war, ließ sich eine solche sprachlich-nationale Entwicklung – also von Deutsch zu Tschechisch – sehr oft beobachten. Mit Franz Kafka kam dann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Generation von Beamten, die bereits ihre Ausbildung entweder nur an deutschen oder nur an tschechischen Schulen erhalten hatten. Sprachliche und nationale Zwischenpositionen, wie sie einmal Robert Luft (1996: 40) in seinem Artikel beschrieb, nahmen nach der Jahrhundertwende auch bei der AUVA stetig ab. Ohne Zweifel spielte in diesem Falle die Teilung der Karl-Ferdinand-Universität (1882) eine wichtige Rolle, denn so bot sich die Möglichkeit, das Hochschulstudium ausschließlich in einer Sprache zu absolvieren (Havránek 1997: 310).19 Zu dieser 16 Vgl. NA: ÚNP. Ottokar/Otakar Černý, Kt. 140. Deutscher/tschechischer Bewerbungs brief vom 06.10.1889. 17 NA: ÚNP. Ottokar/Otakar Černý, Kt. 140. Deutsches/tschechisches Ernennungsdekret vom 13.03.1908. 18 ����������������������������������������������������������������������������������� Vgl. den deutschen/tschechischen Bewerbungsbrief vom 02.02.1907. – In: NA: ÚNP. Ottokar/Otakar Černý, Kt. 140. 19 Die Zahl der Studenten an der tschechischen Universität ist nach der Teilung der Prager Universität (1882) schnell gestiegen, während ihre Zahl an der deutschen stagnierte, an der philosophischen Fakultät ja sogar gesunken ist. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte die deutsche Universität um ca. 60 % weniger Studenten als die tschechische.
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neuen Generation gehört auch Franz/František Trnka (geb. 1884), der an der juristischen Fakultät der k.k. böhmischen Universität in Prag studierte, bei der AUVA 1910, also zwei Jahre später als Franz Kafka, anfing und genauso zum Konzipisten wurde.20 Trnka war zwar des Deutschen mächtig – er habe es am Gymnasium gelernt und im Militärdienst bei einem deutschen Regiment verbessert, wie er selbst in seinem Bewerbungsbrief schilderte –,21 trotzdem bevorzugte er die Kommunikation in tschechischer Sprache: Er wandte sich an die Leitung der AUVA immer auf Tschechisch. Mit Sicherheit trug seine sprachliche Orientierung dazu bei, dass er nach 1918 seine Karriere fortsetzen konnte: Nachdem er im Dezember 1919 zum Sekretär der AUVA und Leiter der Rechtsabteilung befördert worden war, wurde er Mitte der 20er Jahre – also nach der Entstehung des tschechoslowakischen Staates – zum Direktor der AUVA gewählt.22 Der Prozess der sprachlichen Differenzierung setzte sich auch im Ersten Weltkrieg fort: Da stieg die Zahl der einsprachigen Bewerbungen, die akzeptiert wurden. Dies ist zum einen auf das jetzt schon ausschließlich in einer Sprache absolvierte Studium der Kandidaten zurückzuführen, zum anderen trug dazu der generelle Mangel an verwendbaren Arbeitskräften (nicht nur) in Österreich bei. Ende März 1915 fing Antonín Hrůza (1893-1945) als Aushilfsbeamter bei der AUVA an, dessen Bewerbungsbrief zwar nicht erhalten geblieben ist, aber da seine Personalakte nur tschechische Dokumente enthält, wurde dieser mit Sicherheit auch auf Tschechisch verfasst.23 Als Hrůza am 1. September 1918 zum Definitivbeamten ernannt wurde, waren bei der AUVA infolge des Krieges 15 Beamtenstellen nicht besetzt, was auch die Beförderung von Hrůza beschleunigte. Eventuelle Deutschkenntnisse wurden weder in seinen Qualifikationslisten noch in seiner Diensttabelle erwähnt.24 Nach 1900 kam es innerhalb der AUVA also zu einem Generationenwech sel, dem eine langsame Sprachumstellung folgte, die erst in der 2. Hälfte der 20er Jahre abgeschlossen war, als die letzten Beamten der ‚alten‘ Generation pensioniert wurden. Etwa seit der Jahrhundertwende tritt die ‚neue‘ 20 Vgl. die Diensttabelle. – In: NA: ÚNP. František Trnka, Kt. 1457. 21 Vgl. den deutschen/tschechischen Bewerbungsbrief vom 23.04.1910. – In: : NA: ÚNP. František Trnka, Kt. 1457. Trnkas Sprachkenntnisse in beiden Landessprachen wurden auch von seinem Chef Jakub Holeyšovsky, dem Leiter der Rechtsabteilung, geschätzt. Vgl. die Qualifikationsliste vom Januar 1915. – In: ebd. 22 Nach dem Tod von Bedřich Odstrčil (1925) wurde František Trnka zuerst amtierender Stellvertreter des Direktors für finanzielle und Personalverwaltung der AUVA, dann zum Direktor (1927). – In: NA: ÚNP. František Trnka, Kt. 1457. Zu seiner Ernennung von 1925 vgl. auch: NA: ÚNP. Antonín Hlavatý, Kt. 357. 23 Vgl. NA: ÚNP. Antonín Hrůza, Kt. 397. 24 Ebd.
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Generation an, deren Sprachverhalten und -kenntnisse sich von der ‚alten‘ deutlich unterscheiden: Häufiger als je zuvor herrschte in der Ausbildung und auch bei der Kommunikation mit der AUVA nur eine Sprache vor und auch das Sprach- und Nationalbewusstsein war in dieser Generation schon deutlich ausgeprägt. Das Jahr 1918 bzw. die Entstehung der Tschechoslowakei und die sich daraus ergebenden Änderungen in der Organisation der AUVA – v. a. die Einführung des Tschechischen als der einzigen inneren Amtssprache – erscheinen vor diesem Hintergrund nicht als radikale Wende, sondern als Reaktion auf neu entstandene soziale, politische, aber auch wirtschaftliche Bedingungen, die den Prozess noch beschleunigten. Die Karriere derer, die sich nach 1918 sprachlich oder zumindest national äußerlich anpassten, konnte weiter gehen, wie letzten Endes das Beispiel Franz Kafkas zeigt. Seine Pensionierung im Juni 1922 erfolgte aus gesundheitlichen Gründen, da ihn Krankheit zu dieser Zeit wiederholt an seiner Arbeit hinderte. Außerdem wurden Deutschkenntnisse auch in der Ersten Republik gefragt, zumal in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, als sich der Nationalitätenkonflikt in der Tschechoslowakei wieder zuspitzte.
4. Fazit
Tschechisch als äußere, aber auch als innere Amtssprache war nach 1900 in Böhmen bereits in dem Maße verbreitet und akzeptiert, dass der Gebrauch keineswegs als negativ empfunden wurde. Der Gebrauch des Tschechischen in der Kommunikation mit den Staatsorganen sowie autonomen Behörden korrigiert zumindest, wenn es nicht gar die allgemein verbreitete Meinung widerlegt, dass die tschechische Sprache in der Kommunikation mit oder zwischen Behörden unterdrückt bzw. ihre Sprecher automatisch benachteiligt worden wären. Die stereotype bipolare Vorstellung des Sprachenkampfes in Böhmen, die in den letzten Jahren von Historikern eher abgelehnt wurde (Luft 1997: 390), wurde z. T. durch den zeitgenössischen medialen Diskurs
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hervorgerufen,25 ist teilweise aber auch durch spätere Behauptungen überliefert worden, die ihren Ursprung u. a. der Ersten Tschechoslowakischen Republik zu verdanken hatten. Die Analyse der Archivquellen führte u. a. zu der Erkenntnis, dass sich das Tschechische als äußere Amtssprache nicht nur de iure, sondern auch de facto schon vor 1918 zumindest in derselben Position befand wie das Deutsche. In der inneren Amtsführung der AUVA, aber auch bei anderen Institutionen wird der asymmetrische Gebrauch beider Landessprachen deutlich, was auch legislativ bestätigt wurde, nachdem die Badenischen Sprachenverordnungen aufgehoben worden waren. Die Gleichberechtigung beider (Amts-)Sprachen, die in den politisch und national orientierten Publikationen der Zeit, aber auch in der späteren Fachliteratur weitgehend problematisiert und sogar als unlösbar abgetan wurde, funktionierte in der Praxis ziemlich reibungslos, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, wie sie gerade der schwankende Sprachgebrauch in der inneren Amtsführung zeigt. Dieser resultiert einerseits aus der Position und den Kompetenzen der jeweiligen Behörde, andererseits aber auch aus dem jeweiligen Sprachgebiet (bzw. den Sprechern selbst). In Bezirken mit überwiegend tschechischsprachiger Bevölkerung tauchen nach 1900 immer mehr auf Tschechisch geschriebene Dokumente auf allen Ebenen der autonomen und der Staatsverwaltung auf, die aber bei der Kommunikation mit den Zentralstellen – der k.k. Statthalterei in Prag und dem k.k. Ministerium des Innern in Wien – ins Deutsche übertragen werden mussten. Eine ganz besondere Rolle spielte Tschechisch in der Kommunikation zwischen der AUVA und der k.k. Statthalterei: Da wurden als innere Amtssprache sowohl Deutsch wie auch Tschechisch benutzt, was an sich schon das Prinzip der legislativen Vorherrschaft des Deutschen in der inneren Amtssführung verletzte und somit auch seine Position zugunsten des Tschechischen abschwächte. Der Sprachgebrauch zwischen diesen zwei Institutionen orientierte sich entweder an der Sprache des äußeren Kommunikationspartners: falls diese, z. B. aus einer vorliegenden Eingabe, bekannt war, wechselten Deutsch und Tschechisch oder – falls es keine dritte Partei gab – richtete man sich nach der üblichen Amtspraxis, wo Deutsch gesetzmäßig vorgeschrieben war und seine de iuro Position als innere Amtssprache bis 1918 behauptete, auch 25 �������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. dazu folgendes Zitat aus einer Broschüre, in der der Sprachengebrauch bei autonomen Behörden in Böhmen thematisiert wurde: „Das Problem der Geschäftssprache der autonomen Behörden in Böhmen bildet einen der Hauptpunkte des nationalen Streites in diesem Lande.“ – In: Slawitschek (1910: 3). Das „Problem“ des Sprachengebrauchs war größtenteils eine publizistische und politisch-nationale Erfindung, die besonders in der Presse genährt und aufgebauscht wurde.
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wenn die schrittweise de facto Durchsetzung des Tschechischen auch in der inneren Amtsführung nicht zu übersehen ist.
Quellen
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Literatur
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Barbara Schmiedtová
Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische: Ein Sprachvergleich aus der Lernerperspektive
1. Einleitung
Die Tschechische Republik ist für viele Deutsche und Österreicher nur einen Katzensprung entfernt. Für viele ist dieses Land ein beliebtes Urlaubsziel. Jeder – ob Geschäftsmann, Student oder Tourist – merkt bald nach seiner Einreise in Tschechien, dass man sich näher steht, als man vielleicht denkt: Viele Namen klingen Deutsch, die gemeinsame Vorliebe für gutes Bier und Mehlspeisen ist offensichtlich. Zudem haben Deutsche, Österreicher und Tschechen eine lange gemeinsame Geschichte, die verbindet und in vielen Bereichen immer noch prägend ist. Nur die Sprache – zumindest auf den ersten Blick – ist anders. Tschechisch gehört im Gegensatz zu Deutsch zur slawischen Sprachfamilie. Genauer gesagt bildet das Tschechische zusammen mit dem Polnischen, Slowakischen, Schlesischen, Kaschubischen und Nieder-/Obersorbischen die westslawische Sprachgruppe. Beide Kulturen haben aber jahrhundertlang aufeinander gewirkt1 und sich gegenseitig beeinflusst. Es ist daher nicht überraschend, dass auch die tschechische Sprache nicht unbeeinflusst geblieben ist. In einer früheren Studie zur Anwendung von lexikalischen Germanismen im modernen Tschechisch (Schmiedtová/Schmiedtová 1996) wurde anhand von corpusbelegtem2 Sprachmaterial gezeigt, dass Germanismen einen festen Status im Lexikon des Tschechischen haben und dass sie von tschechischen Muttersprachlern produktiv gebraucht werden. 1 Im Jahre 1526 bestiegen die Habsburger unter Ferdinand I. von Habsburg den böhmischen Thron und Böhmen wurde Bestandteil der Habsburgermonarchie. Erst nach dem durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg verursachten Fall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie entstand am 28. Oktober 1918 die autonome Tschechoslowakische Republik. 2 Die Corpora, die für diese Studie verwendet wurden, sind alle Teil des Tschechischen Nationalen Corpus (siehe auch: http://ucnk.ff.cuni.cz/english/index.html).
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Aus weiteren Arbeiten ist ersichtlich, dass der Einfluss des deutschen auf das tschechische System nicht auf den lexikalischen Bereich beschränkt bleibt: Es zeigt sich (Schmiedtová 2003a, b), dass verbale Präfixe im Deutschen und Tschechischen überraschend viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Aber auch in Bezug auf die Verwendung von Partikeln (Nekula 1996), Demonstrativpronomina (Berger 1993) und Verbstellung lassen sich in den zwei typologisch unterschiedlichen Sprachen bestimmte Ähnlichkeiten feststellen (Schmiedtová 2004). Zusammenfassend kann man festhalten, dass der lange Sprach- und Kulturkontakt und die geographische Nähe – Faktoren, deren Rolle in der sprachvergleichenden Linguistik eher unterschätzt wird – zu Ähnlichkeiten in einigen sprachlichen Bereichen geführt hat. Der Einfluss des Deutschen geht über den Bereich des Lexikons hinaus und schlägt sich systematisch auch im Bereich der tschechischen Syntax nieder. Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt aber nur indirekt auf dem Sprachvergleich zwischen Deutsch und Tschechisch. Das zentrale Thema stellt der Fremdsprachenerwerb dar. In der Erwerbsforschung wird allgemein angenommen, dass typologische Nähe/Distanz eine wichtige Rolle beim Erwerb einer Fremdsprache spielt. Neben der Typologie ist aber auch die so genannte Psychotypologie (Kellerman 1983) ausschlaggebend. The exact nature of what does constitute this subset will [...] depend not only on what I have called the learner‘s psychotypology but also on a second constraining factor, the transferablility of the L1 structure, that is, the probability with which this structure will be transferred relative to other structures in the L1. Transferability is to be seen as a theoretical notion, which derives from native speaker‘s own perception of the structure of their language. If a feature is perceived as infrequent, irregular, semantically or structurally opaque, or in any other way exceptional, what we could in other words call ‚psycholinguistically marked‘, then its transferability will be inversely proportional to its degree of markedness. Transferability is not itself a predictor of performance but it is one of the determinants of whether an L1 structure will be treated as language-specific (not transferable to a given L2) or language-neutral (that is, transferable to a given L2). (Kellerman 1983: 117)
Die Psychotypologie ist im Besonderen für den so genannten Transfer linguistischer Merkmale aus dem System der Muttersprache in das der Zielsprache relevant. Der Begriff bezieht sich darauf, wie die allgemein angenommene typologische Verwandtschaft zweier Sprachen durch den Lernenden empfunden und wie dieses Empfinden im Prozess des Erwerbs praktisch umgesetzt wird. Mit anderen Worten, das implizite – wenn auch relativ oberflächliche – Wissen des Lerners über die Unterschiede bzw. die Ähnlichkeiten zwischen eigener Muttersprache und der zu lernenden Zielsprache beeinflussen, mit welchen Erwartungen und Haltungen der Lerner an den Erwerb der Zielsprache herangeht.
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So wird beispielsweise in einem Lehrbuch Einstieg Tschechisch das Tschechische als „eine der schwersten Sprachen in Europa“ (Henßen/Sobkuljak 2005) bezeichnet. Diese Einschätzung hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass das Tschechische – wie alle anderen slawischen Sprachen – obligatorisch den ‚Aspekt‘3 zum Ausdruck bringt. Das aspektuelle System gilt für Sprecher von nicht aspektuellen Sprachen, so wie es das Deutsche ist, als kaum erlernbar. So behauptet Grekhova (1985), dass deutsche Lerner des Russischen niemals das aspektuelle System des Russischen beherrschen können. Wenn diese Behauptung wahr sein sollte, wären deutsche Lerner auch von einem erfolgreichen Erwerb des Tschechischen ausgeschlossen. Auf diese Behauptungen kommen wir später zurück und werden sie anhand von empirischen Daten herausfordern. Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht eine umfangreiche Studie (Schmiedtová 2004), die sich mit dem Verlauf und dem Endzustand des Erwerbs des Tschechischen durch deutsche Muttersprachler beschäftigt. Wir werden in dieser Studie auf die Frage eingehen, wie deutsche Lerner bei dem Erwerb des Tschechischen vorgehen (Verlauf) und inwieweit sie sich dabei dem System der Zielsprache nähern können (Endzustand), d. h. wie erfolgreich sie beim Erwerb des Tschechischen tatsächlich sind. Um diesen beiden Fragestellungen besser nachgehen zu können, wird eine Gruppe von englischen Lernern des Tschechischen – die eine Muttersprache mit ausgebildetem Aspektsystem mitbringen – zum Vergleich herangezogen. Im Abschluss werden die Ergebnisse der vorliegenden Studie im allgemeinen Kontext des Fremdsprachenlernens diskutiert.
3 Wenn im Folgenden der Begriff Aspekt gebraucht wird, wird auf den grammatischen Aspekt Bezug genommen. Mit anderen Worten, nur aspektuelle Relationen, die mit Hilfe von Flektionsmorphemen am Verb ausgedrückt werden, gelten als grammatischer Aspekt. Der Begriff Aktionsart wird in dieser Arbeit als synonym mit dem so genannten lexikalischen Aspekt verwendet. Aktionsart im Gegensatz zum grammatischen Aspekt drückt inhärente semantische Verbeigenschaften aus (Klein 1994; Schmiedtová 2003, 2004, 2008a, 2008b).
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2. Deutsche Lerner und englische Lerner des Tschechischen
2.1. Forschungsfrage Die Forschungsfrage, mit der sich diese Studie beschäftigte, ist die folgende: Wie gehen deutsche und englische Muttersprachler vor, wenn sie in L24 Tschechisch in ‚temporaler Gleichzeitigkeit‘ sprechen? Der Begriff der temporalen Gleichzeitigkeit bezieht sich dabei auf eine Situation, in der zwei Ereignisse zur gleichen Zeit passieren und sich ganz oder zum Teil überlappen. So kann man sich beispielsweise eine Situation vorstellen, in der jemand ein Buch liest und eine andere Person zur gleichen Zeit einen Artikel schreibt (eine vollkommene Überlappung). Natürlich ist auch eine andere Situation denkbar, in der jemand ein Buch liest, während eine andere Person in das Zimmer hereinkommt (ein zeitliches Einschließen eines Ereignisses in das andere). Es gibt weitere Möglichkeiten (Simultanitätstypen), wie zwei Ereignisse temporal angeordnet werden können, wenn sie gleichzeitig geschehen (Schmiedtová 2004: 10ff.). Auf diese müssen wir hier aber nicht näher eingehen, sondern wir werden uns zunächst mit dem Aufbau der Studie befassen.
2.2. Methode der Datenerhebung5 und Probanden Bei der Erforschung eines beliebigen linguistischen Phänomens im Kontext des Fremdsprachenerwerbs ist es wichtig zu wissen, wie das zu erwerbende System der L2 aufgebaut ist und wie es funktioniert. Ebenso wichtig ist es, sich über das System der Ausgangssprache(n) Klarheit zu verschaffen. Diese Ausgangsbasis 4 L1: Muttersprache L2: jede weitere erlernte Fremdsprache. 5 Die Datenerhebung wäre nicht möglich ohne die Unterstützung des Goethe-Instituts in Prag. Ich möchte mich herzlich bei der damaligen Direktorin Frau Ute Gräfin Baudissin bedanken. Sie hat es möglich gemacht, dass ich für die Dauer von drei Monaten in den Räumen des Goethe-Instituts Aufnahmen machen konnte. Mein Dank geht auch an Angelika Hájková und Monika Valter am Goethe-Institut Prag, die mich bei der Rekrutierung der Lerner und den logistischen Anforderungen des Projektes unterstützt haben.
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– die so genannte baseline – ist eine unentbehrliche Voraussetzung für die vergleichende empirische Sprachforschung. Als baseline können prinzipiell frühere Studien oder Beschreibungen des untersuchten Phänomens in einer gegebenen Sprache dienen. Im Fall der Erforschung der temporalen Simultanität ergeben sich mehrere Schwierigkeiten. Simultanität und ihr sprachlicher Ausdruck sind so gut wie nicht untersucht worden. Die Studien, die zum Thema der Simultanität zu finden sind, beschränken sich auf den Erstspracherwerb und die Untersuchungssprache – vorwiegend Englisch (Schmiedtová 2004: 1-5). Für die Beschreibung des Deutschen und des Tschechischen liegen unserem Wissen nach überhaupt keine Arbeiten vor. Aus diesen Gründen mussten für die vorliegende Studie eigene Produktionsdaten in der Muttersprache erhoben werden. Diese bildeten die baseline für die Untersuchung der lernersprachlichen Daten. Als Methode der Datenerhebung dient die so genannte Elizitation. Bei diesem Verfahren werden mit Hilfe von experimentellem Material bestimmte sprachliche Konstruktionen oder Äußerungen hervorgerufen (elizitiert). Dabei wurden Probanden elf kurze Werbefilme präsentiert (Schmiedtová 2004), die zwei simultane Ereignisse zeigten. Um die dargebotene Szene treffend beschreiben zu können, musste das Simultane an der Szene zum Ausdruck gebracht werden. Die Filme wurden den Probanden auf einem Monitor präsentiert. Nach jedem Werbeclip wurde die Darbietung unterbrochen, der Proband sollte in eigenen Worten beschreiben, was er gesehen hatte. Danach wurde das Experiment fortgesetzt. Wenn ein Proband Interpretationsprobleme hatte, konnten die Clips auch mehrfach angesehen werden. Die Verbalisierungen der Probanden wurden mit einem digitalen Kassettenrecorder aufgenommen. Bei der Datenerhebung der Lerner wurde zusätzlich auf die Reihenfolge der verwendeten Sprachen geachtet (Muttersprache und Zielsprache): Die Hälfte der Lerner führte die Aufgabe in der Reihenfolge Muttersprache vor Zielsprache durch. Bei der anderen Hälfte der Lerner war die Abfolge umgekehrt: Zielsprache vor Muttersprache. Die spätere statistische Auswertung zeigte jedoch, dass die Reihenfolge der Sprachen keine Transfer-Effekte bewirkt hatte (Schmiedtova 2004: 221ff.). Für die vorliegende Untersuchung wurden muttersprachliche L1-Daten erhoben. Dafür wurden insgesamt 60 Probanden aufgenommen, die drei Gruppen mit jeweils zwanzig deutschen, englischen und tschechischen Muttersprachlern bildeten. Deutsche und englische Sprecher wurde darüber hinaus als Lerner des Tschechischen aufgenommen, also je 20 Lerner pro Gruppe. Die Übersicht über die Probandenzahlen pro Gruppe lässt sich der Tabelle 1 entnehmen. Die Abkürzung ZS steht für Zielsprache, die Abkürzung AS steht für Ausgangssprache.
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Tschechisch (ZS) Deutsch (AS) Englisch (AS)
Barbara Schmiedtová Tschechisch (ZS) 20 20 20
Deutsch (AS) --20 ---
Englisch (AS) ----20
Tabelle 1: Überblick über Probanden
Alle Probanden füllten einen Fragebogen aus, in dem biographische Daten und soziale Variablen ermittelt wurden. Dabei wurden die sozialen Variablen Alter und Bildung bei den Versuchspersonen kontrolliert. So wurden für das Experiment Erwachsene im Alter von 25 bis 40 Jahren herangezogen, die ihre Muttersprache in einer monolingualen Umgebung erworben haben. Der Erwerb aller Fremdsprachen (inklusive des Tschechischen) erfolgte bei allen Probanden erst nach dem abgeschlossen Erstspracherwerb. Alle Versuchspersonen waren entweder Studierende oder Mitarbeiter der Karlsuniversität oder des Goethe-Institutes in Prag. Das Durchschnittsalter für deutsche Muttersprachler/Lerner war 37,6 Jahre, für englische Muttersprachler/Lerner 34,2 Jahre und für tschechische Muttersprachler 32,9 Jahre. Alle Daten wurden in Prag erhoben. Die Geschlechtsverteilung war nur bei den tschechischen Probanden gleichmäßig. In beiden Lernergruppen waren mehr Versuchspersonen männlich als weiblich: 65 % Männer, 35 % Frauen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass so Sprachproduktionsdaten von insgesamt 60 Muttersprachlern und 40 Lernern erhoben wurden. Die Kontrolle über relevante Einflussfaktoren für Spracherwerb und Sprachverwendung stellte sicher, dass vergleichsweise homogene Sprechergruppen, dem Vergleich zu Grunde gelegt werden konnten.
2.3. Die untersuchten Sprachen In diesem Abschnitt werden wir uns mit den linguistischen Systemen der drei untersuchten Sprachen beschäftigen. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, gehören das Deutsche und das Tschechische zu unterschiedlichen Sprachfamilien. Das Englische – als die sprecherreichste germanische Sprache – fällt mit dem Deutschen in die Gruppe der germanischen Sprachen. In Bezug auf die zentrale Fragestellung der vorgestellten Studie (Schmiedtová 2004) ist es wichtig zu betonen, dass das Konzept der Simultanität in allen untersuchten Sprachen zum Ausdruck gebracht werden kann. Der Unterschied
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besteht jedoch darin, mit welchen linguistischen Mitteln dieses Konzept im Deutschen, Englischen und Tschechischen ausgedrückt wird. Bevor über die wichtigsten Ergebnisse der Studie von 2004 berichtet wird, sollen zuerst die verschiedenen sprachlichen Mittel, die den Sprechern in den jeweiligen Sprachen zum Ausdruck der Simultanität zur Verfügung stehen, betrachtet werden. Die zwei wichtigsten Mittel sind (a) grammatische Kategorien der Verben, z. B. Tempus und insbesondere Aspekt, und (b) verschiedene Typen von temporalen Adverbien, einschließlich temporaler Subordinationen. Das Spektrum der temporalen Adverbien ist in allen drei Sprachen vergleichbar. Die markantesten Unterschieden lassen sich in der Art und Weise festmachen, wie die drei untersuchten Sprachen aspektuelle Relationen ausdrücken: Das Englische hat ein sehr reguläres Aspektsystem und drückt mit Hilfe des progressiven Aspekts den Verlauf aus. Das Deutsche dagegen verfügt nicht über einen grammatischen Aspekt. Tschechisch als eine aspekt-dominante Sprache verfügt auch über einen grammatischen Aspekt, der mit verschiedenen Morphemen systematisch und obligatorisch am Verb markiert wird (zur Illustration siehe Abbildung 1). Ausgangssprache 1 Englisch Aspekt ist grammatikalisiert - Progressiv (-ing) Ausgangssprache 2 Deutsch Aspekt ist nicht grammatikalisiert
Tschechisch Aspekt ist grammatikalisiert - Perfektiv/Imperfektiv (verbale Präfixe, Suffixe)
Abbildung 1: Übersicht über die drei untersuchten Sprachen
Aus Abbildung 1 ergibt sich, dass bezüglich des ± Vorhandenseins der Kategorie des grammatischen Aspekts in den Sprachsystemen der drei Sprachen, dass das Englische mit dem Tschechischen eine Gruppe bildet. Mit anderen Worten, trotz typologischer Nähe zum Deutschen steht das Englische im Bereich des Aspekts dem Tschechischen näher als dem Deutschen. Anhand dieser relativ oberflächlichen Gegenüberstellung der drei Sprachen, die sich lediglich auf die üblichen grammatischen Beschreibungen stützt, lassen sich die ersten Hypothesen hinsichtlich der Lerner generieren.
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Barbara Schmiedtová Hypothese 1 Da der Ausdruck der Simultanität eng mit der Aspektmarkierung zusammenhängt, könnte man annehmen, dass englische Lerner des Tschechischen von der Ähnlichkeit des Ausgangs- und des Zielsystems profitieren. Sie werden schnell in der Lage sein, die Ähnlichkeiten zwischen ihrer Muttersprache und der Zielsprache zu identifizieren. Dann werden sie die sich ähnelnden Merkmale aus ihrer L1 in die L2 übertragen. Man spricht in diesem Fall auch vom positiven Transfer. Hypothese 2 Deutsche Lerner dagegen werden große Lernschwierigkeiten beim Erwerb der aspektuellen Kategorien in L2 Tschechisch haben. Wenn sich dies bestätigt, dann werden sie sich auch schwer tun, wenn sie in L2 Tschechisch Simultanität zum Ausdruck bringen müssen. Sie werden nicht zielsprachig vorgehen (können), sondern auf andere Strategien zurückgreifen.
Im Folgenden werden diese Hypothesen an Hand von empirischen Daten überprüft und zum Teil auch herausgefordert. Zunächst sollten die Produktionsdaten der Muttersprachler angeschaut und miteinander verglichen werden. Im Anschluss daran wird der Fokus auf den Lernerdaten liegen. Dabei werden erneut die Anfangsfragestellungen aufgegriffen: Wie gehen deutsche Lerner im Erwerb der Fremdsprache Tschechisch vor (Verlauf) und inwieweit können sie die Zielsprache in bestimmten Bereichen erlernen (Endzustand)? Hier wird ein Vergleich zu der englischen Lernergruppe gezogen.
2.4. Die Ergebnisse: Muttersprachler Die Studie ergab folgende Präferenzen für die Muttersprachler der drei untersuchten Sprachen: Sprecher des Tschechischen und Englischen ziehen es vor, primär aspektuelle Mittel in Kombination mit lexikalischen Mitteln zum Ausdruck der Simultanität zu verwenden. Es ist hier wichtig zu betonen, dass diese Präferenzen nicht etwa eine zufällige und subjektive Wahl der Sprecher widerspiegeln, sondern sie beruhen auf den in der Grammatik der jeweiligen Sprache verankerten Strategien. Die von tschechischen und englischsprachigen Probanden verwendete Strategie wird am Beispiel von einem tschechischen Muttersprachler veranschaulicht (1). (Die Abkürzung Imperf steht für den imperfektiven Aspekt, während die Abkürzung Perf für den perfektiven Aspekt steht.)
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(1) Tak on to slízává (Imperf, Präsens), někdo otevře (Perf, Präsens) dveře.
[So, er ist dabei es abzulecken, jemand öffnet die Tür.]
Wie (1) zu entnehmen ist, ergibt sich aus dem Gebrauch von zwei mit verschiedenen Aspekten markierten Verben ablecken und öffnen eine simultane Interpretation der Gesamtäußerung.6 Mit anderen Worten, die Ereignisse jemand leckt etwas ab und ein anderer öffnet die Tür müssen zeitlich überlappen. Ähnliche Beispiele finden wir auch in den Daten der englischen Muttersprachler. (2)
… and he took (Perf, Vergangenheit) a sip from his juice, she was coming (Imperf, Vergangenheit) back.
Diese auf aspektuellen Mitteln beruhende Strategie, die als the stonger aspectual style identifiziert und bezeichnet wird (Schmiedtová 2004: 135), lässt sich mit zusätzlichen lexikalischen Mitteln, wie z. B. temporalen Adverbien, ergänzen. So ergibt sich der so genannte weaker aspectual style7 (Schmiedtová 2004: 135). Dieser wird im Beispiel (3) veranschaulicht. (3)
A začne tu hořčiči slízávat (Imperf, Präsens) a v tom (TAdv8) přijde (Perf, Präsens) jeho starší brácha.
[Und er fängt an den Senf abzulecken und in dem Moment kommt sein älterer Bruder herein.]
Die schwächere Aspektstrategie wird nicht nur von tschechischen Muttersprachlern, sondern häufig auch von englischen Muttersprachlern verwendet. Und welche Strategie wählen die deutschen Sprecher, wenn sie in ihrer Muttersprache über simultane Ereignisse sprechen? Es ist die adverbiale Strategie (Schmiedtová 2004: 135 the adverbial style). Durch diese Strategie wird die Simultanität mittels verschiedener temporaler Adverbien zum Ausdruck gebracht. Dabei spielt die aspektuelle Markierung keine Rolle. Typisch für das Deutsche ist die im Beispiel (4) aufgeführte Versprachlichung, die von einem deutschen Muttersprachler kommt. (4) Er geht hin, leckt Ketchup und Soße ab. In diesem Moment (TAdv) kommt vielleicht der ältere Bruder herein. 6 Der Begriff Gesamtäußerung bezieht sich auf die Verbalisierung des simultanen Ereignisses. Eine Gesamtäußerung besteht aus mehreren (mindestens zwei) Teiläußerungen. 7 Die schwächere aspektuelle Strategie beruht auf der Kombination von lexikalischen (temporale Adverbien) und aspektuellen Mitteln. Im Gegensatz dazu wird bei der stärkeren aspektuellen Strategie nur Aspekt gebraucht, um Simultanität auszudrücken. Aus dieser Gegenüberstellung ergeben sich die Bezeichnungen stärker und schwächer. 8 Die Abkürzung TAdv steht für temporale Adverbien.
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An dieser Stelle ist anzumerken, dass auch die englischen und tschechischen Muttersprachler die adverbiale Strategie verwenden können. Sie tun es aber viel seltener als die Deutschen und gebrauchen dabei Verben, die entweder keine explizite Aspektmarkierung tragen oder Verben, die explizit nur für den perfektiven Aspekt markiert sind. Wenn das Erste zutrifft, kommen im Tschechischen die so genannten Simplex-Formen vor (Schmiedtová 2004), z. B. dát [geben] oder psát [schreiben], während das Englische sich der unmarkierten simple present oder simple past Formen, ohne den Gebrauch der progressiven Markierung –ing, bedient. Da nur im Tschechischen und nicht im Englischen eine systematische Markierung des perfektiven Aspekts zur Verfügung steht (Schmiedtová 2004; Schmiedtová/Flecken 2008), kommen zwei aufeinander folgende perfektiv markierte Verben in der adverbialen Strategie nur im Tschechischen vor. In diesem Fall hebt die Präsenz eines temporalen Adverbs die kanonische Interpretation einer temporalen Sequenz auf. Diese kanonische sequentielle Interpretation wird in (5) gezeigt. Beispiel (6) veranschaulicht die gleiche aspektuelle Kombination wie in (5) mit einem zusätzlichen temporalen Adverb. Die Äußerungen in (6) werden als simultan interpretiert. (5)
Přistoupí (Perf, Präsens) k plakátu, olízne (Perf, Präsens) kečup a hořčici.
[Er tritt zum Poster, (er) leckt den Ketchup und den Senf ab.]
(6)
Přistoupí (Perf, Präsens) k plakátu, přičemž (TAdv) olízne (Perf, Präsens) kečup a hořčici.
[Er tritt zum Poster, während (er) den Ketchup und den Senf ableckt.]
Der Gebrauch der einzelnen Strategien ist von den Sprechern des L1 Tschechischen, L1 Englischen und L1 Deutschen in Tabelle 2 zusammengefasst. Die Prozentwerte geben an, wie häufig eine bestimmte Vorgehensweise in Gebrauch in Relation zu der genommenen Gesamtzahl der produzierten Äußerungen (N) benutzt wurde (N für Tschechisch = 83, N für Englisch = 87, N für Deutsch N= 81).
101
Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische Tschechisch L1
Englisch L1
Deutsch L1
The stronger aspectual style
18 %*9
8%
0%
The weaker aspectual style
71 %
76 %
0%
The adverbial style
11 %
16 %
100 %
Tabelle 2: Die Präferenzen der Muttersprachler für den Simultanitätsausdruck in der jeweiligen Muttersprache (L1)9
Anhand der Tabelle können wir das folgende Fazit ziehen: Die Präferenzen oder die Muster, denen die tschechischen und englischen Muttersprachler in ihrer Muttersprache folgen, weisen starke Ähnlichkeiten auf. Der einzige signifikante Unterschied, der sich bei der statistischen Analyse der Produktionsdaten ergab, bezieht sich auf die Häufigkeit des Gebrauchs des stronger aspectual style. Diese Strategie wird im Tschechischen häufiger als im Englischen in Anspruch genommen (z = 1.75, p < .05). Diese Ergebnisse werden in Schmiedtová (2004: 169ff.) so interpretiert, dass der Einsatz der aspektuellen Mittel für den Ausdruck der Simultanität im Tschechischen und Englischen nahezu obligatorisch ist: Die Häufigkeit, mit der die stärkere und schwächere aspektuelle Strategie angewendet wird, erreicht 89 % für das Tschechische bzw. 84 % für das Englische. Zudem kommt die stärkere aspektuelle Strategie im Tschechischen signifikant öfter vor als im Englischen. Dieses Resultat deutet daraufhin, dass die explizite Aspektmarkierung, die am Verb mit Hilfe von Präfixen und Suffixen zum Tragen kommt, den grundlegenden Ausdruck für Simultanität darstellt, und somit wird die essentielle Rolle des Aspekts im tschechischen Sprachsystem unterstrichen. Im Vergleich zu den tschechischen und englischen Sprechern, geht die deutsche Muttersprachlergruppe durchgängig anders vor. Den deutschen Sprechern steht kein grammatischer Aspekt in ihrer Muttersprache zur Verfügung und sie greifen deswegen auf diverse lexikalische Mittel, im Besonderen auf die Adverbien zu. Diesem Muster folgten ohne Ausnahme alle Sprecher, die an dieser Studie teilgenommen haben. Die adverbiale Strategie ist die Strategie der Deutschen.
9 Das Sternchen (*) weist auf einen statistisch signifikanten Unterschied hin.
102
Barbara Schmiedtová
Im Folgenden soll betrachtet werden, wie deutsche und englische Lerner vorgehen, wenn sie über Simultanität in der Zielsprache Tschechisch sprechen. Der Fokus wird dabei auf der deutschen Lernergruppe liegen. Anschließend werden die in Sektion 2.3. aufgestellten Hypothesen überprüft und einige zusätzliche allgemeine Schlussfolgerungen bezüglich des Fremdsprachenlernens formuliert.
2.5. Die Ergebnisse: Deutsche Lerner des Tschechischen Auf den ersten Blick gehen beide Lernergruppen (20 Versuchpersonen pro Lernergruppe) beim Ausdruck der Simultanität im L2 Tschechisch so vor, dass sie das dominante Muster ihrer Muttersprache in die Zielsprache übertragen. Dementsprechend verwenden deutsche Lerner im Tschechischen die adverbiale Strategie zu 50 % und verzichten dabei auf die explizite Aspektmarkierung, während die englischen Lerner einen der zwei aspektuellen Strategien mit einer Häufigkeit von 90 % benutzen und sich so auf die explizite Aspektmarkierung stützen. Dieses Bild ist zwar nicht falsch, aber es ist viel zu ungenau. Der Grund dafür ist, dass wir in diesem Bild die verschiedenen Sprachniveaus10 der Lerner nicht berücksichtigt haben. Wenn wir dies tun, ergibt sich ein viel detaillierteres Bild, das uns mehr Informationen über den Verlauf und den Endzustand des Erwerbs vermittelt. Zuerst stehen die Vorgehensweisen beim Ausdruck von Simultanität in L2 Tschechisch unter Berücksichtigung der verschiedenen Sprachniveaus der deutschen Lernergruppe im Vordergrund. Die eingesetzten Strategien sind in Tabelle 3 zusammengefasst und dem zielsprachigen Muster gegenübergestellt. N steht für die Probandenzahl.
10 Die Ermittlung der Sprachniveaus ist sehr schwierig, und es herrscht in der einschlägigen Literatur kein Konsens darüber, wie dabei vorgegangen werden soll. Die Methode, mit der das Sprachniveau der Lerner in dieser Studie ermittelt wurde, ist im Detail in Schmiedtová (2004: 107-121) beschrieben.
103
Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische
deutsche Lerner
Anfänger (N=9)
Zwischenstufe (N=9)
Fortgeschrittene (N=8)
tschechische Muttersprachler
The stronger aspectual style
0%
25 %
13 %
18 %
The weaker aspectual style
0%
25 %
42 %
71 %
The adverbial style
100 %
50 %
45 %
11 %
Tabelle 3: Der Ausdruck der Simultanität von deutschen Lernern unter Berücksichtigung des Sprachniveaus
Der Tabelle 3 kann man entnehmen, dass deutsche Anfänger ausschließlich die adverbiale Strategie verwenden, wenn sie in L2 Tschechisch über simultane Ereignisse sprechen (100 %, 18 Äußerungen). Da diese Vorgehensweise die Hauptstrategie für den Simultanitätsausdruck deutscher Muttersprachlern im Deutschen repräsentiert, ist es plausibel anzunehmen, dass deutsche Lerner sich zu Beginn des Erwerbs der Zielsprache auf die aus der Muttersprache bekannten Strategien stützen. Zur Veranschaulichung dient das folgende Beispiel, welches von einem deutschen Anfänger aus unserer Studie stammt. (7) Ten, v ten moment (TAdv) otec tam ten kluk, on jí (Imperf. Present) sendvič
[Dieser, in dem Moment, Vater dort, dieser Junge, er isst den Sandwich.]
Im Beispiel (7) ist die erste Äußerung zwar ohne Verb, aber sie beinhaltet ein temporales Adverb: v ten moment [in diesem Moment]. Das Vorhandsein dieses lexikalischen Mittels signalisiert, dass die Gesamtäußerung simultan interpretiert wird. Diese Interpretation würde auch dann gültig sein, wenn das in der nächsten Teiläußerung folgende Verb eine explizite aspektuelle – perfektive oder imperfektive Markierung – tragen würde. Die nächste Gruppe bilden Lerner, die sich in ihrem Erwerb des Tschechischen auf der Zwischenstufe befinden. Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass Lerner in dieser Gruppe dazugelernt haben, da sie im Tschechischen verschiedene Strategien anwenden, um temporale Simultanität zum Ausdruck zu bringen. Ähnlich wie die Anfänger verwenden diese Sprecher noch stark die adverbiale Strategie (50 %, 20 Äußerungen), woraus wir schließen, dass
104
Barbara Schmiedtová
dieser Strategie nach wie vor eine besondere Stellung in der Lernergrammatik zukommt. Hier ein Beispiel aus unserem Lernerkorpus: (8) Takže vešel (Perf, Vergangenheit) do prostoru a s jazykem to zkusil (Perf, Vergangenheit) to udělat pryč a v tomto momentu (TAdv) ten spíš ten, ten starší bratr přiišel (Perf, Vergangenheit)
[So ist er in den Raum hineingegangen und er versuchte mit der Zunge es wegzumachen und in diesem Moment, kam wahrscheinlich der ältere Bruder rein.]
Worin besteht der Unterschied zwischen den Anfängern und den Lernern, die sich auf der Zwischenstufe befinden? Bezüglich des Gebrauchs der adverbialen Strategie hat die statistische Analyse keine Signifikanzen gezeigt (z = 0.56, n.s.11). Wenn man den Gebrauch der anderen beiden Strategien auf diesem Sprachniveau betrachtet, sieht man, dass Lerner den Aspekt durchaus anwenden, wenn Simultanität in der Zielsprache ausgedrückt wird: Die stärkere aspektuelle Strategie wird in 25 % (10 Äußerungen) gebraucht. Dieselbe Verteilung gilt auch für die schwächere aspektuelle Strategie: 25 %, 10 Äußerungen. Der Anstieg im Gebrauch der expliziten aspektuellen Markierung, die für die beiden aspektuellen Strategien nötig ist, deutet klar auf einen kritischen Entwicklungsschritt hin. Auf diesen Punkt wird in der abschließenden Diskussion in Sektion 4 eingegangen werden. Auch die fortgeschrittenen deutschen Lerner gebrauchen die adverbiale Strategie, allerdings weniger häufig (45 %, 18 Äußerungen) als die Lerner auf der Zwischenstufe. Dieser Unterschied ist aber nicht statistisch signifikant (z = 0.48, n. s.). Der Unterschied zu der vorherigen Erwerbsstufe besteht in der sig nifikanten Verminderung des Gebrauchs der stärkeren aspektuellen Strategie (z = 1.68, p < .05). Bemerkenswert ist auch, dass die Häufigkeit der Anwendung der schwächeren aspektuellen Strategie mit der der adverbialen Strategie vergleichbar ist. Die schwächere Aspektstrategie kommt erstaunlich häufig vor: 42 %, 17 Äußerungen. Der Gebrauch dieser Strategie bei der fortgeschrittenen Lernergruppe ist signifikant höher als bei der Lernern auf der Zwischenstufe (z = 2.00, p < .05). Das nächste Beispiel (9) soll einen Eindruck vermitteln, wie ein fortgeschrittener deutscher Lerner des Tschechischen mit Hilfe der schwächeren aspektuellen Strategie eine simultane Situation beschreibt. (9)
a vezme (Perf, Präsens) si nějaký nápoj, double cooler se jmenuje, a v tý chvíli (TAdv) stojí (Imperf, Präsens) dole holka,
11 Die Abkürzung n.s. steht für nicht signifikant.
Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische
je před nebo pod oknem a mává mu
[und [er] nimmt sich ein Getränk, es heißt double cooler, und in diesem Moment steht ein Mädchen unten, (sie) ist vor oder unter dem Fenster und winkt ihm zu]
105
Die Entwicklung, die vom Beginn des Erwerbs bis zum Endzustand eines Erwerbsprozesses stattfindet, ist in der Abbildung 2 veranschaulicht. Sie stellt die Präferenzen der deutschen Muttersprachler in ihrer L1 (German Native) dar, das bevorzugte Muster der tschechischen Muttersprachler (Czech Native) und schließlich auch die verschiedenen Strategien, die deutsche Lerner (German Basic, German Intermediate, German Advanced) in L2 Tschechisch anwenden. Hier stellen sich gleich zwei Fragen: (1) Warum verwenden deutsche Lerner auf der Zwischenstufe neben der schwächeren aspektuellen Strategie (25 %) auch die stärkere aspektuelle Strategie (25 %)? (2) Warum reduziert sich die stärkere aspektuelle Strategie bei den fortgeschrittenen deutschen Lernern des Tschechischen von 25 % auf 13 %? Diese Unterschiede lassen sich so erklären, dass auf der Zwischenstufe die deutsche Lernergruppe den grammatischen Aspekt sozusagen entdeckt und mit der in der Zielsprache sehr produktiven Markierung ‚experimentiert‘ haben. In dieser kritischen Lernphase kommt es so zu einem übermäßigen Gebrauch der aspektuellen Markierung. Dieser schlägt sich auch in der ansteigenden Verwendung der stärkeren aspektuellen Strategie (ohne Verwendung der TAdv) nieder. Für die gleiche Entwicklungsstufe konnte ein übermäßiger Gebrauch auch für die Verwendung des mit Hilfe der Präfigierung gebildeten perfektiven Aspekts gezeigt werden (Schmiedtová 2004: 230ff.): Deutsche Lerner auf der Zwischenstufe bildeten eine große Anzahl von präfigierten Verben, die eine perfektive aspektuelle Bedeutung hatten. Dabei haben sie ein richtig gebildetes Präfix an einem Verb gebraucht, das mit dem verwendeten Präfix in der Zielsprache nicht kombinierbar ist.
106
Barbara Schmiedtová
2
Group Style
1
Weak Czech Native German Advanced Adverbial
Dimension 2
0
German Native
German Basic
German Intermediate
-1 Strong
-2
-3
-3
-2
-1
0
1
2
Dimension 1
Abbildung 2: Die so genannte ‚centroids‘-Darstellung für den Zusammenhang zwischen der verwendeten Strategie und den Sprechergruppen Tschechisch L1, Deutsch L1 und deutschen Lernergruppen L2 Tschechisch
Wie lässt sich die Abbildung 2 interpretieren? Es ist eindeutig, dass deutsche Lerner zu Beginn des Erwerbs des Tschechischen so wie in ihrer Muttersprache vorgehen: Sie gebrauchen ausschließlich adverbiale Mittel, wenn sie Simultanität ausdrücken wollen. Auf der nächsten Stufe, der Zwischenstufe, wird viel häufiger der Aspekt gebraucht. Dieses fortgeschrittene Stadium bringt eine weitere Differenzierung im Bereich Aspekt mit sich: eine starke Präferenz zugunsten der schwächeren Aspektstrategie. Deutsche Lerner können das Tschechische zu Beginn nur mit Hilfe der „deutschen Strategien“ lernen. Sie transferieren das deutsche Muster, das auf dem Gebrauch der Adverbien beruht, ins Tschechische. Aber bald, schon in der
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Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische
Mittelstufe, lernen sie die verbalen Aspektformen und setzen sie zielsprachig für den Ausdruck der Simultanität ein. Was sich bereits in diesem Augenblick festhalten lässt, ist, dass deutsche Lerner den slawischen Aspekt erlernen und – auf jeden Fall in gewissen Kontexten – zielsprachig anwenden können. Dieses Ergebnis widerspricht der Studie von Grekhova (1985), in der die These aufgestellt wird, dass deutsche Lerner das aspektuelle System des Russischen nie lernen können. Zwar ist die Rede vom Erwerb des Russischen, aber Tschechisch und Russisch sind in Bezug auf das Aspektsystem sehr wohl vergleichbar. Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Tschechische, obwohl eine Aspekt-Sprache (und daher sehr schwer), lernbar ist. Das gilt auch für Lerner, deren Muttersprache eine Nicht-Aspekt-Sprache ist. An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie weit kommen deutsche Lerner in ihrem Erwerb des Tschechischen? Also, wie sieht der Endzustand der deutschen Lernergruppe in dieser Studie aus? Um diese Frage beantworten zu können, müssen zuerst die Daten der englischen Lerner angesehen werden. Dann werden die deutschen Lerner mit den englischen Lernern verglichen.
2.6. Die Ergebnisse: Englische Lerner des Tschechischen Der allgemeine Entwicklungstrend, der in den Daten der englischen Lernergruppe zu beobachten ist, geht von einem dominanten Gebrauch des stärkeren im Vergleich zu schwächeren aspektuellen Strategie aus. Zur Veranschaulichung dient Tabelle 4. N steht für die Probandenzahl. englische Lerner
Anfänger (N=10)
Zwischenstufe (N=7)
Fortgeschrittene (N=9)
tschechische Muttersprachler
The stronger aspectual style
90 %
40 %
33 %
18 %
The weaker aspectual style
10 %
42 %
67 %
71 %
The adverbial style
0%
18 %
0%
11 %
Tabelle 4: Der Ausdruck der Simultanität von englischen Lernern unter Berücksichtigung des Sprachniveaus
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Barbara Schmiedtová
Wie der Tabelle 4 zu entnehmen ist, verwenden die englischen Lerner von Anfang an die wesentlichen Ausdrucksmittel der Zielsprache im Kontext simultaner Ereignisse. Aspektuelle Morphologie wird auch von Anfängern, die sich zum Zeitpunkt der Aufnahme gerade drei Monate in Tschechien aufhielten, angewendet. Die Bildung der Formen ist nicht immer zielsprachig, aber die Formen lassen sich im gegebenen Kontext interpretieren. Dieses Resultat steht im Gegensatz zu früheren Studien (vgl. Hendriks 1999), die annehmen, dass englische Lerner anfangs ausschließlich temporale Adverbien als eine fallback strategy verwenden, um Simultanität in der Zielsprache auszudrücken. Lerner auf der Zwischenstufe verwenden die anspruchsvollere kombinatorische Strategie – die schwächere aspektuelle Strategie. Zusätzlich wird die adverbiale Strategie eingesetzt. Auffällig ist, dass fortgeschrittene englische Lerner ausschließlich die zwei aspektuellen Strategien verwenden und ganz auf den Gebrauch der adverbialen Strategie verzichten. Im Vergleich zu der Verteilung der drei Strategien, die die tschechischen Muttersprachler in ihrer Muttersprache anwenden (siehe Tabelle 4), zeigen die englischen Lerner eine starke Tendenz, die beiden aspektuellen Strategien viel zu häufig zu gebrauchen. Das trifft vor allem auf die stärkere Aspektstrategie zu, die auf allen Erwerbsstufen von der englischen Lernergruppe im hohen Maße verwendet wird. An dieser Stelle sei betont, dass der übermäßige Gebrauch der stärkeren aspektuellen Strategie nicht ungrammatisch ist. Die mit Hilfe dieser Strategie geformten Versprachlichungen drücken Simultanität durchaus aus. Trotzdem ist diese Strategie viel mehr mit einer Lernerstrategie assoziiert, da sie von Muttersprachlern nicht nur selten benutzt wird, sondern auch in bestimmten Kontexten unangemessen ist. Mit anderen Worten, die englischen Lerner weichen durchgängig von der Zielsprache ab, indem sie der Distribution der einzelnen Strategien und somit auch den Präferenzen der tschechischen Muttersprachler nicht folgen bzw. sich im Erwerbsverlauf der zielsprachigen Verteilung nicht wirklich nähern. Ob ein Adverb in der Zielsprache verwendet oder nicht verwendet wird, ist keine Frage der subjektiven Wahl, sondern es ergibt sich aus den spezifischen temporalen Verhältnissen. Ähnlich wie in der Abbildung 2 für deutsche Lerner zeigt die Abbildung 3 die Präferenzen der englischen Muttersprachler in ihrer L1 (English Native) sowie das bevorzugte Muster der tschechischen Muttersprachler (Czech Native) und schließlich auch die verschiedenen Strategien, die englische Lerner (English Basic, English Intermediate, English Advanced) in L2 Tschechisch anwenden.
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Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische
2
Group Style
English Native
1
Weak
Dimension 2
Czech Native
Adverbial
0
English Advanced
-1
English Intermediate
Strong
-2 English Basic
-3
-3
-2
-1
0
1
2
Dimension 1 Abbildung 3: Die so genannte ‚centroids‘-Darstellung für den Zusammenhang zwischen der verwendeten Strategie und der Sprechergruppen Tschechisch L1, Deutsch L1 und den englischen Lernergruppen L2 Tschechisch
Aus der Abbildung 3 geht hervor, dass alle englischen Lernergruppen eine ausgeprägte Präferenz für die stärkere aspektuelle Strategie haben. Sie bevorzugen diese Strategie viel stärker, als es die tschechischen Muttersprachler und die englischen Muttersprachler tun. Wie schon erwähnt ermöglicht die Überlappung zwischen dem aspektuellen System des Englischen und des Tschechischen zu Beginn des Erwerbs Transfer-Strategien. Dementsprechend sind englische Anfänger in der Lage, die aspektuelle Markierung als grammatische Kategorie aus L1 Englisch für den Ausdruck der Simultanität in L2 Tschechisch zu übertragen. Erstaunlich ist aber, dass die nicht-zielsprachige Präferenz für die stärkere Aspektstrategie im Laufe des Erwerbs von den englischen Lernern nicht in Richtung auf die zielsprachige Verteilung geändert wird. Die englischen Ler-
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Barbara Schmiedtová
ner bauen ihr L2 System graduell aus, indem sie auf der Zwischenstufe die schwächere aspektuelle Strategie und begrenzt auch die adverbiale Strategie in ihr Repertoire aufnehmen. Die adverbiale Strategie fällt aber bei den fortgeschrittenen Lernern ganz weg und die stärkere aspektuelle Strategie wird auch von den sehr fortgeschrittenen Lernern mit sehr guten Tschechischkenntnissen fast doppelt so häufig als von tschechischen Muttersprachlern gebraucht.
2.7. Deutsche und Englische Lerner im Vergleich Die Daten (Schmiedtová 2004) haben gezeigt, dass englische Lerner schon am Anfang des Erwerbs aspektuelle Markierung für den Ausdruck der Simultanität in der Zielsprache verwenden. Dieses Ergebnis legt nahe, dass diese Lerner die grundlegende aspektuelle Opposition zwischen der perfektiven und der imperfektiven aspektuellen Form in der Zielsprache erkannt haben müssen. Da englische Probanden mit einer vergleichbaren Opposition aus ihrer Muttersprache (± progressive Markierung) vertraut sind, können sie von diesem Wissen profitieren und dieses bereits sehr früh in der Zielsprache anwenden. Dieses spiegelt sich besonders deutlich in dem Gebrauch der stärkeren Aspektstrategie für den Simultanitätsausdruck bei Lernanfängern in L2 Tschechisch wieder. Die Simultanität auf diese Weise zum Ausdruck zu bringen ist einfach, sehr effizient, informativ und auch zielsprachig. In den Daten der deutschen Lernanfänger kommt explizite Aspektmarkierung kein einziges Mal vor. Diese Lerner verlassen sich ganz auf die Anwendung der adverbialen Strategie, wenn sie in der Zielsprache Simultanität ausdrücken. Analog zu der englischen Anfängergruppe ist das Vorgehen der deutschen Lernanfänger durch die Präferenzen der Ausgangssprache motiviert. Als Fazit lässt sich sagen, dass am Erwerbsanfang die englischen Lernanfänger einen Vorteil gegenüber den deutschen Lernanfängern haben, weil sie das zentrale Mittel der Zielsprache, den grammatischen Aspekt, vor dem Hintergrund ihrer muttersprachlichen Grammatik leichter identifizieren und für den Simultanitätsausdruck verwenden können. Was passiert aber, wenn Lerner ein höheres Sprachniveau in der Zielsprache erreichen? Welche Rolle spielen dann die aus der L1 in die L2 übertragbaren Eigenschaften auf diesem Sprachniveau? Also, wie sieht der Endzustand aus, den unsere Lernergruppen in L2 Tschechisch erreichen?
111
% of all occurrences
Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
the stronger aspectual style the weaker aspectual style the adverbial style
L1 German
L2 Czech
L1 English
L2 Czech
L1 Czech
Abbildung 4: Simultanitätsausdruck von englischen und deutschen fortgeschrittenen Lernern
Zwei interessante Beobachtungen lassen sich in Abbildung 4 bezüglich der englischen fortgeschrittenen Lernergruppe machen: (1) Sie gebrauchen häufiger als die Muttersprachler (der so genannte ‚overuse‘) die explizite aspektuelle Markierung, wenn sie in L2 Tschechisch Simultanität ausdrücken, und (2) entsprechend gebrauchen sie – aus der Perspektive der Zielsprache – die adverbiale Strategie nicht oft genug (der so genannte ‚underuse‘). Auf dem Weg zur Zielsprache folgen die englischsprachigen Lerner weder dem zielsprachigen Muster noch dem muttersprachlichen Muster. So entsteht eine Lernvarietät mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die deutschen fortgeschrittenen Lerner hingegen weisen einen ausgewogenen Trend auf: Sie setzten alle drei Strategien für den Simultanitätsausdruck ein, die in der Zielsprache zur Verfügung stehen. Somit nehmen sie das Muster auf, das auch für die tschechischen Muttersprachler typisch ist. Allgemein kann man sagen, dass deutsche Lerner in Bezug auf das Verteilungsmuster der drei Strategien der Zielsprache viel näher stehen, als es die englischen Lerner tun. Die Abbildung 5 präsentiert alle Sprachen – Lerner und Muttersprachler – im Zusammenhang mit den drei Strategien.
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Barbara Schmiedtová
2
Group Style
English Native
1
Weak Czech Native
Dimension 2
German Advanced Adverbial
0 German Native
German Basic
German Intermediate
English Advanced
English Intermediate
-1 Strong
-2 English Basic
-3
-3
-2
-1
0
1
2
Dimension 1 Abbildung 5: Die so genannte ‚centroids‘-Darstellung für den Zusammenhang zwischen der verwendeten Strategie und der Sprechergruppe Tschechisch L1, Deutsch L1 und englische/ deutsche Lernergruppen L2 Tschechisch
Aus der Abbildung 4 kann man ersehen, dass trotz der viel stärkeren Ähnlichkeit in der Art der Ausdrucksmittel und der Distribution der Strategien für den Simultanitätsausdruck zwischen L1 Tschechisch und L1 Englisch es die deutschen fortgeschrittenen Lerner und nicht die englischen fortgeschrittenen Lerner sind, die dem zielsprachigen Muster viel näher kommen.
Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische
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3. Fazit und Diskussion
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie deutsche Lerner bei dem Erwerb von L2 Tschechisch vorgehen (Verlauf) und inwieweit sie sich dabei dem System der Zielsprache nähern können (Endzustand). Im Fokus standen dabei der Ausdruck der temporalen Simultanität und die Kategorie des grammatischen Aspekts. Um diesen beiden Fragestellungen besser auf den Grund gehen zu können, wurde eine Gruppe von englischen Lernern zum Vergleich herangezogen. Beide Lernergruppen waren hinsichtlich der sozialen Variablen Alter und Bildung vergleichbar. Es wurde gezeigt, dass für englische Lerner der Erwerb des Tschechischen dank der Übereinstimmungen zwischen der L1 und der L2 im Aspektbereich einfacher ist. Das Bild ändert sich aber dramatisch, wenn Lernerpräferenzen auf weiter fortgeschrittenen Sprachniveaus in Betracht gezogen werden. Der anfängliche Vorteil der englischen Lerneranfänger gegenüber den deutschen geht verloren: Deutsche fortgeschrittene Lerner haben in der diskutierten Studie annähernd muttersprachliche Präferenzen für den Simultanitätsausdruck in der Zielsprache gelernt und sind somit der Zielsprache sehr nah gekommen. Englische fortgeschrittene Lerner dagegen zeigten auf dem gleichen Sprachniveau klare Lernermuster. Wie lassen sich diese Ergebnisse erklären? Es wäre plausibel anzunehmen, dass die aus der Ausgangssprache vertrauten Eigenschaften den Erwerb der Zielsprache nicht immer erleichtern oder beschleunigen, sondern diesen ab einem bestimmten Zeitpunkt erschweren bzw. verlangsamen. Es ist hier hervorzuheben, dass es in dem Prozess des Fremdsprachenlernens nicht nur um die Entdeckung und das Erlernen der Formen geht, sondern auch darum, dass die gelernten Formen ‚angemessen‘ (und das heißt zielsprachig) gebraucht werden. Dies gilt besonders für spätere Entwicklungsstadien des L2-Erwerbs und ist ausschlaggebend für die Diskussion über den Endzustand (fortgeschrittene und sehr fortgeschrittene Lerner). Unsere Ergebnisse stehen im Einklang mit der Transfer- und Endzustanddebatte (Dulay/Burt/ Krashen 1982; Birdsong 1992; v. Stutterheim 2003). Was den Transfer von aspektuellen Eigenschaften betrifft, zeigt die vorliegende Studie deutlich, dass Aspekt, sogar zu Beginn des Zweitspracherwerbs, aus der Mutter- in die Zielsprache übertragen und erfolgreich angewendet werden kann. Dieses Ergebnis steht im Widerspruch zu anderen Studien, die
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Barbara Schmiedtová
behaupten, dass Aspekt so gut wie nicht dem Transfer-Mechanismus unterliegt (vgl. Hendriks 1999; Bardovi-Harlig 2000). Diese Hypothese wirft die folgende Frage auf: Ist es möglich, dass Lerner einer Fremdsprache durch die ‚Ähnlichkeit‘ zwischen den Eigenschaften ihrer Muttersprache und der zu lernenden Zielsprache in die Irre geführt werden? Anhand der besprochenen Arbeit (Schmiedtova 2004) kann man diese Frage mit ‚ja‘ beantworten: Die englischen Lerner lassen sich insofern in die Irre führen, dass sie ihre Anfangshypothese über die zielsprachige Vorgehensweise für den Ausdruck der Simultanität im Laufe des Erwerbs nicht weiter überprüfen bzw. an das tatsächliche Muster der Zielsprache anpassen. Aus den präsentierten Daten der englischen Lerner geht hervor, dass eine Art Veränderung der Präferenzen und ihrer Verteilung zugunsten des zielsprachigen Musters auf der Zwischenstufe geschehen zu sein scheint. Was hier aber den Ausschlag gibt ist, dass fortgeschrittene englische Lerner diesem in Richtung Zielsprache gehenden Trend nicht folgen. Im Allgemeinen heißt dieses, dass die Ähnlichkeiten zwischen der L1 und der L2 diese Lernergruppe daran gehindert haben, die Subtilitäten in L2 Tschechisch zu erlernen, die im Bereich der Simultanität das Englische und das Tschechische unterscheiden. Die deutschen Lerner gingen nicht nur bei dem Erwerb der sprachlichen Mittel für den Simultanitätsausdruck anders vor, sondern sie haben auch einen anderen Endzustand als die englischen Lerner in der Zielsprache erlangt. Einer der Gründe dafür ist sicherlich die Tatsache, dass deutsche Lerner von Anfang an an die Zielsprache mit der Hypothese herangehen, die Zielsprache sei diametral anders als die Muttersprache. Diese Hypothese kommt allen, die das Tschechische oder eine andere slawische Sprache lernen oder gelernt haben, sicherlich bekannt vor. Wie beeinflusst aber diese Haltung den Erwerbsprozess? Wie die Daten deutlich gezeigt haben, führt eine solche Hypothese zu Beginn des Erwerbs erstmal zu einem nicht-zielsprachigen Vorgehen. Man könnte sich auch vorstellen, dass der Erwerb unter diesen Umständen langsamer voranschreitet und auch das persönliche Empfinden über das Lerntempo und den -erfolg eher mäßig sind. Aber ab einem bestimmten Kenntnisstand ändert sich die Lage und der deutsche Lerner ist gerade wegen der fehlenden Übereinstimmungen zwischen L1 und L2 in der Lage, auch die subtilen Unterschiede in der Zielsprache zu identifizieren und zu lernen. Die Ergebnisse der Studie von 2004 sind ermutigend: Entgegen der allgemeinen Meinung, die viele Deutsche teilen und die auch zum Teil in der Literatur vertreten wird, dass deutsche Muttersprachler eine slawische Sprache wie das Tschechische, und besonders den Aspekt, kaum lernen können, zeigen unsere Daten, dass Deutsche das Tschechische nicht nur gut erlernen
Einflüsse des Deutschen auf das Tschechische
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können, sondern dabei im Endeffekt besser als die Vergleichsgruppe der englischen Muttersprachler abschneiden. Neuere empirische Studien zum Erwerb von L2 Deutsch von tschechischen und russischen fortgeschrittenen Lernern (Schmiedtová/Sahonenko 2008) haben zwei wichtige Ergebnisse erbracht: (1) Es konnte gezeigt werden, dass tschechische und russische Muttersprachler trotz der sehr starken Ähnlichkeit der zugrunde liegenden Aspektsysteme verschiedene Präferenzen im Aspektgebrauch haben. (2) Aus den Lernerdaten wurde klar, dass diese Präferenzen sich auch auf den Gebrauch der Zielsprache auswirken. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass die tschechische Lernergruppe in L2 Deutsch ‚muttersprachlicher‘ als die russische Lernergruppe war. Dies hing nicht etwa damit zusammen, dass die Tschechen in der Studie ein höheres Sprachniveau als die Russen hatten, sondern vielmehr damit, dass in dem untersuchten Bereich die Ausgangssprachen Tschechisch/Deutsch viel mehr Gemeinsamkeiten als das Paar Russisch/Deutsch aufwiesen! Diese Ergebnisse spiegeln sich auch in den informationsverarbeitenden Wahrnehmungsprozessen wider, die mit Hilfe von Augenbewegungsmessung von unserer Forschungsgruppe an der Universität Heidelberg untersucht werden. Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass in Verbindung mit sprachlichen Präferenzen auch visuelle Aufmerksamkeitsstrukturen variieren. Mit anderen Worten, die Muster des Blickbewegungsverhaltens bestätigen die in der sprachlichen Darstellung beobachteten Kontraste. Abschließend soll noch kurz auf den in der Einleitung erwähnten Sprachkontakt zwischen Deutsch und Tschechisch eingegangen werden. Bereits in Sektion 1 wurde argumentiert, dass der Einfluss des Deutschen über den Bereich des Lexikons hinausgeht und dass sich dieser sogar im Bereich der tschechischen Syntax niederschlägt. Es liegt nahe, dass der Einfluss des Deutschen noch tiefer greift und sich auch auf linguistische Bereiche wie Informationsorganisation, Informationsselektion, Perspektivierung, ausgewirkt hat. Die Tatsache, dass in den Blickbewegungsstudien das Tschechische mit dem Deutschen und nicht mit dem Russischen eine Gruppe bildet, zeigt, dass sich das Deutsche und das Tschechische noch viel näher stehen, als bisher angenommen wurde.
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Barbara Schmiedtová
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Kurt Krolop
Nationale und kulturelle Attribuierungsprobleme bei Autoren aus den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert Erlauben Sie mir, dass ich vorab einiges Erläuternde zum Titel meines angekündigten Vortrages sage. Unter „Attribuierungsproblemen“ sei „Attribuierung“ nicht nur als Fremdbestimmung verstanden, also als Zuordnung durch andere, sondern auch als Selbstbestimmung, also im Sinne dessen, was unter dem viel diskutierten, aber auch viel zerredeten Begriff der Identität verstanden wird. Als Autoren begreife ich nicht nur Verfasser so genannter schöngeistiger Literatur, ich beziehe auch Memoiren und Lebenszeugnisse nichtbelletristischen Ursprungs ein. 1914, also im letzten Jahre des von Historikern so genannten langen 19. Jahrhunderts, hat der in Prag geborene und ausgebildete Schriftsteller und Balneologe Enoch Heinrich Kisch (1841-1917), ein entfernter Verwandter von Egon Erwin Kisch (1920: 21), seine Erinnerungen unter dem Titel Erlebtes und Erstrebtes veröffentlicht. Gleich am Anfang steht ein Bekenntnis zu dem, was ich eine multiple Identität nennen möchte: Ich bin trotz meiner jüdischen Konfession, von der abzufallen mir mein Charakter wehrt, mit ganzem Herzen ein guter Österreicher, schwarz-gelb bis in die Knochen, und deutsch durch Erziehung und Gesinnung. (Kisch 1914: 18)
Ganz Gleiches oder zumindest ganz Ähnliches wie in den Erinnerungen von Enoch Heinrich Kisch, dessen jüngerer Bruder Alexander (1848-1917), der übrigens als erster österreichischer Rabbiner seit 1900 staatlicher Religionslehrer am literarisch so berühmten Prager deutschen Stefans-Gymnasium gewesen war, gilt von der Autobiographie seines Landsmanns und Generationsgenossen Ludwig Ritter von Przibram (1840-1916), von dessen 1910 erschienenen Erinnerungen eines alten Oesterreichers. Ich kann es mir nicht versagen, aus diesen Memoiren eine Momentaufnahme aus der Wiener Studienzeit um 1860 anzuführen, zumal auch deutschböhmische Reminiszenzen eine gewisse Rolle spielen: Ueberhaupt war von Sprachen- und Rassenstreit oder Konfessionalismus schlechthin nichts zu merken. Der Weg ‚von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität‘, wie Grillparzer bitter sagt, war in jenen Tagen noch nicht eröffnet. Die meisten […] Kollegen
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versammelten sich einmal wöchentlich zu einer feuchtfröhlichen Geselligkeit im ‚Gasthause zur Schnecke‘, ohne sich eine besondere Bezeichnung als Verbindung oder Korps beizulegen. Die herrschende Gesinnung brachte ein Lied zum Ausdruck, das, [von dem nachmaligen Bergrat Karl Paul verfasst,] in dem Refrain ausklang: ‚Wess‘ Vaterlandes einer sei, Ob Prag ob Böhmisch-Leipe, Das ist uns alles einerlei: Es leb’ die ‚Schneckenkneipe‘! (Przibram 1910: 56)
Alle diese Autoren haben den Ausklang der schwarz-gelben Ära im Herbst 1918 nicht mehr erlebt. Dagegen hat ein Angehöriger einer erheblich jüngeren Generation, ebenfalls ein gebürtiger Prager, der Schriftsteller und Kulturphilosoph Paul Anton Roubiczek (1898-1972), der als Remigrant und Emigrant nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein Erinnerungstagebuch geführt hat, seine Eindrücke nach den Umsturztagen im Oktober 1918 so festgehalten: Ich war deutsch erzogen, aber auch an der Front hatte ich mich zur tschechischen Partei bekannt – die Berührung mit dieser gesunden demokratischen Gedankenwelt war eine wahre Erlösung dem deutschen Nationalismus gegenüber, der sich ein endgültig deutschreaktionäres Österreich zurechtzimmerte. Mit den Tschechen träumte ich von anderen Zielen: echte Demokratie, Trennung von Kirche und Staat, Bodenreform, soziale Reform – das war es, was uns vorschwebte. Am 28. Oktober 1918 war ich in Prag, an diesem Tag zog ich glücklich die alte österreichische Uniform aus, um sie nie wieder anzuziehen. … Kein Schuß fiel, kein Blut wurde vergossen, und noch am Abend desselben Tages, an dem gegen Mittag der Umsturz begonnen hatte, patrouillierte die neue tschechische Polizei durch die Straßen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Aber schon am dritten Tag irrte ich traurig und einsam durch die Menge, die noch immer die Straßen füllte. Denn an diesem Tag begann sich die Revolution zu verändern [am sechsten Tage nach dem 28. Oktober, am 3. November 1918, kam es direkt vor den Fenstern der Familie Kafka auf dem Altstädter Ring zum gewaltsamen Sturz der barocken Mariensäule, K. K.]: Es ging nicht mehr gegen die Doppeladler, sondern gegen deutsche Aufschriften; es war gefährlich, auf der Straße deutsch zu sprechen – mit einem Schlage war die Revolution nationalistisch geworden. Das war nicht die Revolution, die wir erwartet hatten! Wir wollten doch nicht die alten österreichischen Fehler wiederholen, in diesem Staate sollten alle Völker, die nun einmal da durcheinandergewürfelt waren, frei und in Eintracht leben – es ging um andere, menschliche Ziele! Kurz darauf war ich ehrlich wütend, dass die Sudetendeutschen von Wien aus ihre Selbständigkeit verkündeten – anstatt im Lande selbst sich zum Kampf zu stellen und ihn [den Staat, K. K.] zu zwingen, nicht zu halten, was er versprochen hatte, denn er hatte ja noch nichts versprochen, sondern den Hoffnungen gerecht zu werden, die an ihn geknüpft waren. (Roubiczek 1978: 115)
Die in Paul Anton Roubiczeks Satz „Das war nicht die Revolution, die wir erwartet hatten!“ zum Ausdruck kommende enttäuschte Hoffnung galt in den
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ersten Nachkriegstagen, teilweise auch noch nach den ersten Nachkriegsjahren, auch für viele andere Zeitgenossen, unter anderem für Franz Werfel, der Ende 1918 in seiner Vaterstadt am eigenen Leibe erfuhr, wie gefährlich es war, auf der Straße deutsch zu sprechen (Jungk 1987).1 Hinzu kamen die Attribuierungsschwierigkeiten, die sich für Bürger der so genannten Nachfolgestaaten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ergaben. Ausführlich ist davon die Rede in den Memoiren des nach dem egerländischen Mies [Štřibro] heimatzuständigen späteren 1929 kurzfristigen österreichischen Bundeskanzlers Ernst Streer Ritter von Streeruwitz (1874-1952): In dieser Zeit nach dem Kriege ist wohl überall in der Welt, besonders aber auf dem Boden des alten Österreich, sehr Trauriges geschehen. Tausende […] haben ‚optiert‘ und wußten nicht für wen. Sie mußten schwören und wußten nicht was. Das einzig Gemeinsame in allen Nachfolgestaaten war der Bestand einer ganz einheitlich wirkenden Kategorie von Schergen in Gestalt der Paßprüfer und Zollwächter in allen Größen und Abarten. Wenn man die Absicht hatte, in dringenden Fällen doch noch in seine alte Heimat zu fahren, die jenseits der Grenzen lag, so ging dem ein hochnotpeinliches Verfahren in überheizten Zimmern neugebackener Paßbeamter vorher […] Etwas Heiteres ist mir selbst passiert, als ich noch keineswegs fest entschlossen war, meiner westböhmischen Heimat dauernd den Rücken zu kehren und die neuösterreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Man konnte einen Paß zur Heimreise und Wiederausreise nur bekommen, wenn man den […] Treuschwur für den neuen tschechischen Staat geleistet hatte. Das war besonders wichtig für den gewesenen Offizier. Nun hatte die Nachkriegsbürokratie drüben bereits klar erkannt, daß auch in jungen Staaten viel geredet, einvernommen, beurkundet und registriert werden müsse. Als ich aber nach vielfachen Schreibereien an ein und demselben Tag durch eine Zuschrift des Ergänzungsbezirkskommandos in Böhmen zum Rittmeister in der tschechischen Armee ernannt und zugleich vom Landesverteidigungsministerium in Prag wegen angeblicher Verweigerung des Eides zum Landsturmmann degradiert wurde, erlaubte ich mir die ergebene Anfrage, welcher dieser beiden, zur gleichen Stunde an mich gelangten Verfügungen als richtig anzunehmen sei […] Bis zur Erlangung der vollgültigen österreichischen Staatsbürgerschaft hatte es allerdings noch gute Wege, auf denen die beiderseitigen Amtsschimmel um die Wette tobten. (Streeruwitz 1937: 199-200)
Ähnlich bürokratische Hindernisse muss man sich bei einem Brief Franz Kafkas vom 8./9. August 1920 an Milena Pol(l)ak, geborene Jesenská, vorstellen, die 1918 an der Seite ihres Mannes Ernst Pollak (1886-1947) nach Wien gegangen war und wie dieser für Österreich „optiert“ hatte. 1 „Kurz nach Weihnachten 1918 hielt er sich zwei Wochen lang bei seinen Eltern in Prag auf. […] Auf der Straße wurde er, als man ihn deutsch sprechen hörte, von tschechischen Nationalisten niedergeschlagen. Nach der Zersplitterung der k. u. k. Monarchie waren Juden und Pragerdeutsche mehr denn je verhaßt, ständige Angst begleitete Werfel fortan bei seinem Pragbesuch.“ (Jungk 1987: 112-113)
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Bitte komm nach Gmünd […] ich bin also jedenfalls Sonntag Vormittag vor dem Gmündner Bahnhof. Du brauchst doch wohl keinen Paß. Du kommst gleich nach 9 Uhr, laß Dich als Österreicherin nicht von der Zollrevision aufhalten, ich kann doch nicht stundenlang den Satz für mich aufsagen, mit dem ich Dich begrüßen will. (Kafka 1983: 199-200)
Der tschechoslowakische Staatsbürger Franz Kafka war demnach besorgt über die Schwierigkeiten, die die deutsch-österreichische Staatsbürgerin Milena Pollak bei der Wiedereinreise in ihre alte böhmische Heimat haben könnte. Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht wiederholen, was ich seit Anfang der 60er Jahre zu diesem Identitäts- und Attribuierungsproblemen gesagt habe und was mittlerweile in meinen von Klaas-Hinrich Ehlers, Steffen Höhne und Marek Nekula 2005 herausgegebenen Studien zur Prager deutschen Literatur leichter zugänglich vorliegt. Hingewiesen sei lediglich auf die Tatsache, dass die Prager antideutschen und antisemitischen Ausschreitungen von Mitte November 1920, die in Franz Kafkas Briefen an Milena so tiefe Spuren hinterlassen hatten, auch „hinter Bodenbach“ ein publizistisches Echo fanden, und zwar in der von Stefan Grossmann im Verlag von Ernst Rowohlt in Berlin herausgegebenen Wochenschrift Das Tage-Buch, dessen 49. Heft vom 18. Dezember 1920 fast zur Gänze dieser Thematik gewidmet ist, besonders durch den Abdruck einer Übersetzung des Protestschreibens von Emanuel Rádl (Grossmann 1920). Darüber hinaus waren auch Abwanderungsentscheidungen aus den böhmischen Ländern bei nicht wenigen Autoren von Gesichtspunkten einer beabsichtigten literarischen Karriere bestimmt. Besonders deutlich wird das in dem autobiographischen Roman, in dem der 90jährig im Londoner Exil verstorbene Prager Schriftsteller und Kunsthistoriker Josef Paul Hodin (19051995) das zur Sprache gebracht hat: Prag war hoffnungslos, wenn es um die Frage einer deutschen Schriftstellerlaufbahn ging. Zwar besaß die Stadt eine höchst gebildete Minderheit von etwa 30 000 deutschsprachigen Einwohnern und war ein Kulturzentrum mit seinem intensiven Theater- und Musikleben, das hauptsächlich von der jüdischen Bevölkerung gefördert wurde. Aber Prag blieb doch eine deutsche Sprachinsel, eine linguistische Enklave inmitten einer slawischen Bevölkerung. Was in der Hauptstadt und an kleineren Orten nach der nationalen Revolution an neuem Leben aufblühte, war tschechisch und damit notwendig in dem Sprachsarg einer kleinen Nation begraben, ohne Möglichkeit, künstlerisch oder geistig eine umfassende Resonanz hervorzurufen.
Obgleich Jean Paul [so ist der Name der Zentralfigur dieses Romans, K. K.] Petr Chelčický, Božena Němcová, Karel Hynek Mácha, Karel Toman, František Halas, F. X. Šalda, T. G. Masaryk kannte und liebte, „so fühlte er sich doch nicht tschechisch genug, um sich in dem ihm allzu vertrauten Provinzialismus zu begraben, wie warm und bequem er auch war.“ (Hodin 1985: 137-138)
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Wie für Jean Paul alias Josef Paul Hodin, so war um 1930 für viele Prager und auch Wiener Autoren Berlin ein bevorzugtes Auswanderungsziel, so für ganz links stehende Schriftsteller wie Egon Erwin Kisch und F. C. Weiskopf, aber auch für Robert Musil, Alfred Polgar und auch Joseph Roth, der neben Franz Werfel zu den Hauptbaumeistern dessen gehörte, was in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts der italienische Literaturwissenschaftler Claudio Magris den habsburgischen Mythos in der neueren österreichischen Literatur genannt hat. Dennoch hat sich gerade Robert Musil, der sich wie viele andere durch die nationalsozialistische Machtergreifung von 1933 zur Rückwanderung aus Berlin genötigt sah, im Sommer 1935 vor dem Forum des Internationalen Schriftstellerkongresses für die Verteidigung der Kultur aufs Heftigste dagegen verwahrt, als österreichischer Schriftsteller vom Gesamtkontext der deutschsprachigen Literatur separatistisch abgesondert zu werden: So erwartet etwa meine österreichische Heimat von ihren Dichtern, daß sie österreichische Dichter seien; nicht etwa Dichter und Österreicher, sondern Dichter mit einem besonderen Wohlgeruch, und es finden sich Kulturgeschichtskonstrukteure, die uns beweisen, daß ein österreichischer Dichter immer etwas anderes gewesen sei als ein deutscher. Das hat rasch dazu geführt, daß der Begriff des österreichischen Dichters an die zweite Stelle getreten ist hinter dem des dichtenden Österreichers. (Musil 1981: 1260, vgl. auch 1266)
Robert Musil hat sich auch danach mit den dieser Thematik verbundenen Attribuierungs- und Identifikationsproblemen weiter beschäftigt, so in einem Briefentwurf an den Inhaber der Modernen literarischen Buchhandlung Wien Martin Flinker Ende 1936 zur Beantwortung der Umfrage „Kann man von einer spezifisch österreichischen Literatur sprechen?“. In diesem Zusammenhang ist eine nicht unwesentliche Korrektur einer bisher gängigen Auffassung höchst angebracht. Jürgen Born und Diether Krywalski schreiben zu Beginn der 3., vollständig überarbeiteten und erweiterten Ausgabe ihrer chronologischen Übersicht und Bibliographie Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900-1939: ‚Prager deutsche Literatur‘ oder ‚Deutschsprachige Literatur Prags‘ sind Bezeichnungen jüngereren Datums. Sie wurden, eingeführt von der tschechischen Germanistik, erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu festen Begriffen der Literaturgeschichte. (Born/Krywalski 2000: 1)
Dagegen heißt es in dem oben erwähnten Briefentwurf Robert Musils zur Beantwortung der Frage nach einer spezifisch österreichischen Literatur: Antwort: […] man kann es natürlich tun, hat man doch, u. nicht ganz ohne Grund, sogar von einer Prager Literatur [Variante: von einer Pr. d. Lit.], innerhalb der deutschen, sprechen können. So etwas ist immer eine Literatur ‚besonderer Umstände‘ und geht mit ihnen vorbei. (Musil 1981: 752)
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Hinter dem ‚man‘ dieser Feststellung dürfte einer aus dem Robert Musil wohlbekannten Redaktions- und Mitarbeiterstab der Prager Presse gemeint sein, am allerwahrscheinlichsten wohl jener Schriftsteller, der sich damals noch Paul Eisner nannte und am Ende des Ersten Weltkrieges in einem Brief an Rudolf Pannwitz vom 8. Juni 1918 seine nationale Identität so umschrieben hat: Sie halten mich für einen Tschechen. Ich bin es nicht. Nach dem Gesetz der stärkeren geistigen Attraktion gehöre ich den Deutschen. Instinkt und Gewissen ziehen mich zu den Slaven. So bin ich der Zerrissenste von allen […] ich fühle aber ganz unmittelbar und heiß, dass das deutsche Volk von einer geistigen Pest heimgesucht ist, wie es in Europa noch keine gegeben hat. Ich glaube an den unvergänglichen sittlichen Wert des protestierenden Gewissens. (Pannwitz u. a. 2002: 281)
Im April 1937 hat Paul Eisner in seinem Beitrag für den von Frank Warschauer herausgegebenen Sammelband Prag heute den Gedanken von einer Prager deutschen Literatur genauer ausgeführt (Eisner 1937). Wenig später, im Mai 1937, hielt sich Elias Canetti, eingeladen zu einem Vortrag durch den Prager deutschen Volksbildungsverein Urania, in Prag auf, wo ihn der junge Dichter H. G. Adler, ein späterer Geschichtsschreiber Prager deutscher Literatur bzw. der „Prager Schule“, betreute, der von Canetti so beschrieben wird: Ein hochgespannt idealistischer Anspruch zeichnete ihn aus, er, der bald danach zum Opfer jener fluchwürdigen Zeit werden sollte, wirkte so, als gehöre er gar nicht in die Zeit. Einen Mann, der mehr durch die deutsche literarische Tradition bestimmt war, hätte man sich kaum irgendwo in Deutschland vorstellen können, aber er war hier in Prag, sprach und las mit Leichtigkeit tschechisch, hatte Respekt vor tschechischer Literatur und Musik und erklärte mir alles, was ich nicht verstand, auf einen Weise, die es mir anziehend machte. (Canetti 1986: 320)
Die Formulierung „bestimmt […] durch die deutsche literarische Tradition“ ist genau das, was man unter der Musil’schen Formel einer „Prager deutschen Literatur, innerhalb der deutschen“ zu verstehen hat, und nicht in einem wie immer gearteten staatsrechtlichen oder „völkischen“ Sinne. Ein Blick auf die überlieferten Teile der Bibliothek Franz Kafkas machen auch bei ihm diesen Traditionszusammenhang deutlich (Born 1990; Blank 2001). 1974 hat der Schweizer Dichter und Kritiker Dieter Fringeli (Jahrgang 1942) in der Einleitung der von ihm herausgegebenen Essay-Sammlung Dichter im Abseits. Schweizer Autoren von Glauser bis Hohl die mangelnde Einordnung dieser Autoren in den Gesamtkontext deutschsprachiger Literatur moniert: Es fällt […] auf, mit welcher Hartnäckigkeit die meisten deutschen Literaturkritiker die schweizerische Literatur stets zu isolieren versuchten. Während die österreichische Literatur längst in den großdeutschen [gemeint ist deutschsprachigen, K. K.] Literaturkomplex eingegliedert wurde, gilt die schweizerische Literatur als ein selbstständiges, unabhängiges Phänomen. Weder Georg Trakl noch Paul Celan oder Ingeborg Bachmann, weder Erich
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Fried, noch Ilse Aichinger noch Peter Handke werden von der deutschen Literaturkritik je als typische österreichische Erscheinungen innerhalb der deutschsprachigen Literatur behandelt. Ein Autor schweizerischer Herkunft hingegen wird von den maßgebenden bundesdeutschen Literaturkritikern stets als ‚Schweizer Autor‘ vorgestellt. Die Bücher eines Schweizers werden zuweilen wie die Bücher eines fremdsprachigen Autors, wie die Bücher eines ‚Ausländers‘ rezensiert. (Fringeli 1974: 9)
H. G. Adler hat in Erwiderung eines Beitrages von Franz Hauptmann (18951970) festgestellt: Will man […] wie Hauptmann wünscht, das Sterben der europäischen Seele Prags zeitlich bestimmen, dann geschah das nicht erst 1945, sondern 1938/39 mit der Zerstörung der multinationalen Tschechoslowakei, dem Einmarsch Hitlers mit der Vernichtung der deutsch-jüdischen Symbiose. (Adler 2003: 68)
Bei den meisten der größeren tschechischen Buchhandlungen ist es inzwischen Sitte geworden, die so genannte „schöngeistige“ Literatur in die Kategorien „Česka literatura“ [Tschechische Literatur] und „Světová literatura“ [Weltliteratur] einzuteilen und in die erste Kategorie zwar nicht Rainer Maria Rilke und Franz Werfel, wohl aber Franz Kafka alphabetgerecht als Anführer einer Autorenreihe, bestehend unter anderem aus Ivan Klíma, Pavel Kohout und Milan Kundera, zu präsentieren. So begrüßenswert das als Anzeichen populärer Einbürgerung auch sein mag, so wäre es doch im Zeichen der viel beschworenen Symbiose von der tschechisch-jüdisch-deutschen Kultur der böhmischen Länder durchaus angebracht, Kafka auch als Autor deutscher Sprach- und Kulturzugehörigkeit kenntlich zu machen und ihn so auch der immerhin von Goethe geschaffenen Kategorie der Weltliteratur zuzuordnen. Das wäre nicht zuletzt im Interesse all der Übersetzer, die seit Milena Jesenská Kafka in den tschechischen Literatur- und Kulturkontext, wie Karl Kraus gesagt hätte, „eingeschöpft“ haben. Dass die so verstandene Einbürgerung, auch durch die in diesen Tagen komplett vorgelegte erste tschechische Gesamtausgabe der Schriften Franz Kafkas, mit wachsender Nachdringlichkeit geschieht, ist als Ziel „aufs Innigste zu wünschen“. Im Sommer des Jahres 2007 hatten wir des 110. Todestages des Schweizers Jacob Burckhardt zu gedenken, der uns in den postum herausgegebenen Weltgeschichtlichen Betrachtungen am Anfang des 20. Jahrhunderts folgendes Vermächtnis hinterlassen hat: Das wahrste Studium der vaterländischen Geschichte wird dasjenige sein, welches die Heimat in Parallele und Zusammenhang mit dem Weltgeschichtlichen und seinen Gesetzen betrachtet, als Teil des großen Weltganzen, bestrahlt von denselben Gestirnen, die auch anderen Zeiten und Völkern geleuchtet haben, und bedroht von denselben Abgründen und einst heimfallend derselben ewigen Nacht und demselben Fortleben in der großen allgemeinen Überlieferung. (Burckhardt 1956: 9)
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Literatur
Adler, H. G. (2003): Die Dichtung der Prager Schule. Prag: Nakladatelství Barrister & Principal. Blank, Herbert (2001): In Kafkas Bibliothek. Werke der Weltliteratur und Geschichte in der Edition, wie sie Kafka besaß oder kannte. Kommentiert mit Zitaten aus seinen Briefen und Tagebüchern. Stuttgart: Antiquariat Herbert Blank (eine zweisprachige tschechisch-deutsche Ausgabe ist im Jahr 2004 im Prager Verlag der Franz-KafkaGesellschaft erschienen). Born, Jürgen (1990): Kafkas Bibliothek. Ein beschreibendes Verzeichnis. Mit einem Index aller in Kafkas Schriften erwähnten Bücher, Zeitschriften und Zeitschriftenbeiträge. Frankfurt/M.: Fischer. Born, Jürgen/Krywalski, Diether (2000): Deutschsprachige Literatur aus Prag und den böhmischen Ländern 1900-1939. Chronologische Übersicht und Bibliographie. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Ausgabe. München: Saur. Burckhardt, Jacob (1956): Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium (= Gesammelte Werke, IV). Berlin: Rütten & Loening. Canetti, Elias (1986): Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. Berlin: Volk und Welt. Eisner, Paul (1937): Zwei Literaturen und ein Argot. – In: Warschauer, Frank, Prag heute. Prag: Orbis, 33-48. Fringeli, Dieter (1974): Dichter im Abseits. Schweizer Autoren von Glauser bis Hohl. Zürich und München: Artemis. Grossmann, Stefan (1920): Ruf nach Prag. – In: Ders. (Hg.), Das Tage-Buch 1, Berlin: Ernst Rowohlt, 1551-1579. Hodin, Josef Paul (1985): Dieses Mütterchen hat Krallen. Die Geschichte einer Prager Jugend. Hamburg: Christians. Jungk, Peter Stephan (1987): Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt/M.: Fischer. Kafka, Franz (1983): Briefe an Milena. Erweiterte und neu geordnete Ausgabe. Hrsg. v. Jürgen Born und Michael Müller. Frankfurt am Main: S. Fischer. Kisch, Egon Erwin (1920): Die Abenteuer in Prag. Wien, Prag, Leipzig: Eduard Strache. Kisch, E. [Enoch] Heinrich (1914): Erlebtes und Erstrebtes. Erinnerungen. Stuttgart und Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt. Musil, Robert (1981): Briefe 1901-1942. Mit Briefen von Martha Musil, Alfred Döblin, Efraim Frisch, Hugo von Hofmannsthal, Robert Lejeune, Thomas Mann, Dorothy Norman, Viktor Zuckerkandl und anderen. Hrsg. von Adolf Frisé. Unter Mitarbeit von Mary G. Hall. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
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Musil, Robert (1981): Gesammelte Werke in neun Bänden. Hrsg. von Adolf Frisé. 2. verbesserte Auflage. Bd. 8. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Pannwitz, Rudolf/Fischer, Otokar/Eisner, Pavel (2002): Briefwechsel Rudolf Pannwitz/ Otokar Fischer/Paul Eisner. Hrsg. von Marie-Odile Thirouin in Verbindung mit dem Deutschen Literaturarchiv (Marbach a. N.) und dem Památník Národního Písemnictví (Prag) (= Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft, 49). Stuttgart: Klett-Cotta. Przibram, Ludwig von (1910): Erinnerungen eines alten Oesterreichers. Stuttgart und Leipzig: Deutsche Verlags-Anstalt. Roubiczek, Paul (1978): Über den Abgrund. Aufzeichnungen 1939/40. Hrsg. von JörgUlrich Fechner. Mit einem Vorwort von Werner Heisenberg. Wien, München, Zürich, Innsbruck: Molden. Streeruwitz, Ernst Streer von (1937): Springflut über Österreich. Erinnerungen, Erlebnisse und Gedanken aus bewegter Zeit 1914-1929. Wien, Leipzig: Bernina-Verlag.
Hans-Gerd Koch
Max Brod: Ein jüdischer Dichter deutscher Zunge Die Assimilation der Prager jüdischen Familien des gehobenen Mittelstands war bis um die Wende zum 20. Jahrhundert so weit fortgeschritten, dass sich Religion auf die Einhaltung einiger weniger rudimentärer Gebräuche anläss lich der hohen Feiertage beschränkte. Ansonsten gab man sich aufgeklärt, liberal und war bemüht, sich der deutschen Mittel- und Oberschicht anzugleichen. In dieser Hinsicht unterschied sich das Elternhaus von Max Brod nicht von demjenigen seiner Freunde Franz Kafka oder Franz Werfel oder Willy Haas. Aber bei vielen dieser Söhne zu Wohlstand gekommener und gesellschaftlich aufgestiegener jüdischer Väter gab es offenbar ein unterschwelliges Bedürfnis, den von der vorausgegangenen Generation mühsam verwischten Spuren der jüdischen Herkunft nachzugehen, die Verbindung zu einem wie auch immer gearteten Judentum wieder aufzunehmen. Auf wie unterschiedliche Weise dies erfolgen konnte, wird anhand der Biographien der drei Genannten deutlich. Max Brod hat verschiedentlich hervorgehoben, dass es für ihn vor allem die Begegnung mit Martin Buber war, die bei ihm so etwas wie eine Initialzündung bewirkte. Im Jahr 1909 hörte er drei Vorträge über das Judentum, die Buber auf Einladung des Vereins jüdischer Hochschüler BarKochba in Prag hielt. Bei den jungen Prager Zionisten setzte in der Folgezeit unter dem Einfluss Bubers eine geistige Neubesinnung auf die jüdische Identität ein, die sich zu dem entwickelte, was unter dem Begriff Kulturzionismus gefasst wird. Die von Buber verkündete Erneuerung des Judentums orientierte sich am Vorbild des chassidischen Ostjudentums; dessen Frömmigkeit und westjüdische Bildung sollten seiner Meinung nach eine Symbiose eingehen. Bubers Vorträge haben nachhaltig auf Max Brods Verständnis vom Judentum eingewirkt. Für ihn stand nun fest: Von den drei Völkern, die in Prag lebten, Tschechen, Deutsche und Juden, gehörte er eindeutig zu den letzteren. Als bereits arrivierter Schriftsteller war die Hinwendung zum Zionismus für Brod sehr eng mit der Frage nach einer jüdischen Nationalliteratur verbunden, und zwar ob es einen besonderen jüdischen Geist gibt, der diese Nationalliteratur konstituiert, oder ob es nur die hebräische Sprache ist, die diesen Titel verleihen kann [...] oder ob Zuge-
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hörigkeit des Autors zum jüdischen Volk oder Zugehörigkeit des Themas zum jüdischen Milieu entscheiden. (Brod 1916: 457)
Er entwickelte die Vorstellung, dass die Sprache letztlich sekundär sei, dass das bewusste Bekenntnis zum eigenen Volkstum den Zugang zum geistigen Leben anderer Völker eröffne, ja sogar erst eigentlich ermögliche. Brod stammte aus einer deutschsprachigen Familie. Seine Hinwendung zum Judentum hatte zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit dem Deutschtum zur Folge. Für ihn war das Bekenntnis zum jüdischen Volkstum keineswegs zwangsläufig mit einer Abkehr von allem Deutschen verbunden. Ganz im Gegenteil sah er die große Chance für beide, sich wechselseitig zu ergänzen. Und für sich selbst glaubte er, auf dem Weg „in die Tiefen des Judentums“ einen Zutritt zum deutschen Volksgeist zu finden, der seiner Überzeugung nach jenen letztlich verwehrt bleibe, die ihn auf dem Weg der Assimilation zu erlangen glaubten: „Die Freude am eigenen Volkstum ist der Freude an fremdem Volkstum verwandter als die versuchte Erschleichung fremden Volkstums.“ (Brod 1913: 262) Wohl nicht zufällig stellt sich Max Brod später der Aufgabe, eine Biographie des von ihm bewunderten Heinrich Heine zu schreiben. Wie kaum ein anderer verkörpert Heine für ihn die Problematik einer Verbindung von Deutschtum und Judentum. Im Zuge der von ihm erlebten Judenemanzipation hatte der junge Heine davon geträumt, völlig im Deutschtum aufzugehen, um dann zu erleben, dass trotz aller Assimilierungsbemühungen eine unüberwindliche Distanz bestehen blieb, ja dass er als Folge aller Bemühungen am Ende gleichermaßen vom eigenen Volk wie vom Gastvolk isoliert war. Für Brod lag Heines Tragik darin, dass dieser sein Judentum verkannte. In der Emanzipation sieht Brod eine geschichtliche Notwendigkeit: Die Ghettomauern waren eine Haßumklammerung. Diese Umklammerung zu sprengen: das war schon der höchsten Mühe edelster Juden wert, – eben weil es eine haßvolle Umklammerung war, und weil der Satz gilt, daß Haß nicht nur den Gehaßten, sondern auch den Hassenden zum Schaden gereicht. (Brod 1934: 171)
Gleichwohl wendet er sich gegen eine absolute Assimilation. Heine war die „Einreihung ins Deutsche“ 1820 fragwürdig geworden, seine Liebe zur deutschen Muttersprache blieb indes ungebrochen. In der Vorrede zum ersten Band des Salon beschreibt er die Begegnung mit deutschen Auswanderern in Frankreich. Als er sie sprechen hört, durchzuckt ihn „ein jähes Gefühl“ wie er es noch nie empfunden hat, der Atem stockt ihm: „Ja, es war das Vaterland selbst, das mir begegnete“, heißt es weiter, und seine aufwallenden Gefühle gipfeln in die Erkenntnis: „Deutschland, das sind wir selber.“ Max Brod zi-
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tiert diese Stellen in seiner Heine-Biographie ebenso wie jene aus einem Brief Heines an Christiani: Ich weiß, daß ich eine der deutschesten Bestien bin, ich weiß nur zu gut, daß mir das Deutsche das ist, was dem Fische das Wasser ist [...]. Ich liebe sogar im Grunde das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude daran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls, wie meine zwei Bücher ein Archiv deutschen Gesanges sind. (Brod 1934: 311ff.)
Was die Liebe zur deutschen Sprache angeht, sah sich Brod durchaus dem von ihm bewunderten Vorbild verbunden; seiner Ansicht nach lag Heines Problematik in der fehlenden Verwurzelung im Judentum, die ihm jene Dis tanzliebe ermöglicht hätte, die Brod als Ideal ansieht. Brods Biographin Margarita Pazi (1970: 80) stellt dazu fest: In Heines Leben, in dem er die Abgründe der Liebe zum Wirtsvolk – ohne Distanz – zeigt, findet Brod Belege für seine Forderung der Distanzliebe, die eben diese ‚Abgründe‘ überbrücken soll.
Brod sieht Heine als Zeugen einer frühen Entwicklungsstufe zu dem von ihm angestrebten Ideal. Er schreibt: Heine wollte deutsch sein und war auch, zumindest in einer gewissen Bewußtseinslage, fest überzeugt, deutsch zu sein. Selbst wenn man der Meinung ist, daß das Hinüberfließen ins Deutsche ihm nicht oder nur selten gelungen ist, – so bleibt es doch als Wollen, als Sehnsucht, als Gefühl eine Realität und ist als solches echt. Dieses Wollen ist allerdings keine Phase des Deutschtums; ist vielleicht für die Geschichte der deutschen Seele von keinem oder geringem Belang [...]. Aber jedenfalls ist dieses Wollen eine Entwicklungsphase in der jüdischen Geschichte, gehört organisch in die Entwicklungslinie des Judentums. (Brod 1934: 315f.)
Und mit Blick auf die Kunst führt er weiter aus: Da dieses Sehnen echt ist, ist es auch ein Nährboden für echte Kunst. [...] Für die deutsche Kunst und Kultur sind derartige Leistungen zumindest als Randerscheinungen bedeutsam und bereichernd. (Brod 1934: 316)
Die Quintessenz, die Brod aus seinen Überlegungen zu dieser Entwicklungslinie von Heine bis zu seiner eigenen Situation zieht, ist die Distanzliebe als „richtige Haltung des jüdischen Dichters deutscher Zunge zur deutschen Kultur“ (Brod 1934: 317). Die dialektische Problematik, das Widersprüchliche dieses Begriffs ist ihm durchaus bewusst: Wer liebt, will ja die Distanz aufheben. Wer Distanz hält, verletzt die Liebe. Liebe und Distanz kämpfen also gegen einander. Aber gerade dieses Widerspruchsvolle und Schwierige ist der allein mögliche Ausdruck für die Seelenhaltung des Juden in der Diaspora den Wirtsvölkern gegenüber. Leichter wird es uns eben nicht gemacht. (Brod 1934: 317)
So Brod in seinem Heine-Buch.
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Er selbst hat versucht, diese Distanzliebe zu leben. Max Brod empfand sich als jüdischer Dichter, und die Verbindung des Dichters mit der Gemeinschaft, der er entstammt, betrachtete er als wesentlich. So schreibt er denn auch 1913: Der Dichter kann sein Nationalgefühl ausstreichen, aber nur um den Preis, in seiner ganzen Persönlichkeit ein unkompletter Mensch zu werden. [...] Es ist meine Meinung, daß auf dem Wege tiefer jüdischer Nationalempfindung dem jüdischen Dichter deutscher Zunge zum ersten Male Zutritt zum wahren deutschen Volksgeist ermöglicht wird. (Brod 1913: 263)
Brods Bekenntnis zur deutschen Sprache war eindeutig, über sie fühlte er sich mit dem Deutschtum verbunden. Das Volk, an dessen Sprache er weiterwebe, könne ihm nicht fremd sein, heißt es in seinem Essay zum Jüdischen Dichter deutscher Zunge; er sei Freund, nicht Angehöriger des deutschen Volkes, und Brod präzisiert diese Charakterisierung noch mit der Unterscheidung zwischen Kulturverwandtschaft und Blutsverwandtschaft. Dass Brods Überzeugung nicht auf einhellige Zustimmung stieß, verwundert wenig, wenn man sieht, dass selbst sein engster Freund Franz Kafka ganz anderer Ansicht war. Im Gegensatz zu Brod, der ihn offenbar immer wieder auf Buber hinwies, stießen dessen Theorien bei Kafka auf keine positive Resonanz. Buber hält [...] einen Vortrag über den jüdischen Mythus; nun Buber würde mich noch lange nicht aus meinem Zimmer treiben, ich habe ihn schon gehört, er macht auf mich einen öden Eindruck, allem, was er sagt, fehlt etwas,
äußert er im Januar 1913 gegenüber Felice Bauer (KKAB2: Nr. 397). Und über seine Haltung zum Judentum gibt eine ein Jahr später entstandene Tagebuchaufzeichnung Auskunft: „Was habe ich mit den Juden gemeinsam? Ich habe kaum etwas mit mir gemeinsam und sollte mich ganz still, zufrieden damit daß ich atmen kann in einen Winkel stellen“ (KKAT: 622). So verwundert es kaum, dass Kafka sich für den Zionismus nicht zu begeistern vermochte und es aufgrund seiner Haltung zeitweilig zu Phasen einer von beiden Seiten schmerzlich wahrgenommenen Entfremdung zwischen ihm und Brod kam. Während letzterem die Gemeinschaft Basis für alles war, sah sich Kafka durch sein „nichtzionistisches (ich bewundere den Zionismus und ekle mich vor ihm) und nichtgläubiges Judentum von jeder großen tragenden Gemeinschaft ausgeschieden“ (Brief an Grete Bloch, KKAB3, Nr. 751). Und auch was den Beitrag der Juden zur deutschen Kultur anbelangt, den Brod als bedeutsam und bereichernd betrachtete, war Kafkas Ansicht völlig konträr: Vielleicht verderben die Juden Deutschlands Zukunft nicht, aber Deutschlands Gegenwart kann man sich durch sie verdorben denken. Sie haben seit jeher Deutschland Dinge aufgedrängt, zu denen es vielleicht langsam und auf seine Art gekommen wäre, denen gegen-
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über es sich aber in Opposition gestellt hat, weil sie von Fremden kamen. Eine schrecklich unfruchtbare Beschäftigung, der Antisemitismus und was damit zusammenhängt und den verdankt Deutschland den Juden. (BKB: 275)
Was Brods Idealvorstellung vom jüdischen Dichter deutscher Zunge anbelangt, sie stößt bei Kafka auf scharfe Ablehnung. Die deutsche Sprache im Munde von Juden – für Kafka ist das die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat und der fremder Besitz bleibt, auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen werden könnte,
schreibt er 1921 in einem Brief, in dem es zunächst um Karl Kraus und das Mauschel-Deutsch geht. Warum lockt es die Juden so unwiderstehlich dorthin? Die deutsche Literatur hat auch vor dem Freiwerden der Juden gelebt und in großer Herrlichkeit, vor allem war sie, soviel ich sehe, im Durchschnitt niemals etwa weniger mannigfaltig als heute, vielleicht hat sie sogar heute an Mannigfaltigkeit verloren.
Und was die von Brod propagierte Gestaltung jüdischer Themen in deutscher Sprache anbelangt, so bezeichnet Kafka dies als Resultat eines Vaterkomplexes, der nicht den unschuldigen Vater sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende) wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration. Eine Inspiration ehrenwert wie irgendeine andere, aber bei näherem Zusehn doch mit einigen traurigen Besonderheiten. Zunächst konnte das worin sich ihre Verzweiflung entlud nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien. Sie lebten zwischen 3 Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das einfachste sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden) der Unmöglichkeit nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit anders zu schreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben (denn die Verzweiflung war ja nicht etwas durch Schreiben zu Beruhigendes, war ein Feind des Lebens und des Schreibens, das Schreiben war hier nur ein Provisorium, wie für einen der sein Testament schreibt knapp bevor er sich erhängt, ein Provisorium, das ja recht gut ein Leben lang dauern kann) also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß. (Aber es war ja nicht einmal das deutsche Kind, es war nichts, man sagte bloß, es tanze jemand). (BKB: 359f.; Herv. i. O.)
Konträrer könnten Positionen wohl kaum sein. In ihnen spiegeln sich aber die Fronten einer anhaltenden Diskussion innerhalb des Kreises der führenden
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Zionisten. Mit seinem Essay zum Jüdischen Dichter deutscher Zunge hatte Brod an Werner Sombart, Moritz Goldstein und die so genannte Kunstwart-Debatte angeknüpft, in der es um eine ‚Entmischung‘ der deutsch-jüdischen Kultur ging. Brods Gedanke, die westjüdischen Schriftsteller könnten über den Umweg der deutschen Sprache nationale „Einheit fühlen“, die „national empfindenden jüdischen Dichter“, die sich mit dem hebräischen Schrifttum der Bibel und der jiddischen Literatur der Ostjuden vertraut gemacht hätten, könnten in deutscher Sprache zu „großer dichterischer Gestaltung“ fähig sein (Brod 1913: 261), fand nicht nur bei Kafka kritische Resonanz. Auch von jenen, die das Hebräische als jüdische Nationalsprache propagierten, und denen, die sich unermüdlich für die Anerkennung des Jiddischen, des so genannten Jargon, und für die Wiederbelebung der jiddischen Volksliteratur einsetzten, kam Widerspruch. Vor dem Hintergrund des deutsch-assimilierten Prager Westjudentums hatten Brods Überlegungen indes ihre Logik. In einer Stadt, in der die gesprochene Sprache nicht zwangsläufig Rückschluss auf die nationale Zugehörigkeit des Sprechers zuließ, erschien die Idee, jüdische Identität und deutsche Sprache zu verbinden, weniger abwegig als anderswo und auch, als sie uns heute aus der zeitlichen Distanz erscheinen mag. Die Bestimmung der eigenen Position innerhalb der nationalen Gemengelage fiel nicht leicht, zur Beschreibung bedurfte es mehr als eines Begriffs. So bezeichnete sich Kafka als „Jude und überdies deutsch“ (Brief an Robert Klopstock, April 1922); an anderer Stelle schreibt er: „ich habe niemals unter deutschem Volk gelebt, Deutsch ist meine Muttersprache, deshalb mir natürlich“ und fügt hinzu: „aber das tschechische ist mir viel herzlicher“ (Brief an Milena Jesenská-Pollak, um den 18. Mai 1920). Und auch sein Freund Max Brod benötigt im Juli 1918 verschiedene Umschreibungen, um sich selbst zu charakterisieren: Mein besonderer Fall: ich bin Jude, mein politisches Interesse gilt in erster Reihe der allmenschlichen Gemeinschaft, der ich am intensivsten innerhalb meines unverlogenen Volkstums zu dienen glaube, wobei die obere Grenze des Volkes in mir durch menschlichenreligiösen Dienst gegeben ist. In die naturhafte Tiefe der Seele greift das Volk vermutlich unendlich weit hinab. Ich fühle mich nicht als Angehöriger des deutschen Volkes, doch bin ich ein Freund des Deutschtums und außerdem durch Sprache und Erziehung [...] dem Deutschtum kulturverwandt. Ich bin ein Freund des Tschechentums und im Wesentlichen [...] dem Tschechentum kulturfremd. Eine einfachere Formel eines jüdischen Diaspora-Daseins in einer national geteilten Stadt ist mir unmöglich. (Brod 1920: 14f.; Herv. i. O.)
Deutscher – Tscheche – Jude: Dem Ringen der Prager jüdischen Intellektuellen um eine Position innerhalb rivalisierender Volksgruppen hat letztlich die Geschichte einen ebenso grausamen Schlusspunkt gesetzt wie den erbitterten Auseinandersetzungen auf den Prager Gassen.
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Literatur
BKB (1989): Max Brod, Franz Kafka, Eine Freundschaft. Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfur/M.: S. Fischer. Brod, Max (1913): Der jüdische Dichter deutscher Zunge. – In: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Hrsg. vom Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba Prag. Leipzig: Wolff, 261-263. Brod, Max (1916): Unsere Literaten und die Gemeinschaft. – In: Der Jude 1/7, 457-464. Brod, Max (1920): Juden, Deutsche, Tschechen. – In: Ders., Im Kampf um das Judentum. Wien: Löwit, 7-36. Brod, Max (1934): Heinrich Heine. Amsterdam: Allert de Lange. KKAB2 (2001): Franz Kafka, Briefe 1913-1914. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Kritische Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer. KKAB3 (2005): Franz Kafka, Briefe 1914-1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Kritische Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer. KKAT (1990): Franz Kafka, Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller u. Malcolm Pasley. Kritische Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer. Pazi, Margerita (1970): Max Brod. Werk und Persönlichkeit. Bonn: Bouvier.
Barbora Šrámková
Max Brod und die tschechische Kultur 1909-1939
Die tschechische Kultur hat Max Brod viel zu verdanken. Dieses Thema an sich ist kein Neuland. Die Assoziationen, die sich diesbezüglich mit seinem Namen ergeben, sind unweigerlich: Leoš Janáček und Jaroslav Hašek. Es kann nur darüber spekuliert werden, ob und wann diese Künstler und ihre Werke auch ohne das Zutun Brods jene Berühmtheit erreicht hätten, die sie seit Jahrzehnten genießen. Es bestehen keine Zweifel daran, dass sich Janáčeks originelle, geniale Musik auch ohne Brod durchgesetzt hätte, aber möglicherweise hätte das Janáček nicht mehr erlebt, und hätte das Los unzähliger Künstler geteilt, deren Genie erst postum entdeckt und anerkannt wurde. Dass Janáček im letzten Jahrzehnt seines Lebens noch die Früchte seiner Arbeit ernten konnte, dass ihm so viel Anerkennung und Ehre zuteil wurde und dass er aus diesem Aufschwung Inspiration für seine späten Meisterwerke schöpfen konnte, daran hatte sein Freund und Förderer Max Brod einen großen Anteil. „Er kam zur rechten Zeit wie ein Bote vom Himmel“ – sagte Janáček über Brod. Das gleiche hätte auch Jaroslav Hašek sagen können, denn Brods entschiedene Verteidigung des Braven Soldaten Schwejk gegen die offizielle Meinung der tschechischen Kritik stand zweifellos am Anfang des Siegeszuges Schwejks über die Verlage, die Bühnen und Leinwände im In- und Ausland. Und dennoch wäre es falsch, wenn Brods Verhältnis zur tschechischen Kultur und seine Verdienste um sie nur auf diese zwei Namen beschränkt bliebe. Ohne Übertreibung kann man Max Brod als den wichtigsten ‚Vermittler‘ zwischen den Deutschen und den Tschechen in Prag vor und nach dem ersten Weltkrieg bis zum verhängnisvollen Jahr 1939 bezeichnen. Diese Sonderstellung ist seinen vielseitigen Talenten und Interessen zu verdanken: Er pflegte Kontakte nicht nur mit Dichtern, wie es viele seiner Freunde und Kollegen taten, z. B. Otto Pick, Rudolf Fuchs oder Ottokar Winicky, um auch einen weniger bekannten Prager deutschen Dichter und Übersetzer zu nennen,1 son1 Ottokar Winicky (1872-1943) war in den Jahren 1892-1932 ein hoher Postbeamter – auch das verbindet ihn mit Max Brod. Winickys literarischer Nachlass blieb zum großen Teil unveröffentlicht. Seine Korrespondenz und seine Übersetzungen aus dem Tschechischen haben Bezug vor allem zur tschechischen Moderne (S. K. Neumann, Antonín Sova, J. S. Machar u. a.).
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dern auch mit Musikern, Kritikern, Theaterleuten und bildenden Künstlern. Aus dem Bestreben, die Kunst des Nachbarvolkes näher kennen zu lernen und ihre besten Werte den Deutschen zu vermitteln, knüpfte er gleich am Anfang seiner professionellen Laufbahn zahlreiche Kontakte, die ihn in die Kreise der tschechischen Künstler führten. So lernte Brod die Dichter, Künstler und Kritiker aus dem Umfeld der Zeitschrift Moderní revue kennen, die besonders in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg das literarische Geschehen Prags mit neuen, kosmopolitischen Ideen bereicherte und zum „Inbegriff der tschechischen Moderne“ wurde (Nekula 2004: 244). Marek Nekula beschäftigte sich in einer anderen Studie mit dem Thema „Franz Kafka und die Zeitschrift Moderní revue“ (Nekula 1999: 153-166). Er stützte sich darin auf die Korrespondenz zwischen Kafka und Brod, in der die Schauspielerin Sibyl Smolová erwähnt wird, die zum Umfeld der Moderní revue gehörte, wie auch auf unterstützendes Material des Literaturhistorikers Lumír Kuchař. Es herrscht aber bisher eine gewisse Unklarheit in Bezug auf die direkten Kontakte Kafkas bzw. Brods zu den Autoren der Moderní revue. Der tschechische Literaturhistoriker Hugo Siebenschein war der erste, der auf die Tatsache hingewiesen hat, dass „Kafka und seine Freunde zu Arnošt Procházka und den Dichtern der Moderní revue herzlichen Kontakt pflegten.“ (Siebenschein 1947: 22) Siebenschein hat aber diese Behauptung nicht mit ergänzenden Informationen begründet und spätere Forscher standen dieser These etwas reserviert gegenüber. Es gibt jedoch einige bisher nicht beachtete Dokumente, die Kontakte – wenn nicht direkt von Kafka – doch wenigstens von Max Brod zu dieser Gruppierung belegen. Die Dokumente, auf die ich hinweisen möchte, sind Briefe, die Max Brod an Adressaten aus dem Umfeld der Moderní revue richtete. Diese Korrespondenz befindet sich verstreut in diversen Nachlässen des Prager Literaturarchivs, sie wurde aber bisher von der Kafka/Brod-Forschung nicht ausgewertet. Von größtem Wert ist ein Brief Brods an Arnošt Procházka, den Mitbegründer und Redakteur der Moderní revue, der vorzüglich Brods Haltung gegenüber der jüngeren tschechischen Autorengeneration dokumentiert: Prag, 12.12.19072 Sehr geehrter Herr Redakteur, Schon seit langer Zeit verfolge ich und bewundere Ihre ausgezeichnete ‚Moderní revue‘, die für mich den Höhepunkt der tschechischen Kultur bedeutet. […] Ich fühle mich Ihren Ansichten und Intentionen nahe verwandt. Vielleicht kennen Sie meine Novelle ‚Das tschechische Dienstmädchen‘, die kürzlich in der Zeitschrift ‚Die Opale‘ (Herausgeber Franz Blei, München) erschienen ist und in der ich meiner Sympathie für das 2 Max Brod an Arnošt Procházka. Archiv im Denkmal des nationalen Schrifttums (= LA PNP). Akte Arnošt Procházka.
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Slawentum Ausdruck gebe. […] Von den freundschaftlichen Gefühlen geleitet sende ich Ihnen heute mein neues Buch ‚Der Weg des Verliebten‘ und würde mich freuen, wenn ich damit Ihnen eine Freude bereitet hätte. Zugleich möchte ich Sie bitten, mir die Adresse Ihrer ausgezeichneten Zeichnerin Zdenka Braunerová mitzuteilen. – Franz Blei interessiert sich für sie und will ihr beim Insel-Verlag oder sonst in Deutschland nützen… Ich selbst werde, sobald ich nur halbwegs die eigenen Arbeiten besorgt habe, tschechische Dichter übersetzen, z.B. Jiří Karásek ze Lwovic, Miloš Marten, Fráňa Šrámek und andere, die ich hochschätze, und werde mich bemühen, für sie in Deutschland zu wirken. Ich glaube, daß die jungen Generationen der beiden Völker einander verstehen werden! Schließlich erlaube ich mir noch, Sie mittels beigefügter Karte zu meiner Vorlesung über den französischen Lyriker Jules Laforgue höflichst einzuladen und es würde mich freuen, Sie bei dieser Gelegenheit persönlich kennenzulernen. (15. Dezember) Ihr ergebener Max Brod Entschuldigen Sie, daß ich deutsch schreibe. Leider beherrsche ich das Tschechische noch nicht so gut, um mich schön auszudrücken.
Dieser Brief liefert also eine Erklärung, wie die Kontakte Brods zu Arnošt Procházka zustande kamen; gleichzeitig dokumentiert er auch seine schon früh gereifte Überzeugung von der Notwendigkeit der Vermittlung zwischen den beiden Kulturen, und seine begeisterte Bereitschaft dafür. Brod hat dieses Vorhaben im Laufe seines langen Lebens vollauf erfüllt, auch wenn sich diese Tätigkeit in konkreten Zügen später anders gestaltete als in diesem Brief angedeutet. Die Vermittlung verlief auf zwei Ebenen, wobei die erste – die Ebene der Übersetzung – allmählich hinter die Ebene der ‚Aufklärung‘ zurücktrat. Im Jahr 1907 konnte Brod noch nicht ahnen, dass sein wichtigster Nachlass in erster Linie die Übertragungen der tschechischen Opernlibretti sein wird, insbesondere der Opern von Leoš Janáček. Das in dem Brief an Procházka erwähnte Vorhaben, die Werke der genannten tschechischen Dichter zu übersetzen, ist größtenteils, wenn auch nicht ganz, unerfüllt geblieben und die Vermutung liegt nahe, dass es eher einem jugendlichen Enthusiasmus entsprungen war, als dass es sich um einen ernsthaften Entschluss gehandelt hätte. Neben den musikalischen Texten und den in Vergessenheit geratenen Dramen Der Volkskönig von Arnošt Dvořák (1881-1933) und Glorius der Wunderkomödiant von Vilém Werner (1892-1966) – beide gehörten jedoch ihrerzeit zu den erfolgreichsten tschechischen Dramatikern – gibt es nur noch bruchstückhafte Hinweise auf Brodsche Übersetzungen tschechischer Literatur; an dieser Stelle seien zwei davon erwähnt. Das erste Beispiel ist ebenfalls nur eine geplante Übersetzung, die höchstwahrscheinlich über eine Vorbereitungsphase hinaus nicht realisiert wurde.
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Aus der Korrespondenz mit dem Schriftsteller Karel Josef Beneš (1896-1969) geht hervor, dass Brod beabsichtigte, einen seiner Romane zu übersetzen: 28.8.19253 Lieber Herr Dr, bin eben von meinem Urlaub zurück. Natürlich viel Arbeit! Doch halte ich selbstverständlich an meinem Versprechen fest. Ich glaube, Mitte Oktober mit der Übersetzung Ihres Don Juan beginnen zu können. [...] Bitte, sich um diese Zeit an mich zu wenden. 4.9.19284 Lieber Herr Beneš! Besten Dank für Ihren liebenswürdigen Brief und die Zusendung Ihres Buches. Ich bin jetzt selbst in heißer Arbeit, freue mich aber, nach Abschluß meines Romans mich mit dem Ihren befassen zu können.
Es ist wahrscheinlich, dass beide Anspielungen dasselbe Werk betreffen, nämlich den Roman Nesmrtelní se setkávají [Die Unsterblichen begegnen sich], der 1928 erschienen ist; es ist allerdings denkbar, dass Beneš schon vorher an eine deutsche Übersetzung dachte. Beneš, der sich einen Namen als Autor von Familien- und Gesellschaftsromanen machte, griff in diesem Buch zum alten Motiv des Konflikts zwischen der Seele und der Materie und verwendete dabei die symbolischen Gestalten Don Juan und Faust, und zwar in einer modernen, fast grotesken Verarbeitung der beiden Stoffe. Brods Versprechen, dieses Werk zu übersetzen, ist sehr bemerkenswert, weil er sich, jedenfalls nach bisherigen Erkenntnissen, kaum mit Übersetzungen tschechischer Prosa beschäftigte. Das zweite Beispiel ist ebenfalls ein interessantes Kuriosum, es handelt sich nämlich um eine frühe Übersetzung aus Hašeks Roman vom Braven Soldaten Švejk. Unter Brods Namen wurde im Prager Abendblatt (wo Brod zu dieser Zeit als Redakteur tätig war) ein Auszug aus diesem Werk veröffentlicht (Hašek 1923: 8-9). Ob Brod die Absicht hatte, das ganze Werk zu übersetzen, ist unklar bzw. eher unwahrscheinlich. Der in Sachen „Franz Kafka“ nicht sehr zuverlässige Zeuge, der Anarchist, Schriftsteller und Redakteur Michal Mareš, beschrieb in seinen Memoiren, wie die deutsche Übersetzung des Švejk zustande kam – und in diesem Punkt scheint seinen Ausführungen nichts zu widersprechen. Nach Mareš wandte sich eines Tages der Verleger Synek, der durch den guten Absatz der tschechischen Buchausgabe zu einer deutschen Auflage angeregt wurde, an das „Trio patentierter Übersetzer – die Dichter 3 LA PNP. Akte K.J. Beneš. 4 LA PNP. Akte K.J. Beneš.
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Pick und Fuchs und den schon weltberühmten Autor Max Brod.“ (Mareš 1999: 96ff.)5 Brod soll sich mit anderen Aufgaben herausgeredet haben und Pick und Fuchs rümpften die Nase über den „Duft der Olmützer Quärgel“ wie Mareš metonymisch den Bierhumor Hašeks beschreibt. (Die Vermittlung der Übersetzung an Grete Reiner war nach Mareš eher ein Zufall, da sie fast täglich im Café Edison saß, wo der Verleger Synek Mareš aufsuchte und ihn um Hilfe bat; die „sympatische Jüdin“ Reiner übersetzte Mareš’ Feuilletons und er vermittelte die Švejk-Übersetzung an sie.) Der Brief an Procházka von 1907 ist sehr wertvoll, da er die bisher einzige direkte Verbindung zwischen Brod und dem Kreis von Procházka belegt. Über weitere Kontakte zu Procházka bzw. zu den anderen Autoren aus dem Umfeld der Moderní reuve gibt es nur wenige Anhaltspunkte, zu denen man auch den Austausch im Briefwechsel Kafka/Brod (1989: 73) über Sibyl Smolová zählen kann (Kafka an Brod, 10.3.1910).6 Im Frühjahr 1910 kam es aber zu einem Zerwürfnis mit diesem Kreis, wie ein undatierter Brief zeigt, den Brod vermutlich an Procházka richtete. Die Ursache dieses Konfliktes war eine Rezension von Brods Novelle Die Erziehung zur Hetäre, die der Kritiker Kamil Fiala (1880-1930) in der Moderní revue (1910: 227) publizierte. Der Brief ist ein authentisches Beispiel für Brods polemischen Geist, zu dem er sich in seiner Autobiographie so stolz bekennt und soll hier deshalb auch zitiert werden: P.T.7 Verzeihen Sie – vielmehr vergessen Sie, daß ich bei dem Karásek-Abend Sie angesprochen habe. Damals hatte ich das Jänner-Heft Ihrer ‚Moderní revue‘ noch nicht gesehen. Erst gestern wurde es mir gezeigt und die dünkelhafte Kritik darin über mein letztes Buch. – Etwas so Lächerliches habe ich schon lange nicht gelesen. Ihr Phantast von Kritiker wagt es, ein Buch, das ich in jedem Worte siebzigmal durchgepflügt habe, der ‚stilistischen Flüchtigkeit‘ zu ziehn. Ein Buch, an dem ich mehrere Jahre gearbeitet habe, – das den Beifall von Kennern wie Franz Blei, Felix Poppenberg u.s.f. gefunden hat. – Als ob sich nicht beinahe statistischer Methode nachweisen ließe, daß gewisse Wendungen und Bilder und Worte darin überhaupt zum erstenmal in der deutschen Schriftsprache erscheinen, – entblödet er sich nicht, es gänzlich ‚unoriginell‘ zu finden. 5 Rückübersetzung aus dem Tschechischen B. Š. Das deutsche Original des Manuskripts ist nicht zugänglich. 6 Nekula korrigiert die Datierung von Pasley, da Kafka aus einem Artikel in der Zeitung Čas vom 15.3.1910 zitiert – der Brief konnte also frühestens an diesem Tag geschrieben worden sein. Brod kommentiert in seiner Ausgabe der Briefe Franz Kafkas, dass er und Kafka die junge Schauspielerin für außerodentlich talentiert hielten. 7 LA PNP. Akte Arnošt Procházka.
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– Doch genug von diesem Schwätzer, der seine literarische Feinfühligkeit noch überdies beweist, indem er meine Novelle, die Psychologie der Bürgerkreise bringt, von einem Buch der Boheme ableitet. Der den Naturmenschen Hamsun mit dem (nach allgemeinen Ansicht charakteristischen) Intellektualismus meiner Person in Verbindung setzt. – Ist dies die Gewissenhaftigkeit, mit der Sie über die Produkte Ihres eigenen Volkes kritisch wachen, dann ist dieses Volk, das ich so liebe, besserer Führer würdig und bedürftig! Natürlich wünsche ich mit Ihnen keine weitere Verbindung. Mit dem Ausdruck der Entrüstung Max Brod
Die fehlende Datierung des Briefes kann durch die Anspielung auf den Karásek-Abend näher eingeschränkt werden (15.2.1910) – also Ende Februar 1910. Auch wenn dieses Zerwürfnis wahrscheinlich das Ende näherer Kontakte mit diesem Kreis herbeiführte, blieben viele freundschaftliche Beziehungen – wie die mit Fráňa Šrámek oder Arnošt Dvořák – bestehen und Max Brod setzte sich mit seinen persönlichen Beziehungen und später in seiner Position als Kritiker des Prager Abendblatts und Prager Tagblatts für ihre Werke ein. Auf diese beiden Autoren möchte ich, stellvertretend für viele andere Kontakte, die Max Brod mit tschechischen Literaten pflegte (wie z. B. mit Otakar Theer, Otokar Fischer, František Götz oder Jiří Mahen), etwas näher eingehen. Fráňa Šrámek (1877-1952) gehörte zu den tschechischen Dichtern, die Brod am meisten schätzte. Und es gibt kaum einen anderen tschechischen Autor, über dessen Werk und Persönlichkeit Brod in seinen Rezensionen mit einer solchen emotionalen Hingabe geschrieben hat – mit der großen Ausnahme von Leoš Janáček. Die Bekanntschaft mit Šrámek wurde wahrscheinlich in einem Prager Kaffeehaus geknüpft. Möglicherweise war es in dem Weinberger Lokal Demínka, das Šrámek am häufigsten besuchte, und das der Stammsitz der anarchistisch orientierten Künstler war (Jaroslav Hašek und František Langer waren dort auch oft zu Gast). Das Demínka liegt in der Nähe des Nationalmuseums und um die Ecke befand sich auch die Wohnung von Hugo Salus, den Max Brod manchmal besuchte.8 Dass Brod sehr gut das Demínka kannte, dafür spricht sein Roman Zauberreich der Liebe, in dem das Demínka ein wichtiger Schauplatz des Geschehens ist. Brod kannte Šrámek jedoch nicht nur aus Kaffeehäusern, er besuchte ihn auch zu Hause, wie die bekannten Tagebucheintragungen Franz Kafkas suggerieren: „Bei Fr. mit Max“ (Kafka 1990: 916) und „Gestern Frána“ 8 „Waren Gäste der Concordia in Prag, so wurde ich wohl auch öfters zu Tisch in die Heinrichsgasse, später in die Wohnung am Čelakovskyplatz beim Museum gebeten.“ (Brod 1969: 138)
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(Kafka 1990: 923), die von Kafka-Forschern als Hinweise auf einen Kontakt Kafkas und Brods zu Fráňa Šrámek ausgelegt werden, dem nichts zu widersprechen scheint (Nekula 2003: 227). Der Kontakt kam möglicherweise auch durch Otto Pick zustande, der mit Šrámek spätestens seit Herbst 1908 in Verbindung stand.9 Hochinteressante Hinweise über Brods Kontakte mit tschechischen Künstlern, darunter auch mit Fráňa Šrámek, finden sich in dem bisher unveröffentlichten Tagebuch Max Brods, aus dem Margarita Pazi zitiert. Laut Pazi (1987: 74ff.) „schildert Brod am 11.10.1909 einen Abend bei Goldschmidt und vermerkt: ‚Šrámek sitzt neben mir, erzählt Pläne seiner Dramen.‘“ Die Verknüpfung dieser beiden Ereignisse halte ich allerdings für irreführend. Die beiden aufeinander folgenden Eintragungen müssen nicht miteinander zusammenhängen, es ist sogar wahrscheinlicher, dass die Begegnung mit Šrámek an einem anderen Ort als in dem berühmtberüchtigten Etablissement Goldschmidt stattfand. Weitere Anlässe zu Begegnungen waren z. B. literarische Abende, an denen Werke deutscher und tschechischer Autoren vorgetragen wurden. Ein solcher Abend fand am 20. März 1920 im Saal des Mozarteum10 statt, organisiert von Otto Pick. Es wurden Texte von Max Brod, Otto Pick, Oskar Baum, Johannes Urzidil und Fráňa Šrámek gelesen. Auch wenn keine Hinweise über die Anwesenheit der Autoren vorliegen, dokumentieren solche und ähnliche Veranstaltungen, dass Kontakte zwischen den deutschen und tschechischen Literaten geknüpft und gepflegt wurden, und gemeinsame Veranstaltungen, wenn sie auch nicht auf der Tagesordnung standen, keine Ausnahmeerscheinung darstellten (Nekula 2003: 227).11 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg publizierte Šrámek Übersetzungen von einigen Prager deutschen Dichtern, darunter Franz Werfel (1913 veröffentlichte Šrámek die erste tschechische Werfel-Übersetzung), Otto Pick und auch Max Brod (Kosatík 2001: 162). Im Prager Literaturarchiv befindet sich Šrámeks Autograph mit einer Übersetzung von Brods Gedicht Ferien aus Brods Gedichtband Tagebuch in Versen (Brod 1910: 36f.). Die Wahl dieses Gedichtes überrascht kaum, da es im Ton der Apostrophierung einer fernen Geliebten Šrámeks eigener Lyrik nahe steht. Ob diese Übersetzung auch im Druck erschien, konnte jedoch nicht ermittelt werden. Ein Ausdruck von Brods Sympathie und Bewunderung für Fráňa Šrámek ist ein ihm gewidmetes Gedicht, das 9 Im LA PNP werden Briefe von Pick an Šrámek aufbewahrt. Im Brief vom 2.10.1908 erwähnt Pick, Šrámeks Erzählung Spisovatel [Der Schrifsteller] übersetzt zu haben. 10 Ein von Jan Kotěra für den Musikverleger Mojmír Urbánek entworfenes Gebäude in der Jungmannstraße. 11 Weitere literarische Abende fanden am 29. März 1920 und am 28. Mai 1920 statt.
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Brod an den Schriftsteller und Literaturhistoriker Josef Knap (1900-1973) als Beilage zu einem Brief vom 26. Oktober 1926 sandte: Max Brod Prag, Břehová 812 26.10.1926 Sehr geehrter Herr! Anbei sende ich Ihnen das Gedicht ‚Herbstlied‘, Fraňa Šramek gewidmet. Die Kritik über ‚Cesty a vůdcové‘ ist bereits vor kurzem im Prager Tagblatt erschienen.13 ‚Hilbert‘ werde ich baldigst lesen. Mit bestem Dank und Gruß, Ihr ergebener Max Brod
Josef Knap war Herausgeber einer Festschrift für Fráňa Šrámek, die auch ein Gedicht Max Brods enthält. Das Gedicht heißt allerdings nicht Herbstlied sondern Landschaft.14 Die Frage, ob es sich um zwei unterschiedliche Gedichte handelt oder ob das Gedicht nur umbenannt wurde, bleibt offen; das beigelegte Gedicht ist leider nicht erhalten. Die zweite Variante ist jedoch wahrscheinlicher, da das veröffentlichte Gedicht die Herbstthematik behandelt: Landschaft Dem Dichter Fráňa Šrámek in Verehrung gewidmet (Knap 1927: 63). Wolken wie Berge – Berge, die man träumt, Nicht körperfest, nur goldbehaucht, So sanft und schwanenweiß gesäumt Vom Nebel, der im Walde raucht. Im guten Rauch das Sonnenlicht Fließt über, füllt den Himmel lang, Zu Scheibenrund umzirkt es nicht Den milden Strahlenüberschwang. 12 LA PNP. Akte Josef Knap. 13 Am 9.10.1926 erschien in der Wochenbeilage Das gute Buch des Prager Tagblatts eine kurze Rezension über Knaps Buch Cesty a vůdcové [Wege und Führer], in dem „der junge tschechische Kritiker [...] seinem Prinzip Ausdruck [gab], daß die moderne tschechische Literatur nicht ausschließlich auf Paris, sondern auch in Hinblick auf die großen Literaturen des Ostens und Nordens (Deutschland, Skandinavien, Rußland) sich zu orientieren habe. 14 Die Zusendung des Herbstlieds im Oktober 1926 hing wahrscheinlich mit der vorbereiteten Festschrift zusammen. Da Šrámeks Geburtstag auf den 17. Januar war, ist die Festschrift mit Sicherheit schon zu Beginn des Jahres 1927 erschienen. In der viel späteren Gedichtsammlung Brods ‚Gesang einer Giftschlange‘ (1966), die jedoch auch frühe Verse Brods enthält, erschien ein kurzes Gedicht mit dem Titel Herbstlied. Ob es das ursprüngliche, in dem Brief an Knap erwähnte Gedicht ist, oder ein anderes, kann nicht eindeutig beantwortet werden.
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Erst Abends war die Kugel klar, Trat fest aus ihrer Wolken Schein. Da sah man, daß auch sie müd war In des Herbst‘s glorreichem Müdesein.
Im Unterschied zu Fráňa Šrámek ist der Name Arnošt Dvořák heutzutage nur den Theaterwissenschaftlern ein Begriff. Dvořák war als Militärarzt und Dramatiker tätig (diese Doppelkarriere verbindet ihn mit František Langer) und in seinem dramatischen Schaffen widmete er sich vor allem dem historischen Drama. Auf diesem Gebiet gehörte er zu den erfolgreichsten Autoren seiner Generation und Max Brod gehörte zu den ersten, die sein Talent erkannten. Die Inszenierung des Dramas Král Václav IV. [König Wenzel IV.] im tschechischen Nationaltheater unter der Regie von Jaroslav Kvapil inspirierte Brod zu seinem ersten umfassenden Bericht über das tschechische Drama (Brod 1911: 350ff.).15 Brod sparte nicht mit Lob für den Autor und den Regisseur (Jaroslav Kvapil), die den komplexen historischen Stoff, der die böhmische Geschichte zwischen 1394-1419 umfasste, bühnengerecht aufbereiteten; er scheute auch nicht einen Vergleich mit den historischen Dramen Shakespeares: „In der Hauptfigur des Wenzel hat Dvořák eine so scharf individualisierte königliche Gestalt geschaffen, daß ich sie dicht neben Shakespeares Könige stelle.“ Dvořáks Drama hat stark patriotische Züge, für die Brod großes Verständnis zeigte, und er gab auch zu, dass die ihm vertraute Prager Topographie, die „Orte und Gassen der geliebten Heimat“ (z. B. das Gasthaus zum grünen Frosch oder der Teinhof) zu seiner „Rührung über dieses Stück“ wesentlich beitrugen. König Wenzel IV. war ein großer Publikumserfolg und wurde im Januar 1914 wieder ins Repertoire des Nationaltheaters aufgenommen, in einer vom Autor bearbeiteten Fassung. Max Brod beschäftigte sich intensiv mit dem Stück und fertigte auch eine deutsche Übersetzung an. Vor der erneuten Premiere im Nationaltheater schrieb Brod an Paul Kisch, der zu dieser Zeit Redakteur der Bohemia war, und machte ihn auf das Stück, an dessen Bearbeitung er selbst mitbeteiligt war, aufmerksam und legte ihm auch seine Übersetzung ans Herz. Lieber Herr Dr. Kisch, Am 13. Jänner wird im tschechischen Nationaltheater das Stück ‚Wenzel IV‘ in gänzlich umgearbeiteter Fassung wieder ins Repertoire aufgenommen. Ich habe an dieser Umarbeitung Anteil genommen und sie dahin gelenkt, daß das Chauvinistische durch jenen edleren Nationalismus ersetzt wurde, der in der eigenen Nation ein ‚Volk Gottes‘ sieht, das zur Erlösung der ganzen Menschheit berufen ist. Die Tschechen scheinen ja wirklich zur Zeit der Hussiten diese große Idee […] und damit ihre große Zeit gehabt zu haben. In dieser Fassung habe ich das Stück für die deutsche 15 Die Premiere fand am 2.2.1911 im tschechischen Nationaltheater statt.
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Bühne bearbeitet und sende Ihnen zugleich ein Korrektur-Exemplar, da leider das Buch nicht fertig geworden ist. Es wäre mir sehr wertvoll, wenn Sie dieser [Aufführung] beiwohnten […] und [dem Berliner Blatt], für das Sie korrespondieren, einen Bericht schickten. Natürlich würde es mich am meisten freuen, wenn Sie meiner Ansicht, daß es sich hier um ein Stück von nationaler Eigenart, aber auch allgemein menschlicher, welthistorischer Bedeutung und von großem Interesse auch für ein deutsches Publikum handelt, beipflichten könnten.16
Dieser Brief macht sehr deutlich, wie geschickt Brod seine Angelegenheiten lenkte, und wie er sich um die notwendige Publizität für seine Werke bemühte (gleichermaßen ob es sich um Bearbeitungen oder um seine eigenständigen Werke handelte), die er gewandt in Kontext aktueller Ideen und Idealen setzte. Auf dem Theater-Plakat ist aber Brods Name nicht aufgeführt.17 Da Brod immer großen Wert darauf legte, als Bearbeiter oder Mitautor genannt zu werden, können wir davon ausgehen, dass sein Anteil eher den Charakter von Ratschlägen im Rahmen der Gespräche mit dem Autor hatte, als dass Brod offiziell an der Bearbeitung beteiligt gewesen wäre. Es liegen leider nur wenige Anhaltspunkte für seine private Beziehung zu Arnošt Dvořák vor. Anhand des Hinweises auf die Zusammenarbeit mit Dvořák können wir aber auf eine freundschaftliche Bekanntschaft schließen, wie es auch Brods Briefe an den Verleger Kurt Wolff belegen (Zeller/Otten 1966: 175-185). Dvořáks Drama wurde in Brods Übersetzung im Kurt Wolff Verlag unter dem Titel Der Volkskönig publiziert (1914). In einem Brief, der zu Beginn des ersten Weltkrieges geschrieben wurde und über die überreizte Atmosphäre Auskunft gibt, versucht Brod auch Unterstützung für Dvořák zu gewinnen: Die Aufregung hier ist beispiellos. Ganz Prag ist unter die Waffen berufen: mein Bruder dabei, zwei Schwäger, die besten Freunde! Sie können sich diesen Jammer nicht vorstellen. An Essen und Schlafen denken wir seit 3 Tagen nicht. Mit Dr. Dvořák sprach ich flüchtig, er geht in ca. 4 Tagen auf den Kriegsschauplatz. Haben Sie nicht Anlaß, ihm ‚noch‘ etwas Angenehmes zu schreiben, außer Ihrem Brief. ‚Erfinden‘ Sie etwas! Es wäre mir ungeheuer wichtig, daß Sie ihm ein paar erfreuliche Worte schreiben. (Hervorhebung M. B.) (Brief Brods an Wolff vom 28.7.1914, 177)
16 LA PNP. Akte E. E. Kisch. Der Brief ist undatiert. Die erneuerte Inszenierung des Dramas in der Regie von František Zavřel (1879-1915) wurde am 13.1.1914 aufgeführt. Zavřel, der seit 1905 an deutschen Bühnen in München und Berlin wirkte und am Prager Nationaltheater gastierte, gilt als ein bedeutender Regisseur und Dramaturg des frühen Expressionismus. Er sollte nicht mit dem Dramatiker František Zavřel (1885-1947) verwechselt werden, über dessen Dramen Das Raubtier [Dravec] und Christus [Kristus] Brod im Prager Abendblatt, bzw. Prager Tagblatt schrieb. 17 Im Programm-Archiv der Theaterabteilung des Prager Nationalmuseums.
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Eine deutsche Aufführung des Volkskönigs sollte am Berliner Künstlertheater realisiert werden, unter der Regie Zavřels. Sein plötzlicher Tod im März 1915 hat dieses Vorhaben verhindert (Jähnichen 1972: 318-330). In die tschechischen Theaterkreise wurde Brod spätestens im Jahr 1909 eingeführt, wie aus Brods Tagebucheintragungen hervorgeht. Er pflegte Kontakt mit dem Regisseur und Dramaturg Jaroslav Kvapil, über dessen Inszenierung von Schillers Wallenstein am Prager Nationaltheater er in der Berliner Schaubühne berichtete (Brod 1909: 661).18 Brod machte sich bald einen Namen als kundiger und scharfsinniger Beobachter des tschechischen Theaterlebens und seine Rezensionen sowohl über die Novitäten als auch über die Klassiker bilden eine bedeutende kulturhistorische Quelle, von der die durch die Sammelbände Über die Schönheit häßlicher Bilder und Prager Sternenhimmel bekannt gewordenen Texte nur ein winziger Bruchteil sind. Insgesamt veröffentlichte Brod im Prager Abendblatt und im Prager Tagblatt über eintausend Artikel, vorwiegend über kulturelle Ereignisse des deutschen und tschechischen Prags (auf Ausgewogenheit wurde geachtet, ein Brief an den Redakteur der Prager Presse Arne Laurin ist ein Beleg dafür); dazu kamen auch zahlreiche Beiträge zu politischen und sozialen Themen. Die meisten seiner Artikel waren von vornherein „stilistisch wie prinzipiell als über den Tag wirkend gedacht“, wie Brod dem Chefredakteur der Prager Presse Arne Laurin mitteilte: 28.11. [1921] 19 Lieber Herr Laurin, Sie erzählten mir öfters von dem Buchverlag, den Sie planen. [...] Da ist mir folgendes [in den Sinn] gekommen: Seit ca. ¾ Jahren schreibe ich fast täglich Theaterkritiken für das ‚Prager Abendblatt‘ u.zw. über Oper, Schauspiel, Operette, deutsche wie tschechische Aufführungen. Viele dieser Kritiken sind stilistisch wie prinzipiell als über den Tag wirkend gedacht. – Ich schlage Ihnen vor, eine Auswahl dieser Kritiken unter dem Titel ‚Theater in Prag‘ [herauszugeben]. – Da jedes Buch von mir in Deutschland sein Publikum findet, wäre auf diese Art eine gute Propaganda theatralischer Kunstwerke z.B. von Janáček, Čapek, Mahen u.a. geleistet; natürlich würden dabei die Leistungen der deutschen Prager Künstler als gleichberechtigt behandelt, was den guten Eindruck [...] noch steigern würde. In vorzüglicher Hochachtung Ihr ergebener Max Brod.
Aus dieser Idee wurde zwei Jahre später die Sammlung Prager Sternenhimmel, die u. a. die Rezensionen von Werken Karel Čapeks, Fráňa Šrámeks, Alo18 Auch dieser Text erschien später in der Sammlung Über die Schönheit häßlicher Bilder. 19 LA PNP. Fond Max Brod.
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is Jiráseks und Jiří Mahens umfasst. Einen Schwerpunkt des Buches bilden die Texte über Leoš Janáček – teilweise Rezensionen, teilweise neu hinzugefügte Aufsätze – zusammengefasst unter dem Titel Zur Erkenntnis von Leoš Janáček. Im Kontext des tschechischen Dramas sind von besonderem Wert Brods Bewertungen der Stücke der Brüder Čapek (In Prager Sternenhimmel ist allerdings nur die Kritik über R.U.R. eingegangen.). Bis auf das gemeinsame Erstlingswerk der Čapek-Brüder Lásky hra osudná [Der Liebe schicksalhaftes Spiel (1910), 1920 im Mozarteum in einer studentischen Aufführung zum ersten Mal auf die Bühne gebracht] rezensierte Brod alle Dramen aus der Čapek-Werkstatt, auch die weniger erfolgreichen Dramen von Josef Čapek: Země mnoha jmen (1923) [Das Land der vielen Namen, in Otto Picks Übersetzung: Das Land Vielnam] und das Musikmärchen Tlustý pradědeček, lupiči a detektivové (1932) [Der dicke Urgroßvater, die Banditen und die Detektive], an dem Brod aber viel mehr die Musik Jaroslav Křičkas schätzte. Brod nahm in seinen Referaten auch immer wieder Bezug auf ihre Prosawerke, vorwiegend Karels. Auf diese Art entstand ein Kompendium zum Gesamtwerk Karel Čapeks, das, obwohl fast zeitgleich mit den Werken selber, doch eine gesunde Distanz aufweist, die vielen zeitgenössischen tschechischen Kritikern, die oft gegenüber Čapek aus politischen Gründen voreingenommen waren, fehlte. Brods kritische Ansichten zum Werk Karel Čapeks bestechen durch ihre einfühlsame Analyse und die meisterhafte Art, auf knappem Raum das Wesen von Čapeks Werk zu erfassen. Die bohemistische Literaturwissenschaft hat bisher von diesem Schatz kaum Gebrauch gemacht. Mit ähnlicher Konsequenz widmete sich Brod auch dem dramatischen Œuvre František Langers, der zusammen mit Čapek das tschechische Drama der Zwischenkriegszeit im Ausland bekannt machte. Ganz kurz sei noch auf Šrámek als Dramatiker einggangen. Šrámeks Dramenproduktion ist quantitativ mit der František Langers vergleichbar (beide sind Autoren von acht bzw. neun Dramen), trotzdem ist Šrámek schon zu seiner Zeit nicht so sehr als Dramatiker, sondern als Dichter und Prosaautor wahrgenommen worden. Brod rezensierte zwei seiner Dramen, wobei sein Urteil dem der tschechischen Kritik und auch dem Publikumserfolg entgegengesetzt war. Er schrieb eine begeisterte Kritik des Antikriegsdramas Zvony [Glocken] über die Requisition der Kirchenglocken in einem Dorf. Das Stück wurde aber nach sieben Reprisen abgesetzt. Die Glocken wurden dann – mindestens in Prag – 85 Jahre lang nicht gespielt – bis im Juni 2006 eine „Entdeckungsinszenierung“ im Nationaltheater stattfand, die von der Kritik viel freundlicher aufgenommen wurde als die Uraufführung – also eine kleine Genugtuung für Max Brod, der damals mit seinem Lob allein stand. Anders war es mit dem bekanntesten
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Dramas Šrámeks – Měsíc nad řekou [Der Mond über dem Fluß]. Selten hat Brod eine so negative Kritik geschrieben wie in diesem Fall. Šrámeks ‚Glocken‘ sagten mir viel. [...] Hier war ein großer breiter Erlebniskomplex, auf dem sich bauen ließ als auf einem sicheren Grund. – Die Kritik hat diesem Werk Šrámeks zweifellos Unrecht getan. Hat sie es diesmal gutmachen wollen? Der Publikumsbeifall, der dem neuen Stück galt, war frenetisch. Ich fand ihn übertrieben, fast unverständlich, vielleicht nur aus Liebe zu dem Lyriker Šrámek erklärbar. Denn diesmal ist es ein schwaches Stück. (Brod 1922: 5)
Bei einer Inszenierung im Prager Deutschen Theater 15 Jahre später zeigte Brod allerdings viel mehr Verständnis für dieses Stück, das im tschechischen Theater, auch dank einer sehr gelungenen Filmverarbeitung (1953), einen ganz besonderen Platz eingenommen hat. Ein bisher unerforschtes Kapitel stellt Brods Interesse für die tschechische Theater-Avantgarde dar, die hauptsächlich durch die Ensembles des „D“Theaters von E. F. Burian und des Befreiten Theaters von Voskovec und Werich repräsentiert wird. Brods Rezensionen lassen erkennen, dass er in diesen Häusern ein häufiger Gast war, und dass er Burians originelle Regiekonzepte bewunderte, ebenso wie er sich an dem Humor von V+W vergnügte. Einige Überraschungen bietet auch die Untersuchung von Brods musikalischen Artikeln. Hier ist vor allem auf sein systematisches Interesse für die tschechische Moderne hinzuweisen. Nicht nur Janáček, Suk und Novák, sondern auch die sog. „zweite Generation der tschechischen Moderne“ (Ladislav Vycpálek, Boleslav Vomáčka, Jaroslav Křička, Vilém Petrželka, Rudolf Karel u. a.) wurde von Brod mit viel Aufmerksamkeit und Sympathie begleitet. Dabei muss Brods Fähigkeit betont werden, die „neue Musik“ verständnisvoll dem Publikum näher zu bringen, was insbesondere die allerjüngste, von der Zweiten Wiener Schule beeinflusste Generation betrifft (z. B. die experimentelle Musik Alois Hábas). Es wird oft die Tatsache übersehen, dass er sich auch mit den jüngsten und radikalsten Entwicklungen in der Musikszene beschäftigte, auch wenn sein eigenes Schaffen davon kaum beeinflusst wurde. Der israelische Musikologe Yuval Shaked behauptet z. B. sogar, dass sich Brod „weder in seinen Artikeln noch in seinen Kompositionen für die Zweite Wiener Schule interessiere.“ (Shaked 1991: 484-488) In den 20er und 30er Jahren veröffentlichte Brod jedoch eine Reihe von Aufsätzen über „Neue Musik“, die teils als Konzertrezensionen, teils als allgemeine Aufklärungsartikel konzipiert wurden. Nur ein großer Name fehlt bei dieser Aufzählung – Hábas’ Generationsgenosse Bohuslav Martinů, dessen Einfluss auf das tschechische Musikleben der Zwischenkriegszeit durch seinen Aufenthalt in Paris (1923-1940) spürbar eingeschränkt wurde. Vereinzelt finden wir bei
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Brod aber doch Erwähnungen von Martinůs Werken, für die sich vor allem der Dirigent Václav Talich einsetzte. Unter den tschechischen Musikern war es gerade Talich, dem Brods immense Bewunderung galt (Brod 1934c: 10).20 Talichs Persönlichkeit und seine Interpretationen stellten oft den Grund für eine Konzertrezension dar, die Brod sonst wahrscheinlich nicht geschrieben hätte. Dies war z. B. bei einigen Dvořák-Aufführungen der Fall, die für Brod nicht interessant oder nicht innovativ genug, also „keine Entdeckertat“ waren, wie z. B. Rusalka oder die Slawischen Tänze (Brod 1936: 7; 1939: 7). Es ist die Kunst Talichs, die Brod hier würdigt, nicht so sehr die Musik Dvořáks, für den Brod eine Art „Distanzliebe“ hegte: „Von Dvořák aber, dem andern Klassiker der Tschechen, sind mir nie schwärmerische Gelüste gekommen. Und dennoch liebe ich ihn, spiele ihn gern, diesen interessanten Barbaren, der eine glatte akademische Maske vorhält“ (Brod 1909: 925) – zweifellos eine bemerkenswerte Charakterisierung Dvořáks. Von den vielen tschechischen Komponisten, die Max Brod schätzte und bewunderte – manche kannte er auch persönlich – soll stellvertretend Boleslav Vomáčka erwähnt werden. Vomáčka (1887-1951) gehörte zu den radikalsten Komponisten der tschechischen Musik-Moderne und beeindruckte Brod vor allem durch zwei große Vokalwerke, die Kantate Živí mrtvým [Die Lebenden den Toten] und die Kantate Strážce majáku [Der Leuchtturmwächter]. Besonders das letztere Werk, 1934 beim Festival der tschechischen Sängerschaft uraufgeführt, war für Brod „ein großes, beglückendes Kunsterlebnis“ und hat sich fest in sein Gedächtnis eingeprägt (Brod 1934a: 7). Vomáčka komponierte seine Musik zu der Balada o námořníkovi [Ballade vom Matrosen] von Jiří Wolker, auf dessen Bedeutung Brod bei dieser Gelegenheit hingewiesen hat: „Die Tschechen besitzen in dem so früh verstorbenem Lyriker Wolker einen Mann von Weltformat, die Reinheit seines Ethos’ wie die Fülle der stets natürlichen Metaphern reihen ihn unter die Größten!“ (Brod 1934a) Meine Vermutung ist, dass die Gestalt des Leuchtturmwächters in der Darbietung von Wolker und Vomáčka Brod viel später zu einer Romanfigur inspirierten. In dem Roman Die Rosenkoralle (1961) ist der Protagonist, der Prager Student und späterer Schriftsteller Edgar Prisco, später in Palästina als Leuchtturmwächter tätig, wobei die Figur des Leuchtturmwächters stark symbolische Züge hat: Er steht im Dienste der Gemeinde und ist für ihren Schutz verantwortlich. Das war Brods spätere Auffassung eines Helden, durch die Lebens20 Dieser Artikel wurde speziell Talichs künstlerischer Persönlichkeit gewidmet, den Anlass dafür stellte Talichs Interpretation von Nováks Herbstsymphonie. Vgl. auch Brods Rezension dieses Konzerts (Brod 1934b: 5).
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situation in Palästina bzw. Israel bestimmt. Ein ähnliches Motiv kommt auch in der Novelle Jugend im Nebel vor, in der ein junger Maler, Armand Tischler – ein anderes alter ego Brods –, vor Hitler nach Frankreich flieht, wo er in die Fremdenlegion eintritt und später in Nordafrika eines heldenhaften Todes stirbt. Brods pazifistische Gesinnung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, erwähnt sei z. B. seine Intervention bei Prof. Masaryk in der Absicht, den Krieg zu verhindern (Brod 1969: 93ff.), oder seine Weigerung, Die Ausflüge des Herrn Brouček zu übersetzen, da im zweiten Teil der Krieg glorifiziert wird (Brod 1953: 64), erfuhr also durch die späteren Ereignisse des 20. Jahrhunderts eine deutliche Veränderung. Doch damit wurde von dem ambitionierten Prager Studenten Brod zu einem würdigen homme de lettre in Tel Aviv ein weiter Bogen geschlagen und der Zeitrahmen 1909-1939 weit überschritten.
Literatur
Brod, Max (1909a): Tschechische Musik. – In: Die neue Rundschau 20, Bd. II, H. 6, Berlin, 925. Brod, Max (1909b): Weisse Wände. – In: Die Schaubühne 5, Bd. II, H. 51, Berlin, 661. Brod, Max (1910): Tagebuch in Versen. Berlin: Axel Juncker. Brod, Max (1911): Ein tschechisches Drama. – In: Die Schaubühne 7, Bd. I. H. 13, Berlin, 350-353. Brod, Max (1913): Über die Schönheit häßlicher Bilder. Ein Vademecum für Romantiker unserer Zeit. Leipzig: Wolff. Brod, Max (1922): Fr. Šrámek: „Der Mond über dem Fluß“. – In: Prager Abendblatt (4.2.1922), 5. Brod, Max (1928): Zauberreich der Liebe. Berlin, Wien, Leipzig: Zsolnay. Brod, Max (1934a): Vomáčka: Matrosenballade. Festival der Tschechischen Sängerschaft. – In: Prager Tagblatt (22.4.1934), 7. Brod, Max (1934b): Vítězslav Novák: Herbstsymphonie. – In: Prager Tagblatt (19.12.1934), 5. Brod, Max (1934c): Ein Künstlertyp. – In: Prager Tagblatt (25.12.1934), 10. Brod, Max (1936): Rusalka. – In: Prager Tagblatt (20.6.1936), 7.
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Brod, Max (1939): Zwei zyklische Aufführungen: Dvořáks Slawische Tänze – Křičkas Kinderlieder. – In: Prager Tagblatt (21.2.1939), 7. Brod, Max (1966): Gesang einer Giftschlange. München: Starczewski. Brod, Max (1969): Streitbares Leben. München: Herbig. Brod, Max/Kafka, Franz (1989): Eine Freundschaft. Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley, Frankfurt/M.: S. Fischer. Fiala, Kamil (1910): Knihy německé prózy [Bücher der deutschen Prosa]. – In: Moderní revue, Januar 1910, 227. Hašek, Jaroslav (1923): Eine neue Chifriermethode. Aus Jaroslav Hašek: Die Schicksale des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg. – In: Prager Abendblatt (24.3.1923), 8-9. Jähnichen, Manfred (1972): Der Weg zur Anerkennung. Tschechische Literatur im deutschen Sprachgebiet 1861-1918. Berlin: Akademie. Kafka, Franz (1990): Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley. Frankfurt/M: Fischer. Knap, Josef (1927): Knížka o Šrámkovi [Büchlein über Šrámek]. Praha: Fr. Borový. Kosatík, Pavel (2001): Menší knížka o německých spisovatelích z Čech a Moravy [Kleine Abhandlung über Deutsche Dichter aus Böhmen und Mähren]. Praha: Nakladatelství Franze Kafky. Mareš, Michal (1999): Ze vzpomínek anarchisty, reportéra a válečného zločince [Aus den Erinnerungen eines Anarchisten, Reporter und Kriegsverbrechers]. Praha: Prostor. Übersetzung Jana Zoubková. Nekula, Marek (1999): Franz Kafka und der Kreis um die Zeitschrift Moderní revue nebst einiger Bemerkungen zu Franz Kafka und Josef Florians Dobré dílo. – In: brücken NF 7, 153-166. Nekula, Marek (2003): Franz Kafkas Sprachen: „...in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes...“. Tübingen: Niemeyer. Nekula, Marek (2004): Traum vom Tod und Reich des Schönen. – In: Demetz, Peter (Hg.), Fin de Siècle. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 241-257. Pazi, Margareta (1987): Franz Kafka, Max Brod und der „Prager Kreis“. – In: Grözinger, Karl Erich/Mosès, Stéphane/Zimmermann, Hans Dieter (Hgg.), Franz Kafka und das Judentum. Frankfurt/M.: Jüd. Verl. b. Athenäus, 71-92. Racek, Jan/Rektorys, Artuš (Hgg.) (1953): Korespondence Leoše Janáčka s Maxem Brodem (= Janáčkův archiv, 9) [Korrespondenz Leoš Janáčeks mit Max Brod]. Praha: Státní nakladatelství krásne hudby, literatury a umění. Shaked, Yuval (1991): Max Brod a hudba [Max Brod und die Musik]. – In: Hudební rozhledy [Musikalische Übersicht] 44, H. 11, 484-488. Shakeds Text wurde für diese Veröffentlichung aus dem Englischen ins Tschechische übersetzt.
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Siebenschein, Hugo (1947): Prostředí a čas. Poznámky k osobnosti a dílu Franze Kafky [Mittel und Zeit. Anmerkungen zu Persönlichkeit und Werk Franz Kafkas]. – In: Siebenschein, Hugo/Muir, Edwin/Utitz, Emil/Demetz, Peter (Hgg.), Franz Kafka a Praha: Vzpomínky, úvahy, dokumenty [Franz Kafka und Prag: Erinnerungen, Betrachtungen, Dokumente]. Praha: Vladimír Žikeš. Zeller, Bernhard/Otten, Hellen (Hgg.) (1966): Kurt Wolff. Briefwechsel eines Verlegers. 1911-1963. Frankfurt/M.: Heinrich Scheffler.
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Das Kino als Ort kulturellen Transfers in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakei (1896-1938)
1. Vorbemerkung
Als 1895/96 die ersten Kinematographen-Vorstellungen in Europa stattfanden, waren sie zunächst nicht mehr als eine unter vielen Attraktionen der ‚kinematischen‘ Kultur des Fin de Siècle, die eine Mischung aus wissenschaftlich-technischem Experiment und Unterhaltung boten. Dass das Kino in den nachfolgenden drei Jahrzehnten zu einem, vielleicht zu dem Emblem moderner Massenkultur weltweit wurde, zeigt sich im Nachhinein als logische Konsequenz, war jedoch zu jenem Zeitpunkt keineswegs absehbar. Die mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftete Entwicklung des Kinos von einem mobilen zu einem festen Unterhaltungsort, die Ablösung des ‚Kinos der Attraktionen‘ durch das ‚Kino der Narration‘, die Entstehung eines Kinopublikums und mit ihm die Herausbildung einer Filmindustrie stellten nicht die Leistung Einzelner dar, sondern waren Ergebnis transnationaler Vermittlungs- und Austauschprozesse.1 Die Entwicklung des Kinos, seine Wahrnehmung und Rezeption in der multiethnischen Gesellschaft Böhmens und der Tschechoslowakei bieten sich – wie im Folgenden gezeigt werden soll – im besonderen Maße an, kulturelle Transferprozesse und damit die Heterogenität der als homogen vorgestellten Nationalkultur herauszuarbeiten. Für kulturelle Austauschprozesse ist es charakteristisch, dass in ihrem Verlauf die ‚fremden‘ Anteile immer stärker verborgen werden, bis die Vorstellung von der Homogenität der eigenen Kultur 1 Vgl. hierzu beispielsweise den prägnanten Artikel von Daniel Morat (2005) über das Kino als modernen Erlebnisort sowie die grundlegende Studie von Vanessa R. Schwartz (1998) über den kulturhistorischen Kontext der Entstehung des Kinos am Beispiel Paris. In medienhistorischer Perspektive siehe vor allem Müller (1994) und Elsaesser (2002).
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dominiert. Daher ist es notwendig, sowohl nach konkreten interkulturellen Kontakten und Verflechtungen innerhalb der böhmischen und tschechoslowakischen Gesellschaft sowie zwischen dieser und der anderer Staaten als auch nach den kulturellen Homogenisierungspraktiken zu fragen. Die Frage nach dem Erfolg und dem Misslingen von Transfers und ihren jeweiligen Gründen muss ebenfalls in die Analyse einbezogen werden.2 Obwohl der Beitrag diese Fragen keineswegs erschöpfend beantworten kann, lenkt er das Augenmerk auf drei – wie ich meine – grundlegende Problemfelder: In einem ersten Schritt wird die Vielfalt der zwei- und mehrsprachigen Kinolandschaft in den böhmischen Ländern und in der Ersten Republik skizziert, deren Rekonstruktion hier jedoch bruchstückhaft bleiben muss. Die Umstellung auf den Tonfilm 1929/30 bedeutete vor dem Hintergrund des mehrsprachigen Marktes für die Vertreter der tschechoslowakischen Kinobranche, die sich nicht nur, aber vor allem zwischen der Tschechoslowakei, Deutschland und Österreich bewegten, eine große Herausforderung. Ihre Reaktionen werden daher im zweiten Teil erörtert. Abschließend wird der Fokus auf die Filmpublizistik der Zwischenkriegszeit und ihre Darstellung der Geschichte und Gegenwart des tschechischen beziehungsweise tschechoslowakischen Films gelegt, da sich an ihr kulturelle Homogenisierungspraktiken ablesen lassen, die zu einer weitgehenden Ausblendung ‚fremder‘ Einflüsse auf die tschechoslowakische Kinematographie führten.
2. Die Entstehung und Vielfalt der Kinolandschaft in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakei
Die ersten „bewegten Bilder“ waren in den böhmischen Ländern in Karlsbad, Marienbad und Brünn im Sommer 1896 zu sehen und sie erreichten im Oktober desselben Jahres schließlich auch Prag und im Dezember das oberungarische Pressburg. Waren es zunächst ausländische Vertreter aus Frankreich, 2 ������������������������������������������������������������������������������������� Zum Konzept des Kulturtransfers siehe zusammenfassend Middell (2001). Dass die Transferforschung sich nicht nur wie bisher auf Austauschbeziehungen zwischen Kulturen verschiedener Staaten konzentrieren soll, sondern auch zwischen nicht räumlich getrennten, fordern zuletzt Schmale/Steer (2006).
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Großbritannien und Deutschland, die die Kinematographen-Vorstellungen in Hotel- und Restaurantsälen sowie in Caféhäusern organisierten, bemühten sich in den Folgejahren immer mehr Einheimische um die notwendige Lizenz für Wanderkinovorstellungen. Dem Filmhistoriker Zdeněk Štábla zufolge bildeten dabei deutschsprachige Lizenzinhaber in Böhmen die Mehrheit (Štábla 1988; Bartošek 1985; Mihálik 1994). Die ersten ortsfesten Kinos entstanden in den böhmischen Ländern und in Oberungarn wie in anderen Gegenden Europas zeitgleich zwischen 1905 und 1907. Auf dem Gebiet der späteren Tschechoslowakei wurde das erste ortsfeste Kino vermutlich in Pressburg von dem Hotelbesitzer Károly Palugyay gegründet; erst zwei Jahre später folgten ständige Kinoeinrichtungen in Brünn durch Dominik Morgenstern (Empire Bio) und in Prag durch Viktor Ponrepo (Divadlo živých fotografií [Theater der lebenden Fotografien]) ( Štábla 1988: 104-106; Mihálik 1994: 20). Bereits am Vorabend des Ersten Weltkrieges verfügte Böhmen jedoch mit 170 Lizenzen über eines der dichtesten Kinonetze in der Habsburger Monarchie, wobei die Anzahl der ortsfesten Spielstätten die der Wanderkinos eindeutig überwog (Štábla 1988: 104-127; Klimeš 2002: 58; Pištora 1996). Trotz des wachsenden Erfolges während und nach dem Ersten Weltkrieg – die Anzahl der Kinos verdreifachte sich allein bis 1929 in der gesamten Tschechoslowakei – stieß das Kino und das Ins-Kino-Gehen in der gesellschaftlichen Elite laut der vorhandenen Statistik nur bedingt auf Anerkennung. Dies ist der staatlichen Statistik zu entnehmen, die die Kinotheater, Kinovorstellungen und Zuschauerschaft mit Ausnahme der Filme, die von der dem Innenministerium unterstellten Zensur akribisch kontrolliert wurden, erfasste.3 Die einzige vom Staatlichen Statistikamt veröffentlichte Studie über die tschechoslowakische Kinolandschaft, die Albin Oberschall an der Wende von der Stumm- zur Tonfilmpraxis herausgab, stellt daher nur einen recht groben Orientierungspunkt dar (Oberschall 1931).4 Insbesondere die Angaben zur Anzahl der Kinos in Kombination zur gesprochenen beziehungswei3 Erst mit der Einführung des Tonfilms begann das Interesse an Kinostatistiken auch in der Filmbranche selbst zu steigen. So erschienen ab 1930 Kinoadressbücher für die Tschechoslowakei in der Knihovna Filmového kurýru [Bibliothek des Filmkuriers] und ab 1934 Statistiken zur Kapazität und Besucherzahl der Kinos in der Tschechoslowakei (mit einem Fokus auf den für die Filmindustrie wichtigsten Standort Prag) in der von Ji������������������ ří Havelka herausgegebenen Reihe Československé filmové hospodářství [Tschechoslowakische Filmwirtschaft, im Folgenden mit ČFH abgekürzt]. 4 Die Studie basiert nicht auf Erhebungen des Amtes für Statistik, sondern stützt sich auf die Auskünfte der Landesbehörden in der Tschechoslowakei, die die Kinolizenzen erteilten.
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se untertitelten Sprache, in der ein Kinobetreiber einen Film zeigte, sind kaum zufriedenstellend, wie die nach Oberschall zusammengestellte Übersicht im Anhang 1 verdeutlicht. Laut Oberschall fanden 1929 in mehr als 16 % der böhmisch-mährisch-schlesischen Kinos Vorstellungen ausschließlich in deutscher Sprache statt; der Prozentanteil stieg in den 1930er Jahren auf 19 % an.5 In der Rubrik „andere Sprache“ fasste der Autor Kinos zusammen, die ihre Vorstellungen abwechselnd in zwei oder mehreren Sprachen veranstalteten. Unter den Spielstätten, die tschechische und deutsche Filmprogramme anboten, befanden sich die meisten in der mährischen Hauptstadt Brno/Brünn, die über sieben ‚zweisprachige‘ Kinos verfügte. Es folgten die Städte Dux/ Duchcov, Mährisch-Ostrau/Moravská Ostrava, Podersam/Podbořany und Tannwald/Tanvald mit jeweils drei Kinos. Die Vielfalt der ‚mehrsprachigen‘ Kinos war am größten in der Karpatho-Ukraine. Laut Oberschall boten die dortigen Kinos „tschechisch-russinische“, „tschechisch-ungarische“, „tschechisch-ungarisch-russinische“ und „ungarisch-russinische“ Filmprogramme an (Oberschall 1931: 16-17, 42-53). Die Frage, in welcher Sprache ein Film gezeigt werden durfte, wurde der Regel nach in den Kinolizenzverträgen durch die jeweiligen Landesbehörden festgelegt. Zunächst unterlagen die Kinos der nationalen Minderheiten nicht dem Zwang, ihr Filmangebot gleichzeitig mit Unter- oder Zwischentiteln in der Amtssprache zu versehen. Dies traf auch auf das deutsche Kino Urania in Prag zu. Ab Ende der 1920er Jahre nahmen jedoch die Bestrebungen der Landesbehörden zu, auf den Gebrauch der Amtssprache ebenfalls in privaten Unternehmen zu drängen, und ab 1934 sollten alle eingeführten deutschsprachigen Filme mit den entsprechenden Untertiteln versehen werden.6 Die Vielfalt der Aufführungspraktiken insbesondere fremdsprachiger Stumm- und Tonfilme lässt sich weder mit Statistiken noch gesetzlichen Bestimmungen allein erfassen; vielmehr bedarf es Studien zu regionalen und lokalen Kinokulturen sowie zur Wirkung der verschiedenen Experimente mit polyglotten Filmen, Sprachversionen, übersetzten Untertiteln und frühen Formen des Dubbing am Beginn der Tonfilmära.7 5 1936 gab es in Böhmen 262 und in Mähren 88 Kinos in deutscher Sprache (Havelka 1937: 40). 6 Auf diesen Umstand weist Jaroslav Kučera (1999: 232) in seiner grundlegenden Studie über die Sprachenpolitik in der Ersten Republik hin. Diese Bestrebungen stießen jedoch vor allem auf Widerstand seitens des Verbandes der deutschen Kinematographentheater in der Tschechoslowakei. Vgl. bspw. N. N. (1929): Der Sprachenkrieg in Filmkopien. 7 Vgl. Müller (2003) sowie speziell zu den Sprachversionen in der Tschechoslowakei: Klimeš (2004) und Szczepanik (2004).
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Ähnliches gilt für die Beschreibung des Kinopublikums, das sich weder als homogene und passive Masse noch als Akteur einer alternativen Öffentlichkeit begreifen lässt (Führer 1996; Zimmermann 2001; Flickinger 2001). Eines der wenigen originellen Zeugnisse hinterließ der linksorientierte Karikaturist und Schriftsteller Adolf Hoffmeister, der die Verschiedenheit der Motive, die das Publikum veranlasste ins Kino zu gehen, in einer humoristischen Serie über das Kinopublikum in der Filmzeitschrift Studio 1929 abbildete und beschrieb. Ihm zufolge ließen sich die Zuschauer nach dem Ort, dem Film, der Stadtteillage, der Jahreszeit, dem Einkommen, dem Tagesablauf, nach Feiertagen und Wochenenden sowie nach dem Wetter unterscheiden. Sicher sei lediglich, so Hoffmeister (1929/I: 17), „dass alle sehen wollen, aber jeder auf seine Art und Weise sehen wird“ [že všichni chtějí vidět a každý uvidí jinak]. Am Beispiel der Prager Kinos stellte Hoffmeister eine Typologie des Publikums auf, die sich nach der Einteilung des Zuschauerraums richtete. Die erste Reihe vor der Leinwand gehörte den Jungs, die sich vor „Lachen und Begeisterung“ wälzten und von denen keiner wusste, wo sie das Eintrittsgeld auftrieben. Hinter ihnen im Parkett D reihten sich die ‚kleinen Leute‘ wie Pförtner, Dienstmädchen, Fahrscheinkontrolleure, Kellner und sparsame Hausfrauen ein: Jejich D-parket je slzavým údolím, vzlyká sentimentem, který houpe těžkými ňadry úctyhodných rozměrů a muchlá šátek u nosu a prasečích očiček. (Hoffmeister 1929/II: 84) [Ihr Parket D ist ein Tal der Tränen, es schluchzt nur so vor Sentiment, das den schweren Busen ehrwürdiger Ausmaße in Wallung bringt und das Taschentuch an der Nase und den Schweineaugen zerknittern lässt.]
Hier saßen außerdem ältere Leute, die wegen ihrer Sehschwäche oder wegen ihres zu häufigen Kinobesuchs sich bessere Plätze nicht leisten konnten. Die „Intellektuellen“ unter den Kinozuschauern nahmen Platz im Parkett C und B; sie kritisierten die Filme, waren aber auch bereit, bei besonders ästhetischen Szenen Beifall zu spenden. Hoffmeister beschreibt weiter: Sem chodí také kávové společnosti stárnoucích tučnic, povídavé, klepařské židovky, mající ustavičnou starost o nějakého Oskarka, nebo líčící hýřivost pana Kleina, nebo ještě horší kroužky abiturientek Vyšší dívčí školy z roku 1894. Zde pramení pomluvy a klepy, zde jsou kořeny úctyhodného plemenění úsudků o nemravnosti světa, o kráse českého filmu a o jiných hanebnostech. Zde ztotožněn s rubem inteligence, která se vyznačuje spíše sádlem, sedí zřejmě i obrýlený censor, chrchlaje vzteky a pase se nad zmrzačením Křižníku Potěmkina. (Hoffmeister 1929/II: 84) [Hierher gehen ebenfalls die Kaffeekränzchen alternder fetter Weiber, geschwätzige jüdische Klatschtanten, die sich unablässig um irgendein Oskarlein sorgen oder die Ausschweifungen eines Herrn Klein kommentieren, oder noch schlimmer: die Abiturientinnen der
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Höheren Mädchenschule von 1894. In diesen Reihen entspringen Klatsch und Tratsch, hier wurzeln und wuchern die Urteile über die Unmoral der Welt, über die Schönheit des tschechischen Films und andere Niederträchtigkeiten. Hier sitzt offenbar auch – sich mit der Kehrseite der Intelligenz identifizierend, die sich eher durch Schmalz auszeichnet – der bebrillte Zensor, der vor Wut schäumt und seinen Blick an der Verstümmelung des Panzerkreuzers Potemkin weidet.]
Im hintersten Bereich des Kinosaals siedelte Hoffmeister die reichen und schönen Leute an, außerdem Nachtschwärmer wie Barkeeper, Konzertmeister und Tänzerinnen, Junggesellen, untreue Ehegatten, Liebespaare und Prostituierte sowie diejenigen mit Freikarten. Zum Schluss erwähnt er die Logen, in denen entweder das Laster oder die Liebe vorherrsche. Liebespaare aller Couleur und sich nach Liebe sehnende Singles waren ohnehin in Hoffmeisters Augen die wichtigsten Kinogänger. Ohne sie sei Kino nicht vorstellbar. Hoffmeister stellte mit seiner humoristischen, von Ressentiments nicht freien Serie das Kino vor allem als kommunikativen, erlebnisreichen Ort dar, an dem Frauen und Männer verschiedenen Alters und unterschiedlicher soziokultureller Milieus aufeinandertrafen. Die Kinokulturen verfügten zwar über regionale Besonderheiten in Bezug auf die Gestaltung und den Ablauf von Kinovorstellungen sowie hinsichtlich der Intensität der Zensureingriffe. Das Kinoprogramm war jedoch europaweit vergleichbar. Nach der Etablierung des Langfilms in der Stummfilmära setzte es sich in der Regel aus zwei Teilen zusammen, einem etwa zwanzigminütigen Vorprogramm mit informativen oder unterhaltenden Kurzfilmen und Werbebildern sowie einem sich anschließenden Hauptfilm.8 Das Programm bot immer eine Mischung von Abbildungen eigener und fremder Erfahrungswelten. In der Tschechoslowakei dominierten den Filmmarkt, der zum Teil erheblichen Schwankungen ausgesetzt war, in erster Linie Produktionen aus den USA und Deutschland, gefolgt von einheimischen, österreichischen und französischen Kurz- und Langfilmen. (Siehe Anhang 2) Der hohe Anteil ausländischer Filme, vor allem aber deutschsprachiger, versetzte die Kino branche am Beginn der Tonfilmära nicht zuletzt wegen der kulturpolitischen Implikationen in eine schwierige Situation.
8 In den Prager Premierenkinos wurde beispielsweise der Hauptfilm durch eine Pause unterbrochen, die unter anderem zum Verkauf von Eis und Getränken genutzt wurde. Vgl. P. Sch. (1930) und Peregrin (1933).
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3. Die Einführung des Tonfilms und die Reaktionen der tschechoslowakischen Kinobranche
Jüngere Studien über die Tonfilmzäsur haben gezeigt, dass wirtschaftliche, technische oder ästhetische Begründungen nicht ausreichen, die Komplexität dieses Phänomens zu erfassen. In kulturhistorischer Perspektive erweist sich der Tonfilm nicht als eine einfache Vervollkommnung oder quasinatürliche Entwicklung, sondern als ein massives Problem, das die Kinobranche zu bewältigen hatte. Während der Stummfilm mit seiner Entwicklung zum langen Spielfilm es geschafft hatte, Teil einer „Kultur des Fiktionalen“ zu werden, schien der Tonfilm einen Schritt zurückzugehen. Der zu hörende Ton und die zu hörende Sprache rückten das neue Medium scheinbar wieder näher an die erfahrbare Wirklichkeit (Müller 2003).9 Hinzu kam das Übersetzungsproblem bei der Aufführung fremdsprachiger Filme, die auf der ganzen Welt kurzzeitig Irritationen und Aggressionen beim Kinopublikum auslöste und Regierungen sogar veranlasste, die Einfuhr zu beschränken beziehungsweise gar zu verbieten. Gleichwohl war diese Umstellungsphase zwischen 1929 und 1932 von einer großen Offenheit und Experimentierfreudigkeit in der Kinobranche geprägt, wie die Filmhistorikerin Corinna Müller konstatierte, die nur mit der frühen Stummfilmzeit vergleichbar sei (Müller 2003: 291).10 Die relativ rasche Einführung des Tonfilms war auch auf dem tschechoslowakischen Filmmarkt in der Spielsaison 1929/30 keine Selbstverständlichkeit und die Meinungen gingen unter Filmunternehmern, Kinobetreibern und Filmpublizisten auseinander: Die Anschaffung der teuren Tonfilmapparate setzte die Bereitschaft voraus, sich schnell in neue Technikabläufe einzuarbeiten und ein enormes finanzielles Risiko zu übernehmen. Die Kosten waren zudem auf Grund der zu jener Zeit noch laufenden Patentrechtsstreitigkeiten zwischen der deutschen und amerikanischen Elektro- und Filmindustrie, die um die Vor9 Hier insbesondere das Kapitel „Film und Kultur des Fiktionalen“, 118-185. In seiner Ende 2009 erschienenen Habilitation Konzervy se slovy. Počátky zvukového filmu a česká mediální kultura 30. let [Wortkonserven. Die Anfänge des Tonfilms und die tschechische mediale Kultur der 30er Jahre] untersucht der Brünner Filmhistoriker Petr Szczepanik (2009) umfassend die wirtschaftlichen, technischen und sprachlich-kulturellen Aspekte der Tonfilmumstellung in der ČSR. 10 Verbote fremdsprachiger Tonfilme gab es laut Müller in Ungarn, Italien und Mexiko. Zu den Tonfilmausschreitungen in Prag siehe u. a. Wingfield (1998) und Koeltzsch (2009).
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herrschaft auf dem europäischen Tonfilmmarkt wetteiferten, nicht absehbar. Sowohl tschechische Kinobetreiber als auch Vertreter des Fachverbandes der deutschen Kinematographentheater, der seinen Sitz in Aussig hatte und zumindest bis Anfang der 1930er Jahre in einem loyalen Verhältnis zum Prager Zentralverband stand, informierten sich zum Teil auf gemeinsamen Reisen nach Prag, Wien und Berlin über die Vorteile und Risiken der neuen Technologie.11 Kinobetreibern und Filmunternehmern bereitete außerdem die nationalistische Propaganda vor allem in der Tagespresse Schwierigkeiten, die nicht erst seit der Aufführung der ersten deutschsprachigen Tonfilme in Prag im Frühjahr 1930 immer wieder vor einer „Verdeutschung“ insbesondere der Prager Kinos warnte. Vertreter der Prager Kinobranche veranstalteten im Frühjahr 1930 Sondervorstellungen, bei denen hintereinander englisch- bzw. französischsprachige und deutschsprachige Versionen desselben Films gezeigt und im Anschluss besprochen wurden, des Weiteren Diskussionsrunden über die Zukunft des deutschsprachigen Tonfilms in Prag nach den Ausschreitungen im September 1930 und begründeten in zahlreichen Interviews und Artikeln in der Fach- und Tagespresse die Notwendigkeit für den tschechoslowakischen Filmmarkt.12 Ihre Hauptargumente betrafen vor allem zwei wirtschaftliche Aspekte: Zum einen betonten sie, dass die Mehrheit des tschechischen Publikums die deutsche Sprache besser als die englische und französische verstehen würde, zum anderen verwiesen sie auf die Bedeutung der kapitalkräftigen deutschen Filmindustrie, ohne deren Unterstützung der Aufbau einer tschechoslowakischen Tonfilmproduktion wesentlich erschwert wäre. Einen weiteren positiven Nebeneffekt der „neuen Polyphonie“ – die Erweiterung der Sprachkom petenz – merkte der aus Brünn stammende Filmunternehmer Otto Sonnenfeld in einem Interview für die Verbandszeitschrift Film des tschechoslowakischen Verbandes für Filmindustrie und -handel an: V tomto postupu doby je nemyslitelno téměř, že postačí člověku znalost jediného jazyka, tím jistě nikdo neapeluje na změnu jeho národního citění, ale může vítati tuto novou možnost poznání, zdokonalení v cizí řeči, právě jako dříve mnoho lidí učilo se v kinech česky číst. (N. N. 1930: 3) [In dieser fortgeschrittenen Zeit ist es fast undenkbar, dass man mit einer Sprache auskommt. Das ist kein Appell, das nationale Zugehörigkeitsgefühl durch ein neues zu ersetzen. Viel11 Vgl. bspw. N. N. (1929): Verbandsexkursion nach Prag und Karlstein; N. N. (1929): Die Herbststudienfahrt an die Donau. Verlauf unserer Verbandsexkursion von Prag nach Linz und Wien; N. N. (1929): Die „Narodni Listy“ und die Gastfreundschaft; N. N. (1929): Der Besuch tschechoslowakischer Kinobesitzer in Berlin. 12 Vgl. etwa die Umfrage unter Filmunternehmern: N. N. (1930): Německy mluvící film v pražských kinech.
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mehr soll dies eine neue Möglichkeit sein, Fremdsprachen kennenzulernen oder zu vervollkommnen – genauso wie früher, als viele Leute im Kino Tschechisch lesen lernten.]
Die Zusammenarbeit begrenzte sich jedoch nicht nur auf wirtschaftliche Kontakte und Beziehungen, sondern spiegelte sich zumindest am Beginn der tschechoslowakischen Tonfilmproduktion auch im Film selbst wider. Zwei respektive drei der frühen tschechischen Tonfilme, Tonka Šibenice [Die Himmelfahrt der Galgentoni] von 1930 sowie die Aféra plukovníka Rédla [Der Fall des Generalstabs-Oberst Redl] von 1931, basierten auf literarischen Vorlagen Egon Erwin Kischs. Letztgenannter Film wurde gleichzeitig in einer deutschen Sprachversion abgedreht (Český hraný film 1998; Klimeš 2001). Wenige Jahre später konstatierte jedoch der Filmkritiker Willy Haas, der 1933 von Berlin nach Prag gezwungenermaßen zurückging und dort seine Arbeit als Filmjournalist fortsetzte, in einem Essay über die Lage der tschechoslowakischen Tonfilmproduktion, dass die Möglichkeiten der sprachlich-kulturellen Vielfalt der tschechoslowakischen Gesellschaft für den Film nicht wirklich ausgeschöpft würden: Wünschenswert wäre es, dass nun auch der deutsch-tschechoslovakische und magyarische Kulturkreis der Republik, die kulturellen Sprach-Minoritäten überhaupt, an dieser Renaissance durch vollgültige und charakteristische Werke teilnehmen, was bisher leider nicht geschah. (Haas 1936: 335)
Die Reaktionen der tschechoslowakischen Kinobranche auf die Einführung des Tonfilms waren wie überall auf der Welt verschieden. Sie bewegten sich zwischen Misstrauen, Zurückhaltung, Unterstützung und Risikobereitschaft. Die Befürworter unterstrichen immer wieder, dass der Aufbau einer eigenen, tschechoslowakischen Tonfilmproduktion von der Vorführung fremd-, vor allem aber deutschsprachiger Filme wirtschaftlich und kulturell profitiere.
4. Der Film als Instrument kultureller Homogenisierung in der populären Filmpublizistik der Zwischenkriegszeit
Nicht erst seit der Ablösung des Stumm- durch den Tonfilm konzentrierten sich die Debatten in der tschechoslowakischen Filmpublizistik auf die Diskussion über den „internationalen“ oder „nationalen Charakter“ des Mediums Film. Waren die publizistischen Diskussionen über den „nationalen Charakter“
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in der Stummfilmära noch stark von dem Kampf um die Anerkennung des Films als festen Bestandteil der nationalen Kultur geprägt, wurde diese Akzeptanz nach der Etablierung des Tonfilms in den Kinos und einer eigenen Tonfilmproduktion am Beginn der 1930er Jahre nicht mehr hinterfragt.13 In den 1930er Jahren erschienen nun immer häufiger repräsentative Publikationen, die der Propagierung der Filmindustrie in der Tschechoslowakei dienten und die Geschichte und Gegenwart der tschechischen beziehungsweise tschechoslowakischen Kinematographie thematisierten. Diese trugen zur Entstehung einer populären Filmgeschichtsschreibung in der Tschechoslowakei bei.14 Diese Texte folgten dabei oft sehr ähnlichen Erzählmustern: Die Autoren verweisen zunächst auf die erste Kinematographen-Vorstellung in Prag 1896, auf die ‚Geburt‘ der tschechischen Kinematographie im Jahr 1898, als Jan Kříženecký auf einem aus Paris mitgebrachten Lumière-Apparat erste Kürzestfilme in Prag drehte, sowie auf die Gründung des Prager Divadlo živých fotografií von Viktor Ponrepo als des vermeintlich ersten ortsfesten Kinos in Böhmen. Dies bleibt indes oft auch die einzige Erwähnung des Kinos als Institution und die Autoren widmen sich in ihrer Darstellung nunmehr ausschließlich der einheimischen Filmproduktion, die sich in den Jahren vor und während des Ersten Weltkrieges institutionalisierte (Smrž 1933: 644).15 So betont etwa der für die Wochenzeitung Přítomnost [Die Gegenwart] schreibende Filmpublizist Otto Rádl in einem Essay in dem von ihm 1935 herausgegebenen, zweisprachigen Lexikon des tschechoslowakischen Films und Theaters, dass auf Grund des Weltkrieges und der Stellung der Zentralmächte kein „äußerer Anreiz zu den tschechischen Filmkünstlern“ durchgedrungen sei und zieht den Schluss, dass die „internationalste aller Künste auf tschechischem Boden völlig nationale Grundlagen“ hätte (Rádl 1935: 5). Erst diese Konstruktion eines nationalen Ursprungs der Filmkunst ermöglicht Rádl, zu einer vorsichtigen Differenzierung der republikanischen 13 Zur Diskussion über den „nationalen Charakter“ des tschechischen Films in der Filmpublizistik am Beginn der Ersten Republik siehe Rak (1989). Diese Debatten fanden in zahlreichen Ländern statt und zeitigten eine nachhaltige Wirkung auf die Filmgeschichtsschreibung. Siehe zum Beispiel die beiden Themenhefte Cinema and Nation der Zeitschrift Film History 8/1996. 14 An erster Stelle ist Karel Smrž’ (1933) umfangreiche Monographie Dějiny filmu von 1933 zu nennen, die die weltweite aber auch die tschechische und tschechoslowakische Entwicklung der Kinematographie in den Blick nimmt. Siehe außerdem Kouša (1922); Smrž (1924, 1930/31, 1938); Rádl (1934, 1935); Havelka (1937). 15 Smrž datiert die Öffnung des ersten ortsfesten Kinos Viktor Ponrepos sogar auf 1901.
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Filmproduktion zwischen Traditionalisten, Internationalisten und Avantgarde überzugehen: Während die Traditionalisten einheimische Sujets wählen, sich auf die Darstellung des kleinbürgerlichen Milieus konzentrieren und den „national-volkstümlichen Ausdruck“ [národně lidový výraz] vor allem mit Lustspielen bedienen würden, seien, so Rádl, die Internationalisten darauf bedacht, sowohl in der Auswahl des Sujets als auch in der Technik den europäischen Standard zu erreichen. In diese Gruppe reihte er nicht nur Regisseure ein, die aus den böhmischen Ländern stammten, aber ihre Karriere überwiegend im deutsch- und englischsprachigen Ausland begannen beziehungsweise fortsetzten, sondern ebenso den Regisseur Carl Junghans, der „zwar gebürtiger Dresdner ist, aber die Mehrheit seiner Filme bisher mit tschechischen Unternehmern, Schauspielern und in tschechischen Filmstudios realisierte.“ (Rádl 1935: 9)16 Auf eine nähere Beschreibung der (anationalen) Avantgarde verzichtet Rádl am Ende seiner Ausführungen und resümiert, dass die „alte Frage“, ob einer traditionellen oder einer internationalen Orientierung der Vorzug zu geben ist, nicht entschieden werden könne. Vielmehr habe die bisherige Entwicklung gezeigt, „dass eine kleine nationale Produktion auch inmitten der großen Konkurrenz auf der Welt erfolgreich arbeiten kann, wenn sie ihrer Eigenart treu bleibt und ehrlich und mit Liebe zur Kunst arbeitet“ [že může i uprostřed velké světové konkurence úspěšně pracovati malá národní produkce, zůstává-li věrnou svému svérázu a pracuje-li poctivě a s láskou k umění]. (Rádl 1935: 10) Ab Mitte der 1930er Jahre nahmen die Versuche zu, den nationalen Film noch enger zu definieren und nicht mehr nur von der Herkunft der Beteiligten abzuleiten. Infolgedessen wandelte sich ebenfalls die Sicht auf den Stummfilm, die schließlich zu seiner Abwertung führte. Der für das České slovo [Das Tschechische Wort] schreibende Filmpublizist Jan Kučera unterstrich in einer Publikation über den tschechoslowakischen Film von 1937: [Der Stummfilm] redete nicht, das heißt, er äußerte sich nicht mit dem Lebendigsten und Kennzeichnendsten, was jedes Volk besitzt: mit der Sprache. Während dieser schlimmen Periode des Films entstand die Parole: der Film ist international. (Kučera 1937: 9)
Diese Versuche der nationalen Homogenisierung der tschechoslowakischen Kinematographie flossen in einem 1940 publizierten Essay Film a národnost [Der Film und die Nationalität] des Publizisten A. M. Brousils (1946) zusammen, der auch die spätere sozialistische Filmgeschichtsschreibung beein-
16 Carl Junghans wurde in der Tschechoslowakei vor allem mit dem Stummfilm Takový je život [So ist das Leben] von 1929 bekannt (Český hraný film 1998/2: 315f.).
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flusste (Bartošek 1985: 73).17 Brousil konstatiert hier, dass die Sprache und die Tatsache, dass der Film von einheimischen Filmschaffenden produziert wird sowie die Auswahl des Filmstoffs, der Landschaften und Typen, nicht für einen nationalen Film ausreiche. Entscheidend für die „Tschechischkeit“ [českost] eines Filmes sei die „nationale Ausgeprägtheit und Empfindsamkeit“ [národní vyhraněnost a citlivost] aller am Film Beteiligten: Jednou to byl kameraman, po druhé skladatel, po třetí herec, po čtvrté režisér, ale malokdy se u nás zatím nalezne vynikající a vyhraněná úroveň všech v tak ojedinělé národní individuálnosti, aby společné dílo mělo osobitý, určitý a neopakovatelný, výsostně národní ráz. (Brousil 1952: 29) [Beim ersten Mal war es der Kameramann, beim zweiten Mal der Komponist, beim dritten Mal der Schauspieler, beim vierten Mal der Regisseur, aber nur selten findet man bisher bei uns solch ein ausgezeichnetes und ausgeprägtes Niveau aller in solch einer einzigartigen nationalen Individualität vor, wodurch das gemeinsame Werk einen eigentümlichen, unwiederholbaren und höchst nationalen Charakter erhalten könnte.]
Dass der „nationale“ Film in der tschechoslowakischen Filmindustrie bislang noch nicht voll zur Geltung gekommen sei, führte er auf die „internationale Promiskuität der Filmindustrie“ zurück (Brousil 1946: 5 u. 22). Diese setzte Brousil nicht in Verbindung mit der jüdischen Herkunft vieler zur Zeit der Veröffentlichung bereits von ihrem Beruf und ihrem Eigentum beraubten Filmunternehmer und Kinobetreiber in der Tschechoslowakei. Doch ex post erinnert diese Phrase stark an die antisemitische Propaganda, die in politischen Krisenmomenten wie unmittelbar nach der Gründung der Ersten Republik und während der Prager Tonfilmausschreitungen 1930, vor allem aber verstärkt in der Zweiten Republik solche Verbindungen immer wieder unterstellt hatte.18
17 Brousil, der am Aufbau der Prager Filmhochschule FAMU beteiligt gewesen war, verurteilte 1952 in einem Pamphlet den ‚Kosmopolitismus‘ und den ‚Nationalismus‘ im tschechoslowakischen Film als bourgeoise Strömungen. Vgl. Brousil (1952). 18 Zur Zweiten Republik siehe Bednařík (2003). Als Beispiel für die Assoziation des Kinos mit „jüdischer Geschäftemacherei“ in den Anfangsjahren der Ersten Republik Žakij (1920).
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5. Resümee
Die Entstehung und Entfaltung einer zwei- und mehrsprachigen Kinolandschaft und die relativ rasche Umstellung auf den Tonfilm in den böhmischen Ländern und in der Tschechoslowakei waren das Ergebnis kultureller Transferprozesse, die ein hohes Integrationspotenzial freisetzten. Dies spiegelte sich insbesondere in den Kooperationen zwischen tschechisch- und deutschsprachigen Kinobetreibern und Filmunternehmern wider wie auch im Verhalten des Kinopublikums, das den fremd- und deutschsprachigen Filmen keineswegs abweisend gegenüberstand. Das Kino blieb bis in die 1930er Jahre hinein ein vielgestaltiger Erlebnisort, an dem sich zeitweise Menschen unterschiedlicher sozio-kultureller Milieus begegneten und an dem verschiedene Sprachen gesprochen wurden. Gleichzeitig fanden, wie am Beispiel der Filmpublizistik verdeutlicht wurde, kulturelle Homogenisierungsprozesse statt, die die ‚fremden‘ Einflüsse am tschechoslowakischen Film ausblendeten und auf die kulturelle Vielfalt der Institution Kino überhaupt nicht eingingen. Diese Tendenzen waren weder typisch für die Tschechoslowakei allein, noch begrenzten sie sich auf das Kino. Unter der nationalsozialistischen Herrschaft führte die Desintegration schließlich zum Bruch der tschechisch-slowakisch-jüdisch-deutschen Beziehungen – nicht nur – in der Kinokultur.
Literatur
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Deutsch
Ungarisch
Russisch
Andere Sprache
Gesamt
Böhmen
663
185
–
–
22
870
Mähren u. Schlesien
369
62
–
–
18
449
Slowakei
151
–
–
–
–
151
4
–
4
3
12
23
1.187
247
4
3
52
1.493
KarpathoUkraine ČSR
Anhang 1: Anzahl der ortsfesten Kinos in der Tschechoslowakei „nach der Sprache, in der gespielt wird“ (Stand: 1929/30) (Oberschall 1931: 16-17, 42-53).
ČSR
USA
Dtl.
Österreich
Frankreich
GB
SU
1922
168
608
742
83
258
41
6
1929
395
957
550
46
186
30
35
1933
281
226
330
23
44
14
7
1937
251
421
288
39
24
20
34
Anhang 2: Anzahl der in der Tschechoslowakei zugelassenen Filme (aller Art) nach Herkunftsland nach Statistisches Handbuch der ČSR, II. (1925: 39); Havelka (1935: 21-26) und Havelka (1938: 28).
Linda Maria Koldau
Vltava – Moldau. Zur deutsch-tschechischen Rezeption von Smetanas Má Vlast im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert
1. Vorbemerkung
Wer heute, wo auch immer auf der Welt, an tschechische Musik denkt, summt entweder ein Thema aus Dvořáks Neuer Welt oder das Hauptthema der Moldau. Spätestens zu Smetanas 100. Geburtstag (und 40. Todestag), dem Jubiläumsjahr 1924, hat diese beliebte symphonische Dichtungen die ganze Welt erobert: 1924 wurde der Zyklus Má vlast, zumindest aber einzelne Teile (allen voran Die Moldau), in Australien, den USA und zahlreichen europäischen Städten bis weit in den Norden und Osten des Kontinents aufgeführt.1 Häufig wählte man für symphonische Konzertprogramme nur Die Moldau: Sie ist die eingängigste der sechs symphonischen Dichtungen, ein nahezu greifbarer musikalischer Flussverlauf, mit einem erhabenen und doch volkstümlich wirkenden Thema, das kaum einen Hörer unberührt lässt. Wegen dieser Eingängigkeit gehört Die Moldau zum Unterrichtsstoff in Grundschule und Sekundarstufe 1. Dass hier jedoch nicht nur eine gelungene musikalische Landschaftsschilderung vorliegt, sondern auch ein hochpolitisches Werk, dass die Moldau nicht nur sanft durch Böhmen murmelt, sondern ihre Entwicklung von der unschuldig plätschernden Quelle bis hin zum majestätischen Strom politischen Sprengstoff birgt, ‚das‘ steht in der Regel nicht im Lehrplan. Ebenso wenig fragen Smetana- und 1 Einen prägnanten, wenn auch nicht vollständigen Überblick gibt die Weltkarte mit Smetana-Aufführungsstätten, die im Smetana-Museum Prag hängt. Aufführungen in Afrika und China erfolgten in den 1930er-Jahren; in Buenos Aires erklang der Zyklus im Jahr 1965. Besonders interessant erscheint – dies sei nur nebenbei bemerkt –, dass in Jerusalem 1940 und 1941 bis auf Aus Böhmens Hain und Flur sämtliche Tondichtungen des Zyklus gespielt wurden – also auch die politisch und revolutionär geprägten Stücke Tábor und Blaník, deren Erläuterung von den Nationalsozialisten bei Aufführungen in der besetzten Tschechoslowakei wohlweislich unterdrückt wurde (vgl. unten, S. 183).
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Linda Maria Koldau
Moldau-Begeisterte weltweit danach, was denn das eigentlich für ein Fluss ist: ein tschechischer, ein böhmischer oder etwa ein deutscher? Würde ein deutsches oder amerikanisches Publikum denn von einem Konzertplakat angezogen, auf dem nicht „Die Moldau“ oder „The Moldau“ steht, sondern „Vltava“? Eben diese Frage hat 1890 schon einmal, und zwar recht bissig, ein ‚österreichischer‘ Kritiker gestellt, der heute zu den wichtigsten ‚deutschen‘ Musikästhetikern gezählt wird. Aber Eduard Hanslick war nicht Deutscher und auch nicht Österreicher, er war Böhme. Seine zweischneidige Rezension – hohes Lob für die Musik, abfällige Bemerkungen über den Nationalstolz der Tschechen – steht exemplarisch für die starken politischen Spannungen, die dieser unschuldigen Landschaftsmusik innewohnen. Die Moldau und mit ihr der gesamte Zyklus Má vlast [Mein Vaterland] entstanden als glühendes nationales Manifest, als solches wurde er von den Tschechen empfunden, als solches wurde er genutzt und auch missbraucht. Má vlast ist nicht zu trennen von der jüngeren deutsch-österreichisch-böhmisch-tschechischen Geschichte (die Aufzählung steht für die Komplexität der Verhältnisse!), und damit verwoben ist wiederum die Persönlichkeit Smetanas, der danach strebte, zu ,dem‘ nationalen Komponisten der sich erhebenden tschechischen Nation aufzusteigen. Mit seinen Werken hat er dieses Ziel erreicht – nur kurz nach seinem Tod wurde Smetana zu einem kulturellen Nationalhelden stilisiert, auf diese Weise aber im 20. Jahrhundert auch von sehr unterschiedlichen politischen Interessen vereinnahmt. Friedrich oder Bedřich Smetana, analog dazu Die Moldau oder Vltava, Mein Vaterland oder Má vlast – sind kulturelle Symbole für das Neben- und Ineinander zweier Elemente, das der Identität Böhmens innewohnt: Für den Tschechen Smetana – auf den Namen „Friedrich“ getauft und deutschsprachig erzogen2 – war ‚böhmisch‘ identisch mit ‚tschechisch‘ [čech], Böhmen ein Land, das doch ein Zweifaches beinhaltet, zwei verschiedene Sprachen, zwei verschiedene Volksgruppen – sein tschechisches Vaterland. Was dieses Vaterland für ihn ausmachte, das komponierte er in seinen Zyklus Má vlast (entstanden in den 1870er-Jahren), und seine Landsleute verstanden, worum es Smetana in den symphonischen Dichtungen mit den Titeln Vyšehrad, Vltava, Z českých luhů a hájů, Šárka, Tábor und Blaník ging. Für sie war dieser Zyklus von Anbeginn Symbol: Symbol nationaler Eigenständigkeit, nationaler Hoffnung und nationalen Triumphes. 2 Erst 1848, im Zuge der Prager Pfingstunruhen, beschloss Friedrich Smetana, fortan nur noch Tschechisch als ,seine‘ Sprache zu benutzen; seinen deutschen Vornamen wandelte er in die tschechische Form Bedřich ab.
Vltava – Moldau
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In diesem Beitrag geht es jedoch weniger darum, was die „schöne Landschaftsmusik“ der Moldau oder von Aus Böhmens Hain und Flur für die Tschechen bedeutete und bedeutet (Koldau 2007). Vielmehr steht hier die Frage im Vordergrund, wie der andere Teil Böhmens, wie Deutsche und Österreicher den Zyklus Má vlast verstanden haben – der zum Teil ja auch ,ihr‘ Vaterland in Musik darstellte. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Fragestellung eine umfassende kulturgeschichtliche, idealerweise sogar in deutsch-tschechischer Zusammenarbeit geführte Untersuchung erfordert. Im Rahmen eines kurzen Beitrags können hier nur drei Beispiele aus der deutsch/österreichisch/böhmischen Rezeption vorgestellt werden, die allerdings bezeichnende Einblicke in besonders spannende (und erschütternde) Phasen der Rezeption gewähren, vom Beginn der ausländischen Rezeption der Moldau im späten 19. Jahrhundert bis zur Bedeutung von Má vlast in der NS-Zeit.3 Auf die Darlegung der drei Beispiele – Hanslicks Rezension von 1890, der NS-Film Die Goldene Stadt und die Ermordung des tschechischen Musikkritikers Zdeněk Němec – folgt eine schriftliche Ausarbeitung der regen Diskussion, die sich auf der Tagung im Anschluss an den Vortrag ergab. Die Anmerkungen und Fragen zeigten, von welcher Komplexität die scheinbare Polarisierung zwischen ‚tschechischer‘ und ‚deutscher‘ (d. h. auch österreichischer und deutschböhmischer) Rezeption tatsächlich ist – und wie jede Rezeptionsvariante bestimmten politischen oder eben gezielt nicht-politischen (und darum auch schon wieder politischen!) Interessen entspringt. Deutlich wurde an dieser Diskussion zwischen deutschen und tschechischen Referenten und Referentinnen zudem, wie unterschiedlich die Reaktionen auf diese Musik und ihre Verarbeitung bis heute sind – vom berechtigten Wunsch, diesen Zyklus von sechs hervorragend komponierten symphonischen Dichtungen ungeachtet aller politischen Konnotationen einfach genießen zu können bis hin zur automatischen inneren Abwehr, wenn die ,nationale‘ Musik der Tschechen bewusst oder unbewusst missbraucht wird. Aspekte dieser reichen Diskussion in die Darstellung der Beispiele einarbeiten zu wollen, würde deren Aussagekraft abschwächen, wenn nicht ganz relativieren. Die Diskussion ist daher in Form von Einwänden, Fragen oder Ergänzungen und den entsprechenden, hier weiter ausgearbeiteten Antworten an das Ende dieses Beitrags gestellt – sie bildet, musikalisch gesprochen, 3 Die Darstellung der Beispiele entstammt mit kleinen Abänderungen Koldau (2007); der weitere Kontext (Entstehung, Rezeption) wie auch die detaillierte kompositorische Gestaltung der sechs symphonischen Dichtungen und ihres Assoziationsfelds sind dort umfassend erläutert. Ich danke dem Böhlau Verlag für die Genehmigung zum Abdruck einiger Passagen aus dem Buch.
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einen Kontrapunkt zu den Beispielen deutsch-tschechischer Spannungen in der Rezeption von Má vlast.
2. Eduard Hanslicks Rezension von Vltava (1890)
Eduard Hanslick (1825-1904), einer der bedeutendsten Musikkritiker und -ästhetiker des 19. Jahrhunderts, bietet mit seiner Rezension von 1890 ein wunderbares Beispiel für die zweischneidige Reaktion des österreichisch-deutschen Publikums auf Smetanas größtes Erfolgsstück, Vltava. In Prag geboren und ausgebildet, ging der Deutschböhme Hanslick 1846 nach Wien, wo er rasch zum maßgeblichen Musikkritiker aufstieg. Im Streit um die Neuerungs tendenzen in der zeitgenössischen symphonischen Musik wurde er zum entschiedensten Gegner der so genannten ,Neudeutschen‘ (mit Franz Liszt und Richard Wagner als prominentesten Vertretern) – somit stand er auch der Gattung der symphonischen Dichtung mit großem Misstrauen gegenüber. Um so schwerer wiegt seine hohe Wertschätzung von Vltava, die er 1890 erstmals in Wien hörte – als geschulter Kritiker und Musikästhetiker erfasste Hanslick die herausragende kompositorische Qualität dieser symphonischen Dichtung beim ersten Hören. Gleichzeitig aber lässt seine ausführliche Rezension dieser Aufführung erkennen, dass er als Deutschböhme nicht gewillt war, sich auf die nationale Dimension dieses Werkes einzulassen: Große Wirkung machte eine Novität, Smetanas symphonische Dichtung ‚Vltava‘. So nennt sie der Anschlagzettel. Ich hatte geglaubt, daß wir in Wien noch Deutsch sprechen und hier niemand verpflichtet sei, zu wissen, daß ‚Vltava‘ die Moldau bedeutet. Wahrscheinlich war Hofkapellmeister Richter gleich vielen seiner Zuhörer der Meinung, ‚Vltava‘ sei der Name irgend eines unbekannten großen Helden czechischer Nation. Die erste Schuld trifft den Musikverleger, der auf der Partitur zwar den Gesammttitel und sogar alle Vortragsbezeichnungen in deutscher Uebersetzung beifügt, aber die für das Verständniß entscheidende Aufschrift ‚Vltava‘ nicht. Und doch wollen die Czechen Smetanas Werke auch in ganz Deutschland verbreitet wissen. Warum also auf dem Titelblatte den Namen ‚Moldau‘ verschweigen, den ebensoviele Millionen Menschen kennen, als etwa Hunderte das Wort ‚Vltava‘. Mit solchen ‚patriotischen‘ Kindereien haben czechische Verleger ihren Musikheroen schon mehr, als sie glauben, geschadet. Die Composition selbst ist das Werk eines echten und glänzenden Talentes. In erster Linie Naturschilderung, gehört sie zu jenen Programm-Musiken, welche im Grunde keiner gedruckten Gebrauchsanweisung bedürfen und nirgends über die Grenzen des musikalisch Verständlichen und Zulässigen hinausgehen. Von Liszts Symphonischen
Vltava – Moldau
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Dichtungen angeregt und beeinflusst, ist Smetanas ‚Moldau‘ doch viel einheitlicher gedacht und natürlicher entwickelt. Ein Hauptgedanke, eine Grundstimmung, beinahe eine Begleitfigur beherrscht das ganze Stück. Der Anfang ist reizend. [Es folgt eine Beschreibung der folgenden Abschnitte.] Allmählich beschleunigt sich der Wogentanz, immer lauter und wilder schäumen die Wässer: wir sind in die ‚St. Johannis-Stromschnellen‘ gerathen. Das ganze Orchester mit Becken und großer Trommel geräth in Aufruhr und vollführt ein patriotisch übertreibendes Getöse, das den Moldauwirbel für einen zweiten Niagarafall ausgeben möchte. [Hier folgt die Besprechung des letzten Abschnitts.] Smetanas ‚Moldau‘ ist ein schön gedachtes, einheitlich und doch ohne Monotonie durchgeführtes Stück, das ein originelles Talent und in der Instrumentirung einen der eminentesten Schüler Liszts und Berlioz’ verräth. Auf einen tiefen musikalischen Ideengehalt, auf polyphone und kontrapunktische Kunst in Verarbeitung der Motive macht es keinen Anspruch; es wirkt durch liedmäßige (nicht ‚unendliche‘) Melodie, durch klare, symmetrische Form und reizvollen Klang. Als Naturschilderung hat Smetanas ‚Moldau‘ den Vorzug, der Phantasie nur ganz typische Bilder vorzuzaubern, die keines detaillierten Programms bedürfen und den Componisten nirgends zu geschmackloser Grenzüberschreibung nöthigen.4
Vltava oder eben Die Moldau war ein Stück so recht nach Geschmack des klassizistisch orientierten Kritikers Hanslick – klare, symmetrische Formen, einheitlich und doch abwechslungsreich, immer in den Grenzen des ,Verständlichen‘ und ,Zulässigen‘. Hanslicks Loblied auf Smetanas symphonische Dichtung enthält gleich mehrere Seitenhiebe gegen die ihm verhassten Neudeutschen – Smetana ließ sich von Liszts symphonischen Dichtungen anregen, seine Moldau ist aber viel „einheitlicher“; er komponiert liedmäßig (im Sinne von volksliedhaft), aber keine „unendliche Melodie“ (wie Richard Wagner); das Programm der Moldau entspringt gewissermaßen der Natur und nicht einer gereizten, geschmacklosen Phantasie (wie Hanslick sie Hector Berlioz, Liszt und ihren Anhängern unterstellte).5 Obwohl Hanslick Smetanas musikalische Prägung durch Vertreter der Neudeutschen Schule hervorhebt, erscheint ihm der Tscheche doch als rühmliches Beispiel, wie man einige ihrer – durchaus verdienstvollen – Errungenschaften in eine Form von klassischem Ebenmaß gießen kann. Vltava ist ein gefälliges Stück – viel mehr aber auch nicht. So lässt sie laut Hanslick Tiefgang vermissen: die Tiefe des Ideengehalts, polyphone und kontrapunktische Satzkunst, eben die deutsche Maßarbeit. Was lässt sich 4 Eduard Hanslick (1892: 300-304) übernahm seine Rezension von 1890 in sein Sammelwerk Aus dem Tagebuche eines Musikers; nach dieser Ausgabe wird sie hier zitiert. Im Inhaltsverzeichnis dieses Sammelbands wird die Rezension selbstverständlich unter „Die Moldau“ und nicht etwa unter „Vltava“ aufgeführt. 5 Genau auf dieser Linie argumentierte im 20. Jahrhundert auch der tschechische Musikwissenschaftler Vladimír Helfert (1950: 122ff.), dem es ein besonderes Anliegen war, Smetanas klassisches Formgefühl gegen die (vermeintliche) „strukturelle Zerstreuung“ romantischer Musik abzugrenzen.
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Linda Maria Koldau
aber auch von einem Werk erwarten, das unter dem Titel Vltava verbreitet wird – ein tschechischer Name, der nur wenigen Hunderten bekannt ist, während Millionen den Namen Moldau kennen? Hanslick, aufgewachsen in einem Prag, dessen Kultur (nach seiner Aussage) vor 1848 durch und durch deutsch war, scheint es den Konzertveranstaltern bitter zu verübeln, dass sie dieses Werk unter seinem tschechischen (also originalen) Namen ankündigten – in Wien spricht man schließlich Deutsch. Wie belanglos ihm die Kultur seiner tschechischen Nachbarn erscheint, lässt sein beißender Spott erkennen: „irgend eines unbekannten großen Helden czechischer Nation“, „patriotische Kindereien“ – Hanslicks Tonfall hat etwas von chauvinistischer Überheblichkeit, die angesichts der – von ihm gänzlich anerkannten – Qualität von Smetanas Musik fehl am Platze ist. Die St. Johann-Stromschnellen, ein angeblich völlig harmloser Wirbel in einem Fluss von mittelmäßiger Größe, scheinen ihm in Smetanas Darstellung geradezu mit einem patriotischen Vergrößerungsglas auf die Dimensionen der Niagarafälle gehoben – nationales Gockelgehabe eines kleinen Völkchens, aber wir wollen ja mal nicht so sein. Der kompositorische Gehalt der Moldau ist jedoch über solchen Spott erhaben; Hanslick setzt sich am Ende seiner ausführlichen Rezension sogar für die Verbreitung der Werke von Smetana und Dvořak ein. Aber: In Bezug auf die Titel wünschen wir dann nicht schlechter behandelt zu sein, als die OberLandesgerichtsräthe in Prag, die nach dem neuesten Ausgleich auch nicht mehr alle Czechisch zu verstehen brauchen. (Hanslick 1882: 304)6
Damit hat Hanslick die Weichen gestellt für die charakteristische Rezeption der Moldau im Ausland und insbesondere im deutschen Sprachgebiet. Smetanas Tondichtung ist reduziert auf ein schönes musikalisches Landschaftsbild, ihres nationalen Gehalts völlig entkleidet (der, wenn überhaupt, allenfalls mit leisem Spott wahrgenommen wird), herausgelöst aus dem untrennbaren Zusammenhang eines Zyklus, der als nationales Manifest entstand und – in Smetanas Vaterland – so auch rezipiert wurde. So ist Die Moldau verfügbar geworden, vielseitig verwendbar in allen möglichen Kontexten – lieblich plätschernde Musik, eine harmlos-gefällige Chiffre für das alte Prag mit seinen goldenen Türmen, aus deutsch-österreichischer Sicht eine ungebrochen deutsche Stadt, geprägt von guter, altdeutscher Kultur. 6 Fast wirkt es amüsant, wie Hanslick hier die Situation umdreht – als seien die deutschsprachigen Oberlandesgerichtsräte in Prag jahrzehntelang gezwungen gewesen, Tschechisch zu sprechen, und das gerade mal zwölf Jahre, nachdem die Tschechen überhaupt erst durchgesetzt hatten, dass auch ihre Sprache neben dem Deutschen als Verwaltungssprache zugelassen wurde.
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3. Motive aus Má vlast in Veit Harlans Film Die goldene Stadt (1942)
Geradezu erschütternd scheint es, dass genau 50 Jahre, nachdem Eduard Hanslick seine Rezension im Tagebuche eines Musikers (1892) publiziert hatte, Die Moldau auf eben diese entkontextualisierende Weise in einem deutschen Film missbraucht wurde – und zwar in einem Film, bei dem Veit Harlan die Regie führte, der Schöpfer des berüchtigten NS-Propaganda-Films Jud Süß. Seit 1938 standen die Sudetengebiete, seit 1939 die übrigen Teile Böhmens und Mährens unter deutscher Herrschaft – oder, wie es der Name ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘ ausdrückte, unter deutschem „Schutz“. Prag war wieder deutsch geworden. So jedenfalls sah es Veit Harlan, der 1941/42 den Film Die goldene Stadt drehte, in der Hauptrolle des böhmischen Bauernmädchens Anna seine Frau Kristina Söderbaum, die Personifikation des unschuldigen blonden ,deutschen‘ Mädels.7 In dem Melodram Die goldene Stadt wird Böhmen als deutsches Land gezeichnet. Lediglich ein vereinzeltes zweisprachiges Schild an dem Tabakladen von Annas Tante weist darauf hin, dass in Prag auch noch eine andere Sprache als Deutsch gesprochen wird; die Aufführung von Smetanas Verkaufter Braut im (tschechischen!) Nationaltheater erfolgt dagegen selbstverständlich in deutscher Sprache. Die gute, ,unschuldige‘ Welt des Films ist die des ländlichen, deutschen Böhmen – prachtvolle Polka-Szenen, ein erregendes Pferderennen, heiteres ländliches Leben, die Arbeit erledigt sich gewissermaßen von selbst. Doch auch die ,goldene Stadt‘ Prag wird nicht negativ gezeichnet: Sie ist das Ziel von Annas Träumen; Harlans großartige Aufnahmen der berühmten Stadtansichten (und das in einem der ersten deutschen Farbfilme) kommen einer HochglanzTourismuswerbung für Prag gleich. Auch in Prag hört man selbstverständlich kein Wort Tschechisch – Toni Opferkuch (Kurt Meisel) allerdings, Annas verantwortungsloser Verführer, der die Schwangere nach ihrer Enterbung schmählich sitzen lässt, bleibt eine national schillernde Figur. Nach seinem Tonfall im Film eher Österreicher, wurde er vom nationalsozialistischen Publikum als „verkommener Tschechenlümmel“ gesehen, der ein „deutsches Bauernmädchen“ zugrunde richtet – für den SS-Gruppenführer und Generalleutnant der deut7 Zur Entstehung und Rezeption des Films vgl. die knappe Darstellung bei Frank Noack (2000: 214-224; 241-247). Kristina Söderbaum war Schwedin, wurde aber als NS-Filmstar zum Prototyp der arisch-deutschen Frau.
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schen Polizei in Serbien ein Grund, von der Vorführung des in ganz Europa erfolgreichen Films in den besetzten slawischen Gebieten dringend abzuraten, zeige Die goldene Stadt doch „den Slaven, wie man es machen muß und wie leicht trotz der Rassenpropaganda der Einbruch in eine deutsche Bauernfamilie“ gelinge (zit. nach Harlan 1966: 150ff.).8 Tatsächlich musste Harlan auf persönliche Weisung des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels das ursprüngliche Ende abändern: Entgegen der Vorlage von Richard Billinger hatte er sich für einen versöhnlichen Schluss entschieden, in dem der Vater stirbt, Anna aber den Großknecht heiratet und ihr Kind austrägt. Da Annas Körper nach Goebbels’ Ansicht jedoch bereits „vergiftet“ war und das Kind des „Bauernhürchens“ ein „ekelhaftes Tschechenbalg“ geworden wäre (als Erbe eines deutschen Hofes undenkbar), befahl der Propagandaminister den Tod des deutschböhmischen Bauernmädels – für die deutschen Zuschauerinnen eine wichtige Lektion (zit. nach Harlan 1966: 148). So endet die letztendliche Version mit Annas melodramatischem Selbstmord – und doch weht die Nazi-Ideologie zusammen mit dem Wind durch das Kornfeld, in dem Annas Grabstein steht: Der reuige Großbauer Jobst hat nach dem Tod seiner Tochter endlich seinen Widerstand aufgegeben und das verfluchte Moor urbar gemacht. Anna, die Tochter des deutschböhmischen Großbauern Melchior Jobst, könnte im Gegensatz zu ihrem Vetter Toni deutscher nicht sein:9 blond, große blaue Augen, verträumt und unschuldig, trotz ihrer körperlichen Robustheit (Kristina Söderbaums Statur wirbt eher für die Fruchtbarkeit der arischen Frau, als dass sie dem heutigen Ideal eines schlanken Stars entspräche) hilflos und auf den Schutz der Männer angewiesen. Verführen lässt sich das gesunde Landmädchen von seinem Traumbild der Stadt Prag – und hier kommt Smetanas Musik ins Spiel. Denn es ist nicht nur der visuelle Traum von der goldenen Stadt (genährt durch das Buch und die Postkarte des vertrauenerweckenden Ingenieurs Leidwein), der Anna ihrer ländlichen Heimat entfremdet – Annas Sehnsucht nach der Stadt ihrer Mutter ist durchzogen von Musik, von den Klängen der Moldau. Hans Otto Borgmann – der 1938-1951 zu insgesamt sieben Harlan-Filmen die Musik komponierte – schuf die Filmmusik zu Die goldene Stadt auf Harlans Weisung hin nach „Motiven von Smetana“. Tatsächlich sind es im 8 Originalbrief des SS-Gruppenführers vom 11. November 1942 (zit. n. Faksimile bei Harlan 1966: 150f.). 9 Der SS-Gruppenführer von Serbien freilich ordnete ihre Abkunft realistisch ein: Anna ist mit ihrem ,tschechischen‘ Verführer von der mütterlichen Seite her verwandt, also Halbtschechin – „durch Vaterblut“ immerhin zähle sie aber doch als Deutsche (zit. n. Harlan 1966: 151).
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Wesentlichen drei Motive, die immer wieder erklingen: das Hauptthema der Moldau, meist ausgedehnt und im melodramatischen Schlussbild durch einen vokalisierenden Chor überhöht, das erste, signalhafte Vyšehrad-Motiv, meist lieblich-verlockend, in konfliktreichen Situationen aber auch brutal verzerrt, und der „Nymphenreigen“ aus der Moldau, der immer dann erklingt, wenn Anna sehnsuchtsvoll von der goldenen Stadt träumt. Vor allem der erste Teil des Films ist überlagert von diesen Motiven: Noch sind Annas Sehnsüchte unschuldig, das ländliche Leben ist ungetrübt, Prag erscheint als ferner Traum. Die Moldau und das Vyšehrad-Motiv stehen für die Schönheit der böhmischen Landschaft, die in unsichtbarer Ferne gekrönt wird durch die goldene Stadt. Smetanas Musik, komponiert als musikalisches Manifest der tschechischen Nation, ist zum Symbol eines rein deutschen Böhmen geworden – ein offenkundiger Missbrauch, der auf ein tschechisches Publikum nur demütigend wirken konnte. Für das deutsche Publikum dagegen, das Die goldene Stadt mit unerreichter Begeisterung aufnahm (schon nach vier Monaten hatte der Film Einspielergebnisse von über 6,4 Mio. Reichsmark erzielt), gehörte diese Musik selbstverständlich zur deutschen Ausstattung des Films – und Harlan selbst benannte die Musik als einen wesentlichen Grund für den überragenden Erfolg dieses Films in Deutschland und im (westlichen) Ausland. Dass „Friedrich“ Smetana sich unbedingt als Tscheche verstand, dass es ihm ein brennendes Bedürfnis war, mit seinem Zyklus Má vlast für die Kultur der tschechischen Nation zu werben, war vergessen oder verdrängt – oder nie bekannt gewesen. Keine 60 Jahre nach Smetanas Tod wurden Die Moldau und Vyšehrad von einem NS-Regisseur dazu missbraucht, die Ideologie der Besatzer seines ‚Vaterlands‘ mit angenehmen Klängen zu verbrämen – eine Vergewaltigung von Musik, wie sie krasser kaum vorstellbar ist. „Politik fällt hier flach“, so unschuldig sah Harlan Die goldene Stadt – Propagandaminister Goebbels sah das anders: Eigenhändig schrieb er Harlan den Satz ins Drehbuch, mit dem Anna in den Tod gehen sollte: „Ich habe meine Heimat zu wenig geliebt, deshalb muß ich sterben.“ (Harlan 1966: 150).10 Harlan entschärfte den „politischen Dreh“, indem er den Satz abwandelte in das melodramatische „Vater, vergib mir, daß ich meine Heimat nicht so geliebt habe wie du“. Nationalsozialistische Aufopferungsphilosophie, die Blut-undBoden-Politik des NS-Regimes – für heutige Hörer geradezu gespenstisch untermalt von den Klängen tschechischer Nationalmusik. 10 Harlans retrospektiver Bericht erscheint gezielt verharmlosend – denn die aufmerksamen NS-Funktionäre machten 1942 keinen Hehl daraus, dass sich dieser Film auf „rassenpolitisches Gebiet“ begab (Zitat aus dem Brief des SS-Gruppenführers, Harlan 1966: 150).
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4. Má vlast unter deutscher Besatzung 1939-1945
Während das Publikum des deutschen Films Die goldene Stadt die herrlichen Klänge zu den schönen Bildern der Stadt Prag genoss, war es für die tschechische Bevölkerung nicht ungefährlich, Má vlast oder auch nur Vltava zu spielen und zu hören. Wie bereits vor 1918 dienten Smetanas Werke dem politischen Widerstand der Tschechen. So wurde die Libuše in Prag als demonstrativer Akt des Protestes am ersten Tag nach dem Einmarsch der Deutschen gespielt (15. März 1939). Wenige Monate später wurde die Oper von den Besatzern verboten, nachdem das tschechische Publikum am 10. Juni 1939 bei einer Aufführung im Nationaltheater nach der abschließenden Prophezeiung Libušes spontan die Nationalhymne angestimmt hatte (Storck 2001: 134). Má vlast ereilte ein ähnliches Schicksal, doch sorgte ausgerechnet die Propagandapolitik der Nationalsozialisten dafür, dass der Zyklus ab 1941 wieder aufgeführt werden durfte.11 Vorerst das letzte Mal wurde Má vlast als Zyklus am 29. September 1939 in Prag und noch einmal am 22. September 1940 in Železný Brod gespielt. Wie die Libuše riefen diese Konzerte ein starkes nationales Echo beim tschechischen Publikum hervor, sodass die Besatzer die Aufführung des Zyklus fortan verboten.12 Am 6. November 1940 besuchte jedoch Joseph Goebbels eine Aufführung der Verkauften Braut im Nationaltheater, die von Václav Talich, Direktor des Nationaltheaters und Chefdirigent der Tschechischen Philharmoniker, geleitet wurde. Als großzügige Geste einer „protektorischen“ Kulturpolitik seines Regimes lud Goebbels Talich zu einer Konzertreise nach Berlin und Dresden ein; der tschechische Dirigent akzeptierte unter der Bedingung, dass er das Programm selbst bestimmen dürfe. Die Bitte wurde gewährt – und Talich wählte politisch. Sein Programm bestand aus Beethovens Ouver11 Milan Kuna sei für die folgenden Angaben gedankt. Das Schicksal von Smetanas Werken unter der deutschen Besatzung ist bei Kuna (1974) ausführlich beschrieben. Bezeichnenderweise wurde das Manuskript dieses Buches 1970 vor der Drucklegung von den sowjetischen Machthabern in der Tschechoslowakei zurückgezogen – zu sehr erinnerten die kulturpolitischen Ereignisse, die Kuna darin beschreibt, an Parallelen zur repressiven sowjetischen Besatzungspolitik nach 1968. Erst das Smetana-Jubiläum 1974 (150. Geburtstag) setzte das Veröffentlichungsverbot schließlich außer Kraft. 12 Bereits nach der Aufführung von Mein Vaterland im Nationaltheater am 2. Mai 1939 (Tschechische Philharmoniker unter Václav Talich) ließ das Publikum Talich und die Philharmoniker mit dem begeisterten Ruf hochleben: „Es lebe Smetanas Mein Vaterland und – unser Vaterland!“ („Mé vlasti Smetanově a – Vlasti svojí!“, Kuna 1974: 25f.).
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türe zu Egmont, also zu einem Schauspiel, in dem der Fall eines Tyrannen vor Augen geführt wird, und aus Má vlast, dem nationalen Hoffnungssymbol der Tschechen. Goebbels erkannte die List nicht und sagte Talich zu – erst nach den Konzerten in Berlin und Dresden (11. und 12. Februar 1941) erkannten deutsche Kritiker, was der tschechische Gastdirigent da gespielt hatte. Talich hatte Glück, er kam ungeschoren davon13 – und Má vlast durfte als Werk, das im Reich gespielt worden war, wieder in Prag aufgeführt werden. Allerdings blieben die Besatzer auf der Hut, war ihnen doch bewusst, dass sich insbesondere Tábor und Blaník an der äußersten Grenze des Zulässigen bewegten: Die beiden symphonischen Dichtungen wurden bei Aufführungen des Zyklus häufig unterdrückt; zumindest aber war es den Verfassern von Programmheften verboten, die beiden Stücke und ihre Bedeutung mit mehr als einer Zeile zu beschreiben (Kuna 1998: 355; Kuna 1974). Anfang Februar 1945, drei Monate vor Kriegsende, führte die Tschechische Philharmonie unter Karel Boleslav Jirák den gesamten Zyklus auf. Am 6. Februar veröffentlichte der Musiker, Musikwissenschaftler und Kritiker Zdeněk Němec unter dem Kürzel ek folgende Rezension: Smetanas Mein Vaterland gehört zu jenen Werken, die allen Anstürmen der Zeiten und Umstände standhalten; es läßt in seiner Eindeutigkeit keine andere Schlußfolgerung zu als die, die durch die Idee des Blaník gegeben ist; es ist Träger überzeitlicher Werte und daher von höchster musikalischer und moralischer Erhabenheit. Das Werk übt auf den Hörer von den ersten Akkorden des Vyšehrad an eine ergreifende Wirkung aus und leitet ihn in hinreißender Weise bis zum Erscheinen der siegreichen Ritter, die in den düstersten Zeiten der Nation kommen werden, um die Fesseln der Unterdrückung und der Finsternis zu brechen. In diesem Sinne hatte Smetanas Werk seine Sendung im Ersten Weltkrieg vollbracht, und so wird es auch heute von uns aufgenommen. (Kuna 1998: 22)14
Němec – bittere Ironie, dass sein Name „der Deutsche“ bedeutet – verließ sich offenbar darauf, dass die Aufmerksamkeit der Gestapo angesichts der absehbaren Niederlage auf andere Dinge als die Kunst gerichtet sei. Er hatte sich geirrt. Schon am Tag nach dem Erscheinen zwang die Gestapo die Redaktion des České slovo, den Namen des Rezensenten preiszugeben, am selben Abend wurde Němec verhaftet und die Nacht hindurch verhört und gefoltert. Am Morgen des 8. Februar 1945 wurde Zdeněk Němec von den Gestapo-Schergen erschlagen wie ein räudiger Hund – weil er es gewagt hat13 Paradoxerweise musste er sich später wegen dieser couragierten Herausforderung der Nationalsozialisten gegen seine Feinde aus dem kommunistischen Lager (angeführt durch den dogmatischen Smetana-Forscher Zdeněk Nejedlý) wegen angeblicher Kollaboration verteidigen (Karbusický 1975: 319). 14 Dort eine Abbildung der kurzen Rezension im tschechischen Original.
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te, die Hoffnung offen kundzutun, die in Smetanas Zyklus Má vlast für jeden Tschechen verborgen lag. *** Die Beispiele zur Rezeption von Má vlast in Österreich und Deutschland geben nicht nur Zeugnis vom spannungsvollen Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen (sowie Österreichern). Sie zeigen auch, in welch enger Wechselbeziehung Musik und Politik stehen können – gerade Die Moldau, dieses unschuldig plätschernde, weltweit so beliebte Konzertstück, fasst tschechische Kultur und tschechisches Nationalverständnis in sich. Und gerade wegen seines scheinbar so unpolitischen Inhalts wurde dieses Werk vielfach missverstanden und zur Zeit deutscher (aber auch sowjetischer) Besatzung missbraucht.15 Tatsächlich aber war zumindest den NS-Besatzern die politische Brisanz von Má vlast durchaus bewusst. Ihre Unterdrückungsstrategien lassen erkennen, welch politischen Sprengstoff Musik in sich bergen kann – in wenigen symphonischen Werken wird dies deutlicher als in Má vlast.
5. Anhang: Zur anschließenden Diskussion des Vortrags
5.1. Das Nationale in der Musik Im Vortrag wurde u. a. deutlich, mit welcher Zielstrebigkeit sich Smetana zum tschechischen Nationalkomponisten stilisiert hat – eine Werbestrategie, die von seinen Freunden und von späteren tschechischen Musikwissenschaftlern aufgenommen und – bis zur allmählichen Diversifizierung der musikwissenschaftlichen Lehrmeinungen im späten 20. Jahrhundert – geradezu dogmatisiert wurde. Daraus ergab sich in der Diskussion die Frage nach dem Nationalen in der Musik und insbesondere nach den Parametern, die eine Kompo15 Zur tschechischen Kulturpolitik der sowjetischen Machthaber vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Koldau (2007: 171-173, dort weitere Literaturhinweise).
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sition als nationale Musik auszeichnen. Aus musikwissenschaftlicher Sicht ist dies eine hochkomplexe und oft untersuchte Fragestellung: In Verbindung mit der in ganz Europa auflebenden Nationalbewegung entstanden in zahlreichen europäischen Ländern nationale Schulen in der Musik (in Italien und Frankreich geht die Herausarbeitung von Nationalstilen, meist in gegenseitiger Abgrenzung, zurück bis ins 17. Jahrhundert). Insbesondere kleinere, politisch abhängige Länder bemühten sich im 19. Jahrhundert darum, einen nationalen Musikstil zu entwickeln, um ihre eigene Kultur und somit ihren Anspruch einer (möglichst auch politisch) selbstständigen Nation nach außen hin zu demonstrieren; die Entwicklung der tschechischen Musik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts steht in diesem Zusammenhang (Storck 2001). Tatsächlich werden verschiedene Stilmerkmale in Kompositionen des 19. und auch 20. Jahrhunderts bis heute spontan als typisch polnisch, norwegisch, ungarisch oder eben tschechisch empfunden. Dies aber konkret in der Musik festzumachen, ist kein leichtes Unterfangen – der Verweis auf eindeutige Kompositionsmerkmale (in tschechischer Musik z. B. die starke Betonung auf dem ersten Schlag – entsprechend der Sprachbetonung – oder die Vorliebe für synkopische Rhythmen) verharrt bei einigen wenigen Details, die allzu häufig als Klischees eingesetzt wurden, um den Eindruck des Nationalen zu erwecken, die aber in ihrem Wesen keine nationale Eigenheit in der Musik konstituieren, da sie auch in der Musik anderer Nationen häufig vorkommen.16 Am häufigsten griff man auf traditionelle Volkslieder zurück, um einem Werk einen eindeutigen nationalen Charakter zu verleihen – gerade Smetana aber lehnte diese Technik, die er in Bezug auf die Opernkomposition abfällig als „Liederpotpourri“ bezeichnete, vehement ab.17 Wie Michael Beckerman in seiner scharfsinnigen Studie In Search of Czechness in Music darlegt, lässt sich allein an musikalischen Merkmalen „das Tschechische“ in der Musik nicht festmachen. 16 Vgl. die Diskussion verschiedener Beispiele bei Michael Beckerman (1986: 61-73). 17 Vgl. Smetanas Debatte mit dem alttschechisch orientierten Politiker und Theaterintendanten František Rieger um die musikalischen Zutaten für eine tschechische Nationaloper: Während Rieger davon ausging, dass die Grundlage einer solchen Oper tschechische Volkslieder sein müssten, wehrte sich Smetana gegen diese Auffassung, da auf diese Weise „ein Liederpotpourri, ein Quodlibet“ zustande käme, nicht aber ein „einheitliches Kunstwerk“ (Bartoš 1954: 83). Der in der Literatur häufig anzutreffende Hinweis, dem MoldauThema läge ein tschechisches Volkslied zugrunde, ist inkorrekt; plausibel wäre allenfalls eine Anlehnung an das schwedische Ack Värmeland, du sköna, das Smetana aus seiner Göteborger Zeit bekannt gewesen sein dürfte. Grundsätzlich vermied Smetana jedoch literale Zitate von bestehenden Volksliedern: Die meisten Melodien in seinen Werken sind zwar volksliedhaft, aber keine Volkslieder, da hier Liedstrukturen zugrunde liegen, nicht aber konkrete Melodien aus der tschechischen Überlieferung.
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Vielmehr entfaltet die Musik von Smetana und seinen jüngeren Zeitgenossen ihre spezifisch nationale Wirkung durch die Einbindung in den Kontext ihrer Zeit, das heißt, in die kulturellen und politischen Themen, die die tschechische Nationalbewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert antrieben. In Smetanas Opern wie auch in Mein Vaterland wird die glorreiche Vergangenheit der Tschechen beschworen und als Chiffre für die Zukunft eines selbstständigen tschechischen Staats gelesen. Erst die Verbindung mit dem Außermusikalischen gibt den musikalischen Elementen, die an sich nicht „exklusiv tschechisch“ genannt werden können, den Anstrich eines Nationalstils: But perhaps we must realize that Czechness is more than the sum of its parts; that these sights, sounds, events, ideas, and legends give rise to a peculiar sensibility. The ‚Czech style‛ emerges only when both Czech and non-Czech elements are filtered through this allembracing world view. [...] For example, the opening chords of Má vlast are not specifically Czech: I – vi –V6 – I in the key of Eb. Yet when Smetana juxtaposes these chords with the image of the great rock Vyšehrad, and that image is further abstracted into a symbol of the enduring quality of the Czech people, the chords become imbued with a sensibility, and the sensibility becomes tied to something concrete. Having been suffused with Czechness, the chords become Czech and impart this quality to the surrounding material, which ultimately redefines and enhances the very sensibility that produced it. (Beckermann: 1986: 71-73)18
5.2. Smetanas Stilisierung zum Nationalkomponisten Ludger Udolph wies in der Diskussion im Zusammenhang mit der Frage nach dem Nationalen in der Musik darauf hin, dass die gängige Darstellung Smetanas als ‚des‘ nationalen Komponisten der Tschechen differenzierter zu sehen sei: Smetana gehörte einer von mehreren Interessengruppen an, die ihn zu ihrer kulturellen Galionsfigur machte und später dogmatisch zum Begründer einer tschechischen Nationalmusik stilisierte; andere Gruppen im damaligen Böhmen wie auch im heutigen Tschechien sähen die Bedeutung seiner Musik durchaus anders. Dieser Hinweis ist korrekt und wichtig, wird doch anhand von Smetanas Biographie – wie nur bei wenigen vergleichbaren Komponisten in anderen Ländern – deutlich, welch enge Verbindung eine patriotische Überzeugung mit dem notwendigen Streben nach einer stabilen künstlerischen Existenz eingehen kann. Die tschechische Kulturszene der 1860er- und 70er-Jahre war von einem heftigen Kampf verschiedener Interessengruppen 18 Die Abkürzung für die eröffnende Akkordfolge von Vyšehrad steht für die Funktionen dieser Akkorde: I (Tonika Es) – vi (Tonikaparallele c) – V (Dominante B) – I (Tonika Es).
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um die Vorherrschaft geprägt. Smetana, der Anfang der 60er-Jahre als Kapellmeister in Göteborg seine Chance erkannte, an der Konstituierung eines nationalen tschechischen Kulturlebens mitarbeiten (und sich selbst dabei als Musiker und Komponist etablieren) zu können, geriet bei seiner Rückkehr in die Heimat in den erbitterten Parteienstreit zwischen Patrioten und Kosmopoliten (im politischen Bereich entsprechen dem die einflussreichen Gruppierungen der Alttschechen und Jungtschechen), die sich auf der einen Seite für nationale Abgrenzung und Ablehnung alles Nicht-Tschechischen einsetzten, auf der anderen Seite für den Austausch mit der internationalen künstlerischen Entwicklung plädierten.19 Smetana sah seine Chance in der nationalen Oper: Erstmals sollten in Prag auch tschechischsprachige Opern gespielt werden. Das Kapellmeisteramt am Interimstheater bot somit die zentrale Position im Aufbau eines nationalen Musiklebens. Bis es Smetana gelang, dieses Amt zu erringen, vergingen jedoch fünf Jahre – fünf Jahre, die der national gesinnte Komponist damit verbrachte, im neu entstehenden tschechischen Kulturleben Fuß zu fassen, sich im Kreis der späteren Jungtschechen um die Schriftsteller Jan Neruda und Vítězslav Hálek starke Verbündete zu suchen und seine Ideen auf verschiedenen Wegen zu propagieren.20 Smetanas Apo strophierung als „Begründer der tschechischen Nationalmusik“ ist daher in der Tat differenziert und im Kontext des (kultur-)politischen Umfelds im 19. und 20. Jahrhundert zu sehen. Heute ist die dogmatische Deutung von Smetana, wie sie insbesondere unter Zdeněk Nejedlý zementiert wurde (seit 1909 Professor für Musikwissenschaft an der Karlsuniversität, 1948 von den Sowjets zum Minister für Schulwesen, Wissenschaft und Kunst erhoben), aufgebrochen. Dennoch finden sich auch in jüngeren tschechischen Studien im Detail immer wieder Spuren der traditionellen, stark national ausgerichteten Deutung von Smetana und seiner Musik. Ein frappierendes Beispiel ist die Deutung der Schlussakkorde von Tábor in der tschechischen Literatur: Die symphonische Dichtung endet mit der monotonen Wiederholung der beiden Motivzellen (den eröffnenden acht Noten des Chorals), die das gesamte Werk obsessiv durchdringen. Die abschließenden Takte sind ein letztes, gewaltsames Einhämmern dieser beiden immergleichen Zellen – harte, immer dichtere Wechselschläge 19 In diesem Kontext sind auch die wiederholten Vorwürfe des „Wagnerismus“ gegen Smetana zu verstehen, ebenso die heftigen Angriffe und scharfen Kritiken, gegen die er sich als Kapellmeister am Interimstheater behaupten musste. 20 Das faszinierende Ineinander von politischer Überzeugungsarbeit und persönlichem Karrierestreben ist ausführlich dargestellt bei Storck (1995: 76-90). Zur weiteren Einordnung von Smetanas Wirken in die Entwicklung des tschechischen Kulturlebens vgl. Storck (2001) und Koldau (2007: 8-17).
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zwischen Streichern und Bläsern in ständiger dynamischer Steigerung. Ein letzter Paukenschlag reißt das Geschehen ab – eine Lösung, eine Auflösung, eine Versöhnung gibt es nicht. Blaník, die folgende und letzte Tondichtung von Má vlast, hebt mit genau den Schlägen an, mit denen Tábor endete – gleiche Tonart, gleicher Rhythmus, gleiche Instrumentation. Die Verbindung zwischen beiden Stücken ist offensichtlich; Smetana selbst beharrte darauf, dass „die beiden Stücke – Tábor und Blaník unmittelbar aufeinanderfolgend gespielt werden“ müssen, weil sie einander ergänzen (Bartoš 1954: 318). Dennoch verbleibt Tábor in sich vollkommen selbstständig, es kann auch ohne die Fortsetzung von Blaník bestehen. Der ungewöhnliche, scheinbar offene Abschluss von Tábor hat inhaltliche Gründe: Die Hussitenkriege, auf die sich die symphonische Dichtung Tábor bezieht, endeten auf eine Weise, die für Smetana und seine national gesinnten Landsleute kein Ende war, sondern ein brutaler Abbruch, keine endgültige Vernichtung, sondern nur ein Innehalten. Der Wille der Taboriten (die ja nach der Sage im Berg Blaník fortlebten) blieb ungebrochen – das schrieb Smetana in seiner Eingangsnotiz zu Tábor fest, das komponierte er in dieser symphonischen Dichtung aus, und das impliziert der gewaltsame Abbruch am Schluss, der keine Finalwirkung zulassen kann (Koldau 2007: 105-129). Bezeichnend aber scheint die Deutung dieses Schlusses in der tschechischen musikwissenschaftlichen Literatur: Hier wird dieser harte Abbruch als ‚Sieg‘ der Taboriten interpretiert, als triumphale Apotheose ihres ungebrochenen Kampfesgeistes, ganz im Sinne von Smetanas Programm (Smolka 1984: 267).21 Angesichts des historischen Rückbezugs und vor allem der untrennbaren Einheit, die Tábor und Blaník laut Smetana bilden, scheint es jedoch eher, dass in Tábor das historische Faktum, d. h. die letztendliche Niederlage und Vernichtung der Taboriten, in Musik gesetzt wird – um dann mit Blaník den unzerstörbaren Keim nationaler Hoffnung, den die Legende vom Rückzug eines kleinen Häufleins in den Berg Blaník in sich trägt, zu einer gewaltigen nationalen Apotheose zu entfalten. Smetanas nachdrückliche Betonung, dass Tábor und Blaník untrennbar zusammengehören und auch so aufgeführt werden müssen, wie auch der musikalische Prozess der Choralverarbeitung (die Umgestaltung der letzten, zuversichtlichen Zeile zum triumphalen Schlussmarsch in Blaník) sprechen für eine solche Lesart, die Tábor zunächst negativ enden lässt – die aber tschechischen Interpreten nach Jahrhunderten der Unterdrückung und jahrzehntelangem Kampf um die nationale Selbstbestimmung unerträglich scheinen musste. Eine weitere Anmerkung Ludger Udolphs, dass der national gesinnte Smetana in seiner Musik doch „auch anders konnte“, indem er im letzten Satz 21 Dort auch entsprechende Verweise auf die ältere tschechische Literatur.
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seiner Triumph-Symphonie ausgerechnet die Melodie von Gott erhalte Franz, den Kaiser unterbrachte, lenkte den Blick erneut auf die gleichermaßen politische und persönlich-biographische Verortung von Smetanas Werken: Die TriumphSymphonie (Triumfální symfonie, auch Slavnostní symfonie) entstand 1853 zur Feier der Hochzeit von Kaiser Franz Joseph I. mit der bayerischen Prinzessin Elisabeth. Tatsächlich galt der junge Kaiser den liberal gesinnten Tschechen zu dieser Zeit noch als Hoffnungsträger, so dass Smetanas nationale Überzeugungen hier durchaus mit der Hommage an den Kaiser konvergierten. Dem gemäß überrascht es nicht, dass Haydns Kaiser-Lied, das den national gesinnten Tschechen erst später verhasst wurde, in drei von vier Sätzen erklingt und im Finale schließlich fast zehn Minuten lang in allen denkbaren musikalischen Variationen und Verarbeitungen zur Tutti-Apotheose hingesteigert wird. Wie in den 1860er-Jahren dürften die äußeren politischen Bedingungen dieser musikalischen Hommage mit Smetanas persönlichem Karrierestreben verschmolzen sein: In den frühen 1850er-Jahren hatte er noch viel existenzieller um eine Etablierung als Musiker zu kämpfen als nach seiner Rückkehr aus Schweden Anfang der 1860er-Jahre (als er immerhin schon die Erfahrungen eines Kapellmeisters vorweisen konnte) – es ist durchaus vorstellbar, dass er mit dieser Hommage an das Brautpaar gleichzeitig die Hoffnung auf eine Anstellung als Musiker verband.
5.3 Zur Rezeption von Die goldene Stadt durch ein tschechisches Publikum In Bezug auf Die goldene Stadt wurde erwähnt, dass der Film nicht nur die NSIdeologie verarbeitet, sondern auch allgemeine und weitaus ältere literarische Motive wie den Gegensatz zwischen Stadt und Land und die Thematik des unschuldigen Mädchens vom Lande, das in der Stadt seine Ehre verliert und, nachdem es verstoßen wurde, den Tod sucht. Daraus ergab sich die Frage, ob ein Film, der ein so beliebtes Sujet vorführt, in den 40er-Jahren nicht auch den Tschechen gefallen haben könnte. In der Tat zeigte mir bei den Recherchen zu Smetanas Má vlast zumindest eine Zeitzeugen-Reaktion, dass der Film das Publikum von 1942 in seiner Gesamtheit bezauberte (nicht umsonst zählte er zu den erfolgreichsten Filmen seiner Zeit!). Eine 1923 geborene Freundin, die Diplomchemikerin Hildegunde Hahn, berichtete mir noch im Jahr 2007 mit sichtlicher Bewe-
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gung, welche Wirkung dieser Film in einer Zeit hatte, da die Bevölkerung von Hunger, Bombenangriffen, Trümmern und Todesnachrichten umgeben war. Immerhin ist Die goldene Stadt einer der ersten deutschen Farbfilme: Die bunten Ansichten von Prag und Böhmen zeigten trotz der melodramatischen Handlung eine heile, glückliche Welt, die den Kriegsalltag wenigstens für eine kurze Zeit vergessen ließ. Die Musik trug zu dieser Verzauberung bei – auch in den 40er-Jahren zählte Die Moldau bereits zu den Klassikern des symphonischen Konzertrepertoires. Insofern schien der Schluss, dass auch das Prager Publikum diesen Film geschätzt haben und somit den Einsatz von Smetanas Musik nicht unbedingt als ‚Vergewaltigung‘ dieses nationalen Zyklus empfunden haben könnte, in der Diskussion durchaus als möglich. Da mir keine Quellen zur Rezeption von Die goldene Stadt in Prag oder anderen tschechischen Städten vorliegen, ließ sich zu dieser These weiter nichts sagen. Höchst eindrücklich aber war eine Begegnung, die sich nur wenige Stunden darauf abspielte: Nach Ende der Konferenz traf ich am Bahnhof auf den Tagungsteilnehmer Tomáš Kasper (Liberec). Ohne dass ich ihn von mir aus auf das Thema angesprochen hätte, sagte er sofort, wie sehr ihn die Filmausschnitte bewegt hatten: Er hatte Die goldene Stadt bereits 1996 oder 1997 in Zürich in einem Seminar über die Filme von Veit Harlan kennen gelernt. Für ihn als Tschechen war es dabei fürchterlich gewesen, Motive aus Má vlast zu einem derart von der NS-Ideologie geprägten Film hören zu müssen.22 Tomáš Kasper hat den Film über 50 Jahre nach seiner Entstehung gesehen, inzwischen haben sich die politischen Koordinaten grundlegend geändert – und doch kann die Kombination einer nazideutschen Film-Usurpation mit Smetanas musikalischem Bekenntnis zur tschechischen Nation auf einen Tschechen bis heute schockierend und abstoßend wirken.
22 Die schweizerischen Studenten dagegen empfanden laut Kasper den Film gar nicht als so schlimm, da sie die in die Handlung eingewobene NS-Ideologie zunächst nicht erkannten und ihnen die zentrale Bedeutung von Má vlast für die Tschechen auch nicht geläufig war.
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Literatur
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Baudenkmäler im tschechoslowakischen Grenzland nach dem Zweiten Weltkrieg. Strategien der (Wieder-)Aneignung Der noch immer recht reiche, wenn auch stark dezimierte Bestand an Bauund Kunstdenkmälern in den grenznahen Regionen Böhmens wird seit der so genannten Wende neu ins Blickfeld gerückt. Das geschieht durch energisch vorangetriebene denkmalpflegerische Maßnahmen, welche die Bausubstanz vor weiterem Verfall bewahren, aber auch die Lebensqualität und die touristische Attraktivität der Orte heben sollen. Kunsthistoriker und Historiker haben sich dem „Schicksal“ der Denkmäler im Grenzland bisher hauptsächlich zugewandt, um die massiven Zerstörungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu beklagen und die jahrzehntelange Amnesie in Bezug auf die „deutsche Vergangenheit“ dieser Regionen in einer „versöhnlich-objektivierenden“ Absicht zu überwinden (vgl. stellvertretend Hlobil 1990; Kuthan 1990; Spurný 2006). Die Frage, wie das materielle Kulturerbe in den Jahren nach dem Krieg, nach der Vertreibung und der Neubesiedlung des Grenzlandes behandelt und verhandelt wurde, hat kaum Interesse geweckt. Wenn heute in der Fachliteratur wie auch in Reiseführern Kirchen, Schlösser, öffentliche Bauten unter den Namen ihrer Architekten zu finden sind und im Rahmen des jeweiligen Künstlerœuvres oder aber als Teil eines europäischen Kulturerbes beschrieben werden, so ist dieser Kategorisierung ein komplexer und langwieriger Integrationsprozess vorausgegangen. Dieser Prozess wird im Folgenden in einigen seiner Hauptetappen und -aspekte skizziert, wobei die Kontinuitätslinien in der Genese des Denkmalbegriffs thesenhaft hervorgehoben werden sollen. Die Schwerpunkte liegen auf der Frage nach Wechselwirkungen zwischen kulturellen und politischen Bedingungen einerseits und der Selbstverständigung einer wissenschaftlichen Disziplin über ihren Gegenstand und ihre methodischen Standards andererseits – einer Frage, die prinzipiell keineswegs auf spezifische Fallbeispiele, zumal im östlichen Mitteleuropa und in neuralgischen historischen Phasen, zu beschränken ist und die eine systematische Analyse verdienen würde.
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1. Das „nationale Wesen“ der Kunst als Forschungsgegenstand und -ziel: 19. Jahrhundert und Zwischenkriegszeit
Eine große Rolle spielte der Denkmälerbestand für die Legitimation territorialer Anrechte bzw. „territorialen Eigentums“, wobei besonders Baudenkmälern die Rolle von „Kronzeugen“ zukam. Analoge Argumentationsmuster sind seit dem 19. Jahrhundert prinzipiell in allen Emanzipationsbewegungen anzutreffen, zumal in solchen, die sich in imperialen Kontexten und ihnen vergleichbaren Konstellationen entwickelten. Sie wurden verstärkt in instabilen politischen Situationen aufgerufen sowie in Bezug auf „umstrittene“ Territorien, demzufolge auch zu unterschiedlichen Zeiten: ebenso in den 1870er Jahren in Bezug auf das Elsass (François 2009) wie in der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen und auch in der Bundesrepublik für die „polnischen Westgebiete“ (Labuda 2002; Marek 2008). „Besitzansprüche“ an historischen Kulturzeugnissen standen – so kann man durchaus pauschalieren – stets in einem politischen Argumentationszusammenhang, wobei sich die „wissenschaftliche“ Kunstgeschichte daran ebenso beteiligte wie die populäre Publizistik. Das „nationale Wesen“ einer künstlerischen bzw. architektonischen Äußerungsform festzustellen, avancierte zeitweise zum vorrangigen Ziel auch wissenschaftlicher Kunstgeschichtsschreibung.1 Für Böhmen lässt sich dieses Leitmotiv dementsprechend auf die 1850er Jahre zurückführen: Auf die Kontroverse um die böhmische Gotik, in der die Frage verhandelt wurde, ob die gotische Konstruktionsweise und Formensprache „direkt“ aus Frankreich „importiert“ und dann „assimiliert“ worden sei, oder ob sie vermittelt über „Deutschland“ nach Böhmen gelangt sei und ihren „deutschen Charakter“ bewahrt habe (Vybíral 2000; Marek 2004: 301f.). Diesen Standpunkt vertrat besonders plakativ der seinerzeit in Prag tätige Professor für Kunstgeschichte Alfred Woltmann 1876 in einem öffentlichen Vortrag, in dem er das gesamte bauliche und künstlerische Erscheinungsbild Prags Epoche für Epoche, bis in seine Gegenwart hinein, als „deutsch“ auszuweisen suchte. Seine Argumente beruhten im Wesentlichen auf Informa tionen über Transfer- und Rezeptionsvorgänge sowie auf dem formal-stilisti1 Den Begriff „Wesensforschung“ führte Adam Labuda (2002) ein. Vgl. dazu auch Locher (1996; 2001: 99-202). Am prominenten Beispiel des deutsch-französischen „Streits“ um die Gotik, insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg: Dilly (1990: 141-143).
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schen „Vergleich“, einer der auch heute noch zentralen Methoden der Kunstgeschichte. Daneben führte er die – unterstellte – Nationalität der Künstler und gelegentlich auch der Auftraggeber ins Feld. Schließlich spielte die nationale Zuschreibung des „Milieus“ bzw. des „Bodens“ eine Rolle, wobei diese in ihrer Funktion zwischen Voraussetzung und Resultat changierte (Woltmann 1877; Marek 2004: 299-302; Vybíral 2006). Die Gegenargumentation bewegte sich naturgemäß in den gleichen Diskursbahnen. Ein Beispiel ist die Konstruktion der spezifischen „tschechischen Renaissance“ in den 1880er Jahren: Die in Böhmen und Mähren verbreitete Sgraffitodekoration an Häuser- und Palastfassaden, die hierfür vereinnahmt wurde, qualifizierte der Initiator dieses Deutungsmodells, der Architekt Jan Koula, als „italienischen Import“, der einem spezifisch tschechischen „Geschmack“ adaptiert worden sei – dies gehe schon daraus hervor, dass in „Deutschland“ diese Dekorationstechnik nicht vorkomme. Das Argument zielte auf einen – neu zu belebenden – „nationalen Baustil“, und dieser wiederum bezog seine Legitimität aus dem „Befund“, dass er in der Frühen Neuzeit von einem „tschechischen“ Adel und Bürgertum gepflegt worden sei (Marek 2004: 301-311). Analoge Beispiele der nationalen Codierung historischer Epochenstile, einschließlich ihrer „wissenschaftlichen“ Begründungen, bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg könnten in beachtlicher Zahl angeführt werden. Als wesentlich können folgende Momente festgehalten werden: zum Einen das Vorherrschen des nationalen Interesses im kunsthistorischen und kunstpublizistischen Diskurs im ausgehenden 19. Jahrhundert und noch weit darüber hinaus – die Kunstgeschichte sekundierte der Emanzipationspolitik und sie blieb dieser „Selbstverpflichtung“ auch dann noch durchweg treu, als die „Wiener Schule“ der Kunstgeschichte mit den „Gesetzmäßigkeiten“ der Stilentwicklung oder Aby Warburg mit kulturgeschichtlichen Fragen ganz neue, in andere Richtungen weisende Erkenntnisinteressen aufgeworfen hatten und das Fach aus der Bindung an die nationale Selbstvergewisserung herausführten.2 Zum anderen ist das irrationale Moment festzuhalten, das jeder Argumentation dieser Art eignet: „‚Identität‘ ist nicht verhandelbar.“3 Diese Weichenstellung führte nach dem Ersten Weltkrieg nicht etwa in eine Sackgasse, im Gegenteil: In der Folge der Pariser Vororteverträge ge2 �������������������������������������������������������������������������������������� Zur Wiener Schule: Lachnit (2005); vgl. Bakoš (2004: bes. 81-86), der in den anationalen oder übernationalen Ansätzen der Wiener Schule eine politische, auf die Integration der Nationalkulturen abzielende Dimension erkennt. Zu Warburg s. Bredekamp/Diers/ Schoell-Glass (1991). 3 So in vergleichbarem Zusammenhang Claus Offe (2009).
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wann die nationale Argumentation neue, umso größere Aktualität. So leitete Georg Dehio 1919, damals in Straßburg ansässig, das Kapitel über mittelalterliche Architektur in Böhmen in seiner „Geschichte der deutschen Kunst“ folgendermaßen ein: Wir überschreiten hier die deutsche Grenze und haben ein Recht dazu. Was wir antreffen ist deutsche Baukunst auf undeutschem Boden. Nicht in Konkurrenz mit einer vor oder neben ihr bestehenden indigenen Baukunst, sondern alleinherrschend. (Dehio 1919: 262; vgl. dazu Labuda 1993: 4)
Davon unabhängig, aber in analoger Argumentationsführung stellte in der neu gegründeten Tschechoslowakei Václav Vilém Štech seine kunsthistorische Fachkompetenz in den Dienst der Auseinandersetzungen um den Zuschnitt des Staatsterritoriums und den rechtlichen Status der nationalen Gruppen. Ebenfalls 1919 schrieb er: Der Boden ist […] die lebendige Macht, stärker als der Stamm [und] die Rasse, ewiger als die Sprache und die gesellschaftlichen Ideale seiner Bevölkerung. Er amalgamiert die hinzugekommenen fremden Kräfte, er bewältigt ihr rassisch individuelles Fühlen durch seine lebendige Kraft, er macht aus Fremden Repräsentanten der nationalen Einheit […]. (Štech 1921/1918: 234f.)4
Štech rechnete also mit „Kunstimporten“ und mit „fremdnationaler“ Kunstproduktion im Land, reklamierte sie aber für die „eigene“ nationale Kultur und begründete damit zugleich die Integrität der böhmischen Länder innerhalb des neuen Staates. Derart offensiv wurde dieses Interesse in der Folge nicht mehr vertreten, doch blieb das Prinzip maßgeblich: sowohl im wissenschaftlichen Diskurs als auch in dessen Popularisierungen, für die überwiegend dieselben Autoren verantwortlich zeichneten.5 Die radikale Position Štechs, der zufolge der gesamte Denkmälerbestand in der Tschechoslowakei der tschechischen Nationalkultur zuzurechnen sei – und umgekehrt die territoriale Regelung rechtfertige –, wurde von einem Handhabungsmodus abgelöst, den man als „diplomatisch“, genauer „binnendiplomatisch“ bezeichnen kann und der sich nach dem Eintritt deutscher Parteien in die Regierung 1926 auf eine durchaus zweischneidige Weise immer mehr verfestigte. Mitte der 1920er Jahre wurden kurz nacheinander zwei repräsentative Bildbände über „Tschechoslowakische Kunst“ und „Tschechoslowakische Volkskunst“ herausgegeben, in staatsoffiziellem Auftrag konzipiert von dem Kunsthistoriker Zdeněk Wirth, der damals hoher Beamter im Ministerium für 4 Übersetzung entlehnt bei Janatková (2000: 165). Diese These hatte Štech bereits im Jahr 1916 ausgeführt: Štech (1921/1916: 207f). Vgl. dazu Marek (2006: 83f.). 5 Für Polen vgl. Muthesius (1994: 8).
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Schulwesen und Kultur war (Uhlíková 2004: 61-66; Dvořáková 1987), und bestimmt für ein internationales Publikum, wie aus den siebensprachigen Begleittexten zu ersehen ist.6 Für die „tschechoslowakische Kunst von der Urzeit bis zur Gegenwart“, erschienen 1926, wurden allein Denkmäler als repräsentativ ausgewählt, die sich im böhmischen Binnenland befanden – und zwar unabhängig von ihrer Provenienz! –, während die deutschsprachigen Gebiete und ebenso Mähren und die Slowakei unberücksichtigt blieben. Nur graduell wurde die Auswahl der Illustrationen im Band über die Volkskunst einem repräsentativen Querschnitt angenähert: Die Kombination der Bilder betont hier immer wieder die „tschechisch-slowakische Gemeinsamkeit“, während die deutsch sprechende Bevölkerung mitsamt „ihrem Territorium“ wiederum ausgeklammert bleibt. Die ins Blickfeld gerückte Urtümlichkeit der Volkskunst begründet zudem stillschweigend eine Traditionalität, die den „tschechoslowakischen Deutschen“ nicht zugestanden wurde. In dieser Strategie wirkte ungebrochen die Argumentationsfigur des „Weißen Berges“ fort. Sie wurde in diesem Zusammenhang nicht expliziert, aber sie spielte im politischen Diskurs immer wieder eine Rolle und war Gemeingut (Rak 1994: 69-81, 129-140; Rak/Vlnas 2001). Ihr zufolge hätten sich „die Deutschen“ nach der Niederlage der böhmischen Ständerevolte im Jahr 1620 unrechtmäßig der Vorherrschaft im Land bemächtigt, weshalb sie nach wie vor als Eindringlinge und „Fremde“ zu betrachten seien. Wenn diese Argumentationsfigur in der innenpolitischen Konfliktrhetorik immer wieder aufgerufen wurde – wie beispielsweise in der Propagierung der Bodenreform (v. a. Balcar 1998) –, so ließ sie sich auf das Kunsterbe nur schwer übertragen. Da die nationale Kategorie als erstrangiges Qualifizierungsmerkmal für Kunst und Architektur unbestritten blieb, führte dies letztlich zur Ausblendung all derjenigen Denkmäler vor allem im Grenzland, die sich, etwa über den Namen des Architekten, mit „deutschem Kulturerbe“ verbanden. Auseinandersetzungen um die Provenienz der Epochenstile – und damit um die „Anteile“ der nationalen Kulturen an der Formation der Kultur des Landes – wurden auch in den 1920er Jahren noch geführt, allerdings nicht zwischen tschechischen und deutschen Kunsthistorikern, sondern zwischen unterschiedlichen Observanzen innerhalb der tschechischen Kunstgeschichte. Auf dem Primat der nationalen Zuordnung beharrten die patriotischstaatstragend eingestellten Kunsthistoriker, von denen einige – neben der Universität – als Beamte in Regierungsbehörden fungierten. Demgegenüber 6 �������������������������������������������������������������������������������������� Wirth (1926), mit Zusammenfassungen in Französisch, Englisch, Russisch, Polnisch, Slowenisch, Italienisch und Deutsch; Wirth (1928), wiederum mit Zusammenfassungen in sieben Fremdsprachen.
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entfalteten sich die Ansätze der „Wiener Schule“ allein im universitären Bereich (Marek 2006: 82f.). Von Seiten der deutschsprachigen (oder „deutschen“) Kunstgeschichte scheint sich niemand als Widerpart zur Verfügung gestellt zu haben: mit Ausnahme von Joseph Neuwirth, der 1919 – und nur in diesem einen Zusammenhang – in Rudolf Lodgmans Propagandawerk „Deutschböhmen“ seiner Beschreibung der Kunstgeschichte Böhmens einen nationalistischen Grundton unterlegte (Neuwirth 1919).7 Erst in den 1930er Jahren, allerdings noch deutlich vor dem Münchner Abkommen, schlossen sich einzelne Vertreter der Prager deutschen und der böhmischdeutschen Kunstgeschichte der „kunsthistorischen Ostforschung“ an,8 die hier – ebenso wie die auf Polen bezogene – der Politik vorauseilte und ihr gleichsam den „Boden bereitete“. Als erster wandte sich der Prager Ordinarius Karl Maria Swoboda in diese Richtung.9 Dennoch sind offene Konflikte um „nationale Besitztitel“ am Kunsterbe des Landes auch jetzt allem Anschein nach ausgeblieben: ein Sachverhalt, der erklärungsbedürftig, jedoch keineswegs leicht zu erklären ist. Die Vermeidung von Konflikten war wohl zugleich die Motivation und das Resultat jener bereits apostrophierten „Binnendiplomatie“ auf dem Gebiet der Denkmälerverwaltung. Eine wichtige Komponente bildete die Inventarisierung der Bau- und Kunstdenkmäler mit ihrer speziellen Organisation. Das Inventarisierungsprojekt war für die böhmischen Länder schon Anfang der 1890er Jahre eingeleitet worden und konnte nach 1918 prinzipiell unverändert fortgeführt werden. Initiatorin und Trägerin des Unternehmens war die „Kaiser-Franz-Josef-Akademie für Wissenschaften, Litteratur und Kunst“ bzw. ihre Nachfolgeeinrichtung, die „Česká akademie věd a umění“ [Böhmische (Tschechische) Akademie der Wissenschaften und Künste]. Das Konzept als „Topographie der historischen und Kunst-Denkmale im Königreiche Böhmen“ bzw. nach 1918 „in der Tschechoslowakischen Republik“ garantierte gleichsam, dass die erfassten Objekte als Zeugnisse der „kulturellen Leistung“ der jeweiligen Nationalität ausgewiesen wurden. Alle Bände sollten zunächst auf Tschechisch und dann in deutscher Übersetzung erscheinen. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges lagen 41 tschechische und 23 deutsche Ausgaben vor; von den nur 7 Vgl. Bartlová (2004: 74), die mit Recht auf die Einmaligkeit dieses Tenors in Neuwirths Œuvre hinweist. 8 ����������������������������������������������������������������������������������� Die Ostforschung im Fach Kunstgeschichte wurde bisher nur in Bezug auf Polen untersucht, zur Tschechoslowakei stehen systematische Forschungen noch aus. Vgl. Störtkuhl (2002; 2004). 9 So vor allem Karl Maria Swoboda; vgl. seine Publikationen seit 1937.
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mehr wenigen nach 1918 erschienenen Bänden wurde nur einer noch ins Deutsche übersetzt (Marek 2008: 60).10 Erst Mitte der 1920er Jahre wurde die Inventarisierung auch der mehrheitlich deutschsprachigen Gebiete entlang der Grenzen in Angriff genommen, und zwar als eigenständiges Unterfangen der nationalen Kulturpflege: geleitet von der „Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste für die Tschechoslowakische Republik“ und bearbeitet von „deutschen“ Autoren. Bis zum Münchner Abkommen erschienen drei Bände, allein in deutscher Fassung.11 Auf diese Weise – deren konkretes Zustandekommen noch archivalisch zu klären wäre – wurde der Denkmälerbestand der Tschechoslowakei gleichsam in „nationale Besitzstände“ aufgeteilt: In fachlicher wie auch in organisatorischer Hinsicht wurde die jeweilige „Zuständigkeit“ für den Denkmälerbestand respektiert, wobei dieser Aufteilung die Verwaltungsgliederung zu Grunde gelegt worden war, die auf anderen Feldern für die Regelung von Minderheiten- oder gar „Volksgruppen-Rechten“ nicht in Betracht gezogen wurde (Slapnicka 1970: 32-37). Eben dieses Prinzip kam – freilich in stark verschobenem Maßstab – zur Anwendung, als in der ersten Hälfte der 1930er Jahre der den Künsten gewidmete Band der staatsoffiziell herausgegebenen „Tschechoslowakischen Landeskunde“ [Československá vlastivěda] konzipiert wurde (Wirth/ Branberger 1935; vgl. Marek 2006: 94f.). Hier wird die Kunst bis um 1800 einheitlich für das gesamte Staatsgebiet unter „tschechischen“ Vorzeichen behandelt, einschließlich der Barockarchitektur, die seit dem 19. Jahrhundert noch immer hinsichtlich ihrer nationalen Zuordnung umstritten war.12 Erst für das 19. Jahrhundert teilten die Herausgeber die Kulturzeugnisse nach nationalen und territorialen Kriterien auf. Dabei erklärten sie allerdings, dass die Kunst der Slowakei nur knapp skizziert werde, weil sie erst in Ansätzen erforscht sei, und die Kunst des karpatoukrainischen Landesteils ganz unberücksichtigt bleibe, weil sie eigentlich russisch sei; „aus dem gleichen Grund wurden die Gebiete unseres Staates nur flüchtig berührt“, in denen durch „direkte fremde Einflüsse sich die lokale Kunst als eine Abart der Kunst des Auslandes entwickelt hat“ – das betraf Werke reichsdeut10 Vgl. Soupis památek historických a uměleckých v Království Českém od pravěku do počátku [do polovice] 19. století bzw. Topographie der historischen und Kunst-Denkmale im Königreiche Böhmen von der Urzeit bis zum Anfange [bis zur Mitte] des XIX. Jahrhunderts. 11 ������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. zu der Institution, die das deutsche Pendant zur tschechischen Akademie der Wissenschaften und Künste in der Tschechoslowakei bildete, Míšková/Neumüller (1994: bes. 35-50). 12 Vgl. zu dem Problemfeld Janatková (2000); Marek (2002).
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scher Künstler und Architekten in Böhmen, die vollständig ausgeblendet und eben dadurch als „deutscher“ bzw. „sudetendeutscher Besitzstand“ aus dem Kulturerbe des tschechoslowakischen Staates gleichsam ausgegliedert wurden. Dabei war es wiederum jener „Binnendiplomatie“ geschuldet, dass die Autorschaft an den – relativ sehr kurzen – Abschnitten zum deutschböhmischen und zum slowakischen Denkmälerbestand Fachleuten aus der jeweiligen Nationalität überlassen worden war. Parallel dazu entstand ein Handbuch der Kunstdenkmäler in Analogie zu den traditionsreichen deutschen „Dehio-Handbüchern“. Es erfasste das gesamte Land Böhmen und beschrieb den Denkmälerbestand, wie die „Dehio-Handbücher“, Ort für Ort in alphabetischer Reihenfolge. Es wurde in staatlichem Auftrag als „tschechisch-deutsche“ Kooperation von denselben Autoren wie die bisher genannten Werke und in beiden Sprachen bearbeitet. Vor dem Zweiten Weltkrieg konnte es jedoch nicht mehr erscheinen, weil 1939 die Verwaltung des Reichsgaus Sudetenland Einspruch gegen dessen Zusammenfassung mit dem Reichsprotektorat Böhmen und Mähren erhob (Wirth 1957: 6).13 Charakteristisch für die Zwischenkriegszeit scheint also einerseits das Bemühen zu sein, den historischen Denkmälerbestand – ihn gleichsam „modellierend“ – in die Tradition des neu gegründeten „Nationalstaates“ zu integrieren. Wenn dabei andererseits den Geboten der „Binnendiplomatie“ genüge getan und den böhmischen Deutschen ein „eigenes Urheber- und Besitzrecht“ an physischen Kulturgütern zugestanden wurde, so galt das nur für die Zeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – nicht für die ältere Architektur und Kunst in den überwiegend deutschsprachigen Gebieten. Die „wissenschaftliche Objektivierung“ erfolgte mit den letztlich aus dem 19. Jahrhundert fortwirkenden Mitteln kunsthistorischer Erkenntnisinteressen und Methoden. Dabei ist die faktische „Rollenverteilung“ auf die Institutionen und Diskursebenen bei häufig identischen Akteuren charakteristisch: schon innerhalb der „wissenschaftlichen“ Kunstgeschichte, aber ebenso in deren populärer und repräsentativer Vermittlung und schließlich auch in der Denkmalpflege.
13 Unter den Vorbildern wird selbst auf die seit 1941 u. d. T. Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler in der Ostmark erschienene Bearbeitung des Dehio-Handbuchs für Österreich verwiesen (Wirth 1957: 5f.). Vgl. Marek (2008: 60f.).
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2. Konstituierung und „Modellierung“ des Denkmälerbestandes nach 1945
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg konnten aus dieser eingeführten „Strategie der Verteilung“ Legitimationsprobleme erwachsen, zumindest in Bezug auf das vorangegangene Jahrhundert. Dazu kam es jedoch nicht: Denn es wurde dafür keinerlei Argumentation aufgewandt. Der Ausbürgerung der böhmischen Deutschen auf Grundlage der einschlägigen Dekrete des Staatspräsidenten war die Konfiskation aller Güter aus privatem und körperschaftlichem Besitz – d. h. Grund und Boden sowie Baulichkeiten jeder Art einschließlich Inventar – vorausgegangen, beginnend bereits im Mai 1945.14 Diese Güter wurden zunächst unter „nationale Verwaltung“ gestellt15 – wenig später dann unter die Verfügungsgewalt des „Nationalen Bodenfonds“ [Národní pozemkový fond]16 und des „Fonds für nationale Erneuerung“ [Fond národní obnovy],17 beide jeweils separat für die böhmischen Länder und die Slowakei eingerichtet –, um später neu verteilt und neuen Nutzungen zugeführt zu werden. Für Kulturgüter bzw. Denkmäler wurde – nach einer ersten, zunächst erfolglosen Initiative vom Sommer 1945 – ein Jahr später per Gesetz die „Nationale Kulturkommission“ [Národní kulturní komise], wiederum separat für beide Landesteile, ins Leben gerufen.18 Die Initiative scheint von Zdeněk 14 Dekrete Nr. 5, 12 und 108. Für die Texte, einschließlich begleitender Dokumente, siehe die Gesamtedition von Jech/Kaplan (1995: 216-236, 276-303; 1995a: 848-888). Vgl. Uhlíková (2004: 19f., 23, 25f.). 15 Dekret Nr. 5 vom 19. Mai 1945 (Wirth 1926; 1928). 16 Dies betraf landwirtschaftlich nutzbaren Boden (einschließlich der darauf befindlichen Baulichkeiten mit Inventar). Dekret Nr. 12 vom 21. Juni 1945 (Wirth 1926; 1928). 17 Bezogen auf nichtlandwirtschaftlichen Boden einschließlich Baulichkeiten mit Inventar. Dekret Nr. 108 vom 25. Oktober 1945 (Wirth 1926; 1928). 18 ������������������������������������������������������������������������������������� Gesetz Nr. 137 vom 16. Mai 1946 (Text unter [letzter Zugriff: 30.8.2009]). Siehe auch die Veröffentlichung des Gesetzestextes in Zprávy památkové péče 7, 1947, 1-4 (Rubrik „Přehled zákonodárství, ustanovení a organisačních opatření ve věcech památkové péče“ [Übersicht über Gesetzgebung, Bestimmungen und organisatorische Maßnahmen in Angelegenheiten der Denkmalpflege]), und bei Uhlíková (2004: 88-91). Die Nationale Kulturkommission für den slowakischen Landesteil bleibt hier unberücksichtigt. Die für Böhmen, Mähren und Mährisch-Schlesien zuständige Kulturkommission konstituierte sich als arbeitsfähiges Gremium im Februar 1947, nachdem Geschäftsordnung und Besetzung geregelt worden waren. Vgl. dazu Nesvadbíková (1983), darin: Informativní zpráva vydaná Národní kulturní komisí roku 1948 [Informationsbericht, herausgegeben von der Nationalen Kulturkommission im Jahr 1948], 273-280, hier 279. Vgl. zur
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Wirth ausgegangen zu sein, der dann auch Vorsitzender der Kommission wurde (Dvořáková 1987: 135; Uhlíková 2004: passim, bes. 66). Diese war dem Ministerium für Schulwesen und Kultur zugeordnet und hatte die Aufgabe, Denkmäler in der Masse der Konfiskate19 zunächst einmal zu „identifizieren“ sowie für eine Auswahl, die zu „staatlichem Kulturbesitz“ deklariert wurde, spezielle Formen der Sicherung und Nutzung zu entwickeln. Gleiches betraf dann den umfangreichen Bestand an Baulichkeiten einschließlich Inventar, der 1947 mit der „Revision der Bodenreform“ von 1919/20 in staatliches Eigentum gelangte.20 Mit diesem Gesetz wurde auch das Binnenland in die Enteignungspolitik einbezogen und die Zahl der potentiellen Baudenkmäler beträchtlich erhöht. Über die Klassifizierung und die weitere Verwendung der Baudenkmäler hatte sich die Nationale Kulturkommission mit dem Nationalen Bodenfonds, dem Fonds für nationale Erneuerung sowie weiteren Institutionen der „nationalen Verwaltung“ zu verständigen, die sich nicht selten als ihre Gegenspieler erwiesen.21 Diejenigen historischen Bauwerke, die von der Kulturkommission für Denkmäler zweiter Ordnung befunden und nicht in die Auslese des „staatlichen Kulturbesitzes“ aufgenommen wurden, waren durch die beiden Fonds öffentlichen und halböffentlichen Nutzern zuzuteilen: lokalen und regionalen Verwaltungen, Gewerkschaften, landwirtschaftlichen Genossenschaften u. dgl. mehr. Inventare wurden unter der Regie der Behörden zu großen Teilen verkauft.22 Ausgenommen blieb von diesen Regelungen vorerst das kirchliche Eigentum. Es wurde 1949 staatlicher Aufsicht und Entscheidungsgewalt unterstellt, was
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Nationalen Kulturkommission (für die böhmischen Länder) neuerdings umfassend Uhliková (2004); zur Vorgeschichte des Gesetzes Uhlíková (2004: 29f.). Der Gesetzestext referiert explizit auf die Dekrete Nr. 12 und Nr. 108, nicht auf Dekret Nr. 5. Vgl. Wirth (1926; 1928) und Anm. 18. Gesetz vom 11. Juli 1947 (Text unter: [letzter Zugriff: 30.8.2009]) sowie Verordnung des Ministers für Schulwesen und Kultur vom 9. Juli 1949 (betr. Übernahme der für denkmalwürdig befundenen Objekte unter Verwaltung durch die Nationale Kulturkommission)/(Nesvadbíková/Wirth/ Vinter 1983: 118f., 123f.; vgl. Uhlíková 2004: 47, Glassheim 2000). Vgl. Informativní zpráva vydaná Národní kulturní komisí roku 1950 [Informationsbericht, herausgegeben von der Nationalen Kulturkommission im Jahr 1950] (Nesvadbíková 1983: 281-357, hier 321f., 324-327). Vgl. dazu Úřad předsednictva vlády: Zpráva ve věci péče o kulturní a historické památky [Amt des Regierungspräsidiums: Bericht betreffend die Pflege von historischen und Kulturdenkmälern] vom 6. Juli 1950 bei Nesvadbíková (1983: 358-371, hier 360); ferner die Verordnung des Ministeriums für Landwirtschaft bezogen auf das Inventar derjenigen Schlösser, die im Zuge der Bodenreform in staatliches Eigentum übergegangen waren, vom 9. September 1950. Nesvadbíková/Wirth/Vinter (1983: 131). Vgl. Charvátová (1953: 34f.). Uhlíková (2004: 28f.) wertet die Verkaufsaktionen fälschlich als illegal.
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weitestgehende Abhängigkeit von der nunmehr dafür zuständigen zentralen Behörde bedeutete,23 doch blieb es dem Zugriff der Nationalen Kulturkommission und damit dem eigentumsrechtlichen Zugriff des Staates zunächst entzogen. In Ermangelung systematischer Kunstdenkmälerinventarisation vor allem für das Grenzland bzw. den ehemaligen Reichsgau Sudetenland – und erst recht einer funktionsfähigen Denkmalschutz-Infrastruktur in diesen Regionen24 – hatten die Fachleute unter den Mitgliedern der Nationalen Kulturkommission25 die Auswahl zu treffen und verhielten sich dabei in Anbetracht der minimalen finanziellen Mittel zunächst äußerst restriktiv.26 So waren 1948 unter den rund 500 aufgrund der Dekrete sowie der Bodenreform konfiszierten Objekten 46 Burgen und Schlösser für denkmalwürdig befunden worden;27 im Jahr 1950 wurde die Zahl der im Zuge der Bodenreform konfiszierten Adelssitze mit 583 beziffert und die Gesamtzahl der enteigneten Schlösser mit 800, davon waren knapp 100 für die Verwaltung durch die Nationale Kulturkommission und mithin für den Status als Denkmal in staatlichem Kulturbesitz vorgesehen.28 Neben den Behördenvertretern agierten, zunächst aus eigener Initiative, lokale Fachleute und interessierte Laien, die wertvolle Objekte vor Übergrif23 ��������������������������������������������������������������������������������������� Gesetz vom 14. Oktober 1949 (Errichtung der „Staatlichen Behörde für kirchliche Angelegenheiten“ [Státní úřad pro věci církevní]); Gesetz vom 14. Oktober 1949 (staatliche Aufsicht über Eigentum der Kirchen und Übernahme der Patronatsrechte durch den Staat); Regierungsverordnung vom 25. Oktober 1949 (Aufgaben und Zuständigkeiten der Staatlichen Behörde, darunter Denkmalschutz). Siehe Nesvadbíková/Wirth/Vinter (1983: 124-126). 24 1946 wurden vom Ministerium für Schulwesen und Kultur aufgrund der bestehenden – in ihren Grundzügen aus der Habsburgermonarchie übernommenen – gesetzlichen Regelung zur Denkmalpflege neue ehrenamtliche Konservatoren für alle Verwaltungsbezirke ernannt; es handelte sich überwiegend um Schullehrer, Museumsmitarbeiter, Archivare. Vgl. die Liste (ohne Datumsangabe) in Sochor (1947: 6-8) (Rubrik Přehled zákonodárství, ustanovení a organisačních opatření ve věcech památkové péče [Übersicht über Gesetzgebung, Bestimmungen und organisatorische Maßnahmen in Angelegenheiten der Denkmalpflege]). 1947 und nochmals 1951 wurde das System durch Erlass neuer Instruktionen aktualisiert. Nesvadbíková/Wirth/Vinter (1983: 115f. u. 133). 25 Zur personellen Besetzung der Nationalen Kulturkommission vgl. Uhlíková (2004: 31-34). 26 So Informativní zpráva vydaná Národní kulturní komisí roku 1948 [Informationsbericht, herausgegeben von der Nationalen Kulturkommission im Jahr 1948] bei Nesvadbíková (1983: 273-280, hier 275). 27 Ebd. 28 Informativní zpráva 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 282-285) (Auflistung): 93 Objekte, davon 69 bereits übernommen; siehe auch: Úřad předsednictva vlády: Zpráva 1950 (vgl. Anm. 22) (Nesvadbíková 1983: 360-364) (Auflistung): 94 Objekte, davon 62 bereits übernommen.
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fen zu schützen und zu erhalten suchten.29 Die regulären Denkmälerinventare aus der Zwischenkriegszeit lagen nur für drei Bezirke im Grenzland vor; zwar existierte die kurz gefasste Denkmaltopographie für das gesamte Gebiet der böhmischen Länder, jedoch nur als Kartei bzw. als Manuskript, so dass es de facto kein dezentral verfügbares Referenzwerk gab. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die lokalen Konservatoren über eine gewisse spezifische Vorbildung verfügten und „guten Willen“ aufbrachten – auch dazu, über die gültige historische Grenze der Denkmalwürdigkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts hinwegzusehen30 –, so mussten ihre Einschätzungen zwangsläufig prinzipiell willkürlich ausfallen. Hinzu kamen – letztlich noch folgenreicher als das Kompetenzproblem – Hindernisse praktischer Art. Da die materiellen Kulturwerte seitens der Neusiedler und der Verwaltung zunächst allein als „deutscher Besitz“ und mithin als Verfügungsmasse wahrgenommen wurden,31 gab es vielfach Anlass zu Konflikten, etwa wenn Organe der „nationalen Verwaltung“ neue Nutzungen verfügten, die mit zerstörenden Eingriffen in die Bausubstanz einhergingen.32 Zum anderen hatte bei denjenigen Objekten, die tatsächlich als Denkmäler hatten ausgewiesen und gesichert werden können, die jahrelange Verzögerung von Maßnahmen zur Erhaltung und Adaptierung zwangsläufig fortschreitenden Verfall zur Folge.33 Diese Umstände führten innerhalb weniger Jahre zu einer deutlichen Reduktion des Denkmäler- und Kulturgüterbestandes34 – was freilich nicht nur das Grenzland betraf. 29 Vgl. Anm. 24. Siehe beispielsweise den zeitgenössischen Pressebericht aus Nordböhmen: Mlejnková (1945); vgl. zu dieser Praxis Uhlíková (2004: 27f.). 30 Die Grenze war bald nach Erscheinen des ersten Inventarbandes, 1897, von 1800 auf 1850 verschoben worden. Vgl. oben, Anm. 10. 31 Zu Plünderungen und erheblichen Schäden auch an der Bausubstanz kam es vor allem in den ersten Monaten nach dem Kriegsende, aber auch noch lange danach. Darauf wird selbst in den veröffentlichten Berichten über die Fortschritte der Verwaltungsmaßnahmen zum Denkmalschutz bis in die 1960er Jahre immer wieder hingewiesen. Vgl. Sochor (1947) und Pavlousek (1948): Anders als der Titel dieses Aufsatzes („Kriegsschäden“) besagt, wird hier eine im Auftrag des Schulministeriums erstellte Liste von Schäden veröffentlicht, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit, „nach der Aussiedlung der Deutschen“ (141), entstanden sind. 32 Vgl. Informativní zpráva 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 321f., 324-327). Siehe auch die vorsichtigen Andeutungen von Sochor (1947). 33 Vgl. die offene Kritik bei Charvátová (1953: 35). Üblicherweise lautete die Sprachregelung, dass die Denkmäler bereits lange vor dem Krieg, d. h. von ihren deutschen Eigentümern, vernachlässigt worden seien. So beispielsweise Štorm (1952: 115). 34 Hinzu kamen planmäßige Abrisse vor allem in Ortschaften des Grenzlandes, die nicht hatten neu besiedelt werden können oder die in der Sperrzone entlang der Grenze lagen. Der Bericht des Präsidiums der Regierung vom 6. Juli 1950 (vgl. Anm. 22) beziffert die abzureißenden Baulichkeiten mit 40.000 und erwähnt, dass sich das Ministerium für Schul-
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Eine solche Konsequenz war allerdings offenkundig durchaus im Sinne der vorherrschenden politischen, in Teilen auch der kunsthistorischfachlichen Meinungsbildung über das Problem. Diese stützte sich zunächst – schließt man darauf von den Verlautbarungen aus – auf das Argument des „unrechtmäßigen“ Aufenthaltes der „Deutschen“ im Land seit der Schlacht am Weißen Berg; dieses schon historische Leitmotiv war bereits zur Rechtfertigung der Aussiedlung und der Konfiskationen aufgerufen worden.35 Die materiellen Werte – einschließlich der historischen und kunstgeschichtlichen – konnten so mit moralischer Rechtfertigung vereinnahmt werden: als Wiedergutmachung für Unrecht, das „die Deutschen“ an „den Tschechen“ begangen hätten; dies hatte freilich vielfach Nichtachtung bis hin zu Vandalismus zur Folge (Sochor 1947: 3f.). Ganz ohne explizite Begründung kam indessen die national-kulturelle Aneignung der Denkmäler aus. Die Bauten des vorangegangenen Jahrhunderts – die etwa in der „Tschechoslowakischen Landeskunde“ von 1935 als „Leistungen der (reichs-)deutschen Kultur“ im Land ausgewiesen worden waren – fielen schon aufgrund der gültigen chronologischen Schwelle gar nicht erst unter den Denkmalbegriff. Die älteren Denkmäler hatte man schon seinerzeit ohnehin unter tschechischem Vorzeichen verhandelt. Dass dies in einem Widerspruch zur „Logik“ der Argumentation mit den Folgen der Schlacht am Weißen Berg stand, wurde nicht thematisiert. Letztlich gewann hier stillschweigend die territoriale Begründung des Eigentumsanspruchs Gültigkeit, wie sie Václav Vilém Štech im Jahr 1919 formuliert hatte. Demgegenüber wurde die kulturelle Aneignung der Denkmäler im Hinblick auf das anvisierte Gesellschaftsideal sehr wohl erörtert, schon aus pragmatischen Gründen. Die Argumentation in den gedruckten Medien ist nahezu homogen, Differenzen lassen sich allenfalls in der Gewichtung der Gesichtspunkte ausmachen. Einigkeit herrschte – auch unter Kunsthistorikern und Denkmalpflegern – darüber, dass es in dem von Kriegsschäden kaum betroffenen Land insgesamt zu viele Denkmäler gäbe, mehr jedenfalls, als der Staat zu erhalten imstande sein würde. Daher gelte es, eine „sinnvolle“ Auswahl zu treffen (dazu beispielhaft explizit Burian 1955: 2f.). Die wesen, Wissenschaften und Künste zumindest um die Möglichkeit bemühe, die potentiellen Denkmäler darunter vor dem Abriss zu dokumentieren (Nesvadbíková 1983: 368). Vgl. dazu Procházka (2006, 2006a). 35 So eine Erwiderung der Regierung auf Anmerkungen des Präsidenten zum Entwurf für das Dekret Nr. 12, 12. Juni 1945. Jech/Kaplan (1995: 301-303, hier 302). Zur Behandlung der Präsenz der deutsch sprechenden Bevölkerung in der Geschichte der böhmischen Länder in der tschechischen Historiographie vgl. Seibt (1998).
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Kriterien für diese Selektion folgten bereits vor 1948 prinzipiell dem sowjetischen Denkmalverständnis und wurden dann in diesem Sinne auch in der Verfassung der Tschechoslowakei verankert. So erläuterte im April 1948 der Informationsminister Václav Kopecký auf dem „Kongress der nationalen Kultur“ die Regelung: Alles Kulturgut von Denkmälern über neu produzierte Kunst bis hin zur Wissenschaft würde dem Schutz durch den Staat unterstellt, und zwar nach Maßgabe des „öffentlichen Interesses“ und der „kulturellen Bedürfnisse des Volkes“ (Kopecký 1948: 117f.),36 wobei diese zugleich ein zentrales Kriterium für die Bestimmung des Denkmalwertes darstellen sollten (Štorm 1952: 113f.; Burian 1955: 3). Demnach hatten denkwürdige Orte „der Arbeiterbewegung und des Sozialismus“ Vorrang zu genießen (Ebd.). Für die Bewertung aller übrigen potentiellen Denkmäler war – so der Mediävist Jaroslav Pešina in einem programmatischen Beitrag von 1953 – das generelle Geschichtsverständnis als Maßstab anzulegen: historisch gegebene Einheit von tschechischem Volk und tschechischer Staatlichkeit, Wellen von Fremdherrschaft, Befreiung durch eigene Kraft des ‚Volkes‘ (Pešina/ Neumann/Novotný 1953/54: 13). Der Denkmalwert eines Kunstwerkes bemesse sich „nach der Rolle, welche [es] in der [so verstandenen] tschechischen Geschichte gespielt hat“ (Pešina/Neumann/Novotný 1953/54: 18). Bauwerke, die ehemals als Instrumente der Unterdrückung gedient hätten, könnten keinen Denkmalwert beanspruchen. „Und es wird nötig sein“, so Pešina weiter, „eben dieses Kriterium der Klassifizierung der nationalisierten [d. h. enteigneten] Baudenkmäler zu Grunde zu legen, die heute unter der Verwaltung unseres volksdemokratischen Staates stehen.“ (Ebd.) Dies betraf vor allem die Denkmäler im Grenzland und die Architektur des Barock, die als ein „Ausdruck feudalen Hochmutes und der Überheblichkeit gegenüber dem unterjochten Volk“ zu qualifizieren waren (Ebd.). Noch bevor sich diese ideologisierte Sicht in der Praxis verfestigen konnte, hatte Zdeněk Wirth im Namen der Nationalen Kulturkommission die Kriterien in einer speziellen Weise ausgelegt, die sich an der getroffenen Objektauswahl ablesen lässt und die zunächst nur in internen Unterlagen explizit dargelegt wurde. So hieß es im Tätigkeitsbericht für 1948, für den Status als „staatlicher Kulturbesitz“ seien die Bauten so ausgewählt worden, dass sie in ihrer Gesamtheit eine an der Kontinuität der Entwicklung orientierte Sammlung bilden, die ein anschauliches Profil architektonischer Bestrebungen aus acht Jahrhunderten repräsentiert. Sie umfassen die Epochen der Gotik, der Renaissance, des Barock, des Rokoko,
36 Vgl. den in Auszügen abgedruckten Redetext in der Anthologie: Ševčík/Morganová/ Dušková (2001: 133-137, hier 134).
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des Empire und auch des 19. Jahrhunderts, insofern es durch romantisches Bemühen um Nachahmung klassischer Muster charakterisiert war.37
Diese Konzeption erforderte zwangsläufig die Aufnahme etlicher Burgen und Schlösser, die in den ehemals deutschböhmischen bzw. sudetendeutschen Regionen lagen, darunter etwa die Schlösser Frýdlant (Friedland), Kynžvart (Königswart) oder Sychrov (Sichrow). Bereits an der Jahreswende 1947/48 hatte Zdeněk Wirth ein Konzept für die „kulturelle Nutzung“ der Denkmäler ausgearbeitet – und auch durchsetzen können –, das die parteioffiziellen Kriterien der Selektion an wichtigen Punkten unterlief. Das Konzept sah vor, dass einige Burgen, die als „Pietät“ fordernde „Dokumente der ältesten tschechischen Vergangenheit“ in ihrem bestehenden Zustand, d. h. „einschließlich aller späteren Veränderungen“, unangetastet bleiben sollten38 und in den Schlössern Museen einzurichten waren: didaktische Museen der „Wohnkultur“ der jeweiligen Epoche oder Installationen thematischer Sammlungen wie, beispielsweise, Jagdkultur, Porzellan, Modegeschichte oder „Adelskultur“.39 In beiden Varianten sollten diese Ausstellungen synthetisch konzipiert werden, so dass die dafür ausgewählten Schlösser auch als zentrale Sammelpunkte jeweils einer bestimmten Gruppe von Kulturgütern – bzw. einer Auslese der wertvollsten Stücke daraus – fungieren würden. Gerade im Grenzland mussten etliche der museal zu nutzenden Schlösser infolge von Plünderungen und Zerstörungen unmittelbar nach Kriegsende40 ohnehin neu eingerichtet werden. Wirths Konzept zielte aber ausdrücklich auch darauf, die konkreten lokalhistorischen Zusammenhänge zu unterbrechen und die Erinnerung an die Funktion als Wohnsitz bestimmter – adeliger, deutsch sprechender – Familien rascher und wirksamer auszulöschen, als es allein der weitgehende Bevölkerungsaustausch im Grenzland vermocht hätte: „ein Bild rekonstruierter historischer Realität“, das „konkrete lokale oder familiäre Reminiszenzen“ ausschließen würde.41 Jahre später erklärte diese Leitidee Vladimír Novotný, damals Direktor des Instituts für Theorie und Geschichte der Kunst unter dem Dach der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, in einem programmatischen Artikel zur „kulturellen Nutzung“ von 37 ������������������������������������������������������������������������������������� Informationsbericht 1948 (vgl. Anm. 26) (Nesvadbíková 1983: 275). Ähnlich auch im Bericht für 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 286). Veröffentlicht wurde dieses Auswahlprinzip – wenn auch nur in einer kurzen Erwähnung – von Charvátová (1953: 34). 38 Informationsbericht 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 300); vgl. auch Uhlíková (2004: 49). 39 Informationsbericht 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 303). 40 Unter zahlreichen Presseberichten vgl. Mareš (1946). Vgl. auch Anm. 31. 41 Informationsbericht 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 301).
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Burgen und Schlössern damit, dass es nur gerecht sei, die Erinnerungen an die ehemaligen Besitzer aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit zu tilgen, weil diese „Fremde“ gewesen seien, die von der Unterdrückung des tschechischen Landvolkes gezehrt und sich als unfähig erwiesen hätten, den fortschrittlichen Interessen des Volkes zu folgen (�������������������������������������������� Novotný 1960: bes. 279)��������������������� . Die Schlösser sollten nach Wirths Vorstellung zu „Bildungsgut“ neutralisiert werden. Wirth wies aber auch darauf hin, dass mit der flächendeckenden Beschlagnahmung und dem Ausverkauf von Schlossinventaren gewachsene Ensembles von Kunst und Kunsthandwerk unwiederbringlich verloren gegangen seien, wie sie „auf unserem Boden nie wieder“ würden entstehen können: Es ist deshalb eine Verpflichtung gegenüber Kultur und Geschichte, […] wenigstens in den Schlössern der I. Kategorie jene Konfiguration zu bewahren, die infolge der Konfiskationen in den übrigen ungefähr 460 Schlössern ein für allemal zerstört worden ist.42
Deklariertes Ziel war die „Tschechisierung“ der Kulturdenkmäler wie auch der Ortsbilder im Grenzland insgesamt,43 und damit verband sich die Umdeutung der Zeugnisse der Adelskultur (aber auch der kirchlichen und monastischen Kultur) zum Kulturerbe des „Volkes“. Die anvisierte Vermittlung bzw. Aneignung durch das „Volk“ skizzierte die Nationale Kulturkommission in einer Weise, die nochmals anschaulicher das prekäre Verhältnis von Wirths Konzept zu den ideologischen Vorgaben illustrierte. So hieß es zu den Schlössern mit exemplarisch installierten Ausstattungen, dass sie die „Gesetzmäßigkeit der sozialen Entwicklung“ dokumentierten: „die zeitweilige Blüte, die Erstarrung und das Absterben des Feudalismus“. Die kostbaren Inventarstücke zeugten „davon, wie sich diese parasitäre Schicht vollständig dem Land entfremdet“ habe, die Jagdtrophäen zeigten, „was den Lebensinhalt der für die Gesellschaft nutzlosen Individuen“ ausgemacht habe, und die großen Schlossküchen führten nicht nur die „Kluft zwischen Herrn und Untertan“ vor Augen, sondern ließen auch darauf schließen, „wie viele Arbeitskräfte allein mit der Bedienung des sie ausbeutenden Einzelnen beschäftigt“ gewesen seien.44 Gleichzeitig allerdings wurde das Potential zur ästhetischen Belehrung und Kultivierung des „Volkes“ an der „reichen Vielfalt der einheimischen wie auch fremdländischen Kunstformen“ hervorgehoben. 42 Informationsbericht 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 291). 43 So ein Sitzungsprotokoll vom Februar 1947, Uhlíková (2004: 65). Vgl. allgemein zur „Tschechisierung“ des historischen Gedächtnisses im Grenzland nach 1945 Wingfield (2000); außerdem: Heroldová (1998) und neuerdings, im breiteren Kontext der Neubesiedlung: Wiedemann (2007). 44 Informationsbericht 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 288f.).
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Wie diese Idee hatte die Kulturkommission auch den praktischen Aspekt des unmittelbaren Nutzens aus dem Repertoire des 19. Jahrhunderts geschöpft: Die Architektur wie auch die Ausstattung böten eine „einzigartige Chance für unsere Handwerksproduktion“, sich in der Anschauung „makellos gefertigter Objekte von edler Form und ausgewogenen Proportionen“ zu schulen und „vollkommene Handwerksarbeit“ neu wertschätzen zu lernen. Daneben sollten die Schlösser mit ihren Parks auch als Erholungsgebiete dienen, wobei sich „physische Erholung“ zwanglos mit der „geistigen Erholung“ – dem Bildungserlebnis – verbinden würde. Schon allein die Atmosphäre eines Schlosses im naturnahen Park würde sich als „nutzbringender Gegensatz zu der notwendigen Standardisierung unserer Wohnungen und Arbeitsplätze“ auswirken.45 Die Entscheidungen der Nationalen Kulturkommission bis zum Zeitpunkt ihrer faktischen Auflösung Ende des Jahres 195146 gingen ohne nennenswerte Veränderungen in die nachfolgende Gesetzgebung ein, waren aber auch geeignet, das öffentliche Bewusstsein zu prägen. Neben den musealisierten Schlössern, die als Bildungs- und Erholungseinrichtungen dienten, konnten die zahlreichen Baudenkmäler, die Verwaltungen, Staatsbetrieben, Gewerkschaften oder gemeinnützigen Einrichtungen verschiedener Art übergeben worden waren, schon bald unter den Vorzeichen der aktuellen Nutzungen wahrgenommen werden – zumal durch die Neusiedler, die mit den Gebäuden keine konkreten Erinnerungen verbanden. Auf diese Weise vollzog sich die Aneignung im Rahmen des lokalen Alltagslebens. Die in der Arbeitspraxis der Nationalen Kulturkommission etablierte Unterscheidung zwischen Denkmälern I. und II. Kategorie47 wurde in die gesetzlichen Regelungen überführt und nahm grundlegende Bedeutung an. Als Denkmäler I. Kategorie figurierten die im Jahr 1952 insgesamt 97 Burgen und Schlösser (Štorm 1952: 113),48 die zu „staatlichem Kulturbesitz“ deklariert worden waren und deren Erhaltung dem Kultusministerium oblag. Der II. Kategorie wurde die Vielzahl derjenigen Denkmäler zugerechnet, die sich in „praktischer“ Nutzung befanden – die also „wieder“ in 45 Ebd.: 289f. 46 Regierungsverordnung vom 11. Dezember 1951 (Nr. 112/1951 Sb.; vgl. [letzter Zugriff: 30.8.2009]) über die Reorganisation der staatlichen Denkmalpflege: Lt. § 2 wurden die Nationalen Kulturkommissionen in beratende Gremien beim tschechischen bzw. slowakischen Kultusministerium umgewandelt und sollten neu besetzt werden; das wurde lt. Nesvadbíková/Wirth/Vinter (1983: 138) nie umgesetzt. Vgl. auch Uhlíková (2004: 57f.). 47 ���������������������������������������������������������������������������������������� Die Kategorisierung ist in den Schriften der Nationalen Kulturkommission seit 1950 fassbar. Vgl. Informationsbericht 1950 (vgl. Anm. 21) (Nesvadbíková 1983: 291). 48 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ein Jahr darauf nannte derselbe Autor die Zahl 114: Štorm (1953: 86). Weitere zwei Jahre später umfasste die I. Kategorie 153 Objekte und die II. Kategorie 176 Objekte. (Burian 1955: 7).
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die „Gegenwart“ und das „Leben“ eingebunden worden waren (Burian 1955: 3) – und deren Pflege nun in die Verantwortung der jeweiligen Institution oder Körperschaft gestellt wurde.49 Die in dieser Kategorisierung implizierte Wertung blieb auf längere Sicht nicht ohne Auswirkungen. Maßnahmen der Instandhaltung wurden – sofern sie überhaupt stattfanden – schon aus wirtschaftlichen Gründen kaum je an denkmalpflegerischen Kriterien ausgerichtet, was schrittweise eine Entwertung und letztlich eine fortschreitende Reduktion des Denkmälerbestandes nach sich zog.50 Entsprechendes gilt für den 1950 eingeführten Schutz ganzer Altstadtkerne – zunächst 22 in den böhmischen Ländern – nach den Prinzipien der so genannten Ensembledenkmalpflege.51 Ursprünglich dazu gedacht, den historischen Bestand für die alltägliche Nutzung durch die neue sozialistische Gesellschaft zu erhalten und allenfalls zu adaptieren – in erster Linie vorschnelle Abrissmaßnahmen zu verhindern –, eröffnete die Regelung letztlich doch alle Möglichkeiten zu weit reichenden Eingriffen in die Substanz: Da das Ensembleprinzip das Erscheinungsbild in seiner Gesamtheit über die Authentizität der Substanz im Detail stellte, ermöglichte es nicht nur Sanierungen und Modernisierungen der Gebäude im Inneren, sondern erzwang mimikryhaft „stilgerechte“ Reparaturen von Fehlstellen bis hin zu nachahmenden Neubauten (bspw. Šebek 1950; Hlobil 1985). Lagen die ersten 22 zu „Denkmalreservaten“ erhobenen Städte überwiegend im Grenzland, so wird deutlich, dass das Prinzip der Ensembledenkmalpflege mitsamt seinen praktischen Konsequenzen52 49 ��������������������������������������������������������������������������������������� Richtlinie für die Denkmalpflege, erlassen vom Ministerium für Schulwesen, Wissenschaften und Künste am 24. März 1952. Publiziert in: Zprávy památkové péče 12 (1952), 1-7 (Rubrik Přehled zákonodárství, ustanovení a organisačních opatření ve věcech památkové péče [Übersicht über Gesetzgebung, Bestimmungen und organisatorische Maßnahmen in Angelegenheiten der Denkmalpflege]). 50 ����������������������������������������������������������������������������������� Zu den strukturellen und den praktischen Aspekten dieses Prozesses vgl. die kompakte Darstellung von Hlobil (1990: bes. 320-323). Zeitgenössisch kritisierte die praktischen Nachteile der Kategorisierung sehr anschaulich Novotný (1971). Eine Durchsicht des seit Ende der 1970er Jahre herausgegebenen vierbändigen Kurzinventars für Böhmen (Poche 1977-1982), das die Denkmaltopographie von 1957 (Wirth 1957) ersetzte, ergibt allein für dessen Erscheinungszeitraum den Eindruck eines – selbst wenn man die Zufälligkeiten der alphabetischen Ordnung einkalkuliert – drastischen Rückgangs der Denkmäler I. Kategorie: von 23 im Bd. 1 (A–J) auf 2 im Bd. 4 (T–Ž). 51 Regierungsbeschluss vom 11. Juli 1950. Der Wortlaut wurde nach Aussage von Hlobil (1985: 6) nie publiziert; er ist auch bis heute nicht greifbar. Vgl. dazu Mencl (1951: 132); Hobzek (1953: 1); Wirth (1957a: 114f.). 52 ������������������������������������������������������������������������������������� Zum weiteren Ausbau des Ensembleschutzes mit Listen der zunächst 22, später 35 „Denkmalreservate“ Vošahlík (1985) und Hlobil (1985) sowie die Replik von Štulc (1987, 1988). Vgl. zu der Problematik Marek (1990).
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ein wirkungsvolles, wiewohl durchaus ambivalentes Mittel zur „Aneignung“ des zunächst „fremden“ Erbes materieller Kultur als Alltagsumfeld bildete.
3. Aneignung des kulturellen Erbes: Forschung und Vermittlung
Das Prinzip der Vereinnahmung gerade der Denkmäler im Grenzland für „Nation“ und „Volk“ auf dem Umweg über die Neutralisierung der konkreten historischen Zusammenhänge in die Praxis umzusetzen, scheint nicht ganz bruchlos vor sich gegangen zu sein. Als im Jahr 1952 in Prag eine große Fotoausstellung der „Architektur im tschechischen und slowakischen nationalen Erbe“ stattfand, organisiert auf Beschluss der KPČ und gedacht in erster Linie als eine Bilanz der Neubewertung des „nationalen Kulturerbes“, um es dem „Volk“ appellativ vor Augen zu führen,53 waren die rund 850 Denkmäler nahezu ausschließlich aus dem Bestand des tschechischen Binnenlandes ausgewählt worden.54 Der provisorische Katalog wurde erst 1958 bzw. 1961, getrennt für die Slowakei und die böhmischen Länder, in aufwendiger Buchform neu aufgelegt und sollte offenbar sowohl hinsichtlich des Denkmälerbestandes als auch in Bezug auf die wissenschaftliche Perspektive eine ideologiekonforme Kanonbildung festschreiben, die derjenigen des Kunstbandes aus der „Tschechoslowakischen Landeskunde“ von 1935 entsprach bzw. sie revidieren sollte (Wirth/ Müllerová 1961).55 Beide Bearbeitungen des Katalogs markieren in ihrem Abstand von einem Jahrzehnt Entwicklungsetappen der Sicht auf das bauliche Kulturerbe und dessen methodischer Konzeptualisierung. Der knapp gefasste Katalog von 1952 ist in der Ordnung seiner Textbeiträge streng marxistisch konzipiert: In die einzelnen Epochen führt jeweils 53 �������������������������������������������������������������������������������������� Ein zweites wichtiges Motiv für die Ausstellung war es, im Zuge der Einführung des Sozialistischen Realismus als verbindliche Doktrin den Architekten „Vorbilder“ an die Hand zu geben. Architektura v českém a slovenském národním dědictví (1952: 6f.; Einleitung). 54 ����������������������������������������������������������������������������������� Zu den wenigen Ausnahmen zählen die Marienkirche in Most (Brüx) und die Klosterkirche in Osek (Ossegg), das Schloss in Kynžvart (Königswart) und die Mühlbrunnkolonnade in Karlovy Vary (Karlsbad).Vgl. Architektura v českém a slovenském národním dědictví (1952: 40, 60, 72, 82). 55 Über die Vorgeschichte gibt das Vorwort der Herausgeber Auskunft: Architektura v českém a slovenském národním dědictví (1952: 11f.).
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ein Abschnitt über die „ökonomische und politische Basis“ ein, darauf folgen Ausführungen zur „kunsthistorischen Entwicklung“. Diese Struktur ermöglichte es, die Künste gleichsam von ihrem historischen Kontext abzukoppeln. Die Architektur wird allein anhand stilistischer Phänomene und Künstlernamen dargelegt; Angaben zu Baugattungen und Auftragszusammenhängen bleiben vollständig ausgeblendet. Dementsprechend erscheinen die in der Ausstellung dokumentierten Bauten in den Kataloglisten unter abstrakten Bezeichnungen wie „staatliches Schloss“ und werden lediglich mit den Baudaten und den Namen der Architekten verknüpft. Diese wiederum sind – wie es bereits in der Zwischenkriegszeit eingeführt worden war – ohne Rücksicht auf die Quellenüberlieferung sämtlich in die tschechische Form gebracht. Die kunsthistorischen Ausführungen betonen für alle Epochen die Eigenständigkeit der einheimischen – tschechischen – Ausprägung des jeweiligen Stils, wobei diese Emanzipation von europäischen „Einflüssen“ nahezu durchweg im Prager Baugeschehen angesiedelt wird. Die wesentlich umfangreichere Neubearbeitung des Katalogs für die böhmischen Länder von 1961 umfasst allein nahezu 1.000 Positionen und erhebt den Anspruch, das Erbe der Baukultur repräsentativ vorzustellen: Historisch reicht dieses von den romanischen Rotunden bis zum Ersten Weltkrieg56 – nicht bis in die Zwischenkriegszeit –; das Spektrum schließt auch hier wieder Relikte volkstümlichen Bauens ein; in der Ausdehnung deckt die Auswahl prinzipiell den böhmisch-mährischen Teil des Staatsgebietes zur Gänze ab. In Anbetracht der Situation im Grenzland und vor allem der eingeführten Selektionsprinzipien überrascht es aber nicht, dass die dort gelegenen Denkmäler auch jetzt nur selektiv berücksichtigt wurden: überwiegend sofern sie auf einen mittelalterlichen Ursprung verwiesen oder sich mit Namen einheimischer Baumeister in Verbindung bringen ließen. Während die Werke „deutscher“ Architekten des 19. Jahrhunderts durchweg fehlen, wurde allerdings auf Schlüsselbauten „fremder“ Provenienz, etwa Johann Lucas Hildebrandts Laurentiuskirche in Jablonné v Podještědí (Deutsch-Gabel), nicht verzichtet. Umso aufschlussreicher sind die Brüche in der Konzeption der Textbeiträge, die hier aus einer vorangestellten Darlegung der – interpretierten – Politik- und Sozialgeschichte, einleitenden kunsthistorischen Synthesen zu den Epochenabschnitten, die gegenüber der ersten Ausgabe stark erweitert wurden, sowie kurzen Katalogartikeln zu den einzelnen Denkmälern bestehen. In den synthetischen Ausführungen werden die Charakteristika und Errungenschaften der Architek56 Die Ausgabe von 1952 gipfelte und endete in der Dokumentation des Nationaltheaters, also Anfang der 1880er Jahre.
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tur formgeschichtlich mit großer Exaktheit beschrieben, allerdings auch mit dem „klassengerecht“ und im nationalen Interesse „korrigierten“ Geschichtsbild unterlegt. So hebt Dobroslav Líbal im Gotik-Kapitel die französische Herkunft des ersten Baumeisters des Veitsdoms, Matthias von Arras, hervor, um anschließend ohne weitere Erläuterung das Werk seines Nachfolgers „Petr Parléř“ zu würdigen (Líbal 1961: 57). Weiter geht Emanuel Poche im Kapitel über den Barock. Hier heißt es eingangs etwa über die Zeit nach der Schlacht am Weißen Berg: Der Barock wurde nun zu einem Ausdruck der siegreichen kaiserlichen Macht und des Bemühens um Rekatholisierung des Landes, zur Ausdrucksform eines fremden, dem tschechischen Volk feindlich gesonnenen Elements. Das tschechische Milieu verschloss sich deshalb den künstlerischen Intentionen des Barocks, es empfand ihnen gegenüber einen Widerwillen, der noch zusätzlich durch das Wissen verstärkt wurde, dass darin die ausschließliche Herrschaft einer Klasse fremder Feudalherren zum Ausdruck kam, Laien wie Geistlicher. (Poche 1961: 108)
Nur wenige Seiten weiter würdigt Poche dann aber die Impulse, welche die Architektur des Hochbarock in den böhmischen Ländern Johann Bernhard Fischer von Erlach, Hildebrandt und anderen Wiener Architekten verdankte, und spricht von der „komplizierten, aber atemberaubenden Kunst Kilián Ignác Dienzenhofers“, die sich dank des „nie zuvor da gewesenen wirtschaftlichen Wohlstands“ und des dadurch freigesetzten „lebendigen Kunstwollens“ habe entfalten können (Ebd.: 122, 126 [Zitat]). Die „Modellierung“ des Geschichtsbildes reichte also – wenn man von der vorab getroffenen Selektion einmal absieht – nicht bis in die Qualifizierung der einzelnen Denkmäler und der Kunstentwicklung als Ganzes hinein. Das wird besonders eindrucksvoll im Katalogteil erkennbar, in dem gegenüber der form- und künstlergeschichtlichen Tendenz der synthetischen Abschnitte stets auch die Bauherren und, wo geboten, die ursprünglichen Zweckbestimmungen angegeben werden und somit der soziokulturelle Kontext, aus dem der jeweilige Bau hervorgegangen ist, offen gelegt wird. Nahezu parallel zu der Ausstellung wurde – ebenfalls in regierungsoffi ziellem Auftrag – eine Publikation von Denkmälern aus dem „staatlichen Kulturbesitz“ produziert, die auch für internationale Verbreitung bestimmt war und die gänzlich ohne ideologisch bedingte Reserven auskam: 1953 erschien der opulente Bildband über die „Staatlichen Burgen und Schlösser“ (Wirth/Benda 1953). Die beigegebene Karte zeigt eindrucksvoll die „gleichmäßige Verteilung“ über das Land, einschließlich des Grenzlandes; es wurden auch einige Residenzen aufgenommen, die in der Ausstellung des „nationalen Erbes“ ausgelassen worden waren. Etliche der Abbildungen dokumentieren die neu installierten Ausstellungen, so beispielsweise für das ehemals Thunsche Residenzschloss Klášterec nad Ohří (Klösterle) (��������������������������������������������� Wirth/Benda 1953: 84f. [Bildtafeln], 268 [Ka-
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talogeintrag]). In der ausführlichen, von Zdeněk Wirth verfassten Einleitung fehlt jeder Hinweis auf die historischen Nationalitätenverhältnisse, vollständig fehlen aber auch Zugeständnisse an die neue Geschichtsdeutung. Vielmehr erläuterte Wirth die Entwicklung der Residenzarchitektur in erster Linie entlang historisch-typologischer Gesichtspunkte und stellte die „adeligen Bauherren“ und Mäzene mit den nutzungsbedingten Anforderungen an die Residenzenarchitektur in den Mittelpunkt. Die künstlerischen Spezifika und Entwicklungen der einzelnen Epochen werden erst unter diesen Vorzeichen dargelegt. Im knappen Kataloganhang fand der damalige Leser konkrete Auskunft darüber, welche Personen – Bauherren und Künstler – die beschriebene Hochblüte adeliger Kultur vorangetrieben hatten. Ähnlich autonom gegenüber ideologischen Vorgaben in Informationsgehalt und Präsentation zeigt sich die im selben Jahr begonnene erweiternde Überarbeitung des Kunstdenkmäler-Handbuchs für Böhmen aus den 1930er Jahren, die dann 1957 – wiederum unter der Ägide Zdeněk Wirths – vom „Kabinett für Theorie und Geschichte der Kunst“ der Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurde. Es war erklärtermaßen in erster Linie für das Fachpublikum sowie als Informationsgrundlage für populärwissenschaftliche Publikationen wie „touristische Literatur, [...] heimatkundliche Arbeiten, Lexika usw.“ bestimmt. Als Referenzwerk hatte die Denkmaltopographie die lückenhafte Inventarisation zu kompensieren und diente letztlich auch als eine Art Zentralregister, um die Schutzwürdigkeit einzelner Bauten – und insbesondere der nicht als „staatlicher Kulturbesitz“ deklarierten Denkmäler – zu objektivieren. Wohl deshalb war im Zuge der Aktualisierung die Grenze für den Denkmalstatus bis ins Jahr 1939 ausgedehnt worden (Wirth 1957: 6). In gleichem Sinne sind auch populäre Publikationen aufschlussreich, wie sie noch bis an die Schwelle der 1960er Jahre erscheinen konnten: so ein vergleichsweise bescheidener, 1959 publizierter Bildband über „Burgen und Schlösser in der Region um Liberec [Reichenberg]“ (Anděl/Kabíček 1959). Die historische Einleitung schildert die politisch- und kulturgeschichtlichen Bedingungen der Kunstentwicklungen bis zur Jahrhundertwende, wobei die Autoren auch hier die Nationalitätenverhältnisse in der Region mit Schweigen übergehen. In Bezug auf das 19. Jahrhundert wird lediglich eine knappe Charakterisierung der sozialen Veränderungen gegeben: „Anstelle hochgeborener Adliger wurden zunehmend reiche Fabrikanten Eigentümer [der Schlösser] (die Liebiegs, die Siegmunds, die Aehrenthals [Aehrentálové]).“ (Ebd.: 20) In den nachfolgenden Abrissen zur Geschichte und Kunstgeschichte der einzelnen Burgen und Schlösser sowie der dazugehörigen Grundherrschaften werden dann ohne erkennbare Abstriche die Verdienste der jeweiligen Eigentümer um die Ausgestaltung der
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Denkmäler und ihre Erhaltung referiert. Im Fazit des Kapitels zum Schloss von Frýdlant heißt es etwa, weit entfernt von der offiziell propagierten Linie: Die Räume [...] dienten noch in unserem Jahrhundert dem Aufenthalt der Herrschaft (den [Grafen] Clam-Gallas gehörte Friedland bis zum Jahr 1945), und so zeigen sie heute mit ihrer Einrichtung den Geschmack des Adels und seine Vorliebe für Luxus. [...] Mit allem, was das Schloss [...] Friedland heute verwahrt, mit seiner ganzen achthundertjährigen Vergangenheit, seiner baulichen Entwicklung und seiner repräsentativen Gestalt ist es ein wahres Ruhmesblatt unserer Region [...]. (Ebd.: 165-170, hier 169f.)
Die wenigen angeführten Beispiele zeigen bereits, dass im Verlauf der 1950er Jahre in der Buchpublizistik – die programmatisch zugleich der populären Vermittlung des Denkmalbestandes und der wissenschaftlichen Selbstverständigung über die Konzeptualisierung des Denkmalbegriffs diente57 – zwei unterschiedliche methodische Stränge kaum verbunden nebeneinander existierten, anscheinend erprobt wurden. Beide berührten sich in dem Bestreben, die historische Architektur des gesamten Landes ins nationale und „volkstümliche“ Geschichtsbild zu integrieren. Während aber der eine Ansatz mit Selektion und mit Konzentration auf Künstlerleistung – unter tschechischen Vorzeichen – operierte, setzte der andere gleichsam stillschweigend auf das territoriale Prinzip und auf die Fraglosigkeit „objektiver“ Information. Es handelte sich hierbei nicht um zwei konkurrierende Positionen: wurden doch die beispielhaft genannten Publikationen – mit Ausnahme der regionalgeschichtlichen – von demselben Herausgeber, Zdeněk Wirth, verantwortet und gleichermaßen in regierungs- bzw. parteioffiziellem Auftrag herausgebracht. Vielmehr ist hier offenbar eine Orientierungssuche und ein Ausloten der Möglichkeiten zu beobachten, aufschlussreich gerade für die Handhabung des national „fremden“ und des gesellschaftsgeschichtlich problematisch gewordenen kulturellen Erbes. Die Figur Zdeněk Wirths ist trotz ihrer herausgehobenen Stellung in mehrfacher Hinsicht symptomatisch. Nahezu alle in den vierziger und fünfziger Jahren aktiven Kunsthistoriker waren durch ihre Ausbildung und ausgeübte wissenschaftliche Tätigkeit in der Zwischenkriegszeit geprägt; Wirth selbst blickte auf eine Karriere zurück, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatte.58 Dies bedeutete einerseits, dass ihnen die Kategorien der Kunst57 Es war erklärtes Ziel, die „Kluft“ zwischen geistiger „Elite“ der Wissenschaftler und „Volk“ – als ein Phänomen der überwundenen Klassengesellschaft – einzuebnen. Vgl. beispielsweise Pešina (1951: 89f.). 58 ��������������������������������������������������������������������������������������� In der personellen Kontinuität liegt ein wesentlicher Unterschied zur Geschichtswissenschaft, in der nach Heumos (1978: 546) bis 1953/54 ein nahezu vollständiger Austausch des Personals vollzogen wurde. Zu Wirth, geboren 1878, vgl. Uhlíková (2004: 61-66),
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geschichte aus der Zwischenkriegszeit einschließlich der Vereinnahmung der älteren Kunst für die nationale Geschichte, aber auch des Bewusstseins für die Bikulturalität des Landes vertraut waren. Auf der anderen Seite hatten sie methodische Standards der positivistischen Forschung – wie sie etwa in der denkmalpflegerischen Inventarisation zu Tage treten – verinnerlicht, die zwar Spielräume in der Bewertung der „gesellschaftlichen Rolle“ der Denkmäler offen lassen mochten, nicht aber Abstriche etwa beim faktographischen Referat erlaubten. Wenn also selbst in programmatischen Publikationen historische Information ausgebreitet und gelegentlich stilgeschichtliche Einordnungen vorgenommen wurden, die dem offiziell postulierten Verständnis des Kunsterbes als ein sichtbarer Teil der „Vorgeschichte“ des sozialistischen Nationalstaates entgegenstanden, so dürfte darin in erster Linie ein Beharren auf der Autorität der Wissenschaft zu erkennen sein: eine Verteidigung geistiger Besitzstände gegen Übergriffe von politischer Seite, die zweifellos zugleich der sozialen Stellung und dem Einfluss sowohl des Berufsstandes als auch der Personen galt.59 Allerdings ist festzustellen, dass sich diese Haltung jedenfalls in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchaus mit den Erwartungen seitens der führenden KPČ-Funktionäre deckte: war doch Zdeněk Wirth von Kultusminister Zdeněk Nejedlý – Alters- und als ehemaliger Wissenschaftler auch Standesgenosse Wirths – aus dem Ruhestand in die Schlüsselposition des Leiters der Nationalen Kulturkommission berufen worden.60 Wenn es Wirth gelang, historische Fakteninformation zur „deutschen“ und zur Adelskultur in Böhmen frei von „korrigierender“ Interpretation zu präsentieren – oder zumindest, wie im Architekturkatalog von 1961, dem „modellierten“ Geschichtsbild an die Seite zu stellen –, so war das durch ein Geschichtsverständnis gedeckt, wie es Wirth 1956 auf einer wissenschaftlichen Dvořáková (1987). Die institutionelle Geschichte des Faches in der Tschechoslowakei ist noch nicht geschrieben. Für die universitäre Kunstgeschichte in Prag lässt sich die personelle Ausstattung nach 1945 bzw. 1948 über die Homepage des Instituts der Prager Karlsuniversität ( [letzter Zugriff: 30.8.2009]) unter Hinzuziehung der in Chadraba/Krása/Švácha/Horová (1987) enthaltenen biographischen Abrisse nachvollziehen. Für die Universität in Brno (Brünn) vgl. Kroupa (1997), Text ohne Anmerkungen unter: (30.8.2009). Zur 1953 erfolgten Gründung und frühen Geschichte des „Kabinetts“, ab 1958 „Instituts für Theorie und Geschichte der Kunst“ an der Akademie der Wissenschaften in Prag siehe Matouš (1960) und Ders. (1965); vgl. auch Konečný/ Hausenblasová/Šroněk (2003). 59 In diesem Sinne äußert sich mit aller gebotenen Vorsicht Uhlíková (2004: 66) in Bezug auf Zdeněk Wirth. 60 Vgl. die bei Uhlíková (2004: 163f.) edierten Briefe von 1948 und 1953.
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Konferenz über Fragen der Denkmalpflege in Bezug auf seine Konzeption des „staatlichen Kulturbesitzes“ erläuterte: unter Berufung auf die populäre Devise Lenins, dass ‚wir die Erben all dessen sind, was uns aus der gesamten Vergangenheit [...] erhalten geblieben ist und dass wir trotz unserer neuen Weltanschauung die Pflicht haben, dieses Erbe zu bewahren, weil die Denkmäler Dokumente der großen Vergangenheit der Nation, des Volkes und seines Staates sind‘. [...] Es [das Denkmal] ist eine Quelle historischer Erkenntnis über das Leben der Gesellschaft und über die Entwicklung der künstlerischen Leistungen des Landes und des Volkes, es bezeugt das Niveau der einheimischen Kultur und bildet damit die Grundlage für Nationalstolz und Patriotismus [...]. (Wirth 1957a: 113)61
Mit seiner zweifellos wohlbedachten Formulierung ließ Wirth keinen Zweifel daran, dass das ehemals „deutsche“ Grenzland in diesem Sinne als integraler Bestandteil des nationalstaatlichen Territoriums zu betrachten sei und rückblickende Fragen nach nationaler oder sozialer Zuordnung mithin gar nicht erst aufgeworfen würden. Diese Strategie der „souveränen Objektivität“ zur Rechtfertigung denkmalpflegerischer und wissenschaftlicher Achtung gegenüber kulturellen Hervorbringungen des „besiegten“ nationalen Gegners und des „Klassenfeindes“ – nach sowjetischem Vorbild – hatte die tschechische Kunstgeschichte zu Beginn der 1950er Jahre unter dem Druck der Stalinisierung (Neutatz 2001) entwickelt. So konnte Jan Květ, seinerzeit Ordinarius für Kunstgeschichte an der Karlsuniversität, auf der 1951 in Schloss Bechyně (Bechin) veranstalteten Weichen stellenden Konzept- und Methodenkonferenz der tschechoslowakischen Kunsthistoriker verkünden, dass „der Respekt gegenüber historischen Fakten und dem kunsthistorischen Material, die konsequente Sachlichkeit und konkrete Sachbezogenheit der [wissenschaftlichen] Erkenntnis“ für die Kunstgeschichte den wichtigsten methodischen Gewinn aus dem Studium von Stalins „wissenschaftlichen“ Werken zur Sprachwissenschaft bedeuteten (Květ 1951: 15).62 61 Vgl. zu der Konferenz Dvořáková (1957). Die Grundlagen und Konsequenzen des in der Nachkriegszeit in der Tschechoslowakei eingeführten Denkmalbegriffs wurden auf dieser Konferenz offenbar ebenso wenig diskutiert wie zuvor, etwa im Rahmen der Nationalen Kulturkommission. Wirths Konzeption stellte letztlich einen dritten, theoriefreien Weg dar neben den beiden seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert diskutierten und gleichermaßen verfochtenen antagonistischen Auffassungen: Alois Riegls Postulat des ‚Alterswertes‘ und der historischen Kontinuität sowie, andererseits, der in Deutschland – auch noch nach dem Krieg – favorisierten ‚stilgerechten Rekonstruktion‘. 62 Zu Květ (1896-1965) vgl. Krása (1987) und [letzter Zugriff: 30.8.2009]). Auf derselben Konferenz hatte Jaroslav Pešina den Verweis auf Lenins Denkmalverständnis sowie das „Vorbild“ des sowjetischen Denkmalschutzes in diesem Sinne eingeführt: Pešina (1951: 91, 94f., 101). Wenig später veröffentlichte Zdeněk
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In einer allenfalls scheinbaren Paradoxie waren es also die Fachvertreter der älteren Generation, die im Namen Lenins und Stalins dafür plädierten, den Denkmälerbestand zur Gänze – auch den des Grenzlandes und aus Epochen der nationalen und ideellen „Fremdherrschaft“, einschließlich der dazu gehörigen Quelleninformation unter strenger Historisierung (Květ 1951: 13) – in die wissenschaftliche Erörterung und die populäre Vermittlung einzubeziehen. Umgekehrt fochten die Jüngeren und der Nachwuchs für eine präsentistische Sicht auf das Kulturerbe und für die ideologiekonforme „Evaluierung“ der Geschichte. Dabei reichten ihre Forderungen noch weit über Wirths Relativierung des historischen Zeugniswertes der von ihm „gesicherten“ Schlösser durch ihre abstrahierende Musealisierung hinaus. So setzte Jaroslav Pešina auf der Konferenz von Bechyně Květs Postulat der „historistischen“ Betrachtung von Denkmälern entgegen, dass die Bewertung des Denkmälerbestandes selektiv erfolgen müsse, und zwar nach der „Bedeutung, welche einem Denkmal im Entwicklungsprozess der Gesellschaft und unserer Völker zukommt“ (Pešina 1951, 97; vgl. auch 93, 96).63 Demnach könne auch der künstlerische Wert eines Objektes nicht vorrangig für dessen Denkmalwert den Ausschlag geben; vielmehr müssten sogar Kunstdenkmäler hinter materiellen Geschichtsdokumenten „ohne jeden Kunstwert“ zurückstehen, wenn dies der stringenten Darstellung der nationalen Geschichte als revolutionäre Tradition diene (Ebd.: 98). Wenig später wollte Pešina dieses Ausschlusskriterium explizit auf die Architektur des Barock angewandt wissen (Pešina/Neumann/Novotný 1953/54: 18). In gleichem Sinne sind auch die „korrigierenden“ Eingriffe in die Bausubstanz im Zuge denkmalpflegerischer Maßnahmen zu verstehen: Diese zielten vor allem auf die Beseitigung von Veränderungen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert – also aus der Ära des „Kapitalismus“ und, speziell im Grenzland, der „deutschen Fremdherrschaft“ – ab, um den „restituierten historischen“ Zustand, etwa aus der Renaissance, „kongenial“ den Bedürfnissen der gegenwärtigen Bewohner und Nutzer anzupassen (Mencl 1951: 138; vgl. auch Pešina 1951: 93). Wirth eine ausführliche Darlegung des in der Sowjetunion gültigen Denkmalbegriffs und der staatlich sanktionierten Prinzipien des Denkmalschutzes: Wirth (1952). 63 In gleichem Sinne auch Neumann (1951: 44): Es sei aus der „heutigen Situation“ heraus darüber zu befinden, „was erhalten werden soll und was nicht“. Dieser Standpunkt ist mehr oder weniger explizit in zahlreichen Publikationen der 1950er Jahre anzutreffen. Vgl. beispielhaft Štorm (1952); Charvátová (1953); Burian (1955). Vlastimil Vinters Erklärung, dass „der historisch-dokumentarische Wert von Kulturdenkmälern“ darin zu erkennen sei, dass sie „nicht irgendwelche, sondern für uns [...] bedeutsame [...] Phänomene, Fakten oder Etappen der gesellschaftlichen Entwicklung belegen“, ist eine der letzten zugespitzten Formulierungen bis zur Neubelebung dieser Argumentationslinie in der Normalisierungsära nach der Beendigung des Prager Frühlings (Vinter 1962: 34).
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Als Königsweg zur Aneignung der Denkmälerüberlieferung erwies sich aber ein methodischer Zugriff, der wohl zuerst von dem jüngsten der zu Beginn der 1950er Jahre einflussreichen Kunsthistoriker propagiert wurde – und der sich in wesentlichen Zügen an den „offiziellen“ Präsentationen der Kunstgeschichte des Landes aus der Zwischenkriegszeit orientiert zeigte. Jaromír Neumann formulierte in seinem ganztägigen Methodenreferat auf der Konferenz von Bechyně (Neumann 1951)64 – in offenem Widerspruch zu Jan Květs Position – die Forderung, dass historische Kunst analog zur Kunstkritik nach Maßgabe aktuell gültiger Kategorien zu untersuchen sei: zu befragen auf inhaltliche Aussagen hin und insbesondere auf solche, die im Horizont des Klassenkampfes verstanden werden müssten. Falsch seien sowohl der „teilnahmslose Objektivismus“, der allein die historischen – ideen- und gesellschaftsgeschichtlichen – Bedingungen und Maßstäbe gelten lasse, als auch der formgeschichtliche „Immanentismus“ und die „Einflussologie“ [vlivologie], die unter Ausblendung inhaltlicher Aspekte Stilentwicklungen und Phänomene des Formentransfers in gesamteuropäischem Rahmen untersuchten.65 Relevante Einsichten könne die Kunstgeschichte nur gewinnen, indem sie sich auf die „Klassiker“ der tschechischen Kunst konzentriere und in ihren Œuvres die Vorzeichen der jüngst erkämpften Vollendung der nationalen Befreiung hervorhebe (Neumann 1951: 55-73). Damit war der „Personalisierung“ der Kunstgeschichte – Geschichte der Künste als „Künstlergeschichte“ – ein Weg gebahnt, der schon frühzeitig auch zur nationalen Vereinnahmung etwa Prager deutscher Architekten führte, die für das so modellierte Geschichtsbild unentbehrlich erschienen.66 In dieser Perspektive konnten einzelne Werke – ob es sich um Kabinettgemälde oder um monumentale Bauten handelte – als „Schöpfung“ eines autonom gedachten Künstlerindividuums aus ihren Kontexten isoliert und über die entsprechend stilisierte Person des jeweiligen Künstlers an das „Volk“ zurückgebunden wer64 Zum Programmablauf: Květ (1951: 17). Neumann (1924-2001) war 1949 mit einer streng marxistisch angelegten Arbeit über die böhmische Malerei des Barock promoviert worden – publiziert: Neumann (1951) –; seit 1950 war er Dozent für Kunstgeschichte an der Karlsuniversität und „tajemník“ [„Sekretär“] des Lehrstuhls (Květ 1951: 10); seit 1952/53 gehörte er dem wissenschaftlichen Aufsichtsgremium des „Kabinetts für Theorie und Geschichte der Kunst“ an der Akademie der Wissenschaften an (Novotný 1953/54: 8) und war 1960-1970 Direktor des Instituts. Vgl. Šroněk (2003). 65 Neumann (1951: bes. 37-42 u. 47-49). Dennoch konnten weiterhin Arbeiten entstehen, die diesem Postulat widersprachen und auch die von Neumann explizit kritisierten „westlichen“ Einflüsse thematisierten. Vgl. beispielsweise Merhautová-Livorová (1959). 66 So beispielsweise aus dem 19. Jahrhundert Josef Zítek und Ignaz (nunmehr: Vojtěch Ignác) Ullmann. Vgl. Wirth (1953) und Krtilová (1954). Vgl. zur Konzentration auf „Persönlichkeiten“ auch Neumann in Pešina/Ders./Novotný (1953/54: 22f.).
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den (dazu vgl. Novotný 1955: 17).67 Diese Tendenz verstärkte sich nach der Abwendung von den Doktrinen der Stalin-Ära nochmals: Gegen Ende der 1950er Jahre distanzierten sich die maßgeblichen Theoretiker von der früheren „Überbewertung“ der inhaltlichen Komponenten der Kunst und der „kunstfernen“ Erkenntnisziele. Stattdessen gelte es, so wiederum Neumann, die „Phantasie des Künstlers“ zu ergründen und das „Spezifische der Kunst“ gegenüber anderen Äußerungsformen des sozialen Lebens und der Kultur herauszustellen (������������������������������������������������������� Neumann 1958: 178; 1960: bes. 9 u. 12)����������������� . Diese Neuorientierung ist in eine stilanalytisch fokussierte, affirmativ deskriptive Kunstgeschichtsschreibung eingemündet,68 die von historischen Entstehungsbedingungen, Funktions- und Wahrnehmungskontexten abstrahierte und die implizit – allein schon durch den Namen des jeweils behandelten Künstlers – „einheimische“ Kunst unter nationale Vorzeichen stellte. Auf diese Weise wurde über die Jahre letztlich doch, wenn auch unter verschobener Akzentsetzung, Jaromír Neumanns 1951 vorgebrachte Forderung eingelöst, dass historisch arbeitende Geisteswissenschaftler ihren Stoff mit einem „kreativen“ – hier ausdrücklich „künstlerisch“ genannten – Zugriff zu behandeln hätten. Neumann hatte seinerzeit betont, „dass dieser künstlerische Zug [in der Arbeit des Historikers und Kunsthistorikers] keineswegs im Widerspruch zur wissenschaftlichen Exaktheit steht, eher im Gegenteil: richtig angewandt, führt er notwendigerweise zu wissenschaftlich exakter Erkenntnis“ (����������������������������������������������������������� Pešina/Ders./Novotný 1953/54: 22)�������������������������� . Die Aneignung des Kunsterbes vollzog sich so letztlich über die methodische Ausblendung und nachfolgend über das Vergessen der historischen kulturellen Vielfalt. 67 ��������������������������������������������������������������������������������������� Beispielhaft sei auf Informationen in Reiseführern und verwandten Publikationen verwiesen, etwa zum „Severočeské museum“ in Liberec: „Das Museum wurde 1873 vom Gewerbeverein als Kunstgewerbemuseum gegründet […]. Das heutige Gebäude wurde im Stil der Neorenaissance und des Neobarock 1897-1898 nach Entwürfen des Prager Architekten Bedřich Ohmann errichtet.“ Ruda (1958: 16). Vgl. zum „Nordböhmischen Museum“ als Objekt deutschböhmischer Nationalpolitik um 1900 Marek (2004: 315-317). Das Potential dieses methodischen Kunstgriffs hatten Fachvertreter bereits in der Zeit des Nationalsozialismus „erkannt“. Vgl. als besonders anschauliches Beispiel den Text von Sedlmayr (1938), in dem er das Werk Johann Bernhard Fischers von Erlach als die Leistung eines „deutschen“ Künstlers interpretiert und damit den „Anschluss“ Österreichs „kunsthistorisch rechtfertigt“. Siehe dazu die erhellende Analyse von Lorenz (1993). Die deutsche Kunstgeschichte hat sich mit den historischen Bedingtheiten und politischen Implikationen ihrer methodischen Standards seit den 1970er Jahren nicht mehr konsistent beschäftigt. Vgl. nach Müller/Bredekamp/Hinz u. a. (1972) zumindest noch Dittmann (1985). 68 Heumos (1978: 555) konstatierte für die Geschichtswissenschaft nach 1956 eine „‚Positivierung‘ der marxistischen Kategorien, deren präskriptiver Gehalt nun gleichsam deskriptiv überboten wurde“.
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Tomáš Kasper
Die deutsche und tschechische Pädagogik in Prag
1. Vorbemerkung
Betrachtet man das Verhältnis der deutschen und tschechischen Pädagogik in Prag, spricht man von einem Zeitraum, der einerseits von der sog. Etablierung der pädagogischen Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und andererseits von der Trennung der tschechischen und deutschen wissenschaftlichen Pädagogik im Jahre 1945 bzw. im Jahre 1939 begrenzt ist. Der vorliegende Beitrag verfolgt anhand der Entwicklung des Lehrstuhls für Pädagogik an der Karl-Ferdinand-Universität Prag und an der Deutschen Universität Prag die These, dass die deutsche Pädagogik in Prag am Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Kulturschemata der deutschen geisteswissenschaftlichen pädagogischen Wis senschaftstradition treu blieb. Die geisteswissenschaftliche Pädagogik stellte die bestimmende Sichtweise und den methodologischen Zugang dar, der sich zuletzt gegenüber der deutschen experimentellen Pädagogik durchsetzte. Die tschechische Pädagogik entwickelte keine eigene Gesamtkonzeption, und in ihrem Emanzipationsbemühen von der deutsch-österreichischen Tradition wandte sie sich stärker dem Positivismus, später dem Pragmatismus und dem Behaviorismus zu. Der Beitrag rekonstruiert die deutsche pädagogische Wissenschaft vor allem auf Basis der Analyse von Archivmaterialen des Deutschen pädagogischen Seminars der Deutschen Universität Prag, die sich im Universitätsarchiv der Karlsuniversität Prag befinden. Der Text strukturiert sich nach der Amtszeit einzelner ordentlicher Professoren.
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2. Die Universitätsreform und die Stelle der Pädagogik an der Philosophischen Fakultät
Am Anfang der Pädagogik als Wissenschaft in Prag stand die Teilung des Lehrstuhls für Schriftsteller des Altertums, Ästhetik, Redekunst, Pädagogik, für Wissenschaftsgeschichte, Kunst sowie Philosophie in spezialisierte Fächer, wie 1) Theoretische Philosophie und Moralphilosophie 2) Ästhetik, bildende Kunst und die Geschichte der Ästhetik sowie 3) Erziehungskunde. Die Gründung des Lehrstuhls für Pädagogik im Jahre 1850 hing mit der Universitätsreform zusammen. Seit nach Exners Reformentwurf der zweijährige Philosophiekurs von den Universitätsstudien abgetrennt worden war und fortan einen Teil der auf acht Jahre verlängerten gymnasialen Ausbildung darstellte, diente die philosophische Fakultät nicht mehr der Aufgabe einer allgemeinen Vorbereitung auf das Universitätsstudium, sondern wurde mit anderen Fakultäten gleichberechtigt. Sie sollte zwei wichtige Ziele verfolgen. Erstens sollte sie zukünftige Gymnasiallehrer ausbilden und zweitens die Wissenschaft pflegen. Der Lehrstuhl der Pädagogik diente vor allem der ersten Aufgabe. Für die Entwicklung der Pädagogik als Wissenschaft war die Einführung der Lehrfreiheit und der Wegfall der Unterrichtspflicht nach vorgeschriebenen Büchern von großer Bedeutung. Trotzdem las der erste ordentliche Professor der Pädagogik in Prag, Johann Padlesak, nach dem offiziell zugelassenen Buch des Wiener Professors V. E. Milde (Lehrbuch der allgemeinen Erziehung im Auszuge. Wien 1829). In dieser Zeit gab es eine Anzahl von offiziellen Büchern, die in Vorlesungen und Seminaren verwendet werden mussten und die anderen nicht. Eine sogenannte Unterrichtspflicht nach vorgeschriebenen Büchern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte Johann Friedrich Herbarts1 Lehre den führenden Kanon der Pädagogik in Prag dar. Als Padlesak 1 Johann Friedrich Herbart (1776-1841) – Philosoph, Psychologe und Pädagoge, dessen Wirkung nicht nur im deutschsprachigen Raum enorm war und zur Herausbildung seiner Lehre im eigenen Kanon – Herbartianismus – führte. J. F. Herbart studierte Philosophie und Literatur in Jena. 1798 lernte er J. H. Pestallozzi und seine pädagogischen Gedanken kennen, die ihn stark beeinflussten. 1809 wurde er an der Universität Königsberg zum ordentlichen Professor ernannt. Herbart gilt als Begründer der modernen Pädagogik als Wissenschaft. Seine systematische Erziehungslehre basiert auf der Psychologie. Wo Herbarts Lehre viel Raum dem Individum im Prozess der Bildung zuschreibt, findet man im Herbartianismus viel weniger Freiraum für die Selbstentfaltung des Zöglings. Werke: Herbart (1806; 1816).
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1867 in den Ruhestand ging, wurde diese Richtung vom Herbartianer Josef Dastich noch stärker forciert. Es handelte sich bei Dastich nur um ein kurzes Engagement von drei Jahren, jedoch dahingehend interessant, da mit ihm ein auf tschechisch vortragender Professor an der sprachlich utraquistischen Prager Universität lehrte. Nach seinem Tod dauerte es 12 Jahre, bis nach der Teilung der Karl-Ferdinand-Universität Pädagogik auch wieder auf Tschechisch gelesen wurde. Die stark durch Herbart geprägte Prager Pädagogik bekam nach Dastichs Tod nicht nur einen neuen Professor – aus Wien kam Otto Willmann (18391920) –, sondern auch eine neue Orientierung. Der tiefgläubige Willmann verlieh der Prager Pädagogik das neutomistische Gesicht, das er mit dem individualistischen Ton von Herbart kombinierte. Mit Willmann bekam Prag jedoch auch einen Professor, der sich intensiv für die Reform und Verbesserung der Lehrerausbildung einsetzte. Willmann war sich der schwierigen Situation der Pädagogik an den philosophischen Fakultäten in der österreichischen Monarchie bewusst und das Ungleichgewicht der theoretischen und praktischen Bildung der zukünftigen Mittelschullehrer wollte er nicht unbemerkt lassen. Deshalb setzte er sich nach seiner Berufung für die Gründung eines pädagogischen Seminars ein, das vor allem pädagogische Übungen anbieten sollte. Die Teilnahme am Seminar war nicht verpflichtend, die Seminarübungen waren für die Lehramtskandidaten bestimmt. In den Seminarstatuten steht in § 1: Der Zweck des pädagogischen Seminars ist, seine Mitglieder zu selbständigem Eindringen in die wissenschaftliche Pädagogik anzuleiten und dadurch ihre Befähigung für das Lehramt zu erhöhen. (Willmann 1901: 7)
Das Seminar behielt sich neben der neu eingeführten praktischen Vorbereitung auch die Aufgabe der theoretischen Bildung vor. Vor allem in den Jahren 1876-1887 waren seine Statuten theoretisch ausgerichtet: Die Übungen bestehen: I) in schriftlichen Arbeiten und Vorträgen über die allgemeine Pädagogik, die Didaktik, die Geschichte der Pädagogik und die Lehre vom Schulwesen. II) in Lectüre, Erklärung und Kritik von einschlägigen, insbesondere philosophisch-pädagogischen Schriften oder von Parteien aus solchen, durch die dazu bestimmten Mitglieder. III) in freien Colloquien oder Disputationen vorzugsweise im Anschlusse an die übrigen Übungen und die pädagogischen Vorlesungen. IV) in Erläuterung von Gesetzen und Verordnungen, welche das Schulwesen betrafen, mit vorwiegender Rücksicht auf die österreichische Schulgesetzgebung. (Willmann 1901: 18)
Für die ordentlichen Seminarmitglieder wurden auch Reisestipendien vom Kultus- und Bildungsministerium – Ministerstvo kultu a vyučování – vergeben. Diese Stipendien wurden mehrfach in Anspruch genommen, wobei die
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meisten Reisen nach Deutschland führten, um Institutionen für Lehrerbildung und deren Übungsschulen zu besuchen.2 Über diese Studienreisen wurden Berichte und Referate verfasst, die im Seminar vorgestellt und diskutiert wurden. Ebenfalls wurde eine pädagogische Bibliothek gegründet. Im Jahre 1887 kam es zu einer wesentlichen Erneuerung im Seminarleben. Das Seminar siedelte in das deutsche Prager Neustadtgymnasium um, wo sich erfahrene Gymnasiallehrer an seinem Betrieb beteiligten. Bei ihnen hospitierten die Studenten mit anschließender Analyse. Gleichzeitig gaben sie eigene Probestunden. Das Seminar erhielt also neben der theoretischen Ausbildung auch einen praktischen Teil – sog. Praktika. Die Studenten sollten während der Hospitationsstunden einzelne Unterrichtsmethoden erarbeiten, diese anwenden und den Wert der Bildungsinhalte definieren, wie Herbarts Unterrichtsziel es vorgab. Praktika sollten nach Willmann sowohl das fachliche als auch das didaktische Interesse reflektieren. Die Studenten sollten die wissenschaftliche Gliederung des Unterrichtsfaches nachvollziehen, als ob es sich um einen wissenschaftlichen Vortrag handelte. Gleichzeitig durften sie nicht ihre Hauptaufgabe vergessen, und zwar die Bearbeitung des wissenschaftlichen Stoffes, die zu einer musterhaften, nach den herbartischen didaktischen Regeln geführten Unterrichtsstunde führen sollte. Kommen wir jedoch zurück zu Willmanns pädagogischem Denken. In seinem zentralen Werk Didaktik als Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Sozialforschung und zur Geschichte der Bildung dargestellt setzte sich Willmann für die Einheit der sozialen und individualistischen Sichtweise in der Pädagogik ein: Die Aufgabe der Erziehungs- und Bildungslehre ist nur dann im ganzen Umfange zu fassen, wenn man die soziale und individuelle Betrachtungsweise von vornherein verbindet und so zugleich dem Reichtum und der Tiefe des persönlichen Verhältnisses und der Mannigfaltigkeit der sozialen und der geschichtlichen Verflechtung gerecht zu werden sucht. (Willmann 1882: 156)
Mit der individualistischen Betrachtungsweise knüpfte Willmann an das System von Herbart an. Mit der sozialen stützte er sich einerseits auf die Religion, andererseits auf die Staatslehre von Lorenz von Stein. Das Ziel der Pädagogik im Sozialen sah Willmann in der Erneuerung des gesellschaftlichen Körpers, der alle Verbände in sich einbezieht – neben dem Staat auch Kirche, 2 Reisestipendien: Herbst 1877 Fürstenschule in Meissen, 1878 Gymnasium in Dresden, in Leipzig Bartsche Erziehungsschule und Nicolai Gymnasium, 1879 Gymnasium und Realschule in Görlitz, 1880 Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in Berlin, 1881 und 1882 Gewerbeschule in Dresden, 1886 und 1887 Frankesche Stiftungen in Halle.
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Familie und Gesellschaft. Pädagogik soll der Übernahme, der Ausgestaltung und der Weitergabe von soziativen Mächten und ,Gütern‘ dienen. Solche sog. Güter sind nach Willmann einerseits geistig-sittliche wie etwa Sprache, Kunst, Wissenschaft usw., die zum Teil die ‚Volksgenossen‘ zusammenschließen und zum Teil über die Volksgemeinschaft hinausgreifen, andererseits sind es die spirituellen, übernatürlichen Mächte des Glaubens, welche die Religionsgemeinschaften verbinden. Aus dem kurzen Zitat Willmanns geht hervor, dass die deutsche Pädagogik in Prag bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts – Willmann wurde 1903 pensioniert und bis zu seinem Tode im Jahre 1920 war er Bischof in Leitmeritz – der aufklärerischen Tradition Herbarts und der konservativen Lehre des Neuthomismus verpflichtet blieb. Willmann gelang es, die Prager Pädagogik sowohl von volksorganischen Theorien als auch von biologistischen Einflüssen frei zu halten. In einer Zeit des intensivierten Schulkampfes und ,Volkstumskampfes‘ blieb die Universitätspädagogik in Böhmen einerseits den humanistischen Erziehungsidealen treu, andererseits berücksichtigte sie unterschwellig die Maximen des Religiösen. Anders war die Situation am 1882 gegründeten tschechischen pädagogischen Seminar an der Tschechischen Universität in Prag. Den Lehrstuhl leitete Professor Gustav Adolf Lindner (1828-1887), der ebenfalls stark von Herbarts Lehre beeinflusst war, wie etwa auch die Professoren Josef Durdík (1837-1902), Petr Durdík (1845-1909) oder František Čupr (1821-1882), andererseits begann er, anknüpfend an Ideen von Herbert Spencer (1820-1903), Einflüsse des Positivismus zu verarbeiten. Mit Willmann und Lindner beginnt eine Trennung in der wissenschaftlichen Orientierung der Prager Pädagogik. Das zeigt sich unter anderem an der Beziehung zur Religion. Bei Willmann findet man eine starke Affinität, bei Lindner eine positivistische Zurückhaltung. Auch der positivistische Beitrag von Tomáš Garrigue Masaryk (1850-1937) beeinflusste an der tschechischen Universität nicht nur das philosophische Seminar, sondern auch die Pädagogik – sowohl inhaltlich als auch methodologisch. Masaryks ‚Realismus‘ korrespondierte in vielen Facetten mit dem Positivismus und mit dem Pragmatismus von James. Die unterschiedlichen Richtungen beider Pädagogik-Lehrstühle in Prag änderte sich erst 1903 mit der Berufung des Wiener Professors Alois Höfler auf den deutschen Prager Lehrstuhl für Pädagogik. Höfler stand dem Positivismus und der modernen Logik nah. Sein Interesse wandte sich der experimentellen Psychologie, der Logik und ihrer Beziehung zu den Fachdidaktiken zu. Seine Tätigkeit war jedoch von kurzer Dauer. Nach vier Jahren ging er nach Wien zurück.
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3. Toischers Seminarleitung
Bei der Neuberufung im Jahre 1908 wurden nach den Archivakten der Auswahlkomission Prof. Arleth, Prof. Rein aus Jena und Prof. Foerster aus Zürich angesprochen. Alle lehnten jedoch ab, weil sie als eingeführte ordentliche Professoren an deutschen bzw. schweizerischen Universitäten tätig waren und Prag nicht attraktiv genug war. Der Lehrstuhl wurde deshalb vom Prager Gymnasialprofessor und Privatdozenten Wendelin Toischer besetzt, der sich bei Willmann habilitierte und die Tradition der deutschen Pädagogik in böhmischen Ländern fortsetzte. Dies betraf z. B. die Praktika, die am deutschen Altstädter Gymnasium abgehalten wurden. Dennoch war das Profil des Deutschen pädagogischen Seminars eher theoretisch-wissenschaftlich als angewandt praktisch orientiert.3 Obwohl Toischer als Schüler und enger Mitarbeiter von Willmann bekannt war, dessen Methodik er fortsetzte, betrat Toischer pädagogisches Neuland, als er das Seminarprofil mit Vorlesungen über Reformpädagogik und moderne Erziehungsströmungen bereicherte. Toischer las über pädagogische Psychologie und über experimentelle Pädagogik.4 In der Reformpädagogik konzentrierte er sich vor allem auf den deutschsprachigen Raum – auf die Arbeitsschule, auf die Kunsterziehung von Alfred Lichtwark, auf experimentelle Pädagogik und auf die Sozial-, Individual- und Moralpädagogik von Natorp.5 3 Das Seminar besuchten jeweils 15 bis 20 Studenten, nur die Hälfte von ihnen gliederte sich aber aktiv in die Seminararbeit ein. Die Situation veränderte sich radikal am Kriegsende und vor allem in den Revolutionstagen der Gründung der Tschechoslowakischen Republik, als das Gebäude des deutschen Altstadtgymnasiums von der tschechischen Armee besetzt wurde. Die Praktika konnten bis zu ihrer Wiedereinführung im Jahre 1926 nicht mehr abgehalten werden. 4 Als Vaterland der experimentellen Pädagogik (genannt auch empirische Pädagogik) gilt Deutschland. Die empirische Pädagogik versucht die Phänomene empirisch exakt zu analysieren, beschreiben und erklären, um Bildungs- und Erziehungsprozesse verstehen zu können. Wissenschaftliche Kriterien wie Objektivität, Validität und Reliabilität spielen eine Hauptrolle im Gegensatz zu Normen und Werten, die keine Stellung in empirischen Studien einnehmen sollen. Als Pionier der experimentellen Pädagogik gilt August Lay (1862-1926) und Ernst Meumann (1862-1915). Werke: Meumann (1907). 5 Es handelte sich um folgende Vorlesungen und Seminare, die er in den Jahren 1910 bis 1921 hielt: Methoden und Ergebnissen der experimentellen Pädagogik WS 1910/11 und WS 1914/15, Ausgewählte Abschnitte der pädagogischen Psychologie WS 1912/13 und WS 1916/17 und WS 1919/1920,
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Betrachtet man die dreizehn Jahre von Toischers Lehrtätigkeit, stellt man fest, dass die Prager Pädagogik mit ihm einen außerordentlich systematischen und wissenschaftlich orientierten Fachvertreter gewann. Er berichtete nicht nur über pädagogische Entwicklungstendenzen im deutschsprachigen Raum, sondern setzte sich, wenn auch in geringerem Umfang, ebenfalls mit den Fachdebatten innerhalb der tschechischen pädagogischen Wissenschaft auseinander. Trotz seiner Offenheit blieb Toischer dem positivistischen Denken, Messen und Experimentieren gegenüber auf Distanz. Er nahm zwar die Experimente von Wilhelm August Lay (1862-1926), Ernst Meumann (18621915) und William Stern (1871-1938) zur Kenntnis, blieb jedoch wissenschaftlich ohne Einfluss. Gleiches gilt bei den Experimente von Alfred Binet, Stanley Hall oder Edouard Claparede, über die in der tschechischen als auch in der deutschböhmischen pädagogischen Literatur referiert wurde. Auf der tschechischen Seite verlief die Rezeption schon über die erwähnten pädagogischen Psychologen, die in ihrer exakten und quantitativen Forschungsorientierung die experimentelle Pädagogik präferierten und weiter entwickelten. Für diese positivistische Orientierung des Lehrstuhls der Pädagogik an der tschechischen Karlsuniversität Prag stand in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem Professor Otakar Kádner (1870-1936).6
4. Ottos Ära in der Leitung des deutschen pädagogischen Seminars
Nach dem Tod von Toischer am 29. August 1922 begann die letzte Phase der deutschen Pädagogik in Prag. Berufen wurde der Studiendirektor und außerordentliche Professor der Marburger Universität Ernst Otto (1877-1959), Kinderpsychologie SS 1913, Methoden und Ergebnisse der Forschungen zur Bestimmung der Individualitäten und der Begabung SS 1915 und SS 1919, Die Erziehungsgrundlagen der Berufspsychologie SS 1916 und SS 1920, Psychologie der Kindheit SS 1917 und SS 1921. 6 Otakar Kádner (1870-1936) war seit 1907 als Dozent an der Prager Universität, seit 1919 als ordentlicher Professor tätig. Sein wissenschaftliches Interese richtete sich auf die Gebiete der positivistisch orientierten Pädagogik. In diesem Kontext stand er der experimentellen Pädagogik und Psychologie nah, wobei er auch das Gebiet der Geschichte der Pädagogik intensiv fokusierte.
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der sich allerdings mit der multinationalen Situation der Tschechoslowakei schwer tat und sich nur mit Mühe in der tschechischen Pädagogik zurecht fand, gleichwohl er für diese Interesse aufbrachte. Otto war auf mehreren Gebieten tätig. Gleich nach seiner Berufung führte er Praktika ein, die an den Prager deutschen Mittelschulen und an den Gymnasien im Sudetengebiet durchgeführt wurden (z. B. in Olmütz, Rumburg, Brünn, Eger, Reichenberg, Trautenau, Tetschen und in anderen Städten). Aktiv beteiligt war er bei den Reformen des tschechoslowakischen Schulwesens und bei der Reform der Universitätsausbildung (Kasper 2007). In Prag gründete er mit Franz Spina die Pestalozzi Gesellschaft, die sich zu einem Zentrum des deutschen pädagogischen Lebens entwickelte. Ferner rief er die Deutsche pädagogische Akademie in Prag ins Leben, die der Lehrerausbildung diente. Wissenschaftlich stand er unter dem Einfluss des deutschen geisteswissenschaftlichen pädagogischen Denkens, wobei ihm seine Sprachkompetenz (er war Anglist und Romanist) die Rezeption der romanischen und englischen pädagogischen Literatur ermöglichte. Neben erstem prägten zwei neue Privatdozenten, Wenzel Weigel (18881978) und Rudolf Lochner (1895-1978), das pädagogische Seminar an der Deutschen Universität. Beide studierten in Prag, beide waren ihr ganzes Leben mit dem böhmischen Gebiet verbunden. Wenzel Weigel studierte dank des J. A. Comenius Reisestipendiums zwei Jahre (1922-1924) bei dem Professor für experimentelle Pädagogik William Stern an der Universität Hamburg. Während des Stipendiums konzentriere sich sein Interesse weitgehend auf die verschiedenen deutschen Modelle der Schulreform und der Jugendkultur.7 Nach seiner Rückkehr nach Prag8 und der Habilitation9 an der Deutschen Universität bemühte er sich, die Erfahrungen mit der deutschen Schulreform den deutschen Lehrern in der Tschechoslowakei zu vermitteln (Kasper 2007). Rudolf Lochner konzentrierte seine Aufmerksamkeit einerseits auf das deutsche Volksschulwesen, wo er eine offen völkische Linie vertrat, andererseits auch auf die pädagogische experimentelle Forschung. Im Jahre 1923 7 Er besuchte pädagogische Institutionen wie die Landeserziehungsheime Dr. Lietz in Haubinda, die Freie Schulgemeinde in Wickersdorf, Hamburger und Leipziger Versuchsschulen, die Versuchschule Berliner Tor und Tieloh Süd, die Gaudig Schule und die Lichtwarkschulen. Er nahm an mehreren Treffen der Jugendbewegung z. B. in Cismar auf der Insel Rügen, auf der Burg Ludwigstein und Rothenfels teil. 8 Weigel las über die Problematik der Pädopsychologie, der Schuldisziplin, der Werte der Jugendlichen, der Charakterbildung, der Intelligenz und ihrer Messung, aber auch der Methodologie der Pädagogik. 9 Weigel habilitierte sich über das Thema Wertereiche der Jugendlichen.
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setzte er sich in Reichenberg für die Gründung der Anstalt für Seelen- und Erziehungswissenschaft ein, die nach Leipziger und Hamburger Vorbild10 geführt wurde. Ihre Existenz war jedoch aufgrund knapper finanzieller Mittel von kurzer Dauer. Lochner trat darüber hinaus als entschiedener Kritiker des tschechoslowakischen Staates auf, der seine antisemitische Haltung mehrfach öffentlich bekundete. Trotz seiner Nähe zum Nationalsozialismus übernahm er während des Krieges nicht die Leitung der Prager deutschen Pädagogik. Als Anfang 1942 über die Besetzung des pädagogischen Lehrstuhls verhandelt wurde, konnte sich selbst Konrad Henlein als Gauleiter und Fürsprecher Lochners, der dessen Verdienste in der NSDAP und bei der Zerstörung der Tschechoslowakei hervorhob, gegen das Rektorat, Rektor war Wilhelm Saure, nicht durchsetzen. Bis Ende des Krieges behielt Professor Enst Otto den Lehrstuhl. Ottos Professur und Weigels Dozentur waren nach 1938 keine unproblematischen Vorgänge. Beide traten zum 1.4.1939 in die NSDAP ein. Otto war der letzte ordentlich gewählte Rektor. Seine Amtszeit verlief kurz, aber dramatisch (23.9.1938-31.12.1939). Als Rektor erlebte er die Krise von München, die Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren, den Kriegsbeginn und die Schließung der tschechischen Hochschulen. Es ist kein Wunder, dass er in mehrere Konflikte geriet und wegen zu langsamer personeller Veränderungen im Sinne einer Arisierung der Universität kritisiert wurde. Schon im Sommer 1939 war klar, dass ein neuer Rektor kommen würde. Wilhelm Saure, Universitätsprofessor für „Bodenrecht“ aus Göttingen und aktiver Vertreter des Rasse- und Siedlungshauptamtes SS RuSHA, wurde schließlich ernannt. Otto leitete bis Mai 1945 das Deutsche pädagogische Seminar und blieb ordentlicher Professor an der Deutschen Universität zu Prag. Kommen wir zurück zum pädagogischen Denken von Otto. Er ging von einer tiefen Krise der Gesellschaft aus, die nur durch die Reform der Erziehung in der Familie und in der Schule überwunden werden kann: Im Zeitalter rastloser Fabrikstädte und kommerzieller Wolkenkratzer ist alles zweckhaft bis ins kleinste geregelt. Alles erstarrt in der Maschinerie des ewigen Einerlei der täglichen Arbeit, besonders in der Großstadt. Das Essen wird aus der gemeinsamen Hausküche bezogen. Die Menschen stürzen zur Bahn in der Frühe des Morgens, sind eingespannt in der peinlich geregelten Arbeit des Tages und kommen kraftlos zur Familie zurück, unfähig zum zwanglosen Lebensgenuß, zum persönlichen Verkehr. Überall herrscht Regel und Konvention – oder es fehlt 10 Hier gemeint das Leipziger Institut für experimentelle Psychologie gegründet 1879 von Wilhelm Wundt (1832-1920) und das Hamburger Institut für Jugendkunde in Hamburg gegründet 1919 von Ernst Meumann und weiter geleitet von William Stern.
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gar ein geregeltes Zusammenleben. [...] Überblickt man diese geschichtliche Entwicklung unseres Kulturlebens, mit der Aufklärungszeit beginnend, machen sich drei Tendenzen bemerkbar: das Leben wird mehr und mehr atomisiert (Individualismus), das Geistige tritt hinter dem Stoff zurück (Materialismus), und der Fluss des unendlich reichen Lebens erstarrt mehr und mehr in der Technik der Verstandesunkultur (Rationalismus). Denselben Lauf hat das Familienleben genommen: der Zusammenhang ist gelöst, die Familie ist nicht mehr auf die Entfaltung und Veredelung des Menschentums, sondern auf Sachkultur gerichtet, und die Natürlichkeit und Zwanglosigkeit freien Menschentums ist immer mehr zurückgegangen. Ebenso verhält es sich in der Schule. (Otto 1928: 92)
Das Rezept für die Verbesserung und Veredelung des Menschentums konnte nicht im zweckorientierten Pragmatismus gefunden werden, sondern wurde zum Einen in der Gemeinschaftserziehung, die sowohl für Schule, als auch für Familie das höchste Ziel sein sollte und zum Anderen im Modell von Führer und Geführtem in der Erziehung gesehen. Für Otto (1928: 87) war Erziehung „zielvolle Einwirkung auf einen bestimmten Menschen in einer bestimmten Gesellschaft“. Deshalb fragte er nach den wesentlichen Voraussetzungen des Lebens in menschlicher Gemeinschaft, vor allem in Familie und Staat. Dabei arbeitete Otto methodologisch auf zwei Arten. Zuerst konzipierte er durch induktiven Vergleich eine empirisch-vorhistorische Grundgestalt der Familie und des Staates, die er als sogenannte Allgemeinbegriffe verstand. Dann suchte er die „Sollensgestalt“ dieser Gebilde, deren idealer Sinngehalt in einem normativen Verfahren definiert wurde. Dabei arbeitet er mit irrationalen Grundverhältnissen wie Macht und Liebe und mit rationalen Regelungen wie Recht und Konvention. Ottos Konzeption einer Erziehung zur Familien- und Schulgemeinschaft fragte danach, ob es überhaupt Erziehungsideale gebe bzw. wie diese gewonnen werden und wie diese reflektiert in die Pädagogik eingebracht werden könnten. Dabei interessierte ihn nicht die empirische Wirklichkeit, ein stetiges, gegenseitiges Wirken der betreffenden Personen in den jeweiligen Erziehungssituationen, sondern er suchte nach einer formalen Auffassung und Gestalt, nach denen sich die Realität zu richten habe. Der formale Sinn, der nicht geschichtlich-inhaltlich, nicht situativ bestimmt wird, wurde zur Norm. Otto sprach von einem vorhistorisch-sinnhaften Erziehungsideal, das von jeder geschichtlichen und individuellen Besonderung absehe, und sich vom Funktionellen entfernte. Im Gegensatz zur deutschen geisteswissenschaftlichen pädagogischen Tradition suchte die tschechische Pädagogik Inspiration in den exakten Richtungen. Dabei richtete sich ihr Interesse nach Amerika, das durch mehrere Reisen tschechischer Lehrer und Wissenschaftler näher rückte. Von dem US-amerikanischen Einfluss zeugt die frühe Übersetzung von John Deweys The School and Society ins Tschechische im Jahre 1904. Es folgten weitere
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Übersetzungen, 1932 Democracy and Education, 1934 Moral Principles in Education. Die Diskussion über den amerikanischen Pragmatismus intensivierte sich vor allem nach 1918, nach der Gründung der Tschechoslowakei. Vor allem Václav Příhoda (1889-1979) trug zur Popularisierung des Pragmatismus als Rezept gegen die Probleme des tschechischen Schulwesens bei. Während seiner zwei Studienaufenthalte in Amerika kam er in engen Kontakt mit den Hauptvertretern der empirischen Pädagogik und des pädagogischen Pragmatismus,11 1922-24 studierte er an der University of Chicago bei Karl John Holzinger, Charles Hubbard Judd, Frank Nugent Freeman und 1926 am Teachers College der Columbia University in New York bei John Dewey (1859-1952) und Edward Lee Thorndike (1874-1949). Die pragmatische und behavioristische Richtung zeigt sich in Příhodas Ideologie der neuen Didaktik: Das Lernen stellt den besten Ausdruck des Verhaltens (behavior) dar, das einerseits die Umgebungssituation, mit der sich der Mensch auseinandersetzen muss, und andererseits die typischen Reaktionsmerkmale des Individuums auf die Gegebenheiten der Umgebung, bestimmen. [...] Jede Lernsituation hängt mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Bau zusammen. Die natürliche Situation hängt deshalb in keinem Fall mit der Natur zusammen, sondern es handelt sich immer um eine normale kulturelle, von den gegenwärtigen Gesellschaftsinstitutionen bedingte Situation. (Příhoda 1936: 12)
Příhoda erzielte in der tschechischen Pädagogik sowohl großen Widerhall als auch Ablehnung. Trotzdem gelang es ihm, eine Schulreformkonzeption vorzubereiten, die ganz den amerikanischen behavioristischen und pragmatischpädagogischen Reformideen verpflichtet war. Sowohl die Erfahrung als auch das ‚learning by doing‘ wurden zur Basis von Příhodas Lernkonzept. Die pragmatische Orientierung der tschechischen Pädagogik ließ das deutsche pädagogische Lager im Prinzip unberührt. Ein kleinerer Teil der deutschen Lehrer zeigte Interesse am Pragmatismus, die Mehrheit und die wissenschaftlichen Vertreter blieben der geisteswissenschaftlichen Tradition treu.
11 ����������������������������������������������������������������������������������� Pädagogischer Pragmatismus hat seine Wurzeln vor allem in der pragmatischen Pädagogik von John Dewey (1859-1952). John Dewey zeigt im pragmatischen Kontext, dass das Lernen nur durch das aktive Tun ermöglicht wird. Das Lernen wird operationalisiert und definiert als der Gewinn von neuen Erfahrungen und die Restrukturalisierung von ursprünglichen Erfahrungen.
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5. Fazit
Betrachten wir die deutsche und tschechische Pädagogik an den beiden Universitäten in Prag in der Zwischenkriegszeit, sind wir mit zwei unterschiedlichen Traditionen konfrontiert. Die eine suchte normativ nach dem letzten Sinn und Ideal der Erziehung, die zuletzt für den deutschen Menschen und den deutschen Staat bestimmend sein sollte, die zweite suchte nach exakten Methoden, um unterschiedliche Situationen funktional erklären zu können. Dabei darf nicht vergessen werden, dass sich zwischen beiden skizzierten Polen viele interessante ‚Mittelkonzeptionen‘ befanden, die aus beiden Lagern Anregungen aufnahmen.
Literatur
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„Wissenschaft im Volkstumskampf“ der Sudetendeutschen – mit finanzieller Unterstützung aus Deutschland Den Titel meines Beitrags – „Wissenschaft im Volkstumskampf“ – übernehme ich von der Festschrift für den Prager deutschen Germanisten Erich Gierach zu seinem 60. Geburtstag im Jahr 1941 (Oberdorffer/Schier/Wostry 1941).1 Mit volkstumskämpferischem Pathos gratulierten nicht nur die Herausgeber dieser Festschrift, sondern auch der österreichische Dialektologe Eberhard Kranzmeyer. Sein Grußwort in den Mitteilungen der Deutschen Akademie widmete er „Erich Gierach, einem Vorkämpfer des Sudetendeutschtums, zum 60. Geburtstag“. Persönlichkeit und Werk Gierachs würdigte Kranzmayer hier unter anderem mit den folgenden Worten: Die Persönlichkeit Erich Gierachs bleibt durch ihre hervorragende Bedeutung im Kampf des Sudetendeutschtums gegen die Willkürherrschaft der Tschechischen Republik für immer verbunden mit der Geschichte der Deutschen im Osten. [...] Die Deutschtumsforschung, die er sich zur wissenschaftlichen Lebensaufgabe gewählt hatte, wußte er schon in jungen Jahren in den Dienst der nationalen Einheit zu stellen. [...] In der Zeit unseligen Parteiengezänks übernahm der kraftvolle Mann, unterstützt von getreuen Helfern, die gefährliche Aufgabe, seinem Volk gegen den Willen der [tschechischen] Regierung das alte Recht auf seinen Siedlungsboden kulturpolitisch und wissenschaftlich zu beweisen und mit allen Mitteln bekannt zu machen. (Kranzmeyer 1941: 447)2
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „auslandsdeutschen Volks- und Kulturboden“ bekam ihre außerordentliche Schubkraft durch den Ausgang des Ersten Weltkrieges. Hatte doch der so genannte ‚Versailler Schandfrieden‘ das Problem des Auslandsdeutschtums in bislang ungekannter Dringlichkeit in die politische Diskussion gebracht. Zugleich musste im zerstückelten Nachkriegsdeutschland jeder Versuch Attraktivität entfalten, der nachzuweisen versprach, dass Deutschlands „nationale Einheit“ auf anderen als auf den erschütterten 1 Unter dem Titel Wissenschaft im Volkstumskampf berichtete schon ein Jahr zuvor Der neue Tag von der Eröffnung der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung, deren Gründung wesentlich auf die Vorarbeiten Gierachs zurückging (14.10.1940: 3). 2 Zu Gierachs wissenschaftlichen Plänen nach seiner Berufung nach München im Jahr 1936 vgl. Simon (1998).
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staatlichen Fundamenten begründet wäre. Bereits in den zwanziger Jahren entwickelte sich die Volks- und Kulturbodenforschung zu einer breiten, interdisziplinär vernetzten Forschungsrichtung, in deren Zentrum die Sprachwissenschaft, die Volkskunde und die Geschichtsforschung standen. Für die beteiligten Disziplinen erwies sich die Ausrichtung auf den Begriff des Kulturraumes bzw. des Volksbodens als fachlich äußerst innovativ, öffnete sie doch beispielsweise in der Sprachwissenschaft einen zuvor meist formgeschichtlichen Forschungshorizont für soziologische und kulturwissenschaftliche Fragen. Ihre große Anziehungskraft verdankte die Volks- und Kulturbodenforschung allerdings vor allem ihrer außerfachlichen Bedeutung, denn sie erhob den Anspruch, „das alte Recht“ auf auslandsdeutschen Siedlungsboden „wissenschaftlich zu beweisen“. Geisteswissenschaftliche Fächer, die wie die Sprachwissenschaft zuvor Mühe gehabt hatten, einer außerfachlichen Öffentlichkeit ihren ,Sinn‘ noch plausibel zu machen,3 konnten im Zusammenhang mit der Kulturbodenforschung buchstäblich tagesaktuelle politische Relevanz gewinnen. Die Erforschung des auslandsdeutschen Kulturbodens bot sich als wissenschaftliche Legitimationsinstanz für außenpolitische Ambitionen und Ansprüche Deutschlands an und wurde als solche auch nachgefragt. In den auslandsdeutschen Gebieten selbst sollten diese Forschungen die deutschnationale Mobilisierung der Bevölkerung bestärken.4 Innerhalb wie außerhalb der zurückgestutzten Reichsgrenzen erwuchs dieser Forschungsrichtung daher die zunehmende Unterstützung „getreuer Helfer“. Mit dem absehbaren Kriegsende kam es in Deutschland in enger 3 Zur Suche nach sinnstiftender „Synthese“ in der deutschen Sprachwissenschaft vgl. Ehlers (2005: 498ff.), Knobloch (2005: 45ff.) beschreibt die Entwicklungsdynamik der Sprachwissenschaft in der Weimarer Republik treffend als „Versuch, Boden unter die Füße zu bekommen“: „In diesem Zusammenhang etabliert sich das Bezugssystem ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ als fachlicher Ausweis ‚volklicher‘ Relevanz und politischer Bedeutung der Sprachforschung für beinahe alle deren Teildisziplinen. [...] Das Bezugssystem adelt alle Themen, die sich in ihm platzieren lassen, es wertet sie auf und versorgt sie gewissermaßen automatisch mit Bezügen zur volklichen ‚Ganzheit‘ und mit praktischen Anwendungen.“ (Ebd.: 112) 4 So heißt es in einer Denkschrift von Schülern Gierachs zu dessen 60. Geburtstag: „Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie hoffnungslos und am eigenen Dasein verzweifelt breite Schichten [der Sudetendeutschen nach 1918] gewesen sind. Ihnen mußte das Bewußtsein von ihrem Recht, der Stolz auf ihr Volkstum wiedergegeben werden. Der wissenschaftliche Nachweis der uralten deutschen Rechte im Lande und der gewaltigen deutschen Kulturleistung, die volksweite Verbreitung der Kenntnis davon waren notwendige Voraussetzungen, um eine gesunde Volkstumsbewegung wieder erstehen zu lassen.“ (AAVČR/NA/Gierach) Als Verfasser der 15-seitigen Denkschrift, die ehemalige Schüler Gierachs am 28.9.1941 der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und der Künste in Prag übersandten, wurde Gustav Schlegel genannt.
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Folge zur Gründung von neuen Institutionen, die sich der kulturpolitischen Unterstützung und Erforschung des Auslandsdeutschtums verschrieben. So etwa das 1917 gegründete Deutsche Auslandsinstitut in Stuttgart, die Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung (1921) und die 1925 in München eröffnete Deutsche Akademie, um nur drei der wichtigsten Beispiele für das rasch verdichtete Institutionennetz der Volkstumsarbeit in der Weimarer Republik zu nennen. Zu den kulturpolitischen Aktivitäten, mit denen in diesen Einrichtungen die Pflege des Auslandsdeutschtums betrieben wurde, gehörte häufig nicht zuletzt die Wissenschaftsförderung. Innerhalb der etablierten universitären und akademischen Wissenschaft stieß freilich diese Art der geisteswissenschaftlichen ‚Zweckforschung‘ in den zwanziger Jahren mitunter noch auf grundsätzliche Vorbehalte. Dass derartige Vorbehalte allerdings schon vor 1933 weitgehend verstummten und der Topos der anwendungsfernen Geisteswissenschaft vielmehr bald nur noch genutzt wurde, um die politische Interessiertheit von Forschung im Bedarfsfall nach außen zu verschleiern, möchte ich in meinem Beitrag am Beispiel der Wissenschaftsförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zeigen. An einigen exemplarischen Fällen soll die mehr oder weniger klandestine Unterstützung der sudetendeutschen Volkstumsforschung in der Tschechoslowakischen Republik in ihrer Vorgehensweise und in ihrer zeitlichen Entwicklung vorgestellt werden. Ich möchte mit diesen historiographischen Schlaglichtern zugleich darauf hinweisen, dass die externe Förderung der sudetendeutschen „Wissenschaft im Volkstumskampf“ durch reichsdeutsche Finanzmittel dringend einmal systematisch untersucht werden müsste. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ist 1920 zunächst unter dem Namen „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ gegründet worden und schnell zur zentralen Institution staatlicher Forschungsförderung in Deutschland aufgerückt. In ihr waren sämtliche deutschen Akademien der Wissenschaft, alle Universitäten und Hochschulen, die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und die wichtigsten Wissenschaftsverbände zu einem „Selbstverwaltungskörper der deutschen Wissenschaft“5 zusammengefasst. Die staatlichen Fördergelder wurden hier auf der Basis von Gutachten und Entscheidungen von Ausschüssen vergeben, deren Mitglieder idealerweise von allen mindestens habilitierten deutschen Wissenschaftlern aus dem Kreis der „hervorragenden Forscher“ (1. Bericht, 1922: 12) der jeweiligen Disziplinen gewählt wurden. Anders als die 5 [1.] Bericht der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (1922: 5). Zur Geschichte der DFG vgl. Zierold (1968), Hammerstein (1999) und für die Zeit nach 1933 Mertens (2004). Zur Förderung speziell der Sprachwissenschaft durch die DFG vgl. Ehlers (im Druck).
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lokalen, mehr oder weniger universitätsfernen und häufig auch parteipolitisch oder konfessionell orientierten Verbände der auslandsdeutschen Volkstumspflege repräsentierte die überregional tätige DFG den akademisch institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb des Deutschen Reiches. Während die außerakademischen Institutionen der ‚Auslandskunde‘ schon in den zwanziger Jahren gezielt Forschungen förderte, die explizit politischen Interessen dienen sollten, stieß eine allzu deutliche Ausrichtung von wissenschaftlichen Vorhaben an außerwissenschaftlichen Zwecken innerhalb der DFG in einer Reihe von Fällen zunächst auf deutliche Ablehnung. So finden sich bis in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre zumindest einige Fördervorgänge, in denen gerade die behauptete Nähe zwischen Wissenschaft und Politik einen Anlass bot, die Subventionierung des jeweiligen Unternehmens zu verweigern. 1925 setzte sich beispielsweise die Münchener Deutsche Akademie bei der Forschungsgemeinschaft dringend dafür ein, verschiedene sprach-, landes- und naturkundliche Vorhaben finanziell zu unterstützen, die siebenbürgische Vereine „auf bedrohtem Auslandsposten“6 bearbeiteten. Dem Präsidenten der Deutschen Akademie wurde daraufhin von der Forschungsgemeinschaft sehr bestimmt beschieden, dass es sich bei den von der Notgemeinschaft zu gewährenden Unterstützungen in erster Linie um reichsdeutsche Unternehmungen zu handeln hat und die Pflege des Deutschtums im Ausland nicht zu den der Notgemeinschaft zugewiesenen Aufgaben gehört.7
Die Forschungsgemeinschaft legte hier Wert darauf, sich von politisch ausgerichteten Förderinstitutionen abzugrenzen, die wie die Deutsche Akademie „zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums“8 gegründet worden waren. Auch gegenüber Forschungsvorhaben zum Auslandsdeutschtum auf dem Gebiet der damaligen Tschechoslowakei blieb die Haltung der Akteure innerhalb der Forschungsgemeinschaft zunächst noch zwiespältig. 1928 hatte Julius Gréb, der Bearbeiter des Zipser Wörterbuches, einen Druckzuschuss für die Herausgabe einer Zipser Volkskunde beantragt, die vor allem für die „Heimatbewegung“ in der deutschen Sprachinsel Zips von größter Bedeutung sein sollte. Während John Meier das Vorhaben „nicht nur vom wissenschaftlichen, sondern auch vom 6 ������������������������������������������������������������������������������������ Dreifach unterzeichnetes Schreiben des Präsidiums der Akademie vom 27.10.25 (BA-Koblenz R73/15834). 7 ����������������������������������������������������������������������������������� Schreiben der Forschungsgemeinschaft „an den Herrn Präsidenten der Deutschen Akademie“ vom 19.12.1925 (BA-Koblenz R73/15834). 8 So der ältere, ausführlichere Name der Deutschen Akademie: „Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums“.
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nationalpolitischen Standpunkt“9 befürwortete, plädierte ein zweiter Gutachter gerade wegen der Politiknähe des Projekts für eine Ablehnung der Förderung: Nach den seither befolgten Grundsätzen der Notgemeinschaft kommt eine Unterstützung nicht in Frage, weil [...] in 1. Linie politische Gründe für die Unterstützung angeführt werden.10
Noch 1930 warnte Professor Bruno Kuske im Hauptausschuss der DFG „zur Vorsicht vor Modeströmungen“ wie der stark expandierenden Erforschung des Grenz- und Auslandsdeutschtums. Kuske empfahl, die Unterstützung derartiger Wissenschaftsströmungen beispielsweise „der Stiftung für deutsche Volksund Kulturbodenforschung zu überlassen.“11 Das Forschungsgebiet des Grenzund Auslandsdeutschtums stieß also in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zumindest in Teilen der scientific community eben wegen seiner zunehmenden Popularität und seiner grundsätzlich politischen Orientierung noch auf Skepsis und Ablehnung. Die Forschungsgemeinschaft wurde deshalb wiederholt als nicht zuständig für diese Thematik erklärt, weil sie allein reichsdeutschen und rein wissenschaftlichen Bestrebungen verpflichtet sei. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Auslandsdeutschtum wurde folgerichtig an die zahlreichen außerakademischen Institutionen zur ‚Deutschtumspflege‘ verwiesen, die im Laufe der zwanziger Jahre gegründet worden waren. Andererseits aber gab es auch schon in den zwanziger Jahren vor allem innerhalb der Geschäftsführung der Forschungsgemeinschaft die gegenläufige Bestrebung, auslandsdeutschen Forschungsfragen besondere Förderung zukommen zu lassen. Gerade im Bereich des Grenz- und Auslandsdeutschtums entdeckte man „nationale wissenschaftliche Aufgaben“ (11. Bericht 1932: 73) innerhalb der Geisteswissenschaften, auf die das 1926 gestartete Programm der „Gemeinschaftsarbeiten“ ausgedehnt werden konnte. Die „Saarforschung“ und die „Vor- und frühgeschichtliche Erforschung des deutschen Ostens“ sind frühe Beispiele für Gegenstände, die die Forschungsgemeinschaft in Kooperation mit politischen Stellen gerade wegen ihrer nationalpolitischen Bedeutung als Gemeinschaftsaufgaben gezielt und massiv förderte: In Anerkennung der wissenschaftlichen und nationalen Bedeutung dieser Arbeiten nehmen die Ministerien des Reiches und der Länder an ihnen fördernd Anteil.12
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Gutachten Meiers vom 3.2.28 (BA-Koblenz R73/15841). Gutachten mit nicht identifizierter Unterschrift vom 27.2.28 (BA-Koblenz R73/15841). Protokoll der Hauptausschusssitzung vom 30.10.1930 (BA-Koblenz R73/101). 11. Bericht (1932: 25). Nach Oberkrome (2004: 25) förderte die Forschungsgemeinschaft Studien zum Auslandsdeutschtum unter anderem „in Absprache mit der zuständigen ‚Abteilung IV‘ des Auswärtigen Amtes“, was den politischen Charakter dieser Forschung unterstreicht.
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Auf der inhaltlichen wie strukturellen Linie dieser frühen Bestrebungen der Forschungsorganisation lag die Gründung der Österreichisch-deutschen Wissenschaftshilfe im Jahr 1929, für die sich der Präsident der DFG Schmidt-Ott persönlich stark engagierte. Verschiedenen Anregungen aus oesterreichischen und reichsdeutschen Forscherkreisen entsprechend, wurde durch eine Sitzung am 13. Mai 1929 diese Organisation konstituiert, die mit wenngleich beschränkten Mitteln, die hierfür von verschiedenen Seiten besonders zur Verfügung gestellt wurden, der oestereichischen Wissenschaft, wo sie in nähere Beziehung zu Deutschland tritt, helfen und den oesterreichischen Nachwuchs fördern soll. (8. Bericht 1929: 176-177)
Der inhaltliche Schwerpunkt dieser neuen Förderinstitution, der in den Jahresberichten der DFG nur andeutungsweise benannt wird, bestand darin, insbesondere Forschungsarbeiten „über deutsches Land und Volkstum in Österreich“13 zu unterstützen. Wie bei der Subventionierung der „Saarforschung“ beteiligten sich reichsdeutsche politische Stellen in großem Umfang an der Finanzierung. Die genaue Herkunft der Mittel wird in den Jahresberichten der Forschungsgemeinschaft freilich nicht offen gelegt. Nach Schmidt-Otts späterer Darstellung steuerten zum Etat der ÖsterreichischDeutschen Wissenschaftshilfe „das Deutsche Auswärtige Amt, das Reichsinnenministerium und die Notgemeinschaft ungefähr zu gleichen Teilen“14 bei. Die Vorprüfung der einschlägigen Förderanträge übernahmen Vertreter der Wiener Akademie der Wissenschaften, ein Gesamtkuratorium, dem neben den Präsidenten der Wiener Akademie, deutschen Politikern und Vertretern der Geld gebenden Ministerien auch Schmidt-Ott angehörte, traf die endgültigen Entscheidungen über die Bewilligungen. Die Mittelvergabe erfolgte dabei „im Sinne der von der Notgemeinschaft ausgebildeten Grundsätze“,15 13 Schmidt-Ott zit. nach Hammerstein (1999: 86). Lothar Mertens (2004: 292ff.) belegt in einem eigenen Kapitel zur Österreichisch-Deutschen Wissenschaftshilfe an vielen Beispielen, dass sich die Institution nach 1933 vorrangig auf parteipolitische Gesichtspunkte festlegte. 14 �������������������������������������������������������������������������������������� Schmidt-Ott (1950: 146). Nach Zierold (1968: 104) war der Beitrag verschiedener Abteilungen des Auswärtigen Amtes jedenfalls im Gründungsjahr der Wissenschaftshilfe erheblich höher: „Im Jahr 1929 standen 150000 RM zur Verfügung, je 50000 RM stammten von der Notgemeinschaft und der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, je 25000 vom Reichsinnenministerium und der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes.“ Der Etat der Österreichisch-Deutschen Wissenschaftshilfe wurde nach Mertens (2004: 293) in den dreißiger Jahren erheblich gekürzt, der Anteil der verschiedenen Geldgeber wird in der Darstellung von Mertens aber nicht systematisch aufgeschlüsselt. 15 9. Bericht (1930: 185). Mitglieder des Kuratoriums waren unter anderem Reichstagspräsident Paul Löbe und der Zentrumsabgeordnete Georg Schreiber, der selbst das Institut für Auslandskunde in Münster leitete.
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die auch ihren Verwaltungsapparat für die finanzielle Abwicklung zur Verfügung stellte. Schon in den zwanziger Jahren bemühte sich die Forschungsgemeinschaft also innerhalb ihres Tätigkeitsfeldes institutionelle Strukturen zu schaffen, die der Erforschung des Auslandsdeutschtums gezielte finanzielle Förderung sichern sollten. Sie begann damit, Mittel der staatlichen deutschen Wissenschaftsförderung in Gebiete außerhalb der damaligen Reichsgrenzen zu transferieren. Dass diesen Forschungsbestrebungen ein bedeutender politischer Stellenwert zugemessen wurde, wird nicht zuletzt an der personellen und finanziellen Beteiligung reichsdeutscher Ministerien an ihrer Förderung deutlich. In den dreißiger Jahren weitete die DFG ihren ausländischen Aktionsradius schnell weiter aus, wie ich am Beispiel der sudetendeutschen Volkstumsforschung in den Grenzen der Tschechoslowakischen Republik zeigen möchte. Die ersten Anträge aus der Prager deutschen Germanistik gingen bei der DFG im Jahr 1931 ein. Erich Gierach bemühte sich hier um eine Stipendiatenstelle für sein Sudetendeutsches Ortsnamenbuch. Dieses Ortnamenbuch sei „die wichtigste Vorarbeit für die deutsche Siedlungsgeschichte in der Tschechoslowakei“. Es gehe hier um eine „brennende [...] Frage“, denn die Siedlungsgeschichte ihrerseits sei „grundlegend für alle Beurteilung von Deutschtumsfragen in der Tschechoslowakei.“16 Auch wenn der damalige Präsident der Forschungsgemeinschaft, Friedrich Schmidt-Ott, sogleich „die Bedeutung der geplanten Arbeit würdig[t]e“17 und grundsätzliche Bereitschaft zu einer Unterstützung erklärte, verzögerte sich die Bearbeitung des Antrags noch um einige Monate. Der Grund für diese Verzögerung dürfte nicht nur in den starken Etatbeschneidungen gelegen haben, die die DFG im Gefolge der Weltwirtschaftskrise zu verkraften hatte.18 Der Vorgang selbst lag vielmehr seinerzeit noch außerhalb der üblichen Antragsroutine. Dies wird etwa in der Begutachtung des Antrages durch den Vorsitzenden des Fachausschusses für neuere Philologie, den Germanisten Edward Schröder, deutlich. Schröder schreibt in seiner Stellungnahme vom Oktober 1931: Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass, wenn überhaupt die deutsche Forschung in der Tschecho-Slowakei mit Stipendien gefördert werden soll und kann, die von Prof. Gierach 16 ����������������������������������������������������������������������������� Antrag Gierachs vom 3.8.1931 (BA-Koblenz R73/16623). Diesem Antrag war (wahrscheinlich im selben Jahr) ein früherer Antrag vorausgegangen, der hinfällig geworden war, weil die seinerzeit vorgesehene Stipendiatin, Dr. Paula König, unterdessen andernorts eine feste Stelle angenommen hatte und somit nicht mehr zur Verfügung stand. 17 Schreiben Schmidt-Otts an Gierach vom 14.8.1931 (BA-Koblenz R73/16623). 18 ������������������������������������������������������������������������������������� Diese finanziellen Gesichtspunkte hatte Schmidt-Ott gegenüber Gierach für die schleppende Antragsbearbeitung verantwortlich gemacht, vgl. vorangehende Fußnote.
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mit bewundernswerter Energie geleisteten Arbeiten zur Sprach- und Siedlungsgeschichte solche Förderung in allererster Linie verdienen!19
Der eingeschobene Konditionalsatz belegt, dass es in den Gremien der DFG zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch unausgemacht war, ob reichsdeutsche Forschungsförderung überhaupt in das Staatsgebiet der Tschechoslowakei hineinreichen ‚sollte und konnte‘. Hier schaffte erst eine Grundsatzentscheidung der Österreichisch-Deutschen Wissenschaftshilfe, die sich ebenfalls mit dem Antrag Gierachs befasste, Klarheit: Das Kuratorium der Wissenschaftshilfe, in dem auch Schmidt-Ott vertreten war, stellte sich im Herbst 1931 auf den Standpunkt, daß für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses für die volks- und landeskundlichen Forschungen im Deutschtum der Nachfolgestaaten von der Österreichisch-Deutschen Wissenschaftshilfe nach Möglichkeit eingetreten werden sollte.20
Damit war der Weg frei für die Finanzierung sudetendeutscher Volkstumsforschung über die staatliche Forschungsförderung des Deutschen Reiches. Gierach bekam im Januar 1932 von der DFG den Bescheid, dass sein sudetendeutsches Ortsnamenbuch mit einem einjährigen Stipendium unterstützt werden würde. Die Arbeiten wurden wunschgemäß von dem in Aussig/Ústi geborenen Gerhard Eis ausgeführt, der 1931 an der Prager deutschen Universität im Fach Germanistik promoviert hatte.21 Wenig später gehörte die Förderung sudetendeutscher Nachwuchswissenschaftler aus dem Umfeld der Volks- und Kulturbodenforschung bereits zum Alltag der Förderpraxis der DFG. Im Dezember 1933 beantragte Gierach eine Druckunterstützung für die Monographie seines Schülers Franz Bera-
19 Gutachten Schröders vom 11.10.1931 (BA-Koblenz R73/16623), als zweiter Gutachter schloss sich John Meier in einer maschinenschriftlichen Ergänzung zu Schröders Gutachten vom 30.10. „vollständig“ an. 20 Schreiben Schmidt-Otts an L. Radermacher vom 16.11.1931 (BA-Koblenz R73/16623). Radermacher war als Generalsekretär der Wiener Akademie der Wissenschaften an der Stipendienvergabe durch die Österreichisch-Deutsche-Wissenschaftshilfe maßgeblich beteiligt und bekam auch hier Gierachs Antrag zur Stellungnahme vorgelegt. 21 Bewilligungsbescheid vom 11.1.1932 (BA-Koblenz R73/16623). Gerhard Eis, der sich offenbar zunächst als Autor von Historiendramen versucht hatte, lehrte nach seiner Promotion an der deutschen Handelsakademie in Pilsen, habilitierte 1935 in Prag für ältere deutsche Sprache und Literatur und vertrat nach längerem Dienst in der Wehrmacht ab 1943 den Lehrstuhl für deutsche Literatur an der Universität Pressburg. Für seinen „Einsatz vor Besetzung des Sudetenlandes und dann bei der Vorbereitung der Unterlagen für die internationale Grenzkommission [sic] wurde [ihm] vom Führer die Sudetenmedaille verliehen“ (Curriculum vitae, AUK/FFNU/Kart. 48: Pers. Prof. I.) Zum beruflichen und wissenschaftlichen Werdegang von Gerhard Eis vgl. auch AAVČR/NA/Eis.
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nek über „Die Mundart des deutschen Südmährens“.22 Die Bedeutung und Förderungswürdigkeit dieser dialektologischen Arbeit begründete Gierach wieder mit Bezug auf die Siedlungsgeschichte: Eines der wichtigsten Forschungsgebiete für die deutsche Sprachwissenschaft in der Tschechoslowakei ist die Untersuchung und Darstellung der deutschen Mundarten. Aus ihnen ergibt sich, dass die deutsche Siedlung, deren Herkunft hart umstritten ist, nicht jung und künstlich, erst nach dem Dreißigjährigen Krieg etwa geschaffen ist, sondern daß sie alt und bodenständig und bis in die Hohenstaufenzeit zurückgeht.23
Weder dass der Geförderte kein Reichsdeutscher war, noch dass der Antrag hier deutlich tagespolitisch motiviert wurde, weckte in den Gremien der DFG nun noch irgendwelche Irritationen. Die Fachgutachter Edward Schröder und Friedrich Panzer machten sich im Gegenteil die Argumentation Gierachs zu eigen und befürworteten die Unterstützung des Gesuchs in ihrer Vorlage für den entscheidenden Hauptausschuss der DFG wie folgt: Der Antragsteller führt aus, daß die Untersuchung und Darstellung der deutschen Mundarten eines der wichtigsten Forschungsgebiete für die deutsche Sprachwissenschaft in der Tschechoslowakei ist, da sich daraus das Alter und die Bodenständigkeit der deutschen Siedlung ergebe. Der FA [Fachausschuss] teilt diese Ansicht und befürwortet den Antrag.24
Auch die anderen Gremien der DFG schlossen sich der Meinung des Fachausschusses an. Beraneks Arbeit bekam im Mai 1934 einen Druckkostenzuschuss von 1400 RM zugesprochen.25 Die Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft in Wien beglückwünschte die DFG zu dieser Entscheidung mit „große[r] Freude“ und unterstrich die „besondere nationalpolitische Bedeutung“ des Werkes 22 ���������������������������������������������������������������������������������� Beranek wurde 1902 in Lundenburg (Mähren) geboren, hatte 1932 in Prag mit der genannten Arbeit promoviert und war seit 1929 als Lehrer an verschiedenen Schulen tätig. 1941 legte er eine Monographie über „Die deutsche Besiedlung des Pressburger Grossgaus“ vor, die den Nachweis erbrachte, „daß das slowakische Staatsgebiet zwischen March und Waag einstmals einen Teil des deutschen Volksbodens gebildet hat“ (undatiertes Habilitations-Gutachten Josef Hanikas zu Beranek). Beranek war nach eigenem Bekunden „seit 1919 [...] in der sudetendeutschen völkischen Bewegung tätig“. Nach 1938 wurde er Scharführer und Presseoffizier der SA. Dass er sich in einem Lebenslauf aus den vierziger Jahren darüber hinaus rühmt, Angehöriger „der führenden judengegnerischen Verbindung auf Prager Boden“ gewesen zu sein, wird vor allem dadurch bemerkenswert, dass Beranek nach dem Krieg in erster Linie mit Forschungen zum Jiddischen hervortrat (Gutachten und Lebenslauf in AUK/FFNU/Kart. 53: Pers. Doc I), die ebenso wie seine spätere Tätigkeit für das Sudetendeutsche Wörterbuch langjährig von der neu gegründeten DFG gefördert worden sind. Zu Beranek und seinen jiddistischen Arbeiten vgl. Hutton (1999: 212-220). 23 Antrag Gierachs vom 31.12.1933 (BA-Koblenz R73/16235). 24 Kurzkommentar für die Liste 12/1933-34, die dem Hauptausschuss vorgelegt wurde (BAKoblenz R73/16235). 25 Bewilligung vom 15.5.1934 (BA-Koblenz R73/16235).
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von Beranek.26 Der Fördervorgang spielte sich zwar bereits nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland ab, mit der Begutachtung und Bearbeitung des Antrags waren aber zu diesem Zeitpunkt ausschließlich Fachvertreter und Gremien befasst, die noch vor der Machtübernahme regulär gewählt worden waren. Die Bindung der Forschungsförderung an die „nationalpolitische Bedeutung“ wurde innerhalb der Forschungsgemeinschaft also schon weitgehend akzeptiert, bevor dort das System der Wahlgutachter paralysiert und später förmlich beseitigt worden war. Ein sechseitiger Rundbrief Friedrich Schmidt-Otts „an die Mitglieder der Notgemeinschaft“ dokumentierte im November 1933 auch offiziell die Anpassungsbereitschaft der Institution an die neuen Machtverhältnisse in Deutschland. Schmidt-Ott verpflichtet in diesem Brief die staatliche Forschungsförderung ausdrücklich auf die „Zielsetzungen des nationalen Staates“27 und skizziert in einem breiten Überblick neue Förderungsschwerpunkte der DFG. Unter anderem heißt es hier: Dem deutschen Boden und den historischen Grundlagen des deutschen Volkstums wird besondere Aufmerksamkeit zugewandt.28
Dabei werden die bisherigen Gemeinschaftsarbeiten zur „Saar-Forschung“ und zur „vor- und frühgeschichtlichen Erforschung des deutschen Ostens“ als vorbildlich hingestellt und gerade die deutsche Volksbodenforschung in der Tschechoslowakei als aktuelles Tätigkeitsfeld ins Auge gefasst: Entsprechende Arbeiten für andere gefährdete Volkstumsgebiete werden sich anschließen müssen, wie dies bereits für das Gebiet des Sudetendeutschtums in Aussicht genommen ist.29
Im weiteren Verlauf der dreißiger Jahre richteten sich die Instrumente der staatlichen Wissenschaftsförderung in Deutschland erwartungsgemäß noch direkter an den Bedürfnissen der Politik, an ihren Akteuren und Institutionen aus. Ein Beispiel für die zunehmend explizite Politisierung der Forschungsförderung ist die Unterstützung Herbert Weinelts. Der 1908 in Freiwaldau 26 Schreiben der Wiener Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft an die DFG vom 25.5.1934 (BAKoblenz R73/16235). 27 Rundbrief vom 10.11.1933, S. 1 (BA-Koblenz R73/12186). 28 Rundbrief vom 10.11.1933, S. 3 (BA-Koblenz R73/12186). 29 Rundbrief vom 10.11.1933, S. 4 (BA-Koblenz R73/12186). Zur Gemeinschaftsarbeit der Saarforschung heißt es im Tätigkeitsbericht der DFG 1933 in entsprechend deutliche militärische Metaphorik gekleidet, sie habe „mit den Mitteln der Notgemeinschaft die geistesund naturwissenschaftliche Erforschung des kerndeutschen, vom Reich vorübergehend getrennten Grenzlandes verfolgt und in dem in Druck befindlichen Saaratlas eine starke Waffe für dessen Wiedergewinnung geschaffen“ (12. Bericht 1933: 8).
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(Schlesien) geborene Weinelt hatte 1934 an der Deutschen Universität in Prag über ein dialektologisches Thema promoviert. Ab Herbst 1935 ist er als Stipendiat am sudetendeutschen Mundartenwörterbuch von der DFG unterstützt worden. Die Förderungswürdigkeit des Wörterbuchs begründeten Theodor Frings und Erich Gierach, die hier gemeinsam als Antragsteller auftraten, damit, dass „bei seinem Erscheinen infolge der innigen Verflechtung des Sudetendeutschtums mit dem reichsdeutschen die starken Bindungen über die Staatsgrenzen hinweg anschaulich“30 gemacht werden würden. Die Devisenstelle in Berlin bat man wenig später um die Genehmigung, das Stipendium monatlich an Weinelt nach Prag zu überweisen, da dessen Arbeit „im deutschen Interesse“31 liege. Eine wortgeographische Monographie Weinelts von 1938, die „auf den Sammlungen des Sudetendeutschen Mundartwörterbuches“ beruhte, wurde in Deutschland dankbar als „ein wertvolles Hilfsmittel im Volkstumskampf“ (Martin 1940: 99) begrüßt. Weinelts Stipendium wurde schon nach einem halben Jahr von 100 RM auf 125 RM erhöht und nach der Einrichtung des Protektorates sogar auf 300 RM heraufgesetzt. Damit erreichte seine Subventionssumme 1939 nicht nur eine ungewöhnliche Höhe, sondern mit viereinhalb Jahren Förderungsdauer auch eine außergewöhnliche Länge.32 Die ungewöhnlich umfangreiche Unterstützung Weinelts begründen die Verlängerungsanträge immer wieder mit dem Fleiß und der fachlichen Qualifikation des Stipendiaten. Regelmäßig wurde aber auch auf die besondere politische Biographie Weinelts hingewiesen. Für die Erhöhung seines Stipendiums machte Ernst Schwarz im Februar 1939 unter anderem folgende Gründe geltend: Er [Weinelt] ist auch nicht nur wegen seiner starken Arbeitskraft, sondern auch wegen seines Leidensweges in der Tsche-Slowakei [sic] wert, dass ihm die materiellen Sorgen abgenommen werden. Er ist am 15.9.1933 wegen nationalsozialistischer Betätigung verhaftet worden, war mehrere Monate in der Untersuchungshaft, in der er seine Dissertation beendet hat, wurde zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, wurde zwar später amnestiert, aber eine Staatsstellung blieb ihm verwehrt. Außerdem war er in den Volkssportprozeß verwickelt und ein Jahr steckbrieflich verfolgt. Die Aufnahme als Assistent in die Wörterbuchkanzlei, die damals für den Leiter nicht ungefährlich war, sicherte ihm als Stipendiat ein bescheidenes Dasein.33
30 Antrag vom 6.6.1935 (BA-Koblenz R73/15573). 31 Schreiben der DFG an die Devisenstelle, Berlin, vom 27.9.1935 (BA-Koblenz R73/15573). 32 In der Regel konnten Stipendien der DFG bis zu einer Laufzeit von zwei Jahren verlängert werden. Nur in begründeten Ausnahmefällen wurde darüber hinaus gefördert. Zur normalen Höhe der Stipendien vgl. die Durchschnittswerte bei Mertens (2004: 215). 33 Antrag von Schwarz vom 18.2.1939 (BA-Koblenz R73/15573).
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Dass Weinelt „nach dem Schutzgesetz“ verurteilt worden war und demnach „keine Möglichkeit mehr hat, in den tschechoslowakischen Staatsdienst aufgenommen zu werden“,34 hatte schon der Erstantrag von Frings und Gierach 1935 angeführt. Auch die Verlängerungsanträge der Folgejahre versäumten nicht darauf hinzuweisen, dass Weinelt bekennender und aktiver Nationalsozialist war.35 Lange bevor Prag in den unmittelbaren Zugriff des Reiches gelangte, bot das sudetendeutsche Wörterbuch also wissentlich und willentlich einem nationalsozialistischen ‚Volkstumskämpfer‘ institutionellen Unterschlupf, obwohl dies aus der Sicht der Wörterbuchleitung durchaus mit Risiko verbunden war. Für die Österreichisch-Deutsche Wissenschaftshilfe war die Alimentation auslandsdeutscher Wissenschaftler, die wegen ihrer politischen Aktivitäten in ihren Heimatstaaten mit Berufsverboten belegt worden waren, spätestens seit 1936 Programm. Der damalige Leiter der Wissenschaftshilfe, Richard Suchenwirth, bezeichnete es gegenüber der DFG als eine „besondere Aufgabe“ seiner Institution, „den nationalen und nationalsozialistischen Forschern Österreichs Wirkungsmöglichkeiten, ja in besonderen Fällen auch Lebensunterhalt zu gewähren, wo sich bedrängte Lagen ergeben.“36 Aber Weinelt wurde nicht nur von der DFG in seiner bedrängten Lebenslage geholfen. Seine Berufung auf den Lehrstuhl für Volkskunde in Königsberg nahm er 1940 zum Anlass, der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste in Prag „aufrichtigen Dank zu sagen für die vielfältige und weitgehende Förderung meiner bisherigen Arbeiten“: Die Deutsche Gesellschaft der Wissenschaften und Künste hat 3 meiner Bücher in Druck gebracht, sie hat auch die Obsorge über mein letztes Buch übernommen. Die Gesellschaft hat mir durch Stipendien die Durchführung wichtiger Forschungen in der Slowakei ermöglicht, und in der ihr unterstehenden Wörterbuchkanzlei hatte ich durch 5 Jahre die Möglichkeit, wichtige wissenschaftliche Arbeiten und vor allem meine Habilitationsarbeit durchzuführen.37 34 Antrag Frings und Gierach vom 6.6.1935 (BA-Koblenz R73/15573). 35 Handschriftliche Randnotizen auf den Anträgen von Schwarz belegen, dass Schwarz auch in mündlichen Besprechungen mit den Mitarbeitern der DFG wiederholt herausstrich, dass Weinelt Nationalsozialist sei, vgl. z. B. Antrag vom 7.12.1936 und Antrag vom 26.2.1937 (BA-Koblenz R73/15573). 36 ������������������������������������������������������������������������������������ Schreiben Suchenwirths an den DFG-Präsidenten Mentzel vom 21.11.1936, zit. nach Mertens (2004: 294). An anderer Stelle weitet die Wissenschaftshilfe den Kreis der Adressaten ausdrücklich auf alle „jungen, auslanddeutschen, vor allem österreichischen, nationalsozialistischen Wissenschaftler“ aus, zit. nach Mertens (2004: 294). 37 Schreiben Weinelts an den Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste vom 16.2.1940 (AAV������������������������������������������������������������������ Č����������������������������������������������������������������� R/NA/Weinelt). Zu Mitgliederstamm und Fördertätigkeit dieser zentralen Institution sudetendeutscher Wissenschaftsförderung in der Tschechoslowakei vgl. Neu-
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Neben der Wörterbucharbeit ist aber mindestens eine weitere Unternehmung Weinelts nicht aus Prager deutschen, sondern direkt aus reichsdeutschen Quellen subventioniert worden. Es geht hier um Weinelts Habilitationsschrift zur deutschen Kanzleisprache in der Slowakei, die nach eigenem Bekunden „den grössten Teil der Slowakei im Mittelalter als deutsche Sprachlandschaft erweist.“38 Die Subven tion dieser Arbeit, die für ihren Autor zu den „aus volkspolitischen Gründen vordringlichen Vorarbeiten für eine Gesamtdarstellung des deutschen Volksbodens und der deutschen Aufbauarbeit in der Slowakei“39 zählte, konnte freilich nicht ohne taktische Vorsichtsmaßnahmen erfolgen. Für das Jahr 1937 waren der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaft und Künste in Prag aus dem „Kulturfonds des Auswärtigen Amtes“ in Berlin 1700 RM bewilligt worden. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft und Rektor der Prager Deutschen Universität, Otto Grosser, hatte sich daraufhin an die Deutsche Botschaft in Prag gewandt und erklärt, „er könne die Beträge für die Gesellschaft nicht unauffällig verbuchen und scheue sich daher, sie entgegenzunehmen.“40 Grosser hatte nämlich „Bedenken, diese Beihilfe von einer deutschen amtlichen Stelle entgegenzunehmen“, und schlug daher vor, dass zur Verschleierung der Finanzierungsquelle „die Deutsche Forschungsgemeinschaft als Geldgeber bezeichnet wird.“41 Grosser schlug also folgendes Verfahren vor:
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müller (1995) und Míšková (1995). „Der wichtigste Geldgeber“ der Gesellschaft war in der Zeit der Tschechoslowakischen Republik nach Míšková die Prager Regierung (a. a. O.: 72). Schreiben der Mittelstelle deutscher Bauernhof an die DFG vom 6.2.1939, in dem eine lange Passage aus einem Projektantrag Weinelts wörtlich zitiert wird (BA-Koblenz R73/15573). In der von der DFG geförderten populärwissenschaftlichen Zeitschrift Forschungen und Fortschritte, die eine Art Leistungsschau der deutschen Wissenschaft bieten wollte, fasst Weinelt die Ergebnisse seiner Habilitationsschrift kurz zusammen: „Nicht nur, daß alle Städte in der Slowakei deutsche Gründungen sind, daß in allen einst deutsches Leben pulste, es gab auch weite, rein bäuerliche deutsche Gebiete und solche, die der deutsche Bergmann zur Kulturlandschaft umformte. Die Slowakei war im Mittelalter in weit größerem Umfang, als bisher bekannt wurde, deutscher Volksboden und damit deutsche Sprachlandschaft.“ (Weinelt 1939: 156) Förderantrag Weinelts an die Deutsche Gesellschaft in Prag vom 29.5.1939 (AAVČR/NA/ Weinelt). Schreiben der Deutschen Gesandtschaft an das Auswärtige Amt in Berlin vom 14.2.1938 (BA-Koblenz R73/13699). Schreiben des Auswärtigen Amtes an die DFG vom 24.2.1938 (BA-Koblenz R73/13699). Auch gegenüber Albert Brackmann von der Publikationsstelle Dahlem am Preußischen Staatsarchiv, der die Vergabe von Stipendien für Prager deutsche Nachwuchswissenschaftler angeboten hatte, machte Grosser 1935 die Gefahr deutlich, dass den Stipendiaten von den tschechischen Behörden unter Umständen „die weitere akademische Laufbahn
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Die Forschungsgemeinschaft der Deutschen Wissenschaften in Berlin möge ihm schriftlich mitteilen, daß sie für die Herausgabe wissenschaftlicher Arbeiten der Deutschen Gesellschaft in Prag bestimmte Beträge zur Verfügung stelle. Die Annahme von Geldern, die von der Forschungsgemeinschaft stammen, und daher rein wissenschaftlichen Hintergrund hätten, seien [sic] unbedenklich. Für eine solche Unterstützung auf einem Umweg über die Forschungsgemeinschaft könne er z.Zt. die bei Prof. Ernst Schwarz ausgearbeitete Habilitationsschrift von Herbert Weinelt ‚Die deutsche Kanzleisprache in der Slowakei im Mittelalter‘ empfehlen.42
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellte sich auf Veranlassung des Auswärtigen Amtes tatsächlich für diese Transaktion zur Verfügung und stellte nach dem gewohnten formalen Muster ein Bewilligungsschreiben über 1700 RM für Weinelts Habilitationsschrift aus. Diese Bewilligung ist unter zwei verschiedenen Aktensignaturen in Durchschlägen überliefert und wird in beiden Fällen durch den handschriftlichen Randvermerk „gilt nicht als Bewilligung“ als Fälschung gekennzeichnet, um Verwirrungen in der Buchführung zu vermeiden.43 Um die Täuschung perfekt zu machen, wurden der Bewilligung pro forma auch wie üblich die Förderbedingungen der DFG im Vordruck beigefügt. Ein vertrauliches Schreiben an das Auswärtige Amt musste dann eigens darüber aufklären, „dass die dem Bewilligungsschreiben beigelegten Bedingungen die Deutsche Gesellschaft der Wissenschaften und Künste in Prag natürlich nicht belangen.“44 Die Deutsche Forschungsgemeinschaft stellte ihren Verwaltungsapparat hier also buchstäblich für wissenschaftspolitische Geldwäsche zur Verfügung. Sie setzte dabei ihren Ruf einer „rein wissenschaftlichen“ Institution noch ein, als sie selbst schon längst vom Grundsatz der zweckfreien Forschung abgerückt war und die Wissenschaftsförderung vorzugsweise an politische Interessen gebunden hatte. Dass es bei den Zwecken der Kulturraum- und Volksbodenforschung am Ende der dreißiger Jahre nicht mehr lediglich um Politik-Legitimierung und nationalistische Mobilisierung ging, mag ein weiteres Beispiel der DFG-Förunmöglich“ gemacht werden könnte: „Eine Verbindung mit Deutschland wird aber hier leider von vornherein politisch gewertet, auch bei vollständig einwandfreiem Verhalten unserer Staatsbürger, und eine von einem preußischen oder Reichsministerium verliehene Stelle oder ein Stipendium könnte vielleicht obigen Erfolg haben“ (Grosser an Brackmann vom 2.6.1935, BA-Berlin-Lichterfelde R153/1320). 42 Schreiben der Deutschen Gesandtschaft an das Auswärtige Amt Berlin vom 14.2.1938 (BA-Koblenz R73/13699). 43 Bewilligungsschreiben vom 9.3.1938 (BA-Koblenz R73/15573 und BA-Koblenz R73/13699). 44 Schreiben an Legationsrat Roth vom Auswärtigen Amt vom 9.3.1938 (BA-Koblenz R73/13699).
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derung von Forschungsarbeiten in den Staatsgrenzen der Tschechoslowakei veranschaulichen. In diesem Fall war der Stipendiat, der Absolvent der Berliner Hochschule für Politik Kurt Witt, zwar Reichsdeutscher, seine „Arbeit über die sudetendeutsche Volksgrenze“ machte aber umfassende Recherchen vor Ort notwendig. Witt wollte mit diesen Untersuchungen „eine karthographische Grundlage und einen erläuternden Kommentar für die deutsche Volksgrenzenforschung und Volksbodenpolitik [...] schaffen.“ Ausgangspunkt des Projekts war Witts Befund, dass deutsches Kartenmaterial zu den Siedlungsverhältnissen „veraltet oder ungenau“ sei, während entsprechende tschechische Karten „die tatsächliche Lage mehr verschleiern als aufhellen“ und deshalb eigentlich als „Instrumente der Staatspropaganda“ gewertet werden müssten: Wir haben kein Kartenwerk, das der politisch-wissenschaftlichen Arbeit heute den deutschen Volksboden zu einem klar umrissenen Begriff werden läßt! Das ist überraschend, aber wahr! Weder über Bestand und Bewegung des deutschen Volksbodens an sich, noch über sein Verhältnis zur Landschaft, zu den Verkehrsachsen oder der allgemeinen Sozialstruktur besitzen wir die Darstellungen, die wir heute brauchen.45
Witt wies in einem Folgebrief die DFG eigens darauf hin, dass auch das Reichskriegsministerium „sich an meinen Arbeiten sehr interessiert zeigt“.46 Aus dem Reichskriegsministerium ging in der Tat wenig später eine befürwortende Stellungnahme zu seinem Projekt ein.47 Bei diesem potentiellen Interessentenkreis verwundert es nicht, wenn Witt und sein Betreuer Karl von Loesch es von Anfang an für nötig erachteten, die wahren Zwecke der Studienreise vor den tschechischen Behörden geheim zu halten. Loesch kündigte gleich bei seiner Antragstellung für Witt an, dass dieser mit einer „Reihe erheblicher Schwierigkeiten und technischer Hindernisse“ zu rechnen haben werde. „Die tschechischen Landesbehörden [seien] äusserst nervös“ und würden „mit Vorliebe ausländische Wissenschaftler verhaften und einsperren.“ Auch sei relevantes Kartenmaterial in der Tschechoslowakei nicht mehr frei im Handel verfügbar, sondern müsse „auf allerhand Schleichwegen“48 besorgt werden. In der Vorbereitung seiner Reise durch die 45 „Arbeitsplan“ Witts, datiert auf „Anfang März 1936“ (BA-Koblenz R73/15760). 46 Schreiben Witts vom 15.4.1936 (BA-Koblenz R73/15760). 47 Schreiben von „Major (E) Voss, Reichskriegsministerium“, an Eduard Wildhagen vom 7.5.1936 (BA-Koblenz R73/15760). 48 Antrag K.C. von Loeschs vom 13.2.1936 (BA-Koblenz R73/15760). Von Loesch verdeutlich die mutmaßliche Gefahr für Witt am Beispiel eines Dr. Klocke, der „ein halbes Jahr in Untersuchungshaft saß, ohne daß ihm der Prozeß gemacht worden wäre.“ In einer anderen Quelle wird bestätigt, dass aus Deutschland finanzierte Stipendiaten bei ihrer Arbeit in der Tschechoslowakischen Republik tatsächlich mit polizeilichem Widerstand rechnen mussten. Zu einem
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Tschechoslowakische Republik legte Witt also großen Wert darauf, den wahren Zweck seiner Untersuchung zu verschleiern: Ich selbst habe meine Reise in Anlehnung an die Tschechoslowakische Gesandtschaft und das Prager Außenamt vorbereitet, allerdings so, dass der Auftrag nicht in Erscheinung tritt und das Ganze als private Informationsreise zum Zweck des Studiums der sudetendeutschen Selbstverwaltungskörperschaften angesehen wird. Ich bitte das bei evtl. Rückfragen amtl. tschech. Stellen zu beachten.49
Die Täuschung gelang und Witt bekam vom Prager Außenamt sogar „Sicherheit für meine Person und weitgehendste Unterstützung“ zugesagt und blieb folglich bei seiner neunwöchigen Reise bis „auf ein paar kleine Kontrollschikanen“50 ganz unbehelligt. Auf seiner Rundreise durch das böhmische und mährische Sprachkontaktgebiet und zu deutschen Sprachinseln in der Slowakei sammelte Witt in Archiven, Bibliotheken und Vereinen sowie in Gesprächen mit Vertretern sudetendeutscher Ortsverbände breit gestreute Informationen zur sprachlichen, soziologischen, ökonomischen und demographischen Lage des örtlichen „Deutschtums“. Die gesammelten „Aufzeichnungen, Karten und Bücher wurden nach vorheriger Rücksprache mit der deutschen Gesandtschaft über den amtlichen Kurierdienst“ sicherheitshalber jeweils portionsweise von den „diplomatischen Vertretungen in Prag, Reichenberg, Brünn und Kaschau“ gleich nach Berlin geschickt. Über seine Gespräche „mit Persönlichkeiten und Institutionen der tschechoslowakischen Öffentlichkeit“, die man ihm gutgläubig gewährt hatte, versprach Witt „den zuständigen deutschen Stellen in einem besonderen Exposé“51 zu berichten. In Kooperation mit außenpolitischen Stellen des Deutschen Reiches beteiligte sich die DFG hier aktiv an einer Mission im Ausland, die von der Tschechoslowakischen Regierung mit großer Sicherheit als feindliche Spionagetätigkeit gewertet worden wäre. mit Mitteln der DFG von der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten Stipendiaten namens Stingl heißt es 1938: „Der Bearbeiter führte volkspolitisch äußerst wertvolle Untersuchungen über die Ausbreitung der Tschechen im Saazer Land durch. (Er war dabei wegen Spionageverdacht 20 Wochen in Untersuchungshaft!)“ („Auszug aus dem Haushaltsplan Tschechoslowakei“, Bl. 2, Nr. 38 T 34, nach einem Begleitschreiben zu datieren auf den 25.7.1938, BA-Koblenz R73/15396). 49 Schreiben Witts an die DFG vom 22.9.1936 (BA-Koblenz R73/15760). 50 Fünfseitiger „Bericht über den Verlauf meiner Studienreise in die Tschechoslowakische Republik (10. Oktober – 6. Dezember 1936)“, datiert „Anfang Januar 1937“ (BA-Koblenz R73/15760). 51 „Bericht über meine Studienreise ...“ von Anfang Januar 1937 (BA-Koblenz R73/15760). Den ursprünglichen Plan, auf dieser Reise auch die mögliche Durchführung einer späteren Fragebogenerhebung zu sondieren, hat Witt offenbar nicht weiter verfolgt.
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Nach der Rückkehr machte sich Witt sofort daran, auf der Basis seiner Materialien, die „vorgesehenen Nationalitätengrundkarten“ und den ergänzenden „Volksgrenzenkommentar“ auszuarbeiten. Die DFG finanzierte ihn dafür mit einem mehrfach verlängerten und auch erhöhten Stipendium. Zur Unterstützung durch einen technischen Zeichner, den v. Loeschs „Institut für Grenz- und Auslandsstudien“ zur Verfügung stellen wollte, scheint es allerdings nicht gekommen zu sein. Im Oktober 1937 verkündete Witt den vorläufigen Abschluss der Arbeiten: Das vorgesehene Kartenwerk ist fertiggestellt. Die karthographische [sic] Festlegung der Volksgrenze ist erfolgt. [...] Die Karten wurden auch bereits den maßgebenden Herren der Operations- bezw. kartographischen Abteilung des Generalstabs vorgeführt, so Herrn Generalmajor v. Mannstein [sic], Herrn Oberstltn. Hemmerich, Herrn Oberstlt. Schmöckel und Herrn Reg. Rat Dr. Fiewke. Die Arbeiten fanden lebhaftes Interesse. Die genannten Stellen übernehmen die Drucklegung.52
Im Januar 1938 war Witts Kartenwerk „zur Hälfte bereits im Druck“: Die Gesamtauflage bleibt vertraulich, wird also nicht in den Handel gegeben. Für Zwecke der Forschung wird es möglich sein etwa 50 vollständige Exemplare (wahrscheinlich unentgeltlich) der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen.53
Die vereinbarte Publikation der Forschungsergebnisse für einen strikt begrenzten, nicht öffentlichen Adressatenkreis zeigt deutlich, dass der wissenschaftliche Charakter des Unternehmens inzwischen weitgehend in den Hintergrund getreten war. Auch Witt, der sich nach Abschluss der Arbeiten dringend um eine Fortsetzung seiner forscherischen Karriere bemühte und deshalb die wissenschaftliche Bedeutung seiner Ergebnisse herausstrich, war sich über den „engeren Zweck“ seines Projektes zweifellos im Klaren: Meine gegenwärtigen Untersuchungen der sudetendeutschen Volksgrenze sollen über den engeren Zweck der am stärksten interessierten Instanz hinaus, der Wissenschaft die festen Grundlagen für systematisch weiterführende Untersuchungen des gesamten Sudetenraumes geschaffen haben.54 52 ������������������������������������������������������������������������������������� „Bericht über den Stand der Arbeiten am Forschungsauftrag: Die sudetendeutsche Volksgrenze“ vom 23.10.1937 (BA-Koblenz R73/15760). 53 Schreiben Witts an Dr. Horst, DFG, vom 11.1.1938 (BA-Koblenz R73/15760). 54 Vgl. vorangehende Fußnote. Witt, der im März 1938 den „Schlußbericht“ über sein Projekt vorlegte, wurde schließlich bis September 1938 mit immerhin 250 RM im Monat weitergefördert. Auch wenn von verschiedenen, u. a. ministeriellen Stellen bestätigt worden war, dass „angesichts der jüngst [sic] politischen Ereignisse“ seine Arbeit „besonders wichtig“ sei, war es bis zum ‚Anschluss‘ Österreichs noch nicht gelungen, ihm eine Stelle zu verschaffen und die DFG sicherte ihm weiterhin mit Stipendien einen Lebensunterhalt. Vgl. internes Schreiben des Sachbearbeiters Horst an den DFG-Präsidenten vom 30.4.1938 und die Bewilligung vom 30.4.1938 (BA-Koblenz R73/15760).
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Die „am stärksten interessierte [...] Instanz“ stattete der DFG denn auch ihren förmlichen Dank für die finanzierte Zweckforschung ab. Von Oberst Hemmerich, Abteilungschef im Generalstab des Heeres, ist folgender Dankesbrief vom 15.4.1938 überliefert: Nach Einsichtnahme in die druckfertigen Bogen erlaube ich mir, der Deutschen Forschungsgemeinschaft dafür zu danken, daß sie die Durchführung der Untersuchungen über die Sudetendeutsche Volksgrenze durch Herrn Kurt Witt möglich gemacht hat. Derartige Arbeiten sind für das Heer von großem Wert und es wäre zu begrüßen, wenn solche Studien auch weiterhin gefördert werden könnten.55
Es scheint nach den wiederholten Interessebekundungen des Generalstabs und seiner Übernahme der Drucklegung der Karten nicht unwahrscheinlich, dass das Kartenwerk Witts seinen politischen „Wert“ schon wenige Monate später bei den Verhandlungen um das Münchener Abkommen demonstriert haben könnte. Der Lehrer Witts, Karl von Loesch, stellte 1939 mit Genugtuung fest, dass „die Grenze zwischen den deutschen Sudetenlanden und dem tschechischen Teil Innerböhmens und Innermährens nach völkischen Grundsätzen gezogen wurde, so daß sogar die vorgesehene Volksabstimmung auf Anregung der beiderseitigen Regierungen entfallen konnte.“ (Loesch 1939: 47) Auch wenn aus den überlieferten DFG-Akten nicht ersichtlich ist, ob Witts Karten tatsächlich eine Rolle bei der Grenzziehung im September 1938 gespielt haben, so ist doch offenkundig, dass diese Karten gerade für eine solche Grenzziehung Argumente und Kriterien bereit stellen sollten. Es ist davon auszugehen, dass sich auch die außerakademischen deutschen Institutionen der Deutschtumspflege bei der Unterstützung der sudetendeutschen Volkstumsforschung engagiert haben. Die hier gezeigten Einzelfälle von DFGFörderung sind also nur kleine Spitzen eines mächtigen Eisbergs auswärtiger Wissenschaftspolitik, der gegen die Tschechoslowakische Republik in Bewegung gesetzt wurde. Dass diese Spitzen schon am Anfang der dreißiger Jahre bis in die Fundamente der akademischen Wissenschaft Deutschlands hinabreichten, zeigt, wie rückhaltlos das deutsche Wissenschaftssystem seine „soziale Distanz“ (Weingart 2005: 29) bereits aufgegeben hatte, um der politischen Strömung zusätzlich Masse zu verleihen und in dieser selbst an Gewicht zu gewinnen. Spätestens seit den dreißiger Jahren förderte also auch die DFG vorzugsweise solche Forschungsarbeiten, die politischen Nutzen versprachen. Dieser Nutzen konnte in der Beschaffung von Expertisen für außenpolitische Ansprüche bestehen. Die Forschungen zum Grenz- und Auslandsdeutschtum boten darüber hinaus auch ganz praktisch verwertbare Anhaltspunkte für den 55 Schreiben Hemmerichs vom 15.4.1938 (BA-Koblenz R73/15760).
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angestrebten Neuzuschnitt der politischen Grenzen. Im Falle der Tschechoslowakischen Republik hat die auswärtige deutsche Wissenschaftsförderung mit diesen beiden Zielsetzungen der ethnischen und politischen Desintegration des Nachbarstaates zugearbeitet.
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„Der Waffenmeister neben den Kämpfenden“. Zur politischen sudetendeutschen Volkskunde Im Juni 1937 erscheint im ‚Grenzlandheft‘1 des 12. Jahrgangs der Mitteldeutschen Blätter für Volkskunde als programmatischer Hauptartikel Volkheit im Volkstum von Emil Lehmann. Dort ist für diese beiden Begriffe folgende Differenzierung zu lesen: Ist nun die Volkskunde zuständig, um über die Feststellung des Volkstums hinaus auch zu sagen, was deutsche Volkheit sei? Worin denn die Deutscheit bestehe? An welchen Merkmalen sie zu fassen sei? Oder soll sie sich vor solchen Fragen drücken und ihre mannigfaltigen Einzelforschungen vorschützen? Soll sie sich auf den Standpunkt stellen, erst müsse noch dies und das geklärt werden, ehe man an solche Gesamtfragen herangehen könne? Demgegenüber ist zu sagen, daß die Volkskunde natürlich niemals fertig sein wird. Aber ihr Urteil über unser Volk wird immer und überall ohne Verzug benötigt. [...] So kann sich die Volkskunde nicht zurückziehen und sagen: Stört mir meine Zirkel nicht! Sie kann es zu dem flutenden Leben draußen nicht sagen, das um seinen Bestand und um seine Lebensgestaltung ringt. Sie muß überall draußen mit dabei sein. Sie darf sich der Volksnot und dem Volkskampf nicht versagen. Und wenn sie schon nicht mitkämpft, so muß sie doch wie der Waffenmeister neben den Kämpfenden stehen. Es gibt freilich auch eine Volkskunde im Biedermeierstil. Und wer hätte sich nicht ihrer beschaulichen Art erfreut, wenn sie an Feiertagen den Volksgenossen bei der Hand nimmt und aufs Land hinausführt [...] Aber es gibt auch eine kämpferische, eine heroische Volkskunde. (Lehmann 1937, Herv. i. O.)
Das Votum ist klar: Die Erforschung des Volkstums muss dem Aufbau der Volkheit dienen, d. h. der Klärung dessen, was denn als ‚deutsch‘ Geltung beanspruchen dürfe und was nicht; tut die Volkskunde dies nicht, dann verliert sie sich in einem biedermeierlich-zurückgezogenen Wissenschaftstreiben. Zwei Aspekte sind, auf dem Hintergrund des ‚Grenzlandhefts‘ bezogen auf Sachsen - Böhmen 1937, zu beachten: Es wird zum einen eine klare politische Positionierung jenseits der wissenschaftlichen Kleinarbeit eingefordert, und 1 Bezeichnung ‚Grenzlandheft‘ siehe auf dem Widmungsblatt für Wilhelm Wostry zur Feier des 60. Geburtstages; in: Mitteldeutsche Blätter für Volkskunde 12 (1937: 65) und bei Gerhard Heilfurth (1937: 103): „Eben, da das Grenzlandheft abgeschlossen werden soll, dringt die Trauerbotschaft vom Kamm des Erzgebirges herunter, daß Anton Günther heimgegangen ist“.
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zwar von Reichsdeutschland aus für den tschechoslowakischen Kontext; zum anderen werden die Grundlagen volkskundlichen Arbeitens auf den Prüfstand gestellt, was einen Rückblick auf die Anfänge der Disziplin impliziert: Die Motivierung zu volkskundlicher Forschung insgesamt ist angesprochen, wobei diese durch die Situation der Sudetendeutschen in besonderer Weise akzentuiert wird. Die Kennzeichnung rein wissenschaftlicher Volkskunde als „biedermeierlich-beschaulich“ evoziert für die kämpferisch-heroische das Bild einer „vormärzlich-revolutionären“. Vormärzlich-revolutionär meint hier weniger die demokratische Bewegung als vielmehr die zentripetalen Be strebungen der Vereinigung der deutschen Gebiete im großdeutschen Sinn – nicht umsonst spricht Lehmann von den „schwarzrotgoldenen Bändchen, [...] den alten Farben des Auslanddeutschtums.“ (Lehmann 1926: 195) Für die sudetendeutschen Zeitgenossen schwingt noch etwas Anderes, Aktuelleres mit: die ‚Märzgefallenen‘, die beim Generalstreik der Deutschböhmen und Deutschmähren vom tschechoslowakischen Heer getöteten ‚friedlichen Kämpfer‘ des 4. März 1919, die ihr Leben – wie die Märzgefallenen von 1848 – im Kampf um die Zusammenführung der deutschen Gebiete lassen mussten. Mit dem 4. März – der blutigen Niederschlagung des Generalstreiks und Geldumstempelung der österreichischen zur tschechoslowakischen Krone – ist auch für die deutschen Bürger, die in überwältigender Mehrheit nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit streben, die Mitgliedschaft im tschechoslowakischen Staat unhintergehbare Wirklichkeit geworden.2 Diese Situation findet in den Begriffen ‚Volksnot‘ und ‚Volkskampf‘ plakativen Ausdruck, wobei dem Oppositionspaar „Biedermeierstil“/„großdeutsch-revolutionär“ ein aktueller Subtext unterlegt ist: Aktivismus/Negativismus,3 oder für die volkskundliche Arbeit ausgedrückt im Gegensatzpaar: Prag/Reichenberg. Die in Prag zwischen 1928 und 1938 erscheinende „Sudetendeutsche Zeitschrift für Volkskunde“ (durch die Nationalsozialisten nach der Besetzung der sog. ‚Rest-Tschechei‘ im März 1939 eingestellt) muss als aktivistisches Blatt gelten; Gustav Jungbauer partizipiert an Institutionen des tschechoslowakischen Staates und empfängt Zuwendungen von ihm; der zeitliche Zusammenfall des Ersterscheinens der Zeitschrift und der erstmaligen Regierungsbeteiligung deutscher Aktivisten um den Slawisten Franz 2 Siehe zu den Ereignissen und zum Hintergrund des 4. März 1919: Braun (1996). Siehe auch: Weger (2006). 3 Zum gesamten vorliegenden Aufsatz und zum Aktivismus/Negativismus siehe: Braun (2006: 86ff.). Ebenso: Braun (2005: VIII).
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Spina ist sicher kein Zufall. Jungbauer, eindeutig in nationales Denken eingebunden, hebt den rein wissenschaftlichen Charakter seiner Zeitschrift betont hervor und öffnet die Zeitschrift nicht für deutsch-nationale oder gar nationalsozialistische Propaganda. Für die Negativisten, die um Erich Gierach4 in Reichenberg ein Netzwerk von volkskundlich-volkbildnerischen Institutionen mit breitem Publikations- und Propaganda-Apparat (Kasper 2007, 2006) aufbauen, ist diese Zusammenarbeit Jungbauers mit staatlichen Organen und die dadurch erzwungene „Beschränkung“ auf eine rein-wissenschaftliche Arbeit am Volkstum fremdbestimmter Verzicht auf die politisch notwendige Herstellung von ‚Volkheit‘, oder: was für sie dasselbe ist, Verrat an der deutschen Sache. Es stehen sich also zwei deutsche Volkskunden in der Tschechoslowakei gegenüber: - Eine wissenschaftliche, die programmatisch Gegenwartsvolkskunde betreibt, wozu nicht zuletzt die Feststellung der im neuen Staat forciert vor sich gehenden Vermischung und Hybridisierung mit tschechischer Kultur und Sprache gehört, und deren Sprachrohr die „Sudetendeutsche Zeitschrift für Volkskunde“ darstellt (Schroubek 2008; Dehnert 1995). - Eine politische, die sich dem Kampf um ‚Volkstum‘ und ‚Volkheit‘ verschrieben hat und die ihr Zwischenziel in der Linderung der Volksnot – das meint: ‚unterdrückte Minderheit im fremdvolklich beherrschten Staat‘ – sieht, wobei das Hauptziel immer im Blick bleibt: Teil des Deutschen Reiches zu werden. Örtlich ist die erste in Prag verankert und (mehr oder weniger) Teil des deutschen Aktivismus, die zweite – Hort des Negativismus – hat in Reichenberg ihren Sitz und ist um die Reichenberger Deutsche Wissenschaftliche Gesellschaft und ihre Institute – z. B. das Sudetendeutsche Heimatkundliche Institut, die Deutsche Gesellschaft für Volksbildung in der Tschechoslowakei – gruppiert. Die heiße Phase dieses Gegensatzes in der Ausrichtung volkskundlicher Arbeit liegt zwischen 1928 und 1938/39, zwischen dem Eintritt in die tschechoslowakische Regierung durch den Slawisten und Vertreter des Bundes der deutschen Landwirte Franz Spina und der Errichtung des Sudetengaues in Folge des Münchner Abkommens 1938 sowie der Besetzung Restböhmens im März 1939. Diese kurze Zeitspanne eines Jahrzehnt erfährt in der Mitte einen doppelten Einschnitt: die Machtübernahme durch die Natio4 Siehe hierzu den Beitrag von Klaas-Hinrich Ehlers in diesem Band.
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nalsozialisten Ende Januar 1933 im Deutschen Reich und in der Tschechoslowakei die Gründung der Sudetendeutschen Heimatfront am 1. Oktober 1933. Henleins Gründung füllt das Vakuum, das die Selbstauflösung der DNSAP (Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei) hinterlassen hatte, die durch diesen Schritt dem drohenden Verbot wegen der Verstrickung in den Mord an Theodor Lessing im August 1933 in Marienbad zuvorgekommen war (Braun 1993). Durch den Anschluss der Sudetengebiete als ‚Reichsgau Sudetenland‘ an das Deutsche Reich 1938 und die Errichtung des ‚Protektorats Böhmen und Mähren‘ 1939 ändert sich auch die Lage der volkskundlichen Arbeit grundlegend; sie wird nach Vorgaben der nationalsozialistischen Politik neu organisiert. Die Sudetendeutsche Zeitschrift für Volkskunde wird ab dem Jahrgang 1939 durch die Deutsche Volksforschung in Böhmen und Mähren ersetzt; die Vielfalt der Reichenberger „Volkstumskampf-Institute“ wird am 8. Juli 1939 in die „Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung“ überführt – der Kampf ist gewonnen und die „Vorkämpfer und Organisatoren der sudetendeutschen Wissenschaft im Volkstumkampf“5 können geehrt – z. B. die Ackermann-Medaille 1940 für Erich Gierach, 1941 für Emil Lehmann – und mit guten Aufstiegschancen versehen neue Bühnen deutsch-völkischer Wirksamkeit betreten. Auch aus dem Lager der „aktivistisch-biedermeierlichen“ Volkskunde wechseln nun viele – es wäre im Einzelfall zu klären, ob begeistert freiwillig oder durch die Umstände gezwungen – in die politisierte nationalsozialistische Volkskunde,6 die nach 1939 triumphiert und eine stabile Achse zwischen Prag und Reichenberg installiert. In diesem Kontext soll der Artikel von Emil Lehmann aus dem „Grenzlandheft“ der Mitteldeutschen Blätter für Volkskunde 1937 genauer betrachtet werden. Lehmann, der in der Tschechoslowakei wegen völkischer Propaganda strafrechtlich verfolgt worden war, war 1935 nach Dresden ausgewichen, wo er eine Honorarprofessur für Volkskunde erhalten hatte. Was in Reichenberg nur schwer zu veröffentlichen gewesen wäre, lässt sich in Dresden beim Vortrag vor den Vereinen für Volkskunde und Völkerkunde am 12. Jänner 1937 und später bei der Veröffentlichung im „Grenzlandheft“ bestens aussprechen. So kann der Text Lehmanns als exemplarisch für die politische Volkskunde hinsichtlich der sudetendeutschen Gebiete gelesen werden. In dem radikalen Entwurf wiederholen sich sowohl die unversöhnlichsten Argumentationsli5 Aus der Broschüre: Eröffnungsfeier der Sudetendeutschen Anstalt für Landes- und Volksforschung des Reichsgaues Sudetenland, Reichenberg 1940 (zitiert nach: Míšková 2007: 145). 6 Siehe z. B. die Artikel zu Eduard Schneeweis, Josef Hanika und Eugen Rippl in: Glettler/ Míšková (2001: 191-204 [Schneeweis], 205-220 [Hanika], 323-349 [Rippl]).
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nien des Nationalitätenkampfs der Deutschen gegen die Tschechen wie sich auch in einer Art historischer Parallelentwicklung die Gründungsproblematik eines – zu wenig erforschten – Strangs der deutschen Volkskunde von neuem stellt: Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation (1806) und deren konsequente Umsetzung in Friedrich Ludwig Jahns Schrift Deutsches Volks thum (1810) mit ihrem Ziel der nationalen Vereinigung aus völkischem und volkstums- kundlichem Geist.
1. „Volk und Vaterland ... als Träger und Unterpfand der irdischen Ewigkeit“ (Fichte 1971: 388)
Für Lehmann sind Böhmen und Mähren ohne Zweifel deutsches Gebiet. Diese ‚Landnahme‘ ist historisch begründet. Ein halbes Jahrtausend lang war vor dem Eindringen der Tschechen das ganze Sudetengebiet unbestreitbar germanisches Land: vom ersten Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung bis in die zweite Hälfte des sechsten Jahrhunderts. [...] Noch wichtiger ist die Frage, ob die Germanen insgesamt und restlos aus Böhmen abgezogen seien. Man hat das früher allzu leichthin bejaht. Nun haben sich aber die Ansichten über die sogenannte Völkerwanderungszeit nicht unbeträchtlich geändert. Man weiß, daß ein Stamm selten in seiner Gesamtheit auswanderte. [...] So betrachtet hätten die Aufstellungen des Brünner Archivars Prof. Bertold Bretholz etwas für sich, wenn er zu dem Schluß gelangt, das Deutschtum in den Sudetenländern könne nicht lediglich auf die spätere Kolonisation zurückgeführt werden, es müsse vielmehr ein Grundstock von der Markomannenzeit an im Lande geblieben sein. [...] Wenn Bretholz keine stichhaltigen Quellenbeweise beibringen kann, so fehlen sie eben auch der Gegenseite. (Lehmann 1926: 7, 9f.)
Die Formel „einst germanisch, für immer deutsch“ (die Bretholz-Phantasien werden tschechischen Ansprüchen entgegengesetzt)7 lässt fragen, warum historische Tiefe für die Gegenwart von so überragender Bedeutung sein soll. 7 Bei Lehmann (1925: 45) heißt es noch: „Es fehlt dem Sudetendeutschen die geographische Wurzeltiefe, es fehlt ihm aber auch an geschichtlicher Tiefe. Die Markomannenzeit ist zu wenig mit der Folgezeit verknüpft, wenigstens nach unserer Erkenntnis und erst recht in unserem Gemeinbewußtsein. Sie ist nur wie ein Traum.“ Im Vergleich der Anführung der These von Bretholz und dieser Äußerung zeigt sich die Radikalsierung und Politisierung, die nach 1928/ 1933 stattgefunden hat. Diese Entwicklung ist auch bei Lehmann (1931, 1933) zu sehen.
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In der Volkskunde des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildet der Nexus Ursprung und aktuelle Vitalität des Alten eine zentrale Denkfigur. Dieser Zusammenhang wird als organische Einheit – ‚Volkstum‘ benannt – imaginiert: Eine Einheit, die von den in den Heimatboden versenkten Wurzeln bis zu den frischen Trieben an den neuesten Ästen reicht. Die Metapher der Wurzel und Verwurzelung hat weitreichende Folgen: Denn diese Wurzeln des Volkstums sind anthropomorph zu denken; das Volkstum realisiert sich in Menschen. So entsteht in der gegebenen Metaphorisierung ein Vexierbild: Die Menschen sind zum einen Teil des Stamms, Teil des aus ihren Wurzeln gewachsenen Stück Holzes mit speziellen Ästen und Früchten, wobei die biologische Bildlichkeit des Evolutionismus bedient wird, zum anderen sind es handelnde Personen, die aber – folgen sie ihrer ‚organischen‘ Bestimmung – die Existenz als Teil des Stammes nicht aufgeben dürfen. Ein seltsamer Kreislauf tut sich auf: Die Wurzeln im Boden und die Menschenfrüchte einer jeden Generation, deren pulsierendes Blut über den Stamm an die Wurzeln angeschlossen ist, bilden eine Einheit, deren Auflösung in diesem metaphorisch gebundenen Denken fatale Folgen zeitigt. Wissenschaftsgeschichtlich besitzt diese Wurzel-/Stammmetaphorik jedoch eher den sekundären Charakter einer nachträglichen Rationalisierung. Die organische Einheit von ursprünglicher Existenz und gegenwärtiger Lebendigkeit entstammt zunächst einer anderen Denkfigur, die – als unhaltbare linguistische These – untergehen musste, die aber auch ohne diesen motivierenden Kern enorme Wirkmächtigkeit entwickelte. Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nation, im von napoleonischen Truppen besetzten Berlin gehalten, stellen eigentlich einen Aufruf zu einer Neuauflage der Schlacht im Teutoburger Wald dar; nur ließ sich dies nicht offen sagen: Deutsche, erhebt euch gegen die Franzosen, so wie sich einst die Germanen gegen die Römer erhoben haben! Also muss der Aufruf verdeckt erfolgen: Fichte schiebt ihn in den Bereich des Linguistischen. Seine dichotomische Konstruktion Völker lebendiger und Völker toter Sprache zielt auf den Gegensatz deutsch/französisch ab. Somit ist unsere nächste Aufgabe, den unterscheidenden Grundzug des Deutschen vor den anderen Völkern germanischer Abkunft zu finden, gelöst. Die Verschiedenheit [...] besteht darin, daß der Deutsche eine bis zur ihrem ersten Ausströmen aus der Naturkraft lebendige Sprache redet, die übrigen germanischen Stämme eine nur auf der Oberfläche sich regende, in der Wurzel aber todte Sprache. [...] Zwischen Leben und Tod findet gar keine Vergleichung statt, und das erste hat vor dem letzten unendlichen Werth; darum sind alle unmittelbare Vergleichungen der deutschen und der neulateinischen Sprache durchaus nichtig. (Fichte 1971: 325)
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Dem gewagten linguistischen Trick – lebendige vs. tote = deutsche vs. französische Sprache – lässt der Trickster Fichte8 weitreichende Konsequenzen folgen: Da die Deutschen, das Volk lebendiger Sprache, nicht aufgehört haben, aus der eigentlichen Quelle ihres Sprechens zu schöpfen – teodisk, nicht lateinisch, sondern wie das Volk sprechend, als etymologische Basis für den Begriff deutsch – sind „alle diese [...] ursprüngliche Menschen, sie sind, wenn sie als Volk betrachtet werden, ein Urvolk, das Volk schlichtweg, Deutsche.“ (Fichte 1971: 374) Dieser unscheinbare, in seltsamem linguistischen Zusammenhang geäußerte Satz darf für sich beanspruchen, die Geburtsstunde des „Völkischen“ zu sein; nicht nur Volk unter Völkern, sondern Erhöhung, Hypostasierung des eigenen Volkes in „ein Urvolk, das Volk schlichtweg“, dem von da die Zuschreibung „völkisch“ als besondere Eigenschaft zugedacht werden kann. Diese „völkische Überhöhung“ bedarf der linguistisch motivierten und in sich sehr fragwürdigen Argumentation nicht; sie wird vom Bild des Pflanzlich-Organischen – das Volk: Wurzelwerk, Stamm, Verästelung und Blüte – nachhaltig überformt. Doch in dieser Metapher lauern Gefahren: Im Fall des „Wurzel-Abgrabens“ droht neben dem Verlust des Alt-Ursprünglichen ein „Verwelken der jetzigen Vitalität“ und durch fremdes Kraut oder modernes Unkraut ein Zurückdrängen und „Überwuchert-Werden“ des Eigenen. Volkskunde und Volksbildung, Volksgestaltung, Volkwerdung – die enge Zusammengehörigkeit dieser zwei war vielleicht früher als im Binnendeutschtum den Grenz- und Auslandsdeutschen bewußt geworden. Im gefährdeten Außendeutschtum hatte man gesehen, hatte man schmerzlich erlebt, wie unter dem Druck andrängender Fremdvölker die Entdeutschung, die Entvolklichung sich zumeist in der Weise vollzog, daß ein Stück des Volkstum nach dem anderen aufgegeben oder durch Fremdtum ersetzt wurde. Das konnte mit dem Volksbrauch anfangen oder mit dem Volkslied, es konnten Fremdwörter eindringen oder fremde Hausformen, es konnte die Tracht aufgegeben werden: die völkische Ausstattung des Sprachgrenzortes, der Sprachinsel wurde so immer ärmer, bis oft fast nichts mehr übrig blieb. Dann war auch dem Eindringen fremder Elemente das Tor geöffnet und man konnte ausrechnen, wie lange sich etwa ein solcher Volksteil noch halten könnte. (Lehmann 1937: 79, kursiv i. O.)
Die politische Volkskunde sieht vor allem die Gefahr des Überwuchert-Werdens durch „fremdes Kraut“, die wissenschaftliche betont neben den festzustellenden Fremdeinflüssen und den daraus resultierenden Mischformen besonders auch das Wuchern „modernen Unkrauts“: So etwa freut sich Gustav Jungbauer, dass durch die Gründung der Tschechoslowakischen Republik 8 Trickster hier im ethnologischen Sinn als Kulturheros, dem es gelingt, auf schelmischgeschickte Art kulturelle Umwertungen vorzunehmen und so nachhaltige Neuerungen durchzusetzen.
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eine „Ausschaltung“ des Wiener Lieds und Großstadtschlagers im sudetendeutschen Bereich stattgefunden habe (zit. nach Braun 2006: 83).
2. „Unsere Ahnen begeisterte ein volkstümlicher Hochsinn, uns entgeistert die Ausländerei“ (Jahn 1991: 226)
„Das Wort Volkstum dagegen, das der Turnvater Jahn zum Titel seiner Schrift von 1810 gewählt hat, hat sich sehr gut eingebürgert“ (Lehmann 1937: 73), stellt Emil Lehmann fest, der das Volkstum zwar als festes Schild der Volkheit, aber noch vielmehr in ständiger Bedrohungslage sieht. Das Volkstum kann verloren gehen, verdrängt und aufgegeben werden; es ist ständige Mahnung zur bewahrenden Handlung vor dem Fremden. Der Umgang mit Fremdem ist in den beiden Zweigen der sudetendeutschen Volkskunde unterschiedlich; in beiden jedoch ist das Fremde und das Modern-Wurzellose angstbesetzt: In der wissenschaftlichen Volkskunde wird der Kontakt mit dem Fremden und dessen Einfluss festgehalten und beschrieben; für die politische Volkskunde aber heißt dies: „Das Wort ‚Heran an den Feind!‘ hat auch in der Wissenschaft seinen Sinn.“ (Lehmann 1937: 77) Bei Fichte sind die Menschen lebendiger Sprache in „organischer Volksgemeinschaft“ zusammengebunden, die toter Sprachen müssen ihr Gemeinwesen als „gesellschaftliche Maschinen“ (Fichte 1971: 363) organisieren: Die im nationalen Denkstil äußerst wirksame Dichotomie Volksgemeinschaft vs. mechanisches Gesellschaftsmodell tut sich als Konsequenz auf. Wer als Mitglied des Volkes der lebendigen Sprache den eigenen Stamm Stamm sein lässt und als frei handelnde Person sich für eine andere Existenzformen als die des organischen Volkstums entscheidet, ist für Fichte, obwohl Deutscher, bereits Ausländer und Fremder: Was an Stillstand, Rückgang und Cirkeltanz glaubt, oder gar eine todte Natur an das Ruder der Weltregierung setzt, dieses, wo es auch geboren sei und welche Sprache es rede, ist undeutsch und fremd für uns, und es ist zu wünschen, daß es je eher je lieber sich gänzlich von uns abtrenne. (Fichte 1971: 375)
Die Modernisierung gibt einzelnen Personen die Entscheidungsmöglichkeit, daneben aber sind auch ganze Personengruppen betroffen, die ohne ihr Zu-
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tun in den Sog der Abtrennung vom Stamm als Volksgemeinschaft geraten sind, z. B. das Proletariat; diese gelten diesem Denkstil als entwurzelt. Diese Personen oder Gruppen von Menschen müssen, da nicht mehr von ihrem Boden und von ihren Wurzeln genährt, vertrocknen, sie suchen über windige Luftwurzeln (z. B. französisch geprägte Aufklärung oder sozialistisches Gedankengut) fremde, und das heißt verderbliche Anbindung. Es gibt auch auf dem Lande Leute, die von alledem nichts mehr halten. Es gibt Lebensformen, die völlig entwurzelt sind und nichts haben, auch hinsichtlich des volkskundlichen Erbes. Wie tief dies in proletarischen Lebensformen herunterging, kann man in der Lebensbeschreibung [...] des Arbeiterbildners Wenzel Holek nachlesen. [...] Eine andere Schicht stellen die Leute dar, die sich gern als etwas Neues fühlen und darstellen und ihre Überlieferungslosigkeit einstweilen noch betonen, um die technische und schulmäßige Grundlage ihres Standes hervorleuchten zu lassen. Es sind die Monteure, Chauffeure, Installateure usw. mit ihren bezeichnenden Fremdwortnamen. [...] Mit bewußter Verneinung glauben heute noch einzelne Vertreter der Arbeiterschaft allem volkstümlichen Gut entgegentreten zu müssen. Auch hier wird die Neuheit, die Überlieferungsarmut, die Losgelöstheit absichtlich betont und hervorgekehrt. [...] Man befürchtet ein Nachlassen der politischen Stoßkraft, wenn sich die neue Arbeiterschaft, wie es letzten Endes unvermeidlich ist, allmählich doch ins Ganze des Volkslebens einfügt, das ja selbst nur eine Einfügung in das Leben der umgebenden Natur bedeutet. (Lehmann 1926: 193f.) Es ist ein langersehnter Schöpfungsbeginn, wenn ein Volk, nach dem Verlauf schrecklicher Jahre, sich selbst, der Zeitgenossenschaft und der Nachwelt laut und frei und ohne Rückhalt offenbaren darf, in welche volkentwürdigende Dienstbarkeit es durch Ausländerei geraten war. Ein Volk, das mit Lust und Liebe die Ewigkeit seines Volkstums auffaßt - - - kann zu allen Zeiten sein Wiedergeburtsfest und seinen Auferstehungstag feiern. (Jahn 1991: 225)
Die Folgen der „Ausländerei“ können beseitigt werden. Dies trifft aber nur für Gruppen zu, die nicht als „Ausländer“, als „Fremde“ vordefiniert sind. Deshalb sei ein kleiner Exkurs gestattet: Das deutsche Judentum bildet in diesem Denkstil eine besondere Gruppe; eigentlich aus anderen Wurzeln – Orientalen! – stammend, sind sie irgendwie aufgepfropft, ‚falsch aufgepfropft‘ und dadurch zu einer nicht zu lösenden ‚parasitären Existenz an einem falschen Stamm‘ verurteilt, selbst wenn sie über Jahrhunderte ‚aus diesem Stamm heraus‘ gelebt haben sollten. Überspitzt könnte man sagen: Seit Fichte und Jahn gibt es in der ihnen nachfolgenden Denklinie für die deutschen Juden keinen ‚organischen‘, sondern nur ‚parasitären‘ Zugang zum deutschen Volkstum. Der gesamte moderne Antisemitismus ist von diesem Denken unterströmt; selbst im neuen Begriff Antisemitismus verbirgt sich der Verweis auf die Sprachfamilie des Noahsohns Sem, wie sich überhaupt für das frührassistische Denken die nachsinflutliche Neuordnung der Menschheit als sprachgebundene darstellt
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– Semiten, Hamiten, Japhetiten9 – und sich erst später an körperlichen Merkmalen festmacht. Es ist die Wirksamkeit des Fichte’schen Herkunftsparadigmas, die letztlich die Durchschlagkaft, Brutalität und Vernichtungswut des modernen Antisemitismus in Deutschland so nachhaltig begründet hat. Lapidar, ohne weitere Begründungsstruktur, heißt es in der festschriftlichen Würdigung für Erich Gierach, den Nestor der Reichenberger volkskundlichen Bestrebungen und Prager Professors für Altgermanistik, zu seinem 60. Geburtstag am 23. November 1941: In den Professorenschaften der einzelnen Fakultäten standen sich gemeinhin völkisches und liberal=jüdisches Lager schroff gegenüber. [...] Diese geistig=politische Aufspaltung wirkte sich nachhaltig auf den sudetendeutschen Selbstbehauptungskampf aus. Während das liberal=jüdische Lager an den Hochschulen immer wieder Wege zu den Tschechen suchte und damit aus der geschlossenen deutschen Abwehrfront ausbrach, traten die volksbewußten Professoren für strengste Besonderung gegenüber Juden, Tschechen und allen internationalen Bestrebungen ein. [...] Im Bunde mit Gleichgesinnten kämpfte er [Erich Gierach, Anm. KB] nun, solange er in Prag wirkte, um die Erreichung des einen Ziels: Eindämmung der Verjudung an der Gesamtuniversität und besonders an der philosophischen Fakultät. (Pfitzner 1941: 14)10
3. „Die Volkskunde hat das erste Wort“ (Lehmann 1925: 37)
Für die mit dem Volkstum – „uralt und lebendig zugleich“ – betraute Wissenschaft, die Volkskunde, ergibt sich aus ihrem Kernbegriff ein dreifacher Auftrag: Sammeln, Bewahren des Gesammelten, Aktualisieren des Zweckdienlichen innerhalb des bewahrenswerten Sammlungsbestandes. Doch der Auftrag entwickelt sich in einer nicht hintergehbaren Ambivalenz: Verlustangst und Heilversprechung sind eng miteinander verknüpft; das Bedrohungsszenario 9 Siehe zur kulturwissenschaftlichen Problematik der Noah-Söhne: Weinberger (2000). Die Streitfrage, wer denn von europäischen Völkern legitimerweise als Nachfahren Japhets gelten dürfen, führt direkt in den Kaukasus und das Konstruktionsgestrüpp des Ariertums. 10 Zum spezifischen sudetendeutschen Antisemitismus siehe zum Beispiel: Osterloh (2006: 35-136). Illustrierend auch der knappe, aber unterschwellig zynische Artikel Juden in: Hemmerle (41992: 221).
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lebt aus der ihr klar eingeschriebenen „Rettungsallegorie“.11 So ist die Gegenwart immer nur gefährdete Brücke zwischen großer Vergangenheit und möglicher großer Zukunft; die gegenwärtige Gefährdung ist jedoch in dem Moment gebannt, in dem die Aufgabe der Volkskunde richtig erkannt und umgesetzt wird: Das ist aber nicht mehr wissenschaftliches Arbeiten, sondern politischer Wille, der sich selbst als revolutionär sieht, jedoch immer in konservativer bzw. reaktionärer Absicht. Die Epoche der Befreiungskriege war eine solche Zeit; durch „den neuen Schwung, den die Volkserhebung herbeigeführt hat“ (Lehmann 1937: 83) – Nationalsozialisten im Deutschen Reich – ist auch für die Sudetendeutschen eine solche Zeit gekommen. In gewisser Weise ähnelt die Lage der Sudetendeutschen derjenigen der Deutschen in der napoleonischen Zeit. Fichte und Jahn schicken ihre Schriften in ein zerrissenes Deutschland, dem ein Bewusstsein der Deutschheit fehlt: Aus ihrer Sicht gilt das volkstümlich Eigene nichts, es ist zum einen durch die Faszination, die von der französischen Revolution ausgeht, überformt und zum anderen von den Prozessen der Landflucht und Verstädterung im Zuge der beginnenden Industrialisierung bedroht; die Klammer des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation ist von Napoleon zwangsaufgelöst, Preußen ist von Napoleon besetzt, und der wird von Bayern und anderen deutschen Herrschern unterstützt; insgesamt befördert die Zersplitterung der Herrschaft in der Vielzahl der deutschen Staaten ein Ausleben partieller Interessen, die zentrifugalen Kräfte überwiegen die zentripetalen. In dieser Situation erklang Fichtes Aufruf zu einer neuen Schlacht im Teutoburger Wald an die Deutschen, wobei er durch seinen linguistischen Trick eine uralte, zwar noch lebendige, aber gegenwärtig durch Ausländerei recht handlungsunfähige Deutschheit aus germanischen Wurzeln erwachsen ließ; Jahn – in seinem Selbstverständnis als Volkserzieher – wiederum zog aus den theoretischen Prämissen, die Fichte gesetzt hatte, die praktischen Konsequenzen, indem er zum einen eine systematisch durchdachte, alltagsbezogene Praxis entwarf, für die er – nach eigenem Gusto – eine Art Kanon des Deutschen, ein buntes Arsenal an „echt- & altdeutschen“ Dingen, Handlungen und Tugenden, teils auffand, teils erfand und die sich mit dem Begriff „Volkstumskunde“ zu schmücken wusste, zum anderen trug er mit seiner Turnerei – ab 1811 auf der Hasenheide – zur paramilitärischen Ertüchtigung der damals romantisch gestimmten, die Fahne der Deutschheit aufgreifenden Jugend, z. B. in den Freicorps der Befreiungskriege, bei. 11 Zum Begriff der „Rettungsallegorie“ siehe Clifford (1993: 220ff.).
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Man muss dem vor den Nationalsozialisten aus Prag geflohenen Ernest Gellner Recht geben, wenn er feststellt: Es ist der Nationalismus, der die Nationen hervorbringt, und nicht umgekehrt. Zugegebenermaßen nutzt der Nationalismus die bereits bestehende, historisch ererbte Bandbreite von Kulturen und kulturellem Reichtum, obwohl er sie selektiv einsetzt und sie meistens radikal umwandelt. Tote Sprachen können wiederbelebt, Traditionen erfunden, recht fiktive Urzustände restauriert werden. (Gellner 1995: 87)
Sowohl Fichte wie Jahn haben entscheidend und nachhaltig aus ihrem nationalen Standpunkt heraus zur Konstruktion dessen, was wenig später als deutsche Nation und als deutsches Volkstum von den nachwachsenden Generationen zu lernen sein wird, beigetragen. Aus der Sichtung des Volkstums baut sich die ‚Volkheit‘ oder, modern ausgedrückt, Naturalisierung/Essentialisierung von geleisteter „invention of tradition“ war das Kerngeschäft volkskundlicher Tätigkeit, die das ganze 19. Jahrhundert hindurch janusköpfig gestaltet war, zum einen – als nicht zu stoppende Unterströmung – auf ursprüngliche Reinheit dringende Begeisterung in breiter volkskundlicher Laienarbeit, zum anderen ein zähes Ringen um wissenschaftlich-objektiven Anspruch mit methodischer Reflexion.12 Trotz ihrer Rückwärtsgewandtheit war die Volkskunde als eine im 19. Jahrhundert sich entwickelnde Disziplin insofern von Anfang an ein modernes Fach, als sie per „Auftrag“ innerhalb der Ausdifferenzierung des diskursiven Feldes „Deutsches Volk“ dessen „urtümliche Eigenart“ und deren „Überlebenschance“ ausloten und, wenn möglich, bewahren sollte. Denn das Herkunftsparadigma – Behauptung einer reinen und heilen Gemeinschaft von alters her – diente als „Kompensationsmaschine“ für die Verlusterfahrung im Prozess von Verstädterung, Industrialisierung und Technisierung, wobei ein Nebenaspekt zu beachten ist: Die naheliegende Hypothese, dass Versatzstücke des aufzuspürenden und zu bewahrenden Ursprünglichen und Uralten sich am besten in den unbeweglichsten Teilen des Gesellschaft auffinden lassen würden – also in ländlich-agrarischen Gruppen –, führte zu einem nicht intendiertem, aber für die Ausgestaltung des Faches bis heute sehr folgenreichen Nebeneffekt: Die Volkskunde bekam die unteren, vom Fortschritt ausgeschlossenen und so kaum an der Hochkultur partizipierenden Schichten des Volkes in den Blick (Siehe hierzu Maase/Warneken 2003). Zwar verhinderte das Herkunftsparadigma eine Würdigung des realen Alltagslebens dieser Menschen, da der forschende Blick sich nicht auf das Gegebene richtete, sondern am „Hergekommenen“ in eine dunkle, aber dennoch als heil imagi12 Siehe: Warneken (1999); über das erneute Erstarken des völkischen Paradigmas ders. (2006).
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nierte Vergangenheit hinabglitt. Ein Vergleich zum Beispiel der Beschreibung der bäuerlichen Lebensweise und Not im Spessart durch Rudolf Virchow und der Beschreibung des „Lands der armen Leute“ durch Wilhelm Heinrich Riehl mag dies eindringlich illustrieren (Riehl 1894; Virchow 1968: 1-56). Warum gerade die sudetendeutschen Volkskunde – im Gegensatz zu anderen Auslands- und Grenzvolkskunden, zum Beispiel die Siebenbürger oder die des Zipser Landes – die politische Wendung ins Völkische und Aggressiv-Polizistische genommen hat, hängt mit der Gründung der Tschechoslowakischen Republik und der Stellung der Deutschen im neuen Staat zusammen. Eigentlich kann es eine „sudetendeutsche“ Volkskunde gar nicht geben, denn die merkbare Abhängigkeit der böhmischen Volkskunde von den strikten Vorgaben der stammesmäßigen Gliederung des deutschen Volkes, wie sie von August Sauer und vor allem seinem Schüler Josef Nadler betrieben worden war, hätte die gemeinsame volkskundliche Betrachtung der verschiedenen Gruppen von Deutschen – südbayerisch-östereichisch, nordbayerisch-fränkisch, sächsisch, schlesisch – in der Tschechoslowakischen Republik verhindern müssen. Die mindestens dreieinhalb Millionen starken Sudetendeutschen stellen keine volkskundliche Einheit dar. Daher ist der Begriff „Sudetendeutsche Volkskunde“ mit den Bezeichnungen niedersächsische, bayrische, hessische Volkskunde, sofern die Behandlung eines geschlossenen deutschen Stammes gemeint ist, nicht auf eine Stufe zu stellen. Das Sudetendeutschtum [...] ist keine volkskundliche, sondern eine politische Einheit. Es ist ein Begriff der politischen Erdkunde, abhängig von der gegenwärtigen Gestaltung der staatlichen Grenzen. Ja, diese politische Einheit ist sogar, nach dem Ausweis der politischen Kundgebungen, gegen den ausdrücklichen Willen des Sudetendeutschtums selbst geschaffen worden, das als Einheit, wenn es nach seinem Willen gegangen wäre, gar nicht mehr bestünde. Denn auch der Anschluß von Deutschböhmen und Sudetenland13 an Deutschösterreich wurde nur zu dem Zwecke erstrebt, um die einzelnen Teile des Sudetendeutschtums mit den deutschen Stämmen jenseits der Grenze, zu denen sie volkskundlich gehören, politisch zu verbinden. Das Sudetendeutschtum ist sonach eine politische Zwangszusammenfassung von Randzweigen mehrerer deutscher Stämme. (Lehmann 1926: 2f.)
Die sudetendeutsche Volkskunde steht somit vor der Quadratur des Kreises: Kein einheitlicher Stamm, der sich sinnvoll volkskundlich erfassen ließe, und dennoch die Notwendigkeit, die volkskundliche Erforschung der Sudetendeutschen als einheitliches deutsches Element gegen die tschechisch-slowakische Mehrheit voranzutreiben. Die deutschen Volkskundler in der Tschechoslowakischen Republik sehen sich also in einer ähnlichen Lage wie diejenigen, die sich für Fichte und Jahn14 angesichts der deutschen Zersplitterung stellte: Ein Volks13 Hier in der alten Bedeutung als Bezeichnung von Nordmähren und Schlesien verwendet. 14 Es mag hier auch das Turnen als „öffentlicher Kampfplatz“ national geprägter Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Tschechen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
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tum als Unterpfand des Urspünglich-Eigenen im politischen Kampf gegen die Bedrohungen der Ausländerei und des Fremden herzustellen. In der Schaffung eines Sudetendeutschtums wiederholt sich die Schaffung des Deutschtums in der napoleonischen Zeit. Das ist die Aufgabe, und es nimmt nicht Wunder, dass der Reichenberger Kreis um Gierach und Lehmann sich mehr auf diese beiden Vordenker einer Deutschheit bezieht als zum Beispiel auf Riehl und dadurch auch geneigter ist, wissenschaftliche Standards eher leichthin aufzugeben: mit Wissenschaftlichkeit kaschierter Volkstumskampf statt Wissenschaft.
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Es ergab sich eine Betrachtungsweise, wie ich sie schon 1925 in meinem Buche ‚Der Sudetendeutsche‘ niedergelegt habe. Ich habe dort das Sudetendeutschtum nach den folgenden fünf Punkten dargestellt: 1. das Erbe, worunter insbesondere das Erbe an äußeren Volksgütern verstanden war; 2. die Anlage, wobei auf das innewohnende Volkswesen, und damit auch auf die Deutschheit geblickt wurde; 3. die Aufgabe, vor die der Volkszweig nun gestellt ist. Und nun die entscheidende Wendung von der Forschung zur Gestaltung: 4. die Einstellung, das heißt: Welche Neueinstellung des gesamten Volkszweiges ist erforderlich, wenn er sich in den neuen Zwangsverhältnissen in seinem Dasein und in seiner Deutschheit behaupten soll? Und: 5. Welche Ausrüstung ist für diesen völkischen Kampf erforderlich? Um das mit einem anderen Wort zu bezeichnen: der Gedanke der Stammeserziehung sprang hier heraus [...] (Lehmann 1937: 81, die Spiegelstriche wurden der Übersichtlichkeit halber neu eingefügt)
Lehmann versteht sich als Volkserzieher und Volksbildner. Übersetzt man den herausspringenden Gedanken der Stammeserziehung in den politischen Alltag der Sudetengebiete 1937, dann ist man – unter der Vorgabe der Ausländerei – nicht mehr weit vom Terror der Henleinbewegung bereits vor dem Münchner Abkommen, gerade auch gegen andersdenkende Deutsche, wie er zum Beispiel von Milena Jesenská in der Zeitschrift Přítomnost beschrieben worden war (Jesenská 1984). Interessant ist, dass Lehmann für den Aufsatz von 1937 den Kapitelaufbau seines Werks von 1925 als Grundlage benützt; dies geschieht nicht uneigennützig: Denn er erreicht damit, sein Buch von 1925 nachträglich zu „nationalsozialisieren“ und sich so in eine Kontinuität zu stellen, der er 1937 anhängt. Ist 1925 eine nationale Grundhaltung, die noch „volkskundlichem Einzelkram“ verpflichtet ist,15 nicht zu übersehen, so wird 1937 – Lehmann ist als politisch derts ein Rolle gespielt haben. Es ist sicher kein Zufall, dass Konrad Henlein in der deutschen Turnbewegung seine politische Prägung erfahren hat und selbst Turnlehrer war. 15 Zum Beispiel findet sich im „Schrifttums-Weiser“ (Lehmann 1925: 123-134) noch keine Schrift Erich Gierachs, nicht einmal der weitverbreitete Katechismus für das deutsche Volk in Böhmen (1919), von der 4.-6. Auflage Katechismus für die Sudetendeutschen (1920-1923), ab der 7. Aufl. Sudetendeutscher Katechismus (1938).
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Verfolgter in Dresden – ein offenes Bekenntnis zum Nationalsozialismus abgelegt, wobei auch Wissenschaftlichkeit nicht mehr kaschiert werden muss: Die große umfassende Nationalerziehung, die durch die nationalsozialistische Bewegung eingeleitet wurde, beruht letzten Endes auf dem tiefen Einblick des Führers selbst, der aus dem ‚Volke‘ kam, in die deutsche Volksart. [...] Und wenn sonst die Wissenschaft geneigt ist, das Bestehende als gegeben hinzunehmen und in ihm eben ihr Forschungsobjekt zu sehen, so darf die Volkskunde sich der Verantwortlichkeit für das Sollen nicht entschlagen. Bliebe ihr Blick ausschließlich auf das augenblickliche Erscheinungsbild des Volkes gebannt, so würden ihre Darlegungen einer Erneuerung geradezu entgegen sein. [...] Es muß einmal klar herausgesagt werden, daß volkskundliche Tiefblicke, die eine verantwortliche Führerpersönlichkeit leiten, auch wenn sie nicht auf dem Wege wissenschaftlicher Kleinarbeit gewonnen wurden und vielleicht von sehr wenigen Einzelerkenntnissen begleitet sind, dennoch viel bedeutsamer sind auch für das Ziel der Volkskunde selbst, als ein ganzes Archiv an volkskundlichem Einzelkram. (Lehmann 1937: 81, Herv. i. O.)
Hier ist Wissenschaft im Namen politischer Volkserziehung aufgegeben; der grundsätzliche Unterschied zu einer wissenschaftlichen Volkskunde, wie sie Gustav Jungbauer in Prag zu etablieren versuchte, liegt offen auf der Hand. Die wissenschaftliche Volkskunde wird sogar – vielleicht als eine späte Selbstmahnung? – zur Ordnung gerufen: zu „einer klaren gefolgschaftsmäßigen Zuordnung, wie sie im wissenschaftlichen Volkskundler auch erst durch die neue nationale Bewegung geweckt werden konnte.“ (Lehmann 1937: 84)
4. „Generalreparatur unseres Volkswesens“
Der Schritt von solcher Volkserziehung zum nationalistisch motivierten Verbrechen ist nicht sehr weit: Die Volkskunde wird zum Schiedsrichter über „Ausmerze“ und „Auslese“ bestimmt. Mit allem Ernst wird die Volkskunde den Fragen nachgehen, wie das germanische Grundgefüge unseres Volkstumsaufbaus sich durch die Jahrhunderte gehalten hat, sie wird mithelfen müssen, die zahlreichen Fremdbestandteile, die nachher eingedrungen sind, eben als Fremdkörper zu kennzeichnen, sie wird am großen Reinigungsprozess, an dieser Generalreparatur unseres Volkswesens, mitarbeiten, der jetzt in Gang gebracht worden ist. Sie wird die Äußerungen des Volkslebens auch daraufhin anzusehen haben, welche von ihnen unserer Volkerhaltung und Entfaltung förderlich sind und welche nicht, und auch sie wird nicht jedes Stückchen Brauchtum oder Volkssage als heilig und unverletzlich erklären, vielleicht
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nur deshalb, weil sie für irgendwelche wissenschaftliche Aufschlüsse in Betracht kommen – kurz, die Volkskunde wird sich, ohne die allgemeine Wissenschaftseinstellung aufzugeben, bewusst und entschieden in den Dienst des Volkwerdens stellen – wie es ja eigentlich ihrem Altmeister Riehl schon durchaus selbstverständlich war. (Lehmann 1937: 83)
Nach den Erfahrungen des Genozids am europäischen Judentum und an anderen, als fremd oder durch Ausländerei „verdorbenen“ Gruppen von Menschen, lassen sich diese Sätze nur schwerlich als unschuldige Äußerungen lesen. Aber Lehmann hat recht. Schon bei Riehl wird die polizistische Implikation der Wissenschaft Volkskunde benannt. Auf Grund der wissenschaftlichen Volkskunde lässt sich ein ganzes System der Staatswissenschaft organisch entwickeln und mit mancherlei neuem Inhalt füllen. Denn da der Staat entsteht, indem ein Volk sich selber als organische Gesamtpersönlichkeit faßt, [...] – so kann man den Ausgangspunkt für die Erkenntnis des Staates gewiß ebensogut von der Idee des Volkes wie von der Idee des Rechtes nehmen. [...] Denn wenn die Culturpolizei lediglich durch die praktischen Bedürfnisse des Volkes bedingt ist, so wird sie sich auch gliedern können und müssen nach den ethnographischen Gesetzen, auf welche diese Bedürfnisse zurückzuführen sind. Darum halte ich es in der That für einen höchst bedeutsamen Beruf der Volkskunde, Systematik in die Anarchie der Polizeiwissenschaft zu bringen, und nicht minder Logik in die polizeiliche Praxis. Der höchste Triumph der inneren Verwaltungskunst würde dann darin bestehen, jeden polizeilichen Akt so sicher der Natur des Volkes anzupassen, daß es auch bei den lästigsten Dingen glaubte, die Polizei habe doch eigentlich nur ihm aus der Seele heraus verfügt und gehandelt. (Riehl 1935: 20, Herv. i. O.)
Riehls Begriff von Polizei steht an der Trennlinie des aufgeklärten Begriffs ‚Polizey‘ (wie er zum Beispiel in medizinischen Polizey auftritt und auf eine überwachende Verwaltung abzielt) und dem modernen der Polizei als innerstaatlicher Exekutive. Da für Riehl die Jurisdiktion sich organisch aus der Volkspersönlichkeit ergibt, sind Volks- und Rechtssetzung austauschbar, zumal der unüberschaubare Organismus auch noch des ursprünglich reinsten und somit völkischsten Menschengewimmels einer ordnenden Hand – zum Beispiel derjenigen der Volkskunde als Wissenschaft – bedarf. Wissenschaft ist die Erkenntniß, die organisch sich aufbauende Summe der Kenntnisse von einem Gegenstand. Nur wer ein Ding bis zum Grunde und aus seinem Grunde kennt, der erkennt es. Erkenntniß ist also ein Begreifen der Dinge nach ihrem Wesen und Gesetz, nach ihrer innern Nothwendigkeit. Die bloße Kenntnis der Thatsachen des Volkslebens gibt niemals eine Wissenschaft vom Volke; es muß die Erkenntniß der Gesetze des Volkslebens hinzukommen und zu einem Organismus geordnet werden. (Riehl 1935: 17)
„Zu einem Organismus geordnet“: Es kommt hier viel tautologische Rhetorik zum Einsatz, um das „Spiegelkabinett“ staatlich-organischer Selbstsetzung aus der Erfindung eines Volkes und seiner Gesetzmäßigkeiten zu rechtfertigen.
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Wen diese willkürliche Ordnung – Essentialisierung von Vor-Gefundenem und Hinzu-Erfundenem – meint, aussondern zu müssen, der fällt schon unter die Logik volksangeschmiegter polizeilicher Praxis. So müssten alle organisch ausgerichteten Metaphorisierungen von menschlichen Gruppen und ihrem Zusammenleben – nach der Erfahrung des deutschen Nationalsozialismus – suspekt und einem kurzem Verfallsdatum anheim gegeben sein. Dennoch boomen – zuweilen verpackt in eine etwas andere Rhetorik – Begriffe und Handlungsweisen wie Volkwerdung, Generalreparatur des Volkswesens, Abtrennung und Aussonderung von nicht zum Eigenen Ge hörendem, Erkennen von Fremdheit in bisher Vertrautem oder für einen selbst bislang Belanglosem. Bei den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, bei der Trennung der Tschechoslowakei, beim Auseinandergerissenwerden Jugoslawiens nach 1989 oder bei den zentrifugalen Kräfte im demokratischen Spanien sieht man Denkfiguren am Werk, die eng an die nationale Erfindung und Aufrüstung des 19. Jahrhundert angelehnt sind. Insofern ist der sudetendeutsche Wunsch einer Volkwerdung mittels einer Generalreparatur des Volkswesens samt gründlich durchgeführter Festlegung und Aussonderung des Fremden von heutiger Wirklichkeit nicht ganz so weit entfernt, wie es in einem ersten Moment scheinen mag.
5. „Cultural Warrior“/„Waffenmeister neben den Kämpfenden“
Die politische sudetendeutsche Volkskunde ist für die heutige ethnologische Forschung insofern paradigmatischer Natur, als eine Beschäftigung mit ihr und die von ihr heroisch imaginierte Wiederholung des Gründungsaktes der deutschen Volkskunde insgesamt auf Teile der eigenen Wissenschaftsgeschichte verweisen, die – trotz aller Untersuchung der nationalsozialistischen Verstrickung des Faches – eher randständig geblieben sind: Zwar hätte man Fichte und Jahn auch aus Riehl heraustönen hören können, aber der pseudolinguistisch-volkstümliche Gründungsakt von Deutschheit – „Volkheit im Volkstum“ – ist zu wenig untersucht worden. Die Fachgeschichte ins 18. Jahrhundert zurück zu verlängern, ist ehrenwert, aber der eigentliche Gründungsakt des Faches – Reden an die deutsche Nation und Deutsches Volkstum – sollte
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dabei nicht außer Acht gelassen werden. Denn die Schwierigkeit, die eigene Fachgeschichte kritisch aufzuheben, setzt voraus, dass man diese Geschichte überhaupt zur Kenntnis genommen hat.16 Die sudetendeutsche Volkskunde ist untergegangen, und das ist gut so.17 Doch was Emil Lehmann der reichsdeutschen Volkskunde 1943 stolz ins Stammbuch schrieb: „In der Schule des Volkstumskampfes hat das Sudetendeutschtum auch kulturell seine letzte Prägung erlangt“ (Lehmann 1943: 381), könnte dazu beitragen, einige der verschütteten, aber aggressivsten Wurzeln der Fachgeschichte freizulegen. Dies ist besonders für eine Europäische Ethnologie notwendig, denn der Volkstumskampf ist keineswegs untergegangen. Die von Anastasia Karakasidou gemachte Erfahrung „with a cultural warrior of the Greek Macedonian cause” (zit. n. Schell 1996: 278) befindet sich nicht weit von Emil Lehmanns Problematik der „Volkskunde als Waffenmeister neben den Kämpfenden“.
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Die Prager Buchausstellung im Clam-Gallas-Palais vom November 1939 als Beispiel der NS-Literaturpolitik im Protektorat Böhmen und Mähren Im Laufe der letzten Jahre hat sich die Veranstaltung von Dichterlesungen und Schriftstellervorträgen in jeder Weise als ein Mittel bewährt, das deutsche Volk mit seinen Dichtern und Schriftstellern in enge Verbindung zu bringen ... (Henning 1939: 1)
Was Otto Henning in seinem Geleitwort zur Vorschlagsliste für Dichterlesungen 1939/40 schrieb, belegt in knapper Form die Bedeutung, welche die NS-Kulturpolitik der Literatur und ihrer Vermittlung beimaß. Herausgegeben vom Werbe- und Beratungsamt für das deutsche Schrifttum stellten die Vorschlagslisten lediglich ein kleines Rädchen im Getriebe der „Volksaufklärung und Propaganda“ dar. Auf vielfältige Weise wurde Literatur gefördert, von Empfehlungslisten unterschiedlichster Art1 über groß aufgemachte Literaturgeschichten,2 über Dichtertreffen3 und Preisverleihungen4 bis hin zu Buchausstellungen, Rundfunkvorträgen und Lesereisen. Das war das Zuckerbrot der Literaturpolitik. Die Peitsche war nicht minder nachdrücklich zu spüren: Von der öffentlichen Bücherverbrennung (Faust 1983; Barbian 1993: 54-60) über die Einführung der Reichsschrifttumskammer als „Instrument der Berufszulassung“ (Barbian 1993: 217; 81-89), über die Listen des „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ (Aigner 1971), über die Säuberung der Bibliotheken und die Gleichschaltung des Buchhandels bis hin zur Verfolgung und Ermordung einzelner Schriftsteller reichten die Maßnahmen der Unterdrü1 Vgl. neben der erwähnten Vorschlagsliste (1939) u. a. Die hundert Bücher (1934); Buch (1940). 2 Vgl. u. a. Bartels (1936); Langenbucher (1937); Koch (1941); Fechter (1941); Nadler (1941); Mulot (1944). Und als Sekundärliteratur Hohmeyer (2002). 3 Zum Beispiel die Weimarer Dichtertreffen, die in den Jahren 1938, 1940, 41 und 42 stattfanden, oder die Erste großdeutsche Dichterfahrt, die im Juni 1939 durch den Sudetengau und das Protektorat bis nach Wien führte. 4 Wie gezielt Preise als Mittel der Literaturpolitik eingesetzt wurden, zeigt zum Beispiel die besondere Berücksichtigung sudetendeutscher Autoren vor und nach dem Münchner Abkommen (Becher 2000: 73f.).
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ckung. Wer das Regime nicht unterstützte, wurde schnell als Gegner eingestuft. Hauchdünn war der Zwischenraum, in dem sich jene bewegten, die sich nicht zu bekennen, aber auch nicht den Weg in den Widerstand oder ins Exil zu wählen vermochten. Unter den Stichworten der „Inneren Emigration und der verdeckten Schreibweise“5 wurde das dünne Eis erforscht, auf dem sie sich bewegten. Im Böhmischen waren es Autoren wie Josef Mühlberger und Franz Hauptmann, die zu dieser Gruppe zählten, hin- und hergerissen zwischen Ängsten und Hoffnungen, Distanzierungen und Zugeständnissen.6
1. Die deutschsprachige Literatur Böhmens und Mährens unter dem Hakenkreuz
Die böhmische und mährische Literatur stand nicht von Anfang an im „Schatten des Hakenkreuzes“ (MacDonald/Kaplan 1995), nicht 12 Jahre lang, sondern ziemlich genau die Hälfte dieser Zeit. Sie wurde in zwei Schüben erfasst und angeschlossen, im Oktober 1938 und im März 1939. Für sie ist somit eine Phasenverschiebung charakteristisch, wodurch den ebenso spannend wie dramatisch verlaufenden Jahren von 1933 bis 1938 eine besondere Bedeutung zukommt. Geprägt wurde die Literatur dieser Jahre nicht nur durch den alten deutsch-tschechischen Gegensatz, sondern auch durch die Spannungen zwischen der Metropole Prag und den ländlichen Regionen und Kleinstädten, schließlich durch das Wirken vieler Emigranten, die hier eine vorübergehende und äußerst fragile Heimat fanden (Becher 1990; Becher/Heumos 1992). Als im Juni 1938 in Prag der Internationale PEN-Club tagte, war die Literatur des Landes längst polarisiert. Kein Appell vermochte mehr etwas zu bewirken, auch nicht Karel Čapeks eindringliche „Epistel an die Sudetendeutschen“, die vom Prager Tagblatt unmittelbar vor dem Münchner Abkommen veröffentlicht wurde (Čapek 1938). Die Kreise hatten sich längst geschlossen, und der 5 Grimm/Hermand (1972); Hohendahl/Schwarz (1973); Rotermund (1980); Ehrke-Rotermund (1999); Riegel/Rinsum (2000). 6 Zu Mühlberger vgl. die Habilitation von Berger (1989) sowie Lange-Greve (2003). Über Franz Hauptmann liegt noch keine einschlägige Untersuchung vor. Die Dokumente im Bundesarchiv Berlin lassen eine entsprechende Charakterisierung vorläufig zu.
Die Prager Buchausstellung im Clam-Gallas-Palais vom November 1939
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betont völkische Kreis der deutschsprachigen Autoren wurde von der NSKulturpolitik nahezu vollständig adaptiert. Die bereits erwähnte Vorschlagsliste von 1939 enthält eine „Allgemeine Dichterliste“ und nachgeordnete Listen, u. a. für den „alemanisch-schwäbischen“, den „brandenburgisch-schlesischen“ und den „sächsischen Kulturraum“. Von den Autoren, die man den Sudetendeutschen zurechnete, wurden Bruno Brehm, Robert Hohlbaum, Erwin Guido Kolbenheyer, Walter von Molo, Wilhelm Pleyer, Gottfried Rothacker und Hans Watzlik auf Anhieb in die Allgemeine Liste aufgenommen (Vorschlagsliste 1939/40: 7-26).7 In der „Liste der ostmärkischen, sudetendeutschen, memeldeutschen und Danziger Dichter“ findet man weiterhin die Namen von Friedrich Bodenreuth, Gertrud Fussenegger, Rudolf Haas, Ernst Leibl, Karl Franz Leppa, Robert Lindenbaum, Emil Merker, Franz Nabl, Franz Spunda, Karl Hans Strobl und Rudolf Witzany (Vorschlagsliste 1939/40: 27-37). Fast allen diesen Autoren und einigen weiteren begegnet man immer wieder in den Zeitungen des Sudetengaus und des Protektorats. Wie stark die deutschsprachige Literatur Böhmens und Mährens zugleich reduziert wurde, wird deutlich, wenn man die Namen jener Autoren daneben hält, die noch 1938 in Prag präsent waren, danach aber den Weg ins Verstummen, ins Exil oder sogar in ein Konzentrationslager und den Tod antreten mussten. Die Namen von Max Brod, Hermann Grab, Camill Hoffmann, Josef Mühlberger, Johannes Urzidil und Franz Werfel mögen stellvertretend für den Kreis dieser Autoren stehen.
2. Die NS-Kulturpolitik im Protektorat und im Sudetengau
Die Kulturpolitik des Reichsgaus Sudetenland wurde ähnlich wie in anderen Gauen organisiert, wobei die kurz zuvor praktizierte Einführung der NS-Strukturen in Österreich ein willkommenes Muster abgab (Baur/Gradwohl-Schlacher/Fuchs 1998). Neben der Behörde des Reichsstatthalters, an deren Spitze Gauleiter Konrad Henlein stand, wurde ein eigenes „Reichspropagandaamt“ Sudetenland geschaffen, dem als „Gaupropagandaleiter“ der 7 Zu Watzlik vgl. neuerdings Koschmal/Maidl (2006).
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Schriftsteller Franz Höller8 vorstand. In Personalunion hatte Höller auch das der Reichskulturkammer zugeordnete Amt des „Landeskulturwalters“ inne (Sudetenbuch 1940: 93). Etwas anders sah die Lage im Protektorat Böhmen und Mähren aus, das für die tschechischen Bürger eine halbautonome eigene Regierung unter Staatspräsident Emil Hácha und Ministerpräsident Alois Eliáš einrichtete. Vorgeordnet war dieser tschechischen Regierung die Behörde des Reichsprotektors, der dieses Amt als „Vertreter des Führers“ und „Beauftragter der Reichsregierung“ ausübte.9 Erster Reichsprotektor wurde der ehemalige deutsche Außenminister Konstantin von Neurath. Er trat sein Amt am 5. April 1939 an. Unter ihm agierte als Staatssekretär der ehemalige Buchhändler und sudetendeutsche Politiker Karl Hermann Frank. Diesem wiederum unterstand als oberster Beamter der Behörde Unterstaatssekretär Kurt von Burgsdorff. Die Behörde selbst war in vier Abteilungen unterteilt. Die Abteilung IV, die sich mit der Kulturpolitik befasste (Fauth 2004: 14ff.), wurde von Karl Freiherr von Gregory geleitet (Brandes 1969: 30f.). Soviel – und etwas schematisch – zu dem verwaltungsmäßigen Unterbau der Kulturpolitik. Auch inhaltlich passte sich diese Politik den Vorgaben aus Berlin an, die Mechanismen der Zensur und der Überwachung missliebiger Autoren funktionierten in Prag und Reichenberg ähnlich wie in anderen Städten des Reiches, ebenso die Maßnahmen der Förderung, ob es sich um Zeitungsbesprechungen, Preisverleihungen oder Buchausstellungen handelte. Im Folgenden möchte ich den Aspekt der Buchausstellungen aufgreifen und dabei die Ausstellung Das billige deutsche Buch eingehender darstellen, die vom 19. bis 24. November 1939 im Prager Clam-Gallas-Palais zu sehen war. An dieser Ausstellung läßt sich beispielhaft zeigen, wie Literaturpolitik im Protektorat umgesetzt wurde. Die Wahl fällt nicht zuletzt deshalb auf diese Ausstellung, weil sie zu einer Zeit stattfand, als die Protektoratsbehörden erstmals öffentlich auf politische Spannungen reagierten und in Prag sogar das Standrecht verhängt wurde (Brandes 1969: 83-95).
8 Franz Höller, 1909 in Graslitz geboren, zählte zur jüngsten Generation sudetendeutscher Schriftsteller. Er war bis dahin mit dem Roman Die Studenten (1934) und mit Gedichten hervorgetreten (Forman 1961: 126; Mühlberger 1981: 407-409). 9 Vgl. Erlaß des Führers und Reichskanzlers vom 16. März 1939 über das Protektorat Böhmen und Mähren, Artikel 5, abgedruckt in Brandes (1969: 21). Allgemein Glettler/Lipták/ Mišková (2004).
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3. Buchausstellungen als Mittel der NS-Kulturpolitik
Die Veranstalter konnten sich bei der Vorbereitung der Ausstellung an einer Praxis orientieren, die in Deutschland seit der Machtergreifung Hitlers eine besondere Dynamik erhalten hatte. Bereits seit 1929 wurde jeweils am Todestag von Goethe ein so genannter Tag des Buches veranstaltet, der „unter dem Patronat des Reichsinnenministers stand“ (Barbian 1993: 270). Galten diese Tage vorrangig den wirtschaftlichen Interessen des deutschen Buchhandels, so spielten bei den Zehn Tagen Deutsche Buchmesse, die Ende November/Anfang Dezember 1933 gleichzeitig in Berlin und vier weiteren Städten – darunter auch in München – veranstaltet wurden, bereits unübersehbar politische Interessen mit. Gunther Haupt, der im Oktober dieses Jahres sein Amt als Geschäftsführer der Reichsschrifttumskammer antrat, schrieb im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel (10 Tage Deutsche Buchmesse – Berlin 1933): Es sei „selbstverständlich, dass zu der Ausstellung nur deutsche Firmen, deutsche Autoren, deutsche Bücher zugelassen sind, die auf dem Boden der nationalsozialistischen Revolution stehen ...“ (zit. n. Barbian 1993: 271) Zu Beginn der Ausstellungen unterstrich die Reichsschrifttumskammer im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel vom 30.11.1933 noch einmal die Bedeutung, die dem Buch von der nationalsozialistischen Propaganda beigemessen wurde (Die Reichsschrifttumskammer zur Deutschen Buchmesse): „Nichts“ könne „eindeutiger und bestimmter den Geist des neuen Deutschland, die Aufrichtigkeit seiner Gesinnung und die Richtung seiner inneren Entwicklung erweisen als das Verhältnis des ganzen Volkes zu seinem Schrifttum ...“ (zit. n. Barbian 1993: 271) Nach dem Jahr 1933 wurde der Tag des Buches nicht mehr fortgesetzt. Sein Erbe trat die Woche des deutschen Buches an, die Josef Goebbels im November 1934 mit einer Rede zur Eröffnung der Woche des deutschen Buches am 5. November 1934 im Sportpalast Berlin eröffnete,10 bei der er u. a. wörtlich sagte: Wir kennen sehr wohl den ungeheuer weitreichenden Einfluß, den ein Buch ausüben kann [...] Wollen wir deshalb dem Buche eine neue Lebenskraft geben, dann müssen wir die zerstörten Bindungen zum Volke wiederherstellen. Der blasse Ästhetizismus muß einer neuen Vitalität Platz machen [...] (zit. n. Faust 1983: 385-387)
10 Die folgende Zusammenfassung folgt den detaillierten Darstellungen von Faust (1983: 385-392) und Barbian (1993: 273-279).
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Das Motto dieser Woche lautete Haltet zum deutschen Buch. 1935 wurde die Woche in Weimar eröffnet, womit sich die Rückverbindung zu den Dichterfürsten der Klassik demonstrativ herstellen ließ. Das neue Motto Das Buch – ein Schwert des Geistes wurde auf Plakaten angekündigt, die überall zu sehen waren, in Buchläden und Schulen ebenso wie in öffentlichen Ämtern. Die Buchwoche, die mit Ausstellungen, Lesungen und Festumzügen nicht nur in ganz Deutschland, sondern auch in den deutschen Kolonien veranstaltet wurde, erzielte einen großen Erfolg. 1936 und 1937 wurden Buchwochen in ähnlichem Umfang wiederholt, 1938 – nach dem Anschluss Österreichs und der Sudetengebiete – erstmals als Großdeutsche Buchwoche durchgeführt. Bei der Abschlusskundgebung in München stand die sudetendeutsche Dichtung im Mittelpunkt. Im folgenden Jahr fand wegen des Kriegsbeginns keine Buchwoche statt. Von 1940 bis 1942 wurde sie schließlich noch dreimal wiederholt, wobei das bereits verwendete Motto Buch und Schwert als ständiges Leitthema diente. Jan-Pieter Barbian, auf den ich mich hier in erster Linie beziehe, geht in seiner Darstellung davon aus, dass im Jahr 1939 die Woche des Buches wegen des Kriegsbeginns „ausgesetzt worden war“ (Barbian 1993: 277). Dies trifft zwar für die spezielle Woche des Buches zu, keineswegs aber für Buchausstellungen insgesamt. Im Protektorat wurden in diesem Jahr sogar drei Buchausstellungen gezeigt, eine Ausstellung über Das deutsche künstlerische Buch seit 1933 im Rahmen der Deutschen Kulturwoche im Juni in Prag (Frank 1939: 6), die bereits angesprochene Ausstellung im Prager Clam-Gallas-Palais und die Ausstellung Das zeitgemäße Buch im Neuen Rathaus von Brünn.11 Im Sudetengau wurden in Karlsbad und Joachimsthal Ausstellungen mit Büchern gezeigt, die in der Ersten Tschechoslowakischen Republik verboten waren (DNT, 8.9.1939: 7). Dies ist der Kontext, in dem die Buchausstellung im Clam-Gallas-Palais stattfand, die spezifische Vorgeschichte, an welche sie anknüpfen konnte.
11 Letztere fand vom 10.-17.12.1939 statt, zur Eröffnung sprach der Schriftsteller Karl Hans Strobl. Vgl. Der Neue Tag (DNT), 11.12.1939, 4.
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4. Der politische Kontext der Prager Buchausstellung vom November 1939
Einen Kontext ganz anderer Art stellte die politische Atmosphäre der Novembertage 1939 in Prag dar. Zum ersten Mal reagierte die Besatzungsmacht in dieser Zeit öffentlich auf politische Spannungen. Am 28. Oktober hatten tschechische Hochschulangehörige gegen die Okkupation demonstriert, nach dem Tod des Studenten Jan Opletal war es am 15. November erneut zu einer Demonstration gekommen, am 17. November wurden die tschechischen Hochschulen geschlossen (Brandes 1969: 83-95). Der Zeitungsleser wurde über diese Vorgänge erstmals am 18. November informiert, als er auf der Titelseite des Neuen Tages die Nachricht lesen konnte, dass „eine Gruppe tschechischer Intellektueller in Zusammenarbeit mit dem geflohenen Expräsidenten Benesch durch kleinere oder größere Widerstandsakte die Ruhe und Ordnung im Protektorat Böhmen und Mähren zu stören“ versucht habe. Weiter heißt es: „Da die „Rädelsführer dieser Widerstandsakte“ aus akademischen Kreisen stammten und sich am 28. Oktober und am 15. November dazu hinreißen ließen, gegen einzelne Deutsche tätlich vorzugehen, wurden die tschechischen Hochschulen auf die Dauer von drei Jahren geschlossen, neun Täter erschossen und eine größere Anzahl Beteiligter in Haft genommen. (DNT 18.11.1939: 1)
Am Nachmittag desselben Tages wandte sich Staatspräsident Hácha in einer Rundfunkansprache an das tschechische Volk, das er aufforderte, sich „aller Störungen der Ruhe und Ordnung zu enthalten“. Nachdrücklich wies er darauf hin, „daß jedes Zuwiderhandeln gegen die Öffentliche Gewalt und gegen die im Protektorat eingeführte Ordnung unabsehbare Nachteile für die einzelnen sowohl als auch für das Volk als Ganzes zur Folge hätte“ (abgedruckt in DNT, 19.11.1939: 2). Am Tag der Ausstellungseröffnung meldete die Zeitung, wiederum auf der ersten Seite: „Wegen tätlichen Ueberfalls auf einen Deutschen wurden am 18. November drei Tschechen erschossen. Unter den Erschossenen befinden sich zwei Polizeibeamte“ (DNT, 19.11.1939: 1). Schließlich folgte die Meldung: „Protektoratsregierung verhängt Standrecht“ (DNT, 19.11.1939: 6). Solche Nachrichten hatte es seit dem Einmarsch der deutschen Truppen nicht zu lesen gegeben. Entsprechend nervös war das öffentliche Klima dieser Herbsttage im Protektorat.
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5. Das öffentliche Bild der Buchausstellung im Clam-Gallas-Palais
Für kurze Zeit sah es so aus, als ob die Ausstellung im letzten Augenblick abgesagt werden könnte. Die näheren Umstände sprachen dann jedoch für die Beibehaltung des Termins. Bereits eine Woche zuvor war die öffentliche Bekanntmachung mit einem Artikel von Dr. Urban (Das billige deutsche Buch. Eine Ausstellung in Prag) erfolgt, einem Mitarbeiter der Abteilung für Kulturpolitische Angelegenheiten in der Behörde des Reichsprotektors. In seinem Beitrag hatte er betont, „dass das deutsche Buch in der Zeit des Krieges eine ernste Aufgabe zu erfüllen“ habe, ganz besonders in Böhmen und Mähren, wo es „lange Zeit manchmal der einzige Mittler zwischen dem hiesigen Deutschtum und dem Reich“ gewesen sei. Mit „Rücksicht auf die Einkommensverhältnisse vieler der hiesigen Deutschen“ stelle die neue Bücherschau „das billige, aber dabei doch wertvolle Buch in den Vordergrund“, so Urban (DNT, 11.11.1939: 7). Das war am 11. November. Am 16. November war die Ankündigung gefolgt, dass der „sudetendeutsche Dichter Wilhelm Pleyer sprechen und aus eigenen Werken vortragen“ werde (DNT, 16.11.1939: 7). Mit dem Clam-Gallas-Palais hatte man überdies ein in der Prager Altstadt an der Kreuzung der Karlova und Husova gelegenes, weithin bekanntes Barockpalais gewählt, dessen Eingangsportal mit den von Matthias Braun geschaffenen Giganten noch heute jedem Pragbesucher in die Augen sticht.12 Eine Absage unmittelbar vor dem Eröffnungstermin hätte einen unangenehmen Prestigeverlust zur Folge gehabt. Die Beibehaltung des geplanten Ablaufes dagegen konnte als Stärke des Regimes dargestellt werden, dass sich trotz der Demonstrationen und trotz der Verhängung des Standrechts von seinem kulturellen Vorhaben nicht abbringen ließ. Am Tag der Eröffnung meldete sich erneut Dr. Urban zu Wort (Gehaltvoll und wohlfeil. Zur heutigen Eröffnung der Buchausstellung im Clam-Gallas-Palais). Er betonte ganz im Sinn der 1934 von Joseph Goebbels in Berlin gehaltenen Eröffnungsrede: „Das Buch soll nicht nur einer kleinen Schicht von Gelehrten und Bücherfreunden vorbehalten sein, sondern jeder Volksgenosse soll nach Möglichkeit an den im Buche zum Ausdruck kommenden kulturellen Leistungen teilnehmen können.“ (DNT, 19.11.1939: 9)
12 Zu dem nach Plänen des Wiener Baumeisters Johann Bernhard Fischer von Erlach errichteten Palais vgl. Herzogenberg (1999: 226-227); Staňková (1991: 141).
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Im Folgenden zählte Urban die Verlage und Autoren auf, die bei der Bücherschau vertreten waren. Neben den Klassikern und neben bekannteren Autoren der NS-Literatur wie Hanns Johst, Hans Friedrich Blunck, Edwin Erich Dwinger, Jakob Schaffner und Heinrich Zillich, führte er auch folgende sudetendeutsche Autoren namentlich auf: Bruno Brehm, Robert Hohlbaum, E. G. Kolbenheyer, Karl Franz Leppa, Wilhelm Pleyer und Hans Watzlik. Alle Namen sind von der eingangs zitierten Vorschlagsliste her bekannt. Die Eröffnung fand schließlich wie angekündigt am 19. November, vormittags um 10.30 Uhr im Marmorsaal des Clam-Gallas-Palais statt. Von den Ehrengästen fanden Oberstleutnant Ernst Fricke, der Stellvertreter des Wehrmachtsbevollmächtigten beim Reichsprotektor und Primatorstellvertreter Prof. Josef Pfitzner besondere Erwähnung. Auch die Eröffnung wurde von einem Stellvertreter wahrgenommen, vom stellvertretenden Leiter der Abteilung Kulturpolitische Angelegenheiten Hermann Gleßgen. Dieser wiederholte die bereits publizierten Worte über die besondere Rolle des Buches in Böhmen für die Verbindung des Deutschtums mit dem Reich und sagte wörtlich: „Die Stadt Prag selbst sei ein Buch deutscher Geschichte“. Schließlich kam Wilhelm Pleyer bei der Eröffnung zu Wort: „Er erzählte von seiner Prager Studentenzeit“ und dem damals ausgestatteten „Bücherbrett“. Es sei vielleicht nicht das Beste gewesen, sagte er, aber „es sind die Bücher, durch die ich geworden bin, denen ich soviel verdanke wie einem Lehrer, einem Erzieher, einem guten Kameraden. Die Prager Ausstellung“, so führte er weiter aus, zeige „jene Bücher, die heute zum Kostbarsten des deutschen Volkes gehören“. Anschließend las Pleyer aus dem Roman Die Brüder Tommahans und aus dem Gedichtband Lied aus Böhmen. Die Schlussworte sprach schließlich der bereits mehrfach erwähnte Dr. Urban (4: Buchausstellung im Palais ClamGallas, DNT, 20.11.1939). Dies alles konnte ein aufmerksamer Leser der Zeitung entnehmen. Der Besucher der Ausstellung konnte „rund 1500 Bücher“ betrachten, die zehn Gruppen zugeordnet waren, darunter die Gruppen „Das billige deutsche Buch, Deutscher Aufbau, Romane lebender deutscher Schriftsteller, Technik, Landwirtschaft“ und „kaufmännisches Schrifttum“ (Abschlussbericht 1939: 1, 2). Da es sich um keine Verkaufsausstellung handelte, wurde vereinbart, „daß jeder der vier ortsansässigen deutschen Buchhändler an je zwei Tagen die Bestellungen entgegennehmen sollte“. Es waren dies die Buchhandlungen André, Czerny, Calve und Mandlik (Abschlussbericht 1939: 2). Die Eröffnungsansprache Pleyers „wurde vom Reichssender Böhmen auf Wachsplatten aufgenommen und am Montag, den 27. November um 20,15 Uhr gesendet“ (Abschlussbericht 1939: 2-3).
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6. Hinter den Kulissen
Neben dem Bild, das sich ein Zeitungsleser, Ausstellungsbesucher und Radiohörer machen konnte, vermittelt der Blick hinter die Kulissen ein zweites, zum Teil ganz anderes Bild. Am 2. November richtete Dr. Urban ein Schreiben an das „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Abteilung Schrifttum, z. H. Herrn Dr. Henning, Berlin W8, Wilhelmplatz 8-9“.13 Es handelt sich dabei um jenen eingangs zitierten Herrn Henning, der das Geleitwort für die „Vorschlagsliste 1939/40“ verfasst hat. Dr. Urban schrieb, dass „von seiten der deutschen Studentenschaft in Prag“ vorgeschlagen worden sei, die „Dichter Johst, Langenbeck, Alverdes, Carossa und Weinheber einzuladen“. Nachdem er in einem Fernschreiben vom 8. November präzisiert hatte, dass ihm besonders „an einem vortrag bei der eroeffnung der buchausstellung am vormittag des 19. November gelegen“ sei und dass er um Mitteilung bitte, „ob hanns johst einen solchen vortragen uebernehmen“ könne,14 erhielt er von Dr. Henning am 9. November die Antwort, Johst habe unlängst mitgeteilt, „dass es sein gesundheitszustand noch immer nicht“ zulasse, „auf vortragsfahrt zu gehen“.15 Ebenso stünden die Schriftsteller Carossa und Weinheber „nicht zur verfuegung“. Henning schlug stattdessen eine Reihe anderer Dichter vor, u. a. Wilhelm Pleyer, Robert Hohlbaum, Karl Heinrich Waggerl und Heinrich Zillich. Urban hakte am folgenden Tag noch einmal nach, „am meisten“ liege ihm „jetzt an einer wuerdigen eroeffnung der prager buchausstellung“. Er bitte daher, ihm „moeglichst bald ... mitzuteilen, ob hanns johst einen solchen vortrag uebernehmen“ könne.16 Einen Tag später folgte die endgültige Absage.17 Nun bemühte sich Urban um Hans Friedrich Blunck als erste Wahl, an zweiter Stelle nannte er Robert Hohlbaum, an dritter Gerhard Schumann.18 13 Maschinenschriftlicher Brief an Dr. Henning vom 2.11.1939. Prag, Státní ústřední archiv,
ÚŘP 1141, 1. Sammelordner, 2. Mappe (Buchwoche Prag, November 1939). In der Folge zitiert als SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2. An dieser Stelle möchte ich Dr. Vacslav Babička, dem früheren Direktor des Staatlichen Zentralarchivs und jetzigen Generaldirektor der tschechischen Archive, für sein Interesse und seine ausgesprochen großzügige Hilfestellung herzlich danken. 14 Fernschreiben rprot.prag an pm 8.11.39, 16.30 Uhr, meldung 18005. SÚA-ÚŘP 1141, 1, 2. 15 pm an rprot prag mdg nr 72, 9.11.39, 20.14 uhr. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2. 16 rprot.prag an pm 8.11.39, 16,30 Uhr, meldung nr. 18005. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2. 17 pm an prag, meldung nr 28, 11.11.39, 14.45 uhr. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2. 18 rprot.prag an pm, 13.11.1939, 11.30 Uhr, meldung nr. 18001. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2.
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Die Zeit wurde allmählich knapp. Bis zur Eröffnung der Ausstellung blieben nur noch sechs Tage. Am 15. November konnte er nach Berlin melden: „ich habe gestern noch zweimal telefonisch mit herrn dr. pleyer19 gesprochen. er hat mir zugesagt ...“20 Am selben Tag entdeckte Urban, dass er während der Bemühung um einen geeigneten Autor völlig vergessen hatte, einen Finanzierungsantrag an das Haushaltsreferat innerhalb der Behörde des Reichsprotektors zu stellen. In einem maschinenschriftlichen Schreiben mit der Anweisung „Sofort von Hand zu Hand!“ wurde für die Prager Buchwoche der Betrag von RM 360.angefordert. In dem offensichtlich von Karl von Gregory, dem Leiter der Kulturpolitischen Abteilung, gezeichneten Schreiben heißt es, dass der Antrag „erst jetzt“ ergehe, da hier die Notwendigkeit einer besonderen Bereitstellung der erforderlichen Mittel durch das Haushaltsreferat übersehen worden sei, und weiter, dass die Verschiebung oder gar Aufhebung nicht mehr möglich sei ohne eine erhebliche Gefährdung des deutschen Ansehens.21
Ließ sich auf diese Weise die Finanzierungsfrage in letzter Minute regeln, so waren damit keineswegs alle Probleme beseitigt. Zwei Tage vor der Lesung ging bei Dr. Urban in Prag ein Telegramm aus Reichenberg ein, das den Wortlaut enthielt: „Drahtet Gestapo dass Einreise gewuenscht = Pleyer ++“.22 Um dieses Telegramm zu verstehen, muss man wissen, dass auch nach der Errichtung des Protektorats die Grenze zum Sudetengau nicht ohne besondere Genehmigung passiert werden durfte. Noch am selben Tag schickte Dr. Urban ein Fernschreiben an das Reichspropagandaamt in Reichenberg mit der Bitte, „sofort die geheime staatspolizei in reichenberg anzurufen und mitzuteilen, dass die fahrt dr. pleyers nach prag unbedingt erforderlich ist ...“.23 Noch am Vortag der Eröffnung wusste Urban nicht, ob Pleyer nach Prag kommen würde. In der Mittagsstunde schickte er ein weiteres Fernschreiben nach Rei19 Wilhelm Pleyer, 1901 in Eisenhammer im Bezirk Kralowitz/Westböhmen geboren, war bis dahin als Herausgeber der Sudetendeutschen Monatshefte und Autor von Romanen und Gedichten hervorgetreten. Im Januar 1939 hatte er in Berlin für seinen Roman Die Brüder Tommahans (1937) den Literaturpreis der Reichshauptstadt 1938 erhalten. Er lebte zur Zeit der Prager Buchausstellung in Neupaulsdorf bei Reichenberg. 20 rprot.prag an pm 15.11.39, 14.00, meldung nr. 18003. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2. 21 Der Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, Prag, den 15. November 1939. An die Gruppe Z im Hause, Haushaltsreferat. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2. Für den Transport der Bücher Prag-Brünn-Berlin wurden RM 50.- angesetzt, für Saalmiete und Heizung RM 100.-, als Honorar für die Dichterlesung ebenfalls RM 100.-, für Werbekosten RM 10.-. 22 DOKTOR URBAN REICHSPROTEKTORAT PRAHA. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2. 23 rprot.prag an rpa rei, 17.11.39, 19.00, meldung nr 18009. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2.
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chenberg, dieses Mal persönlich gerichtet an Josef Schneider, der als Referent im Kulturreferat des Reichspropagandaamtes tätig war (Sudetenbuch 1940: 93). In dringendem Tonfall schrieb Dr. Urban, „ich bitte sie unter nummer 2519 bei dr pleyer anzurufen, ob er bereits nach prag unterwegs ist und wann er hier ankommen wird ...“.24 Am Nachmittag kurz nach 16 Uhr traf die erlösende Nachricht ein: „wilhelm pleyer kommt heute abend um 21.56 uhr am wilsonbahnhof an. er wuenscht abgeholt zu werden. erkennungszeichen: entbloester kopf...“.25 Nun konnte die Eröffnung der Buchausstellung wie geplant und bereits berichtet ablaufen. In seinem Abschlussbericht vom 30. November, den Dr. Urban an die Abteilung Schrifttum im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda nach Berlin schickte, schrieb er, dass die „Durchführbarkeit der Ausstellung“ wegen der „politischen Ereignisse [...], die am 18.11.1939 zur Verhängung des Standrechtes in Prag führten“ zeitweise „überhaupt in Frage gestellt“ gewesen sei. Er betonte die „starke Beteiligung von Seiten der Wehrmacht“ bei der Eröffnung (Abschlussbericht 1939: 2). Die Ausstellung sei „von sechs Mittelschulklassen besucht“ worden, insgesamt von 800 Personen, und „täglich bis 17 Uhr geöffnet“ gewesen. „Eine längere Oeffnungszeit sei wegen der Verdunkelungsmassnahmen leider nicht möglich“ gewesen (Abschlussbericht 1939: 3).
6. Kleines Nachspiel
Ein kleines Nachspiel fand die Ausstellung durch eine Beschwerde des Schriftstellers Hugo Scholz aus Braunau im Sudetenland. Am 5. Dezember schrieb Scholz, dass er im Landesdienst Sudetengau einen Bericht „über die Ausstellung schöngeistiger Schriften der Sudetendeutschen“ gelesen habe. „Unter den angegebenen Namen finde ich zwar eine Reihe jüngerer, jedoch auffallenderweise nicht mich selbst. Ich bitte höflich um Aufklärung, warum ich bei dieser Ausstellung völlig übergangen worden bin“.26 Dr. Urban wies in seiner Ant24 rprot.prag an rpa rei z.hd. von herrn dr. josef schneider, 18.11.39, 12.50, meldung 18002, SÚA-ÚŘP 1141: 1,2. 25 rpa rei an prot prag, 18.11.39, 16.05, meldung nr. 17004. SÚA-ÚŘP 1141: 1,2. 26 Maschinenschriftlicher Brief vom 5.12.1939 mit dem Eingangsstempel: 8.XII.1939. SÚAÚŘP 1141: 1,2. Hugo Scholz, geboren 1896 in Ottendorf bei Braunau, war gleichzeitig
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wort vom 12. Dezember darauf hin, dass die Prager Ausstellung „keineswegs [...] die Aufgabe hatte, eine Übersicht über das Schaffen der sudetendeutschen Schriftsteller zu geben“. Sie habe lediglich eine „Auswahl“ gezeigt und „keinen Anspruch darauf“ erhoben, „in dieser Hinsicht vollständig zu sein. Eine Übergehung Ihrer Person war keineswegs in der Absicht der Ausstellungsleitung und es wird auf Ihre Schriften zur gegebenen Zeit zurückgegriffen werden“.27 Auch in den kommenden Jahren war Prag noch mehrfach der Ort von Buchausstellungen, so im Frühjahr 1940 auf der Prager Mustermesse, im Herbst 1940 im Rudolfinum, im Herbst 1941 im Landesmuseum und im Februar 1943 im Langemarckhaus im Rahmen der Kulturtage der Prager Studenten.28 Auf diese Ausstellungen sei im Rahmen dieses Beitrags lediglich hingewiesen.
7. Schlussbemerkung
Was in der Öffentlichkeit als perfekt inszenierte Ausstellung erschien und den Propagandaabsichten des Regimes vollends genügte, angefangen von den Presse- und Hörfunkberichten über die Ausführungen der Beteiligten bis hin zur Präsenz namhaften Vertreter des Regimes und der Führung von Schülergruppen, erweist sich beim Blick hinter die Kulissen als eine Reihe von Unzulänglichkeiten und Zufälligkeiten, die mitunter geradezu komische Züge aufweist. Sichtbar wird nicht nur die Eitelkeit und Konkurrenz der Schriftsteller, nicht nur das Bemühen der Veranstalter um große Namen und ihr allmähliches Eingehen auf eine mittlere Größe, sichtbar wird auch die Abhängigkeit vom Funktionieren eines Verwaltungsapparates, jenseits ideologischer Ansprüche. Ein Saal muss rechzeitig angemietet, die Finanzierung sichergestellt, die Grenzübertrittserlaubnis eingeholt werden. Das Zusammenspiel all dieser Rädchen als Landwirt und Schriftsteller tätig. Bis 1939 hatte er u. a. die Romane Der versunkene Pflug (1924) und Noch steht ein Mann (1927) veröffentlicht. Zu Scholz vgl. Forman (1961: 85-86) u. Mühlberger (1981: 368-369). 27 Maschinenschriftlicher Brief an Hugo Scholz, Braunau/Sudetendland. 12. Dezember 1939. SÚA-ÚŘP 1141: 1, 2. 28 Vgl. die entsprechenden Ankündigungen und Berichte, u. a. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 7.11.1940, 417; DNT, 4.11.1941, 2; DNT, 17.2.1943, 3; Sudetendeutsche Monatshefte, Teplitz-Schönau 1943, 127.
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und Maßnahmen stellte die unsichtbare Voraussetzung des Gelingens dar, den Unterbau des öffentlichen Erfolgs. Das mag vertraut erscheinen bis hin zu der Argumentation, dass der Ausfall der Veranstaltung eine erhebliche Gefährdung des Ansehens zur Folge habe und die Bereitstellung der zu spät beantragten Gelder schon deshalb nicht zu umgehen sei. Vertraut und zugleich auch verharmlosend, weil es der nationalsozialistischen Gewalt einen allzu menschlichen Mantel umhängt. Ich denke jedoch: Gerade weil keine noch so totalitäre Macht auf einen entsprechenden Unterbau verzichten kann, ist es besonders wichtig, solche Zusammenhänge im Detail zu studieren. Das verhindert, den Unterbau mit der totalitären Macht zu verwechseln, und es schärft den Blick dafür, sie auch dort zu erkennen, wo das korrekte Funktionieren eines Verwaltungsapparates allzu schnell die Korrektheit der Ideologie selbst suggeriert.
Literatur
Abschlussbericht (1939): Abschlussbericht: Deutsche Buchausstellung in Prag 19.-26. November 1939, 1-2. Beilage zum Schreiben Nr. XV S 7222 Der Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, Prag, den 30. November 1939. An das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Abteilung Schrifttum, Berlin. SÚA-ÚŘP 1141. Aigner, Dietrich (1971): Die Indizierung schädlichen und unerwünschten Schrifttums im Dritten Reich. – In: Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (Hg.), Archiv für Geschichte des Buchwesens, XI, Frankfurt/M.: Buchhändler-Vereinigung, 933-1034. Barbian, Jan-Pieter (1993): Literaturpolitik im Dritten Reich. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Frankfurt/M.: Buchhändler-Vereinigung. Bartels, Adolf (151936): Geschichte der deutschen Literatur. Braunschweig: Westermann. Baur, Uwe/Gradwohl-Schlacher, Karin/Fuchs, Sabine (Hgg.) (1998): Macht Literatur Krieg. Österreichische Literatur im Nationalsozialismus. Wien, Köln, Weimar: Böhlau. Brandes, Detlef (1969): Die Tschechen unter deutschem Protektorat. Teil 1. München, Wien: Oldenbourg. Becher, Peter (1990): Das Böhmische Fenster – Ein Kulturspiegel der 30er Jahre. – In: Glotz, Peter/Pollok, Karl-Heinz (Hgg.), München 1938. Das Ende des alten Europa. Essen: Hobbing, 305-319.
Die Prager Buchausstellung im Clam-Gallas-Palais vom November 1939
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Peter Becher
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Gisela Kaben
Die Königinhofer und Grünberger Handschriften – Mythos im 20. Jahrhundert? Ein etwas vorschnippischer Philosoph, ich glaube Hamlet Prinz von Dänemark, hat gesagt: es gebe eine Menge Dinge im Himmel und auf der Erde, wovon nichts in unseren Compendiis steht. Hat der einfältige Mensch, der bekanntlich nicht recht bei Trost war, damit auf unsere Compendia der Physik gestichelt, so kann man ihm getrost antworten: gut, aber dafür stehn auch wieder eine Menge von Dingen in unseren Compendiis, wovon weder im Himmel noch auf Erden etwas vorkömmt. Georg Christoph Lichtenberg Die Kunst ist das Bestreben, etwas wirklich zu machen, was nicht möglich ist. Robert Havemann
„Einmal mehr wird also an Kunst delegiert, was nicht wirklich gelebt werden kann, obwohl diese nie in der Lage gewesen ist, Nicht-Wirkliches zum Leben zu bringen.“ (Kasics 1990: 123) Der Anspruch, mit schöpferischer Leistung Realität zu generieren, war eines der Hauptanliegen der Fälscher der Königinhofer und der Grünberger Handschriften. Als Objekte waren die Fragmente reine Fiktion, bestenfalls als potenzielle „Modelle der Realität“ von „anderer Natur“ (Assmann 1980: 15) beschreibbar. Bis sich diese Erkenntnis weitgehend durchsetzte, dauerte es immerhin knapp hundert Jahre. Vermeintlich mittelalterliche Handschriften ‚fand‘ man in Böhmen zwischen 1817 und 1849; die heftigen Auseinandersetzungen wurden erst Ende der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt dank der Autorität von Tomáš Garrigue Masaryk, beendet. 1900 konnte Hanuš mit seinem Aufsatz über den „Český Macpherson“, in Anspielung auf den Ossian, den Fall RKZ1 als gelöst und abgeschlossen bezeichnen (Hanuš 1900); ad acta gelegt war er noch nicht, auch wenn der Kreis der Interessierten im Laufe des folgenden Jahrhunderts erheblich schrumpfte. 1 So lautet die übliche Abkürzung der beiden Handschriften im Tschechischen: Rukopis Královédvorský a Zelenohorský.
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1. Der Handschriftenstreit im 20. Jahrhundert
Die Diskussionen wurden nach 1918 vorübergehend gedämpft durch die Tatsache, dass ein Verteidiger der Authentizität der Handschriften sich gleichzeitig gegen das Verdikt des weithin geschätzten Staatspräsidenten Masaryk stellte. Noch zu dessen Regierungszeit gerieten die RKZ aber erneut in den Fokus von Verteidigern und Gegnern.
1.1. Die Auseinandersetzungen in den dreißiger Jahren Um die Wende von den zwanziger zu den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Authentizität der Fälschungen wieder massiv verteidigt, ausgehend von dem Philosophen und Universitätsrektor František Mareš. Dies geschah sicher nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, als der Zustand der tschechischen Sprache, speziell auch im Hinblick auf Entlehnungen und Neologismen, öffentlich und ausführlich debattiert wurde.2 Die Fokussierung auf sprachliche Belange und Sprachgeschichte mag auch die Verteidiger der Handschriften ermutigt haben. Tatsächlich wurde eine Gesellschaft, die Československá společnost rukopisná [Tschechoslowakische Gesellschaft der Handschriften], ins Leben gerufen, deren Ziel weniger die objektive Untersuchung als die Reklamation der Authentizität der Handschriften war. Eine Reihe ‚wissenschaftlicher‘ Resultate sollte diese unterstreichen; so bestätigten Chemiker 1935 die Echtheit, obwohl aus dem Kriminalinstitut bereits ein (korrekter) Hinweis vorlag, dass es sich um Palimpseste3 handele. Der Vereinsvorsitzende Vojtěch argumentierte dahingehend, dass derartige Fälschungen mit den Mitteln und Kenntnissen des 19. Jahrhunderts unmöglich gewesen seien. Unterstützung erhielt er indirekt durch eine Anzahl von Aufsätzen, die sich mit den historischen Aspekten der RKZ auseinandersetzten und versuchten, für die sagenhaften Gestalten der tschechischen Vorgeschichte – wie beispielsweise den Urvater Čech – reale historische Vorbilder zu finden. Der ‚harte Kern‘ der Verteidiger rekrutierte sich aus einem 2 Die Diskussion entwickelte sich im Kontext der sprachlichen Reformen von 1921 und führte zu mehreren wissenschaftlichen Publikationen, dazu Bergmann/Kratochvil (2002). 3 Beschriebenes, dann abgeschabtes und wieder neu beschriebenes Pergament.
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Kreis, der faschistischen Gruppierungen nahe stand, übrigens im Unterschied zu Vojtěch. Mareš hatte seine Affinität zu den Faschisten öffentlich gemacht, einer seiner engsten Mitstreiter namens Vrzalík war Vizepräsident der faschistischen Jugendorganisation Vlajka.
1.2. Thematisierung in den sechziger und siebziger Jahren Mit der Okkupation waren die Aktivitäten der Gesellschaft beendet, sodass schwer abzuschätzen ist, wie erfolgreich sie ohne die deutsche Invasion gewesen wäre. Zu Beginn der fünfziger Jahre strebte sie eine Wiederaufnahme des Diskurses an. Sie wurde darin durch die Übernahme der Schirmherrschaft über eine Neuherausgabe der Handschriften durch Klement Gottwald 1951 bestärkt. Es erfolgten jedoch keine weiteren Initiativen seitens des Staates oder der Partei. Erst Ende der sechziger bzw. Anfang der siebziger Jahre rückten die RKZ wieder in das Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit, als nämlich 1967 das Kriminalinstitut mit einer umfassenden methodischen Untersuchung der Handschriften beauftragt wurde, als deren erster Schritt 1969 eine Kompilation der Argumente für und gegen die Authentizität erfolgte. Die Zwischenzeit wurde für neue Publikationen genutzt, die teilweise die Arbeit des beauftragten Instituts unterliefen. So musste es sich von der Arbeit eines gewissen Ivanov (die 2000 von seinen Erben neu veröffentlicht wurde) und seines Labors distanzieren. Allerdings wurden die Ergebnisse der kriminologischen Untersuchungen nicht publiziert, was in der Öffentlichkeit – soweit sie es überhaupt zur Kenntnis nahm – Verwirrung auslöste und zu Spekulationen führte. Ende der sechziger Jahre untersuchte eine Gruppe um Mojmir Otruba (1968) unter interdisziplinären Gesichtspunkten (paläographisch, literaturwissenschaftlich, historiographisch, rechtsgeschichtlich und linguistisch) die Königinhofer Handschrift, die von Anfang an als das weniger zweifelhafte Objekt gegolten hatte. Ein mittelalterlicher Ursprung wurde definitiv ausgeschlossen. Damit waren die Meinungen zwar weiterhin gespalten, doch überwog bereits die Zahl derer, die von einer Fälschung ausgingen. Überraschende Unterstützung erhielten die Verteidiger dagegen von Rutar und Štěrba aus der tschechischen Emigrantenszene in den USA.
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1.3. Die Jahre nach 1989 Die Protokolle des Kriminalinstituts wurden erst nach 1989 veröffentlicht, nachdem sie bereits unter der Hand kursiert waren. Ein Grund für die Verzögerung ist nicht ersichtlich, zumal das Urteil bezüglich der Authentizität der Handschriften negativ ausgefallen war. Gleichzeitig begann aber der Verlag Neklan mit der Veröffentlichung der Arbeiten von Julius Enders, der zwischen 1993 und 1995 versucht hatte, vor allem unter Einsatz literaturhistorischer und linguistischer Methoden, noch einmal die Echtheit zu belegen (Enders 1993/5).4 Er argumentierte, dass Werke der Volkspoesie einen anderen Zugang erforderten als die sonstige mittelalterliche Dichtung. Seine Auffassung konnte er erwartungsgemäß nicht überzeugend belegen, viele der vermeintlichen Argumente waren alt. Neu war die Auffassung von Zdeněk Daneš, der die Handschriften zwar nicht der Angabe entsprechend, aber doch immerhin auf das Jahr 1500 datierte, und das in der Zeitschrift des Nationalmuseum, des Eigentümers der fraglichen Objekte (Daneš 1992). Einen guten Überblick über die Verteidiger und ihre Argumentationslinien bietet der Almanach rukopisné obrany, dessen 5. Band 2000 bei Neklan erschienen ist. Dessen Herausgeber, Jiří Urban, veröffentlichte außerdem 1996 gemeinsam mit einem weiteren Autoren dieses Bandes, Karel Nesměrák, noch einmal die Protokolle der RKZ-Untersuchung aus den siebziger Jahren (Urban/Nesměrák 1996). Ein anderer Urban ist zudem Autor eines Romans zu dem gleichen Thema (Urban 1998), der als Fälscherinnen zwei tschechische ‚Emanzen‘ enttarnt, die dem Feminismus den Weg ebnen wollten. Das ist nicht nur ein Witz, sondern ein ganz offensichtlicher Rekurs auf die literarischen Versuche der Erweckerbewegung und die legendäre Marie Čacka, Pseudonym für Božislava Svobodová, die sich damit ein ländlich-ursprüngliches alter ego schuf. Auf diese Weise verwies Urban auch auf die von Macura (1983) beschriebene spielerische Haltung der Autoren innerhalb dieser Bewegung. Ende des 20. Jahrhunderts waren die Handschriften weitgehend als Literatur des 19. Jahrhunderts akzeptiert, so auch in einer Anthologie über die tschechische Dichtung, die auch in deutscher Sprache erschien (Kundera/Schreiber 2006). Radio Prag sendete 2001 einen Bericht über die Geschichte der RKZ, der
4 �������������������������������������������������������������������������������������� Man beachte auch eine Umstellung der üblichen Reihenfolge: Nach Auffassung der Verteidiger war ja die Grünberger die ältere aus dem 9. Jahrhundert und musste deshalb zuerst genannt werden.
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im Internet auf Deutsch abrufbar ist.5 Im Internet wird auch deutlich, dass eine Anzahl deutscher und tschechischer Universitäten sowie tschechischer Schulen die Handschriftenfälschungen in Veranstaltungen thematisierten und thematisieren. Gleichfalls sind die Verteidiger der Authentizität ins Netz gegangen; unter der Adresse [email protected] bieten sie eine elektronische Konferenz zur Diskussion eines Wahrheitgehalts an, die längst obsolet ist.
1.4. Periodisierung der Diskussionen Das periodische Aufleben der Debatten um die RKZ bildet eine Wellenbewegung, deren Kulminationspunkte in den dreißiger, sechziger und siebziger sowie ab Mitte der neunziger Jahren liegen. Der Versuch einer Begründung birgt das Risiko, mit oberflächlich psychologisierenden Erklärungen zu einfache Wahrheiten zu konstruieren. Dennoch ist dieser Rhythmus so markant, dass er einer Erläuterung bedarf. Ein Rekurs auf die Mythos-Literatur, speziell die des politischen Mythos, setzt die Akzente: Mythen als „Generatoren der Sinngebung“ und „Aktivatoren des kollektiven Gedächtnisses“ (HeinKircher 2006), als „Gründer der Dinge in Natur und Ewigkeit“ (Reinprecht 1998: 176) sowie als Hilfe, um „in geschichtlichen Umbruchsituationen unvermeidliche Unsicherheiten zu bewältigen“ (Germer 1998: 34). Akzeptiert man diese Interpretation, hier im konkreten Sinne der gezielten Mystifikation seitens der Verteidiger, so lassen sich die Kulminationspunkte sehr wohl als Zeichen einer Verunsicherung einordnen, nämlich angesichts einer zunehmenden Bedrohung durch das Deutsche Reich, sodann des Aufbruchs des Prager Frühlings und dessen Niederschlagung sowie zuletzt der Entscheidung, der EU beizutreten, nachdem man gerade eine territoriale Verkleinerung durch die Selbstständigkeitserklärung der Slowakei hatte hinnehmen müssen. Ein Rückgriff auf den Vorrat an nationalen Werten erscheint in all diesen Fällen naheliegend; offen bleibt der Kontext, aus dem man diese zu extrahieren suchte. Zunächst ein Blick auf die dreißiger Jahre: Die staatliche Version hatte – mit Einschränkungen – in der faktischer Historie ihre Bezugspunkte gefunden, nämlich bei den Hussiten und den Böhmischen Brüdern. Anders die Gruppe der Verteidiger. Ihre personelle Verflechtung mit nationalistischen und fa5 Zu finden unter: .
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schistischen Kreisen ist kein Zufall: Man konkurrierte ideologisch mit den Deutsch-Völkischen und versuchte parallel dazu ein Bekenntnis zum eigenen Volksstaat, eine Konstellation, in der sich der Rückgriff auf alte Mytheme anbot, auch mit Blick auf die positiven Erfahrungen aus dem vergangenen Jahrhundert. Es war der Versuch, sich der sehr konkreten Bedrohung durch das Deutsche Reich und einer Ideologie zu stellen, welche gleichermaßen auf vorgeblich alten Mythenkonstruktionen basierte. Damit standen zwei gleichartige Abgrenzungsmechanismen einander gegenüber. Der deutsche setzte sich gewaltsam durch, damit scheiterte die Gruppe um Mareš mit ihrem Versuch einer Identitätsstiftung an den Realitäten des Münchner Abkommens und der Okkupation. Die Verletzung der nationalen Souveränität durch die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 bot einen neuerlichen Anlass zum Rekurs auf die vermeintliche oder tatsächliche goldene Vergangenheit des eigenen Volkes. Tatsächlich entstanden um die siebziger Jahre – neben der erwähnten kriminologischen Untersuchung – mehrere Publikationen (Dolanský 1968),6 die sich mit den Handschriften befassten; allerdings – und das muss überraschen – sind unter ihnen nur wenige Pamphlete zugunsten der Authentizität zu finden. Inwieweit das mit der verzögerten Veröffentlichung der kriminologischen Protokolle in Zusammenhang steht, ist unklar. Die Verwirrung um die lange hinausgezögerte Bekanntgabe der Untersuchungsergebnisse scheint auf eine Verunsicherung bezüglich der möglichen Konsequenzen einer Publikation hinzudeuten. Allerdings war gerade ein solcher Aufschub geeignet, Verschwörungstheorien zu produzieren und damit eine unerwünschte Publizität zu verursachen. Aber offensichtlich schätzte man die Relevanz der RKZ nicht so hoch ein, um sie als problematisches Thema wahrzunehmen. Und im Zuge der ‚Normalisierung‘ ab 1969 war eine Unterdrückung von Nachrichten unproblematisch und häufige Praxis. In den neunziger Jahren änderte sich das Bild noch einmal nach dem Ausscheiden der Slowakei aus dem föderativen Staat, was im Übrigen auch eine Kränkung des tschechischen kulturellen Selbstbewusstseins darstellte. Notwendig war nun eine neue Form der nationalen Erinnerung abseits von der Idee des ‚Tschechoslowakismus‘, den man aus der Ersten Republik zu transferieren versucht hatte (Holý 2001). Es bestand mithin die Notwendigkeit, die eigene gesellschaftliche und kulturelle Erinnerung neu auszurichten und zu verorten. Diese prekäre Situation verschärfte sich noch durch das drohende Aufgehen in dem supranationalen Gebilde der EU, die teilweise unter dem Verdacht stand, 6 Außerdem: Hosak (1971), Králík (1975) und Krejčí (1974).
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ein erneutes Forum bekannter deutscher Hegemoniebestrebungen darzustellen (Bělohradský 1997), und das, nachdem man gerade den Hegemon im Osten samt seinen Organisationen hinter sich gelassen hatte. Auf ein 10-MillionenVolk reduziert sah man sich mit größeren Ländern und Mächten konfrontiert. Überfremdungsängste in personeller wie sprachlicher Hinsicht konnten auch durch den schnell einsetzenden Massentourismus als reale Kosmopolitisierung erlebbar werden. Die Jahre nach 1989 manifestierten sich – neben dem Moment der Befreiung – als abrupter Umschwung in der gesellschaftlichen wie der wirtschaftlichen Kultur. Die Zahlen zwischen 1990 und 1995 belegen, dass sich zwar die Zufriedenheit in stabilen Werten um die 60 % bewegte, dass sich die Werte-Prioritäten jedoch verschoben. Mit Blick auf die konkrete Thematik sind zwei Themenfelder von Belang: Die Zahl derer, die forderten, Bewährtes zu schätzen und zu achten, erhöhte sich für den angegebenen Zeitraum von 27 % auf 58 %. Und die Offenheit für neue Ideen und geistigen Wandel sank von 16 % auf 7 % (Plasser/Ulram/Waldrauch 1997: 110).
2. Muster und Topoi im Diskurs über die Handschriften
Obwohl die Daten und Fakten theoretisch eine Empfänglichkeit für mythisierende Strategien erwarten ließen, sank die Zahl der Befürworter der Authentizität der RKZ im Verlauf des 20. Jahrhunderts kontinuierlich. Die Massenbewegung des 19. Jahrhunderts war singulär, die Befürworter gerieten in eine Außenseiterposition, was offensichtlich ihren missionarischen Impetus eher anregte. Über die ‚Buchstabenzählerei‘ hinaus waren es die aus den RKZ abgeleiteten axiomatischen Gewissheiten, mit denen man hoffte und hofft, das Publikum anzusprechen. In der Tat tangier(t)en verschiedene Themenkomplexe grundsätzliche Fragen einer Nation und überwanden das unmittelbar die Handschriften berührende Spektrum. Sie lassen sich unter zwei umfassenden Aspekten subsumieren, dem der Nation und dem der Sprache – womit konsequent dieselben Sujets aufgegriffen werden konnten, die bereits im 19. Jahrhundert den Erfolg der RKZ begründeten. Diese generierten einen Anspruch auf eine alte Geschichtshaftigkeit ebenso wie auf autochthone kulturelle Leistungen, sie berührten aber auch außerhalb aller Mythisierungsversuche liegende fundamentale Fragen und Positionen.
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2.1. Nation – Volk – Staat Diese drei Begriffe lassen sich nicht automatisch als Einheit betrachten; in der tschechischen Geschichte war eine Dichotomie nicht erst Relikt der Habsburger Herrschaft. Bereits der oben erwähnte reale Idealtypus innerhalb der Ersten Republik, Jan Hus, war mehr oder weniger freiwillig zur Herausforderung und Bedrohung der staatlichen Macht geworden, ein Bild, das sich durch die kriegerischen Aktivitäten seiner Anhänger noch verfestigte. Auch die Böhmischen Brüder, die sich in der hussitischen Nachfolge sahen, waren zwar von revolutionären Handlungen weit entfernt, zeigten aber keinerlei Bereitschaft, ihr Gewissen staatlichen Vorgaben unterzuordnen. Das kritische Verhältnis zum Staat entspannte sich bis 1918 nicht, Eugen Lemberg (1961: 96) spricht sogar von einer „Staatsfremdheit, mit der nach 1918 im Grunde nicht Staats-, sondern Volkspolitik betrieben“ worden sei, da man den Staat immer als Synonym für Fremdherrschaft oder als Schutzorganisation für das eigene Volkstum begriffen habe. Die Unmöglichkeit, Heimatland und Staat in Übereinstimmung zu bringen, wird auch von Holý konstatiert: „Vlast a stát nejsou synonyma […] Státy přicházejí a odcházejí, ale vlast zůstavá.“(HOLÝ 2001: 165) [Heimatland und Staat sind keine Synonyme. […] Staaten kommen und gehen, aber das Heimatland bleibt bestehen.] Diese prinzipiell selbstverständlichen Erkenntnisse verfestigen sich in der Konsequenz zu einer Distanz gegenüber der Institution Staat als einem nur organisatorischen Konstrukt, das wenig organischen Bezug zur Bevölkerung hat. Eine Verschmelzung beider Begriffe als rationales wie emotionales Identifikationsobjekt, wie beispielsweise in Frankreich (wo sich der ‚citoyen‘ zu seiner ‚patrie‘ bekennt), ist hier erheblich eingeschränkt. Die Bürger werden weitgehend als Volk interpretiert, was sicher historisch bedingt ist. Besonders der Volksbegriff kennzeichnet auch die Handschriften, bei der vorgeblich älteren Grünberger noch ausgeprägter als bei der Königinhofer. Gerade wenn sie die Unveränderbarkeit und Unvergänglichkeit eines vermeintlich originären tschechischen Volkscharakters postulieren, spekulieren sie implizit mit einer Wandelbarkeit dieses Volkes, dessen Fundamente eben nicht so fest gefügt sind, dass sie sich nicht immer wieder neu ausrichten und konsolidieren müssten – wozu gerade wieder die Rückbestätigung durch diese Schriften notwendig erscheint. Konkret bedeutet dies, dass der angeblich unwandelbare Volkscharakter situativ einer Orientierung bedarf, ein Widerspruch in sich. Die Definition von Nation als Volk(sgemeinschaft) ist, nach den entsprechenden Gleichsetzungen in der NS-Zeit, in Deutschland fragwürdig. Trotzdem ist ein
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potenzieller Konnex andernorts überprüfbar. Das tschechische Nationskonzept des 19. Jahrhunderts zielte, bei allen Verweisen auf die slawische Wechselseitigkeit, auch seitens der slowakischen Erwecker, doch eher auf eine böhmisch-mährische Gemeinschaft, ungeachtet spürbarer Reserven aus Mähren. Darüber hinaus wurden die Slowaken, das am nächsten stehende slawische Brudervolk, als kulturell weniger entwickelt betrachtet und manchmal auch verachtet. Diese Einstellung manifestierte sich noch in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts anlässlich der Trennungsbestrebungen. Im Jahre 1918 musste nun der Tschechoslowakismus, also das Konstrukt einer tschechoslowakischen Nation begründet und durch den verfassungsrechtlichen Eintrag als Staatsnation abgesichert werden. Diese Nation besaß aber nur einen minimalen gemeinsamen Erinnerungs- und Traditionsvorrat, was wegen der ungefähr tausendjährigen Trennung wenig verwunderlich war. Wenn – siehe Holý – die Staaten kommen und gehen, während das Heimatland Kontinuität bewahrt, so war dieser gemeinsame Heimatbegriff entwicklungsbedürftig. Das Problem lässt sich mit dem Italiens bei der Erringung der Unabhängigkeit und territorialen Einigung vergleichen: „We have made Italy, now we must make Italians.“ (Hobsbawm/Ranger 1983: 267) Tatsächlich blieb die Kontinuität der Tschechoslowakei bis Ende 1992 erhalten, unterbrochen durch den slowakischen Satellitenstaat des Dritten Reichs und gelockert nach 1989 durch eine Föderalisierung des Landes, die ex post als Einleitung der Trennung erscheint. Zwischen 1948 und 1989 konnte man theoretisch wegen der internationalistischen Ideologie nur geringe nationale Bestrebungen erwarten. Prinzipiell konnten sie nur da zur Geltung kommen, wo sie die internationalen Bindungen und die Macht der regierenden Partei nicht in Frage stellten. De facto verzichtete auch der reale Sozialismus nicht auf die Integration nationaler Gefühle und Ressentiments, sofern sie sich ausnutzen ließen und zur Stabilisierung der Herrschaft beitrugen: „Die kommunistischen Regime trugen damit wesentlich zur Überlieferung der ostmitteleuropäischen Tradition des antidemokratischen Nationalismus bei.“ (Weiss/Reinprecht 1998: 34) In der Tat fehlte ein zivilgesellschaftliches Korrektiv, das auf Widersprüche zwischen Ideologie und Praxis hätte hinweisen können. In der sozialistischen Tschechoslowakei sei die Benutzung nationaler Parolen Hand in Hand gegangen mit dem offiziell proklamierten Internationalismus, befindet auch Holý (2001: 14). Das Regime wollte offenbar nicht auf die Unterstützung national gesinnter Kreise verzichten, konnte sich zudem im Umfeld bestätigt fühlen, denn Nationalkommunisten regierten auch in den anderen Ländern des Warschauer Paktes und des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe. Sie konnten zudem nationale Ideen nutzen, um den eigenen Zentralismus zu rechtfertigen und regionalen Ambitionen vorzubeugen.
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Diese wurden erst wieder nach 1989 virulent, als sich in Ländern wie Jugoslawien, aber auch der Tschechoslowakei ein Nationalismus der Regionen manifestierte, der eine Anzahl neuer Staaten zeitigte. Der hohe Stellenwert nationaler Ideen und Emotionen ist wahlweise als Resultat eines Vakuums – nach dem Zusammenbruch kommunistischer Ideologie und Restriktionen – oder eines ‚explodierenden Dampfkessels‘ – nachdem der Wegfall politischen Drucks emotionales Chaos ausgelöst habe – interpretiert worden. Hierbei wird übersehen, dass nationale Ideen und Nationalismus latent vorhanden waren. Holý weist darauf hin, dass auch die ‚Samtene Revolution‘ von 1989 einen nationalen Aspekt beinhaltete: že odpor vůči komunistickému systému se uskutečňoval ve jmeno národa a byl konstruován jako národní odboj proti tomu, co bylo obecně chápáno jako útisk ze strany cizí mocnosti. [dass der Widerstand gegen das kommunistische System im Namen der Nation geführt wurde und als nationaler Kampf gegen das konzipiert war, was allgemein als Unterdrückung durch eine fremde Macht begriffen wurde.] (Holý 2001:16)
Die schon erwähnte Bereitschaft zur Integration in ein europäisches Bündnis, dem eine Tendenz zur Auflösung der Nationalstaaten zugeschrieben wurde, war nicht geeignet, nationale Emotionen zu beruhigen. Problematisch war darüber hinaus eine Diskrepanz zwischen staatlicher Selbst- und Fremdwahrnehmung. Während sich die Tschechoslowakei resp. die Tschechische Republik als grundsätzlich dem Westen zugehörig sah – vor allem im Kontext von Schrift und Religion –, musste man erkennen, dass der Westen das Land eher dem Osten zurechnete. Dieser Unterschied manifestiert sich in den unterschiedlichen Zugehörigkeitskategorien wie Mittel- oder Zentraleuropa, OstMittel-Europa oder Osteuropa, unter denen die Tschechoslowakei eingeordnet wurde.7 Diese Zuordnungen wurden und werden teilweise auch als kulturelle Kränkungen interpretiert, die die eigene kulturelle Tradition ignorieren und leugnen; eine Situation, die an das 19. Jahrhundert erinnern könnte, als man sich ebenfalls genötigt sah, sich der eigenen Tradition zu vergewissern. Verstärkt wurde das Gefühl durch eine empfundene Bedrohung der eigenen Sprache durch fremde Entlehnungen, in diesem Falle weniger Germanismen als Anglizismen. Mit Ausnahme von Fachsprache und Jugendidiomen fand diese sprachliche Überfremdung in der Tat nicht statt. Auffallend ist aber 7 Zu dieser Debatte auch konkret: Dingsdale (2002: 252). Der Autor stellt außerdem anhand einer fiktiven Karte, die aus verschiedenen Theorien resultiert, ein Europa im Jahr 2020 vor, in dem Tschechien Teil einer Zentraleuropäischen Union ist, Deutschland zu den Vereinigten Staaten von Westeuropa zählt und insgesamt fünf weitere europäische Zonen bestehen.
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eine verstärkte Mischung zwischen Umgangs- und Standardsprache in weiten Teilen der Bevölkerung, eine „wachsende Indifferenz zwischen Werten und Normen“ (Bergmann/Kratochvil 2002: 89) der Sprache, und damit eine Entwicklung, die Sprachpuristen als Alarmzeichen werten könnten.
2.2. Sprache und Kultur Der Anspruch, eine Kulturnation zu bilden, gehörte zu den Grundvoraussetzungen tschechischer Staatlichkeit. Diesen hatte schon die kommunistische Führung ausgenützt, indem sie die spürbaren Versorgungsdefizite in Gegensatz zu einem Westen stellte, in dem zwar alle materiellen Bedürfnisse befriedigt, die humanen und kulturellen aber ignoriert würden (Pynsent 1994: 187). Dieser postulierte Nationsbegriff ignorierte jede Form des Staatpatriotismus und persönlicher Verantwortung, wirkte also faktisch entpolitisierend. Weiss und Reinprecht (1998: 35, Fußnote 21) sehen diese Form der Konfliktbewältigung – oder eher Einebnung von Konflikten – auch nach 1989 noch als gängige Praxis. Sprache ist einer der gängigsten Parameter, mit Hilfe derer sich Kulturnationen definieren; sie wird als Abbild der Identität gesehen. Gerade im 19. Jahrhundert entstanden zahlreiche Abhandlungen, die Sprache mit Nationalcharakter verknüpften und sie damit als ebenso unvergänglich und unverwechselbar einschätzten, wie es den nationalen Eigenheiten unterstellt wurde. Diese Verknüpfung legitimierte in der Folge eine Reihe sprachpuristischer Aktivitäten. Eine ‚elastische Stabilität‘, wie sie jeder Standardsprache bis zu einem gewissen Grade inhärent ist, war für die Verfechter einer Sprachnation auch im 20. Jahrhundert weder Faktum noch Postulat, sie strebten eine höchstmögliche Homogenität an. Unter solchen Voraussetzungen war oder ist Sprache nicht Verständigungsmittel, sondern Bekenntnis. Gardt zieht eine Trennlinie zwischen Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus, wobei bei beiden Formen Sprache aus ihren sozialen Zusammenhängen gelöst und mit dem Nationsbegriff verknüpft werde; sehe man die eigene Sprache als überlegen an, sei die Grenze zum Nationalismus überschritten (Gardt 2000). Man wird die häufig hervorgehobene angebliche Musikalität der tschechischen Sprache kaum als Überlegenheitskriterium bezeichnen können, und wenn, dann nur in einem relativ eingeschränkten Bereich. Dass Sprache überhaupt in einem derartigen Kontext mit einem Nationalcharakter verknüpft wird, zeigt ihren Stellenwert für die nationale Gemeinschaft. Wie die meisten integrativen Leistungen hat(te) Sprache
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auch hier eine abgrenzende und kulturstiftende Funktion. Den in Deutschland in regelmäßigen Abständen in die Debatte geworfenen Begriff der ‚Leitkultur‘ kann man im Tschechischen aber nicht entdecken. Das mag auch daran liegen, dass der Anteil an Ausländern, vor allem solchen, bei denen Integrationsprobleme vermutet werden, dort erheblich geringer ist. Trotzdem werden fremde Einflüsse auch auf sprachlichem Gebiet als bedrängend empfunden. Das liegt an den offenen Grenzen, vor allem weil sie durchlässig werden für das, was Dingsdale (2002: 171) als „competing cultural influences“ bezeichnet, also nicht mehr so sehr die Konfrontation mit einer einzigen unterschiedlichen Kultur, wie noch im 19. Jahrhundert, sondern mit einer Vielzahl unterschiedlicher Strömungen und kultureller Experimente, die durch zahlreiche Medien weiterverbreitet und in ihrer Wirkung potenziert werden. Nimmt man die Eintönigkeit in puncto Information der kommunistischen Periode als Kontrast, so musste die übergangslose Öffnung nach außen teils verwirrend, teils schockierend wirken, ungeachtet dessen, dass ein Teil der Bevölkerung sie als Chance einstufte. Bei Ersteren war der Bedarf an Eindeutigkeit spürbar, gerade damit auch nach einem gemeinsamen kulturellen Bewusstsein. Die Gewissheit, einer gemeinsamen und verbindenden Kultur anzugehören und durch sie geprägt zu werden, war nach 1989 ausgebildet, wie Holý (2001: 18, 81) im Vergleich zu den Briten feststellt und zugleich darauf hinweist, dass Kultur hier als Hochkultur verstanden wurde. In der sich neu formierenden Welt sah man für sich durchaus eine Funktion, eine Aufgabe, nämlich als Brücke zu fungieren zwischen den Kulturen im Westen und im Osten. Pynsent (1994: 180) weist allerdings mit Recht darauf hin, dass eine Brücke zwar verbindend wirke, dass sie aber keinem der beiden Ansatzpunkte angehöre und gewissermaßen „metaphysisches Niemandsland“ sei. Es erfordert mithin erhebliches Vertrauen in die eigenen kulturellen Wurzeln, diese Vermittlerposition durchzuhalten.
3. Die Rolle der Handschriften als Instrumente kultureller Verortung?
Welche Rolle Kunstschöpfungen – unabhängig von ihrer Authentizität – im nationalen Diskurs spielen können, ist je nach zeitlichem Kontext und äu-
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ßeren Umständen verschieden. Generell bestehen zwei Möglichkeiten, die sich überschneiden können: Zum einen können sie fundierend wirken, zum anderen motorisch, wobei die Vergewisserung im letzteren Fall häufig mit einem Aufruf zum Handeln einhergeht. Nimmt man die RKZ einfach als ein Stück Literatur, so kann man ihre Funktionsweise anhand des Selbstbeschreibungsmodells von Lachmann einordnen. Dieses Modell bestimmt das Verhältnis der eigenen Kultur zur äußeren, wobei das kulturelle Selbstverständnis als natürlich oder selbstregulierend angenommen wird. Ferner wird auf die Frage der Autorität überlieferter Texte auf das Zeichenverständnis und den Textbegriff als funktional oder textuell verwiesen (Zorić 2005: 88). Diese angedeuteten Kriterien sollen die Strategie des (hier vermeintlichen) Verfassers kenntlich machen. Dass die Texte und ihre offizielle Interpreta tion, wie sie mit Abstrichen auch heute noch vertreten wird – Abstriche dort, wo die Realitätsferne zu deutlich wird –, eine Integration des Fremden nicht beabsichtigen, sondern die integrative Aktion ausschließlich in der eigenen kulturellen Leistung und in Abgrenzung nach außen sehen, hat der Verlauf der Debatte bewiesen. Die Frage ist nur, inwieweit die Textmerkmale, die Topoi und ihre Ausarbeitung, ihre Semiotizität und ihr Code im 20. Jahrhundert wirklich noch funktionieren konnten und können. Die Frage ist also, ob die Handschriften ihre normative Funktion, die sie zumindest in kultureller Hinsicht besaßen, noch weiter ausüben könnten. Sicher schöpfen sie aus einer narrativen Tradition, die schon vor den Aktionen der Fälscher ihren Bestand hatte. Die Vermischung von Fiktion mit zeitgenössischen ethnisch fundierten Philosophien machte diese wieder aktuell. Dass die Signifikate erfolgreich waren, zeigt ihre Verarbeitung in zahlreichen Werken der bildenden Kunst und der Musik, die heute alle Anerkennung als nationale Kunstschöpfungen genießen. Genau an diesem Punkt, nämlich wenn die fiktiven Gestalten in verschiedenster Bearbeitung ein Eigenleben zu führen beginnen, haben sie sich von ihrem Schöpfungsakt gelöst und benötigen keinen Verweis mehr auf ihre Abstammung. Libuše ist heute eine Gestalt des internationalen Opernrepertoires, nicht mehr eine Urmutter und Fürstin, die einer basisdemokratischen Versammlung vorübergehend präsidierte. Die Codes sind noch vorhanden, aber für die Mehrzahl der Menschen im Lande haben sie sich aus ihrem Kontext gelöst. Die vermeintlich urtschechischen Tugenden haben schon in der Ersten Republik andere, reale (wenn auch manchmal fehlinterpretierte) Vorbilder gefunden. Die Monopolisierung des Staates durch eine Partei innerhalb der kommunistischen Ära konnte noch als fremdbestimmt und damit untschechisch interpretiert werden; die Vorbilder und Strategien einer demokratischen Selbstbestimmung fand man aber eher
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bei den seit langem demokratischen Staaten in der westlichen Hemisphäre. Basisdemokratische Traditionen waren auch nach 1989 wenig geeignet, heterogene Gesellschaften zusammenzuhalten. Die inzwischen verbreitete Unzufriedenheit mit der tschechischen Politik resp. den Politikern führte eher zu Resignation als zum Rekurs auf alte Traditionen, deren Beispielhaftigkeit gerade noch in Zirkeln der Befürworter ihrer Authentizität hochgehalten wurde, tatsächlich aber nur noch nostalgischen Charakter hatte. Als Mittel gegen kulturelle Diversifizierung und die daraus resultierende Verunsicherung, die im Übrigen auch in den Ländern so empfunden wurde, die nie dem kommunistischen Einflussbereich angehört hatten, waren die Handschriften gleichfalls wenig tauglich. Hatten sie im 19. Jahrhundert noch die Entwicklung einer praktisch kaum existierenden Kultur mit angestoßen, so konnten die Texte jetzt nur noch geringe künstlerische oder literarische Inspiration liefern. Diese bezog man nach 1918 eher aus dem Dialog mit anderen Konzeptionen und Auffassungen, ohne deshalb die Sphäre der speziell tschechischen oder slowakischen Kunst zu verlassen. In den vergangenen Jahren hätten die Handschriften theoretisch noch eine Chance haben können. Die Reproduzierbarkeit von Kunst generierte eine verbreitete Sehnsucht nach Authentizität in dieser Sphäre. Die Formel der ‚Entzauberung der Welt‘ war und ist präsent. Taylor (1995) spricht von einer dreifachen Trennung, nämlich im Inneren, untereinander und von der natürlichen Umwelt. Die hier beschriebene Sehnsucht nach dem Natürlichen, Unverfälschten und Ursprünglichen fand aber eher neue Erfüllungsorte bei den indigenen Völkern, als dass sie auf nicht mehr aussagekräftige zweifelhafte Texte zurückgegriffen hätte. Identität ist – das hatten die Fälscher ebenso ignoriert wie die heutigen Verteidiger – nicht etwas Unverwechselbares, einmal für die Ewigkeit Festgelegtes, sondern sie wandelt sich, das gilt auch für die Selbstbeschreibung von Völkern und Nationen. Und wenn Identität künstlich generiert und in die Vergangenheit rückverlagert wird, ist sie derart doppelt zeitgebunden, dass sie nur für die Menschen sprechen und die Menschen ansprechen kann, die Zeitgenossen ihrer Schöpfer sind. Nur in dieser Phase können sich Signifikant und Signifikat wirklich entsprechen. Danach verliert der Text erst seine Deutungsmacht, dann seine Funktion. Dem entspricht die kontinuierlich zurückgegangene Zahl der Verteidiger. Ihr verbissenes Festhalten an der Authentizität ist auch dem Gefühl geschuldet, nur mehr eine verschwindende Minderheit darzustellen. Gerade ihre Versuche, die Tradition der RKZ dadurch am Leben zu halten, dass man möglichst unverändert an ihr festhält, wirken kontraproduktiv, sie gehen damit hinter das zurück, was die Maler und Komponisten des 19. Jahrhunderts geleistet haben, indem sie den Texten eine
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eigene Form gaben und sie damit über die zeitliche Erinnerungsgrenze hinweg verlagerten. „Ihren wahren Sinn gewähren Tradition und Überlieferung nicht im beharrlichen Festhalten am Hergebrachten, sondern darin, daß sie einen erfahrenen und beständigen Partner in dem Gespräch darstellen, das wir sind.“ (Gadamer 1965: 145)
4. Funktion und Einordnung der RKZ im 20. Jahrhundert
Es bleibt die Frage, wie sich die Handschriftenfälschungen einordnen lassen, was von ihnen im 20. Jahrhundert noch bestehen bleibt, und was sie eigentlich für die Verfechter ihrer Authentizität darstellen, was für deren Gegner.
4.1. Der Mythos Es kann als unbestreitbar gelten, dass die Aktivitäten der Fälscher im 19. Jahrhundert alle Züge einer versuchten Mystifizierung ihres Produkts trugen, ebenso dass diese handschriftlichen Objekte nach ihrer ‚Auffindung‘ für weite Kreise der Öffentlichkeit eine solche Funktion ausübten. Die Rezeption ist sicherlich ein Kriterium der Kategorisierung als Mythos, wenn auch nicht das einzige. Unter 1.4. sind bereits einige Wirkungsmechanismen von Mythen aufgezählt worden. Er bedarf in jedem Falle eines korrespondierenden kulturellen und sozialen Umfelds und einer adäquaten Zahl von Anhängern, um ihre Wirkungsmacht zu entfalten, die in der Vergewisserung eben dieser ‚Jünger‘ liegt. Wichtig ist die Verlagerung der Mythenentstehung in die graue Vorzeit, damit einesteils der Initiator jeder Nachfrage entzogen ist und andererseits eine bis in die Gegenwart reichende Kontinuität und damit Zeitlosigkeit postuliert werden kann – jedenfalls dann, wenn der Code oder die Codes noch aktuell genug sind. Man muss daran glauben können. Demnach wäre der Mythos um die Jahrhundertwende keiner mehr gewesen, jedenfalls für die überwiegende Mehrzahl der Einwohner Tschechiens, der Slowakei sowieso, deren Partizipation von Anfang an gering war. Ver-
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suche, einen Mythos zu reanimieren, also etwas in das kollektive Gedächtnis zu überführen, was im individuellen schon längst gelöscht ist, unterliegen bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Nach Kurzke (2007: 20) durchlaufen die Versuche der Remythisierung verschiedene Stadien, das der Nostalgie, in dem man sich eines Verlusts bewusst wird, der Dezision, wobei man sich für das Alte und gegen das Neue entscheidet, dann folgt eine Periode der Ästhetisierung des Alten. Mit Hilfe wissenschaftlicher Belege versucht man, es wieder in der Gegenwart zu verankern. Wird es als Realität wahrgenommen und nostalgisch mit der eigenen Wahrnehmung verknüpft, kann das Wiederhergestellte als Althergebrachtes und als Kontinuität bewertet werden. Während die ersten drei Phasen leicht zu bewältigen sind, kann die wissenschaftliche Beweisführung zum Problem werden. Die Verteidiger, die sich in allen Phasen gerade auf diesen Aspekt konzentrierten und dabei versuchten, neue Erkenntnisse zu verwerten, können nicht übersehen haben, dass gerade der wissenschaftliche Fortschritt Argumente gegen sie bereitstellte. Ihr Fehler bestand darin, an einer konventionellen Mythos-Interpretation festzuhalten. Sie ließen die Bereitschaft vermissen, eine Neuinterpretation zu wagen. Im Prinzip hatte ihnen František Palacký den Weg gewiesen, als er offensichtlich ahistorische Aussagen mit ästhetischen Aspekten zwar nicht rechtfertigte, aber mediatisierte. Dass die Handschriften später beschriebene Palimpseste darstellten, ließ sich auch mit Nachweisversuchen aus der Linguistik nicht negieren. Die Überzeugungskraft der Verteidiger blieb ohne Echo, wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Der Remythisierungsversuch muss damit als gescheitert betrachtet werden.
4.2. Kategorisierung der RKZ Für die überwiegende Mehrzahl der Tschechen sind die Handschriften heute, sofern man sie überhaupt kennt, Fiktion. Die Diskussion dreht sich nur noch darum, welcher literarische Wert ihnen als Werke des 19. Jahrhunderts zuzumessen sei. Die künstlerische Bearbeitung hat sich von ihren Objekten gelöst; Antonín Dvořáks Vertonungen der Königinhofer Handschrift beispielsweise werden als kongenial gerühmt, ohne in mittelalterlichem Kontext gesehen zu werden. Mystifikationsbestrebungen wurde außerdem der Boden entzogen durch literarische Grauzonen, die sich von den Begriffen ‚Original‘, ‚Autor‘ und ‚Authentizität‘ weiter entfernt haben als je zuvor. Was im 19. Jahrhundert
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als Spiel eines eng abgegrenzten Zirkels ‚Eingeweihter‘ der Öffentlichkeit weitgehend verborgen blieb, ist postmoderne Praxis geworden, die parallel zur Mystifikation das Ursprüngliche und Zurechenbare in seiner Bedeutung herabstuft. „Eben deshalb läßt sich eine Art ‚Verwandtschaft‘ zwischen mystifikatorischer Praxis und dekonstruktiver Theorie behaupten, und deshalb ist die postmoderne Begrifflichkeit, die sich vom Autor ebenso entfernt hat wie vom Original, für die Beschreibung der Mystifikation so gewinnbringend.“ (Frank u. a. 2001: 8) Wenn Glaubwürdigkeit nicht mehr das entscheidende Kriterium ist, laufen entsprechende Argumentationsversuche ins Leere. An die Stelle der Überzeugung tritt dann Beliebigkeit. Deshalb kann man die Verteidiger kaum der Lüge bezichtigen, denn Intention des Lügners ist es, ernst genommen zu werden. Kann man die Fälschung selbst noch als lügenhaften Akt darstellen, wenn man ihr Objekt als Aussage interpretiert, so kann man ihre späteren Verfechter von dem Vorwurf freisprechen. In dem Kontext ist unerheblich, ob sie gutgläubig, also weiter von der Existenz eines mittelalterlichen Artefakts überzeugt sind, oder vielleicht doch einen ‚honest fraud‘ beabsichtigen. Die Frage bleibt aber, was diese Werke jetzt sind, da Fiktion, die ja an bestimmte konventionelle Übereinstimmung gebunden ist, ausscheidet. Angebracht wäre wohl am ehesten der Begriff der ‚Illusion‘, die nach Aleida Assmann (1980: 152) dann einsetze, wenn die „Wahrheit der Kunst nicht mehr Sache kollektiver, durch gesellschaftliche Übereinkunft gestützter Verbindlichkeit“ sei, wobei die Plausibilität der Teile über die Wahrhaftigkeit des Ganzen gestellt werde. An die Stelle der Kunst tritt dann eher die Technik des Illusionisten, der das Publikum, wenn nicht überlisten, so doch überreden will. Am Ende stünde dann eine Entwertung der Kunst, in dem Fall der literarischen Fähigkeiten der Fälscher. Sicher haben auch die Kritiker anfangs teilweise gefehlt, ihre Kritiken waren zeitgebunden und mussten partiell revidiert werden. In den Grundzügen konnten sie zur Gewissheit erhärtet werden. Die Emotionalität, mit denen das Thema von beiden Seiten behandelt wurde, hat es den Verteidigern offensichtlich auch erschwert, Fakten zu akzeptieren. Diese Emotionen haben sich jedoch nur auf eine Seite verlagert, während auf der anderen, nämlich der der eigentlich angesprochenen Öffentlichkeit, Desinteresse vorherrscht. Damit fällt auch die Illusion langsam in sich zusammen.
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Institutionalisierte Konfliktlösung: Die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission
1. Einleitung
Eine wichtige Beobachtung der Tagungsreihe „Prozesse Kultureller Integration und Desintegration. Deutsche, Tschechen, Böhmen im 19. und 20. Jahrhundert“ (1. Band zum 19. Jhd.: Höhne/Ohme 2005) war, dass auch nach 1989 in den deutsch-tschechischen Beziehungen „in vielen gesellschaftlich relevanten Bereichen wie Politik und Wirtschaft, Kultur und Medien ein historisch verfestigtes, mehr oder weniger stereotypes Bild vom jeweils ‚Anderen‘ die Interaktion“ beeinflusst. „Sowohl die politisch determinierten Diskurse um die ‚Sudetenpro blematik‘ als auch die ökonomisch determinierten Transformationsdiskurse im Kontext neuer deutsch-tschechischer Kooperationen zeigen eine erstaunliche Stabilität tradierter Wahrnehmungsmuster. Offenkundig existieren kulturspezifische Perzeptionsmuster, die bis heute die Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen prägen“ (Stock/Ziegler 2007: 196). Diese Wahrnehmungsmuster stehen integrativen Prozessen häufig entgegen und können immer wieder zu Konflikten führen, was zahlreiche Beispiele in diesem Tagungsband belegen. Eine Institution, die um die Lösung dieser Konflikte bemüht ist, ist die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission (im Weiteren: Historikerkommission oder Kommission). In den letzten Jahren hat die Kommission eine Vielzahl von Ergebnissen ‚produziert‘, die einen wesentlichen Beitrag zur Konfliktlösung zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken geleistet haben. Weitgehend wissenschaftlich unbeleuchtet ist allerdings die Frage, wie es zu diesen Ergebnissen gekommen ist. Neben einigen allgemeinen Eigendarstellungen (Lemberg 1998a; Hoensch 1999; Křen 1999; Lemberg 1999; Biman 2001) war die Arbeitsweise der Kommission bisher nur Thema verschiedener Presseartikel. So wird sie beispielsweise in einem Zeit-Artikel aus dem
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Jahr 1996 einerseits als „Werkstatt der Verständigung“ und gleichzeitig auch als „Schlachtfeld der Nationalismen“ beschrieben (Kleine-Brockhoff 1996), eine Interpretation, die sich jedoch aufgrund ihrer unaufgelösten Widersprüchlichkeit als polarisierend und damit auch wenig befriedigend erwies. Ziel dieses Beitrages ist daher, die Arbeitsweise der Kommission aus einer neutralen wissenschaftlichen Perspektive zu beschreiben. Die Fragen, die es zu beantworten gilt, lauten: Wie werden innerhalb der Kommission wissenschaftliche Ergebnisse produzierbar, die als Instrumente der Konfliktlösung wirksam werden können? Welche Rahmenbedingungen sind hierfür notwendig? Welche kommunikativen Prozesse führen zu fruchtbaren Ergebnissen? Kapitel 1 gibt einen kurzen Problemaufriss, der die historischen Problemlagen und die damit verbundene Herausforderung wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit einer gemeinsam geteilten und konfliktbeladenen Vergangenheit aufzeigt. Danach wird die kultur- und kommunikationswissenschaftliche Methodenbasis vorgestellt, anhand derer die Zusammenarbeit in der Kommission untersucht werden soll. Kapitel 2 beschreibt die spezifischen Rahmenbedingungen der Historikerkommission. Anschließend werden die Ergebnisse der Kommission als Lösungen einer heterogenen wissenschaftlichen Institution analysiert. Kapitel 3 stellt in Form von Hypothesen erste Ergebnisse der Untersuchung vor. Ein Fazit fasst die Ergebnisse kurz zusammen und gibt einen Ausblick auf weitere Forschungsfragen.
2. Lösung historischer Konflikte als wissenschaftliche Herausforderung
Die Ursachen für Konflikte zwischen Nationen sind vielschichtig. Zumeist handelt es sich um konkretisierbare Interessen und materielle Ressourcen, wie z. B. den Zugang zu Wasser, Energie, Infrastruktur und Information (Hubel 2005; Schlee 2006). Schlee argumentiert im Gegensatz zur populären These einer Rückführbarkeit von Konflikten auf Kultur- und Religionsunterschiede (Huntington 1997), dass diese oft nur als Mittel zur Legitimation und Identitätsstiftung herangezogen werden. Eine Untermauerung erhalten solche Interpretationen häufig durch eine einseitige Auslegung gemeinsamer Geschichte. Der Rückgriff auf vermeintliche historische Fakten eröffnet dabei
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einen unermesslichen Fundus für die Konstruktion von Konflikten zwischen Nationen und Völkern. Im Folgenden werden exemplarisch Konflikte beleuchtet, die das deutsch-tschechische Verhältnis auch heute noch latent belasten. Anschließend werden Möglichkeiten einer Bearbeitung solcher Konflikte in Form von Kommissionen beleuchtet sowie Methoden zu ihrer wissenschaftlichen Untersuchung eruiert.
2.1. Deutsch-tschechische historisierte Konflikte Die aktuellen deutsch-tschechischen Beziehungen gestalten sich häufig als äußerst komplex und vielschichtig. Die Ursachen hierfür liegen u. a. in dem „belasteten historischen Erbe“ (Wallat 2006: 79) aus dem 19. und 20. Jahrhundert, bedingt durch die geographische Nachbarschaft in Mitteleuropa mit langen gemeinsamen Grenzen und einem gemeinsamen Schicksal, das häufig durch Krieg, Flucht und Vertreibungen bestimmt war. Křen prägte zur Beschreibung der Beziehungen den Topos „Konfliktgemeinschaft“1 (Křen/Heumos 2000): Die tschechisch-deutsche Nachbarschaft und Durchmischung gehört zu den historisch ältesten Beziehungsgeflechten im mitteleuropäischen Raum. Werfel sah in seiner böhmischen Heimat mit ihrer tschechisch-deutsch-jüdischen Bevölkerung ein ‚Land des Blutes, das sich dreifach durchdringt und das dreifach vergossen wird in unaufhörlichen Opfe-
1 Dass gemeinsame Geschichte sowohl trennend als auch verbindend wirkt, zeigt sich nicht nur in den deutsch-tschechischen Beziehungen. Besonders deutlich wird dies mit einem vergleichenden Blick auf die 4 Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn: „Polen und Tschechien verstehen sich zu Recht als Opfer deutscher Aggression im Zweiten Weltkrieg. Während jedoch die Vergangenheitsdebatten zu einer Intensivierung der deutsch-polnischen Beziehungen beitrugen, fiel die Mobilisierung im Falle der deutsch-tschechischen Beziehungen weit schwächer aus. Ganz anders liegt der Fall Ungarn, dessen historische Erfahrung mit Deutschland nicht in dem Maße von Konflikten geprägt ist wie die von Polen und Tschechien. Umgekehrt genießt Ungarn in Deutschland ein positives Image, insbesondere seit sich 1989 die damalige Regierung entschloss, die Grenze für DDR-Flüchtlinge zu öffnen. Da die beiden Staaten keine gemeinsame Grenze haben, entfällt – wie auch im Falle der Slowakei – eine Quelle für mögliche Konflikte“ (Wallat 2006: 79). Bilčík und Buzalka (2006: 65) sprechen daher von einer deutsch-polnischen „Interessengemeinschaft“, von einer deutsch-ungarischen „Gefühlsgemeinschaft“, von einer deutsch-tschechischen „Konfliktgemeinschaft“ und von einem „Fehlen einer Gemeinschaft“ in den deutsch-slowakischen Beziehungen.
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rungen seit tausend Jahren‘. Zumindest an ihrer Ostgrenze sind die Deutschen mit keiner anderen Nation so eng verbunden wie mit den Tschechen, und der tschechische Dichter und Germanist Otakar Fischer hat denn auch von zwei ‚miteinander verwachsenen und ineinander verbissenen‘ Nationen gesprochen. (Křen/Heumos 2000: 14)
Es stellt sich die Frage, ob das Verhältnis von Deutschen und Tschechen in der Vergangenheit mehr von Konflikt als von Gemeinschaft geprägt war (Kural 2001) und ob es zulässig ist, die gemeinsame Geschichte nur auf politische „Krisen und Konflikte“ zu beschränken. Pešek (2007: 9) vertritt hier zu Recht die Meinung, dass eine Konzentration nur auf Konflikte nicht nur „falsch“ sondern auch „manipulativ“ wäre. Křen konstatiert in diesem Zusammenhang ebenso eine unausgewogene Geschichtsdarstellung: Was die Entwicklungstendenzen der tschechisch-deutschen Beziehungen und der Nationalitätenverhältnisse Mitteleuropas überhaupt betrifft, herrschen in der reichen bisherigen Literatur dunklere und düstere Perspektiven vor, eine Art der Darstellung, die das Gewicht auf eine mehr oder weniger geradlinig verlaufende Entwicklung zu immer tieferen Widersprüchen und Gegensätzen legt, die schließlich konsequenterweise in die Katastrophe einmündete, in die nationalsozialistische ‚Endlösung‘, die Bevölkerungstransfers nach dem Zweiten Weltkrieg und die Teilung Deutschlands. Dadurch werden a priori die positiven Momente der tschechisch-deutschen Geschichte verschwiegen und entwertet: Der große Raum Mitteleuropas und seine Strukturen gehörte unzweifelhaft zu den Stimuli der deutschen ‚Wunder‘, wie andererseits nicht zu bestreiten ist, dass sich die Nähe zum industriellen Deutschland mit seinem Know-how positiv in der Entwicklung seiner Nachbarvölker niederschlug. Zumindest zwischen dem raschen Aufstieg der Tschechen am Ende des 19. wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihrem engen Zusammenleben mit den Deutschen bestand ein gewisser Zusammenhang. (Křen/Heumos 2000: 17)
Vor allem die Problematik um das Thema Aussiedlung/Vertreibung/Umsiedlung/Transfer am Ende des Zweiten Weltkrieges und in der Folgezeit gehört zu den dunklen Themen2 in den deutsch-tschechischen Beziehungen, die selbst schon Geschichte haben (Lemberg 2004). Hiermit verbunden sind Reizbegriffe wie der Name des damaligen Staatspräsidenten Edvard Beneš, die Opferzahlen von Vertreibung/Aussiedlung und selbst die „richtige“ Bezeichnung von Vertreibung/Aussiedlung. Gerade die äußerst vielfältigen und immer vehementer reklamierten ‚Opferzahlkonkurrenzen‘ zeigen, dass Vergangenheitsbewältigung leicht zu einer innenpolitischen wie außenpolitischen Arena wird, in der die Reklamation des historischen Unrechts sowie des daraus resultierenden kollektiven Leides ge2 Einen umfassenden, ständig aktualisierten Überblick über die Thematik gibt die Arbeitsbibliographie zur Geschichte von Vertreibung und Aussiedlung der Deutschen aus den böhmischen Ländern bzw. der Tschechoslowakei von Robert Luft (2007) auf der Homepage des Collegium Carolinum mit aktuell 190 Titeln.
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wichtige Argumente für die Durchsetzung von Gegenwartsinteressen liefert (Welzer 2005: 9). So kritisierte beispielsweise die polnische Regierung 2007 die bevölkerungsanteilige nationale Sitzverteilung im Europäischen Parlament und forderte, dass der polnische Anteil größer sein müsse, da der polnischen Bevölkerung die Opfer des Zweiten Weltkrieges fehlten (AP 2007). Ähnliche Argumentationszüge lassen sich auch im deutsch-tschechischen Verhältnis identifizieren, wie z. B. die politische und mediale Auseinandersetzung um die „Beneš-Dekrete“ (Timmermann/Voráček/Kipke 2005) in Verbindung mit dem tschechischen EU-Beitritt (Salzborn 2003). Es wäre dabei eine vorschnelle Vereinfachung, diese Argumentationsmuster ausschließlich national orientierten Kräften am rechten und linken politischen Rand zuzuschreiben (exemplarisch eine österreichische Perspektive: Mayer 2004). Vielmehr lässt sich des Öfteren eine gesellschafts- und parteiübergreifende Einheit in Fragen der nationalen Selbstbestimmung beobachten (Schulz 2006: 50). Auch wenn sich nach dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik 2004 die bilateralen Beziehungen wesentlich verbessert haben und der tschechische Außenminister Vondra gar von den deutsch-tschechischen Beziehungen als „Modell der Versöhnung zwischen europäischen Nationen“ (Brill 2006) spricht, stellt dies noch keine Garantie dafür dar, dass sich politische Akteure nicht wieder auf alte Verhaltensweisen zurückbesinnen. Gerade in den deutsch-polnischen Beziehungen konnte in den vergangenen Jahren beobachtet werden, wie das bilaterale Verhältnis auf Regierungsebene empfindlich durch historische Themen rund um die Fragen von Opfer, Täter, Schuld und Verantwortung gestört wurde (Lang 2004). Den genannten Beispielen ist gemeinsam, dass sie sich zwar an aktuellen Meinungsverschiedenheiten entzünden, ihre Ursprünge jedoch in Konflikten der Vergangenheit liegen, die zumindest auf einer Seite zu gravierenden Verlusten von Menschenleben oder Besitzstand geführt haben und nie ausgeglichen werden konnten. Diese ausgesprochenen oder unausgesprochenen Verluste wirken in der Beziehung zwischen den Nationalstaaten wie Altlasten und verleihen ihr eine schwer kontrollierbare Eigendynamik: Jede Kommunikation zwischen den Beteiligten muss sich implizit immer wieder auf den zurückliegenden Konflikt beziehen, der auf diese Weise in seiner historischen Unlösbarkeit perpetuiert wird und aktuelle Beziehungen latent belastet. Man kann hier von ‚historisierten Konflikten‘ sprechen.
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2.2. Wissenschaftliche Lösungen Die Herausforderung bei der Lösung ‚historisierter Konflikte‘ im Sinne einer wissenschaftlichen Aufarbeitung liegt, wie die Fragestellungen dieser Tagung illustrieren, in der Gleichzeitigkeit integrativer und desintegrativer Prozesse: Erstens, wie verliefen Prozesse der Konstitution kulturell sprachlicher Identifizierung in den böhmischen Ländern? Zweitens, wie veränderten sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts Selbst- und Fremdwahrnehmungskategorisierungen? Welche Kontinuität besitzen die historisch-ethnischen Stereotype und Klischees? Welche Ausformungen nationaler Divergenz findet man in den unterschiedlichen kulturellen Konzepten? Und drittens, welche Ansätze zur Neutralisierung nationalkulturellen Denkens, Fühlens und Wahrnehmens begleiteten den Prozess der ‚ethnischen Antagonialisierung, an dessen Ende (1938-1945) die völlige Desintegration stand‘? (Stock/Ziegler 2007: 196f.)
Sowohl die vorhergehenden Beiträge dieses Tagungsbandes wie auch die Beiträge des ersten Tagungsbandes (Höhne/Ohme 2005) geben hierfür eine Vielzahl von Belegen. Positive Beispiele, wie das oft zitierte deutsch-französische (exemplarisch hierfür die Rede des deutschen Außenministers zur Wiedereröffnung des deutschen Goethe-Institutes in Paris: Steinmeier 2007), zeigen, dass ‚historisierte Konflikte‘ zwischen zwei Nationalstaaten lösbar sind und ein Klima zwischenstaatlicher Zusammenarbeit erreichbar scheint, das Zukunftsperspektiven ermöglicht, ohne Referenz auf die Konflikte der Vergangenheit zu nehmen (Hilz 2007). Diese positive Entwicklung spiegelt sich in der Bewertung Haslingers (2007: 2) wieder, der auf dem Feld der Erinnerungsforschung – also in den Bereichen der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik – das deutsch-französische Beispiel als führend ansieht. Das genannte positive Beispiel zeigt jedoch auch, dass es bei einer Lösung nicht darum gehen kann, unter dem Deckmantel der Versöhnung, im Sinne von „Versöhnungskitsch“, Probleme auszuklammern oder in Worthülsen zu verklausulieren (Bachmann 1994). Inwieweit sich beispielsweise im Rahmen einer „Rekonstruktion der deutsch-polnischen Beziehungen“ die politische Phase von 2003 bis 2007 als „notwendige Desensibilisierungsphase“ (Lang 2004: 6) erweisen wird, bleibt allerdings abzuwarten. Letztlich zeigt auch gerade das durch den Regierungsantritt des neuen polnischen Regierungschef Tusk zu Ende gehende schwierige Kapitel in den deutsch-polnischen Beziehungen, dass Forderungen nach einem „Schlussstrich“ (zur Diskussion siehe Schwan 1997) oder nach einem „Doppelpunkt hinter der Geschichte“ (Raue 2001), wie der damals amtierende tschechische Außenminister Josef Zieleniec die deutsch-tschechische
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Erklärung charakterisierte, ‚historisierte Konflikte‘ nicht lösen, sondern im virulenten Zustand verharren lassen. Als Lehre aus den jüngsten Beispielen bleibt zu ziehen, dass in bilateralen Beziehungen Formen gefunden oder wiedergefunden werden müssen, die Lösungen nicht ‚für‘ die Geschichte, sondern ‚mit‘ der Geschichte ermöglichen. Křen zitiert zur Zukunft der deutsch-tschechischen Beziehungen des Öfteren den tschechischen Politiker Josef Kaizl (1895): „Wir müssen uns nicht lieben, es ist aber notwendig, dass […] wir uns vertragen“ (Kaizl 1901: 350), ein Anspruch, der, wie die gemeinsame Geschichte zeigt, nicht leicht zu verwirklichen ist. Die zentrale Frage lautet dann nicht ob, sondern wie lassen sich ‚historisierte Konflikte‘ lösen? Der Wissenschaft, vor allem den Historikern, kann in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle bei der Lösung ‚historisierter Konflikte‘ zukommen, wenn es ihnen trotz politischer und gesellschaftlicher Einflussnahme gelingt, wissenschaftlich „robuste Ergebnisse“3 zu erarbeiten (Star 2004: 60). Die besondere Herausforderung liegt dabei in dem systematischen Spannungsfeld zwischen nationaler Zugehörigkeit und wissenschaftlicher Objektivität. Gerade – aber nicht ausschließlich – die sich entwickelnden Historiographien in Mittel- und Osteuropa brachten in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von wissenschaftlichen Beiträgen hervor, die „auf Erinnerung als Kategorie Bezug nehmen“ und dabei auf eine „(Neu-)Verfertigung und Popularisierung von Meistererzählungen4 mit meist nationalem Geltungsanspruch“ (Haslinger 2007: 4) abzielen. In diesem Zusammenhang ist das besondere Verhältnis der Geschichtswissenschaft und Geschichtswissenschaftler für die Entwicklung nationaler Geschichtsinterpretationen selbst zu hinterfragen, vor allem dann, wenn die Gefahr besteht, dass „Geschichte als Waffe“5 eingesetzt wird: 3 „Robuste Ergebnisse sind Komplexe von Handlungen, die jede für sich allein genommen nicht als gültig oder zuverlässig standhalten würden, gemeinsam jedoch die Welt für eine Reihe von Zwecken hinreichend gut beschreiben und handhaben. Die Robustheit eines Ergebnisses oder Ansatzes wird durch die Veränderung einzelner Elemente nicht beeinträchtigt. Sie besteht aus voneinander abhängigen Teilen. In diesem Sinne robuste Theorien sind charakterisiert durch historische Kontinuität und durch eine ausreichende Zahl politischer Verbündeter, um ihr Überleben zu garantieren“ (Star 2004: 60). 4 Als Meistererzählung bezeichnet die Geschichtswissenschaft historische Großdeutungen, die für eine bestimmte Zeit oder eine bestimmte historische Erzählperspektive leitend werden. Eine genaue Begriffsbestimmung findet sich bei Jarausch/Sabrow (2002). 5 ���������������������������������������������������������������������������������� Die Historikerkommission weist in der Stellungnahme „Deutsch-Tschechische Historikerkommission gegen Verkürzung der deutsch-tschechischen Beziehungen auf ‚BenešDekrete‘“ aus dem Jahr 2002 darauf hin, dass „Geschichte [...] keine Waffe [ist]“ (Historikerkommission 2002).
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Fachwissenschaftliche Interventionen stoßen bei der politisch beliebten Instrumentalisierung von Geschichte schnell an Grenzen. Häufig hat sich auch die Fachwissenschaft selbst für politische Instrumentalisierung einspannen lassen, z. B. im Hinblick auf die Kriegsschulddebatte in der Weimarer Republik. In allen kommunistischen Staaten hatte Geschichte stets eine wichtige Legitimationsfunktion und die Wissenschaft sollte dafür die Basis liefern. Ein erheblicher Teil der deutschen ‚Ostforscher‘ akzeptierte − aus Überzeugung oder Opportunismus − die Untermauerung der nationalsozialistischen Expansion durch historische Argumente. Ein großer Teil der polnischen Westforschung − um ein weiteres Beispiel zu geben − rechtfertigte nach 1945 den Besitz der neuen Westgebiete mit der unsinnigen These von der ‚Rückkehr in die urpolnischen Gebiete‘. Historiker haben also oft eine politische gewünschte Geschichtspolitik bedient. (Kleßmann 2005: 3)
Auch wenn nach 1989 „allerorten die Einsicht gewachsen [ist], dass [die] Aufgabe der Historiker nicht primär darin“ besteht, „historische Argumente für den Kampf ‚ihrer Nation‘ in der Auseinandersetzung mit anderen Nationalstaaten bereitzustellen“ (Cornelißen 2007: 325f.), bleibt die Darstellung einer gemeinsamen Geschichte auch weiterhin schwierig. Eine Ursache hierfür liegt auch im Selbstverständnis von Historikern. Professionelle Historiker beanspruchen nach Kleßmann (2005: 1) − „trotz aller Subjektivität von Erkenntnisinteressen − auf Grund der Kenntnis umfangreicherer Quellen, die zur Verfügung stehen, höhere Objektivität i. S. einer umfassenderen Sicht auf Zusammenhänge“. Kleßmann verweist aber zugleich auch auf eine wichtige Einschränkung, in dem er die Zeithistoriker selbst als Zeitzeugen betrachtet, die, genauso wie die jeweils „mitlebenden Zeitgenossen [...] spezifischen Prägungen, Wertmaßstäben, Zeitströmungen, Moden und Vorlieben oder auch Vorurteilen unterworfen sind“. Křen weist in der Einleitung zu seinem Buch Konfliktgemeinschaft in Anlehnung an Robert A. Kann (1980) ebenfalls auf diese besondere Herausforderung von Historikern hin: Dass gerade bei der Beschäftigung mit diesem Thema [gemeint ist die von ihm beschriebene Konfliktgemeinschaft] es illusorisch ist, dass man als Wissenschaftler keine persönlichen Wertmaßstäbe anlegt, die sich schon allein durch die nationale Herkunft ergeben. Diese unmittelbare Verankerung bedeutet aber auch, dass tschechische und deutsche Autoren eine „intime Kenntnis des Milieus“ haben: „Sie sehen besser, was sich hinter den Ereignissen und Dokumenten verbirgt. Um diesen Vorteil nutzen zu können, bedarf es jedoch des ständigen Bemühens um Objektivität und historische Gerechtigkeit, einer verständnisbereiten und empfindsamen Einstellung zu den Erfahrungen und Gedanken der anderen Seite und einer kritischen Betrachtung der eigenen nationalen Stereotype und Vorurteile. (Křen/Heumos 2000)
Als eine vielversprechende Form zur wissenschaftlichen Lösung historisierter Konflikte hat sich daher in der Vergangenheit die Einsetzung einer internationalen wissenschaftlichen Kommission (Cattaruzza/Sacha 2007) erwiesen. Die Erkenntnis, dass gerade Themen wie z. B. die Vertreibung/Aussiedlung
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nicht nur nationalgeschichtlich behandelt werden können, verlangt nach „einer gemeinsamen historiographischen Anstrengung“, „und zwar nicht aus Gründen der politischen Korrektheit, weil wir Euro-Speech machen oder korrekte Europäer sein wollen, sondern weil es sich aus der Sache selbst ergibt“ (Schlögel 2004). Internationale historische Kommissionen lassen sich in drei Ausprägungsformen einteilen: Während „Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ vor allem in Südamerika und im Besonderen in Südafrika6 zum Einsatz kommen, um einen Dialog zwischen verfeindeten Volksgruppen auch innerhalb eines Staates zu ermöglichen, beschäftigen sich Schulbuchkommissionen mit der Frage, welche Geschichte, und damit auch die Geschichte von Nachbarstaaten, Schüler aus Schulbüchern lernen sollen. Hier ist vor allem die deutschpolnische Schulbuchkommission zu erwähnen.7 Historikerkommissionen setzen einen Schritt davor an: Sie suchen nach Möglichkeiten, Geschichte zwischen Völkern und Nationen gemeinsam zu bewerten und neu zu schreiben (Cattaruzza/Sacha 2007). Eine gesteigerte Bedeutung8 und Wertschätzung,9 die Historiker-Kommissionen in den letzten Jahren verbuchen konnten, sorgt dafür, dass solche Institutionen langsam in den Fokus aktueller wissenschaftlicher Untersuchungen rücken. Hervorzuheben ist an dieser Stelle beispielsweise die Arbeit der Berner Forschungsgruppe um Marina Cattaruzza, „Historische Gerechtigkeit und historische Wahrheit – Historikerkommissionen zwischen ethischem Anspruch und politischer Instrumentalisierung“ (Cattaruzza 2006), die praktische Erfahrungen aus der italienisch-slowenischen Historikerkommission in die Forschung einbringt. 6 Ein Überblick über die Wahrheitskommission in Südafrika findet sich bei Arendt (1998). 7 Zur eigenen Geschichte und den Beitrag für die Ost-West-Verständigung siehe Strobl (2005). Zum Aufbau siehe auch Schulz (2006). 8 Exemplarisch hierfür der interfraktionelle Antrag: „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen“ (Bundestag 2005) von den Bundestagsfraktionen der SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP. In dem Antrag wird die Bundesregierung explizit aufgefordert, eine Historikerkommission zu unterstützen. Das Dokument verweist darauf, dass der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan bereits selbst die Einrichtung einer bilateralen türkisch-armenischen Historikerkommission vorgeschlagen hat. 9 Als Beispiel kann hier die Laudatio des damaligen Staatsministers Günter Verheugen (1999) bei der Verleihung des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an Rudolf Vierhaus genannt werden. Der Orden wurde vor allem für seine Verdienste als Vorsitzender der deutschen Sektion der deutsch-tschechischen und deutschslowakischen Historikerkommission verliehen.
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So soll u. a. die Frage untersucht werden, inwieweit Historikerkommissionen in der Lage sind, historische Wahrheit zu produzieren (Cattaruzza 2006). Lange Zeit blieben diese internationalen Kommissionen jedoch von dem Forschungsinteresse an Konfliktlösungen weitgehend ausgeklammert. Ein möglicher Grund hierfür könnte auch in ihrer Situierung im Dazwischen liegen, ihrer Verankerung zwischen nationalstaatlichen Geschichtsinterpretationen und ihrer Schnittstellenposition zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die eine wissenschaftliche Beschreibung ihrer Arbeitsweise zu einem äußerst komplexen Gegenstand macht. Hier erweisen sich innovative methodische Vorstöße angrenzender Wissenschaftsfelder als hilfreich.
2.3. Analyse wissenschaftlicher Lösungen Die Beschreibung von Formen der Konfliktlösung ist im wissenschaftlichen Bereich ein wichtiges Thema für eine Vielzahl von Teildisziplinen. Soziologen (Hughes 1971) und Politologen (Kohler-Koch/Edler 1998) haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Modelle, Instrumente und Strategien für Konfliktkonstellationen entwickelt, die für eine Untersuchung von Historikerkommissionen relevant sein könnten. Diese Forschung zeichnet sich jedoch oftmals eher durch eine genaue Analyse der beteiligten Akteure, Räume oder Institutionen aus. Im Interessenfokus der Konfliktlösung steht dabei eher die Frage des Ob als die Frage des Wie. Zu einer genaueren Untersuchung, ‚wie‘ innerhalb einer Historikerkommission Konfliktlösungen produzierbar werden, erscheint es daher sinnvoll, den methodischen Rahmen zu erweitern und auf Ergebnisse angrenzender Disziplinen wie den Kommunikationswissenschaften zurückzugreifen. Diese haben in den letzten Jahren, v. a. auch in Verbindung mit den Kulturwissenschaften, zur Beantwortung der Frage nach Formen der Zusammenarbeit in heterogenen Organisationen eine Reihe von Modellen entwickelt. Die Kommunikationswissenschaften gehen dabei von einem erweiterten Kommunikationsbegriff im Sinne von Luhmann (1984: 193) aus, bei dem jeder „elementare, Soziales als besondere Realität konstituierende Prozess“ als „Kommunikationsprozess“ aufgefasst wird. Auch Kultur lässt sich nach diesem Verständnis als Ergebnis kommunikativer Prozesse verstehen. So postuliert Bolten (2001: 135) beispielsweise, dass kulturelle Eigenschaften „nicht anders als auf kommunikativem Weg geäußert werden können“, und spricht
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von „Kultur als Kommunikationsprodukt“ (Bolten 2001). Im Sinne eines offenen Kulturbegriffs, der Kulturen nicht auf Nationalstaaten beschränkt, sondern jede Art von menschlichen Kollektiven als Kulturproduzenten versteht (Hansen 2000: 206-216), kann eine Historikerkommission ebenso als kulturelles Kollektiv betrachtet werden, dessen Ergebnisse als prozesshafte Kommunikationsprodukte analysiert werden können. Kulturwissenschaftlich orientierte Studien zur Entwicklung von Organisationskultur in heterogenen Umfeldern betonen dabei den emergenten Charakter von Kulturproduk tion, der durch die Schaffung von Rahmenbedingungen zwar Einflussnahme zulässt, aber grundsätzlich einer starken Eigendynamik unterliegt (Rathje 2004b). Rathje (2004a) identifiziert in diesem Zusammenhang beispielsweise bei der Herausbildung einer Organisationskultur mehrere widersprüchliche Dynamiken, die einerseits Kohärenz erzeugen, andererseits aber auch Differenzen erhalten. Der hier enthaltene Gegensatz aus Integrativem und Desintegrativem zeigt hilfreiche Parallelen für die Untersuchung der Arbeitsweise von Historikerkommissionen. Weitere fruchtbare Bezüge finden sich auf dem Gebiet der Wissenschaftssoziologie: So beschreibt beispielsweise Star wissenschaftliche Produktion als kollektiven dynamischen Prozess: Wissenschaftliche Arbeit ist ihrem Wesen nach kollektiv. Die Situationen, die wissenschaftliche Theorien hervorbringen, sind nicht einzelne Experimente, Labors oder Momente in individuellen Biografien. Die Aufschichtung von Perspektiven ist das Resultat vielfältiger Interaktionen und Machtbeziehungen (vgl. Latour 1987, zitiert in Star 2004: 60). Diese kollektiven ‚going concerns‘ schließen Personal, Klienten und finanzielle Unterstützung ein. Sie können gut oder schlecht organisiert sein, alt oder neu, ein festes Handlungsmandat beinhalten oder gar keines. (Hughes 1971: 52ff., zitiert in Star 2004: 60)
In ihrer Untersuchung international besetzter Forschergruppen, die aufgrund ihrer differierenden Interessen und Voraussetzungen als „heterogene Kooperationen“10 bezeichnet werden können, konnte Star ebenso nachweisen, 10 „Heterogene Kooperationen beinhalten eine spezifische Spannung. ‚Heterogen‘ steht für das Zusammenfügen von Beiträgen aus unterschiedlichen Quellen, deretwegen die gemeinsame Aktivität ‚Kooperation‘ meist unternommen wird. Wir beobachten heterogene Kooperationen dort, wo Akteure auf Leistungen angewiesen sind, die in ihrem eigenen sozialen Kontext nicht erbracht werden können. Der heterogene Handlungszusammenhang, auf den sich die Akteure damit einlassen, ist aber auch eine Belastung. Die Verankerung der Akteure in unterschiedlichen Kontexten impliziert Differenzen auf allen für Kooperation wichtigen Handlungsebenen. Die Akteure wissen Unterschiedliches, sprechen verschiedene Sprachen, haben unterschiedliche Präferenzen und Interessen, sind in je spezifische Institutionensysteme und Praxisgemeinschaften eingebunden usw. Diese vielfältigen Heterogenitäten erschweren Kooperation und können sie im Extremfall scheitern lassen.
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dass bei der Erzeugung „robuster Ergebnisse“ (Star 2004: 60) unterschiedliche Dynamiken z. B. der Reifikation, Kohärenz aber auch Trägheit eine Rolle spielen (Star 2004: 63-66). Sie prägen das Ergebnis, hier in Form von Theorien, entscheidend: Zu verstehen, wie wissenschaftliche Theorien als Schnittmenge unabhängiger Unwahrheiten (Unwahrheit hier nicht im Sinne von Verlogenheit, sondern als lokale, schwache Wahrheit) (Levins 1966, zitiert in Star 2004: 62) gebildet werden, ist schwieriger, als nur Faktoren aufzulisten, die zusammen irgendwie eine Denkrichtung oder einen Fakt konstituieren. Aber die Theoriedynamik ist mehr als nur eine hydraköpfige Liste von Faktoren. In der wissenschaftlichen Arbeit gibt es Modi der Koordination verschiedenartiger Handlungen, die aufgrund ihrer Dynamiken und Modellierungseigenschaften interessant sind. (Star 2004: 62)
Diese ergänzenden methodischen Perspektiven lassen sich gewinnbringend für eine Analyse der Arbeitsweise der Historikerkommission heranziehen. Die Historikerkommission selbst soll dabei als heterogenes Kollektiv verstanden werden, das durch Kommunikationsprozesse eigene Kultur herausbildet und dessen Ergebnisse als Produkte ebendieser Prozesse untersucht werden können. Es wird davon ausgegangen, dass die Kommunikationsprozesse innerhalb des Kollektivs Historikerkommission analog zu den beschriebenen Studien mehreren, vermutlich widersprüchlichen Dynamiken unterliegen, die sich in der Form der Ergebnisse niederschlagen müssten.
3. Die Historikerkommission
Neben einer Vielzahl nicht nur wissenschaftlicher Institutionen,11 die sich mit den deutsch-tschechischen und auch mit den deutsch-slowakischen BezieDie Kooperationspartnerinnen müssen mit diesen Gefahren leben. Weil Heterogenität eine notwendige Bedingung für den Erfolg vieler Kooperationen ist, kann sie nicht als zu überwindende Anfangsschwierigkeit behandelt werden. Sie ist vielmehr eine zugleich fördernde und problematische Bedingung, die sich im Verlauf einer Kooperation wandeln kann, aber vom Beginn der Kooperation bis zum Ende ausgehalten werden muss“ (Strübing/Gläser/ Meister/Schulz-Schaeffer 2004: 7). 11 Stellvertretend sei hier auf das Collegium Carolinum (CC) in München verwiesen. Eine kritische Reflexion der Geschichte des Collegium Carolinum auch im Kontext anderer deutscher Forschungseinrichtungen zur ost- und ostmitteleuropäischen Geschichte findet sich bei Brenner, Franzen et al. (2006).
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hungen auseinandersetzen, nimmt die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission eine besondere Stellung ein. Bevor im Sinne des Forschungsziels im Weiteren die kommunikativen Dynamiken ihrer Arbeitsweise untersucht werden, erscheint es zum besseren Verständnis der strukturellkommunikativen Abhängigkeiten wichtig, die Institution Historikerkommission kurz zu beschreiben. Neben institutionellen Fragen wie dem Aufbau und der Organisation werden in einem weiteren Schritt ihre Ergebnisse beispielhaft als konkrete Produkte (Lösungen) der gemeinsamen Zusammenarbeit überblickartig dargestellt.
3.1. Beschreibung der Historikerkommission Die Historikerkommission wurde 1990 auf beiderseitigen Wunsch des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel und des deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und auf Initiative des damaligen Außenministers der Bundesrepublik Deutschland, Hans Dietrich Genscher, und des damaligen ersten nichtkommunistischen Außenministers der Tschechoslowakei, Jiří Dienstbier, als deutsch-tschechoslowkaische Historikerkommission ins Leben gerufen. Der Regierungsbeschluss der ČSFR Nr. 51/90 vom 25. Januar 1990 verpflichtet die Minister für Auswärtige Angelegenheiten, die Arbeit finanziell zu unterstützen (Biman 2001: 450). Die Einrichtung der Kommission wurde in dem Vertrag zwischen der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 27. Februar 1992 im Artikel 27 verankert: Die Vertragsparteien werden alle Aktivitäten unterstützen, die zu einem gemeinsamen Verständnis der deutsch-tschechoslowakischen Geschichte, vor allem dieses Jahrhunderts, beitragen. Dazu gehört auch die Arbeit der gemeinsamen Historikerkommission und der unabhängigen deutsch-tschechoslowakischen Schulbuchkonferenzen. (Freundschaftsvertrag 1992)
Aufgabe seit Beginn ist es, „die gemeinsame Geschichte der Völker beider Länder, vor allem in diesem Jahrhundert, gemeinsam zu erforschen und zu bewerten“, und zwar „in breitem historischen Kontext“ „einschließlich der positiven Seiten des gegenseitigen Zusammenlebens, aber auch der tragischen Erfahrungen der Völker beider Länder im Zusammenhang mit dem Beginn, dem Verlauf und den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges“ (Historikerkommission 1990-2007).
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Nach der Teilung der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik (ČSFR) im Jahr 1993 teilte sich die Historikerkommission in eine deutschtschechische und eine deutsch-slowakische auf, wobei beide organisatorisch und wissenschaftlich weiterhin zusammenarbeiten. Die Deutsch-Tschechische Erklärung aus dem Jahr 1997 unterstrich noch einmal den besonderen Stellenwert der Kommissionsarbeit: Beide Seiten stimmen darin überein, daß die historische Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Erforschung bedarf und treten daher für die Fortführung der bisherigen erfolgreichen Arbeit der deutsch-tschechischen Historikerkommission ein. (Erklärung 1997)
Gegründet ohne zeitliche Restriktion arbeitet die Historikerkommission bereits seit 17 Jahren erfolgreich zusammen. In ihrer Zusammensetzung ist die Kommission ein heterogenes Wissenschaftsforum aus deutschen, tschechischen und slowakischen Historikern. Neben den sogenannten Spezialisten zu Fragestellungen, die das jeweilige bilaterale Verhältnis und die entsprechenden Länder und Regionalschwerpunkte betreffen, sind auf deutscher Seite auch eine Reihe von so genannten Generalisten vertreten, deren Forschungsschwerpunkt nicht originär mit der slowakischen und tschechischen Geschichte verbunden ist. Dem Charakter als Wissenschaftsforum geschuldet, sind alle Mitglieder, soweit dies auf tschechischer und slowakischer Seite aus wissenschaftstransformatorischen Gesichtspunkten (Pánek 1999, 2003) möglich war, Inhaber von Lehrstühlen an Hochschulen. Unterstützt werden die Landessektionen jeweils durch wissenschaftliche Sekretäre. Die Historikerkommission war anfangs als bilaterale paritätisch besetzte Kommission erdacht worden. Nach der Trennung der ČSFR wurde die Kommission in drei Landessektionen aufgeteilt und der Besetzungsmodus 9:5:4 eingeführt, wobei dies in einem festgelegten Rahmen variieren kann (Biman 2001: 450f.). Der Auswahlprozess neuer Mitglieder obliegt jeder Landessek tion selbst, wobei die Kommission nicht kooptiert. Ernannt werden die Mitglieder jeweils vom nationalen Historikerverband und den Außenministern.
3.2. Die Historikerkommission als transnationaler Raum Grundlegend für die meisten international agierenden Historikerkommis sionen ist, dass ein abgeschlossener Raum für Historiker aus den beteiligten
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Nationen zur Verfügung gestellt wird, in dem diese, quasi durch eine Hülle geschützt, ihrer Aufgabe nachgehen können, gemeinsame Geschichte zu erforschen und zu bewerten. Die Hülle zeichnet sich dadurch aus, dass sie in ihrer Struktur semipermeabel ist: Gewollte Einflüsse können hinein, ungewollte Einflüsse können blockiert werden (Müller 2004: 229). Der Raum hat also bildlich gesprochen Fenster und Türen. Die Mitglieder in der Kommission entscheiden dabei selbst, wann sie die Türen/Fenster öffnen und wann nicht. Eine weitere Besonderheit von Historikerkommissionen ist ihre thematische und organisatorische Situierung im Dazwischen. Sie sind zwischen den beteiligten Nationalstaaten und ihren Geschichtsinterpretationen verortet, weil man davon ausgeht, dass Lösungen, die für beide Seiten tragbar sind, nicht aus einseitiger Perspektive herausgefunden werden können. Man kann solche Institutionen daher als transnationale Räume bezeichnen: Der Aspekt des Transnationalen beschreibt dabei in Anlehnung an politikwissenschaftliche Akteursbestimmungen (Kaiser 1969) ihre Eigenschaft, nicht eindeutig einem Staat zuordenbar zu sein, also im Dazwischen zu agieren, während die Bezeichnung Raum für eine institutionalisierte Organisa tion mit klaren Grenzen steht. Betrachtet man die Vielzahl existierender Historikerkommissionen, so fallen qualitative Unterschiede ins Auge. Einige arbeiten besser, einige schlechter und einige auch gar nicht.12 Die Gründe hierfür sind unterschiedlich: So erhalten in einigen Fällen die Kommissionen keine Unterstützung durch die Politik, werden in der Unabhängigkeit ihrer Arbeitsweise eingeschränkt, oder die Wissenschaftler selbst können sich nicht auf einen Modus der Zusammenarbeit einigen. Die deutsch-tschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission stellt demgegenüber eine produktives Beispiel einer Historikerkommission dar, deren Ergebnisse in ihrer Relevanz für die deutsch-tschechischen Beziehungen in der Vergangenheit mehrfach u.a. durch die Staatspräsidenten Václav Havel und Roman Herzog (Kohler 1995) gewürdigt wurden.
12 Ein besonderer Fall für das Nichtzustandekommen einer Wahrheits- und Versöhnungskommission, ist das Beispiel aus Bosnien-Herzegowina. Jouhanneau (2007) zeigte in ihrem Konferenzbeitrag auf der Tagung Für eine multidisziplinäre Untersuchung der Strategien historischer Aussöhnung in Europa im Oktober 2007 in Berlin eindrucksvoll, wie die Einberufung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission für Bosnien-Herzegowina aufgrund von Differenzen zwischen internationalen und lokalen Wertekategorien scheiterte.
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3.3. Ergebnisse der Historikerkommission als konkrete Konfliktlösung Insgesamt kann die Historikerkommission auf 16 Tagungsbände (davon 5 in Vorbereitung bzw. Bearbeitung) verweisen, die einen tiefen Einblick in die komplexe Beziehungsgeschichte von Deutschen, Tschechen und Slowaken liefern. Darüber hinaus hat sie 6 weitere Publikationen in Form von Erklärungen/Stellungnahmen oder von Herausgeberschaften veröffentlicht (Stand Ende 2007). Neben den anfangs zweimal und jetzt einmal jährlich stattfindenden Treffen organisierte die Historikerkommission weiterhin eine Vielzahl weiterer Veranstaltungen wie Runde Tische, Journalistenseminare oder Podiumsdiskussionen. Ein weiterer Pfeiler der Kommissionsarbeit ist die jährliche Vergabe von Stipendien an Nachwuchswissenschaftler (einen aktuellen Überblick gibt die Homepage der Historikerkommission: Historikerkommission 1990-2007). Aus der Vielzahl von Sammelbänden und Veröffentlichungen, die das gesamte Spektrum deutsch-tschechischer und deutsch-slowakischer Beziehungen abdecken, erscheinen vor allem drei Ergebnisse als bedeutsam für die weitere Analyse. Zum einen ist die sog. „Skizze“ (Gemeinsame DeutschTschechische Historikerkommission 1996) hervorzuheben, die 1995 als eine Art Zwischenfazit von der Kommission in Angriff genommen wurde. Entstanden ist eine gemeinsame Überblicksdarstellung deutsch-tschechischer Geschichte, in der Deutsche und Tschechen gemeinsam festhalten, was bisher als schon gesichert vertretbar erscheint. Ein zweites wichtiges Ergebnis stellt die gemeinsame Festlegung einer Opferzahl der Sudetendeutschen aufgrund von Vertreibung/Aussiedlung im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg (Historikerkommission 1996) dar. Auf tschechoslowakischer Seite wurde vorher in diesem Zusammenhang eine Zahl von max. 10.000 Opfern offiziell vertreten, während auf deutscher, und hier vor allem auf sudetendeutscher Seite, von über 240.000 Opfern ausgegangen wurde. Die Historikerkommission kam zu dem Ergebnis, dass maximal von 30.000 Opfern gesprochen werden kann. Ein drittes bedeutsames Ergebnis stellt die Beantwortung der Frage nach dem korrekten Begriff für das Schicksal der Sudentendeutschen nach dem Krieg dar: Wurden sie vertrieben oder ausgesiedelt? Sollte man aus ethischer Verantwortung heraus hier einen neutralen Begriff entwickeln oder verwendet man einen der bereits existierenden Begriffe: ‚Vertreibung‘, ‚Aussiedlung‘ oder ‚Transfer‘? Die Historikerkommission einigte sich hier schließlich auf das Begriffspaar „Vertreibung/Aussiedlung“ (Historikerkomssision 1995).
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Für die folgende Analyse der Ergebnisse der Kommission als Output einer heterogenen Kooperation von Wissenschaftlern erweisen sich die Untersuchungen Stars als hilfreich. Sie führt die Möglichkeit zur Erzeugung von Einigkeit in heterogenen Wissenschaftskommissionen auf das Phänomen der „boundary objects“ zurück. Boundary objects sind nach Star (2004: 69f.) wissenschaftliche Ergebnisse, „die plastisch genug sind, um sich an die lokalen Bedürfnisse und constraints der sie verwendenden Parteien anzupassen, aber auch robust genug, um eine gemeinsame translokale Identität zu bewahren“. Star identifiziert 4 Typen solcher boundary objects, die sich den unterschiedlichen Arten von Lösungen der Historikerkommission zuordnen lassen: - Magazine: Hierbei handelt es sich um „geordnete Stapel von Objekten“, die auf eine standardisierte Weise katalogisiert worden sind. Magazine werden aufgebaut, um Probleme mit der Heterogenität von Untersuchungseinheiten zu bewältigen. Beispiele für Magazine sind Museen und Bibliotheken. Bezogen auf die Arbeit der Historikerkommission lässt sich feststellen, dass eine ihrer Hauptaufgaben gerade in der Anfangszeit in der chronologischen Bestandaufnahme existierender Primär- und Sekundärquellen zu den deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen Beziehungen (Aufbau von Magazinen) bestand, auf der dann im Anschluss konkrete Analysen aufbauen konnten (Biman 2001: 452f.). - Idealtyp oder platonisches Objekt: Ein solches Objekt – z. B. eine Landkarte oder ein Atlas – gibt keine exakte Beschreibung irgendeines Gegenstandes. Es zeichnet sich durch seine Abstraktion und Vagheit aus, kann aber gerade deshalb an lokale Gegebenheiten angepasst werden. Als eine Straßenkarte, die für alle Beteiligten ‚gut genug‘ ist, dient ein solches Objekt der symbolischen Kommunikation und Kooperation. Im Fall der Historikerkommission lässt sich die Skizze, die für die Mitglieder die Funktion einer Karte hat, deren Leerstellen weiter gefüllt werden können, als Idealtyp oder platonisches Objekt beschreiben. - Gebiete mit übereinstimmenden Grenzen: Hier handelt es sich um Ergebnisse, die dieselben Grenzen, aber unterschiedliche Inhalte besitzen. Sie entstehen, wenn unterschiedliche Methoden der Datensammlung und -komprimierung angewendet werden oder wenn die Arbeit sich über ein großes Gebiet erstreckt. Mittels eines solchen Objektes können die Akteure an jedem Ort autonom arbeiten und sich gleichzeitig bei Kooperation im gleichen Bereich auf ein identisches Referenzobjekt beziehen. Der Vorteil liegt hier in der Entkopplung der verschiedenen Ziele. Analog bezeichnen gemeinsam gefundene Sprachregelungen, wie sie auch die Historikerkommission entwickelt hat, den gleichen historischen Vorgang,
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erkennen aber auch an, dass es – nicht nur national – unterschiedliche Interpretationen gibt. - Formulare und Etiketten: Diese boundary objects werden als Methode der Kommunikation zwischen verteilten Arbeitsgruppen entwickelt. (Bsp. standardisierte Ausfüllbögen) Dieser Typ von Grenzobjekten führt zu standardisierten Verzeichnissen und zu dem, was Latour ‚immutuable mobiles‘ nennen würde, d.h. zu Objekten, die über weite Strecken transportiert werden können, ohne dass sich ihr Informationsgehalt verändert. Der Vorteil solcher Objekte liegt darin, dass sie lokale Ungewissheiten ausmerzen. Etiketten und Formulare können zum Bestandteil von Magazinen werden, müssen es aber nicht (Star 2004: 70ff.).
Im Fall der Historikerkommission können vor allem diejenigen Ergebnisse als Formulare und Etiketten bezeichnet werden, die konkrete methodische Instrumente darstellen, wie z. B. Statistiken über Opferzahlen, die notwendig waren, um ein Ergebnis zu erzielen, das von allen Mitgliedern getragen werden kann. Durch die Betrachtung der Ergebnisse als boundary objects wird deutlich, dass gemeinsam erarbeitete wissenschaftliche Produkte nicht nur auf Konsens beruhen und weit mehr sind als die bloße Addition von Fakten, Meinungen und Interpretationen. Boundary objects sind „robuste Ergebnisse“, die nach Star heterogene Kooperationen in der Wissenschaft erst ermöglichen. Aus kultur- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive sind diese „robusten Ergebnisse“ dabei als konkrete Lösungen zu verstehen, da sie ihre kollektive Entstehung und die individuelle Verarbeitung (Ergebnis als Kommunikationsprodukt) als wesentliches Merkmal in sich tragen. Im Folgenden soll daher eine begriffliche Trennung von ‚Ergebnissen‘ und ‚Lösungen‘ vorgenommen werden. Von ‚Ergebnissen‘ wird immer dann gesprochen, wenn das konkrete Resultat der Forschungstätigkeit gemeint ist, ‚Lösungen‘ verweisen demgegenüber auf den kommunikativen Entstehungs- und Wirkungsprozess der Ergebnisse.
4. Arbeitsweise der Historikerkommission
Im Folgenden soll die Arbeitsweise der Historikerkommission aus einer kommunikationswissenschaftlichen Perspektive beschrieben werden. Dabei stehen als Fragen im Vordergrund, welche Dynamiken sich im Prozess der Lösungs-
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entwicklung identifizieren lassen und welche Rückwirkungen diese Dynamiken wiederum auf die Zusammenarbeit der Historikerkommission haben. Die folgende Analyse stellt erste Ergebnisse einer Untersuchung auf der Basis von 16 qualitativ-explorativen Interviews vor, die mit aktiven und auch ehemaligen Mitgliedern der Historikerkommission geführt wurden. Daneben wurden im Sinne der Datentriangulation auch zusätzliche Materialien wie Protokolle, Zeitungsinterviews und Artikel zur Historikerkommission berücksichtigt. Die Datenauswertung erfolgte nach Methoden der gegenstandsbegründeten Theorie nach Glaser/Strauss (1979), einem theoriebildenen Ansatz der qualitativen Sozialforschung. Auf Basis der ersten Ergebnisse lassen sich in Bezug auf die Arbeitsweise der Historikerkommission drei grundlegende Hypothesen ableiten, die sich auf ihre Konstitution (a), ihre Kommunikationsdynamiken (b) und die Funktionen dieser Dynamiken (c) beziehen und im Folgenden näher erläutert werden: a. Die Arbeitsweise der Historikerkommission ist bedingt durch die spezifische Konstitution des transnationalen Raums. b. Innerhalb der Historikerkommission wirken integrative und desintegrative Dynamiken gleichzeitig. c. Beide Dynamiken erfüllen wichtige Funktionen bei der Bearbeitung von ‚historisierten Konflikten‘.
4.1. Konstitution des transnationalen Raums Die Arbeitsweise der Kommission ist zu weiten Teilen bestimmt durch Rahmenbedingungen, die sich einerseits aus ihrer spezifischen strukturellen Konstitution als transnationaler Raum ergeben und andererseits durch die Möglichkeit der Mitglieder beeinflusst werden, den Raum selbstständig auszugestalten. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Umgang mit unterschiedlichen Einflüssen, die sowohl extern als auch intern auf die Kommission wirken können. Im Folgenden werden die fünf wichtigsten Einflussquellen näher beschrieben. Abschließend werden die zentralen Erfolgsfaktoren herausgearbeitet, die bei der Ausgestaltung des transnationalen Raums der Historikerkommission als besonders wichtig identifiziert werden konnten.
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4.1.1. Öffentlichkeit Die Öffentlichkeit als Einflussfaktor ist sowohl von aktuellen Konjunkturen als auch langfristigen Interessen bestimmt. Je nach Interessenslage in der Bevölkerung steigt oder sinkt der Druck auf die Kommission. Eine besondere Rolle nehmen hierbei vor allem die Zeitzeugen auf beiden Seiten ein. Lemberg beschreibt die besondere Schwierigkeit im Umgang mit den „Geschichten“ der Zeitzeugen: Man muss unter Betroffenen das richtige Wort gebrauchen, und man muss auch die richtigen Geschichten erzählen. Wer z. B. vor einem sudetendeutschen Publikum das Verhältnis zwischen Tschechen und Deutschen in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit zu deuten unternimmt, und sei es auch noch so verallgemeinernd, und erwähnt dabei nicht expressis verbis das Datum des 4. März 1919 [also jene verhängnisvollen Schießereien mit mehr als 50 Todesopfern; Braun 1996], dem wird recht verlässlich aus dem Publikum die Frage gestellt, warum man dieses Datum nicht erwähnt bzw. es ‚verschwiegen‘ habe. (Lemberg 2004: 523)
So verlangen die Betroffenen nicht zuletzt wegen ihres eigenen Gefühls der Zugehörigkeit jeweils nach Tradierung ihrer eigenen Geschichte und Geschichten (Assmann 1995). Für die historische Wissenschaft erwächst hieraus eine besondere Herausforderung: Wie soll der einzelne Mensch angesichts dieser Veränderungen, die fast alle Werte und Hierarchien auf den Kopf stellten, eine möglichst ‚objektive‘ Deutung der historischen Ereignisse akzeptieren, kühlen Kopf bewahren, sich vielleicht sogar gegen den eigenen Nationalismus oder gegen den früherer Generationen wenden? In Anbetracht der besonderen Betonung ähnlicher historisch-sozialer Zusammenhänge können Zeitzeugen den ganz natürlichen Eindruck bekommen, dass vieles von dem, was Bestandteil der allgemeinen Geschichtsdarstellungen ist, sich in Wahrheit ‚völlig anders‘ abgespielt hat, dass sie das Streben nach einer objektiven Betrachtung ihrer Erlebnisse oder sogar ihrer Leiden beraubt und dass die Historiker die Einzigartigkeit des menschlichen Schicksals in ein bloßes Ornament der objektiven Umstände, im besten Falle in deren Illustrationen verwandeln. (Havelka 2003: 17)
Gerade in der Bereitschaft zur Akzeptanz oder Nichtakzeptanz persönlicher Geschichtsinterpretationen entsteht öffentlicher Druck, auch auf die Arbeit der Historikerkommission. Eine dabei nicht zu unterschätzende Rolle spielen hierbei die Interessengruppen auf beiden Seiten. Besonders die Sudetendeutsche Landsmannschaft agiert in Deutschland und Tschechien als eigenständiges Subjekt gesellschaftlicher und politischer Interessensvermittlung, indem sie konkrete Forderungen und Interpretationen der Sudetendeutschen auch auf politischer Ebene proklamiert. Auf tschechischer Seite finden sich Organisationen wie Kruh občanů ČR vyhnaných v roce 1938 z pohraničí [Kreis der
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1938 aus dem Grenzland vertriebenen Bürger der Tschechoslowakischen Republik] oder der radikal orientierte Klub českého pohraničí [Klub des tschechischen Grenzlandes] (Beneš/Kural 2002: 282). Konkret artikuliert sich der öffentliche Druck z. B. in Leserbriefen oder auf öffentlichen Podiumsveranstaltungen: Selbst wenn sie [die Kritiker der Historikerkommission] nicht sagen, dass wir gekauft sind, dann sagen sie, dass die Kommission Teil der offiziellen pazifizierenden Bundesregierungsbemühungen ist, die uns [z. B. den Sudetendeutschen] zum Herunterspielen aller wichtigen Daseinsinteressen des Sudetendeutschtums bringt [...] oder bei den pohraničí ist es eben auch, dass sie den Vorwurf äußern, die Kommission sei im besten Fall von der eigenen Regierung gekauft, aber im Normalfall von der deutschen Regierung. (Interview Mitglied 7)
4.1.2. Medien Eine noch größere Herausforderung als die öffentliche Einflussnahme stellt nach Ansicht einiger Mitglieder das große allgemeine inhaltliche Desinteresse und die daraus resultierende Unwissenheit über Problemzusammenhänge dar. Das Spannungsfeld von Interesse und Desinteresse spiegelt sich vor allem in den Medien, z. B. in den Zeitungen und Publikationskanälen der genannten Interessengruppen, aber auch in den überregionalen Zeitungen. Oft werden Stimmungen von Medien katalysiert, indem bewusst oder unbewusst bestimmte Reizworte und einseitige Darstellungen veröffentlicht werden (zur tschechischen Situation Pešek 2003: 183). Exemplarisch hierfür stehen die übertriebenen Opferzahlen von Flucht und Vertreibung von über 240.000 Menschen, die selbst „im Deutschlandradio, in großen Tageszeitungen und sogar in der linken taz genannt“ wurden, „obwohl sie nachweislich auf einem statistischen Fehler bei der Volkszählung von 1946 und der Einberechnung aller Vermissten und Untergetauchten beruhten und auch von der Historikerkommission schon in der Stellungnahme (Historikerkommission 1996) relativiert wurden“ (Ther 2006: 71). Ein für die Zusammenarbeit innerhalb der Kommission nicht förderlicher Einfluss ist das oftmals einseitige Interesse der Medien, sich vorwiegend Skandalen und Konflikten (ddpADN 1995; Kleine-Brockhoff 1996; Schwarz 2002) und weniger der eigentlichen Lösungen der Kommission anzunehmen: Ich schätze an der Kommission, dass sie bei allen Veranstaltungen ein akademisches Niveau hielt. D.h. es gab hier nie so etwas, dass jemand mit irgendwelchen politisch manipulierten, idiotischen Argumenten kommt, sondern dass die Leute hier sachlich argumentieren ohne irgendwelche politische Instrumentalisierungen. Dieses Milieu mit den großen Namen von den beiden Historiographien und auch den Leuten, die als Referenten,
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als Diskutanten oder als Publikum von draußen kommen, das kultiviert. Das sind immer produktive, intelligente, nicht hysterische Gespräche. [...] Der Redakteur hat dann daraus gemacht, dass ich die Zensurrolle der Kommission hervorhebe. Also die Zensurrolle ist es nicht. Ein kultiviertes Milieu ist etwas anderes als jede Zensur. Aber dafür muss man auch etwas Gespür haben. (Interview mit Mitglied 17)
Obwohl dieser exemplarisch beschriebene Fall nicht für alle Vertreter der Medien verallgemeinerbar ist, wurde das grundlegende Dilemma im Umgang mit den Medien von einer Mehrzahl der Befragten als Problem beschrieben. Als ebenfalls nicht förderlich für die Außenwirkung der Kommission wirkt sich ein vor allem in den letzten Jahren entstandenes allgemeines Desinteresse seitens der Medien aus, das von den Mitgliedern als eines der Hauptprobleme der Kommissionsarbeit identifiziert wurde.
4.1.3. Politik Neben der allgemeinen Öffentlichkeit und den Medien bildet die Politik eine weitere wichtige Einflussquelle, repräsentiert durch die Regierungen, die Parteien und Politiker. Den Staatspräsidenten und von Ministeriumsseite vorwiegend den Außenministerien kommt eine besondere Rolle zu, da sie die eigentlichen Auftraggeber und daher auch unmittelbarsten Rezipienten der Kommission sind, wodurch divergierende Zielvorstellungen entstehen können (Buddeberg/Hölzlwimmer et al. 2005). Insbesondere im Vorfeld der Unterzeichnung der deutsch-tschechischen Erklärung 1997 wurde „ein zunehmend schwieriges innenpolitisches Umfeld für die tschechischen Historiker“ von deutscher Seite wahrgenommen. „Solche entschuldigenden Erklärungen wie von Präsident Václav Havel 1989/1990 wären nicht mehr möglich“, wie Vierhaus in einem Interview mit der dpa sagte (Hoening 1996). Daneben spielt auch der Erfahrungshorizont der Wissenschaftler im Bezug auf das Verhältnis zwischen Politik und einer Wissenschaft, die Politik berät (Falk/Rehfeld et al. 2007), eine wichtige Rolle. Die Balance zwischen dem Ausmaß, inwieweit die Politik Rat bei den Wissenschaftlern sucht und inwieweit die Wissenschaftler selbst politische Nähe zulassen, entscheidet dabei über die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Unabhängigkeit. Der Politik ist es durch die Konstituierung der Kommission als unabhängiges Forum nicht möglich, direkt an der Ergebnisformulierung zu partizipieren. Viel entscheidender ist jedoch die Frage, ob und inwieweit die Ergebnisse der Kommission politisch aufgenommen werden. So kann es z. B. dazu kommen,
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dass „Politiker sich manchmal noch nicht einmal über die Lösungen ärgern, also keine Reaktion zeigen“ (Interview mit Mitglied 10). Die Einflussmöglichkeiten der Politik gestalten sich daher viel subtiler z. B. durch die Wichtigkeit, die einer solchen Institution in einer bestimmten Situation beigemessen wird, und auch durch die finanziellen Mittel, die ihr von politischer Seite zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt scheint jedoch ein politischer Schutzmantel für die Kommission zu bestehen, da kein Politiker für sich verantworten will, in einem guten Stadium der bilateralen Beziehungen eine konfliktregulierende Institution abzuschaffen, die eventuell zu einem späteren Zeitpunkt wieder dringend gebraucht werden könnte: Ich bin der Meinung, dass man [auf Regierungsebene] auch etwas Angst hat. Es kann passieren, dass etwas passiert, ich weiß nicht, irgendein Streit. Dann wird man sagen: Ja, und die haben die Kommission aufgelöst, die es eigentlich lösen könnte. (Interview mit Mitglied 10)
4.1.4. Wissenschaft Als vierte Einflussquelle auf die Kommission ist die Wissenschaft selbst zu nennen. Die Mitglieder der Kommission stammen aus unterschiedlichen Fachrichtungen und unterschiedlichen Ländern mit jeweils eigenen Fächertraditionen in spezifischen Ausrichtungen und Entwicklungsstadien der Historiographien. Allen drei Historiographien scheint jedoch eine „politikgeschichtliche Fokussierung der Historie“ gemein, was oftmals auch eine „Orientierung an herausragenden ‚Kehrtwenden‘ der Politikgeschichte“ bedeutet (Cornelißen 2007: 307). Während das Fach Bohemistik allerdings an deutschen Hochschulen mittlerweile zu den „Orchideenfächern“ (Steinvorth 2007) zählt, ist auf tschechischer Seite das Interesse an Deutschland, nicht zuletzt bedingt durch die wirtschaftliche Wichtigkeit und Größe des westlichen Nachbarn, wesentlich stärker. Die thematische und zeitliche Fokussierung tschechischer und slowakischer Historiker ist jedoch wesentlich weiter gefasst als die ihrer deutschen Kollegen, bedingt durch Mangel an Kapazitäten, Ressourcen und Informationszugang. Hierdurch werden die Möglichkeiten, immer auf dem aktuellsten Stand in unterschiedlichen Forschungsgebieten und Methodenfragen zu sein, teilweise erschwert: Jeder tschechische oder jeder slowakische Historiker muss sozusagen fünf bis sechsmal so viel abdecken, wie ein deutscher Kollege. Und up to date zu sein, ist wirklich manchmal schwer. [...] Wir behandeln fast den gleichen Stoff, vom Mittelalter und noch früher bis heute. Also, das ist ein Unterschied, den man nicht unterschätzen darf. (Interview Mitglied 22)
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Hinzu kommt die Tatsache, dass es aufgrund der politischen Restriktionen während der kommunistischen Zeit nach Aussagen der tschechischen und slowakischen Mitglieder im Vergleich zur deutschen Historiographie wenige Zeithistoriker gibt: Und natürlich hatten die politischen Restriktionen Folgen. Es hatte vor allem Folgen für die heute ältere Generation, die überwiegend mit Berufsverbot belegt wurde. Diese Periode hat sozusagen die Mehrheit dieser Generation begraben. Wir sind in etwa 10 bis 15 geblieben, als Kern. Die meisten Kollegen haben es nicht geschafft. Wissen Sie, diese geistige Isolation, und dieser Druck [...]. Und die Kollegen, die geblieben sind, hatten auch ein schweres Leben. Manche hatten Verbot zu publizieren, manche hatten Verbot, Vorlesungen zu halten und waren immer unter dem immerwährenden Druck. Das ist nicht leicht. Und die Folgen sind meiner Meinung bis heute zu fühlen. Also die ältere Generation und die Generation, die überwiegend am Rande der Historiographie gelebt hat, musste sehr schwer dieses methodologische Defizit nachholen. (Interview Mitglied 22)
Obwohl sich in den letzten Jahren gerade auf dem Feld der deutschen Geschichte eine intensive Forschungsaktivität in Tschechien entwickelt hat (Pešek 2002, 2003; Schulze Wessel 2004), ist die Zahl der Wissenschaftler immer noch vergleichsweise gering. Auf deutscher Seite besteht im Wesentlichen das Problem, dass das Hauptinteresse der Historiker zumeist anderen regionalen Schwerpunkten gilt, was wiederum die Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses und die Gewinnung neuer Erkenntnisse erschwert: Jemand, der mit seinem Blick westwärts gewandt ist, wie das ja die meisten sind und für die dieser Osten noch was leicht Unheimliches hat, selbst was hinter der Elbe ist, geschweige denn hinter der Oder, geschweige denn hinter dem Erzgebirge, wird sich auch nicht für die Arbeit der deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen Historikerkommission interessieren. (Interview Mitglied 7)
Aufgrund der unterschiedlichen Forschungsinteressen, -methoden, -ziele und -stile erscheint es kaum verwunderlich, dass auf wissenschaftlicher Ebene auch Konflikte in der Kommission entstehen können. Die Mitglieder betonen jedoch, dass diese Konflikte nicht konfrontativ „auf dem Niveau der deutschtschechischen Beziehungen“ (Interview Mitglied 10) ausgetragen werden. Als mögliche Gründe hierfür nennen sie einerseits das große Vertrauen, das in den Jahren der Zusammenarbeit entstanden ist, andererseits verweisen sie auf die mitteleuropäische Wissenschaftstradition mit ihren konkreten Konfliktlösungsstrategien, Kommunikations- und Verhaltensweisen als verbindendes Element im Sinne eines gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses, auf das in Konfliktsituationen zurückgegriffen werden kann.
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4.1.5. Individuen/Mitglieder Als weiterer Einflussfaktor auf die Kommissionsarbeit sind die individuellen Interessen und Prädispositionen der Mitglieder selbst zu nennen. Neben den einzelnen Charakteren und Temperamenten eines jeden Mitgliedes, exemplarisch zusammengefasst in der Aussage eines Mitgliedes, dass man sich auch in einer solchen Kommission „nicht seiner selbst entledigen kann“ (Interview Mitglied 7), sind im Besonderen die Unterschiede zwischen den Generationen und fachlichen Ausrichtungen zu nennen: Das ist auch mit dem Generationsalter verbunden. Wenn Sie den deutschen Gründungsvorsitzenden Vierhaus nehmen. Das ist der Generalist der alten Schule, der Mann der großen Synthesen. Dann haben sie einen der Begründer der Sozialgeschichte Hans Mommsen, dann haben Sie den Osteuropahistoriker Hans Lemberg. Lemberg ist so ein Mensch für die feinen Themen und mit großem kulturellem Gespür. Wir haben die Kunsthistoriker in der Kommission: Roman Prahl und Michaela Marek. [...] Das sind schon ganz unterschiedliche Leute. Natürlich ist die Betrachtungsweise der Probleme bei Řezník und dem Gründungsvorsitzenden etwas anders, weil die zwei Männer unterschiedliche Bildungs- und Generationsvorstellungen haben. Es gibt natürlich immer die Vorstellungen, ob die Geschichte von oben, vom Staat, oder von unten, Mikrogeschichte oder Sozial- und Alltagsgeschichte, nach oben zu betrachten ist. (Interview Mitglied 17)
Konfliktlinien in der Zusammenarbeit in der Historikerkommission lassen sich, wie die Mitglieder feststellen, häufig nicht entlang der Nationen, sondern eher zwischen den Generationen und Fachgebieten ziehen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass Mitglieder, die unmittelbar die Kriegs- und Nachkriegsereignisse miterlebt haben, neben ihrer professionellen Ausbildung als Historiker selbst auch Zeitzeugen sind, deren Wertmaßstäbe und Interpretationen in Bezug auf die Kommissionsarbeit durch die eigene Lebenshistorie geprägt wurden. So erscheint beispielsweise die persönliche Einschätzung der Wichtigkeit von Kommissionsarbeit auch davon abhängig, ob ein Historiker selbst über Erfahrungen aus der Zeit vor 1989 verfügt, wo kollegialer Austausch über Landesgrenzen hinweg schlicht nicht möglich war. 4.1.6. Erfolgreicher Umgang mit den Einflüssen In den vergangenen 17 Jahren der Zusammenarbeit haben sich im Wesentlichen drei Rahmenbedingungen herausgebildet, die im Zusammenspiel mit den oben beschriebenen Einflussquellen eine erfolgreiche Zusammenarbeit gewährleisten. In ihrer Funktion als Regulatoren von Einflüssen sind sie für
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die Arbeitsweise des transnationalen Raums entscheidend und können in diesem Sinne als Erfolgsfaktoren gelten. Als erste für die Zusammenarbeit der Historikerkommission wichtige Rahmenbedingung erweist sich die paritätische Besetzung des transnationalen Raums. Parität ist hier jedoch nicht zwangsläufig mit nationaler Parität gleichzusetzen, da sich die Relevanz von Paritätskriterien im Zeitverlauf ändern kann. So war es 1990 wichtig, dass eine nationale Parität aus 9 Deutschen und 9 Tschechoslowaken bestand. Dies wird heute nicht mehr als ausschlaggebendes Kriterium gewertet. Die Mitglieder müssen heute vielmehr die Möglichkeit haben, sich bestimmten, vor allem fachlichen Kollektiven zuzuordnen, so dass die fachliche Parität in den letzten Jahren an Wichtigkeit zugenommen hat. Besteht hier ein Ungleichgewicht oder gibt es kaum Überschneidungspunkte für einzelne Mitglieder, besteht die Gefahr, dass Mitglieder austreten oder kontraproduktiv wirken. Um den Handlungsspielraum der Kommission zu erhalten, erweist es sich daneben von Bedeutung, dass ihre Mitglieder zum einen politisch institutionalisiert und zum anderen aber auch von entsprechenden wissenschaftlichen Fachverbänden, in diesem Fall den Historikerverbänden, eingesetzt werden. Da die innerhalb der Kommission behandelten Themen politisch oft umstritten sind und negative Reaktionen bei Interessengruppen hervorrufen können, wirkt diese doppelte Institutionalisierung wie eine Schutzhülle für den Raum, ohne dass außerwissenschaftliche partikulare Interessen auf die Kommission Einfluss nehmen und die Diskussionen nachhaltig beeinträchtigen können. Ein Mitglied beschreibt die Funktion wissenschaftlicher Legitimierung der Kommissionsmitglieder folgendermaßen: „Es wäre peinlich, in der Kommission politisch zu argumentieren, da man sich hierdurch vor den anderen Mitgliedern disqualifizieren würde“ (Interview Mitglied 17). Die dritte Rahmenbedingung betrifft die fachliche Unabhängigkeit, die von den meisten Interviewten als wichtigster Erfolgsfaktor herausgestellt wurde. Zum einen ist dabei die Unabhängigkeit im Verhältnis zur Politik hervorzuheben: Der politische Auftrag ist so gemeint, dass wir unabhängig arbeiten. Ich habe es, zumindest von deutscher Seite, nie erlebt, dass der Auftraggeber, also das Außenministerium, den Auftrag verengt hat und versucht hat, aus der wissenschaftlichen Arbeit ein Instrument zu formen. (Interview Mitglied 1)
Zum anderen ist die Unabhängigkeit in Bezug auf die Interaktion mit der Öffentlichkeit ein wichtiges Kriterium: Der Kommission war von Anfang an bewusst, dass sie nicht nur fachlich was machen muss, sondern auch für die Öffentlichkeit. Aber das war von Anfang an klar. Das sind zwei
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verschiedene Dinge. Nicht nur fachlich, aber auch für die Öffentlichkeit etwas zu unternehmen. Wichtig ist aber, dass dieser Wunsch und dieser Wille nichts zu tun haben mit der Unabhängigkeit: Die Kommission ist unabhängig. (Interview Mitglied 15)
Der dritte Aspekt hebt noch einmal die individuelle Perspektive der Mitglieder bei der Zusammenarbeit in der Kommission selbst hervor. Die Kommission ist unabhängig oder besser gesagt, sie arbeitet unabhängig. Und, was man nicht vergessen darf: Es ist ja die Entscheidung jedes einzelnen Mitgliedes, wie er sich entscheidet, wenn er Mitglied ist, dann unabhängig zu arbeiten. […] Niemand zwingt ja jemanden, etwas zu machen, was gegen sein Gewissen oder seine Überzeugung wäre. (Interview Mitglied 21)
Die beschriebene Unabhängigkeit bezieht sich im Einzelnen auf die Auswahl der behandelten Themen, die gewählten Methoden ihrer Bearbeitung und Strategien der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse. Eine Einschränkung dieser Unabhängigkeit könnte entsprechend dazu führen, dass gefundene Lösungen von den Mitgliedern nicht als authentisch wahrgenommen würden, was zu einer Destabilisierung bzw. eventuell sogar zu einem Zusammenbrechen der Kommission führen könnte. Insgesamt kann daher die erste Hypothese aufgestellt werden, dass die spezifische Konstitution des transnationalen Raums der Historikerkommission in Form von paritätischer Besetzung, doppelter Institutionalisierung und fachlicher Unabhängigkeit entscheidenden Einfluss auf ihre Arbeitsweise besitzt, da sie die Möglichkeiten einer autonomen Gestaltung des Raums durch die Mitglieder erhöht, so dass Zusammenarbeit und Zusammenhalt innerhalb der Gruppe überhaupt erst möglich werden.
4.2. Gleichzeitigkeit integrativer und desintegrativer Dynamiken Auf Grundlage der ersten Hypothese kann nun in einem zweiten Schritt der Blick in das Innere der Kommission gelenkt werden, um die Fragen zu beantworten, wie sich die Rahmenbedingungen in der konkreten Zusammenarbeit auswirken und welche kommunikativen Dynamiken sich dabei identifizieren lassen. Wenn man die Mitglieder bittet, die Arbeitsweise der Kommission zu beschreiben, wird oftmals das langjährige Mitglied in der Kommission, Ferdinand Seibt, zitiert: „Es gibt zwei Fußballmannschaften, aber man kann ein Eigentor machen“ (Interview Mitglied 22). Diese Sportmetapher illustriert in einfacher
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Weise die Gleichzeitigkeit integrativer und desintegrativer Dynamiken bei der Zusammenarbeit. So werden die einzelnen nationalspezifischen Sektionen der Kommission mit Mannschaften verglichen, die gegeneinander antreten. Dieses Bild legt zunächst einen klaren Wettkampfbezug nahe, bei dem es am Ende Sieger und Verlierer geben wird, und spiegelt damit entsprechend desintegrative Kräfte wider, die zum Beispiel entlang nationaler Grenzen bei der Arbeit wirksam werden können. Gleichzeitig birgt die Erlaubnis zum Eigentor, also der Möglichkeit, die eigenen Reihen zu verlassen und der anderen Mannschaft zu einem Punktgewinn zu verhelfen, eine integrative Dynamik: Auch ein Eigentor wird als Tor interpretiert und damit zu einem fruchtbaren Ergebnis der 18 Spieler, die gemeinsam auf dem Platz stehen und ihr Bestes geben. Die Fußballmetapher spielt ebenso auf die entstandene Vertrauensbasis an, die es ermöglicht, ohne Gefahr von Eigentoren national unabhängige Standpunkte zu vertreten: Man genießt die Möglichkeit, auch über die politisch schwierigsten Sachen vorurteilslos und sachlich zu diskutieren. Das ist wirklich das, was für mich sehr angenehm war, dass man ja auch die Sachen, die gerade in dem politischen Diskurs schwierig waren, in dieser Kommission elegant, kulturell, argumentativ gelöst hat. (Interview Mitglied 17)
Diese Gleichzeitigkeit integrativer und desintegrativer Dynamiken lässt sich besonders anhand einzelner Lösungen der Historikerkommision illustrieren. Als Untersuchungsgegenstand sollen hier die von den Mitgliedern selbst identifizierten wichtigsten Ergebnisse herangezogen werden. An erster Stelle wurde immer wieder die so genannte Skizze mit dem Titel Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung erwähnt (Gemeinsame DeutschTschechische Historikerkommission 1996) . Diese auch als „Bändchen“ oder „Grünes Heft“ bezeichnete gemeinsame Überblicksdarstellung deutschtschechischer Geschichte war in ihrem Entstehungsprozess sowie auch in ihrem Ergebnis umstritten. Kritisiert wurden vor allem Auslassungen bzw. eine als zu allgemein empfundene Darstellungsweise, die von einigen Rezipientengruppen als zu starker Kompromiss gewertet wurde: [...] und die Arbeit an dem Bändchen verlangte natürlich viele Kompromisse. Und dieses ‚Grüne Heft‘ atmet förmlich diese Kompromisse, wo dann natürlich auch viele von uns sagten: ‚Verflucht, da haben wir uns über den Tisch ziehen lassen‘, und die anderen haben sich natürlich auch so gefühlt und gesagt, dass auch sie teilweise über den Tisch sich haben ziehen lassen. Wenn jemand das selber formuliert hätte, dann hätte er es bestimmt anders formuliert. Das ist aber natürlich etwas, was wir gemeinsam getan haben, und wir wollten das ja auch gemeinsam abschließen. Und um das zu dokumentieren, haben wir ja auch diese demonstrative Form des Nebeneinanderstehens des Textes (deutsch-tschechisch) gewählt, der inhaltlich identisch ist. […] Die gemeinsame Arbeit an dem Grünen Buch hat
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zwar viel Redaktionsarbeit und viel Feilen an einzelnen Begriffen verursacht, aber es war dann aber auch ein gemeinsamer Konsens. (Interview Mitglied 7)
Die Skizze verdeutlicht damit in ihrem Entstehungsprozess in idealtypischer Weise die postulierte Gleichzeitigkeit integrativer und desintegrativer Dynamiken. Als gemeinsam verfasste Publikation stellt sie als Produkt eine Art „kleinsten gemeinsamen Nenner“ dar. Kleine-Brockhoff (1996) betont hier vor allem den Prozess als verbindende Kraft. Neben kritischen Stimmen ist für die Mehrheit der Mitglieder der „Weg das Ziel: dass die Gespräche fortgeführt werden trotz Divergenzen“. Als zukunftsgerichtetes Ergebnis liefert die Skizze darüber hinaus eine Grundlage für die weitere gemeinsame Arbeit: „‚Hinter diesen Punkt‘, sagt Rudolf Vierhaus, ‚kann niemand mehr zurück‘“ (Kleine-Brockhoff 1996). Die Skizze bildet so zwar einen engen, aber konsensualen Ausgangspunkt, verweist jedoch gerade auch aufgrund ihrer Leerstellen auf verbleibende Uneinigkeit, die durch zukünftige Forschung weiter bearbeitet werden kann. Als zweites Beispiel soll die Einigung auf die oben erwähnten Opferzahlen angeführt werden. Wenn es, wie in diesem Fall, um konkrete Zahlen geht, erscheinen Kompromissversuche, die bei breiteren sprachlichen Darstellungen geschichtlicher Ereignisse durch sorgfältige Wortwahl eventuell erreichbar sein mögen, grundsätzlich zum Scheitern verurteilt: Kompromisse kann es in der Geschichtswissenschaft eigentlich gar nicht geben. Oder nur in ganz simplen Fällen. Wenn es aber unterschiedliche Vorstellungen über Opferzahlen gibt, ist es praktisch unmöglich: ‚Wir nehmen jetzt an, dass die Opferzahlen in der Mitte liegen‘. Das macht niemand, da das unseriös ist. Dann bleibt man lieber dabei, dass es unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt. (Interview Mitglied 1)
Nach sechsjähriger intensiver Zusammenarbeit beschloss die Historikerkommission, sich mit den innerhalb der deutsch-tschechischen Beziehungen wohl emotionalisiertesten und damit auch schwierigsten Zahlen zu beschäftigen, den Opferzahlen der Vertreibung/Aussiedlung. Ein Mitglied beschreibt, dass aufgrund der von sudentendeutschen Interessenverbänden vertretenen utopisch hohen Zahlen zunächst ein weitgehender Konsens unter den Kommissionsmitgliedern bestand, sich mit diesem Themenbereich am besten gar nicht wissenschaftlich auseinanderzusetzen: Diese großen Zahlen sind Unsinn. Das ist unwissenschaftlich, politisch instrumentalisiert und das hat keinen Sinn. Darüber sollten wir überhaupt nicht diskutieren. Das war eigentlich die Meinung aller Kollegen. Aber Rudolf Vierhaus [ehemaliger Vorsitzender der deutschen Sektion] hatte damals ein besseres politisches Gefühl dafür. Er als Generalist sah es vielleicht besser als wir. Und diese Initiative schätze ich sehr hoch ein. Das war vielleicht eine der besten Initiativen der Kommission. (Interview Mitglied 22)
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Die Bearbeitung des Themas benötigte dann jedoch noch ein paar Jahre der Forschung, ehe die Kommission als offizielles Ergebnis umfangreicher Auswertungen aller zugänglichen Quellen schließlich eine Zahl von max. 30.000 Opfern präsentierte. Aufgrund ihres Entstehungsprozesses kann diese Zahl nicht allein als tschechisches, slowakisches oder deutsches Ergebnis interpretiert werden, sondern ganz allein als gemeinsame Lösung der Historikerkommission: Es entsteht ja ein gemeinsamer Referenzpunkt. Politiker können sich darauf beziehen, da die Ergebnisse allgemein auch anerkannt werden als nicht tschechisch, nicht slowakisch, nicht deutsch, sondern als Ergebnisse der Historikerkommission und damit auch eine höhere Legitimation haben. (Interview Mitglied 15)
Neben der eigentlichen Feststellung einer Opferzahl wurde noch ein Satz eingefügt: Auch wenn die Kommission sich hier nur mit trockenen Zahlen beschäftigt, so hatte sie dabei die traumatischen Folgen von Erfahrungen und Erschütterungen des 20. Jahrhunderts vor Augen, zu denen auch die Vertreibungen und Zwangsaussiedlung gehörten. (Historikerkommission 1996)
Ein tschechisches Mitglied der Kommission berichtet über den Entstehungsprozess dieser textlichen Ergänzung: Wir [die tschechischen Mitglieder] haben diese Initiative [Gemeinsame Erforschung der Opferzahlen] sehr hoch geschätzt, weil diese große Zahl eine enorme Belastung war. Ich muss sagen, das war vielleicht unser kleiner Beitrag, als wir das Communiqué fertig hatten, und mit einer gewissen Erleichterung, dass wir endlich ein Ergebnis hatten und gemeinsam vorangekommen sind, haben wir dann gesagt und vorgeschlagen, dass wir noch einen Satz hinzufügen müssen, der unser Bedauern für jedes einzelne Opfer zeigt. Und ich muss sagen, die Deutschen stimmten einfach sofort zu. Rudolf Vierhaus hat dann noch gesagt, dass er sich bei den tschechischen Kollegen bedanken muss. (Interview Mitglied 22)
Hier wird der Lösungscharakter des Ergebnisses besonders deutlich. Die wissenschaftliche Bestimmung einer Opferzahl bedurfte einer intensiven Beschäftigung mit grundlegenden methodischen und statistischen Fragen, die von der Gruppe anerkannt werden mussten. Auf Basis dieser gemeinsamen Arbeitsgrundlage wurde es dann möglich, die gemeinsam erreichte Zahl auch gemeinsam zu vertreten. Die Lösung demonstriert in diesem Beispiel die Fähigkeit der Kommission zur Herstellung von Konsens. Auch demonstriert sie die besondere Aufgabe einer gemeinsamen Historikerkommission: Aufgabe der gemeinsamen Historikerkommission könne es nicht sein, eine verbindliche Geschichtsdeutung zu dekretieren (oder anders gesagt: dicke Striche zu ziehen) – wir können aber soweit kommen, dass wir feststellen, was man nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft nicht mehr sagen kann. (Vierhaus, zitiert in Lemberg 1998b)
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Als drittes Beispiel für die Gleichzeitigkeit integrativer und desintegrativer Dynamiken kann auf ein terminologisches Ergebnis der Kommission verwiesen werden, das von den Kommissionsmitgliedern als besonders wichtig erachtet wurde. Dabei handelt es sich um die gemeinsame Sprachregelung für die im deutsch-tschechischen Verhältnis besonders emotional beladenen Begriffe ‚Vertreibung‘ oder ‚odsun‘ (zur Terminologie u. a.: Beneš/Pešek 2002: 235). Křen beschreibt die Herausforderung dieser Aufgabe folgendermaßen: Wenn die deutsche Seite den Begriff Vertreibung verwendet, so sprechen wir [die Tschechen] von ‚odsun‘, gemeinsam verwenden wir gegebenenfalls das Wort ‚Transfer‘. Der Begriff ‚Vertreibung‘ bezieht sich auch auf die wilden Vertreibungen, ‚Aussiedlung‘ oder ‚Zwangsaussiedlung‘ auf die organisierte Vertreibung (odsun). Wir bemühen uns, diese Begriffe nicht zu emotionalisieren, sondern daraus historische Fachtermini zu machen, die möglichst genau das erfassen, was geschehen ist. (Štepánková 1996)
Die Kommission einigte sich schließlich auf den Terminus ‚Vertreibung/Aussiedlung‘, einen Doppelbegriff, der von beiden Seiten eine differenziertere Betrachtungsweise auf das Problem impliziert und anerkennt, dass es hierzu unterschiedliche (nationale) Interpretationen gibt, die simultan akzeptiert werden. Gerade in Bezug auf diese Terminologie wird deutlich, dass ein Versuch der Charakterisierung als integrativ oder desintegrativ das Ergebnis bestenfalls beschreiben, aber nicht erklären kann. Mit Hilfe der gemeinsamen Sprachregelung Vertreibung/Aussiedlung wird im Sinne von Star ein „Gebiet mit übereinstimmenden Grenzen“ (Star 2004) geschaffen, bei dem die Mitglieder die Entscheidung getroffen haben, sich nicht zu entscheiden, symbolisiert durch die Doppelbezeichnung. Die Lösung für die Kommission in dieser Frage besteht in der Möglichkeit der Nichtentscheidbarkeit. Die von der Historikerkommission erarbeiteten Ergebnisse können zusammenfassend als konkrete Sedimentationen der wirkenden Einflüsse betrachtet werden, die durch den Rahmen des transnationalen Raums katalysiert werden. Als Lösungen oder boundary objects einer wissenschaftlichen heterogenen Kommission zeichnen sie sich durch die Parallelität integrativer und desintegrativer Dynamiken aus. Sie sind plastisch genug, um sich an die lokalen Bedürfnisse und constraints der sie verwendenden Parteien anzupassen, aber auch robust genug, um eine gemeinsame „translokale Identität zu bewahren“ (Star 2004: 69f.). Ihre Entstehung ist nur aus der Gleichzeitigkeit der Dynamiken erklärbar.
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4.3. Funktion der Dynamiken Nachdem die Gleichzeitigkeit integrativer und desintgrativer Dynamiken in der Arbeitsweise herausgearbeitet wurde, soll im Folgenden untersucht werden, welche Funktionen die Dynamiken in Bezug auf die Ergebnisse der Kommission besitzen, und zum anderen, welche Rückwirkungen auf die Kommission zu beobachten sind. Als eine wichtige Funktion für die Kommissionsergebnisse lässt sich dabei zunächst eine allgemeine „Anerkennbarkeit“ durch die Mitglieder der Kommission diagnostizieren. Die integrativen und desintegrativen Dynamiken ihres Entstehungsprozesses sorgen dabei einerseits für die Herausbildung eines Gefühls der Teilhabe aller Beteiligten, andererseits lassen sie Raum für individuellen oder gruppenspezifischen Dissens und ermöglichen somit persönliche Verbindlichkeit auch bei strittigen Themen: Also Sachen, mit denen man nicht übereinstimmt, wie z. B. Publikationen, die man schlecht findet, wo ich nicht dahinter stehen kann, gab es eigentlich nicht. Alle Ergebnisse werden ja immer sozusagen dreimal ‚gefiltert‘ [...] Ich kann eigentlich alle Ergebnisse der Kommission persönlich vertreten. (Interview Mitglied 7)
Diese Anerkennbarkeit der Ergebnisse stellt darüber hinaus eine Grundvoraussetzung für ihre weitere Verwendbarkeit in der Kommission sowie auch außerhalb dar: Also bisher habe ich keine ernsthaften Probleme mit den Ergebnissen der Kommissionstätigkeit, auch mit den Beschlüssen der Kommissionstätigkeit gehabt. Wenn man sozusagen allein [...] wäre, könnte man sich vorstellen, dass man etwas mehr Zug in die Bude reinbringen würde. Aber das ist ja die fehlgeleitete Vorstellung, dass sie alleine das besser machen könnten. Diese Illusion habe ich eigentlich nicht. Bei allen Reibungsverlusten und auch Frustrationen, die es da mal gegeben haben mag auf der einen oder der anderen Seite, kann man sagen, dass in der Summe das doch schon eine ganz gute Entwicklung widerspiegelt. [...] Es gab für mich nie eine Situation, wo ich aus dem Raum hätte rausrennen wollen. (Interview Mitglied 4)
Auch in den Medien z. B. der Interessengruppen ist eine Anerkennung und auch eine Verwendung der Ergebnisse zu verzeichnen. Exemplarisch hierzu kann die Opferzahldiskussion betrachtet werden. So äußert sich der Generalsekretär des Sudetendeutschen Rates Albrecht Schläger zur Darstellung der Opferzahlen: Was die Zahl der Vertreibungsopfer angeht, so wird die ‚traditionelle‘, von Historikern bezweifelte Zahl 240 000 in der Dokumentation [gemeint ist der Katalog zur Ausstellung: Die Sudetendeutschen – eine Volksgruppe in Europa] nicht mehr vertreten. (Facius 2007)
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Von einer uneingeschränkten Akzeptanz kann man allerdings auch heute noch nicht sprechen, wie ein Blick auf die Homepage der Sudetendeutschen Landsmannschaft zeigt, wo der Kommission auch heute noch vorgeworfen wird, „Daten entweder ignoriert oder beiseite gewischt“ (Landsmannschaft 2008) zu haben. Ein Kommissionsmitglied äußert sich zu der insgesamt dennoch als positiv zu bewertenden Entwicklung: Es dauerte einige Jahre, bis man in der Presse mehr oder weniger die Ergebnisse der Kommission zu den Opferzahlen akzeptiert hat. Sogar diese kleine Sudetendeutsche Zeitung verwendet nicht mehr die großen (240.000 Opfer) Zahlen, oder nur noch ausnahmsweise. Die Ursache hierfür ist, dass eben das Ergebnis kein Kompromiss war. (Interview Mitglied 22)
Neben ihrem direkten Einfluss auf die Ergebnisse der Historikerkommission lassen sich auch wichtige Funktionen der Dynamiken für den Bestand des Kollektivs Historikerkommission selbst identifizieren. Eine zentrale Leistung der Gleichzeitigkeit integrativer und desintegrativer Dynamiken liegt dabei in der Ermöglichung stabiler Kommunikationsfortschreibung. Indem z. B. eine gemeinsame Sprachregelung (Entscheidung der Nichtentscheidbarkeit im Fall von Vertreibung/odsun) gefunden wird, deren Ergebnis nicht nur ein Schlagwort ist, sondern beide Sichtweisen integriert, erleidet keine der beteiligten Gruppen eine Niederlage, da die gefundene Lösung eine Akzeptanz von Differenzen in sich einschließt und so in der Lage ist, Kohäsion zwischen den Mitgliedern zu erzeugen: Das ist der große Vorteil der Historikerkommission, dass sehr viele Mitglieder der Kommission sehr eng befreundet sind und auch viele Freunde wurden. Die Kommission ist auch ein Milieu, in dem diese Freundschaften entstanden bzw. entstehen und weiterleben. (Interview Mitglied 17)
Dieser Zusammenhalt muss als Grundlage dafür angesehen werden, dass nach und nach eine gegenseitige methodische und fachliche Öffnung der Mitglieder möglich wurde. Die Kommission wird in diesem Zusammenhang von vielen Mitgliedern als eine Art Lernraum charakterisiert, in welchem alle drei Seiten wissenschaftlich von der Kooperation profitieren: Es ist ein beiderseitiger Lernprozess. Es ist ein Lernraum entstanden, der auf Beidseitigkeit beruht, auch wenn im Prinzip die tschechische und slowakische Geschichtsschreibung methodisch und methodologisch sehr eng verbunden war, auch in der Vergangenheit. (Interview Mitglied 18)
Die Kommission wird so zu einem progressiven Lernumfeld, in dem die jeweils anderen Perspektiven automatisch mitzudenken sind. Ein Mitglied umschreibt dieses Phänomen sogar als die „Philosophie der Historikerkommission“, die sich über die Jahre herausgebildet hat. In dieser Hinsicht sei die „Kommission
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auch modern“, da sie dem „Postulat moderner Geschichtswissenschaften“ folgt (Interview Mitglied 1): Die Philosophie der Kommission ist ja im Grunde die, dass in der historischen Reflexion, in der historischen Sinnbildung immer auch bedacht werden muss, was auf der anderen Seite an Perspektiven da ist. Und dass diese Perspektiven die eigenen Vorstellungen ergänzen müssen. Es ist ja nicht gemeint, dass wir ein gemeinsames, gleiches Geschichtsbild haben müssen in Prag und in Berlin. (Interview Mitglied 1)
Die entstandenen Gemeinschaftsgefühle sowie die gemeinsame Weiterentwicklung sorgen in einem weiteren Schritt im Rahmen eines sich selbst verstärkenden Kreislaufs für die Herausbildung von gegenseitigem Vertrauen, das wiederum die Entwicklung weiterer Ergebnisse ermöglicht. So wird es erklärbar, dass im Laufe der Zeit auch „heiße Eisen“ (Lemberg 1998b: 7) angepackt werden können. Die „Eisen“ können dabei so bearbeitet oder mit den Worten eines Mitgliedes „ziseliert“ werden (Interview Mitglied 7), dass am Ende weitere tragfähige Ergebnisse als Lösungen entstehen. Die beschriebene Mischung von Dynamiken der Integration und Desintegration führt also letztlich überraschenderweise nicht primär zu Verzögerungen, Störungen oder Fehlschlägen, sondern zu einer Erhöhung des Handlungsspielraums der Beteiligten. In diesem Sinne können die Ergebnisse der Historikerkommission auf einer höheren Ebene auch als Lösungen für die beteiligten Gesellschaften bewertet werden: Viel entscheidender für die Verständigung zwischen den Nationen als die Interpretation spezifischer Ergebnisse als Kompromiss, Konsens, Wahrheit oder Unwahrheit erscheint dann der gemeinsame Arbeitsprozess an den Lösungen: Ich glaube am Anfang existierte der Eindruck, dass hier zwei unkompatible nationale Geschichtsbilder, Geschichtsdarstellungen nebeneinander stehen. Diese Kommission hat geholfen, dass sich diese Vorstellung bei einem Teil der Öffentlichkeit relativiert hat bzw. sie als Geschichtsbilder bezeichnet. Der Diskurs wurde viel facettenreicher. Ich glaube, jetzt wissen wir, dass diese Geschichtsbilder zwar unterschiedlich sind, aber gar nicht unkompatibel. Es wurden verschiedene Referenzrahmen gefunden. Also nicht nur die üblichen Modernisierungsprozesse moderner Nationenbildung und die de facto analogen Gesetzmäßigkeiten im Werden der nationalen Gesellschaften und ihrer Geschichte. Ich glaube, dass das alles Dinge sind, die schon am Anfang klar waren. Es war wichtig, dass dies aber in gemeinsamen Sammelbänden dargestellt und betont wurde. (Interview Mitglied 24)
Auch Lemberg unterstreicht in einem Zeitungsinterview besonders die Bedeutung der gemeinsamen Arbeit: „Das wichtigste Ergebnis der Arbeit“ und der größte Erfolg der Kommission ist, „dass deutsche und tschechische Historiker, überhaupt Geschichtswissenschaftler zweier Länder so lange konstruktiv
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zusammenarbeiten: Das gab es noch nie“ (Hanisch 2005). Ergänzend und perspektivisch erweiternd ist die Bewertung Pešeks zu sehen: Gemeinsame Arbeit über die gemeinsamen Themen: Das ist das Beste, was das moderne Europa für die Entschärfung der politischen Konflikte anbieten kann. (Wiedemann 2006)
Insgesamt kann festgestellt werden, dass die beiden Dynamiken der Integration und Desintegration in ihrer Gleichzeitigkeit zentrale Funktionen für den Fortbestand und den Erfolg eines ‚transnationalen Raums‘ wie dem der Historikerkommission zu besitzen scheinen. Für die Lösung ‚historisierter Konflikte‘ mit Hilfe wissenschaftlicher Kommissionen stellt dies ein unerwartetes Ergebnis dar: Tragfähige wissenschaftliche Ergebnisse solcher Institutionen scheinen nicht allein auf der Grundlage von erzwungenem Konsens oder einseitiger bzw. gegenseitiger Anpassung erreicht werden zu können. Sie stellen vielmehr die Früchte eines emergenten Arbeitsprozesses aus widersprüchlichen Dynamiken dar, die integrative und desintegrative Aspekte gleichermaßen in sich tragen.
5. Fazit
Ziel dieses Beitrags war es, die Arbeitsweise der deutsch-tschechischen und deutschslowakischen Historikerkommission aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive zu beschreiben, um darzustellen, wie innerhalb der Kommission wissenschaftliche Ergebnisse produzierbar werden, die als Instrumente der Konfliktlösung wirksam werden können. Dabei wurde zunächst auf die Herausforderungen ‚historisierter Konflikte‘ hingewiesen, die durch ihre nachträgliche Unlösbarkeit die Kommunikationsprozesse zwischen Nationen wie Deutschland und Tschechien latent belasten. Als eine vielversprechende Form zur wissenschaftlichen Bearbeitung solcher Konflikte konnte das Instrument der Einsetzung internationaler Historikerkommissionen identifiziert werden, die in der Vergangenheit wertvolle Beiträge zu bilateralen Verständigungsprozessen liefern konnten, vom allgemeinen Forschungsinteresse jedoch u. a. aufgrund ihrer komplexen Struktur als heterogene Forschungskooperationen weitgehend ausgeklammert blieben. Es konnte gezeigt werden, dass neue Ansätze der Kommunikationswissenschaften in Verbindung mit Erkenntnissen der Kulturwissenschaften ein Me-
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thodenrepertoire zur Verfügung stellen, das eine Analyse der Arbeitsweise von Historikerkommissionen als heterogene Kollektive, deren Ergebnisse Produkte vielfältiger Kommunikationsdynamiken darstellen, ermöglicht. Die deutschtschechische und deutsch-slowakische Historikerkommission lässt sich in diesem Zusammenhang zunächst als transnationaler Raum beschreiben, als semipermeable Hülle, innerhalb derer Historiker aus den beteiligten Nationen ihrer Aufgabe, gemeinsam Geschichte zu schreiben, nachgehen können. Die Arbeitsresultate der Kommission können mit Star als boundary objects bezeichnet werden, die als „robuste Ergebnisse“ nicht unbedingt auf Konsens beruhen, sondern die heterogenen Dynamiken ihres Entstehungsprozesses in sich tragen. Auf dieser Basis lassen sich als erste Ergebnisse einer Analyse von 16 Interviews mit früheren und derzeitigen Mitgliedern der Kommission zahlreiche Hypothesen zu ihrer Arbeitsweise ableiten: So erscheint die Arbeitsweise der Historikerkommission zum einen bestimmt durch die spezifischen Rahmenbedingungen ihrer Konstitution wie Besetzungsparität, doppelte Institutionalisierung der Mitglieder und fachliche Unabhängigkeit, da diese die Möglichkeiten einer autonomen Gestaltung des Raums erhöhen. Zum anderen lässt sich eine Gleichzeitigkeit integrativer und desintegrativer Dynamiken bei der gemeinsamen Arbeit identifizieren, die eine notwendige Voraussetzung für die Entstehung tragfähiger Lösungen innerhalb des Raums darstellt. Die Dynamiken erfüllen darüber hinaus wichtige Funktionen für den weiteren Umgang mit den erarbeiteten Ergebnissen und die weitere Zusammenarbeit der Kommission. So sichern sie einerseits Anerkennbarkeit und Verwendbarkeit der Resultate und schaffen andererseits einen stabilen Modus der Kommunikationsfortschreibung, ermöglichen gegenseitiges Lernen und legen die Grundlage für die Beschäftigung mit weiteren, auch kontroversen Themen. Die vorgestellten Ergebnisse liefern damit insgesamt neue Impulse zur Entwicklung von Gestaltungsansätzen bei der Etablierung zukünftiger Kommissionen an der Schnittstelle zwischen Politik, Gesellschaft und Wissenschaft (Falk/Rehfeld et al. 2007), die sich mit der Lösung von Konflikten auseinandersetzen. Die ersten Erkenntnisse hinsichtlich kommunikativer Dynamiken zur Beschreibung der Arbeitsweise innerhalb der Kommission können darüber hinaus neue Antworten auf die Frage geben, wie Kommissionen zur Lösung historisierter Konflikte beitragen können. Integrative Lösungen stellen dabei scheinbar keine notwendige Erfolgsvoraussetzung dar, da gerade nicht die Vermeidung von Dissens, sondern vielmehr die Fähigkeit zur Balance inte grativer und desintegrativer Dynamiken zu „robusten Ergebnissen“ führt.
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Als Ausblick erscheinen eine genauere Differenzierung der bisher identifizierten integrativen und desintegrativen Dynamiken sowie weitere Forschungsarbeiten zu den Wechselwirkungen zwischen Dynamiken und Kollektivbildungen innerhalb der Kommission als unabdingbar, um das Verständnis für die Arbeitsweise transnationaler Räume zur Ableitung von Gestaltungsansätzen sinnvoll zu erweitern.
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Personenregister
Abrams, Bradley F. 36 Adler, H. G. 124f. Aichinger, Ilse 125 Aigner, Dietrich 287 Alverdes, Paul 296 Anděl, Rudolf 214 Apitzsch, Ursula 225 Aquin, Thomas von 28 Arendt, Reinhard 331 Arleth, Emil 236 Assmann, Aleida 303, 319 Assmann, Jan 342 Baar, Jindřich Šimon 22 Babička, Vácslav 296 Bachmann, Ingeborg 124 Bachmann, Klaus 328 Bachmann-Medick, Doris 49 Badeni, Kasimir Felix 10, 76, 81 Bakoš, Ján 195 Balcar, Jaromír 197 Barbian, Jan-Pieter 287, 291 Bardovi-Harlig, Kathleen 114 Bartels, Adolf 287 Bartoš, František 185, 188 Bartošek, Luboš 157, 165 Bartlová, Milena 198 Bauer, Felice 132 Baudissin, Ute Gräfin von 94 Baum, Oskar 143 Baur, Uwe 289 Bausinger, Hermann 282 Becher, Peter 287f. Beckerman, Michael 185f. Bednařík, Petr 166 Bělohradský, Václav 309 Beneš, Evard 35, 293, 326f., 329
Beneš, Karel Josef 140 Beneš, Zdeněk 343, 353 Benda, Jaroslav 213 Beranek, Franz 252-254 Berger, Peter 288 Berger, Tilman 82, 92 Bergerová, Natalia 20 Bergmann, Anka 304, 313 Berlioz, Hector 177 Bezruč, Petr 24-26 Bilčík, Vladimír 325 Billinger, Richard 180 Biman, Stanislav 323, 335f., 339 Binet, Alfed 237 Birdsong, David 113 Bismarck, Otto von 37 Blank, Herbert 124 Blei, Franz 138, 141 Bloch, Grete 132 Blunck, Hans Friedrich 295f. Bock, Ivo 42 Bodenreuth, Friedrich 289 Bolten, Jürgen 332f. Bolzano, Bernard 13 Borgmann, Hans Otto 180 Born, Jürgen 123f. Bornscheuer, Lothar 47, 59 Bourdieu, Pierre 10 Brabec, Jiří 37 Brackmann, Albert 257f. Branberger, Jan 199 Brandes, Detlef 290 Bratranek, Franz Thomas/ František Tomáš 14 Braun, Karl 266, 268, 272, 342 Braun, Matthias 294 Braunerová, Zdenka 139 Bredekamp, Horst 195, 220 Brehm, Bruno 289, 295
Brenner, Christiane 35, 334 Bretholz, Bertold 269 Brill, Klaus 327 Brod, Max 67, 129-134, 137151, 289 Bronfen, Elisabeth 49, 59 Brousek, Antonín 37 Brousil, Antonín Matěj 165f. Buber, Martin 129, 132 Buddeberg, Gwendolin 344 Burckhardt, Jacob 125 Burgsdorff, Kurt von 290 Burian, Emil František 149 Burian, Miroslav 205f., 209, 210, 218 Buriánek, František 24 Burt, Marina K. 113 Buzalka, Juraj 325 Čacka, Marie 306 Calafato, Eustochia Smeralda 52 Canetti, Elias 124 Čapek, Josef 148 Čapek, Karel 147-148, 288 Čapková, Kateřina 67 Carossa, Hans 296 Cattaruzza, Marina 330-332 Celan, Paul 124 Čermínová, Marie 36 Černý, Ottokar/Otakar 84 Chadraba, Rudolf 216 Charvátová, Ema 202, 204, 207, 218 Chelčický, Petr 122 Christiani, Rudolf 131 Clairvaux, Bernhard von 28 Claparede, Edouard 237 Clifford, James 275 Comenius, Johann Amos 238
368 Cornelißen, Christoph 330, 345 Cruz, Juan de la 28 Čup, František 235 Curtius, Ernst Robert 47 Daneš, Zdeněk 306 Dastich, Josef 233 David, Josef 73, 74 David, Ottilie siehe auch Kafka, Ottilie Dehio, Georg 196, 200 Dehnert, Walter 267 Dewey, John 240f. Dienstbier, Jiří 335 Diers, Michael 195 Dienzenhofer, Kilian Ignaz 213 Dilly, Heinrich 194 Dingsdale, Alan 312, 314 Dittmann, Lorenz 220 Dolanský, Julius 308 Donáth, Oskar 20 Drachmann, Eduard 69 Drápala, Milan 36 Drubek, Ladislav 54 Drubek-Meyer, Natascha 54 Drtina, Prokop 35 Dulay, Heidi C. 113 Durdík, Josef 235 Durdík, Petr 235 Dušková, Dagmar 206 Dvořák, Antonín 173, 318 Dvořák, Arnošt 139, 142, 145f., 150, 178 Dvořáková, Vlasta 197, 201, 216f. Dwinger, Edwin Erich 295 Ebner-Eschenbach, Maria Freifrau von (Gräfin Dubský) 14 Edler, Jakob 332 Edorgan, Recep Tayyip 331 Ehlers, Klaas-Hinrich 122, 246, 267
Personenregister Ehrke-Rotermund, Heidrun 288 Eim, Gustav 19 Eis, Gerhard 252 Eisner, Paul 124 Eliáš, Alois 290 Elisabeth (Kaiserin von Österreich) 189 Elsaesser, Thomas 155 Emmerich, Wolfgang 282 Enders, Julius 306 Eustochia siehe auch Calafato, Eustochia Smeralda Exner, Franz 232 Facius, Gernot 354 Falk, Svenja 344, 358 Faust, Anselm 287, 291 Fauth, Tim 290 Fechter, Paul 287 Fiala, Kamil 141 Fichte, Johann Gottlieb 14, 269-277, 281f. Fiewke, Reg. Rat Dr. 261 Fischer von Erlach, Johann Bernhard 213, 220, 294 Fischer, Otokar 142, 326 Flecken, Monique 100 Flickinger, Brigitte 159 Flinker, Martin 123 Foerster, Friedrich Wilhelm 236 Forman, Wilhelm 290, 299 François, Etienne 47, 194 Franzen, K. Erik 334 Franziskus von Assisi 28 Frank, Karl Hermann 290 Frank, Susi 319 Frankenberg, Christina 42 Franz Joseph I. (Kaiser von Österreich) 189 Fredel, Jürgen 220 Freeman, Frank Nugent 241 Freud, Sigmund 52 Frevert, Ute 35 Fricke, Ernst 295
Fried, Erich 124f. Fringeli, Dieter 124 Frings, Theodor 255f. Frolec, Václav 27 Frommer, Benjamin 35 Fuchs, Rudolf 137, 141 Fuchs, Sabine 289 Führer, Karl Christian 159 Funk, František siehe auch Hušek, Jaromír Fussenegger, Gertrud 289 Gadamer, Hans-Georg 317 Galmiche, Xavier 41 Gardt, Andreas 313 Gellner, Ernest 276 Genscher, Hans Dietrich 335 Germer, Stefan 307 Gide, André 36 Gierach, Erich 245f., 252f., 255f., 267f., 274, 278 Gläser, Martin 334 Glaser, Barney 341 Glaser, Rudolf 11 Glassheim, Eagle 35, 202 Glauser, Friedrich 124 Gleßgen, Hermann 295 Glettler, Monika 268, 290 Glotz, Peter 35 Goebbels, Joseph 180-183, 291, 294 Goethe, Johann Wolfgang 125, 291 Goldstein, Moritz 134 Goschler, Constantin 35 Gottwald, Klement 305 Götz, František 142 Grab, Hermann 289 Gradwohl-Schlacher, Karin 289 Gréb, Julius 248 Gregory, Karl Freiherr von 290, 297 Grekhova, Yekaterina 93, 107
369
Personenregister Grimm, Reinhold 288 Grosser, Otto 257, 258 Grossmann, Stefan 122 Gruber, Josef 78 Günther, Anton 265 Haas, Rudolf 289 Haas, Willy 129, 163 Hába, Alois 149 Hácha, Emil 290, 293 Hahn, Hans Henning 35 Hahn, Eva 35 Hahn, Hildegunde 189 Hájková, Angelika 94 Halas, František 36, 122 Hálek, Vítězslav 187 Hall, Stanley 237 Hammerstein, Notker 250 Hamsun, Knut 142 Handke, Peter 125 Hanika, Josef 253, 268 Hanisch, Klaus 357 Hansen, Klaus P. 333 Hanslick, Eduard 174, 175, 176-178, 179 Hanuš, Jan 303 Harlan, Veit 179-181, 190 Hartmann, Andreas 282 Hašek, Jaroslav 137, 140-142 Haslinger, Peter 328, 329 Haubner, Jakob 77 Hausenblasová, Jaroslava 216 Haupt, Gunther 291 Hauptmann, Franz 125, 288 Hauptmann, Gerhart 29 Havel, Václav 335, 337, 344 Havelka, Jiří 157f., 164 Havelka, Miloš 342 Havemann, Robert 303 Havlíček, Karel 14 Havránek, Jan 66, 84 Haydn, Joseph 189 Heilfurth, Gerhard 265 Heine, Heinrich 130f. Hein-Kircher, Heidi 307 Heinrich, Wilhelm 277
Helfert, Vladimír 177 Hemmerich, Gerlach 261f. Hemmerle, Rudolf 274 Hendriks, Henriëtte 108, 114 Henlein, Konrad 239, 268, 278, 289 Henning, Otto 287, 296 Henßen, Lubica 93 Herbart, Johann Friedrich 232, 233-235 Herben, Ivan 35 Herben, Jan 22 Herder, Johann Gottfried 10 Hermand, Jost 288 Hermsdorf, Klaus 74 Heroldová, Iva 208 Herzog, Roman 337 Herzogenberg, Johanna Baronin 294 Heumos, Peter 215, 220, 288, 325f., 330 Hieronymus, Hl. 52 Hildebrandts, Johann Lucas 212f. Hilsner, Leopold 10, 23 Hilz, Wolfram 328 Hinz, Berthold 220 Hitler, Adolf 39, 125, 151, 291 Hlavačka, Milan 76, 82 Hlinka, Vojtěch 20 Hlobil, Ivo 193, 210 Hobsbawm, Eric 311 Hobzek, Josef 210 Hodin, Josef Paul 122f. Hoening, Matthias 344 Hoensch, Jörg K. 323 Hoffmann, Camill 289 Hoffmeister, Adolf 159f. Höfler, Alois 235 Hofmannsthal, Hugo von 29 Hohendahl, Peter Uwe 288 Hohlbaum, Robert 289, 295, 296 Hohl, Ludwig 124 Hohmeyer, Andrea 287
Höhne, Steffen 9, 122, 323, 328 Holeček, Josef 22 Holek, Wenzel 273 Holeyšovsky, Jakub 85 Höller, Franz 290 Hultsch, Anne 28 Holý, Jiří 37, 42 Holý, Ladislav 308, 310-314 Holzinger, Karl John 241 Hölzlwimmer, Laura 344 Horová, Anděla 216 Horst, Max 261 Hosak, Ladislav 308 Hrubý, Antonín 42 Hrůza, Antonín 85 Hrůzová, Anežka 23 Hubel, Helmut 324 Hughes, Everett C. 332f. Huntington, Samuel P. 324 Hus, Jan 310 Hušek, Jaromír 21, 23 Hutteon, Christopher 253 Hyndráková, Anna 68 Ibsen, Henrik 29 Ivanov, Miroslav 305 Jahn, Friedrich Ludwig 14, 269, 272f., 275-277, 281f. Jähnichen, Manfred 147 Jahoda, Ota 43 Jakubův, František 37 James, William 235 Janáček, Leoš 27, 137, 139, 142, 147-149 Janáčková, Jaroslava 37, 42 Janatková, Alena 196, 199 Jarausch, Konrad 329 Jaworski, Rudolf 13 Jech, Karel 201, 205 Jesenská, Milena 73, 121123, 125, 134, 278 Jirák, Karel Boleslav 183 Jirásek, Alois 147f. Jiříček, Edvard 37, 42
370 Johst, Hanns 295f. Joseph II. (Kaiser) 64 Jouhanneau, Cécile 337 Judd, Charles Hubbard 241 Jungbauer, Gustav 266f., 271, 279 Junghans, Carl 165 Jungk, Peter Stephan 121 Jungmann, Josef 14 Kabíček, Jan 214 Kádner, Otakar 237 Kafka, Franz 73-75, 84-86, 120-122, 124f., 129, 132134, 138, 140-143, Kafka, Ottilie 73f. Kafka, Valerie 69, 125 Kaiser, Karl 337 Kaizl, Josef 329 Kalandra, Záviš 36 Kann, Robert A. 330 Kaplan, Jan 288 Kaplan, Karel 201, 205 Karakasidou, Anastasia 282 Karásek ze Lwovic, Jiří 139, 141f. Karel, Rudolf 149 Karbusický, Vladimír 183 Kaschuba, Wolfgang 283 Kasics, Kaspar 303 Kasper, Tomáš 68, 190, 238, 267 Kasperová, Dana 69 Kellerman, Eric 92 Kipke, Rüdiger 327 Kisch, Alexander 119 Kisch, Egon Erwin 119, 123, 146, 163 Kisch, Enoch Heinrich 119 Kisch, Paul 145 Kladiva, Jaroslav 37 Klein, Wolfgang 93 Kleine-Brockhoff, Thomas 324, 343, 351 Kleßmann, Christoph 330 Kliems, Alfrun 49, 56
Personenregister Klíma, Ivan 125 Klimeš, Ivan 157f., 163 Klocke, Dr. 259 Klopstock, Robert 134 Klostermann, Karl/Karel 14 Knap, Josef 144 Knobloch, Clemens 246 Koch, Franz 287 Koeltzsch, Ines 161 Kohout, Pavel 125 Kohler-Koch, Beate 332 Koldau, Linda Maria 175, 184, 188 Kolbenheyer, Erwin Guido 289, 295 Konečný, Václav 216 Kopecký, Václav 206 Kosatík, Pavel 143 Koschmal, Walter 289 Kotěra, Jan 143 Koula, Jan 195 Kouša, Igor J. 164 Kovárna, František 36-44 Kozák, Jan B. 37 Králík, Oldřich 308 Kranzmeyer, Eberhard 245 Krása, Josef 216 Krashen, Stephen D. 113 Kratochvil, Alexander 304, 313 Kraus, Karl 125, 133 Krebs, Hans 282 Krejčí, František 67 Krejčí, Jan 14 Krejčí, Oldřich 308 Křesadlo, Jan 47f., 51-53, 55, 56, 59 Křen, Jan 11, 12, 323, 325f., 330 Křička, Jaroslav 148f. Kříženecký, Jan 164 Krolop, Kurt 12, 26 Kroupa, Jiří 216 Krtilová, Eva 219 Krywalski, Diether 123 Kučera, Jaroslav 158
Kučera, Jan 165 Kuchař, Lumír 138 Kuna, Milan 182f. Kunc, Jaroslav 37 Kundera, Ludvík 306 Kundera, Milan 27, 125 Kural, Václav 326, 343 Kurzke, Hermann 318 Kuske, Bruno 249 Kuthan, Jiří 193 Kvapil, Jaroslav 145, 147 Květ, Jan 217-219 Labuda, Adam S. 194, 196 Lachmann, Renate 315, 319 Lachnit, Edwin 195 Laforgue, Jules 139 Lang, Kai-Olaf 327f. Langenbeck, Curt 296 Langenbucher, Hellmuth 287 Langer, František 142, 145, 148 Lange-Greve, Susanne 288 Latour, Bruno 333, 340 Laurin, Arne 147 Lay, Wilhelm August 236f. Lehár, Jan 37, 42 Lehmann, Emil 265f., 268, 269, 271-275, 277-281 Leibl, Ernst 289 Lemberg, Eugen 310, 352 Lemberg, Hans 13, 323, 326, 342, 347, 356 Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow) 217 Leppa, Karl Franz 289, 295 Lessing, Theodor 268 Levins, Robert 334 Líbal, Dobroslav 213 Lichtenberg, Georg Christoph 303 Lichtwark, Alfred 236 Lieb, Ludger 47 Liehm, Antonín 40 Lindenbaum, Robert 289
371
Personenregister Lindner, Gustav Adolf 235 Lipták, Lubomir 290 Liszt, Franz 176f. Löbe, Paul 250 Locher, Hubert 194 Lochner, Rudolf 238f. Lodgman von Auen, Rudolf 198 Lorenz, Hellmut 220 Lorenzová, Anna 68 Loesch, Karl C. von 259, 261f. Lueger, Karl 21 Luft, Robert 84, 86, 326 Luhmann, Niklas 332 Luther, Martin 39 Maase, Kaspar 276 MacDonald, Callum 288 Mácha, Karel Hynek 122 Machar, Josef Svatopluk 137 Macura, Vladimír 306 Maeterlinck, Maurice 29 Magris, Claudio 123 Mahen, Jiří 142, 147f. Maidl, Václav 289 Manstein, Erich von 261 Marek, Michaela 194-196, 198-200, 210, 220, 347 Mareš, František 304f., 308, Mareš, Michal 140f., 207 Marschner, Robert 78f., 82 Marten, Miloš 139 Martin, Bernhard 255 Martinů, Bohuslav 149f. Masaryk, Tomáš (Garrigue) 23, 67, 122, 151, 235, 303f. Matiegka, Jindřich 20 Matouš, František 216 Matthias von Arras 213 Mayer, Stefanie 327 Mecklenburg, Norbert 48 Meier, John 248f., 252 Meisel, Kurt 179 Meister, Ingo 334
Mencl, Václav 210, 218 Mentzel, Rudolf 256 Merker, Emil 289 Merhautová-Livorová, Anežka 219 Mertens, Lothar 250, 255f. Meumann, Ernst 236f., 239 Midell, Matthias 156 Mihálik, Peter 157 Mikulášek, Alexej 19-24, 30 Milde, Vinzenz Eduard 232 Miroslav, Karel siehe auch Hušek, Jaromír Mišková, Alena 199, 257, 268, 290 Mlejnková, Anna 204 Molo, Walter von 289 Mommsen, Hans 347 Moníková, Libuše 47f., 56-58 Morat, Daniel 155 Morganová, Pavlína 206 Morgenstern, Dominik 157 Mrštík, Alois 22 Mrštík, Vilém 22 Mukherjee, Bharati 49 Mühlberger, Josef 288-290 Müller, Axel 337 Müller, Corinna 155, 158, 161 Müller, Michael 220 Müllerová, Augusta 211 Musil, Robert 123f. Muthesius, Stefan 196 Nabl, Franz 289 Nadler, Josef 277, 287 Natorp, Paul 236 Nejedlý, Zdeněk 183, 187, 216 Nekula, Marek 73f., 92, 122, 138, 141, 143 Němcová, Božena 122 Němec, Zdeněk 175, 183 Neri, Philippo 28 Neruda, Jan 187 Nesměrák, Karel 306
Nesvadbíková, Jiřina 201205, 207-209 Neumann, Jaromír, 206, 218-220 Neumann, Stanislav Kostka 137 Neumüller, Michael 199, 256f. Neurath, Konstantin von 290 Neutatz, Dietmar 217 Neuwirth, Joseph 198 Noack, Frank 179 Nora, Pierre 47 Novák, Arne 67, 149f. Novotný, Václav 20 Novotný, Vladimír 206-208, 210, 218-220 Oberdorffer, Kurt 245 Oberschall, Albin 157f. Odstrčil, Bedřich 85 Offe, Claus 195 Ohmann, Bedřich 220 Ohme, Andreas 9, 323, 328 Opletal, Jan 293 Osterloh, Jörg 274 Otten, Hellen 146 Otto, Ernst 237-241 Otruba, Gustav 65 Otruba, Mojmir 305 Padlesak, Johann 232 Palacký, František 14, 318 Palugyay, Károly 157 Pánek, Jaroslav 336 Pannwitz, Rudolf 124 Panzer, Friedrich 253 Parler/Parlér, Peter/Petr 213 Parsons, Talcott 10 Pasley, Malcom 141 Paul, Karl 120 Pavlousek, Jaroslav 204 Pazi, Margarita 131 Pekárková, Iva 47f., 54-56 Pěkný, Tomáš 64
372 Peregrin 108 Pešek, Jiří 326, 343, 346, 353 Pešina, Jaroslav 206, 215, 217-220 Pestalozzi, Johann Heinrich 232, 238 Petrželka, Vilém 149 Pfitzner, Josef 274, 295 Pick, Otto 137, 141, 143 Pištora, Ladislav 157 Plasser, Fritz 309 Pleyer, Wilhelm 289, 294298 Poche, Emanuel 210, 213 Polgar, Alfred 123 Pollack, Ernst 121 Pollack, Milena siehe Jesenská, Milena Pollak, Valerie siehe Kafka, Valerie Ponrepo, Viktor 157, 164 Poppenberg, Felix 141 Prahl, Roman 347 Pravda, František 20 Příbram, Otto 77 Příhoda, Václav 241 Prisco, Edgar 150 Procházka, Arnošt 138f., 141 Procházka, Zdeněk 205 Przibram, Ludwig Ritter von 119f. Purkyně, Jan Evangelista 14 Pynsent, Robert B. 313f. Racek, Jan 27 Radermacher, Ludwig 252 Rádl, Emanuel 67, 122 Rádl, Otto 164f. Rak, Jiří 164, 197 Ranger, Terence 311 Rataj, Jan 41 Rathje, Stefanie 333 Raue, Maria Cornelia 328 Rehfeld, Dieter 344, 358 Rein, Wilhelm 236
Personenregister Reiner, Grete 141 Reinprecht, Christoph 307, 311, 313 Řezáč, Václav 42f. Řeznik, Miloš 347 Richter, Hans 176 Riegel, Paul 288 Rieger, František 185 Riegl, Alois 217 Riehl, Wilhelm Heinrich 277f., 280f. Rilke, Rainer Maria 12, 125 Rinsum, Wolfgang van 288 Rippl, Eugen 268 Rohling, August 20 Rotermund, Erwin 288 Rothacker, Gottfried 289 Roth, Joseph 123 Roth, Legationsrat 258 Roubiczek, Paul Anton 120 Rowolth, Ernst 122 Rutar, (Sidney) Zdeněk (Francis) 305 Sabrow, Martin 329 Sacha, Zala 330f. Sahonenko, Natascha 115 Said, Edward 49 Šalda, František Xaver 122 Salus, Hugo 142 Salzborn, Samuel 327 Sasse, Sylvia 319 Sauer, August 277 Saure, Wilhelm 239 Schaffner, Jakob 295 Schahadat, Schamma 319 Schallner, Dieter 41 Schamschula, Walter 24 Schell, Dorothea 282 Schier, Bruno 245 Schläger, Albrecht 354 Schlee, Günther 324 Schlegel, Gustav 246 Schlesinger, Walter 24, 26-30 Schlögel, Karl 331 Schmale, Wolfgang 156
Schmidt-Ott, Friedrich 250, 254 Schmiedtová, Barbara 91-96, 99-102, 105, 110, 114f. Schmiedtová, Věra 91 Schmitz, Walter 27 Schmöckel 261 Schneeweis, Eduard 268 Schneider, Josef 298 Schoell-Glass, Charlotte 195 Scholz, Hugo 298f. Schönerer, Georg von 21 Schramm, Caroline 319 Schreiber, Eduard 306 Schreiber, Georg 250 Schröder, Edward 252f. Schroubek, Georg R. 267 Schulz, Mario 327, 331 Schulz-Schaeffer, Jörg 334 Schulze, Hagen 47 Schulze Wessel, Martin 346 Schumann, Gerhard 296 Schwan, Gesine 328 Schwartz, Vanessa R. 155 Schwarz, Egon 288 Schwarz, Ernst 255f., 258 Schwarz, Karl-Peter 343 Šebek, Josef 210 Sedlmayr, Hans 220 Seibt, Ferdinand 205, 349 Seifert, Jaroslav 36f. Seldmajerová, Anna 42f. Ševčík, Jirí 206 Shaked, Yuval 149 Shakespeare, William 145 Siebenschein, Hugo 138 Simon, Gerd 245 Škoda, Karel 79f. Slapnicka, Helmut 76, 199 Smetana, Augustin 11 Smetana, Bedřich/Friedrich 173f., 176-189 Smolka, Jaroslav 188 Smolka, Zdeněk 24 Smolová, Sibyl 138, 141 Smrž, Karel 164
373
Personenregister Sobkuljak, Martin 93 Sochor, Stanislav 203-205 Söderbaum, Kristina 179f Sokol Tůma, František 22f. Sombart, Werner 134 Sonnenfeld, Otto 162 Sova, Antonín 137 Spencer, Herbert 235 Spina, Franz 238, 266f. Spunda, Franz 289 Spurný, Matěj 193 Šrámek, Fráňa 139, 142-145, 147-149 Šroněk, Michal 216, 219 Štábla, Zdeněk 157 Stalin, Josef 51, 218, 220 Staňková, Jaroslava 302 Star, Susan Leigh 329, 333f., 339f., 353 Štech, Václav Vilém 196, 205 Steer, Martina 156 Stein, August 66 Stein, Lorenz von 234 Steinmeier, Frank Walter 328 Steiner, George 58 Steinvorth, Daniel 345 Štěpánková, Ivana 353 Štěrba, František Karel 305 Stern, William 237-239 Stich, Alexandr 37, 42 Stifter, Adalbert 12 Stingl 260 Stock, Irmela 323, 328 Storck, Christopher P. 185 Štorm, Břetislav 204, 206, 209, 218 Störtkuhl, Beate 198 Stourzh, Gerald 80 Strauss, Anselm L. 341 Streer Ritter von Streeruwitz, Ernst 121 Stremayr, Karl von 74 Strobl, Karl Hans 289, 292 Strobl, Thomas 331 Strübing, Jochen 334 Štulc, Josef 210
Stutterheim, Christiane von 113 Suchenwirth, Richard 256 Suk, Josef 149 Švácha, Rostislav 216 Švingrová, Simona 74, 76 Svoboda, Božislava 306 Swoboda, Karl Maria 198 Synek, Adolf 140f. Szczepanik, Petr 158, 161 Taaffe, Eduard Graf 74 Talich, Václav 150, 182f. Taylor, Charles 316 Theer, Otakar 142 Ther, Philipp 343 Timmermann, Heiner 327 Tischler, Armand 151 Toischer, Wendelin 236f. Toman, Karel 122 Tomáš, Filip 42 Teige, Karel 36 Thorndike, Edward Lee 241 Thun, Joseph Matthias von 14 Toyen siehe Čermínová, Marie Trakl, Georg 124 Trnka, Franz/František 85 Tusk, Donald 328 Udolph, Ludger 186, 188 Uhlíková, Kristina 197, 201204, 207-209, 215f. Ullmann, Vojtěch Ignác/ Ignaz 219 Ulram, Peter A. 309 Urban, Dr. 294-298 Urban, Jiří 306 Urban, Josef 306 Urbánek, Mojmír 143 Úprka, Joža 27 Urzidil, Johannes 143, 289 Valter, Monika 94 Verheugen, Günter 331 Verspohl, Franz 220
Vlnas, Vít 197 Vierhaus, Rudolf 331, 347, 351f. Vinter, Vlastimir 202, 203, 209, 218 Virchow, Rudolf 277 Vojtěch, Viktorin 304f. Vomáčka, Boleslav 149f. Vondra, Alexandr 327 Voráček, Emil 327 Vošahlík, Aleš 210 Voskovec, Jiří 149 Voss, Major E. 259 Vrzalík 305 Vybíral, Jindřich 194f. Vycpálek, Ladislav 149 Vysloužil, Jiří 27 Waggerl, Heinrich 296 Wagner, Richard 176f., 187 Waldrauch, Harald 309 Wallat, Josefine 325 Watzlik, Hans 289, 295 Warburg, Aby 195 Warneken, Bernd Jürgen 276 Warschauer, Frank 124 Weber, Max 9 Weger, Tobias 266 Weigel, Wenzel 238f. Weinberger, Eliot 274 Weinelt, Herbert 254-258 Weingart, Peter 262 Weinheber, Josef 296 Weiskopf, Franz Carl 42, 123 Weiss, Hilde 311, 313 Weizsäcker, Richard von 335 Welzer, Harald 327 Werich, Jan 149 Werfel, Franz 12, 121, 123, 125, 129, 143, 289, 325 Werner, Vilém 139 Wiedemann, Andreas 208, 357 Wiendl, Jan 41 Wildhagen, Eduard 259 Willmann, Otto 233-236
374 Wingfield, Nancy M. 36, 161, 208 Winicky, Ottokar 137 Wirth, Zdeněk 196f., 199f., 201-203, 206-211, 213219 Witt, Kurt 259-262 Witzany, Rudolf 289 Wlaschek, Rudolf 65 Wolff, Kurt 146 Wolker, Jiří 150 Woltmann, Alfred 194f. Wostry, Wilhelm 245, 265 Wundt, Wilhelm 239 Žakij 166 Zand, Gertraude 42 Zavřel, František 146, 147 Zeller, Bernhard 146 Ziegler, Ralph Philipp 323, 328 Zieleniec, Josef 328 Zierold, Kurt 250 Zillich, Heinrich 295f. Zimmermann, Clemens 159 Zítek, Josef 219 Zorić, Andreja 315 Zwicker, Stefan 26
Personenregister
Ortsregister
Bechyně (Bechin) 217-219, Berlin 42, 59, 122, 123, 146f., 162f., 182f., 234f., 257-260, 270, 288, 290f., 294, 297f., 337, 356 Bílá Hora (Weißer Berg) 197, 205, 213 Bohumín (Oderberg) 26 Bratislava (Pressburg) 156f., 252 Břeclav (Lundenburg) 253 Broumov (Braunau) 298 Brno (Brünn) 42, 69, 156158, 162, 216, 238, 260, 269, 292, 297 Buenos Aires 173 České Budějovice (Budweis) 68, 77 Cheb (Eger) 13, 238 Chicago 241 Cismar 238 Děčin (Tetschen) 238 Dresden 47, 165, 182f., 234, 268, 279 Duchcov (Dux) 158 Dvůr Králové (Königinhof) 303, 305, 310, 318 Frýdlant (Friedland) 207, 215 Gmünd 122 Görlitz 234 Göteborg 185, 187 Göttingen 239 Haubinda 238 Halle/Saale 234 Hamburg 238f. Hradec Králové (Königgrätz) 77 Jablonné v Podještědí (Deutsch-Gabel) 212 Jáchymov (Joachimsthal) 292
Jena 20, 232, 236 Jerusalem 173 Jeseník (Freiwaldau) 254f. Josefov (Josefstadt) 69 Karlovy Vary (Karlsbad) 156, 211, 292 Karlštejn (Karlstein) 162 Klášterec nad Ohří (Klösterle) 213 Königsberg 232, 256 Košice (Kaschau) 260 Kralovice (Kralowitz) 297 Kraslice (Graslitz) 290 Kynžvart (Königswart) 207, 211 Leipzig 234, 238, 239, 247 Liberec (Reichenberg) 77, 190, 214, 220, 238f., 260, 267-268, 274, 278, 290, 297 Linz 162 Lipina 26 Litoměřice (Leitmeritz) 235 London 59 Ludwigstein 238 Mariánské Lázně (Marienbad) 156 Marburg 237 Meissen 234 Michálkovice 26 Milwaukee 20 Mladá Boleslav (Jungbunzlau) 77 Most (Brüx) 211 München 37, 146, 198f., 239, 245, 247f., 262, 278, 288, 291f., 308 Münster 20 Náchod (Nachod) 79-81 Neuenkirchen/Rhein 20
New York 37, 54, 59, 241 Nové Pavlovice (Neupaulsdorf bei Reichenberg) 297 Olomouc (Olmütz) 238 Osek (Ossegg) 211 Ostrava (Ostrau) 22, 25, 26, 158 Paris 37, 144, 149, 164, 195 Plzeň (Pilsen) 77, 252 Podbořany (Podersam) 158 Praha (Prag) 11f., 20f., 23, 26, 36, 38, 55f., 59, 65f., 69, 73-75, 77f., 80-82, 84f., 87, 94, 96, 119-125, 129, 134, 138, 142, 144151, 156-164, 166, 173, 176, 178f., 181-183, 187, 190, 198, 211f., 216, 218-220, 231-235, 237239, 246, 251f., 255-258, 260, 266, 268, 274, 276, 279, 287f., 290, 292-299, 308, 356 Rothenfels 238 Rumburk (Rumburg) 238 Salzburg 20 Straßburg 47, 196 Stuttgart 247 Sychrov (Sichrow) 207 Tanvald (Tannwald) 158 Tel Aviv 151 Teplice (Teplitz) 77 Terezín (Theresienstadt) 69 Těšín (Teschen) 26 Trutnov nad Labem (Trautenau) 238 Ùsti nad Labem (Aussig) 252 Warschau 311 Weimar 246, 247, 292, 330 Wickersdorf 238
376 Wien 75, 78, 87, 119-121, 123, 149, 162, 176, 178, 195, 198, 213, 232f., 235, 250, 252-254, 272, 287, 294 Zelená Hora (Grünberg) 303, 306, 310 Železný Brod (Eisenbrod) 182 Železný Hamr (Eisenhammer) 297 Zürich 190, 236
Ortsregister
Adressen der Herausgeber Prof. Dr. Steffen Höhne
Hochschule für Musik Franz Liszt Platz der Demokratie 2/3 D-99423 Weimar [email protected]
PhDr. Václav Petrbok Ústav pro Českou literaturu AV ČR Na Florenci 3 CZ-110 01 Praha 1 [email protected] Dr. Alice Stašková
Institut für Deutsche und Niederländische Philologie Freie Universität Berlin Habelschwerdter Allee 45 D-14195 Berlin [email protected]
Prof. Dr. Ludger Udolph
Institut für Slawistik TU Dresden D-01062 Dresden [email protected]
Adressen der Autoren Dr. Peter Becher
Adalbert-Stifter-Verein Hochstr. 8 81669 München [email protected]
Prof. Dr. Karl Braun
Universität Marburg Europäische Ethnologie/ Kulturwissenschaft Biegenstr. 9 D-35037 Marburg [email protected]
378
Adressen
Dr. Christiane Brenner
Collegium Carolinum Hochstr. 8 D-81669 München [email protected]
PD Dr. Klaas-Hinrich Ehlers
Danckelmannstr. 15 D-14059 Berlin [email protected]
Dr. Gisela Kaben
Xantener Str. 15 D-10707 Berlin [email protected]
Dr. Tomáš Kasper
Katedra pedagogiky a psychologie PedF TU Hálkova 6 CZ-460 01 Liberec 1 [email protected]
Dana Kasperová
Technická univerzita v Liberci Fakulta pedagogická, Katedra pedagogiky a psychologie Hálkova 6 CZ-461 17 Liberec 1 [email protected]
Dr. Alfrun Kliems
GWZO Leipzig Luppenstraße 1B D-04177 Leipzig [email protected]
Dr. Hans-Gerd Koch
Bergische Universität Wuppertal Fachbereich A: Geistes- und Kulturwissenschaft. Germanistik Gaußstr. 20 D-42119 Wuppertal [email protected]
Ines Koeltzsch
Prenzlauer Allee 175a D-10409 Berlin [email protected]
379
Adressen
Prof. Dr. Linda Maria Koldau Chair of Music and Cultural Studies Aarhus Universitet Institut for Æstetiske Fag Langelandsgade 139 DK-8000 Århus C [email protected] Prof. Dr. Michaela Marek
Universität Leipzig Institut für Kunstgeschichte Dittrichring 18-20 D-04109 Leipzig [email protected]
Prof. Dr. Kurt Krolop
Na Hřebenkách 4a CZ-150 00 Praha 5 [email protected]
Prof. Dr. Marek Nekula
Universität Regensburg Bohemicum Regensburg-Passau D-93040 Regensburg [email protected]
Dr. Barbara Schmiedtová
Universität Heidelberg SDF, Ploeck 55, office 115 D-69117 Heidelberg [email protected]
Mario Schulz
Kyffhäuserstr. 8 D-10781 Berlin [email protected]
Barbora Šrámková
Škrétova 10 CZ-120 00 Praha 2 [email protected]
PhDr. Simona Švingrová
Universität Regensburg Universitätsstraße 31 D-93053 Regensburg [email protected]