Deutsche Rechtsgeschichte [Reprint 2021 ed.]
 9783112411889, 9783112411872

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Grundrisse der

Rechtswissenschaft Unter Mitarbeit der

Professoren Dr. Ernst v. Beling-München, Dr. Fried­ rich Endemann - Heidelberg, Dr. Lans Fehr-Heidelberg, Dr. Heinrich Gerland - Jena, Dr. Julius von GierkeLalle a. S., Dr. Justus Wilh. Ledemann-Jena, Dr. Hein­ rich Lehmann-Köln a. Rh., Dr. Fritz Schulz Göttingen, Dr. Claudius Freiherr von Schwerin-Freiburg i. B., Dr. Fritz Stier-Somlo-Köln a. Rh. herausgegeben von den

Professoren Dr. Lans Fehr-Leidelberg, Dr. Hein­ rich Gerland-Jena, Dr. Justus Wilh. LedemannJena, Dr. Heinrich Lehmann-Köln a. Rh.

und dem redaktionellen Leiter Professor Dr. Fritz Stier-Somlo-Köln a.Rh.

Zehnter Band

Berlin und Leipzig 1921

Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. vormals G. I. Güschen'sche Verlagshandlung :: I. Guttentag, Verlags­ buchhandlung :: Georg Reimer :: Karl I. Trübner :: Veit bis zur Doppel­ wahl Philipps von Schwaben und Ottos von Braunschweig alles im Flusse. Jetzt trat die brennende Frage hervor: Welcher König ist der rechtmäßig gewählte? Jetzt mußte Klarheit int Königswahlrechf geschaffen werden. Am Ende des 12. Jahr. Hunderts schälte sich daher aus der Fürstenmasse ein kleines Wahl­ kollegium heraus, vorerst nur als die „Ersten an der Kur" (so Sachsenspiegel III 97). Diese Ersten an der Kur waren die Großen, welche bei erledigtem Königsstuhl zu Vorverhandlungen zusammen, traten und sich über die Wahl des künftigen Königs einigten. Zu ihnen zählten die mächtigsten Fürsten im Reiche. Ihre Stimme war materiell ausschlaggebend; denn was half es, wenn in der darauffolgenden allgemeinen Wahlversammlung die kleinen Fürsten nicht zustimmten? Wo die Großen geboten, mußte der kleine Haufen folgen. Zudem war es äußerst wichtig, den deutschen König ein­ stimmig gewählt zu sehen. Mußte ja jeder nicht Zustimmende von Anfang an als Feind des Königs gelten. Diese Vorwähler, diese „Ersten an der Kur", traten als geschlossener Wahlkörper auf und bezeichneten eine Person als zur Wahl geeignet (Bedeutung von „kiesen"). „Dirigere animum vote in unum“, war ihr Ziel. Ihren Vorschlag brachten sie dann in der Vollversammlung der Fürsten vor, und noch um 1230 ruhte die eigentliche Wahl bei den „vorsten allen" (Sachsenspiegel III 56 §2). Aber schon die Warnung im Rechtsbuch, die Kurfürsten sollten nicht nach ihrem Mutwillen, d. h. nach Willkür kiesen, deutet darauf hin,

Kurfürsten.

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daß das Schwergewicht der Wahl bei diesem Kollegium lag. Die sog. laudatio der übrigen Fürsten wurde mehr und mehr zu einem wertlosen Formalakt. 2. An der Ausbildung des Kurkollegiums hatte der Stammes« gedanke wesentlichen Anteil. Die großen Stammessürsten wurden zu Ehrendiensten am königlichen Hos zugezogen. Sie erhielten die prunkvollen Ehrenämter: der Pfalzgraf vom Rhein war der Reichstruchseß^ der Herzog von Sachsen der Marschall, der von Schwaben der Kämmerer, der von Bayern des Reiches Schenke. Als geistliches Gegengewicht zu diesen Erzämtern bekam der Erz­ bischof von Mainz die Kanzlei des Reiches, der von Trier die Kanzlei von Burgund, der von Köln die von Italien. Vermutlich standen diese Erzämter im engsten Zusammenhang mit der Königs­ wahl, wobei für die Geistlichen noch hinzu kam, daß sie bei Salbung und Krönung des Königs mitwirkten. Erst nach langem Kampfe ging das Krönungsrecht allein auf den Kölner Bischof über. Ist diese Erzämtertheorie richtig, so darf doch nicht übersehen werden, daß auch kanonische Formen, Papstwahl und Bischofswahl, ihren Einfluß auf das Königswahlrecht ausübten, wie die Königsweihe an die Bischofsweihe und die Kaiserweihe an die Papstweihe angeglichen wurden. Kanonisches Recht ist auch iin Spiele, wenn seit 1257 die Kurfürsten den Kurspruch in der Weise taten, daß einer im Namen aller den Gewählten nannte. Auch Elemente aus dem Gerichtswesen wirkten mit ein. DaS Kurkolleg galt als Urteilerbank, das gleichsam einen Urteilsspruch fällte. Wenn die Kurfürsten den König zur Krönung nach Rom geleiteten, so mußten sie ein Gerichtszeugnis abgeben, durch „dat dem pavese (dem Papst) wetenlik si des koninges redelike (d. h. rechtmäßige) tote". (Sachsen­ spiegel, Lehnrecht, Art. 4). Um die Mitte des 13. Jahrhunderts ist diese Entwicklung abgeschlossen. Im Sachsenspiegel (Quedlinburger Handschrift) sind als Kurfürsten genannt die Äzbischöfe von Trier, Mainz und Köln, der Pfalzgraf vom Rhein (da in Franken das Herzogtum fehlte), der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg (III57). Die Bulle „Qui caelum“ vom 27. August 1263 fügte den König von Böhmen dazu als siebente Kur. Doch erst 1290 wurden ihm diese Kur und das Reichsschenkenamt endgültig zugesprochen. Der Einwand, „er sei kein deutscher Mann" war vergessen. Eingehende und endgültige Regelung erfuhr das Königswahlrecht in der goldenen Bulle von 1356. Dieses Reichsgesetz zeigte den Fortschritt in der Territorialisiernng der

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Landeshoheit.

Gewalten: das Kurrecht wurde von der Person losgelöst und auf das Kurland gelegt. Königswähler war der rechtmäßige In­ haber des Kurfürstentums. Dieses selbst wurde für unteilbar erllärt. Es vererbte sich nach dem Recht der Erstgeburt. Die Ausbildung eines Keinen Wahlkörpers für die Königswahl bedeutete einen wesentlichen Gewinn für das deutsche Reich. Sie verhinderte unleidlichen Zank und schwere Verzögerungen. Sie erwies sich letzten Endes als die Durchsetzung des alten deutschen Gedankens: Die Stimmen werden nicht gezählt, sondern gewogen. Die künstliche Schablone des Mehrheitsgrundsatzes vermochte sich nur innerhalb des Kurkollegiums selbst Geltung zu verschaffen (seit Rense 1338). Nach außen aber traten die Fürsten einmütig auf.

§ 23.

Die Entstehung der Landeshoheit. Frankreich, England und die skandinavischen Königreiche sind seit langer Zeit Einheitsstaaten. Völkerrechtlich wie staatsrechtlich treten sie als geschlossene, staatliche Körper auf. Eine Staats­ gewalt, eine Verfassung herrscht in ihnen. Warum ist das deutsche Reich zu einer solchen Einheit nicht gelangt? ■ Warum zerfällt das deutsche Reich heute in gesonderte Gebilde, die für sich wiederum Staaten darstellen? Das ist eine der größten versassungsgeschichtlichen Fragen. Das ist die Frage nach der Entstehung der Landeshpheit. Man hat sich zuweilen die Antwort leicht gemacht. Man hat erllärt: das Lehnwesen erzeugte die Landeshoheit. Äber

wie ungenügend die Antwort ist, zeigt gerade der Blick auf die anderen europäischen Staaten. Wie mächtig hat in ihnen das Lehnrecht um sich gegriffen! In Frankreich ist es zur Ausbildung des bekannten Rechtssatzes gekommen: „Nulle terre sans seigneur“, einer Norm, welche in Deutschland niemals gegolten hat. Immer gab es im deutschen Reiche neben Lehnbesitz auch allodialen, d. h. Besitz zu Landrecht. Man kann also das Lehnrecht an sich für die deutsche Zersplitterung nicht verantwortlich machen. Andere Kräfte müssen dazu gekommen sein. Soll der Prozeß richtig verstanden werden, so sind scharf voneinander zu trennen: die Lockerung der Gebiete vom Reiche und deren staatliche Befestigung im Innern. 1. Die Lockerung vom Reiche. Die karolingische Monarchie war in Grafschaften eingeteilt ge­ wesen. Die Grafen verwalteten ihren Sprengel als Beamte des Königs. Sie waren einsetzbare und absetzbare Personen, verantwort­ lich für ihre Amtshandlungen. Ihre Vollmachten galten als abgeleitet

Auflösung der Grasschaftsverfassung.

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aus der königlichen Gewalt. Das Amtsgut erschien als Benefizium. Schon unter den Karolingern zeigten sich dann Ansätze, wonach die ganze Grafschaft als Benefizium angesehen und die Erblichkeit des Amtes angebahnt wurde (§ 14). Der König widerstrebte dieser Entwicklung nicht. Im Interesse guter Berwältung ließ er die Grafschaft vom Batet auf den Sohn übergehen, verzichtete also auf ein freies Einsetzungsrecht. Im 10. und 11. Jahrhundert beginnt nun der große Zertrümmerungsprozeß, der die alte Grafschaftsverfassung zu Fall brachte. Er hängt aufs engste zusammen mit Recht und Politik, die wir eben geschildert haben. Der deutsche König griff selbst willkürlich in den Grafschafts­ verband ein und lockerte dessen Zusammenhang, indem er weite, wichtige, lebenskräftige Gebiete der Grafengewalt entzog. Er schuf kraft seines Exemtionsrechts die Immunitäten, deren erste Entwicklungsstufe wir schon in ftänkischer Zeit verfolgen konnten (§ 13). Berühmt sind die Privilegien der Ottonen, welche namentlich die bischöflichen Städte zu eigenen Rechtskreisen mit voller Grafengewalt erhoben. Gewollt und gezwungen minderte der Herrscher das Reichsgut zugunsten der Großen und ließ in diesen Bezirken selbständige staatliche Mächte erstehen. Die Grafen ihrerseits suchten durch Kauf und Tausch ihre Hoheitsrechte und GrundherrschasteU auszudehnen, wobei sie an den Grafschafts­ grenzen nicht Halt machten. Noch häufiger griffen sie ohne jeden Rechtstitel in das Gut der Bewohner ein und schufen sich ein Gebiet, das ihnen zu Eigentum gehörte. Es erhoben sich im Süden und Westen die sog. allodialen Grafschaften, gleich wie es auch Eigen­ bistümer gab (z. B. die vier Bistümer des Salzburger Erzbischofs). Im Osten und Nordosten, lvo sich die großen Marken des Reiches befanden, war die Stellung der Grafen, der Markgrafen, von Anfang an eine selbständigere gewesen. So hielt z. B. der Markgraf Gericht bei seinen eigenen Hulden (mit eigener Banngewalt), nicht bei des Königs Hulden. Dort die königliche Stellung zu untergraben, stieß daher auf geringen Widerstand. Die Stammcsherzöge endlich traten in der Zeit der Verwilderung, im 10. bis 12. Jahrhundert, mit erneuter Wucht hervor. Ihre politische Rolle ist bekannt. Verfassungsgeschichtlich wurde von Bedeutung, daß sie eine Summe von Hoheitsrechten und Regalien dem hilfesuchenden König ab­ rangen und eine Reihe von Grafen unter ihre Obergewalt beugten. Rur der kleinere Teil der Grafen vermochte die direkte Verbindung mit dem Reiche, die Reichsunmittelbarkeit zu bewahren. Überall stand das Hausinteresse im Vordergründe. Stärkung deS Geschlechts,

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Domini terrae.

Förderung des eigenen Blutes, Mehrung von Familienmacht ließen den Staats- und Reichsgedanken weit zurücktreten. Das Geschlecht wollte herrschen, gestellt auf sich selbst, nicht gestellt auf das Reich. So sah sich der deutsche König vor einer heil­ losen verfassungsrechtlichen Verwirrung. Die fränkischen, amtsrechtlichen Grundlagen waren untergraben. Eine neue ge­ sicherte Regierungsbasis war noch nicht geschaffen. Dem König blieb ein einziger Halt, die geistlichen Fürsten. Denn die großen Kirchen und Klöster waren kraft der königlichen Munt weit abhängiger vom Reichsoberhaupt und ihre Familieninteressen weit geringer als die der weltlichen Dynasten. Aber nun kam der Jnvestiturstveit und mit dessen Lösung der ungeheure Einbruch in die Königsrechte, den wir eben schilderten (§ 20, 2). Das Worinser Konkdrdat bedeutete die erste Stufe in der Ausbildung einer selbständigen landesherrlichen Gewalt. Mit großartiger und großzügiger Kraft setzten die Staufer ein und suchten von der Einheit des Reiches zu retten, was zu retten war. Aber sie überspannten, wie oben beschrieben, den zentralistischen Bogen. Sie unterschätzten die unter der Asche glimmenden Gluten. Der Brand brach aus, und unter Friedrich II. ging die Königsgewalt in Flammen unter. Jene Privilegien, die der auf­ rührerische Sohn Heinrich (VII.) gab und die der Pater bestätigte, (§ 20, 3) waren keine im Augenblick abgerungenen Wohltaten für die deutschen Fürsten. Die Privilegien stellten in der Hauptsache nur reichsrechtlich fest, was längst durch die aufstrebenden Landes­ herren, auf rechtmäßigem oder unrechtmäßigem Wege, erreicht worden war. Politisch sind diese Privilegien nichts anderes als die Eindämmung der königlichen Macht, die in ihren Einheits­ bestrebungen die erworbenen Fürstenrechte zurückzuschrauben versuchte. Seit 1232 gibt es eine vom König anerkannte landesherrliche Gewalt. Die Privilegierten sind keine AmtsPersonen mehr. Sie heißen nicht mehr Grafen, comites, sie heißen Fürsten, principes oder domini terrae, eben Herren eines Landes, Landesherren. Fragen wir nach der Rolle, welche das Lehnrecht bei diesem Gang der Dinge spielte, so lautet die Antwort kurz: das Lehnrecht, das damals fast in ganz Europa das herrschende System war, hatte sich in Deutschland zu ungunsten der königlichen Macht verschoben. Richt die Umwandlung der Ämter in Lehen war das Entscheidende, auch nicht die Erblichkeit der Lehen, kraft deren sie an eine bestimmte Familie gekettet wurden, ebensowenig

König und Landesherr.

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die Befugnis der belehnten Herren, ein Lehn weiter zu verleihen itnb es damit der Unmittelbarkeit des Reiches zu entziehen. Gewiß haben diese Momente mitgespielt. Aber sie mußten nicht zur Melstaaterei führen, wie England und Frankreich beweisen. Ent­ scheidend wirkte die Rechtslage, wonach der König heimgesallene Lehe» (Lehen, in denen der Mannesstamm ausstarb oder die dem Lehnsmann abgesprochen waren) nicht in eigener Hand behalten durfte, sondern sie in Jahr und Tag wieder ausgeben mußte. Eine Stärkung seiner Lage war dadurch ausgeschlossen. Das Reichsgut ober hatte sich zusehends vermindert und die Reichsaufgaben waren dauernd gewachsen. Entscheidend wirkte ferner das Verbot für den König, über Fürstentümer im Reichsinteresse zu verfügen. Ohne Zustimmung des Fürsten und seiner Ministerialen war jeder Wechsel, jede Veräußerung dem König untersagt. Lag nicht eine Felonie (Bruch der Lehnstreue) vor, so mußte der König auch den unbequemsten Prinzeps in seinem Lehn belassen. Schwer endlich wurde der König dadurch geschädigt, daß ihm das Lehnrecht den unmittelbaren Zusammenhang mit seinen Richtern zerschnitt. Die Gerichtsbarkeit war das wichtigste der alten Beamten­ rechte. Auch sie wurde zum Lehn und wanderte vom König abwärts in andere Hände. Das Statutum von 1232 spricht den weittragenden Satz aus: Item centgravii recipiant centas a domino terrae vel ab eo, qui per dominum terre fuerit infeodatus. Die Zentgrafen wurden nicht mehr vom König, sondern vom Landes­ herrn oder dessen Bassallen belehnt. Der König behielt sich nur vor, dem einzelnen Hochrichter die Gewalt zu richten, den sog. Bann, zu leihen. Aber auch hierin war der König nicht mehr frei. Hatte der Gerichtshalter die nötigen richterlichen Eigenschaften, so durfte ihm der Königsbann nicht versagt werden. Also Leihezwang! Diese Bannleihe, in Süddeutschland sowieso geringer ausgebildet als im Norden und Osten, trat im 13. Jahrhundert bereits stark zurück. 2. Die Befestigung im Innern. a) Drei Momente waren es, welche den aufstrebenden Herren die Macht verliehen, dem Reiche mit Erfolg entgegenzutreten, und gleichzeitig im Innern die Bevölkerung zu unterwerfen: der Grundbesitz in Verbindung mit reichen Regalien, die hohe Gerichts­ barkeit und eine ergebene Dienstmannschaft. Grundbesitz und Regalien gaben d»e wirtschaftlichen Mittel an die Hand. Die hohe Gerichtsbarkeit war das Zentralrecht, um welches sich die landes­ herrlichen Rechte gruppierten. Und die Dienstmannschaft, in größeren Fürstentümern Ministerialen genannt, pellte die kriege-

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Hohe Gerichtsbarkeit.

rische Gewalt dar, die der Landesherr benötigte, um sein Gebiet zu verteidigen und weiter auszubauen. Reichtum, Rechts- und Gewaltmittel mußten zusammentreffen, um dem Landesherrn den Zweifrontenkrieg zu ermöglichen, die Emanzipation vom König und die Unterwerfung des Volkes. Schon in fränkischer Zeit tritt uns die Sucht der Grafen entgegen, ihren Grundbesitz zu vergrößern. In der Kaiserzeit mehrt sich dieses Bestreben, ganz besonders in der Umgebung der Burgen und der starken Fronhöfe, welche die Herren besaßen. Sie verlangten nach Abrundung des zerstreut liegenden Landes und nach Vermehrung der Einkünfte, sei es durch Naturalien, sei es durch Grundzinse oder durch Kopfzinse, welche die Grund­ holden zu zahlen hatten. Auch die mit dem Grundbesitz in enger Berührung stehenden, wenn auch juristisch von ihm geschiedenen Regalrechte waren das Ziel der Dynasten, wie Bergrechte, Forst­ rechte, Jagdrechte, Wasserrechte. So entstand zunächst «in gewaltiger Güterreichtum in der Hand der Herren, und man hat deshalb energisch die Meinung verfochten, die Ändeshoheiit sei aus der

Grundherrschaft entstanden. Aber mit der Brille des Rechts gesehen, ist das falsch. Denn neuere und neueste Forschungen haben gezeigt, daß der Grundholdenverband und der Untertanen­ verband sich nicht deckten, daß die Grenzen der Landesherrschaft und die der Grundherrschaft nicht zusammenfielen und daß der größte Grundherr in einer Grafschaft nicht immer gum' Landes­ herrn aufgestiegen ist (so z. B. im Breisgau). Die grundherrliche Theorie trägt nur insofern einen richtigen Kern in sich, als kein Dynast ohne breites grundherrliches Fundament tatsächlich hätte zum Landesherrn aufsteigen können. Das kraftvollste, staatenbildende Recht war die hohe Gerichtsbarkeit. Das Gericht über Leib und Leben, über Freiheit und Ehre, sowie über Erb und Eigen (Grundstücke) wat imstande, ein loses Gebiet und einen losen Volkskörper zu einem Landes­ gebiet und einem Landesverbände zusammenzuschweißen. Da die hohe Gerichtsbarkeit (neben der Heergewalt), das bedeut­ samste Recht der fränkischen Grafen darstellte, so läßt sich in diesem Sinne auch sagen, die Landeshoheit habe ihre Wurzel im Grafen­ amte. Aber dies ist begrifflich zu fassen. Denn historisch wurde manch einer zum Landesherrn, der niemals ein Grafenamt im alten Sinne besessen hatte. In der deutschen Geschichte spielte sich um kein Recht ein größerer Kampf ab, als um den Besitz des Hochgerichts. Dennoch ist nicht jeder Hochrichter auch Landes-

Bedeutung der Dienstmannen.

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Herr geworden. Es gab in einem landesherrlichen Gebiete zuweilen bedeutsame hohe Gerichtsherrschaften, die immer Unter­ herrschaften (später Herrlichkeiten genannt) geblieben sind. Zur vollen Hochgerichtsbarkeit gehörte noch das Bollstreckungsrecht. Der Richter, wollte er landesherrliche Gewalt erringen, mußte mit Bollstreckungsgewalt ausgestattet sein. Nicht umsonst kämpfte z. B. der Bischof von Basel Jahrhunderte lang um das Exekutions­ recht in seinen Dörfern Schliengen, Mauchen und Steinenstatt. Erst mjt dessen Erwerb wurde er Landesherr. Und noch eins. Der Dynast, welcher Gerichtsherrschaften besaß, durfte in Streitig­ keiten mit seinen Gerichtseingesessenen oder mit anderen Gerichts­ herren nicht selbst einem landesherrlichen Gerichte unterworfen sein. Landesherr, oder wie cs später heißt: landesfürstliche Obrig­ keit war dann einzig der ihm übergeordnete Gerichtsherr. Juristisch läßt sich daher als Regel aufstellen: Zur Landeshoheit, führte die Hochgerichtsbarkeit, verbunden mit der Exekutions­ gewalt und dem Persönlichen Gerichtsstand vor den Reichsgerichten in staatsrechtlichen Streitigkeiten. Dabei zeigen allerdings Mttelalter wie Neuzeit, daß hunderte von Streitfällen vor Dynastengerichten, statt vor Reichsgerichten ausgefochten wurden. Aber dann lagen eben gewillkürte Schiedsgerichte (Aus­ trägalgerichte) vor, denen sich die Parteien unterworfen hatten. Ohne kriegerische Macht keine Landeshoheit. Wer sich nicht verteidigen konnte, vermochte selbst wohlerworbenen Besitz nicht zu halten. Nach brutaler Selbstbehauptung verlangten die fehde­ lustigen Zeiten des 10. bis 15. Jahrhunderts. Diese Macht stellten nicht die Lehnsmannen, sondern die Dienstleute dar. Diese Dienst­ leute waren ritterliche Unfreie, die am Hofe des. Herrn oder an­ gesiedelt auf herrschaftlichen Gütern lebten. Sie begleiteten ihn in privaten Unternehmungen, während die Lehnsleute zum Dienst nur verpflichtet waren, wenn das Reich sie aufbot. Zum Privat­ krieg durfte der Lehnsmann nicht gezwungen werden. Kein Wunder, daß sich große und lleine aufstrebende Dynasten mit zahlreichen Dienstmannen umgaben. So heißt es im Kölner Diensttecht aus der Mitte des 12. Jahrhunderts: die Mannen hätten dem Erz­ bischof ohne jede Einschränkung Treue zu leisten und gegen Jeder­ mann mit ihm zu Felde zu ziehen. Diese Krieger, und nicht die Lehnsleute sind die Verteidiger des Landesherrn geworden. Sie haben mit ihm das Territorium erobert und be­ hauptet. Daher heißen sie in Österreich ministerialcn teirae und nicht ministeriales ducis (1237). Daher wird im Reichsspruch von

Fehr, Deutsche Rechirgeschichte.

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Landesherrliche Willkür.

1216 ausgesagt, der König dürfe über em Fürstentum nur ver­ fügen: voluntate et assensu principis presidentig et nrinisterialium eiusdem principatus. Als Eroberer und Verteidiger geboten sie neben dem Fürsten über das errungene Gebiet. Denn es ist ein alter Satz des mittelalterlichen Rechts, daß der Eroberer auch der rechtmäßige Beherrscher des Landes sein soll. Dante hat dar­ über in seinen Untersuchungen über die Monarchie das Inter­ essanteste geschrieben (um 1310, 2. Buch, Kap. 10 und 11). b) Die Unterwerfung der Bevölkerung hat staatsrechtlich zwei Perioden durchgemacht. Zunächst wurden die Insassen, Adlige wie Bauern, zum reinen Objekt der aufstrebenden Landes­ gewalt. Der Landesherr verfügte über Territorium und Leute, ähnlich wie ein Privatmann über seinen Grundbesitz. Er ver­ kaufte, verschenkte, verpfändete sein Gebiet oder einzelne Gebiets­ teile nach Willkür und teilte es unter seine Söhne, wie das gesetz­ liche Erbrecht dies für Grundstücke gebot oder wie erbrechtliche Vereinbarungen dies erheischten. Er trennte Stücke seines Landes ab, wie er wollte und überantwortete die Einwohner einem neuen Herrn, wie er es für gut fand. Daher war m jener Zeit die Vor­ stellung einer patria, eines Vaterstaats, eines Vaterlandes, ein leerer Begriff. Es gab kein Vaterland Es gab nur eine Heimat, den Ort, wo das Geschlecht saß. Der werdende Landesherr brauchte Geld. Anfänglich er­ suchend, nach und nach unter dem Schein des Rechts, legte er eine Steiler auf das Land, die weithin nach ihrem Ursprung „Bede" (Bitte) genannt wurde. Auch Vogtei hieß die Steuer, da sich der Landesherr häufig zum obersten Bogt über sein Gebiet aufwarf. Zu Brücken-, Burgen- und Straßenbauten, zu Einquartierungeu, zu Wacht- und Spanndiensten zog er die Leute heran, wie es ihn förderlich dünkte. Befehle und Ordnungen erließ er, wie sie seinem Kopf entsprangen. Die Zeit vom Ende des 11. bis gegen Ende des 12. Jahrhunderts war die Zeit landesherrlicher Willkür. Man hat daher gesagt, daß ut dieser Periode eine rein privatrechtliche Staatsauffassung herrschte Aber man hat dabei übersehen, daß die alten Grafenrechte, die hohe Gerichtsbarkeit und die Heergewalt, ihren Zusammenhang mit dem König und damit mit dem Staate nicht verloren hatten. Die Hochgerichts­ barkeit, wiewohl zum Lehn geworden, galt immer als staatliche, vom König abgeleitete Gewalt. Und das Reichslehnrecht ließ, wie wir oben sahen, ein Aufgebot der Vassallen nur zu, wenn der König, wenn das Reich zu Felde zogen, wenn Reichsinteressen

Anfänge der Landstände.

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Gesamtinteressen Vorlagen. Es hat also, modern gesprochen, niemals einen rein privatrechtlichen Aufbau der Terri­ torialgewalt gegeben. Auch im ersten Stadium der Ent­ wicklung sind starke öffentlichrechtliche Elemente stets lebendig gewesen. Gegen Ausgang des 12. Jahrhunderts setzt eine neue Be­ wegung ein. Die landesherrliche Willkür schwindet. Rechtsnormen die wir heute Normen öffentlicher Natur nennen, treten im Innern des Territoriums hervor, und zwar nach drei Richtungen: 1. Den Fürsten wurde verboten, die Fahnlehen in ihrem Gesamtbestande zu teilen und weiter zu leihen. Es wird bereits die Unteilbarkeit des Gerichtsgebietes ausgesprochen (vgl. Sachsenspiegel III 53). Tas Volk hatte ein Recht auf den einheitlichen Fortbestand der Gerichtsbezirke. Teilte der Fürst gegen den Willen der Bevölkerung, so stand ihr das Recht des Widerstandes zu. Mit bewaffneter Hand, so dürfen wir annehmen, konnte sich fortan Ritter wie Bauer gegen staatliche Zerstückelung wehren. 2. Wir wissen: Die Hochgerichtsbezirke waren Lehen, die kraft Lehnrechts weiter geliehen werden durften. Ein Lehn konnte vom König herabwandern bis in die sechste oder siebente Hand. Je weiter sich ein solches Lehn vom König entfernte, umso größer war die Gefahr, jeden Zusammenhang mit dem König zu verlieren. Hier trat nun der zweite, wichtige Gedanke hervor: Ein Gerichtslehn, in dem über das Blut gerichtet wurde, durfte über die dritte Hand hinaus nicht verliehen werden. Lieh es der König einem Dynasten, etwa einem Herzog, so konnte es der Herzog nur noch einmal weiter geben. Eine fernere Be­ lehnung war wider Recht. 3. Den Besten und Größten des Landes (der Reichsspruch von 1231 sagt: meliores et maiores terrae) wurde ein Zustimmungsrecht zu allen einschneidenden Verfügungen des Landesherrn eingeräumt. Der Adel des Laudes — denn in ihm sah man damals in erster Linie die Besten — erhielt ein Mitbestimmungsrecht in staatlichen Angelegenheiten. Der Adel des Territoriums bekam landständischen Charakter. Ohne die Mitwirkung der Landstände vermochte fortan der Landes­ herr keine neuen Satzungen zu geben und keine neuen Lasten, vor allem Steuer- und Heereslasten, auf das Land zu legen. Fortan nehmen die Stände an der Herrschergewalt des Landesherrn teil. Fortan ist die Landesgewalt zwischen dem dominus terrae und seinen meliores geteilt. Fortan ist die mehr privatrechtliche Gewalt des Landesherrn in eine mehr staatliche Gewalt übergeführt. Jetzt 7*

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StLdtevesm.

ist der Dualismus des mittelalterlichen Territorialstaates geboren. Nicht mit Unrecht hat man ihn einen „Doppelstaat" genannt. Der alte, in Bergesseyheit geratene genossenschaftliche Zug trat wiederum hervor. Die wohlbegüterten und politisch einflußreichen Bewohner des Landes wurden aus bloßen Objekten zü Mitsubjekten des werdenden Staates. Der deutsche Einzelstaat mußte durch eine Willkürherrschaft hindurch. Wie der moderne, konstitutionelle Staat nur aus der absoluten Staatsfokm herauswachsen konnte, ebenso mußte der deutsche Territorialstaat des Mttelalters eine Epoche selbstherr­ licher Gewalt erdulden. Rur bei voller Bewegungsfreiheit der Fürsten war es möglich, aus dem Chaos des 11. und 12. Jahr­ hunderts herauszukommen. Den aufstrebenden Dynasten waren ungeheure rechtliche und soziale Aufgaben gestellt. Fruchtbringend, im höchsten Grad schöpferisch haben sie das Werk durchgesührt. Das tragische Moment lag nur darin, daß ihrer allzuviele im Spiele waren. Mehrere Hundert landesherrliche Gebiete streckten ihre begehrlichen Arme im Reiche aus. Und so bedurfte es notwendigerweise eines Rückbildungsprozesses, der seit dem 14. Jahr­ hundert einsetzte. Der staatliche, wirtschaftliche -und politische Schwerpunkt aber war fortan, stärker denn je, ans dem Reiche in die deutschen Territorien verlegt.

8 24.

Tas StSdtewefen. Wie die lombardischen Städte den Reichtum und die Bildung Nord- und Mittelitaliens schufen, ebenso ragten die Städte im Süden, Westen und Norden Deutschlands wirtschaftlich und kulturell als leuchtende Zentren hervor. Die Rechtsgeschichte muß in erster Linie deren rechtliche Stellung und Einstellung behandeln. Aber im Städtewesen sind Wirtschaftslage und Rechtsstand so eng miteinander verknüpft, daß zunächst ein kurzes wirtschaft­ liches Bild entworfen werden muß. 1. Die Wirtschaftslage. Aus der karolingischen Zeit hatten sich die Grundherrschasten in das kaiserliche Mittelalter hinüber gerettet. Im Mittelpunkt der Grundherrschaft.stand noch immer der Fronhof mit den zahl­ reichen Fronhofsbeamten, und um ihn herum fand sich, als Streu­ besitz, das an die Bauern ausgegebene zinkende und dienende Land gelagert. Inzwischen aber war die Produktion wesent­ lich gesteigert worden. Rationellere Bestellung und geringere kriegerische Verpflichtungen der Bauern hatten die Wirtschaft

Marktrecht.

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so sehr gehoben, daß der Grundherr mit seinem Hofe, selbst bei üppiger Lebenshaltung, ost nicht mehr imstande war, alle Früchte zu verzehren. Cäsarius von Heisterbach berichtet uns, die Höfe der Kirche lieferten eine solche Menge von Wein und Salz, daß es geboten sei, das Überflüssige (superflua) zu- verkaufen. Man darf nicht vergessen: das Mittelalter lebte nach dem System der Bedarfsdeckung. Man wirtschaftete' um zu leben, zum Teil reich, ja verschwenderisch zu leben. Aber stets war das letzte Ziel nicht der Erwerb selbst (wie später), sondern die Bestreitung des täglichen und jährlichen Bedarfs. Der bäuerliche Besitz hätte sich vergrößert. Durch Arbeit, Kolonisation und Ausbau war mancher Bauer zu zahlreichen Hufe» gelangt. Oft besaß er neben oder außerhalb des grundherrlichen Gutes Wirtschafts­ land, das- er in ganz loser Abhängigkeit von einem Herrn bestellte. Dre freie Erbleihe war seit dem 11. Jahrhundert wesent­ lich angewachsen, und die Grundherrschaft selbst hatte viel von ihrer alten Fesügkeit cingebüßt. So erzeugten viele Bauern mehr, als sie verbrauchten, und mußten daher nach Absatz suchen. Wo aber sollte der Absatz anders erfolgen als auf dem Markte? 2. Der Markt. Grundherrliche Bauern und wirtschaftlich freie Bauern fingen an, auf dem Markt in Massen zu verkaufen. Der Markt schwang sich zur größten wirtschaftlichen Macht empor. Diese Macht wurde noch gehoben, äls auch die grundherrlichen Handwerker die Erlaubnis erhielten, für den Markt zu arbeiten und dort ihre Erzeugnisse umzusetzen. Und noch mehr stieg die Bedeutung der Märkte durch die erhöhte Silbergewinnung. Im 10. Jahrhundert ivurden reiche Silberadern entdeckt, so daß das notwendige Umsatz­ mittel, das Geld, leichter und rascher geprägt werden sonnte. Die Märkte werden zu regen Handelsplätzen. Die Händler (mercatores) machen sich am Orte seßhaft. Ein besonderes, dem Handel angepaßtes Recht tut sich auf. Eine eigene, von der Landgemeinde verschiedene Marktgemeinde beginnt ihr genossenschaftliches Leben. So erheben sich aus zahlreichen Märkten deutsche Stabte, manchmal allmählich, häufiger rasch, durch bewußten Gründungsakt (Gründungsstädte). Marktansiedelung und Marktrecht sind bedeutsame städtebildende Faktoren geworden. In einem Privileg von 1084 sagt der Bischof von Speier: er wolle aus dem Dorfe Speier eine Stadt machen (ex Villa urbem facere). Daher rufe er Juden herbei und siedele sie an. „Putavi milies amplificare honorem loci nostri.“ Diese Juden erhielten volle Freiheit, Gold

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Fchdewejm.

und Silber zu wechseln, zu kaufen und zu verkaufen. ' Der kluge Geistliche wußte, daß sich mit Hilfe der Hebräer am schnellsten Handel entwickele und damit eine urbs aus der villa entstehen könne. Kauf, mänuischer Geist sollte gezüchtet werden. Daher richtet man rasch Wechflerstätten in- der Stadt ein. Münz« und Zollrechte erhält der Stadtherr. Strenges Maß und Gewicht, unvermeidliche Voraus, setzungen jedes blühenden Marktwesens, werden eingeführt rmd er. höhen die Sicherheit des Handels. Eine eigene Gerichtsbarkeit tritt hinzu. In großen Märkten vermag der Marktherr unter dem Bann des Königs zu richten, und kein anderer Richter darf ihn darin stören. Am 4. August 990 erhält z. B. die Äbtissin von Gandersheim für ihren Markt monetam (Münze) atque teloneum (Zoll) et regium bannum (Königsbann). 3. Friede und Fehde. Man darf die Markttheorie jedoch nicht Überspannen. Nicht alle Städte sind aus Märkten hervorgegangen. Manche Stähle sind aus Burgen erwachsen. So z. B. zahlreiche Städte in Belgien, von deutschen Städten etwa Werne im Norden, Marburg in Mittel­ deutschland und Moudon im Waadtlande. In anderen Städten, wie in Köln, waren weder Burg noch Markt ausschlaggebend. In Köln erscheinen als städtebildende Kräfte vor allem die alte römische Siedelung und das erzbischöfliche Schöffengericht. Aber ganz abgesehen von der Siedelung, aus welcher sich Städte historisch hexausbildeten, ist ein Faktor zu wenig beachtet worden: der Friede. Um das im Stadtrecht ruhende Friedenselement würdigen zu können, muß der Friede im Zusammenhang mit Fehde und Blut« rache kurz betrachtet werden. In den wüsten Zeiten des 10., 11. und 12. Jahrhunderts hatten Fehde und Blutrache erschreckend zugenommen. Fehde konnte gegen Jedermann erhoben werden und um jeder Schädigung willen. Es lag im Belieben des Verletzten, seinen Anspruch im Wege der Klage oder der gewaltsamen Selbsthilfe, der Fehde, geltend zu- machen. Die Fehde war Rechtseinrichtung wie in fränkischer Zeit. Wer sich stark fühlte, der zog lieber mit einer kriegerischen Schar aus, um sich für seinen Schaden bezahlt zu machen, als daß er sich auf einen ungewissen Prozeß vor einem ungewissen Richter einließ. Ebenso stand es mit der Rache um Blutschuld. Blutrache und Fehde, anfänglich wenig von einander geschieden, zweiten sich inr 11. und 12. Jahrhundert. Die gegen­ seitige Befehdung drohte die Grundlage der ganzen sozialen Ordnung zu erschitttern. Eine Schädigung rief die andere, eine Fehde die

Gottes- und Sanbfrieben.

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andere hervor. Weder der Rlttcr im Harnisch, noch der Kaufmann im Reisewagen, noch der Bauer am Pfluge waren sicher vor Über­ fall. Schwere Not bedrohte das Reich; denn die Fpüchte des Landes lagen- in mancher Gegend uneingeheimst am Boden, und ganze Geschlechter wurden vertilgt. Da schritten die Kirche, der Kaiser und die Großen des Reiches ein und dämmten die Fehde durch Gottesfrieden und Landfrieden zurück. Friedetage tvurden eingesetzt (von Donnerstag Abend bis Montag Morgen), an denen jede Fehde ruhen mußte. Bestimmte Personen, wie Geistliche, Kaufleute und Bauern schloß man aus dem Bereich jeder Fehde aus, ebenso bestimmte Örtlichkeiten, wie Kirche, Kirchhöfe, Häuser und Hofstätten. Bor förmlicher Aufsage des Friedens durste nicht zur Fehde geschritten werden. Der Feind sollte Zeit zur Verteidigung oder zum Nachgeben gewinnen. Mit den schärfsten Strafen ging man vor gegen die Friedebrecher, d. h. gegen die Personen, die sich nicht an diese Einschränkungen hielten. Handabhauen, Tod und Ausstoßung aus der Rechtsgemein­ schaft werden häustg als Sühne für Friedensbruch genannt. Aber alle diese Maßnahmen blieben auf halbem Wege stecken;, denn die Landstieden waren stets nur für wenige Jahre errichtet, galten Sleistens nur für Telle des Reiches und mußten van den Beteiligten eschworen werden. Wer sich durch Schwur nicht band, war an den Frieden nicht gebunden. Zudem beschäftigten sie sich kaum mit der Blutrache, welche, im Unterschied zur Fehde, nicht auf die rittermäßigen Stände beschränkt blieb, sondern nach wie vor alle Bewohner umfaßte. Eine Aufsage des Friedens war bei Blutschuld nicht vorgeschrieben. Wann und wo man seinen Feind traf, durfte man ihn überfallen und niederschlagen. - Und wie zähe hat gerade die Blutrache im deutschen Volke gehaftet. Roch im 16. Jahrhundert, nachdem die in Rache geübte Tötung längst nicht mehr privilegiert war, warnen Rechtsquellen den Töter und seine Sippe vor der Familie des Getöteten. Vermochten die Gottes- und Landstieden nur wenig gegen Fehde und Blutrache auszurichten, so hatten sie erst recht geringen Erfolg gegen die herumziehenden Brandstifter und Straßen­ räuber. Dieses Gesindel, zum Teil aus verarmten Adligen zu­ sammengesetzt, stellte eine ungeheure Plage für alle Menschen dar. War der Raub gelungen, so vermochte die Beute auf festen Burgen und in verborgenen Winkeln gar leicht gegen Häscher sicher gestellt zu werden. Wer reiste, setzte stets Gut und Leben aufs Spiel. Aber auch Bauer und Handwerker, Händler und

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Stadtsrieden.

Geistlicher, Weib und Kind, kurzum, tvcr nicht in fester Ummauerung saß, wußte nicht, ob er den nächsten Morgen noch im Genusse von Eigentum und Gesundheit erlebte. Faßt man diese trübselige Lage eingehend ins Auge, so versteht man erst die Rolle, welche die deutschen Städte zu spielen berufen waren. Für die Ent. stehung der Städte ist neben dem Markt der Frieden höchst bedeutsam geworden. Markt und Frieden waren die stadtbildenden Kräfte. Marktrecht und Friedensrecht schufen die Eigentümlichkeiten des Stadtrechts. In der Stadt herrscht ewiger Friede. Zeitliche Begrenzungen, wie auf dem Lande, gibt es nicht. In der.Stadt steht Jedermann unter Frieden, wessen Standes er auch sei. In der Stadt ist selbst­ herrlicher Frieden. Er bindet chne jeglichen Schwur alle Be­ wohner. Ich vermag keine kennzeichnenderen Worte anzuführen, als die erste Bestimmung des Straßburger Stadtrechts (um 1150): ad formam aliarum civitatem in eo honoie condita est Argentina (Straßburg), ut omnis homo tarn extraneus quam indigena pacem in ea omni tempore et ab omnibus habest. Friede für alle und für ewige Zeiten! Welch ein gewaltiges, erlösendes, heilbringendes Wort, das dreieinhalbhundert Jahre vor dem ewigen Landfrieden (1495) erklang. Man hat erklärt, der Stadtfriede sei nichts anderes als ein ausgedehnter Marktfriede. Der Stadtfrieden sei aus dem Marktfrieden entstanden. Gewiß sind aus dem alten Marktfrieden Elemente in den neuen Stadtfrieden hineingewandert. Aber ebenso haben der Burgfrieden und das Asylrecht der Kirchen darauf eingewirkt, besonders auch die in den großen Landfrieden stedenden Einrichfüngen. Der Stadtsrieden ist das Ergebnis vieler zusammenwirkender Kräfte. In diesem Sinne ist er etwas Neues, das der Stadt neben dem Markte ihr eigenartiges Gepräge verleiht. Ein besonderes, vom König verliehenes Zeichen wird als Friedenszeichen aufgepflanzt: das Marktkreuz oder die Marktfahne. 4. Der Anteil des Königtums. Die deutschen Könige haben viel, sehr viel zur Entstehung und Fortbildung be*1 Städte beigetragen. Die großen Immunitäts­ privilegien der Ottonen und anderer Kaiser verliehen den geist­ lichen Fürsten Gerichtsbarkeit und eine Fülle nutzbringender Hoheits­ rechte, aus deyen sich städtisches Leben und städtische Verfassung entwickelte. Auch mit Marktprivilegien haben sie nicht gespart, in denen sie einem Dynasten Wochen- und Jahrmärkte zu halten erlaubten. Sahen sie doch in den Städten der geistlichen Fürsten tvichtige Stützpunkte der Reichsgewalt, glaubten sie mit Jmmuni-

Städtepolitik.

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täts- und Marktprivilegien jetveils einen Gegenstoß gegen die weltlichkpi Herrn zu führen. (§ 20, 2.) Die kaiserliche Städtepolitik schlug aber sehl. Mit der Eman­ zipation der geistlichen Fürsten, die wir oben besprachen, stiegen die großen Städte zu selbständigen Gebieten aus, zu Machtzentren, die den Einheitsbestrebungen der Staufer wenig günstig waren. Die Städte drängten, wie die Territorien des Landes, zu möglichst selbständiger staatlicher Entfaltung, wenn auch auf viel engerem Gebiete. Haben die hervorragenden Reichs- und Freistädte dieses Ziel im ganzen erreicht, so unterstützten sie doch zu gleicher Zeit die Reichsgewalt in weitem Umfange. Sie zahlten Stenern, stellten Krieger und gelvährten dem König Darlehen. Als das Reich in der Mitte des 13. Jahrhunderts aus den Fugen zu gehen drohte, taten die im rheinischen Bund geeinigten Städte alles, damit das Reich zu einer raschen, einhelligen Königswahl gelange und die Reichsgüter inzwischen nicht verschleudert würden (Be­ schluß von 1256). Ihre Bedeutung in der Zeit des Interregnums kann nicht genug betont werden. Sie wurden aus „Objekten der Gesetzgebung zu Trägern der Politik und der Rechtsbildung im Reiche". So sind die Städte letzten Endes doch auch Erhalter und Mehrer des Ganzen geworden, freilich nicht im Sinne der staufischcn Kaiser. Die deutschen Herrscher haben mit ihrer Städtepolitik un­ geahnten Segen über das deutsche Reich gebracht. Sie förderten darin die wunderbare Mannigfaltigkeit der Entwicklung, die heute noch Deutschland ihren Stempel aufdrückt. Denn die Sonder­ bildungen in den Städten sind es, welche den bunten Reichtum, im höchsten Sinne des Wortes, hervorgerufen haben. Kraft der politischen Selbständigkeit, welche sich die Städte erkämpften, waren sie imstande, die im Bürgertum steckenden ftuchtbaren Keime eigenartiger Kultur zu entfalten. Und diese Sonderkultur, von Basel bis Hamburg, von Köln bis Magdeburg, ist wertkchaffend geworden in Wirtschaft und Recht, in Kirche und Kunst, in jeder Richtung des geistigen Lebens. Der Bürger wurde zum Träger der Bildung. 5. Reichs- und Landstädte. Biele auf Königsgut gegründete Städte sieten der willkür­ lichen Veräußerung und Verpfändung des Königs anheim und gelangten auf diese Weise unter einen Landesherr«. Dagegen lehnten sie sich mit Erfolg aus und behaupteten fortan ihre un­ antastbare Reichsunmittelbarkeit. Seit dem 13. Jahrhundert

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Bürgertum.

spricht inan daher von Reichsstädten. Sie hatten dem Völlig zu huldigen und ihn mit Kriegern und Steuern zu unterstützen. Dafür erhielten sie eigene Satzungsgewalt (Autonomie), eilte Fülle von Regalien, wie Zoll-, Juden- und Münzregal, kurzum, eine den Landesherren ähnliche selbständige Stellung. Für zahlreiche Bischoftsstädte, die sich zu Reichsstädten auf­ schwangen, kam im 14. Jahrhundert der Name Freistädte auf. Die meisten Städte aber sind Landstädte geblieben: sie hatten einen Territorialherrn zum Gründer und vermochten nie­ mals Reichsunmittelbarkeit zu erlangen. Ihr Recht nahmen sie vor dem fürstlichen Hofgerickt. Eine der frühesten und hervorragend­ sten dieser Landstädte war die Stadt Freiburg i. Br., deren Stadt­ recht mit den lapidaren Worten anhebt: Notuni sit omnibus tarn futuriß quam praesentibus, qualitei ego Cuonradus (Herzog Von Zähringen) in loco mei proprii iuris scilicet Friburg forum constitui anno ab incarnatione Domini 1120, ein Musterbeispiel für eine auf eigenem Grund und Boden gegründete Kaufleute­ stadt. Wieder andere Städte wurden ins Leben gerufen von kleinen Dynasten, die selbst niemals Landeshoheit besaßen. Man nennt sie oft Patrimonialstädte, weil viele das Schicksal hatten, wie ein patrimonium der Willkür ihres Stadtherrn ausgeliefert zu sein. Mit diesen Land- oder Mediatstädten stand der König in keiner unmittelbaren Verbindung. Sie waren nur Teile des Reiches als Glieder eines landesherrlichen Gebietes. 6. Das Bürgertum. Rein ökonomisch betrachtet, hat es in den Städten zwei Klassen von Menschen gegeben, die eine, welche aus Handel, Handwerk und daneben aus landwirtschaftlicher Arbeit sich selbst ernährte, die andere, welche auf fremde landwirtschaftliche Arbeit angewiesen war. Man muß sich die deutschen Städte, auch die größten, noch recht ländlich vorstellen, mit reichem Ackerland in- und außerhalb der Stadtpfähle und bedeutendem Almendbesitz. Noch 1422 wird von Weingärten, Äckern und Wiesen innerhalb des Burgbannes von Mainz gesprochen. Eine große Zahl von Bürgern vermochte sich selbst zu verpflegen. Viele Einwohner aber bezogen vom Lande her ihre Renten und verbrauchten sie in der Stadt, die Leute, welche vor allem die Handwerker und Händler beschäftigten. Zu diesen „Landrentenberechtigten", ohne welche die Städte wirtschaftlich gar nicht existieren konnten, gehörten der König, die Fürsten, die Geist­ lichen, die großen Lehns- und Dienstleute, kurzum das ganze Heer der Grundherren, die von auswärtigen Grundrenten lebten. Nur

Städtische Freiheit.

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langsam schaffte sich die Stadt Handel und (bewerbe, die fähig waren, die gesamte Bevölkerung zu ernähren und damit den Bezug von Landrenten entbehrlich zu machen. Handel und Ge­ werbe wurden dann zu den eigentlichen kapitalistischen Kräften der Stadt. Juristisch betrachtet, zeichnete sich das Bürgertum durch vier wesentliche Merkmale aus. 1. Im engsten Zusammenhang mit der Dorfgemeinde steht der Satz: Bürger ist, wer Grundbesitz hat in der Stadt. (Namentlich auf diese Tatsache baut sich die sog. Landgemeindetheorie auf.) Eigen war oft nur das Haus, während Grund und Boden dem Stadtherrn gehörten, so daß daran höchstens Erbleihe möglich war. Später wurde dieses Erfordernis gemildert. Bürger konnte fortan fein, wer den Nachweis leistete, daß er Bürgergeld zahlte. 2. Im Bürg er tu m steckte die Tendenz nach ständischer Freiheit. Schon der Markt bekümmerte sich wenig um ständische Abstufungen. Man kaufte die Ware, wo sie gut und preiswert war; Auf dem Markt tritt an Stelle der Person das Objekt. Wer kauf­ männisch denkt, sieht allein auf den Gegenstand. Als dann der Stadtfrieden hinzukam, der Alle, vom kleinsten Händler bis zum größten Rentenberechtigten gleichmäßig umfaßte, da war es nicht mehr weit zu jenem berühmten Rechtssatz, der die städtische Ent­ wicklung auszeichnet: Stadtluft macht frei. Freilich blieben in der Stadt die Fronhöfe, angefüllt von Freien, Halbfreien und Unfreien bestehen. Dennoch brach sich die ständische Freiheit all­ mählich Bahn, weil der Bürger, zu Wohlstand gelangt, ost seine Unfreiheit abkaufen konnte, und weil der in die Stadt gezogene Mensch nach Jahr und Tag frei wurde, wenn kein „nachjagender Herr" Ansprüche gegen ihn geltend machte. Man stelle sich vor, wie dieses Privileg wirken mußte. Ein riesenhafter Zug nach diesem Zentrum der Freiheit stellte sich ein, ein Wettrennen, wie wir es erst im 19. Jahrhundert wieder erlebt haben. Tie Grundherrschaften litten stark darunter und nahmen einen energischen Kampf gegen die Städte auf. Aber auch dem Grafen und anderen Gerichts­ herren des Landes waren die Städte ein Dorn im Auge, ganz besonders, als es nicht ungebräuchlich wurde, das Bürgerrecht in der Stadt zu erlangen und auf dem Lande, außerhalb der Stadt­ grenze, wohnen zu bleiben. Diese Leute hießen Pfahlbürger. Sie zahlten ihre Steuern an die Stadt und unterstanden mit ihrer Person der städtischen Gerichtsbarkeit. Dies reizte die geprellten Landesfürsten so sehr, daß sie in Friedrichs II. Privileg von 1232

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Zünfte.

die Norm erzwangen: „Item cives, qui phalburgeie dicuntur penitus eiciantur“. Aber der Streit um die Zulassung von Pfahl­ bürgern hat noch Jahrhunderte lang weiter getobt. 3. Dieser Zug nach ständischev Gleichheit aller Bürger war zugleich der Schlachtruf gegen die Lehnhierarchie. Die lehmechtlichen Abstufungen, die den Menschen bewerteten nach seinem festen Rang in der Heerschildordnung, konnten im städtischen Leben keim Ausnahme finden. Die Stadt hat die Heerschild­ ordnung nicht übernommen. Das deutsche Bürgertum hat den Kastengeist des Lehnrechts nicht mitgemacht. Das deutsche Bürgertum hat es gewagt, die Grenzen der zeremoniellen Form zu sprengen und an Stelle der Unterordnung die Idee der Nebeüordnung zu setzen. Das deutsche Bürgertum hat den genossen­ schaftlichen Gedanken wiederum in den deutschen Staat zurückgesührt. Freilich alle| nur der Grundstimmung nach. Denn in Wirklichkeit erhoben sich in den Städten rasch die höher gestellten Ritter- und Kausmannsfamilien über den gemeinen Bürger. Sie schufen ein städtisches Patriziat, das lange Zeit in städtischen Angelegenheiten den Ausschlag gab. Aber dieses Patriziat bedeutete doch keinen Rückfall in die Lehnsverfassung des Landes und war vielerorts mehr sozialer, als recht­ licher Natur. Im 14. Jahrhundert wurdck es gestürzt. 4. Das vierte Merkmal, unter dem das Bürgertum steht, ist das der Organisation. Der moderne Gedanke der Gliederung und Zusammenfassung nach Berufen ist ein Erzeugnis der deutschen Stadt. Ihm verdanken die Zünfte ihre Entstehung. Eine ganze Literatur hat sich über dieses Problem ergossen. Seit dem 17 Jahrhundert besitzen wir dogmengeschichtliche Erörterungen über die Zünfte und wir sind über deren Ursprung heute noch nicht völlig aufgeklärt. Vermutlich verdankten die Zünfte im überwiegenden Teile Deutschlands ihre Herkunft den genossenschaftlichen Einungen der Handwerker, wobei die Motive des Zusammenschlusses verschiedenster Art waren: gewerblicher, polizeilicher und gerichtsherrlicher Art. Auch die religiösen Motive sind nicht zu Unterschüßen. Führend aber waren überall wirtschaftliche Kräfte. Die Zunftbildung ist die erste große soziale.Bewegung des Mittelalters. — Reben den Zünften her gingen die Ämter (officia). Stadtherrliche und grundherrlrche Beamte erzwangen einen Zusammenschluß des Handwerks, das für den Markt arbeitete. Aus dem Amte brauchte keine Zunft hervorzugehen. Je stärker aber in einer solchen Berufsorganisation

Zunftzwang.

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der genossenschaftliche Geist lebendig wurde, um so rascher gelang es, den Beamten zu verdrängen und sich auf dem Boden der zünftischen Selbstverwaltung aufzubauen. Zur Zunft gehörte der Zunftzwang, der im 12. Jahrhundert sich geltend machte: Wer sein Handwerk ausüben wollte, mußte einer Zunft angehören. Alle Berufsgenossen mußten einer Zunft beitreten. Und da die Stadt den weisen ökonomischen Grundsatz befolgte, für den Markt nicht mehr zu produzieren, als die Nachfrage es verlangte, so ließen die Zünfte nur eine festbestimmte Zahl von Meistern in jedem Berufe zu. So eng und verkehrsfeindlich auch manchem heute das Zunftwesen erscheinen muß, bot es dennoch ungeheure Vor­ teile für das wirtschaftliche und soziale Leben. Nur mit Hilfe der Zunft konnte das Wort Wahrheit werden: „Das Handwerk ernährt' seinen Mann", d. h. jeder Gewerbetreibende fand einen aus­ kömmlichen Unterhalt für sich und seine Familie; wie andererseits das Einzelinteresse am Gesamtinteresse sein» Grenze fand. Vom Zunftzwang ausgeschlossen blieben die. Großhändler. Der kühne, großhändlerische, spekulative Geist war in diese Schranken nicht cinzufangen. Der Organisationsgedanke führte noch zu einer zweiten Neuerung, die überaus fruchtbar auf Stadt und Staat wirkte. Aus der Gesamtorganisation der Bürger ist die Idee der juristischen Person erwachsen. Die.juristische Person ist in der Stadt­ gemeinde, nicht in der Landgemeinde entstanden. Die Dorfgemeinden waren gestaltet nach dem Prinzip der Genossenschaft zur gesamten Hand. Sie stellten juristische Vielheiten, mit einem starken einheitlichen Kern dar. Historisch sind auch die Städte aus Genossenschaften hervorgegangen, und viele von ihnen gelangten erst spät zur vollen Einheit der juristischen Person. Aber tne Idee: über der Vielheit der Bürger eine Einheit, eben die Stadt selbst rechtlich in Erscheinung zu bringen, diese Idee entsprang dem deut­ schen Bürgertum. Im 12. Jahrhundert beginnt diese Auffassung um sich zu greifen. Der Mainzer Frieden von 1235 scheidet bereits

scharf „stat" und „liute" (Bürger) voneinander. (Nahm die Stadt einen Geächteten auf, so sollte die Stadt für sich, neben den Bürgern für rechtlos erllärt werden. § 30.) Auf die Bildung der juristischen Person in der Stadt haben außerdem mitgewirkt: Der Grundsatz der ständischen Gleichheit; der alle Bürger umspannende Friede; die gemeinsame Berteidigung^pflicht der Bürger; die ge­ meinsame Kasse, aus der städtische Zurichtungen bezahlt wurden; die der Gemeinde als Ganzem, auferlegte Steuer und der geistige,

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Städtische Verwaltung.

nachbarliche Zusammenschluß, den eine durch Mauern, Türme und Tore eingeengte Masse notwendig erfahren muß. „Da wir alle Nachbarn (nakibure) heißen, die in dieser Stadt sind", lautet es so treffend und plastisch im Stadtrecht von Mühlhausen (zwischen 1231 und 1239). 7. Städtische Einrichtungen. Wenn man die Frage aufwirft, in welchem Augenblick ist eine Stadt juristisch als entstanden anzusehen, so muß die Ant^ wort lauten: sobald aus der Landgemeinde eine besondere Ge­ meinde abgespalten ist. Die Stadtgemeinde in ihrer Besonderheit als Marktgemeinde (oder als Burggemeinde und Friedensgemeinde ist das eigentliche Kriterium für die Stadt (civitas, oppidum, urbs). Und dieser Gemeinde sind zwei Einrichtungen eigentüm­ lich: ein besonderes Recht und ein besonderes Gericht. Der Markt strebte vor allem nach einem rascheren und beweglicheren Recht, als das Land. -Für Handel und Verkehr genügte das schwer­ fällige Landrecht nicht. Der Stadtfriede rief ein eigenartiges, städtisches Straf- und Prozeßrecht hervor. Floh der Verbrecher, so hielt man sich an dessen Haus. Es wurde dem Erdboden gleich gemacht. im Freiburger Stadtrecht §8.) Das Stadtgericht war ungleich ausgebaut, je nachdem die Stadt in den Besitz der hohen Gerichtsbarkeit gekommen war oder nicht. Die Bischofs­ städte, welche diese regelmäßig erlangt hatten, setzten einen Bogt (oder einen Burggrafen als Bogt) ein, der die Gerichtsbarkeit vom Bischof zu Lehn trug und vom Kaiser den Blutbann ein­ holen mußte. Wo der Stadt nur niedere Gerichtsbarkeit eingeräumt war, da amtete ein Schultheiß (causidicus, iudex), der in der Regel in Verbindung mit einem Schöffenkollegium Urteil sprach. Ja Straßburg hatte der Schultheiß sogar einen Teil der hohen Gerichtsbarkeit inne. Es ist leicht verständlich, daß die Bürger mit aller Energie versuchten, die Besetzung der richterlichen Ämter an sich zu reißen. Vielerorts ist es ihnen auch gelungen, zum Teil unter heftigen Kämpfen gegen den Stadtherrn. In der Stadt begegnet uns auch zum ersten Male der Komplex von technischen Einrichtungen, den wir Verwaltung nennen. Drei Momente erforderten diese Ver­ waltung. Einmal der Unterhalt der Mauern, Gräben und Tore, deren Sorge dem Stadtkommandanten, dem Burggrafen an­ vertraut war. Dann die Marktpolizei, welche Ruhe und Ordnung auf dem Markte hielt und für richtiges Maß und Gewicht Sorge trug. Drittens das gesamte Steuerwesen. Die Städte sind die

Stadtrat.

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Schöpfer eines geordneten Steuerwesens. Nicht Handel und Wandel allein, sondern vor allem die Ausbildung einer rationellen Steuer­ technik setzten.sie instand, zu den großen Wirtschaftszentren des Mittelalters und der Neuzeit aufzusteigen. Die Territorialheeren des Landes sind den Städten oft spät nachgehinkt. Der Stadt ist es gelungen, neben den direkten Steuern auch indirekte ein­ zuführen, z. B. das Ungeld, die Akzise. Sie, die Akzise, ist zur wichtigsten städtischen Steuer geworden. Wesentlich für das Hervor­ bringen von Verwaltungsgeist und Berwaltungsgeschick war die Art, wie die Stadtherren ihre Steuerforderungen festsetzten: sie griffen nicht auf den einzelnen Bürger, sondern erhoben die Steuer von der Gemeinde als Ganzem. Den städüschen Beamten lag daher die Pflicht ob, die einzelnen "Bürger zu veranlagen. Als oberstes verwaltendes Organ erscheint der Stadtrat. Er ist nicht überall aus gleicher Wurzel entsprungen.. Über­ wiegend mag er als Ausschuß der Gesamtbürgerschaft (z. B. in Goslar und in Riga) begründet worden sein. Der Sfadtrat gab

den Bürgern die Waffe in die Hand, sich vom Drucke des Stadt­ herrn zu befreien und zu einem Selbstverwaltungskörper zu werden. Bald friedlich, bald unter gewaltsamen Anstrengungen ist die Emanzipation vom Stadtherrn Ende des 12. und im 13. Jahr­ hundert vor sich gegangen. Die städtefeindlichen Gesetze Friedrichs II,, in denen u. a. die Absetzung der selbstherrlich eingesetzten Stadt­ räte und Beamten verlangt wurde, hatten keinen Gcfolg mehr (Gesetz von 1232). Die Gefahr, die der Stadt drohte, kam nicht vom Stadtherrn und nicht vom Reiche, sondern später von der Landeshoheit. Sie hat die Selbstverwaltung aufs neue erschüttert und zerstört. Die Feudalisierung der Heer- und Gerichtsverfassung.

1. Das Lehnrecht. Unter Feudalisierung versteht man die Umbildung landrecht, licher Institute zu Einrichtungen des Lehnrechts. Zum Verständnis sei zunächst ein kurzer Blick ans die Verhältnisse des Lehnrechts in der Kaiserzeit geworfen. Dem Lehnrecht sind drei Wesensmerkmale eigen. 1. Alle lrhnrechtlichen Fäden laufen im König zusammen. Das Lehn­ system ist ein streng hierarchischer Bau, mit dem König als einziger und höchster Spitze. Es weist wie die katholische Kirche ftft ausschließlich herrschaftliche Momente auf. Alles ist Rangordnung «nd Abstufung, Einordnung und zeremoniellste Gliederung. Der

§ 25.

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Lehnssystem.

Mensch fühlt sich sicher in der Zwangsjacke der Form.

Einer der wenigen genossenschaftlichen Züge besteht darin, daß der Herr in Streitigkeiten mit einem Vassallen vor dem Gerichte der übrigen, eigene« Bassallen Recht nehmen muß. Daher ist im Prinzip alles Lehngut Reichsgut. Wird ein Eigengut in den Lehnsbereich hinübergeführt, so wird es zum Reichsgut. 2. Das Lehns­ system ist kein bloßes Rechtssystem. ES ist zugleich eine Ordnung höchster Treue. Aus Treumomenten und Rechts­ momenten setzt es sich zusammen, und diese Doppelnatur hat es aus der alten Gefolgschast mitgebracht. Das eigenartige dabei ist: der Treubegriff läßt sich nicht wie der Rechtsbegriff so bestimmt und allgemein fassen. In der Treue sind durchaus persönliche, ich möchte sagen gefühlsmäßige Momente maßgebend, Momente, die nur zwischen diesen Personen und nur in diesem Augenblicke wirken. Dieses Treumoment gibt dem gesamten Lehprecht etwas juristisch schwankendes, im Einzelfall schwer faßbares. Der Treubegriff ist außerordentlich dehnbar, während der Rechtsbegriff Geschlossenheit und Festigkeit in sich trägt. — Nach den Rechtsbüchern hat allein der Mann seinem Herrn „Mannschaft" zu leisten, d. h. sich zu treuer Hilfe und zu treuem Beistand zu verpflichten. Aber es kann kein Zweifel sein: Auch der Herr ist dem Manne zur Treue verpflichtet. Das Lehnsverhältnis ist ein Verhältnis gegenseitiger Treue. S. Im Lehnwesen steckt die Idee der Dienstleistung für den König, wofür der Vassall durch Grund­ besitz und Verleihung von Rechten entschädigt werden soll. Der Dienst ist persönlich zu tun; eine Vertretung oder eine Ablösung sind grundsätzlich ausgeschlossen. Überblicken wir aus diesem Jdeenkreis heraus das Lehnrecht in seiner Entwicklung seit der fränkischen Zeit, so ergibt sich teils eine vollständige Umkehr der Rechtsprinzipien, teils wenigstens ein tiefer Eingriff in diese. — Zunächst steigern sich die lehnrecht­ lichen Vorstellungen wesentlich und erreichen ihre Vollendung in der Zeit der Kreuzzüge. Ein religiös mystischer Zug, gegründet auf kriegerische Leidenschaft und auf höfisches Zeremoniell, geht durch die ganze europäische Welt, und dieser Zug hebt das Treu­ moment im Lehnrecht hoch empor. Dem Lehnsherrn die Treue brechen, ist das Niedrigste und Verdammenswerteste, was ein Mann auf sich laden kann. Diese Glorifizierung der Treue hing aufs engste zusammen mit den Ritterorden, welche sich im Morgenlande gebildet hatten und von dort den europäischen Adel in ihre Netze einspannten. In diesen Ritterorden ist der Geist höchster Tugend,

Niedergang des Lthnrechts.

US

höchster Reinheit, höchster Treue gezüchtet und gezeitigt worden. Aber am Ende des 12. Jahrhunderts ging die große religiöse Energie im Rittertum zurück, und damit verflüchtigte sich auch das Treumoment. Einen zweiten schweren Stoß empfing das Lehn­ recht durch das Absterben der monarchischen Ideen, die es groß gemacht hatten. Der König glitt von seiner obersten Spitze herab. Es bildeten sich neben dem Reichslehnrecht territoriale Lehnrechte aus, die in Wahrheit nicht mehr den König, son­ dern eine» Dynasten als obersten Herrn anerkannten. Es kam -er Rechtssatz auf, daß jeder Lehnsfähige sein Eigen zu Lehen geben könne, und daß solches Lehen nicht zu Reichsgut werde, also nicht in Berührung mit dem König stehe (so Sachsenspiegel .Lehnrecht 69 §8). Das Band zwischen Lehn und Königtum wurde zerschnitten. Endlich — und das ist der bedeutsamste Schritt gewesen — traten Ende des 12. Jahrhunderts die persönlichen Dienstleistungen stark in den Hintergrund. Die Dienste waren durchaus in die sekundäre Rolle gepreßt. Ja manche Dienste hatten ihre Natur als belastende Verpflichtung überhaupt verloren, so vor allem das Gerichthalten. Wenn der mit einem Benefiziunt ausgestattete fränkische Graf Gericht hielt, so bedeutete dies be­ schwerlichen Königsdienft. Jetzt war das Richteramt zu e>nem

nutzbringenden Hoheitsrecht geworden, das man um pekuniärer Vorteile willen in eigener Hand behielt und weiter lieh. Die Geschichte der Kaiserzeit erweist sich demnach in ihrer letzten Epoche als eine Zeit gewaltiger Lockerungen im Lehns« system. Mit dem Wandel der Ideen hatte sich das gesamte Lehns« recht verschoben, verkehrt zum Nachteil seiner selbst und zum Schaden der Kvnigsgewalt. Durch Kodifizierung des geltenden Rechts versuchte man, der Auflösung Halt zu gebieten. So erließ Friedrich I. im November 1158 das berühmte Lehnsgesetz auf den ronkalischen Feldern, das größtenteils für Italien galt. Aber gerade eine der bezeichnendsten Normen hatte auch für Deutschland Kraft: Wollte ein Vassall zu einem angesagten Heereszug nicht kommen, so konnte er einen Vertreter stellen oder sich durch die halben Jahreseinkünfte -es Lehns vom Dienst befreien (§ 5). Eine rein geldliche Abwägung der Dienste hatte sich durchgesetzt. Auch die glänzenden Zusammen­ fassungen des Lehnrechts durch Eike von Repgau (um 1235) und durch den Verfasser des Schwabenspiegels (um 1275) vermochten das Lehnrecht nicht auf seiner Höhe z» halten. Gegen den Ausgang des 13. Jahrhunderts waren seine Grundlagen so tief erschüttert, daß an eine Auferstehung nicht mehr gedacht werden konnte: gO*. Steutfge R«hu,«schichu.

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Waffenrechl der Bauern.

2. Die Heerverfassung. a) Die größte Wirkung des Lehnrechts zeigte sich in der Ausschaltung der Bauern aus dem deutschen Heere. Wir ver­ mochten das Zurückdrängen der bäuerlichen Bevölkerung schon im 9. Jahrhundert zu verfolgen. Zwei Jahrhunderte später be­ ginnt sich der Bauer fast ganz aus dem Heer zu verlieren. Wo er etwa noch beigezogen wird, darf er nur zu Fuß fechten. Häufiger zieht er als bloßer Bedienter und Wagenknecht mit. Ende des 11. Jahrhunderts hat der Bauer sein Waffenrecht im Heere eingebüßt. Er bleibt für die Bestellung des Feldes Vor­ behalten. Die Trennung von Nährstand und Wehrstand war vollzogen, und die uralte Vorstellung, daß Kämpfen vornehmer sei als Arbeiten, behielt die Oberhand. Besonders die Ritterorden schlossen sich mit der größten Energie gegen das bäuerliche Element ab. 1186 verbot der König den Bauernsöhnen, die etwa ins Heer eintreten würden, das Abzeichen des Ritters (das cingulum militare) anzulegen. Als Mann der Feldarbeit war der Bauer in den Waffen und im Reiterkampf nicht geübt. Das Waffenhandwerk war zu einer Kunst geworden, an der nur Ritterbürtige teilhaben sollten. In einzelnen Gegenden Deutschlands wurde auf den befreiten Bauern eine Heersteuer gelegt. (Aber diese Steuer tritt gegen­ über den auferlegten Gerichtssteuern stark zurück.) Während der letzten Jahrhunderte der Kaiserzeit war der Bauer nur noch zur Gerichtsfolge verpflichtet. Der Richter der Grundherrschaft oder der Dorfrichter konnte die Eingesessenen kraft seiner Gerichtsgewalt zur Verteidigung der engsten Heimat aufbieten. Aus dem Heerdienst war ein bloßer Polizeidienst geworden. Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, Abwehr und Verfolgung von Friedensbrechern blieben einzig noch den Bauern auferlegt. Als Höchstes wurde etwa verlangt, daß der Bauer drei Tage und drei Nächte eine Burg belagere, wenn ein Friedensbrecher sich dorthin flüchtete. Mit dem alten Heerbann hatten solche Einrichtungen juristisch nichts mehr zu tun. Die allgemeine Wehrpflicht war in Vergessenheit geraten. Was die fränkische Zeit anbahnte, hat die Kaiserzeit vollendet. b) Bot der König zum Heeresdienst auf, so fielen drei Personen­ gruppen in Betracht. Die vornehmsten und wertvollsten Krieger stellten die Lehnsleute. Wer Glied des Reichslehnsverbandes war, hatte sich am bestimmten Sammelplatz einzufinden. Der Dienst war Königsdienst, Reichsdienst. Er durfte nur geboten werden zu Reichszwecken. Dienstverweigerung zog den Verlust

Söldner.

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des Lehns nach sich. Tie Flucht aus dem Heere sühnte der Lehnsmann mit Einbuße der ritterlichen Ehre und des Lehns. Desertion durfte nicht am Leben gestraft werden. Aber ein ritterliches Leben ohne Ehre war furchtbarer als der Tod. Zur Romfahrt waren nur die Lehnsleute verpflichtet, deren Herr aufgeboten wurde. Der deutsche König wußte Wohl, warum er mit gewappneter Hand nach Rom zog zur Weihe durch den Papst. Der deutsche König durfte nicht als Bittender kommen, sondern als Fordernder. Und diesem Gedanken trug das Reichslehnsrecht Rechnung. Schon frühe nehmen nun aber auch Leute an der Heerfahrt teil, welche nicht im Lehnsverbande standen: die Ministerialen, des riches dienstman, die im Gegensatz zu den Lehnsleuten ritter­ liche Unfreie waren, zum Reiche gehörten und im Felde von Reichs­ vögten kommandiert wurden. Auch die Mannschaften, welche die Städte stellten, standen außerhalb des Lehnsbereiches. Zwar gab es ein städtisches Patriziat, welches zu Pferde kämpfte und dem ritterlichen Lehnsmann aleichkam. Die große Masse der Bürger dagegen zog nicht mehr persönlich aus. Sie unterstützte den Feldzug mit der Frucht ihrer Arbeit, mit Geld, wobei die Heer­ steuer als Last der ganzen Stadtgemeinde auferlegt wurde. Oder die Stadt stellte, was seit dem 12. Jahrhundert mehr und mehr üblich wurde, gedungene Truppen, die Söldner. Von den Städten aus ist das Söldnerwesen in die deutsche Heerverfassung eingeführt worden. Der Söldner kämpfte regelmäßig zu Fuß. So sind es auch die Städte gewesen, welche zuerst mit dem Reiter­ heer gebrochen haben. Söldnerheer und Fußheer besitzen ihre Wurzeln in der Stadt. Ihnen sollte die Zukunft gehören. Viele Städte — aber auch Herren des Landes — erlangten dauernde Befreiung vom Heerdienst. Freilich ließ sich der König zu solcher Privilegierung nur ungern herbei. c) Die große Wandlung, die wir die Feudalisierung der Heerverfassung nennen, fällt in die staufische Zeit. Bis tief in das 12. Jahrhundert hinein herrschte die Auffassung vor, die vom König aufgebotenen geistlichen und weltlichen Fürsten leisten ihren Heerdienst als eine staatsrechtliche, nicht als eine lehnrechtliche Verpflichtung. Mit dem Vordringen des Lehnrechts im ganzen Staatswesen verschob sich diese amtsrechtliche Grundlage. Di e He er­ st flicht der Großen des Reiches wurde als Lehns pflicht aufgefaßt. Mit ihren Szepterlehen und ihren Fahnlehen übernahmen sie die militärischen Pflichten als eine lehnrechtliche Auflage und boten ihrerseits wiederum kraft Lehnrechts ihre Lehnsleute auf. 8»

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Gerichtsverfassung.

Daher wurde de« Fürsten ein besonderer Bann (Aufgebotsrecht) nicht verliehen. Der Königsbann des 12. und 13. Jahrhunderts ist kein Heerbann. Er ist ausschließlich Gerichisbann. Mit dem Ausgang der Kaiserzeit sind vielerorts Lehnsleute und Mnisterialen verschmolzen. Die an sich unfreien, und anfangs von den Bassallen schroff zurückgewiesenen Dienstleute, stiegen zum Range freier ritterbürtiger Leute auf und dienten im Heere wie die Lehnsmannen. Das hing zusammen mit den Verdiensten, bi'e sich die Ministerialen um das Territorium erworben hatten (§23,2); auch damit, daß es üblich wurde, sie mit Lehen, statt nur mit Dienst­ gut auszustatten, und daß andererseits die Vasallen sich in Lehns« vertrügen immer mehr dazu bequemen mußten, an Privatkriegen ihrer Herren teilzunehmen. 3. Die Gerichtsverfassung. a) Biel langsamer als im Heere rang sich die Feudalisierung im Gerichtswesen durch. Ja, es ist hier überhaupt niemals zu einer so starken Durchdringung lehnrechtlicher Elemente gekommen, wie dort. Das ist leicht verständlich, wenn wir erwägen, daß.der Schwerpunkt des gesamten Lehnwesens im ritterlichen Kampf zu Pferde lag. Die ausgezeichnete Gerichtsorganisation der karo­ lingischen Zeit hßt sich in ihren Hauptzügen bis in das 13. Jahr­

hundert erhalten. Wenn auch die großen Gerichtssprengel des Reiches zu Lehen geworden, wenn a«ch die Richter statt des Be­ amtencharakters die Natur von Bassallen angenommen hatten, so änderte dies an der inneren Gerichtsorganisation nichts Wesentliches. Selbst die Gerichtsverfassungen, die uns der Sachsen­ spiegel und der Schwabenspiegel überliefern, tragen noch bedeut, same Grundzüge deS fränkischen Rechts in sich. Erst, die erstarkende Landeshoheit hat dann dem Gerichtswesen ihren neuen Stempel ausgeprägt. Die größten Änderungen fallen erst in das 14. und 15. Jahrhundert Noch gilt bis dahin der König als Quelle aller Gerichtsbarkeit. Noch richtet kein Richter zu eigenem Recht. Noch legt der König, wohin er kommt, das Gericht nieder, d. h. er hat die Befugnis, augenblicklich die Funktion des Richters zu übernehmen. Noch ist er im Besitze des Evokationsrechtes, kraft dessen er jede üaerledigte Streitsache an sein Gericht ziehen darf. Noch besteht das ins appellandi: die Untertanen können gegen ihre Gerichts- und Landesherren im Königsgericht Klage führen. Die Beklagten sind verpflichtet, dort ihr Recht zu nehmen. Die gesamte, Gerichtsorganisation gilt noch als Reichssache, beherrscht vom Landrecht, nicht vom Lehnrecht.

AdelSgericht und Bauerngericht.

117

b) Dennoch setzten schon in der Kaiserzeit Verschiebungen ein, welche in wichtigen Punkten die alte Gerichtsverfassung veränderten. Die Abschließung der Stände nach lehnrechtlichen Gesichtspunkten strahlte ihre Wirkung auch in das gerichtliche Gebiet hinein. Der Adel weigerte sich, fein Recht im gleichen Gericht zu empfangen, wie der Bauer. Der Wehrstand wollte vom Nähr, stand auch im Gerichtswesen geschieden sein. Diesen Bestrebungen mußte her Kaiser nachgeben, und in seinem Privileg von 1232 findet sich der lapidare Satz: ad centas nemo aynodalis vocetur, d. h. vor das Zentgericht darf kein freier adliger Mann gerufen werden. Die Zentgerichte, die Gerichte, welche der Zentgraf (der Hunne, der Schultheiß oder w»«; immer der Richter geheißen wurde) ab« hielt, waren zu ausschließlichen Bauerngerichten geworden. Damit war die Scheidung der Gerichte nach Ständen vollzogen. Das Adelsgericht trennte sich vom Bauerngericht. Der Bürger unterstand ausschließlich dem Stadtgericht. Der kasten­ artige Abschluß der Stände hatte auch im Gerichtswesen gesiegt. Und was ergab sich als Folge dieser Wandlung? Das Zent­ gericht, ursprünglich ein Gericht ohne Blutbann, erhielt nun auch hochrichterliche Kompetenzen. Die Zenten wurden zu Blutgerichten für die bäuerliche Bevölkerung. Der Bauer nahm sein Recht fortan auch in Sachen der hohen Gerichtsbarkeit vor dem Zentgrafen. Augenblicklich erwachte damit der Wunsch der LandesHerren, die Zentgerichte in ihre Hand zu bekommen. Denn, wie wir wisseu, war ja das Hochgericht der Angelpuntt der landes. herrlichen Rechte. Solange der Zentrichter nur Mederrichter gewesen, bestand ein besonderes Interesse an diesen Gerichten nicht. Sie waren daher in unsäglicher Weise verhandelt und verschachert worden, und manches Niedergericht hatte den Zusammen» hang mit dem Staat vollkommen eingebüßt. Jetzt wurde das anders. Der Landesherr strebte mit aller Energie darnach, diese bäuer­ lichen Hochgerichte an sich zu bringen. Und auch diese Tendenz fand im Privileg von 1232 ihren Niederschlag. „Die Zentgrafen empfangen ihre Zentgerichte vom Landesherr«, oder von dem­ jenigen, der vom Landesherrn damit belehnt wurde", heißt es dort. Und zugleich erging das Verbot, die Gerichtsstätte des Zent» gerichts ohne. Erlaubnis des Landesherr« zu verändern. Mit einem Worte: die Zentgerichte wurden dem Bereich der landesherrlichen Gewalt unterworfen. Sie galten als Lehen, die dirett oder indirekt vom Landesherr« verliehen wurden, und blieben fortan der willkürlichem Verfügung kleinerer Gewalt»

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Lehnsgerichte.

Herren entzogen. Die Feudalisierung führte also im Bereiche des Zentgerichts zu einer Stärkung des öffentlichrechtlichen Charak­ ters dieser Gerichte. Der Feudalisierungstrieb setzte noch in einet zweiten Richtung ein. Neben den Land- und den Stadtgerichten bildeten sich vollkommen neue Gerichte aus: di6 Lehnsgerichte. Zuständig waren diese nur für eigentliche Lehnssachen, für Gegen­ stände ziviler wie strafrechtlicher Art, welche das Lehngut und die Verhältnisse des Lehnsherrn zu seinen Vassallen betrafen. Die große Masse des Volkes war also von ihnen vollkommen aus­ geschlossen. Das Reichslehnsgericht hielt der König selbst mit den Großen des Reiches ab. Jeder lehnrechtlich geladene Fürst mußte innerhalb von sechs Wochen am Hofe erscheinen. Der berühmteste Prozeß ist das Verfahren gegen Heinrich den Löwen, welcher geladen war sub feodali iure, bekanntlich aber nicht erschien. Die territorialen Lehnsgerichte wurden in den einzelnen Lehnhöfen bestellt. Der Herr führte den Vor­ sitz, die Vassallen stellten das Urteilskollegium dar. Neben der Heerespflicht bildete die Gerichtspflicht die vornehmste Aufgabe des Lehnsmannes. Von diesen Lehnsgerichten gab es einen Rechts­ zug an die höheren Gerichte, zuletzt an den Lehnhof des Reiches. Denn „al lantrecht unde lenrecht hat begin an yme", d.h. am deut­ schen König. Die Lehnsgerichte gingen also neben den Land­ gerichten einher. Organisation wie Rechtsgang waren vom Landrecht verschieden. Und so ist auch in der Streitsache gegen Heinrich den Löwen ein landrechtliches Verfahren neben einem lehnrechtlichen wahrzunehmen. Auf die Feudalisierung der Gerichtsgewalt, des Bannes, der vom König ausging, ist bereits hingewiesen worden. Doch bildete dieser Königsbann kein rechtes Lehn. „Ban liet man ane manscap", sagt der Sachsenspiegel (III 64 § 5). Wie wenig vom alten Beamtencharakter auch in dieser Bannleihe noch erhalten geblieben, zeigt der Leihezwang, dem der König im Laufe der Zeit unterworfen worden war. (Vgl. § 23, 1.)

26.

Die Rechtskreise. Dem einheitlichen Denken und Leben des germanischen und fränkischen Menschen entsprach ein einheitliches Recht. Das Recht war ja ein Ausschnitt aus dem großen Lebensprozeß, den ein jeglicher von der Geburt bis zum Tode durchlief. Und dieser Lebens­ prozeß hatte notwendig seinen Mittelpunkt in der Heimat. Alles

Territorialitätsprinzip.

119

nahm seinen Ausgang von der Heimat: Familie, Sitte, Religion, Kunst, Sprache und somit auch das Recht. Jeder lebte nach seinem Heimatsrechte, nach dem Stammesrechte, in das er hineingeboren worden war (§ 19). Ansätze zur Ausbildung von Rechtskreisen traten freilich schon damals hervor, vor allem das Hofrecht für die Grundhörigen. Aber über einzelne Anfänge kam man nicht hin­ aus, so daß als Grundgedanke für die fränkische Zeit doch richtig bleibt: der Mensch lebte nach dem alle Freien umspannenden Bolksrecht. Die Kaiserepoche hat mit der Einheit des Rechtes gebrochen. Mit der Spaltung des Lebens ging auch eine Spaltung des Rechts vor sich. Die bestimmt gegliederten Lebenskreise riefen bestimmt geartete Rechtskreise hervor. Die Anschauungen der einzelnen Volksklassen hatten sich derartig differenziert, daß ein einheitliches Recht diesem Lebensgang nicht mehr entsprochen hätte. Trug doch der Mensch schon nach außen, in seiner Kleidung, in seinem ganzen Aufzug, in Wohnung und Siedelung seinen Stand zur Schau. Sein äußeres Kleid erwies seine rechtliche und geistige Zugehörigkeit. . 1. Das bedeutsamste Recht bildete auch in der Kaiser­ zeit noch das Landrecht. Das Landrecht füllte den Rechtskreis aus, in den grundsätzlich jeder freie Mann hineingehörte. Das Landrecht war das aus dem Volke geborene und in dem Volk lebendige Recht, echtes Volksrecht, meist durch Gewohnheit ge­ bildet, seltener durch Satzung festgestellt. Aber mit der Lockerung der alten Stammesgebiete, mit der größeren Beweglichkeit und örtlichen Verschiebung der Menschen und mit der Schaffung neuer Rechts- und Gewaltbezirke hatte das Landrecht die Personalitäts­ grundlage verlassen. Während der Kaiserzeit lag das Prinzip des persönlichen Rechts, des Heimatsrechts, in hartem Kampfe mit dem Prinzip des territorialen Rechts, des Landesrechts. Je mehr wir uns dem 13. Jahrhundert nähern, um so mehr siegt das Territorialprinzip. Das Recht begleitete nicht mehr den einzelnen Menschen auf seinen Pfaden, wohin er immer ging, sondern das Recht ergriff das Land selbst. Dieses Landesrecht umfaßte alle Bewohner, sie mochten kommen, woher sie wollten. Das Heimatrecht geriet in Vergessenheit. Im Sachsenspiegel findet sich der berühmte Satz, der die Territorialisierung deutlich bekundet: Im Lande zu Sachsen empfängt jeder Zugewanderte sein Erbe nach des Landes Recht (also nach sächsischem Recht) und nicht nach des Mannes Recht, mag er Bayer, Schwabe oder Franke sein (I 30). Im Laufe des 13. Jahrhunderts verstärkte sich diese

120

Stadtrecht.

Entwicklung. Das Recht hatte sich endgültig auf das Gebiet niedergeschlagen. Das gemeine Volksrecht war zum Landes recht geworden. Es bildete sich die Norm aus, die heute in der neuen Kodifikation des kanonischen Rechts so klar geformt ist: Lex non praesumitur personalis, sed territorialis, nißi aliud constet. Mit dieser Territorialisierung hängt aufs engste zusammen, daß die alten Personalrechte, die fränkischen Volksrechte, ihre Geltungs­ kraft einbüßten. Gewiß, ihre Rechtsgedanken lebten vielfach weiter. Aber als Ganzes, als Gesetzeswerke verschwanden sie in Deutschland im Laufe des 10. und 11. Jahrhunderts. 2. Die neuauftauchenden Rechte lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die eine Gruppe schließt das Landrecht vollkommen aus. Die ganze Rechtsstellung des Menschen ändert sich, wenn er in den neuen Rechtskreis eintritt. Die andere Gruppe erfaßt den Menschen nur nach ganz bestimmten Richtungen hin, wie etwa heute der Bürger nur als Kaufmann nach Handelsrecht lebt und im übrigen der bürgerlichen Gesetzgebung unterstellt bleibt. a) Die erste Gruppe. Zu ihr zählte das Stadtrecht. Der Bürger stand mit seiner gesamten Persönlichkeit im städtischen Rechtskreise, und die städtische Gesetzgebung wachte ängstlich dar­ über, daß sich ihre Angehörigen nicht dem Landrecht und Landrichter unterwarfen. Bei dieser Exklusivität des Stadtrechts darf nicht übersehen werden, daß es vielfach nur fortentwickeltes Landrecht darstellte. Aber bald, etwa seit dem 12. Jahrhundert, fängt das Stadtrecht an, ganz eigene Bahnen zu gehen, und diese Sonder­ entwicklung trug wesentlich dazu bei, Stadt und Land voneinander zu scheiden und jene scharfe Spaltung hervorzurufen, an der wir heute noch leiden. Die Rechtsgeschichte hat zu ihrem Nachteil diese Differenzierung oft übersehen. Sie ist allzu leicht geneigt, städtische und ländliche Rechtsnormen miteinander zu verwerten. Das gleiche Ziel wie das Stgdtrecht strebte das kano­ nische Recht an. Seit der fränkischen Zeit arbeitete die katholische Kirche mit Feinheit und Umsicht an einem eigenen Rechtssysteme, in dem sie nicht nur römische, sondern, wie die neuere Lehre zeigt, auch germanische Rechtsgedanken verarbeitete. Mit dem Decretum Gratiani (um 1140) beginnen die großen Kodifikationen. Dieses kanonische Recht zeigte das deutliche Bestreben, die kirchlichen Einrichtungen und die Geistlichen vollkommen in seinen Bereich hinein zu ziehen. Nach allen Richtungen, im Zivilrecht, im Straf­ recht wie im Prozesse, sollte der Diener der Kirche nur den Ge­ boten des kanonischen Rechts unterstehen. Aber mit diesen For-

Hofrecht.

121

-erringen drang die Kurie nicht durch. Zu keiner Zeit vermochte sie die Geistlichen sowie die kirchlichen Anstalten dem weltlichen Rechte ganz zu entfremden. Immer wieder setzte der Staat von sich aus Normen, etwa über das Asylrecht der Kirchen, über den Frieden der Kirchhöfe oder über Erbrecht und Strafrecht der Geist­ lichen. Und die Landesherren zogen trotz aller Proteste den in ihrem Lande begüterten Klerus vor ihr weltliches Gericht. Dauern­ der Kampf und Hader zwischen Staat und Kirche war die Folge, wiewohl der Sachsenspiegel erklärt hatte, der Papst dürfe kein Recht setzen, womit er Land- oder Lehnrecht verletze (13 §3). Weltlicher und geistlicher Rechtskreis sollten säuberlich geschieden sein. Aber die Geschichte zeigt auf jeder Seite Eingriffe und Über­ griffe die Fülle. Zu dieser Gruppe zählten auch manche Hofrechte. Unter Hofrechten versteht man die rechtliche Ordnung, nach der die Hintersassen einer Grundherrschaft lebten. Da die Hinter­ sassen einen Stand bildeten, kann man sie als Standesrechte be­ zeichnen. Viele dieser leges curiae erfaßten ihre Hörigen in allen Rechtsbeziehungen. Die familia, wie etwa die Gesamtheit dieser Leute genannt wurde, war nämlich des Landrechts nicht teil­ haftig, wenn sie nur aus Unfreien bestand. Recht und Gericht regelte ausschließlich der Grundherr. In diesem Sinne läßt sich das Hofrecht als Unfreienrecht bezeichnen. Andere Hofrechte dagegen beschränkten sich darauf, den Hofhörigen nur in seiner dinglichen Beziehung zur Grundherrschaft zu ergreifen und etwa festzulegen, welche Zinse und Dienste zu leisten seien oder in welcher Form Hofgüter übertragen werden dürften. Diese (dinglich ge­ stalteten Hofrechte) berührten den Stand der Unterworfenen nicht. Unter ihnen lebten: tarn ingenui quam servi, Freie wie Knechte,wer immer grundherrliches Gut inne hatte. In allen das Land­ recht angehenden Verhältnissen richtete sich der Hintersasse nach Landrecht. Diese letztere Art der Hofrechte leitet daher über zur zweiten Gruppe. b) Ein Recht dieser zweiten Gruppe bildete das Lehn­ recht, über dessen Struktur bereits gesprochen wurde. Hier ist noch zu bemerken, daß das Lehnrecht den Menschen nur als In­ haber eines Heerschildes und als mit einem feudum Belehnten ergriff, die übrige Persönlichkeit aber freiließ. So konnte z. B. jeder Vassall neben Lehnsgut (feudum) Landrechtsgut (allodium) besitzen und neben Lehnsverbrechen Delikte begehen, die nach Land- oder Stadtrecht gesühnt wurden. Ähnlich dem kanonischen

122

Dienstrecht.

Rechte verfolgte das Lehnrecht die Tendenz der Ausdehnung. Es suchte zu gewissen Zeiten möglichst viele Seiten des Rechts? lebens zu ordnen, um den Ritterbürtigen an sich zu binden. Doch es zerfiel zu früh, um eine Macht gleich der des kanonischen Rechtes entfalten zu können. Das zweite Recht dieser Gruppe ist das Dienstrecht, das Ministerialenrecht. Die Dienstleute, deren große Rolle bei der Entstehung der Landeshoheit betont wurde, gingen aus Unfreien hervor, welche einst am Hofe eines Herrn lebten und dort in bestimmte Ämter (ministeria) eingegliedert waren. Aus der Masse dieser unfreien Personen hoben sich im 11. Jahrhundert zwei Klassen heraus: die Krieger und die Wirtschaftsbeamten, beide wichtig für Verteidigung und Verwaltung des gesamten Hofes und daher beide mit Dienstgut ausgestattet. In der klassischen Zeit der Dienstrechte, im 12. Jahrhundert, gehörte jeder Ministeriale zu einem Hofamte. „Item singuli et omnes ministeiiales ad certa officia curie nati et deputati sunt.“ „Officia 5 sunt“ heißt es im Kölner Dienstrecht von 1154. Die Dienstleute waren in ein Amt geboren und bildeten in Fahnlehen und Szepterlehen einen Bestandteil des Lehens, wie die Reichsministerialen einen Bestand­ teil des Reiches. Das, was sie dem einzelnen Dynasten so kostbar machte, war nicht nur ihre unveränderliche Zugehörigkeit zum Amte, sondern vor allem ihre unbegrenzte Dienstpflicht, wie oben ausgeführt (S. 97). Die Dienstrechte, die namentlich von den großen geistlichen Fürsten für ihre Ministerialen gesetzt und ausgezeichnet wurden, ließen diesen anfangs keinen rechtlichen Spielraum nach außen. Noch ein Reichsspruch von 1209 schränkte die Mannen zugunsten ihrer Herren wesentlich ein. Aber seit Ende des 12. Jahrhunderts hatte sich ihre Stellung doch so sehr gehoben, daß sie in mancher Hinsicht den freien Rittern gleichkamen (so konnten sie z. B. freie Lehen nehmen) und die Dienstrechte sie nicht mehr in allen Rechts­ beziehungen zu umspannen vermochten. Im Stadtrecht von Lüneburg (1247) erklärte der Stadtherr: „Wir haben an irem gude (nämlich dem Gute der Dienstmannen) nicht rechtes." Das Tecklenburger Dienstrecht um 1300 spricht bereits von iura legitimae libertatis des Ministerialen. In diesem „dienstfreien" Kreise lebte der Ministeriale nach Stadt-, Land- oder Lehnrecht.

Das Recht der Kaiserzeit stellt sich uns also bereits als buntes Mosaik dar. Das Bedürfnis nach Verfeinerung und damit auch

Landfrieden.

123

nach Zergliederung machte sich geltend. Eine Reihe großer Rechts­ kreise stand nebeneinander und durchkreuzte sich. Selbst der exklusivste Kreis, das Stadtrecht, vermochte seine Unterworfenen nicht völlig abznschließen. Denn besaß der Bürger z. B. außerhalb der Stadt Lehngut, so stand er für dieses Gut unter Lehnrecht. Hatte er grundherrliches Gut, so folgte er für dieses Gut dem Hofrecht der Grundherrschaft. Auch die einzelnen Rechtseinrichtungen trugen eine Doppelnatur. So war z. B. der Bauer Eigentümer seines Gutes nach Hofrecht, während nach Landrecht dem Herrn das Eigentum zustand, woraus dann eine spätere romanistische Konstruktion ein doppeltes Eigentum, ein dominium utile und ein dominium directum, schuf. Die Rechtskreise des gleichen Lebens­ bereiches ergaben ebenfalls schwerwiegende Unterschiede. So berichtet Eike von Repgau, die Dienstrechte, die sich an den Höfen der geistlichen Herrn gebildet hätten, seien so verschiedenartig, daß er in seinem Rechtsbuche nicht darauf eingehen könne (III 42 § 2). Diese ganze Differenzierung der Rechte ist der stärkste Ausdruck für das innige Zusammenleben von Volk und Recht. Hatten sich die Anschauungen der ständischen Kreise ein­ mal getrennt, so mußten sich notwendig Sonderrechte ausbilden. Nur dort, wo die Rechtsordnung den Menschen wirklich durch­ dringt, ist Wille und Wunsch gegeben, das Recht den einzelnen Daseinsformen anzupassen. Der Reichtum an Recht deutet daher auf Liebe zum Recht. Aber die Mannigfaltigkeit kann sich Über­ spannen und wird dann zum Fluch statt zum Segen.

Das Strafrecht der Landfrieden. Der große Thomas von Aquino erklärte einmal: „Bei den Deutschen seien Räubereien jetzt noch (im 13. Jahrhundert) keine Sünde." Und so stand es in der Tat. Die Jahrhunderte der Kaiser­ zeit waren angefüllt von Morden, Rauben und Brennen. Die Gewalttat kleidete sich bald in das Gewand des Rechts (Fehde itTib Blutrache), bald trat üe offen und ohne Scheu als solche hervor. Wir schilderten ja bereits bei Entstehung des Städtewesens die Sehnsucht des Volkes nach Inseln der Sicherheit und fanden im Stadtfrieden eine der treibenden Kräfte für die Stadtgründungen. — Noch von anderer Seite her versuchte man dem wüsten Treiben zu begegnen. Die Kirche errichtete Gottesfrieden, deren Ursprung in Frankreich liegt. Die Provinzialgewalten und der Kaiser schufen Landfrieden (von denen auch schon die Rede war), Friedensord­ nungen, welche u.a. ein markantes Strafrecht entwickelten. Das

§ 27.

124

Achdewesen.

alte Strafrecht der karolingische« Epoche, soweit es überhaupt noch lebendig war, genügte nicht mehr. Denn einerseits hatte das Fehdewesen mit seinen Auswüchsen an Räuberei und Brand, stiftnng stark überhand genommen und der Krieg den niederen Adel unbändig verroht. Andererseits waren seht weit mehr Burgen und feste Plätze vorhanden, zu denen der Mssetäter fliehen und von denen aus er sein Handwerk betreiben konnte. In fränkischer Zeit blieb nur die Flucht in den Wald. In unserer Periode trat offener und heimlicher Trotz zutage. Beides mußten die Landfrieden berücksichtigen. Ihr Straftecht ging daher nach sünf Hauptrichtungen vor. 1. Das Fehdewesen wurde eingeschränkt durch Friedetage oder Friedensjahre, durch Ausschaltung von Personen und Sache» aus jedem Fehdebereich, durch das formelle Erfordernis, dem Befehdeten den Frieden aufzusagen (S. 103). Am weitesten ging das Reichsgesetz von 1235, welches Fehde nur noch erlaubte, wenn vorher Klage beim zuständigen Richter erhoben worden war. Rur wenn dem Kläger sein Recht nicht vor Gericht zuteil wurde, durfte er „durch 96>t* seinem Feinde den Frieden kündigen. Das Fehderecht war zu einem Notrecht geworden. Boraussetzung recht­ mäßiger Fehde war also seit 1235 rechtmäßige Klageerhebung. Es galt der strafrechtliche Satz: Wer unrechtmäßig zur Fehde greift und darin einen Menschen tötet oder verwundet, ist ein Landfriedensbrecher. verliert sein Leben, oder ihn trifft eine verstümmelnde Strafe, namentlich das Abhauen der Hand. Auch hohe Geldstrafen kamen vor (60 Schillinge) und Ent­ schädigungen je nach dem Stande des Verletzten. Wer sie nicht zahlen kann, wird gestäupt (1152 und 1224). Angerichteter Schaden mußte doppelt ersetzt werden. Der dem Friedbrecher zugefügte Schaden dagegen bleibt ohne Ersatz (1235). Durch die aufgerichteten Frieden war jede Schädigung in widerrechtlicher Fehde zu einer qualifizierten Tat geworden. 2. Der öffentlichrechtliche Charakter der Strafe er­ fuhr eine wesentliche Stärkung. Schwere Delikte, wie Raub, Diebstahl, Brandstiftung, galten als Friedensbrüche, die die Gesamtheit verletzten. Grundsätzlich wurden sie mit dem Tode bestraft (1152, 1224 und Friedrichs I. Conatitutio contra incendiarios von 1186). Acht- und Fehdeprinzip waren in einem Ringen um den Borrang begriffen. Noch galt in der Hauptsache der Satz, daß die Verfolgung nur auf Klage des Verletzten unter­ nommen und daß die Strafe mit Zustimmung des Klägers (und

Reichsrecht.

125

wohl auch des Richters) abgekauft werden konnte. Aber daneben finden wir eine Generalaufforderung an alle Fürsten, freien Herren und Mm'sterjalen, die Landfriedensbrecher zu verfolgen (1179) und in der Constitutio von 1186 wird der Richter, nicht der Klüger, zur Überführung des ergriffenen Brandstifters aufgefordert. 3. Für den Missetäter gab es meist nur zwei Auswege: Er floh nach der Tat und versteckte sich, oder er ritt auf seine feste Burg und wartete alles weitere trotzig ab. Hiergegen gingen die Landfrieden in dreifacher Weise vor. Einmal: Den Fliehenden traf des Königs Acht. Die Acht wurde hauptsächlich als pro« zefsuales Zwangsmittel verwendet. Wer innerhalb von Jahr und Tag sich dem Richter nicht stellte und sich aus der Acht löste, der wurde friedlos (1179). Der Friedlose war ein exlex. Er durfte von jedem getötet werden. Wer ihn tötete, beging sowenig ein Delikt, als wenn er einen Wolf erschlug. Auch aus dieser Ober­ acht gab es noch eine Lösung, jedoch nur, wenn vorher der Kläger für seinen Schaden beftiedigt worden war (§ 10). Darin liegt zweifellos ein Ausfluß des alten Rachegedankens. Dem Richter wurde verboten, das Gewette, das an ihn zu zahlen war, bei der Achtlösung zu erlassen, „durch daz die liute deste ungerner in die aht (Acht) chomen" (1235), was deutlich auf das Moment der Abschre^lling hinweist. Zweitens: Sollte der Achtspruch Erfolg haben, so mußte verhütet werden, daß irgend ein Mensch den Geächteten aufnahm. Daher sind die Frieden voN von Berboten, den Geächteten zu speisen und zu Hause». Wie ein gehetztes Mld mußte der Missetäter von Haus zu Haus fliehen, verhungern und erfrieren, wollte er sich nicht dem Richter stellen. Drittens: Stztzte sich der Missetäter auf einer Burg fest, so hatte das rasch herbcigerufene Volk die Pflicht, die Burg zu belagern. Gab diese nach drei Tagen den Geächteten nicht heraus, so mußten die Großen des Landes zur Zerstörung der Burg herbeigerufen werden (um 1108). Nach dem Frieden von 1235 wurde die Stadt, die einen Geächteten wissentlich behielt, ihrer Mauern beraubt. War sie ohne Mauern, so mußte sie der Richter niederbrennem. Setzte sich die Stadt zur Wehr, so fiel sie selbst und die gesamte Bürgerschaft in die Acht (§ 30). 4. Aber nicht nur gegen Personenbegünstigung, sondern auch gegen Sachbegünstigung und Hehlerei wandten sich die Frieden: Es mußte vermieden werden, daß Räuber- und Diebesgut wirtschaftlich verwertet werden konnten. Dafür setzte der Frieden von 1235 fest: Wer wissentlich geraubtes oder ge-

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Beweisrecht.

stohlenes Gut kauft, hat es dem Beraubten und Bestohlenen doppelt zu bezahlen. Im Rückfall wird über ihn gerichtet, wie über einen Räuber oder Dieb. 5. Endlich versuchte der Staat mit Hilfe der Kirche den Frieden im Lande zu erhalten und den gebrochenen Frie­ den am Missetäter zu ahnden. Daher wurde der Bischof verpflichtet, den Ächter, der sich nicht stellte, in den Bann zu tun und daraus nicht zu entlassen, bis daß er sich von der Acht befreit hätte. Andererseits nahm der Staat auf sich, den vom Bischof Exkommunizierten in die Acht zu erklären und darin zu halten, bis er vom Banne gelöst sei (Konstitution von 1186). Geistliche und weltliche Gewalt arbeiteten zusammen am großen Friedenswerke. Mit Energie rückte also die Friedensgesetzgebung dem Räuberund Fehdewesen zu Leibe. Und sie bildete nicht nur ein Strafrecht aus, dessen feingestrickten Maschen der Täter nicht entgehen sollte, sondern auch ein ebenso durchdachtes Beweisverfahren. Es war ja in vielen Fällen äußerst schwierig festzustellen, welche von den streitenden Parteien der Friedensbrecher und welche der in Not­ wehr handelnde Verteidiger war. Zudem stellten die ständischen Abstufungen dem Beweisrecht heikle Aufgaben. Ein Haupt­ beweismittel, der Zweikampf, blieb z. B. den Bauern seit dem 12. Jahrhundert versagt. Und innerhalb der Ritterschaft selbst war man nicht verpflichtet, gegen Tieferstehende zu fechten. Wer in handhafter Tat ergriffen oder wessen Tat allgemein kündbar, notorisch war, wurde überhaupt nicht zum Beweise zugelassen. Auch auf dem Wege der Zentralisierung suchte man vorwärts zu kommen. Der Friede von 1235 setzte einen HoHrichter für das ganze Reich ein, der täglich Gericht hielt, und einen Hofgerichts­ schreiber, der ein Acht- und ein Urteilsregister führte. Die „schäd­ lichen" Leute des Landes sollte er in einem Buche vermerken. Trotz aller dieser enormen Anstrengungen wurde der Friede im Reiche nur um ein weniges fester. Um die Acht mit ihren strengen Folgen kümmerten sich viele gar nicht, so daß sich im späteren Mittelalter das Wortspiel ausbilden konnte: „acht und aberacht macht sechzehn". Aber auch wenn man den Täter erwischte, so fehlten vielfach starke und gewillte Richter, welche die Aburteilung in die Hand nahmen. Ja selbst die letzte Stufe machte noch Schwierig­ keiten, die Vollstreckung. Wie manche Exekution mußte unter­ bleiben, wenn der Beklagte mit großem Anhang erschien. Welch deutliche Sprache reden die Frieden von 1179 und 1223, wonach

Das Reich als Lehnsstaat.

127

Kläger und Beklagter nur mit 30 Schwertbewaffneten bei Gericht erscheinen durften, während der Richter mit beliebig Vielen, in beliebigen Waffen, sich und das Recht schützen konnte. Die brutale Macht gab schließlich doch den Ausschlag. Mit Unordnung im Staate schließt die Kaiserzeit Mitte des 13. Jahrhunderts ab. Die Herrscher hatten nicht gehalten, was sie einst versprochen. In der Idee war alles glänzend angelegt und in der Wirklichkeit mit hoheitlicher Geste, mit unend­ licher Kraft, aber ohne Erfolg durchgeführt. Hätten nicht Städte und Landesherren als aufstrebende Gewalten dagestanden, die Zukunft wäre trostlos gewesen. IV. Abschnitt.

Dir Kurfürstrnrrit (1250-1500). Das Reich und die Kurfürstentümer.

„Vacat Imperium“ hieß das furchtbare Wort, das nach dem Ausgang der staufischen Herrschaft das Reich durchflog. Unter den größten Anstrengungen ist es den Kurfürsten gelungen, durch Rudolf von Habsburg wieder eine königliche Macht aufzurichten, eine Macht, die auf das deutsche Königtum und nicht auf das römische Kaisertum gestellt wurde. Wenn auch in der Zeit von 1273 bis zum ewigen Landfrieden von 1495 dann und wann der Ruf noch einmal wahr wurde: „Vacat Imperium“, so kann doch von einer kaiserlosen Zeit im Sinne des 13. Jahrhunderts nicht mehr ge­ sprochen werden. Das Reich hatte seinen erwählten Herrn, seinen „römischen König und zu allen Zeiten Mehrer des Reiches", wie sich selbst der unbrauchbarste von allen, der König Wenzel, nannte. Und der neue Herrscher begann mit einer neuen Politik: Abkehr von jeder besonderen Einmischung in Italien. Staatsrechtlich betrachtet ist für diesen Zeitraum festzustellen: 1. Das Reich war ein Lehnsstaat. Die Hauptmasse des Reiches zerfiel in erbliche Lehen, die vom König vergabt wurden. Auch die verliehene Gewalt, wie die Gerichts- und Heergewalt, hatte noch lehnrechtliche Natur. Man hielt zunächst am alten Lehn­ recht fest und verlangte z. B. im Herrnfall (wenn der König starb) die neue Mutung innerhalb Jahr und Tag. Aber im 14. Jahr­ hundert verloren sich bereits viele Bindungen, und im 15. zer­ fielen sogar wichtige Grundlagen. So hörte die Scheidung von Fahnlehen und Szepterlehen auf, und das bedeutsame, für das

§ 28.

Das Reich als Lehnsstaat.

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Kläger und Beklagter nur mit 30 Schwertbewaffneten bei Gericht erscheinen durften, während der Richter mit beliebig Vielen, in beliebigen Waffen, sich und das Recht schützen konnte. Die brutale Macht gab schließlich doch den Ausschlag. Mit Unordnung im Staate schließt die Kaiserzeit Mitte des 13. Jahrhunderts ab. Die Herrscher hatten nicht gehalten, was sie einst versprochen. In der Idee war alles glänzend angelegt und in der Wirklichkeit mit hoheitlicher Geste, mit unend­ licher Kraft, aber ohne Erfolg durchgeführt. Hätten nicht Städte und Landesherren als aufstrebende Gewalten dagestanden, die Zukunft wäre trostlos gewesen. IV. Abschnitt.

Dir Kurfürstrnrrit (1250-1500). Das Reich und die Kurfürstentümer.

„Vacat Imperium“ hieß das furchtbare Wort, das nach dem Ausgang der staufischen Herrschaft das Reich durchflog. Unter den größten Anstrengungen ist es den Kurfürsten gelungen, durch Rudolf von Habsburg wieder eine königliche Macht aufzurichten, eine Macht, die auf das deutsche Königtum und nicht auf das römische Kaisertum gestellt wurde. Wenn auch in der Zeit von 1273 bis zum ewigen Landfrieden von 1495 dann und wann der Ruf noch einmal wahr wurde: „Vacat Imperium“, so kann doch von einer kaiserlosen Zeit im Sinne des 13. Jahrhunderts nicht mehr ge­ sprochen werden. Das Reich hatte seinen erwählten Herrn, seinen „römischen König und zu allen Zeiten Mehrer des Reiches", wie sich selbst der unbrauchbarste von allen, der König Wenzel, nannte. Und der neue Herrscher begann mit einer neuen Politik: Abkehr von jeder besonderen Einmischung in Italien. Staatsrechtlich betrachtet ist für diesen Zeitraum festzustellen: 1. Das Reich war ein Lehnsstaat. Die Hauptmasse des Reiches zerfiel in erbliche Lehen, die vom König vergabt wurden. Auch die verliehene Gewalt, wie die Gerichts- und Heergewalt, hatte noch lehnrechtliche Natur. Man hielt zunächst am alten Lehn­ recht fest und verlangte z. B. im Herrnfall (wenn der König starb) die neue Mutung innerhalb Jahr und Tag. Aber im 14. Jahr­ hundert verloren sich bereits viele Bindungen, und im 15. zer­ fielen sogar wichtige Grundlagen. So hörte die Scheidung von Fahnlehen und Szepterlehen auf, und das bedeutsame, für das

§ 28.

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König im- Ättrfürften.

Lehnwesen so wichtige Moment der persönlichen Verknüpfung von Herrn und Bassall trat völlig zurück. Im 16. Jahrhundert schickte Gesandte, wer sein Lehen neu empfangen wollte. Die Per» sönliche Verleihung fiel fort. Nach anderer Seite ist dagegen eine Stärkung des Lehnsverbandes wahrzunehmen. Aus der Kaiserzeit waren zahlreiche Gebiete als allodiale Herrschaften herübergekommen, als Territorien, die nicht als Lehen, sondern als Eigentum des Landesherrn angesehen wurden. Ihnen gegen­ über trat vielfach eine Feudalisierung hervor. So sind z. B. verschiedene Württembergische Herrschaften in unserem Zeitabschnitt an- Allodien zu Lehen geworden. Noch mußte dem Kaiser die Lehnstteue gehalten werden. Roch führte Felonie, der Bruch der Treue, zum Verlust des Lehns. Noch ruhten die Verpflichtungen der Reichsfürsten, namentlich die Heerespflichten, der Theorie nach auf Lehnrecht. Als Lehnreich stellte Deutschland eine Einheit dar. Es war begrifflich ein Reich mit einem Gebiet und einem Herrscher. Jn-diesem Sinne besaß der König eigene, unmittelbar von Gott abgeleitete Herrscher­ gewalt. Er war «in rex Dei gratia oder divina favente ckmentia. Als Lehnherr war er theoretisch die einzige Quelle, in der alle Gewalt zusammenfloß. (Eine «absolute Gewalt hatte er jedoch nicht. Er blieb gebunden an die Schranken des Reichsrechts, das aber kümmerlich genug ausgebildet war. Eine Reichslehnsverfassung, nach welcher der König auf gesicherter Grundlage hätte regieren können, gab es nicht. 2. Neben der staatlichen Einheit, die im Lehnrecht begrifflich enthalten war, stellte das Reich zugleich eine Vielheit dar. Und dieser Bielheitsgedanke wurde verkörpert in dem Kur. fürstentum. Das kurfürstliche Kollegium und mit ihm der Kurverein brachten Neben dem monarchischen das aristokratische Prinzip zur Geltung. Aus dem Recht der Königswahl beanspruchten die Kurfürsten das Recht der Kontrolle über den König. Dieses Kontroll­ recht führte seinerseits wieder zum Absetzungsrecht. Zeigte sich der König als „inaufficiena et inuiilis“ für das Reich, so konnte er von den Kurfürsten entlassen werden (1298). Damit wurde die Amtsidee in den Vordergrund gerückt. Auch brach sich immer deutlicher die staatsrechtliche Auffassung Bahn, der König stehe mit den Kurfürsten in einem Vertragsver­ hältnis. Aus dieser Bertragsidee ervären sich die sxg. Wahl­ kapitulationen, die vor der Königswahl mit dem künftigen Herrscher abgeschlossen wurden, und die sog. Willebriefe, welche die Kur-

fürsten in Reichssachen ausstellten (j. B. 1282), sowie aüch die bekannte Zusicherung im Kapitel 13 der goldenen Bulle (1356), wonach der König alle den kurfürstlichen Freiheiten und Rechten widersprechenden Verfügungen der römischen Könige aufhob und versprechen mußte, keine neuen zu erlassen, die den Privilegien zuwider wären. In der Tat stellten die Kurfürsten in dieser Periode das Schwergewicht des Reiches dar. Sie waren weit mehr als bloße- Kürer, als bloße Wähler. Sie trugen die Haupt­ last und'die Hauptverantwortung, überwachten den König und setzten ihn ab, wenn er aus einem Mehrer ein Verderber des Reiches wurde. Sie wehrten sich gegen die maßlosen Ansprüche der römischen Kurie. Sie identifizierten des Reiches Ehre und Recht mit ihren Ehren und Rechten (Reuse 1338) und konnten daher mit voller Überzeugung in der goldenen Bulle genannt werden „die starken Grundsesten des Reichs und dessen unbewegliche Säulen". Sie sorgten sür den Frieden im Reiche, als Raub, Brand und Fehde mehr und mehr wiedereinzureißen begannen (1438). 3. Nichts ist natürlicher, als daß die großen Herren, diese wahren Erhalter des Reiches, eine besondere Rechts- und Machtstellung jener. Gebiete nach sich zogen, deren Landesherren sie waren. Ihre Territorien, die Kurfürstentümer, bilden die ersten Staaten oder staatsähnlichen Gebilde innerhalb des Reiches. Das grundlegende Reichsgesetz, die goldene Bulle Karls IV., erlassen auf dem Nürnberger Reichstage am 10. Januar 1356, mit einem Nachtragsgesetz vom 25. Dezember des gleichen Jahres zu Metz, beschäftigt "sich fest ausschließlich mit den Kur­ fürsten und ihren Territorien. Die Kurfürstentümer wurden zu reichslehnbaren, unteilbaren Ländern erklärt und die Kurwürde, im Mannesstamme vererblich nach Primogeniturordnung, untrenn­ bar mit ihnen verbunden. Die staatliche Selbständigkeit wurde rechllich und wirtschaftlich feftgelegt. Rechtlich äußerte sie sich vor allem in der Anerkennung der kurfürstlichen Gerichtshoheit, sodaß kein Untertan vor ein königliches oder ein anderes,auswärtiges Gericht geladen werden durfte oder dorthin appellieren konnte (privilegium de non evocando et de non appellardo, letzteres kam praktisch nur in Böhmen zur Durchführung). Wirtschs fllich wurden den Kurfürsten die wichtigsten, nutzbringenden Hoheits­ rechte als Regal überlassen, der Judenschutz, das Berg-, Zollund Münzregal, so daß fortan jeder Kurfürst in seinem Lende Gold- und Silbermünzen schlagen und als gesetzliches ZahlungSmittel anerkennen konnte. Im Metzer Gesetz wurde staatsrechtlich Kehr. Deutsche Rechttgeschtchlc. 9

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Kurfürstentümer.

der Höhepunkt erreicht. Ter Verbrecher an der Person eines Kurfürsten galt als Majestätsverbrecher, „nam et ipsi (die Kur­ fürsten) pars corporis nostri (des Kaisers) sunt“. Die Kurfürsten waren Majestäten geworden. Die Politik des Reiches war in dieser Beziehung durchaus richtig; denn die Kurfürsten mit ihren Gebieten stellten nicht nur zentrifugale Kräfte dar, wie die übrigen Landesherren. Neben dem Willen zur Verselbständigung betätigten sie den Willen zur Befestigung des Reiches, waren dem­ nach auch zentripetaler Natur. Je mehr ihre Gebiete auf feste staatliche Grundlagen gestellt wurden, um so mehr stärkte der König zugleich die „Säulen des Reiches". Es bestanden die Kurfürstentümer Mainz, Köln, Trier (geist liche), das Königreich Böhmen, die Pfalzgrafschaft bei Rhein, das Herzogtum Sachsen und die Markgrafschaft Brandenburg (weltliche), deren Inhaber der Theorie nach fremde, nämlich Reichslehnsgewalt verwalteten, der Praxis nach aber eigene Gewalt im eigenen Namen ausübten. Das Reich trieb daher langsam einem zusammengesetzten Staate, einem Gesamtstaate zu (im Gegensatz zum Einheitsstaate). § 29.

Das Reich und die Kirche. 1. Der Aufstieg des Papsttums. Gregor VII. hatte vergeblich versucht, die Kirche in ihre ureigenen Bahnen, in das spirituelle Gebiet zurückzuführen. Die in ihr aufgeweckten Strebungen nach weltlicher Herrschaft konnten nicht wieder unterdrückt werden. Sie rang, wie der Staat, nach einer eigenen Verfassung und schaltete, um ihre hierarchischen Ansprüche möglichst ungestört durchzusetzen, das Volk aus jeder aktiven Mitgliedschaft aus. Seit 1170 galt der Satz: Ecclesia nihil dicitur nisi clerici. Die Kirche war zu einer Anstalt des katholischen Klerus geworden. Die Spitzen des Klerus, die Bischöfe und die Abte, fügten sich im Laufe des 12. Jahrhunderts in den Lehnsverband ein und bewegten sich fortan in dem zwie­ fachen Gleise von weltlichen Vassallen und geistlichen Würden­ trägern. Das Reich hatte damit endgültig eine Doppelnatur erhalten: es war zu einem weltlich und geistlich gemischten Lehn­ reich geworden. In dieser Struktur lag der Konfliktsgedanke bereits begraben; denn es stellte ein Reich mit zwei Herrschern dar, dem Kaiser und dem Papste. Die mittelalterliche Doktrin war sich dieses Gegensatzes voll bewußt, ging aber trotzdem auf der

Kaiser und Papst.

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Bahn weiter, die schon die fränkische Zeit eingeschlagen hatte, die Christenheit als eine Einheit zu erfassen. Diese geeinigte Christenheit, in der Kreuzzugszeit noch stärker lebendig geworden, bildete die rechtliche und politische Richtschnur, nach welcher Kaiser und Papst zu laufen hatten. „Die Christenheit zu beschirmen", wie der Sachsenspiegel sagte, das Wohl der Christenheit zu fördern, war die hehre Aufgabe, die der Kaiser mit dem weltlichen Schwert (gladius materialis) und die Kirche mit dem geistlichen Schwert (gladius spiritualis) durchführen sollten. Von diesem obersten Grundgedanken aus ist das. ganze Verhältnis von Staat und Kirche in dieser Epoche zu bewerten. Aber wie zu allen Zeiten das Recht letzten Endes von der Macht abhängt (wodurch beileibe nicht gesagt werden soll, daß Recht nur Macht sei!), so überragte auch hier der mächtigere Papst allmählich den schwächeren Kaiser. Denn die päpstliche Macht war im 12. Jahrhundert durch drei Vorgänge wesentlich gehoben worden: Einmal durch die Niederlage Fried­ richs I. bei Legnano (1176), wodurch die Autorität des Kaisertums gegenüber dem Papsttum wesentlich erschüttert wurde. Mußte doch der Kaiser nichts geringeres erklären, als daß er sich 25 Jahre lang im Irrtum befunden habe! Zweitens durch die doppelte Königswahl Ottos von Braunschweig und Philipps von Schwaben (1198), die dem Papst die tatsächliche Einmischung in die deutsche Wahl ermöglichte, so daß er sich bei Doppelwahlen das Recht der Entscheidung Vorbehalten konnte. Drittens durch eine tiefe wissenschaftliche Zusammenfassung und Fundierung des gesamten kanonischen Rechts, begonnen mit dem Dekret des gelehrten Mönches Gratian (um 1140), die dem Papste wuchtige geistige Waffen an die Hand gab. Mit dem Interregnum war endgültig der Aufstieg des Papst tums vollendet, erblickte man doch während der deutschen Königs­ wirren im Papsttum die allein wirksame, zentrale, Frieden und Ordnung gewährende Macht. Es ist höchst interessant zu sehen, wie die Doktrin sich zu dieser Verschiebung stellte. Denn sie konnte und wollte vom Grundsatz doch nicht abgehen, daß Kaiser und Papst zusammen Lenker der einheitlichen Christenheit seien. Da er­ klärte sie, unter Verwendung alter augusteischer Ideen: Gott verleiht die beiden Schwerter nicht direkt an die beiden Hüter der Christenheit (alte Auffassung), sondern reicht beide dem Papste, und der Papst gibt von sich aus das weltliche Schwert dem Kaiser (neue Auffassung, die vor allem im Schwabenspiegel, um 1275, verwertet ist). Damit war theoretisch die Unterordnung des Kaisers 9*

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Niedergang des Papsttums.

begründet, ohne den christlichen Einheitsgedanken erschüttert zu sehen. Die Kurie, technisch gut geschult und gewohnt, die Machtverhältmsse geschickt in rechtliches Gewand zu kleiden, erklärte schließlich: der Kaiser sei ein vom Papst einsetzbarer und absetz­ barer Herrscher, der sein weltliches Schwert „ad nutum ecclesiae“ zu führen habe. Bei Ungehorsam gegen päpstliche Befehle könne der Kaiser entlassen und dürften die Untertanen von ihrem Treu­ eide entbunden werden. So hieß es in der Bulle Unam sanctam (1302) Bonifaz VIII., jenes Klrchenfürsten, welcher die päpst­ lichen Hoheitsansprüche „zwar nicht am besten geltend gemacht, aber am stärksten formuliert hat". 2. Der Niedergang des Papsttums. Im nämlichen Jahre 1302, m dem dieses unerhörte päpst­ liche Dekret der Welt zugemutet wurde, versammelte der franzö­ sische König seine Stände und warf sich mit ihnen der römischen Kurie entgegen. Er ließ einen neuen Papst wählen und setzte ihn in sein eigenes Land, nach Avignon. Es begann für die Kurie jene schmachvolle Zeit, welche die Geschichte als die babylonische Gefangenschaft bezeichnet, die Zeit, in der der Papst in völlige Abhängigkeit von Frankreich geriet. Und nun wurde dem Papst­ tum der größte Schlag versetzt: man wählte einen Gegenpapst. Einer der Zentralgedanken der gesamten Hierarchie war vernichtet, die Einheit des Papsttums. Fast vier Dezennien dauerte der schismaüsche Zustand (1378 bis 1417), der notwendiger­ weise den Glauben an die Autorität der Kirche und ihres Ober­ hauptes schwer schädigte. In Deutschland war Ludwig der Bayer das letzte Opfer der überspannten hierarchischen Gewalt geworden. Der Papst hatte ihn gebannt und verlangte seine Abdankung. Ludwig wollte auch zurücktreten, hielt sich aber auf dem Throne, und die Sprache in seiner Sachsenhäuser Appellation von 1324 ist bereits eine so energische, daß man eine neue Zeit kommen sieht. Die Schrift war gerichtet gegen Johann XXII., „als einen Feind des Friedens und einen Erreger von Streit und Empörung, nicht allein, wie bekannt, in Italien, sondern auch in Alamannien". 1338 schlossen die Kur­ fürsten ein Bündnis zu Reuse, in dem ein Weistum zustande kam des Inhalts: der von ihnen, wenn auch nur von der Mehrheit, gewählte römische König bedürfe keiner Bestätigung durch den apostolischen Stuhl. Das Gesetz Licet iuris von 1338 setzte sich mit der Zweischwerterlehre auseinander und erklärte reichsrechtlich, die kaiserliche Gewalt stamme unmittelbar von Gott, es sei eine

Die Orden.

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Lüge, daß sie vom Papst ausgehe. Daher die Folge: statim ex sola electione est verus rex et Imperator Romanorum. Ließ sich zwar die kaiserliche Gewalt vom Papste nicht völlig trennen, wie wir bereits sahen, so war doch der erlösende Zustand eingetreten: das deutsche Königtum wurde wieder auf völlig eigene, vom Papste unabhängige Grundlagen gestellt. Die Kurie war auf ein enges Einflußgebiet zurückgewiesen. Die Kaiserkcönung wurde mehr und mehr zur bloßen Zeremonie. Noch durch einen anderen Gegner wurde die Autorität des Papsttums erschüttert, durch das Konzil. Mit Hilfe des Staates versuchte die Kirche das Schisma zu beseitigen. Kaiser Sigismund berief zusammen mit Johann XXIII. ein Konzil nach Konstanz, wo das Schisma bekanntlich sein Ende fand mit der Einsetzung Martins V. Aber die Streitigkeiten dauerten fort und sollten in einem neuen Konzil zu Basel (1431 bis 1443) ge­ schlichtet werden. Das Ergebnis fiel jedoch verhängnisvoll aus. Das Konzil stellte sich dogmatisch über den Papst: Concilium superat papam. Zugleich engte es das Papsttum gegenüber dem Staate wesentlich ein. Diese konziliare Bewegung konnte aber nur von kurzer Dauer sein; denn sie widersprach dem Wesen der bereits festgefügten katholischen Idee. Durch das Wiener Konkordat von 1448, das unter starkem Einfluß des Kaisers, Friedrich III., stand, trat der alte Zustand wieder ein: papa superat Concilium. 3. Die Orden. Noch ist kurz zweier Erscheinungen zu gedenken, welche eine wesentliche Stärkung der Kirche in sich bargen, der Orden und der geistlichen Gerichtsbarkeit. Der Benediktinerorden hatte seine Hauptmission erfüllt. Er hatte Deutschland dem Christentum gewonnen und unend­ liche Strecken Landes kolonisiert. Bildung, Macht und Reichtum blieben ihm als Lohn. Aber er war, wie die Kirche selbst, verwelt­ licht und — was fast Schlimmeres bedeutete — er war der großen Masse des Volkes entfremdet. Seine Mitglieder lebten in vor­ nehmer Abgeschlossenheit und egoistischer Kontemplation inmitten ihrer stark und köstlich gebauten Klöster. Zu vielen Stiftern hatte nur noch der Adel Zugang. Der Abt besorgte weltliche Geschäfte und verlegte bisweilen sogar seinen Wohnsitz außerhalb der heiligen Stätte. Draußen harrte das Volk. Es dürstete nach Seelsorge, nach geistiger und weltlicher Pflege. Zwei Männer begriffen dieses Elend. Sie sprengten die Pforten der Zelle und traten ins freie Land. Die Bettelorden der Franziskaner (1226) und der

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Geistliche Gerichtsbarkeit.

Dominikaner (1221) taten sich auf und begannen etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine umfassende seelsorgerische Tätig­ keit. Sie stellten sich mit dem Gelübde der Vermögenslosigkeit sofort in scharfen Gegensatz zu den bestehenden reichen Klöstern und üppig lebenden geistlichen Fürsten. Sie gewannen dadurch mit einem Schlage ungeahnten Einfluß auf das Volk. Zweifellos ist durch die Bettelorden der spirituelle Kern der Kirche wieder gehoben und eine engere Verbindung von Volk und Kirche geschaffen worden. Ihrem heiligen, geistlichen Eifer und Übereifer ist leider auch die Anteilnahme an den Ketzer­ verfolgungen zu verdanken, die seit dem 12. Jahrhundert gewaltig um sich griffen und zu furchtbaren Ausschreitungen führten. Aber auf juristischem Gebiete zeitigten sie eine ganz besondere Frucht: ein neues, technisch trefflich gestaltetes Prozeßverfahren. Es klingt fast tragisch, daß ein Teil der juristischen Grundlagen des deutschen Rechtsganges der Verfolgungssucht gegen andersgläubige Christen zuzuschreiben ist. Mit dem Reiche hatten die Orden insofern keine Berühruug, als sie sich ohne staatliche Einmischung mit päpstlicher Genehmigung bilden konnten. Sie schlossen sich zu Verbänden zusammen, deren Generalobere der Papst ernannte. Politisch griffen sie lebhaft ein, neben den Benediktinern vor allem die Zisterzienser. 4. Die geistliche Gerichtsbarkeit. Die katholische Kirche besaß auch auf dem Gebiete der Gerichts­ barkeit den Willen zur Ausdehnung. Sie fing im 13. Jahrhundert an, eine Reihe von weltlichen Vergehen ihrem Bereiche zuzu­ sprechen, z. B. den Meineid, die Fälschungen, den Wucher. Ja, eine verbreitete Meinung erklärte, die Kirche habe zu richten über alle Delikte, welche eine Sünde enthielten. Auch im Kreise des Zivilrechts wurden Ansprüche erhoben. Alle Ehe- und Testaments­ sachen riß sie an sich und griff damit tief in das sittliche und wirt­ schaftliche Leben der Menschen ein; wie denn das deutsche Testa­ mentsrecht im allgemeinen auf das kirchliche Testament zurück­ geht. Die Sachen der Armen, Witwen und Waisen erklärte sie ihrer Gerichtsbarkeit unterworfen; denn diese personae miserabiles standen unter ihrem besonderen Schutze. Und da der Eid die An­ rufung Gottes enthielt, nahm sie auch alle Verträge an sich, die durch Eid bekräftigt waren. Also eine gewaltige Erweiterung, sowohl in krimineller als in ziviler Hinsicht. Frägt man, wie es möglich wurde, daß die Kirche den Staat auf diesem Gebiet stark zurückdrängte, so lautet die Antwort: 1. Weil sich ein aus-

Hoftag und Reichstag.

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gezeichneter kanonischer Prozeß auszubilden begann, getragen von den Ideen des genialen Papstes Jnnocens III., ein Rechtsgang mit schriftlichem Verfahren, ein feingestalteter Juristen­ prozeß, im Gegensatz zum deutschen Volksprozeß. 2. Weil der geistliche Richter nicht nur Urteile fällte, sondern bemüht war, sie auch zu vollstrecken, während hunderte von weltlichen Urteilen unvollstreckt blieben. Die Kirche bewies ihre überlegene Disziplin und machte sich ihren tiefen Einfluß auf das Gemütsleben zunutze. Ewiger Streit mit dem Staat war die Folge, besonders auch mit den Städten. Aber erst gegen Ende des Mittelalters gelang es der weltlichen Gewalt, die Kirche aus dieser überragenden Stellung zu vertreiben. Nicht nur mit dem Staat, auch innerhalb der Kirche selbst tauchten Reibereien im Bereiche der Gerichtsbarkeit auf. Der inter­ essanteste Kampf wurde geführt von den Archidiakonen gegen die Bischöfe, besonders in Würzburg. Die Archidiakone, eigentlich Gehilfen des Bischofs, rissen als Inhaber der Sendgerichtsbarkeit immer mehr Rechte an sich und stiegen zu gefährlichen Nebenbuhlern der Kirchenleiter auf. Die Kirchenfürsten gingen daher im 13. Jahr­ hundert gegen sie vor und wiesen sie nach langem Ringen auf ein enges Gebiet zurück.

Der Reichstag. Es ist ein alter Zug im deutschen Königtum, daß es Rat pflegen will mit den Großen des Reiches. Der deutsche König versammelte seine Reichsvassallen um sich, so oft er es für gut fand und zog hinzu, wen er für würdig hielt. Diese Versammlungen hießen die Hoftage. Sie waren, dem Zeremoniell des Mittelalters ent­ sprechend, auch bestimmt, Prunk und Glanz, Ansehen und Pomp des Königshauses auf alle Welt auszustrahlen. Das Reichslehnrecht reihte daher unter die Lehnspflichten auch die Hoffahrtspflicht für die Belehnten ein. Aus diesen Hoftagen sind die Reichstage entstanden. Aus Einrichtungen des königlichen Hofes sind Reichseinrichtungen geworden. Der entscheidende Schritt für diese Umwandlung lag in der Verschiebung von Recht und Pflicht der Einberufenen. Im Laufe des 12. Jahrhunderts bildete sich nämlich die Rechts­ lage aus, wonach der König die Verpflichtung hatte, bei wichtigen Reichsangelegenheiten seine Großen zu hören. Aus diesem Recht auf Beratung zweigte sich dann das Recht auf Mitbestimmung ab.

§ 30.

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Reichsstandschaft.

Beides hing zusammen mit finanziellen Lasten, die ddr König seinen Großen auferlegte, aber auch mit Diensten, namentlich mit der Heerfahrt nach Rom. Und dabei spielte der urmenschliche Gedanke keine kleine Rolle, daß der Belastete einer Aufgabe bereit­ williger nachkommt, wenn er der Verpflichtung selbst zugcstimmt hat. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts ist der König ver­ fassungsmäßig an die Zustimmung der Großen für be­ stimmte Reichsangelegenheiten gebunden. Wer waren diese Großen? Zunächst sind wir nicht imstande, eine feste Ordnung wahrzunehmen. Dies ist leicht verständlich, wenn wir an die dargestellten Verschiebungen im Reichsfürsten­ stand denken, und mehr noch, wenn wir uns des Satzes erinnern: die -Stimmen werden nicht gezählt, sondern gewogen. Je nach der Politischen Geltung hatte der König die Reichstagsmitglieder versammelt und angehört. Aber wie es so geht: alle tatsächlichen Verhältnisse drängen nach rechtlicher Organisation, wenn der Aufgabenkreis wächst. So auch hier. Um die Mitte des 13. Jahr­ hunderts steht fest, daß die 93 geistlichen und die 13 weltlichen Lehnsfürsten Reichsstandschaft besaßen (im 14. Jahrhundert ver­ mehrten sich letztere auf 44). Aber alles andere war im Flusse, und wieweit die kleineren Herren, die comites und barones, bereits Sitz und Stimme besaßen, bleibt zweifelhaft. Ein neues, bedeutsames Element trat in den Reichs­ tag ein mit den Städten. Die großen Geldgeber und Träger des Handels konnten auf die Dauer nicht zurückgehalten werden; wie andererseits König und Fürsten ein hohes Interesse besaßen, deren machtvolle Stimmen und Entscheidungen zu hören. Wenn man Reichstagseinladungen aus dem 14. Jahrhundert verfolgt, hat man zuweilen den Eindruck, der König wünschte die Gegen­ wart der Städte mehr, als daß sich die Städte zum Reichstag vordrängten. Die großen Reichs- und Bischofsstädte erlangten in dieser Zeit die Reichsstandschaft, wenn auch zunächst mit geringeren Befugnissen, als die übrigen Glieder. Da die Städte eine aus dem Bürgertum ruhende Verfassung hatten, kam durch sie ein demokratisches Element in den Reichstag hinein. So traten langsam die drei Gruppen hervor: die Bank der Kurfürsten, die der Fürsten (zusammen mit den Grafen und freien Herren) und die der Städte. Führend blieben die Kurfürsten. Vieles in Zulassung, Beratung und Organisation stack aber im Ungewissen. Unendliche Reibereien und Streitigkeiten waren die Folge.. Eine feste Regelung ist erst im 17. Jahrhundert erreicht worden.

König und Landesherr.

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Der Ausbau der Landeshoheit.

1. König und Landesherr. Als nach der kaiserlosen Zeit der neugewählte Herrscher das deutsche Reich fest in seine Hand nahm, da war eine der wichtigsten Fragen: wie sollte er sich zur Gewalt der Landesherren stellen? Sie zu verdrängen schien unmöglich und lag nicht in der Politik der Habsburger. Ebenso unmöglich erschien es, sie völlig ihre eigene Bahn gehen zu lassen; denn dies hätte zur Auflösung des Reiches führen müssen. So schlugen die Könige seit Rudolf von Habsburg einen Mittelweg ein. Sie verfolgten das Ziel, dem König zu belassen, was des Königs, und dem Landesherrn, was des Landesherrn war. Denn daß während des Interregnums die Landeshoheit große Fortschritte in dem Erwerb neuer und in der Bef stigung alter Rechte gemacht hatte, das sah der König wohl. Auf vier Wegen ging man vor. a) Der König versuchte, vom verschleuderten und in Verwirrung geratenen Reichsgut zu retten, was er vermochte. Die Haupt­ maßnahme zu diesem Zwecke sah er in der Errichtung von Landvogteien, im Süden und Südwesten Deutsch­ lands, namentlich auch in den Waldstätten. Ein Landvogt sollte als Reichsbeamter auf diesen wiedergewonnenen Reichsgütern walten. Doch der Erfolg dieser gut geplanten Reorganisation war gering. Im 15. Jahrhundert lösten sich die Vogteien auf. b) Die Aufgaben des Reichs waren wesentlich erschwert durch dessen Armut. Ohne Reichsfinanzen aber blieb eine wirksame Politik den Landesherren gegenüber unmöglich. Daher griff der König zur Besteuerung. Die Reichsstädte wurden zu Steuern herangezogen, und das Reichskirchengut hatte in Not­ fällen eine außerordentliche Beihilfe zu leisten. Unter Sigismund wurden sogar allgemeine Reichssteuern erhoben. Auch hier wenig Erfolg. Die Steuern gingen nicht ein, oder man griff zur Steuer­ schraube, wenn es zu spät war. Nur wenn Gefahr drohte, waren die Leute finanziell zu haben, z. B. als die Hussiten an den Grenzen standen. So wurde der König immer mehr auf sein Hausgut angewiesen. Es ist bekannt, wie schon Rudolf auf Erweiterung seiner Hausmacht bedacht war, und wie er im Aar- und Zürichgau (in denen Schwyz und Unterwalden lagen) vorging, während er z. B. das freie Reichsgebiet von Uri unangetastet ließ. Die Bestätigung der Urner Reichsfreiheit von 1274 beweist, welch wohlüberlegte Hauspolitik der kluge König trieb.

§ 31.

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Bannleihe.

c) In Erkenntnis der hohen Bedeutung der Blutgerichts­ barkeit versuchte der König an der Bannleihe festzuhalten. Die Leihe des Gerichts enthielt ja noch nicht die Gewalt, über das Blut der Menschen wirklich zu richten, Urteile zu fällen und zu vollstrecken. Im Schwabenspiegel begegnen wir der Auffassung, daß nur die Kirchenvögte des Blutbannes bedürften. Seit Boni­ faz VIII. war die Verleihung des Blutbannes an die geistlichen Fürsten selbst möglich geworden. Doch zeigen Beispiele, daß der König auch den weltlichen Landesherren gegen­ über auf der Verleihung des Bannes bestand. Er gab z. B. 1334 dem Grafen von Freiburg „vollen gewalt zu richtende als ein lantgraf durch recht billichen richten sol". Schließlich unterlag der König aber doch. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts kam-der Bann außer Übung. Die landesherrlichen Richter richteten fortan im Namen des Landesherrn, statt im Namen des Königs. d) Der König mischte sich in das Innere der landesherr­ lichen Gebiete selbst ein und versuchte die Willkür der Herren zu beschränken. Dabei faßte er sie am empfindlichsten Punkte, an den Finanzen. Der Landesherr brauchte reichliche Mittel, um einen Staat und darin eine Verwaltung einzurichten. Des­ halb griff er vor allem zur Ausbeutung von Regalien, jener Nutzungs-' rechte, die ihrer Natur nach dem Reiche zustanden, namentlich der Zoll- und Münzrechte. Und gerade diese entriß ihm der König immer wieder. So wurden z. B. 1287 und 1301 sämtliche Zölle aufgehoben, die seit Friedrich II. errichtet worden waren. Und noch in anderer Weise wurde der Willkür gesteuert. Der König begann die Untertanen zu schützen gegen den eigenen Landesherrn. Er gebot den Fürsten, die beraubten Reisenden zu entschädigen, wenn diese gegen Entgelt sicheres Geleite durchs Land erkauft hatten (1283). Oder er verbot, eine Burg zu errichten, wenn nicht die Zustimmung des Eigentümers von Grund und Boden eingeholt worden war. Andererseits versäumte der König nicht, wohlerworbene Rechte der Landesherren zu stärken, wie etwa das Recht auf eine freigewordene Klostervogtei (1279). Aus alldem ergibt sich die Zielrichtung: der König — meist in Verbindung mit dem Reichstag oder einzelnen Dynasten -suchte in den landesherrlichen Gebieten aus dem Willkür­ zustand einen Rechtszustand zu erzeugen. Der König arbeitete an der rechtlichen Ausgestaltung der Territorien lebhaft mit. Der König nahm an der Schaffung einer Landesstaatsgewalt regen Anteil. Die Territorialgewalt in den deutschen Staaten

Grundbesitz des Landesherrn.

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ist nicht allein auf das, Landesfürstentum, sondern auch auf die Mitwirkung der königlichen Gewalt zurückzuführen. 2. Landesherr und Territorium. Die drei Grundlagen der Landeshoheit, die uns bei ihrer Entstehung entgegentraten, fallen auch in der Kurfürstenzeit schwer ins Gewicht: der Grundbesitz mit den Regalien, die Hoch­ gerichtsbarkeit, und die Krieger (Dienstmannen). Sie bildeten sich weiter fort und riefen neue Kräfte herbei. a) Der Grundbesitz. Ihn zu erweitern und zu konzentrieren, war eine Hauptaufgabe. Ohne einträgliche Hausmacht konnte kein Territorium Bestand haben. An den landesherrlichen Grund­ besitz schlossen sich vornehmlich die Burgen an, Kastelle, welche nicht nur der Verteidigung des Landes, sondern auch dessen Ver­ waltung dienten. Vielfach wurden die Burgbezirke zu Verwaltungs­ bezirken. Aus dem Grundbesitz erwuchs häufig die Obermärker­ schaft des Landesherrn. Wo er in einer Mark begütert war, da schwang er sich oft über die anderen Märker empor und nahm (über der Genossenschaft) eine herrschaftliche, befehlende Stellung ein. Auch Marktgründungen und Zollerhebungen standen teil­ weise mit dem Grundbesitz in enger Berührung. Tendenz war: die reichen Erzeugnisse der Domänen sollten leicht umgesetzt und ohne Konkurrenz fremder Produkte verkauft werden. Steckte nach diesen und anderen Richtungen ein Element im Besitze, welches den Landesherrn bei der Territorialbildung förderte, so zeitigte der Grundbesitz nach anderer Richtung eine schwere Schädigung für das werdende Staatswesen. Der Grundbesitz ließ nämlich den Teilungsgedanken nicht ersterben. Wiewohl die Reichs­ gewalt der Teilung der Gerichtsgebiete von jeher entgegen arbeitete, schritten die Landesherren stets wieder zu neuen Teilungen, im Wege des Verkaufs und der Verpfändung oder des Erbganges, Gleich einem Grundstück wurde das Territorium veräußert. Rein persönliche, etwa familiäre Gesichtspunkte, gaben den Ausschlag. 1318 wurde z. B. der Breisgau geteilt und ein Teil an Österreich verpfändet, weil der Breisgaugraf eine Aussteuer für seine Schwester brauchte! Mit einem Worte: den Impuls für die privatrechtliche Behandlung des Territoriums gab der Grundbesitz. So war es denn ein ungeheurer Fortschritt auf dem Wege des Staatsgedankens, als die goldene Bulle die kurfürstlichen Gebiete für unteilbar erklärte (oben § 28). Man kann geradezu die landesherrliche Ge­ schichte in die Periode vor und nach 1356 einteilen. Denn manche Territorialherren ahmten das Vorbild nach und erllärten

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Gerichtshoheit des Landesherrn.

im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts die Unteilbarkeit. Oder es entstanden Verbote, ohne Zustimmung der Landstände das Territorium zu teilen. Je mehr die Grundbesitzidee schwand, um so mehr trat die Staatsidee hervor. Das interessanteste Beispiel für das Ringen zwischen dem Einheits- und dem Teilungs­ prinzip bietet die Dispositio Achillea von 1473 des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg. (Einheit in der Kurmark, Teilung in den fränkischen Gebieten.) b) Die Hochgerichtsbarkeit. Sie trug, im Gegensatz zum Grundbes.tz, stets das öffentlichrechUiche Moment in sich, wie schon früher ausgeführt. Sie war der eigentliche staatsbildende Faktor auch in dieser Periode. Mit dem Wegfall der Bannleihe und mit der Erteilung von Evokationsrechten wandelte sich die Gerichtsgewalt der Landesherren in Gerichtshoheit um. Und diese Verschiebung hatte drei große Wirkungen. Einmal: die Gerichtsorganisation wurde — bis auf geringe reichs­ rechtliche Vorschriften — Landessache. Die alten Gerichts­ stätten wurden beliebig verschoben, neue Gerichte eingesetzt, neue Gerichtstage besümmt. Zweitens: Das Exemtionsrecht wurde landesrechtlich. Der Dominus terrae vermochte fortan aus seinem Gerichtsgebiete nach eigenem Gutdünken Gerichts­ bezirke auszuschalten. Er konnte Immunitäten neuen Stils er­ teilen. Er gebot also gerichtsherrlich über das Territorium wie früher der König. Drittens: Die Gerichtshoheit führte zur Steuerhoheit. In seinen finanziellen Nöten, besonders dann, wenn er gefangen wurde, wenn sein Sohn den Ritterschlag empfing oder wenn er seine Tochter ausstatten mußte, verlangte er von seinen Untertanen eine Steuer, Bede genannt. Diese Bede, anfangs eine Bittsteuer, war schon im 13. Jahrhundert zu einer Zwangs steuer geworden, zu einer Vermögenssteuer, die aber nur Grund­ besitz und Gebäude erfaßte. Sie ist äußerst wichtig für die Er­ kenntnis der landesherrlichen Willkür. Als der Landesherr begann immer eigenmächtiger vorzugehen, griffen die Landstände ein, und erzwangen sich ein Steuerbewilligungsrecht. Seit dieser Zeit gewann die Bede den Charakter einer öffentlichen Steuer. Ritter­ schaft und Kirche blieben häufig bedefrei. Der Fürst scheute sich auch nicht, um finanzieller Vorteile willen einzelne Teile seiner Gerichtsbezirke zu verkaufen oder zu verpfänden. Sogar die Gerichtsgewalt selbst diente ihm als Einnahmequelle. — Am besten ging es jenen Landesherren, deren Territorium blühende Städte aufwies. Mit großem technischem Geschick bauten

Krieger des Landesherrn.

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sie dort direkte und indirekte Steuern aus und schufen Einrichtungen, die große Einkünfte brachten, wenn sie auch zuweilen für den Verkehr äußerst hinderlich waren, so z. B. das Stapelrecht, wonach durchreisende Waren in der Stadt festgehalten wurden, um sie der Bürgerschaft einige Tage zum Verkauf anzubieten. — Mit den aus der Gerichtsgewalt erwachsenen Steuern vermengten sich nun aber vielfach Abgaben, die aus ganz anderem Rechts­ titel gefordert wurden, z. B. aus der Heergewalt, aus der Kirchen­ vogtei oder aus der Grundherrschaft. In manchen Gebieten entstand ein vollkommenes Steuerchaos, das sich auch in der Verwendung der Steuern zeigte. Aus der Buntheit der Erscheinungen läßt sich nur soviel feststellen: den Rechts titel für di em eist en Grund­ steuern bildete die Gerich tsgew alt und die aus ihr fließende Schutzherrschaft des Landesherrn. Es war ein großer Schritt vorwärts getan, als man anfing, ein System in die Steuerverwen­ dung zu bringen. Der tüchtige Kanzler des Kurfürsten Albrecht Achilles, (Ludwig von Eyb), hat die Anfänge eines Budgetrechtes entwickelt. Er bestimmte, daß ein Drittel der Einnahmen für die laufenden Ausgaben, ein Drittel zur Tilgung der Schulden und ein Drittel für Zeiten außerordentlicher Bedürfnisse und Not verwendet werden müßten. c) Die Krieger. Noch immer spielten die Dienstmannen eine große Rolle. Sie mußten auf jeden Befehl des Landesherrn ausziehen und gehörten zum Lande, mochten sie nun unmittelbar dem Landesherrn oder anderen Großen des Territoriums unter­ stell^ sein (z. B. in Bayern, Urkunde von 1329). Es war eine Fälschung, als die steierischen Ministerialen erklärten, beim Aussterben des landesherrlichen Hauses sollten sie sich einen neuen Herrn wählen dürfen (1186). Aber wir sahen, im 14. Jahrhundert verschmolzen die Dienstleute mehr und mehr mit den Lehnsleuten, so daß sich für beide der übergeordnete Begriff der Ritterschaft bildete. Diese Ritterschaft wies gegenüber ihrem Herrn oft gewaltige Wider­ spenstigkeit auf. Sie drückte sich vom Dienst oder sie verlangte Ent­ schädigungen, wenn der Kriegszug länger dauerte, als ihr genehm war. Daher griff der Landesherr häufig zu Söldnern, oder er machte seine Bauern mobil, was in der Heerverfassung näher be­ leuchtet wird. Hier sei nur gesagt: die Verteidigung des landes­ herrlichen Territoriums beruhte in der Kurfürstenzeit auf der Ritterschaft, den Söldnern und den Bauern. Die Bürger der Städte nahmen grundsätzlich die Waffe nur zur Hand, wenn es sich um die Verteidigung ihrer eigenen Mauern handelte.

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Territorialgewalt.

3. Landesherr und Staatsgewalt. Der Ausdruck: dominus terrae, der seit dem 13. Jahrhundert gebräuchlich wurde, ist kennzeichnend für die Rechtslage. Das Land wurde zum Herrschaftsgebiet, auf das sich die öffentliche Gewalt niederschlug. In dieser Territorialisierung lag ein gewaltiger staatsbildender Faktor. Diese öffentliche Gewalt gipfelte in der Hochgerichtsbarkeit. Die terra des Landesherrn war nicht das Gebiet, das sich mit seiner Grundherrschaft oder mit seinem Lehnsbesitz deckte. An beides lehnte sich das „Land" an (§ 23,2). Aber die Regel war, daß diese Grenzen nicht zusammenfielen, daß das „Land" vielmehr soweit reichte, wie der Bereich der Hoch­ gerichtsbarkeit. Und nun ist für die juristisch bedeutsame Frage nach der Ausbildung der Staatsgewalt folgendes zu sagen: Die landesherrlichen Gebiete sind zu scheiden in solche, die überhaupt staatliche Aufgaben zu erfüllen hatten oder nicht. Hier war grundsätzlich die Größe maßgebend. Ein kleines, aus einer Anzahl von Dorfgerichten zusammengesetztes Territorium, wie etwa das der Markgrafen von Hachberg, kann nicht Staat genannt werden. Gewiß, der Markgraf war Landesherr. Aber die Interessen des Landes fielen vollkommen zusammen mit den egoistischen Wünschen und Bedürfnissen der landesherrlichen Familie. Von einem Gemeinnützen, der über den Dynastie­ nutzen hinausgegangen wäre, von einem Untertanenverband, der um seiner selbst willen erhalten und gefördert worden wäre, ist keine Rede. Von einer Herrschergewalt im Sinne einer Staats­ gewalt kann nicht gesprochen werden. Wie anders lagen die Dinge in einem großen weltlichen Kur­ fürstentum, wie anders etwa im Herzogtum Österreich. Die Größe des Territoriums und die Masse der Untertanen wirkten hier zweifellos staatsbildend ein. Hier konnten Staatsaufgaben er­ wachsen. Hier waren feste, weite Organisationen notwendig, welche zur Erhaltung und Förderung des Ganzen dienten, Einrichtungen, die durchaus nicht immer mit den Interessen des Landesherrn und seiner Familie zusammengingen. Man denke nur an die Landstände. Hier wurden für den Herrscher neben Rechten schwere obrigkeitliche Pflichten begründet. Hier waren Körper geboren, die sich mit eigenem Leben, nicht bloß mit dynastischen Interessen füllten. Hier waren Kampf und Staatsklugheit notwendig, um das Ganze in ein Gleichgewicht der Kräfte zu bringen, wie etwa der Kampf gegen die Städte und die Entstehung der Kirchengewalt (Landeskirchentum) beweisen. Gewiß, auch hier verfolgte der Landesherr

Staatsgewalt.

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letzten Endes eigene Zwecke, so gut er dies vermochte. Aber deshalb dieser Art der Herrschergewalt die Natur einer Staatsgewalt ab­ zusprechen, ist verfehlt. Freilich eine Staatsgewalt im heutigen, streng juristischen Sinn gefaßt, gab es auch in diesen großen Territorien nicht. Tenn wir betrachten die Staatsgewalt als eine einheitliche und unteilbare Gewalt, als ein oberstes Hoheitsrecht, das allein dem Körper Staat zukommt. Ter damalige Landesherr dagegen besaß eine Herrscher­ gewalt auf Grund der verschiedensten Rechtstitel: Als Belehnter, als Eigentümer, als Pfandinhaber, als Bevollmächtigter. Vieles war usurpiert. Vielem fehlte jede rechtliche Unterlage. Nur in der Person des Landesherrn bildeten die Rechte eine — zufällige — Einheit. Tie Zusammenfassung all dieser Hoheitsrechte zum einheit­ lichen Begriff der Staatsgewalt wurde erst möglich mit Hilfe des römischen Rechts und mit Hilfe der Doktrin. Tenn erst das römische Recht führte eine begrifflich scharfe Scheidung von öffent­ lichem Recht und Privatrecht durch. Noch im 17. und 18. Jahr­ hundert war vieles im Flusse; Theorie und Praxis gingen gerade auf diesem Gebiete weit auseinander. Aber mit anderem Auge geschaut näherte sich schon die landes­ herrliche Gewalt des 15. und mehr noch des 16. Jahrhunderts einer Staatsgewalt. Tie Fürsten fingen an, ihre Befugnisse den Unter­ tanen gegenüber als ein Amt aufzufassen. Und kraft dieses Amtes verlangten sie Gehorsam von der unterstellten Bevölkerung. Ter Amtsbegriff war ein einheitlicher Begriff, so gut wie der ihm entsprungene Begriff der Obrigkeit. In diesem Bereiche hat nicht das römische Recht, sondern die Reformation bahnbrechend gewirkt. Amt und Obrigkeit wurden religiös gefaßt. Sie stammten von Gott. Sie waren unantastbar, heilig in der Hand des Fürsten. Niemand hat dies plastischer gesagt, als Luther selbst! „Gott will lieber leiden die Obrigkeit, so Unrecht tut, denn den Pöbel, so rechte Sache hat" (1528). 4. Die landesherrliche Verwaltung. Das ist das Neue, das Entscheidende in der Tätigkeit der Landesväter: sie richten eine Verwaltung ein. Neben dem Verteidigungsgedanken, neben dem Rechtsschutz nach innen und außen, erhebt sich der Verwaltungsgedanke und mit ihm die Wohlfahrtsidee. Ter Landesherr verteidigt, richtet, verwaltet und schafft Nutzen. In weitem Umfange dient ihm die Stadt als Vor­ bild. Jetzt mischt sich der Herr von Staats wegen in das Wohl des einzelnen Untertanen ein, um das Wohl der Gesamtheit zu fördern.

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Landesverwaltung.

Jetzt treten Normen zur Förderung des Gewerbes, der Landwirt­ schaft und des Weinbaues auf, jetzt die ausgedehnten Ordnungen zum Schutze der Wälder, jetzt die Aufstellung von Getreidepreisen und Ausfuhrverboten. 1417 ordnete z. B. Herzog Albrecht V. von Österreich an, es dürften keine neuen Weingärten angelegt werden, da sonst der Wein zu billig und das Getreide für arm und reich zu teuer würde. Besondere Verwaltungsbehörden für geographisch geschlossene Bezirke treten auf, der Amtmann, der Pfleger, der Vogt. In den Städten dehnt der Rat seine Verwaltungsbefugnisse immer weiter aus. Fast überall war die Entwicklung dergestalt, daß der Ver­ waltungsbeamte auch Einfluß auf die Rechtsprechung bekam, so daß regierende und richterliche Gewalt in diesen Beamten zusammen­ flössen. Das Gefühl, daß diese Bereiche in einem vollendeten Rechts­ staate getrennt sein müßten, war noch nicht erwacht. Die Folge war, daß der Verwaltungsbeamte meist über den Richter hinaus­ wuchs und ihn beherrschte. Der Richter begann ein Werkzeug der Regierung zu werden.—Der wichtigste Schritt wurde unternommen in der Zusammenfassung des Gebietes durch eine Zentralverwaltung. Die alte, nur auf den fürstlichen Hof zugeschnittene Organisation genügte nicht mehr. Neben sie trat die Landesverwaltung. Mit aller Kraft macht sich die Anschauung geltend, daß das Terri­ torium kein vergrößerter Fürstenhof sei und deshalb nach eigenen Verwaltungsbehörden dränge. Für das Expeditionswesen wurde eine Kanzlei eingerichtet, für das Finanzwesen eine Kammer oder Rentei. Aber eine verfeinerte Einteilung des Ganzen fehlte noch. An die Spitze stellte sich der Landesherr selbst mit seinem „Rate", den er im ganzen frei aus Vertrauensleuten wählte. Wie enge aber Hofverwaltung und Landesverwaltung im ganzen noch zusammengingen, zeigt die lehrreiche Hofordnung Joachims II. von Brandenburg aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Verwaltung hatte sozial und rechtlich bedeutsame Folgen. Sie hob nicht nur das Staatswesen in seiner Gesamtheit empor, sondern sie brachte auch den Landesherrn und seine Beamten wieder in Verbindung mit dem Volke. Die Brücke zwischen Staat und Volk ist nicht durch die Rechtsprechung, sondern durch die Verwaltung geschlagen worden. Für Fürst und Volk brach langsam eine neue Zeit an, und es ist kennzeichnend, daß in der goldenen Bulle bestimmt wurde, die Söhne der Kurfürsten hätten außer deutsch auch lateinisch, italienisch und slavisch zu lernen, damit sie die Leute und die Leute sie bcsser verstünden. Denn Landesvater ist nur der, dem die Sprache seines Volkes vertraut ist.

Entstehung der Landstände.

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Die Landstände.

§ 32.

1. Die Entstehung der Landstände reicht in die Kaiserzeit zurück (§ 23). Aber bis zum Interregnum erfahren wir wenig von diesen aufstrebenden Gewalten im Territorium. Erst im 14. und 15. Jahrhundert traten sie deutlicher heraus. Die Kräfte, die sie hervorriefen, liegen im Dunkeln und sind daher sehr ver­ schiedenartig gedeutet worden. Vermutlich waren nicht in allen Gebieten die gleichen Motive im Spiele und man muß.sich hüten, eine allgemeine Entstehungstheorie aufzustellen. Alles kommt zunächst auf die Frage an: herrschte im landesherrlichen Gebiete unter Adel und Geistlichkeit ein Bewußtsein der Zusammengehörig­ keit, ein Territorialbewußtsein? Denn das ist das neue, das bedeut­ same, daß die Landstände das Land vertraten und nur aus den Eingesessenen des Landes genommen wurden. Hierin liegt der große Gegensatz zu den personenrechtlich gestalteten Lehnsverbänden. Wo etwa ein solches Territorialbewußtsein schon früh erwacht war, da mögen sich die Landstände organisch aus den alten Landtagen und den Landfriedensverbänden entwickelt haben. Dies dürfte für Bayern und Pommern zutreffen. Wo dagegen der landschaft­ liche Geist der Vornehmen erst ausgebildet werden mußte (vermut­ lich der Hauptfall), da führten Einungen zur Bildung der Landstände. Die Ritterschaft für sich, oder in Vereinigung mit der Geistlichkeit des Landes, schloß sich in Verbänden zusammen. Die Einungen waren in der Hauptsache auf den freien Einungs­ willen der Beteiligten gegründet. Freilich mag da und dort der Landesherr einen Zwang ausgeübt haben, mag ihm die Organi­ sation seines Adels höchst willkommen gewesen sein. Man denke an den Fall der Besteuerung. Wie viel leichter war es für den Fürsten mit einer Organisation zu verhandeln, als mit jedem einzelnen Ritter und Prälaten. Auch der König hatte vielleicht seine Hand im Spiele und wünschte ein Gegengewicht gegen die landesherrliche Willkür. Sicher ist, daß die Landstände später Zwangsorganisationen wurden. Je mehr wir uns dem 15. Jahrhundert nähern, um so mehr sehen wir die freien Einungen in Zwangseinungen umgestaltet. Wer seinen Eintritt verweigerte, galt als eine ungenossenschaftliche Natur und erlitt rechtliche Nachteile. Überall ist die Bildung langsam vor sich gegangen, meist auf gewohnheitsrechtlichem Wege. Aber juristisch vermögen wir einen ganz bestimmten Zeitpunkt anzugeben. Juristisch sind die Landstände in dem Augenblick geboren, in dem sie ein Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte.

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Befugnisse der Landstände.

Zustimmungsrecht zu landesherrlichen Verfügungen er­ hielten. Juristisch deckt sich die Entstehung der Stände im Terri­ torium mit der Entstehung des Reichstages im Reiche (§ 30). 2. Gliederung, Organisation und Abgrenzung der ständischen Machtbefugnisse waren lokal sehr verschieden, und es läßt sich nur mit Vorsicht ein Gesamtbild geben. In größeren Territorien gliederten sich die Stände in drei Bänke, die Ritterschaft, die Städte und die höhere Geistlichkeit (sogar Bischöfe). Nur selten, z. B. in Tirol, trat eine Bauernkurie hinzu. Grundlage der Landstandschaft waren anfangs Geburt oder Amt und die Zugehörigkeit zum Lande. Später machte sich auch in diesem Bereiche die Verdinglichung geltend. Grundlage wurde häufig der Besitz einer Burg und der Grundbesitz geistlicher Genossenschaften. — Die ständischen Machtbefugnisse äußerten sich nach zwei Richtungen. Einmal in einem Zustimmungsrecht. Der Landesherr vermochte einschneidende Verfügungen im Lande und über das Land nicht mehr allein vorzunehmen. So namentlich Teilung und Abtretung des Staatsgebietes, Bestimmung über Krieg und Frieden, Auf­ erlegung von Steuern. Der dritte Punkt machte sich im Leben der Stände ganz besonders geltend. Er ist allezeit das Haupt­ moment der ständischen Befugnisse geblieben. Bei diesen Steuerbewilligungen ergibt sich klar, daß die Stände bald eigene, bald Interessen des ganzen Landes verfolgten, daß wir also in ihnen neben einer Gruppenvertretung den Anfang einer Gesamt­ vertretung, einer Landesvertretung vor uns haben. Zweitens besaßen die Landstände das Recht des Widerstandes. Ihnen ward die hohe Aufgabe zuteil, das Recht gegen die Willkür des Landesherrn zu schützen. Sie erschienen als die Hüter des „alten guten Rechts." Sie waren in diesem Sinne Kontroll­ instanzen. Sie stellten das „aus dem Wesen der Rechtsordnung hervorgehende Korrektiv gegen normwidrige Befehle und Gesetze dar". Zu diesem Zwecke besaßen sie als einflußreichstes Mittel ein Widerstandsrecht, wie es die Magna Charta von 1215 in England, positivrechtlich zum ersten Mole, festgelegt hatte. Dieses Resistor,zrecht, aus altem Volksrecht, nicht aus dem Lehnrecht herausgewachsen, durfte mit Waffengewalt durchgefochten werden. Bis zur Tötung und Absetzung des Fürsten ging es aber wahrscheinlich in der Praxis niemals (wohl aber in der Theorie), sondern nur bis zur Aufhebung der fürstlichen Gewalt, die so lange dauerte, bis der normwidrige Befehl widerrufen wurde. Einen ganz neuen Aufschwung erfuhr es später durch die Reformation, namentlich durch Calvin. Seine

Niedergang der Landstände.

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Lehre vom erlaubten Widerstand gegen die Staatsgewalt war nicht eine naturrechtliche Erfindung, sondern knüpfte an altes, geltendes deutsches Recht an. Bayrische Freiheitsbricfe aus dem 14. Jahrhundert weisen mehrfach auf das Recht zum Widerstände hin. Auch aus Mecklenburg, Braunschweig, Bremen und Würzburg ist es überliefert. Milstimmrecht wie Widerstandsrecht gaben den^ Landständen eine Macht in die Hand, die sie als eine dem Fürsten ebenbürtige Staatsmacht erscheinen ließen. Die Seite 100 betonte dualistische Auffassung des spätmittelalterlichen Staates gipfelte begrifflich darin, daß man in Fürst und Ständen Parteien erblickte, die zu­ sammen einen Vertrag geschlossen hätten. Wie im Reiche durch die Kurfürsten (S. 128) drang im Territorium durch die Land­ stände der Vertragsgedanke ein. Fürst und Volk (Stände) garan­ tierten sich gegenseitig ihre Machtvollkommenheiten, wie zwei Kontrahenten, die sich gegenseitig einen Vertragsinhalt garantieren. Durchleben und Nehmen, durch Leistung und Gegenleistung wurde das Einvernehmen gesichert. So ist viel neues Terri­ torialrecht als Vertragsrecht geboren worden. Aber auch Zwang und Rechtsbruch traten täglich hervor, je nachdem Landes­ herr oder Stände die Gewalt in Händen hatten. Unter unend­ lichen Reibereien wurde auf dem Rechts- wie auf dem Unrechts­ weg das Landesrecht durch Fürst und Stände geschaffen. 3. Ständische Sonderinteressen, innerer Streit und eine engherzige Politik, ließen da und dort die Stände schon Ende des 15. Jahrhunderts zurücktreten. Sie verstanden es nicht, zu ernten, was sie gesät hatten. Ihre aufbauende Kraft war verloren gegangen, ihre Ziele rein negativ gerichtet. Sie wurden dem auf­ strebenden Landesherrn zur Fessel. Daher begann ein Kampf der beiden Gewalten mit Schwert und Recht. Einer mußte weichen. Aber es bedurfte eines langen Ringens, bis endlich der Fürst als Sieger hervorging. Erst das 17. Jahrhundert brachte die end­ gültige Niederlage der Stände. Recht und Wirtschaft in den Städten.

1. Die deutsche Städtepolitik zeigt ein ganz anderes Bild als die italienische. Jenseits der Alpen war das Ziel auf Gründung ausgedehnter Städterepubliken gerichtet. In Deutschland da­ gegen begnügte sich die Stadt mit einem engen Gebiet, das in der Hauptsache nur sie selbst einschloß. Stadtstaaten wie in Italien hat es im deutschen Reiche niemals gegeben. Wenn Städte wie 10*

§ 33.

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Städtische Verwaltung.

Frankfurt auf em Weltes Stadtterntorium hrndrängtcn, so lvar dies eme große Ausnahme. Die größeren Städte, etwa Hamburg, Augsburg, Nürnberg, stiegen im 15. Jahrhundert nicht über 20 bis 25000 Einwohner empor; kleinere Städte nicht über 5000. Immerhin waren dies große Unterschiede gegenüber den Dörfern, die meist über die Hunderte nicht hinauskamen. Die Masse, im Sinne der großen, ungeordneten und daher nach Ordnung ver­ langenden Menschenzahl, ist em Erzeugnis der Stadt, mcht em Erzeugnis des Landes. Und dieser große soziale Kreis, den wir in der Stadt antreffen, führte notwendig zu ganz anderen Rechts­ formen als der bescheidene Lebenskreis des Dorfes. Die im engen Raum zusammengedrängte, wirtschaftlich vielgestaltige Masse for­ derte energisch nach Gliederung und Organisation. Daher wurden Maßnahmen, denen wir m der Kaiserzeit begegneten (§ 24), weiter fortgebildet. Das Zunftwesen trat durch verständnisvollen inneren Ausbau auf die Höhe seiner Entwicklung. So ist es z. B. em feiner Zug gewesen die Warenkontrolle immer stärker anzuspannen. Für Köln ist nachgewiesen, daß die Zünfte von sich aus strenge Vorschriften erließen über die Beschaffenheit von Waren in Textil- und anderen Gewerben. Der gute Ruf der Kölner Fabri­ kate sollte geschützt, der Vertrieb von minderwertigem „Kaufmanns­ gut" unterdrückt werden. Peinlich wurde der Zunftzwang be­ obachtet. Gegen Widerspenstige, die ihr Gewerbe fern der Zunft ausüben wollten, lieh die Obrigkeit ihren Arm. 2. Wesentlich an Kraft gewonnen hatte auch der städtische Verwaltungsgedanke. Durch scharfe polizeiliche Verordnungen sollte der Friede in der Stadt aufrecht erhalten, sollten Handel und Gewerbe zugunsten der Bürger geschützt, sollte das gesamte bürgerliche Leben überwacht werden. Daraus er­ wuchsen die immer zahlreicheren Verbote des Waffentragens, daraus die straßenpolizeilichen Bestimmungen (Köln um 1400: Kün Mensch darf nach 11 Uhr nachts auf der Straße an­ getroffen werden), daraus die Kleider- und Luxusordnunaen (Hannover zu Beginn des 14. Jahrhunderts: Es dürfen kcine gol­ denen und silbernen Borden an den Kleidern getragen werden), daraus die vielen Lebensmitteltaxen und die Höchstpreise für gewisse Waren. Und noch eins trat dazu: die Stadt wollte einen Organismus für sich bilden. Sie wollte cm Rechts­ und Wirtschaftszentrum darstellen, das sich selbst genügte. Wo sie mit dem Lande in Verbindung trat, da wollte sie das Land beherrschen. Diese Abschließungstendenz — man hat sie mit Recht

Städtische Wirtschaft.

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als Stadtwirtschaft bezeichnet — äußerte sich u. a. im sog. Gäste­ recht. Tie Gäste waren die Fremden, die Eindringlinge, die Geduldeten. Für sie gab es eigenes Recht mit eigenem Gericht (Gastgericht). Anfangs den Fremden günstig, nahm das Stadt­ recht immer mehr einen gästefeindlichen Zug an und plagte sie namentlich mit einem scharfen Vorgehen in Sachen des Personalund Sacharrestes. Wirtschaftlich wurden die Gäste häufig dadurch eingeengt, daß man sie vom Kleinhandel ausschloß oder sie in der Verkaufszeit verkürzte. Die Wirtschaftspolitik der Städte hat im ganzen ihr Ziel erreicht: die Ausbildung eines bürgerlichen Mittelstandes. Das ist zweifellos wirtschaftlich die großartigste Errungenschaft gewcsen, vor allem, wenn wir die gegenteilige Entwicklung beob­ achten, die das Land genommen hatte. Daher hat die deutsche Stadt, trotz intensiven Handels und Verkehrs, keine kapitalistische Wirtschaftsform aufkommen lassen. Grundlage des Wirtschafts­ lebens war immer noch das Bedarfsdeckungsprinzip. Man erwarb, um zu leben, nicht um zu verdienen. Man kaufte um zu verzehren, nicht um weiterzuverkaufen. Der heimliche Kauf, der Kauf außerhalb des Marktes war grundsätzlich verboten. Arm und reich sollten gleiche Kaufgelegenheiten haben. Daher die Forderung nach öffentlichem Verkauf, nach „Marktzwang"; denn dadurch allein waren eine obrigkeitliche Kaufkontrolle mög­ lich, eine Überwachung der Umsatzbesteuerung und die Prüfung von rechtem Maß und Gewicht. Streng untersagt blieb der „Vor­ kauf" z. B. der Früchte auf dem Halm oder der Waren auf ihrer Fahrt zur Stadt. Der Kettenhandel war geradezu.ein Delikt. Doch zeigt die Geschichte, daß es nicht gelang ihn ganz zu unter­ binden und zwar gerade mit wichtigen Lebensmitteln, etwa mit Mehl und Getreide. — Begreiflicherweise dauerten Zudrang und Zuzug zur Stadt fort. Friede, Bequemlichkeit, Freiheit und Rechts­ sicherheit in Handel und Wandel, Sehnsucht nach religiöser Be­ tätigung und nach städtischer Bildung zogen immer noch Tausende heran. Aber die Städte waren wählerisch und wogen fein ab, wen sie als Bürger aufnahmen. So erklärte etwa das Hamburger Stadtrecht von 1497: „Auch soll kein Ritter wohnen binnen diesem Weichbilde. Der Rat soll sich auch vorschen, daß keine Eigenleute als Bürger in diese Stadt ausgenommen werden." Man strebte — kennzeichnend für die freie Hansastadt — nach Festhaltung an der guten Mittelschicht. — Nicht erloschen war der Streit um -as Pfahlbürgertum. Immer wieder nahmen die Städte

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Zunftherrschaft.

Pfahlbürger auf, um deren Steuerfrüchte zu genießen, und immer wieder erhob das Land Einspruch. Eine scharfe Bestimmung ist im Landfrieden von 1303 enthalten: „Wer ein Bürger sein und Bürgerrechte genießen will, der soll Sommer und Winter mit Haus und Habe (pawlich und hablich) in der Stadt sein, da er Bürger ist, oder man soll ihn nicht als Bürger anerkennen". Doch damit wurde der Zwist nicht aus der Welt geschafft. Pfahlbürger gab es während des ganzen Mittelalters, und der Hader um diese Bastarde kam nicht zur Ruhe. 3. Die Wahrung der genossenschaftlichen Idee machte den Städten große Sorge. Die Freiheit der Bürger drohte ersückt zu werden durch den Rat, der aus dem Patriziat der Städter erkoren wurde. Im 14. Jahrhundert war die Unzufriedenheit aufs höchste gestiegen. Die Patrizier hatten nicht nur ein Stadt­ regiment ausgebildet, das dem Bürger beinahe jede Mitwirkung an der Verwaltung entriß, sondern sie hatten auch mancherorts schlecht gewirtschaftet und die Stadt in Schulden gestürzt. Viele Eingriffe in die Gerichtsbarkeit waren vorgekommen. Nun erhoben sich die Zünfte und erzwangen sich, oft mit Waffengewalt, Anteil am Berwaltungskörper. Der alte Rat wurde gestürzt oder es wurde ihm eine Zunftvertretung an die Seite gegeben. In St. Gallen z. B. verstärkte man den Rat der Zwölf durch sechs Zunftmeister. Diese bildeten zusammen den kleinen Rat, der sich durch Heranziehung von elf weiteren Personen, den Elfern, zum großen Rat erweiterte. (14. bis Ende 18. Jahrhundert.) In Mainz erhoben sich im Jahre 1332 neben dem alten Rate die Zweiundzwanzig (später Neun­ undzwanzig), die „von der gemeinde wegen in den rad sint komen", und die gewählt wurden „uffet dem hantwerk oder zonfte". An manchen Orten ging der Einfluß soweit, daß das ganze Steuer­ wesen in die Zünfte verlegt wurde und das Bürgerrecht nur durch die Mitgliedschaft in einer Zunft erworben werden konnte. Die Zünfte wurden durch diesen Umschwung politische Ein­ richtungen, die den genossenschaftlichen Gedanken in der Stadt neu erweckten und'wesentlich stärkten. An manchen Orten kam es nicht so weit, z. B. in den meisten Hansastädten, in Frankfurt und Nürnberg. Dort, in Nürnberg, schickte zwar das Handwerk acht Vertreter in den Rat, denen aber jede bedeutungs­ volle Stellung mangelte. Auch in den übrigen Städten trat im Laufe der Kurfürstenzeit das Patriziat regelmäßig wieder energischer hervor. Die alten Geschlechter und neue reich gewordene Personen vermochten wiederum einen geschlossenen Kreis, einen ständischen

Stadl und Landesherr.

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Ring darzustellen, aus dem der Rat gekoren wurde. Es bildeten sich neue „ratsfähige Familien", die eine gewisse Erblichkeit des Amtes erlangten. Zu wahrer demokratischer Verfassung ist nur selten eine Stadt bleibend aufgesüegen. 4. Noch andere Gefahren drohten der Freiheit der Stadt. Einmal die Einengung von feiten der Stadtherrn, der Vögte oder der Burggrafen. Diese herrschaftlichen Gewalten hinderten die Stadt vor allem an der fr ei en Entfaltung ihres Satzungs­ rechts, an ihrer Autonomie. Auch mischten sie sich in ihre Verwaltung ein und geboten ihr Einhalt bei der Betätigung landesherrlicher Befugnisse, welche die Stadt errungen hatte. Ein Hauptbeispiel ist der Kampf Nürnbergs mit seinem Burggrafen, ein Zwist, den schließlich der Kaiser zugunsten der Stadt entschieden hat. Auch in St. Gallen mußte der Kaiser wiederholt eingreifen, da die freiheit­ liche Bürgerschaft dauernd versuchte, ihrem Herrn, dem Abte, die Huldigung zu verweigern (14. Jahrhundert.) Im allgemeinen blieben bei diesen Zwistigkeiten die Bürger Sieger. Sie ge­ langten in den freien Besitz von Autonomie und Selbstverwaltung, großenteils deshalb, weil Bildung, Zusammenhalt und eine kluge Steuer- und Finanzwirtschaft sie befähigte, der herrschaftlichen Gewalt erfolgreich gegenüber zu treten. Zweitens kamen die Landstädte in Konflikt mit ihren Territorialherren. Ein ganz notwendiger Gegensatz zwischen diesen Mächten tat sich auf: der Landesherr drängte auf ein festgefügtes, geschlossenes Territorium hin, die Städte dagegen zielten auf insulare Freiheit von der Landesgewalt ab. Ein Zusammenprall war unvermeidlich. Die Städte erhoben sich gegen die Landesherren. Aber fast auf der ganzen Linie war der Sieg den Herren beschieden. Mit der Niederlage der schwäbischen und rheinischen Städte bei Döffingen 1388 galt ihr Schicksal als besiegelt. Im Osten spielten sich Einzel­ kämpfe ab. Einer der interessantesten war die Niederwerfung Berlins unter den Kurfürsten Friedrich II. Die Stadt hatte sich so stark gefühlt, daß sie in einem Aufruhr von 1448 es wagte, den landes­ herrlichen Richter zu verjagen und die Archive des Kurfürsten zu erbrechen. Sie büßte ihren Trotz mit völliger Unterwerfung unter den Kurfürsten, der ihr mühsam erworbene Rechte, vor allem die eigene Gerichtsbarkeit und die Handelsprivilegien entriß. Berlin wurde zur Landstadt wie hundert andere. Der Totentanz in der Berliner Marienkirche ist der künstlerische Ausdruck der Stimmung, welche Berlin nach 1448 beherrschte. Die große Bewegung des 14. und 15. Jahrhunderts

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Hansa.

hatte der Freiheit der Städte in weitem Umfange ein Ende bereitet. Zu spät waren sie aus ihrer Isolierung heraus­ getreten. Zu spät hatten sie sich in Einungen zusammengeschlossen. (Man denke an den schwäbischen Städtebund.) Es waren ihrer eben zu viele, und der Landesherr sah sich in seinen Herrschafts­ bestrebungen zu sehr vom genossenschaftlich-demokratischen Wesen der Städte bedroht. Ein tragischer Konflikt war erwachsen. Er mußte gelöst werden. Wer nicht die Stellung einer Reichsstadt behaupten konnte, wurde von der Landeshoheit überrannt, wurde zur mediatisierten Landstadt. Freilich war der Einordnungsprozeß ein Prozeß von Jahrhunderten. Keine Spur davon, daß Selbst­ verwaltung und Autonomie der Städte überall mit einem Schlage vernichtet worden wären. Viele Städte hielten sich bis ins 17. Jahr­ hundert. Erst der absolute Fürst mit seinem schlagfertigen Heere ordnete die Städte vollständig dem landesherrlichen Verwaltungs­ organismus ein. 5. Die großartigste Blüte städtischer Organisation nach außen finden wir im Hansabund. Seit dem frühen Mittelalter be­ kundeten die Kaufleute das Streben, sich in kaufmännischen Ver­ bänden, in Gilden, zu vereinigen. Aus solchen Schutzgilden im Auslande, vor allem in London, erwuchs die Hansa. Denn im Auslande war ein genossenschaftliches, kaufmännisches Zusammen­ arbeiten doppelt notwendig. Im 13. Jahrhundert schwang sich der Hansabund zur bedeutsamsten handelspolitischen Macht des Nordens auf und vermittelte den Güteraustausch mit dem Reich einerseits, mitRußland, Schweden, Dänemark und England anderer­ seits. Unter seinem Vorort Lübeck führte er seine Mitglieder zu ungeahnter Höhe in Recht, Wirtschaft und Bildung. Auch an militärischen Siegen fehlte es ihm nicht (1370). Er zerfiel im 16. Jahr­ hundert, teils weil die genannten Staaten den Handel und die gewährten Handelsprivilegien selbst an sich rissen, teils weil die aufstrebende Landeshoheit diese selbständigen Zentren weiterhin nicht mehr dulden wollte. § 34.

Recht und Wirtschaft auf dem Lande.

1. Der Gegensatz zur Stadt. Das Auseinandergehen von Stadt und Land, die Zweiung von Sinnen und Handeln eines Bürgers und eines Bauern ist aus vier Gegensätzen zu erklären. Sie sind meist schon berührt, bedürfen aber hier der Zusammenfassung. a) Auf dem Lande herrschte kein Friede. Zwar war

Gegensatz von Stadt und Land.

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der Bauer seit dem 12. Jahrhundert aus dem Fehderecht aus­ geschaltet. Aber was half das! Wurde seinem ritterlichen Herrn Fehde angesagt, so galt auch des Bauern Leib und Gut als mit in den Fehdebereich hineingezogen. Schädigte man den Bauern, so schädigte man zugleich den Herrn. Und darauf war es ja ab­ gesehen. Die zahlreichen Verbote in den Landfrieden bis 1495, den Bauern zu Hause oder am Pfluge zu überfallen, reden eine deutliche Sprache. Seit dem Aufkommen der Söldner bildeten auch die herumziehenden, herrenlosen Söldnexscharen eine schwere Last. Diese „gürtenden Knechte" beraubten, brandschatzten, be­ stahlen den Bauern und suchten ihn, sein Weib und seine Kinder schwer heim. Wollte er sie haschen, waren sie über alle Berge oder schlugen den Verfolger tot. Der Mangel des Friedens führte zum Schutz durch den Herrn. Der bedrängte und ge­ peinigte Bauer mußte sich in den Schutz einer Person begeben, die imstande war, ihn zu verteidigen und sicher durch das Land zu geleiten. Die Schutzidee gebar wie in fränkischer Zeit die Idee der Unterwerfung. Der Bauer erkaufte den zugesicherten Frieden mit dem Preise der Unterordnung. Nebenordnung der Menschen in der Stadt, Unterordnung auf dem Lande, das war die Grundsümmung. b) Der Bauer lebte nicht in Masse und die verbindenden Kräfte des städtischen Lebens fehlten. Höchstens gemeinsame Gefahr schmolz die Leute auf Stunden zusammen. Sonst aber gebrach es an Spannkraft zur Vereinigung. Das Land kannte daher keine Organisation. Es mangelten die Triebkraft und die Möglichkeit eines energischen genossenschaftlichen Vorgehens, sei es in der Wirtschaft, sei es im Rechte. Daher war eine Zu­ sammenfassung in Zünfte oder ähnliche wirksame Einrichtungen ausgeschlossen. Und als sich die Bauern wirklich einmal organi­ sierten und zu bewaffneter Selbsthilfe griffen, da mußten sie kläglich scheitern, wie der Bauernkrieg später bewies. Der Mangel eines Zusammenlebens in Masse gab dem Recht eine andere Fär­ bung. Alle Beziehungen waren viel persönlicherer Art, auch die Beziehungen zum Herrn. Daher weist das bäuerliche Recht eine viel stärkere privatrechtliche Struktur auf, als das Stadtrecht. c) Das Land entbehrte eines Marktes. Gewiß, es gab auch Landmärkte. Aber sie spielten eine verschwindende Rolle gegenüber dem Stadtmarkt; denn sie waren keine ständigen Märkte. Der Mangel an Verkauf- und Umsatzeinrichtungen ermöglichte dem Bauern keinen finanziellen Aufstieg, ähnlich dem des Bürgers.

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Verhältnisse im Altlande.

Er blieb auf die Bearbeitung der Scholle angewiesen, und diese vermochte ihn bei normaler Wirtschaft gerade zu ernähren. So hielt er sich pekuniär auf bescheidener Stuse, ohne darben zu müssen. Aber es ist verständlich, daß der Städter über ihn hinaus wuchs, sich Vorteile und Privilegien erkaufen konnte und mit Verachtung auf den „armen Mann" blickte. Der Erwerbstrieb im kapitalistischen Sinne blieb dem Bauern auch fremd, nachdem er längst in die Städte eingezogen war. d) Auf dem Lande fehlte die Bildung und damit die Beweglichkeit des Geistes. Ins Rechtsgebiet übersetzt, bedeutet dies: das Recht bleibt traditionalistisch gestimmt. Der Nachkomme übernimmt grundsätzlich das alte Recht; denn was Jahrhunderte gegolten hat, ist gut in seinem Verstände. Daher war das Recht starr, Neuerungen kaum zugänglich. Während die Stadt von sich aus am Recht schmiedete und wirkte, altes abstieß und neues formte, hielt das Dorf am überlieferten, alten, oft veralteten Rechte fest. Veränderungen kamen selten vor, wenn nicht der Herr da­ hinter stand. Die Weistümer, die Bauernrechte sind voll von der Vorstellung, das geltende Recht solle grundsätzlich ewigen Bestand haben. Auf dem Lande gab es überhaupt wenig zu bilden. Das Leben floß träge und gleichgültig über die Jahrhunderte dahin. Die bäuerliche Siedelung ist daher auch nicht zur juristischen Person vorgedrungen. Die bäuerlichen Gemeinden blieben Genossenschaften, Verbände, in denen Vielheitsrecht und Einheits­ recht miteinander verschmolzen waren. Über die Auffassung, daß die Gemeinde eine Summe von Subjekten sei, verkörpert in der Gemeindeversammlung, kamen sie nicht hinaus. 2. Die Verhältnisse im Altlande. a) Im 12. Jahrhundert war die ständische Scheidung von Ritter, Bürger und Bauer endgültig durchgedrungen. Tätigkeit und Wohnsitz hatten zur Ausbildung neuer Stände geführt. Berufs­ stände waren herangewachsen. Aber bald setzte das Geburts­ moment mit frischer Kraft wieder ein. Doch.wurde es nie mehr so ausschlaggebend wie in der fränkischen Zeit. — Anfänglich blieben auch im Bauernstande die freien Leute von den unfreien scharf geschieden. Aber je mehr wir uns der Neuzeit nähern, um so mehr schmelzen die Bauern zu jener einheitlichen Masse zu­ sammen, welche die Quellen in tausenden von Zeugnissen, nament­ lich im Südwesten mit dem treffenden Ausdruck „der arme Mann" bezeichnen. (Im französischen Sprachgebiet: gens de pote.) So wenigstens dem Reiche und der Landesherrschaft gegenüber; denn

Niedergang der Grundherrschast.

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im Verhältnis zum einzelnen Grund-, Gerichts- und Bannherrn blieben zunächst die Unterschiede von frei und unfrei gewahrt, und dazwischen gab es eine Fülle von Stufen, die den Bauern bald mehr als freien, bald mehr als leibeigenen Menschen erscheinen ließen. Die Entwicklung in den einzelnen Reichsteilen war äußerst verschieden. Aber für alle Gebiete läßt sich sagen: überall lebte der Bauer nach Rechtsnormen. Auch die unfreieste Klasse war in den Rechtsbereich eingetreten. Bloßer Willkür des Herrn war der Bauer nirgendsmehr ausgeliefert. Überall und zu allen Zeiten gab es überdies viele freie Bauern Große Land­ strecken, in denen nur unfreie Elemente zuhause waren, kennt Deutschland nicht. Aber überall stand der Bauer ständisch am tiefsten. Der Adel wie die Städter lehnten die Genossen­ schaft mit ihm ab. Man achtete den Bauern gesellschaftlich und rechtlich geringer als andere Menschen, was sich namentlich im Straf- und Eherecht, im Prozeß- und Gerichtswesen zeigte, vor allem auch in der Ausschaltung von den politischen Befugnissen. Politisch war der Bauer sozusagen tot. So bildete z. B. eine bäuerliche Kurie innerhalb der Landstände eine große Ausnahme. Wegen dieser sozialen und politischen Tiefstellung, nicht wegen schlechter wirtschaftlicher Lage,hieß der Bauer der arme Mann. Ständisch müssen wir den Bauern also kenn­ zeichnen als eine Person, die von bäuerlicher Geburt war, auf dem Lande lebte, bäuerliche Arbeit trieb und sich in freier oder unfreier Rechtsstellung befinden konnte. Es ist eine ungeheuer­ liche Erscheinung im Rechtsleben aller Völker,-daß der Stand jahrhundertelang am tiefsten eingeschätzt wurde, der mit seiner Hände Arbeit sich und den ganzen Staat auf der gesichertsten Grundlage ernährt. b) Die strenge Grundherrschaft war zerfallen. Das Aufkommen der Städte, eine gehobene Wirtschaft der Bauern, welche dieGrundrente gesteigert hatte, das Emporsteigen der unteren unfreien Schichten und die zunehmende Abschließung der Terri­ torialherrschaft mögen hauptsächlich dazu geführt haben. Das ganze Verhältnis dem Grundherrn gegenüber hatte sich im 12. und 13. Jahrhundert gelockert. Sehr viel freie Erbleihe, weniger freie Zeitleihe, waren entstanden. Die Eigenwirtschaften der Herren verkleinerten sich, so daß das Interesse an wirtschaftlichen Diensten zurückging. Hunderte von Gütern wurden zu bloßen Rentengütern. Der Grundherr begnügte sich mit festen Bezügen (Renten, Pachtgefällen) aus seinem Grund und Boden, und das

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Gerichtsherrschaften.

einstige persönliche Verhältnis zu seinen Bauern schwand vollends dahin, wo der Verdinglichungsprozeß um sich griff, wo die Ab­ gaben mehr und mehr die Natur von Reallasten annahmen. Die Fronhofsverwaltung bestand dann im wesentlichen nur noch im Einzug der Gefälle und in der Wahrung des althergebrachten Güterbestandes. Je stärker der städtische Einfluß wurde, um so mehr verwandelten sich die Naturalabgaben in Geldzinse. — Anders lagen die Dinge, wo man zum System der sog. Villikationsverfassung griff. Der Grundherr, des eigenen Wirtschaftsbetriebes müde geworden, nahm Verpachtungen im großen Stile vor, indem er ganze Stücke seines Fronhof­ verbandes an ritterliche Pächter ausgab, ohne die grundherrliche Verfassung aufzulösen. Die so entstandenen Villikationen oder Meiergüter stellten dann kleingrundherrschaftliche Betriebe dar, die oft nach „Meierrecht" zu fester Pacht oder zu Teilpacht verpachtet waren. Doch ließ sich auch in diesen Betrieben die alte straffe grundherrliche Abhängigkeit der Hintersassen nicht aufrecht halten. Häufig wurden die Meierstellen erblich, was die Landesherren aus Steuerrücksichten begünstigten. c) In der Kurfürstenzeit setzte nicht mehr der Grund­ herr dem Bauern den Fuß auf den Nacken, sondern der Gerichtsherr. Es hatten sich, meistens im Anschluß an die Dörfer, kleinere und größere Gerichtsherrschaften ausgebildet, mit einem Herrn an der Spitze, der niedere (oder mittlere), selten auch hohe Gerichtsbarkeit inne hatte. Das Hochgericht lag regel­ mäßig in der Hand des Landesherrn. Der Gerichtsherr besaß aber weit mehr qls bloße Gerichtsbarkeit. Er besaß das Recht, in ding­ lichen und persönlichen Angelegenheiten der Bauern Gebote und Verbote mit Bußsanktion zu erlassen, was mancherorts mit Zwing und Bann bezeichnet wurde. Kraft dessen konnte er auch z. B. „Bannwein" verschenken (kein anderer Wein als Herrenwein durfte getrunken werden) oder in der „Bannmühle" mahlen lassen. Auch der Fischereibann, die Flurpolizei und manche herrschaftlichen Almendrechte gingen darauf zurück. Der Herr besaß die Vogtei im Dorfe und das aus ihr fließende Besteuerungsrecht. (Siehe z. B. „Vogtsteuern" und „Vogtrecht" im habsburgischen Urbar.) Sodann handhabte er das „Herrenrecht", wonach er jeden in die Gerichtsherrschaft einziehenden Mann, der nicht bereits einem anderen Herrn unterworfen war, für sich in Anspruch nehmen konnte. Ein solcher Fremdling ohne „nachjagenden Herrn" verfiel der Vogtei des Gerichtsherrn. Zuweilen stand diesem auch das

Vogtei.

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Aufgebot zu: er konnte die Leute zu kleineren Heerdiensten zwingen. Und so geht es weiter! Ein unendlicher Katalog von Lasten und Pflichten! Eine der größten Fragen in diesem Entwicklungsgänge war nun: wie stellte sich diese territorial geschlossene Gerichtsherr­ schaft zu den eingewanderten Eigenleuten fremder Gerichts­ und Grundherren? Denn daran ist juristisch festzuhalten, daß Gerichtsherrschaft, Grundherrschaft und Leibeigenschaft an sich rechtlich nicht zusammenfielen. Trotz aller Feinheiten und Verschiedenheiten im einzelnen, kann seit dem Ende des 13. Jahrhunderts als Hauptrichtung gelten: Die gerichtliche Ortsherrschaft trug über die fremden Eigenleute den Sieg davon. Der Territorialisierungsprozeß über­ wucherte die alten Abhängigkeitsverhältnisse persönlicher Art. Die Leibeigenen fremder Herren wurden grundsätzlich dem lokalen Gerichtsherrn unterworfen, oder das fremde Herrenrecht wurde auf ein Minimum herabgemindert. Teils auf dem Wege der Gewalt, teils durch Unterwerfungs- und Ausgleichsverträge ge­ langte man zu dieser Rechtslage. Die eigenen Leute und die fremden Hintersassen schmolzen unter dem Ortsherrn zusammen zu einer einheitlichen Gerichts­ herrlichen Genossenschaft, welche in einer bald stärkeren, bald loseren persönlichen Abhängigkeit ihr Dasein lebte. Alle Insassen wurden der Vogtei, der Ortsgewalt, der Bannherrschaft oder wie immer man das Verhältnis nannte, unterworfen. Hier, nicht in der Landesherrschaft lastete jener schwere Druck auf dem Bauern, den das Rechtssprichwort so treffend kennzeichnet: Luft macht unfrei. Der Niederschlag des Rechts auf Grund und Boden, die Zurückdrängung der alten versonenrechtlichen Bindungen ist die Haupttriebfeder gewesen für die Schaffung dieser homogenen, alle umfassenden Ortsuntertänigkeit. Kraft ihrer Zwing- und Bannrechte, kraft ihrer ungezügelten Gebote und Verbote griffen die Ortsherren in das sittliche, wirt­ schaftliche und rechtliche Leben der Bauern ein, hinderten deren Freizügigkeit und häuften Steuern und Gebühren. Der Gegen­ wert war klein genug. Er bestand hauptsächlich in einigen fördernden Maßnahmen zugunsten des ganzen Dorfes, sowie in der Garantie des Schutzes zur Friedens-, vor allem aber zur Kriegszeit. Oft mußte der Herr für Mühle und Schmiede sorgen, zuweilen auch für Gefängnis und Galgen. Das Halten der Wuchertiere, etwa der Stiere, Hengste, Eber war seine Pflicht. Und kam der Krieg

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Verhältnisse im Kolornsaüonogebiet.

ins Land, so mußte er erlauben, daß sich die Wehrlosen auf seine festen Sitze flüchteten oder sich in seinem Walde Holz schlugen, um sich zu verschanzen und zu verteidigen. Freie Bauerngemeinden, die stolz und kräftig auf sich selbst standen, fehlten nicht. Aber sie bildeten eine große Ausnahme. Der freie Bauer auf abgaben­ freiem Gute war eine Forderung, die in größerem Stile erst die neueste Zeit zu verwirklichen vermochte. 3. Die Verhältnisse im Kolonisationsgebiet. Im Osten und Nordosten der Elbe beobachten wir seit dem 10. Jahrhundert eine emsige wirtschaftliche Tätigkeit. Der Wille, die slavische Bevölkerung zum Christentum zu bekehren, und die politische Einsicht, an den Grenzen des Reiches feste, staatliche Bollwerke zu errichten, hatten der großen kolonisatorischen Lauf­ bahn den Weg geöffnet. Der Orden der Zisterzienser, dessen Regel wirtschaftliche Arbeit vorschrieb, kräftige Dynasten, wie Heinrich der Löwe und der Markgraf von Brandenburg, sowie der von den Polen herbeigerufene deutsche Orden leisteten der deutschen Kultur ihre Pionierdienste. In den neugewonnenen Gebieten setzte eine gewaltige Einwanderung ein. Hoch- und Niederdeutsche strömten herzu und drängten die eingesessene slavische Bauern­ schaft zurück. Nicht mit dem Schwert, mit Glaubenseifer, mit Pflug und Hacke wurde der Hauptteil des Landes erobert. Im schärfsten Gegensatz zum Altlande gestalteten sich hier Recht und Wirtschaft. In diesen Kolonisationsgebieten galt der Eroberer als der Eigentümer des Landes. Das war der König, später der werdende Landesherr. So erschien von Anfang an alles auf eine herrschaftliche Spitze getrieben. Der Herr berief die Kolonisten; der Herr vergabte an die Unternehmer (locatores) den zu rodenden Grundbesitz; der Herr schuf die Grundzüge des neu erstehenden Kolonistenrechts. Da ein kriegstüchtiger Adel zur Verteidigung von Land und Leuten unvermeidlich war, wurden große, zusammenhängende Strecken an freie und unfreie Rittcrbürtige zu Lehen ausgeteilt. Fehlte also hier eine kräftige bäuerlich­ genossenschaftliche Autonomie, ein Selbstbcstimmungsrecht von unten her, so trat andererseits die räumlich geschlossene Grundherrschaft mit viel größerer wirtschaftlicher Wucht hervor als zu dieser Zeit im Altlande. Ein blühender Getreidehandel, bis dahin unbekannt in diesem Umfange, tat sich auf. Der größte Exporteur war der Orden selbst. Und noch ein dritter Gegensatz zur westlichen Hälfte trat hervor, der Gegensatz deutscher und slavischer Kultur, deutscher und slavischer Geistesrichtung, deutschen und slavischen Rechts.

Niedergang der bäuerlichen Freiheit.

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Es sind Gegensätze tiefster, urmenschlichster Art, die sich nie aus­ geglichen haben und nie ausgleichen werden. Was die Rechtslage anbetrifft, so stand es so: Der deutsche Bauer lebte im großen und ganzen als freier Mann auf seinem Gute, das er zu Erbzinsrecht innehatte. Diese Zinspflicht bildete — dies ist z. B. für Schlesien überzeugend nachgewiesen — den eigentlichen Kern der Grund­ herrlichkeit. Zinse und etwaige Dienste waren gemessen, abgesteckt, nicht in die Willkür der Herren gegeben. Die Wohltat der freien Bewegung, des freien Abzuges vom Gute, krönte die freiheit­ liche Stellung der Kolonisten. Anders der Slave. Er saß als recht­ lich und wirtschaftlich gebundener Mann auf seinem Hofe. Zu Fronarbeiten, zu Hand- und Spanndiensten aller Art verpflichtet, sah er sich der Roheit oder der Milde seines Grundherrn aus­ geliefert. Schon im 14. Jahrhundert setzten nun aber die Ver­ schiebungen ein, die mit dem schmählichen Niedergang auch der deutschen bäuerlichen Freiheit inWirtschaft und Recht endigten. Der Gründe dafür waren viele. Nicht in allen Gebieten gaben die gleichen Kräfte den Ausschlag. Auch das Er­ gebnis war- verschieden. In Schlesien und Pommern z. B. er­ fuhren die Bauern geringere Bedrückung als etwa in Ostpreußen. Aber überall zeigte sich das Bild: Die Bauern verloren ihr erb­ liches Recht am Gute. Mit dem Eindringen des römischen Rechts sah man ihr Besitzrecht als Emphyteuse oder als contractus libellarius im Sinne des langobardischen Lehnrechts an. Und wo der Bauer noch „erblicher Lassit" war, da nahm sich der Herr das Recht heraus, ihn auszukaufen (Bauernlegung). Riesenhafte Güter entstanden, wie sie der Süden und Westen nicht kannte. Alles war zugespitzt auf die Wirtschaft, die der Herr mit seinen Bauern selbst betrieb. (Daher der Name Gutsherrschaft im Gegensatz zur altländischen Grundherrschast.) Die Freizügigkeit verschwand. Die Dienste wurden gleich den slavischen zu ungemessenen Leistungen. Arbeits­ zwang griff um sich. Der deutsche Bauer sank in die Stellung eines Leibeigenen herab, der bald willkürlich von seinem Sitze losgerissen, bald nur zusammen mit seinem Gute (glebae adscriptus) veräußert werden durfte. Hoheitliche Rechte aller Art, vor allem Polizei- und Gerichtsgewalt gingen vom Staate auf die Grund­ herren über. Zwischen Staat und Bauern hotten sich Ritter und Rittergut eingeschoben. Ostholsteinische Gutsherren erklärten bereits 1572: alle Eingesessenen seien leibeigen, alle Güter seien der Herren Eigentum.

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Verhältnisse in der Schweiz.

So hatte sich im Osten alles verschoben. Eine Gutsherrschaft drückendster Art überzog das ganze Land und spät, viel zu spät, mischte sich endlich die Landesherrschaft ein. Bis in die Regierungs­ zeit Friedrichs des Großen lebten Leibeigenschaft und Erbunter­ tänigkeit fort. Ein tiefer, wirtschaftlicher und sozialer Bruch mit dem Westen war die Folge. Auf das 14., 15. und 16. Jahrhundert muß noch heute zurückgreifen, wer die Gegensätze von Ost- und Westdeutschland voll zu erfassen versucht, wer dem Bauern- und Adelsgeiste dieser Landstriche näher kommen will. 4. Die Verhältnisse in der Schweiz. Zu besonderen Bildungen kam es im Norden und im Süden Deutschlands, in Friesland und in Dithmarschen, sowie in den Bauerngemeinden am Fuße des Gotthard. Nur auf diese will ich kurz eingehen; denn sie zeigen die interessanteste Gestaltung. Auch war ihnen allein dauernder Erfolg beschieden. Das Eigenartige der urschweizerischen Entwicklung liegt darin, daß dort, in den Talgemeinden Uri, Schwyz und Unterwalden eine kleine Zahl entschlossener Bauern die Grundherrschaft zu stürzen und politisch freie Staatswesen zu gründen vermochte. Wie war das möglich? Wie konnten hier autonome Landdemo­ kratien entstehen, während sonst überall Landesherrschaft, Bann­ herrschaft und Gutsherrschaft mächtig um sich griffen? Diese Frage nach dem Ursprung der Eidgenossenschaft ist heiß umstritten. Be­ greiflich; denn sie klingt schließlich in die mit bedeutsamste Frage jeder Verfassungsgeschichte aus: Wie können sich genossenschaft­ liche Kräfte gegen eingewurzelte herrschaftliche Kräfte wehren? Neueste Forschungen gewähren uns treffliche Einblicke in den verwickelten Prozeß. Sie zeigen vor allem, daß eine Erklärung nur möglich ist, wenn ideengeschichtliche und institutionelle Grund­ lagen geschieden werden. a) In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde der Gotthardpaß erschlossen. Reger Verkehr mit Italien erwuchs daraus und verband die Waldlente der drei Täler mit den italienischen Bürger- und Bauerngemeinden. Diese standen aber damals in einem heißen Kampfe um ihre Freiheit. Im 12. und 13. Jahr­ hundert errangen diese Genossenschaften in Oberitalien weit­ gehende Siege gegenüber den herrschaftlichen Gewalten. Sie schüttelten wirtschaftliche und persönliche Unfreiheit ab. Sie durchbrachen die Fesseln der Grundherrschaft und der Leibeigen­ schaft. Sie machten sich politisch selbständig. Die benachbarten Gemeinden im oberen Tessin, die Talschaften Livinen und Blenio,

Gründung der Eidgenossenschaft.

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sowie die Stadtrepublik Como, haben mit ihren freiheitlichen Errungenschaften vermutlich unmittelbar auf die Waldstätten eingewirkt. Es ist wohl kein Zufall, daß das Italien zunächst gelegene Tal, daß Uri zuerst seine Freiheit erkaufte. Daher scheint mir die Behauptung ideengeschichtlich richtig zu sein: Bei der Entstehung der Eidgenossenschaft wirkten oberitalienische Einflüsse erheblich mit. Neben dem Willen zu wirtschaftlicher und per­ sönlicher Freiheit sind der Wille zu Politischer Selbstbestimmung und zu förderativem Zusammenschluß durch die italienischen Ver­ hältnisse mit bestimmt worden. Der „Freiheitsdrang" der Ur­ schweizer ist also nicht rein autochton entstanden. b) In Uri und Schwyz gab es viele freie Grundeigentümer. Für Unterwalden scheint seit neuestem dasselbe festzustehen. Grund­ herrliche Gebundenheit und persönliche Abhängigkeit spielten also von Anfang an eine geringere Rolle als in den Niederungen. Dabei ist aber immer daran zu erinnern, daß das Ziel der ersten Freiheitskämpfe ein politisches war, daß im ältesten Bund (um 1250) und in den Bünden von 1291 und 1315 keine allgemeine persönliche Freiheit proklamiert wurde. Das Zeuberwort: „Wir wollen frei sein, wie die Väter waren", ist nicht gesprochen worden. Vielmehr hieß es: Jeder Mann sei gemäß seines Standes seinem Herrn gebührend untertan und dienstpflichtig (subesse teneatur et servire. 1291). Daher muß der Begriff „Revolution" für den Befreiungsprozeß mit großer Vorsicht benutzt werden. Denn eine Revolution schüttelt das persönliche Joch ab. Die Freiheit von grundherrlichem und leibherrlichem Zwange waren in den Waldstätten nur Begleiterscheinungen und Folgen-des Kampfes um die staatliche Selbstbestimmung. c) Unter den treibenden Kräften, welche zum Zusammen­ schluß der Jnnenschweizer führten, mögen die verschiedenen großen Almendgenossenschaften an erster Stelle aestanden haben. Sie, diese Genossenschaften, waren in den Alpen von besonderer Wichtig­ keit. Sie drängten zur Einheit, wirtschaftlich, rechtlich, wie ver­ waltungstechnisch. Wie stark das Interesse an der Almende war, zeigen die Streitigkeiten zwischen Uri und Glarus, wie zwischen Schwyz und Einsiedeln. So entstand zu Zwecken der inneren Festigkeit, wie zu Zwecken der äußeren Selbständigkeit der Bund von 1291. Er ist historisch der Urbund für die Eidgenossen­ schaft. Er ist ein Schwurverband, eine freie Einung der Land­ leute von Uri, Schwyz und Nidwalden (Obwalden trat später bei). Er will „Hilfe und Rat für Personen und Gut innerhalb und außerFehr, Deutsche Rechtsgeschichte.

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Schweizerische Landsgemeinden.

halb der Täler gewähren gegen alle, die Gewalt, Mühsal und Un­ recht zufügen". Er legt sich eigene staatliche Rechte (namentlich Gerichtsrechte) und weitgehende Selbstverwaltung zu. Er schasst eine straffe innere Verbindung der drei Täler. Was wir so sehr vermißten in den Bauernschaften Deutschlands, das wurde hier zur Tat: die Organisation. Was sonst im Reiche nur die Städte und die Herren durchzuführen vermochten, das vollbrachte oben am Gotthard das bäuerliche Element. Dort oben lebte ein Gemein­ schaftsbewußtsein, das zu unvergänglichen Bindungen in Staat, Wirtschaft und Recht führte. Und doch glaube ich kaum, daß sich der bäuerliche Schwurverband allein zu halten gewußt hätte. Der Bund von 1291 und der spätere Schwur von 1315 (nach der Entscheidungsschlacht bei Morgarten) würden heute kaum als Geburtsereignisse eines festgefügten Staates dastehen, wenn nicht ein zweites hinzugekommen wäre: der Bund mit den Städten. (Luzern 1332, Zürich 1351, Glarus und Zug 1352, Bern 1353.) Die Städte aber ließen sich ihrerseits nur herbei, in den Bauern­ bund einzutreten, wenn ihnen größere Bewegungsfreiheit zu­ gebilligt wurde, als sie die Landleute unter sich genossen. So weist bereits der Züricherbund von 1351 die Klausel auf, es solle jedem Bundesglied freistehen, sich mit anderen Herren oder Städten zu verbinden. Durch kluge, weitschauende Politik ist also die Eid­ genossenschaft erweitert worden zu einer Gemeinschaft, die schließlich (1353) aus sechs verschiedenen, selbständigen Bünden bestand. Die glückliche Zusammenarbeit von Stadt und Land, von Bürger und Bauer hat die acht alten Orte gegen die Stürme aller Zeiten gesichert, hat der genossenschaftlich­ demokratischen Idee zum Siege verholfen. d) Rasch gelangten die auf sich selbst gestellten Gemeinwesen zu eigenen Organen. Es sind die Landsgemeinden. Diese gehen nicht auf das germanische Konzilium (§ 4) zurück, wie man vermutete. Es sind Neuschöpfungen des 13. und 14. Jahr­ hunderts, die aus der alten Gerichtsversammlung und aus den Almendgenossenschaften herauswuchsen. Letztere mußten be­ sonders wirksam sein für den genossenschaftlichen Zusammenschluß aller Männer; denn diese Markgemeinden dehnten sich über freie, halbfreie und unfreie Grundbesitzer aus. Anfangs nur gelegentlich zusammengerufen, entwickelten sich diese Landsgemeinden zu ständigen Einrichtungen der jungen Staatswesen. Sie verkörperten in echt demokratischem Geiste das Land und besaßen die höchste Ge­ walt im Staate. Jdeengeschichtlich weisen sie insofern einen engen

Tiefstand des Gerichtswesens.

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Zusammenhang mit dem germanischen Konzilium auf, als sie sich während des Mittelalters im Besitz der hohen Gerichtsbarkeit fanden. Ich verstehe es Wohl, daß eine Reihe von Kantonen heute noch die Landsgemeinde beibehalten hat. Man kann sich kein lebensvolleres Bild von den alten Demokratien verschaffen, als wenn man die Männer eines Kantons vereint zusammenstehen sieht unter ihrem Landamman, alle zusammen an einem Tage und auf einem Platze.

Das Gerichtswesen. 1. Der Niedergang des Gerichtswesens. Die Kurfürstenzeit weist ein trauriges Gerichtsbild auf. Die alten fränkischen Grundlagen der Gerichtsverfassung waren zer­ fallen und neue gesicherte Einrichtungen noch nicht geschaffen. Die Landgerichte hatten sich großenteils aufgelöst; denn Adel und Bauern nahmen seit dem 13. Jahrhundert an getrennten Instanzen ihr Recht. Die Niedergerichte, vielfach allodial geworden, hatten oft jeden Zusammenhang mit dem Staate verloren. Sie waren zum Spielball geldmäßiger, rein pcivater Operationen geworden. Der Adel stellte sich nur widerwillig dem ordentlichen Richter. Er war bedacht alle seine Händel vor gewillkürten Schiedsgerichten austragen zu lassen. Die Städte beobachteten ängstlich das Ziel, sich gerichtsherrlich völlig unabhängig vom Lande zu halten, und die geistlichen Gerichte griffen dauernd in das weltliche Gebiet ein. Die territorialen Gerichtsgrenzen gerieten in Verwirrung; jeder suchte seine Gerichtsbarkeit räumlich auszudehnen, soweit er konnte, bis endlich ein Nürnberger Reichsabschied von 1438 bestimmte, kein Land-, Stadt- und Dorfgericht dürfte Gerichts­ barkeit über seine Grenzen hinaus ausüben. Richtertum und Ver­ waltungsamt gerieten aneinander. Der mit Regierungsgewalt betraute Beamte maßte sich in Stadt und Land richterliche Gewalt an. Die Richter wurden vielfach seine gefügigen Kreaturen. Poli­ tische Rücksichten trübten die Rechtsprechung. Tausende von Ver­ brechern entzogen sich der Justiz. Über Acht und Aberacht lachte man. In Zivil- und in Strafsachen fehlte in vielen Fällen die Vollzugsmöglichkeit. Das Urteil war gefällt, die Exekution aber ging jahrelang nicht vor sich. Zahlreiche Gerichte waren überhaupt nicht besetzt. Es mangelte an Richtern, wie an Urteilsfindern. Und das Schlimmste von allem zeigte sich in der Grundsümmung der Gerichtsherren. Die Gerichte waren in großer Zahl zu reinen Einnahmequellen geworden. Man beutete sie aus 11*

§ 3S.

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Landfriedensgerichte.

Wie Regalien, wie Nutzungsrechte. Man zwang die Leute zu häufigem, regelmäßigem Erscheinen vor Gericht, um bei ihrem Ausbleiben eine Buße einziehen zu können, wie dies schon bei den verwilderten fränkischen Grafen vorgekommen war. Man dehnte die Sühnegerichtsbarkeit wieder aus, tr. h. man sah von der offiziellen Leibesstrafe ab und gestattete die Ablösung in Geld. Und wurde die Lebensstrafe an einem armen Teufel wirklich vollzogen, so schacherten die Gerichtsherren noch um dessen Hinterlassenschaft, ja sogar um die Kleider, die er am Leibe trug. Genug ! Man richtete nicht mehr um der Gerechtigkeit willen, sondern um seine Tasche zu füllen. Habgier, nicht Liebe zum Recht, leitete den Richter und seine Untergebenen. 2. Die Landfriedensgerichte. Diesem zerrütteten Gerichtswesen suchte man beizukommen, durch die Aufrichtung von besonderen Gerichten, den Landfriedens­ gerichten. In einer Reihe von Territorien wurden solche,, teils mit Unterstützung des Reiches, teils allein durch die Landesherren, eingesetzt. In Thüringen gab es z. B. einen capitaneus (Haupt­ mann) et duodecim pacis conservatores (1296). Durch den Land­ frieden von Eger (1389) wurden acht Richter und ein „Obermann" gekürt, „die über den landfrid geseczet sein". Die Großen, die den Landfrieden errichtet halten, garantierten für sich und ihre Unter­ tanen die Einhaltung des Friedens auf bestimmte Zeit. Was der Staat nicht vermochte, suchte man auf dem Vertragswege, auf dem Wege der Einung zu erreichen. Je-e Handlung, wie etwa Raub, Mord, Brand, unrechtmäßige Gefangennahme oder wider­ rechtliche Fehde, galt als Friedensbruch und gehörte in die Kompe­ tenz des Friedensrichters, der ganz besonders dann hervortrat, wenn es sich um größere verbrecherische Unternehmungen handelte. Den Richtern wurde ein Eid abgenommen, „gemeine richter zu sein getrewlichen dem armen und dem reichen an geverde" (1389). In Bayern war der Friedebrief in jede Sitzung mitzubringen (1281). Was diese Gerichte zu wirklich fruchtbaren Hütern des Rechts machen sollte, war das Exekutionsverfahren. Gerade daran fehlte es, wie wir wissen, gerade hier wollte man einsetzen. Adel und Städte wurden verpflichtet, auf Ansuchen des Friedensrichters sofort herbeizueilen und ihm „toto posse auxilium et iuvamen" zu gewähren (1282). Die in der früheren Periode nur in Anfängen begriffene Gerichtsfolge wurde jetzt zu einem ordentlichen System der Nacheile organi­ siert. Vorerst waren die zunächst Sitzenden zur Verfolgung ver-

Die Veme.

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pflichtet und dann immer weitere Kreise, bis man endlich des Täters habhaft wurde. Es ist sehr kennzeichnend für die späteren Land­ frieden, daß sie weit weniger als ihre jüngeren Geschwister mit dem Gespenst der Acht drohten. Man wollte nicht ächten, man wollte den Täter haben, um an ihm die Strafe des Landfriedensbruches (Tod oder Verstümmelung) zu vollziehen. Das wirksame Ein­ greifen auf dem Gebiete des Strafrechts ging von diesen Gerichten weit mehr rls von den Landgerichten aus. Vermutlich sind es auch die Friedensgerichte gewesen, welche zuerst den Versuch wagten, mit der Ablösung der peinlichen Strafen grundsätzlich zu brechen. Bisweilen gab man dem Hauptmann im F^iedensbezirke eine ausgewählte berittene Truppe an die Hand (Wetterau 1371). Der Gedanke der Landgendarmerie war damit erwacht. Es ist begreiflich, daß in diesen wüsten Zeiten nicht der Augen­ blicksverbrecher, sondern der Gewohnheitsverbrecher die Person war, vor der man besonders auf der Hut sein mußte. So bildete sich der Begriff der „schädlichen Leute", der terre dampnosi (1232) aus. Zu ihnen zählten in erster Linie eben die Gewohnheitsverbrecher, aber auch Leute, die eine so schwere und gemeine Missetat hinter sich halten, daß man ihnen weitere Friedensbrüche zutraute. Das Reich verpflichtete im Jahre 1235 seinen Hofrichter, sie mit Namen in einem Buche zu verzeichnen. In enger Fühlung mit den Land­ frieden bildete sich für die schädlichen Leute ein Strafverfahren, welches darin gipfelte, daß der Richter von Amts wegen gegen sie einschreiten durfte. Kritisch sei bemerkt, daß diese Landfriedenseinrichtungen, mit heutigen Augen gesehen, ihre Aufgaben nicht erfüllten. Gewiß, manches im Reich wurde besser. Aber aufatmen konnte man erst, als das Reich sich endlich aufraffte, die Fehde gänzlich zu verbieten (1495), als die Landesherren den widerspenstigen Adel über­ wunden hatten und durch Reformation und Renaissance eine andere Denkweise in die Menschen gekommen war. 3. Die Veme. Die berühmten und berüchtigten, von geheimnisvollem Zauber umwölkten Vemgerichte verdankten ihre große Bedeutung eben­ falls der Sehnsucht nach besserer Rechtspflege und nach rascherer Verfolgung der Missetäter. Sie gingen hervor aus alten Grafen­ gerichten in Westfalen und trugen den Namen Freigerichte, weil dort der freie, stolze, hartnäckige westfälische Bauer seinen Gerichts­ stand im Grafengericht nicht eingebüßt hatte. Kaiserliche Gerichte hießen sie, weil die unmittelbare Verbindung der Richter mit dem

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Ausbreitung der Veme.

Reiche erhalten geblieben war: der Kaiser stattete die „Freigrafen" mit dem Blutbanne aus und vermochte jede Vemsache an sein Gericht zu ziehen. Auch nachdem der Erzbischof von Köln, als Herzog von Westfalen, die Befugnis erhalten hatte, den Bann zu leihen (1382), galt der König doch immer als „öbrester herre und richter" über alle Frfistühle. Zunächst beschränkte sich die Tätigkeit der Vemgerichte auf die rote Erde. Aber in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nahmen sie eine Kompetenz für ganz Deutschland in Anspruch, was wahrscheinlich auf ihre Stellung als kaiserliche Gerichte und mehr noch auf die im Reich verkümmerte Gerichts­ barkeit zurückzuführen ist. Nur wegen bestimmter Freveltaten durfte einer nach Westfalen geladen werden. 1408 werden genannt: Diebstahl, Verräterei, Kirchenschändung, Notzucht, Raub und Plünderung an Kindbetterinnen, heimlicher Mord, Beraubung in der Fehde ohne rechte Widersage und Meineid. Und nur dann konnte vor dem Freigericht geklagt werden, wenn der Kläger im ordentlichen Gericht des Beklagten nicht zu seinem Rechte gelangen konnte (wie dies seit 1235 auch die Voraussetzung rechtmäßiger Fehde war). Der Riesenerfolg, welchen die Veme im 15. Jahrhundert erzielte, gründete sich: 1. auf ein sehr geschickt durchgeführtes System der Vervemung. Wer, vor den Freistuhl geladen, nicht erschien oder, wer dort verurteilt, fliehen konnte, wurde verfemt. Fortan durfte jeder Schöffe, wo er den Vervemten traf, diesen töten. Die Veme hatte es dazu gebracht, eine der Oberacht ähnliche Friedloslegung der Missetäter verhängen zu dürfen. 2. Auf eine fein erdachte Geheimtuerei, die unter den Schöffen und Freigrafen ausgebildet wurde. Nur die Schöffen und Freigrafen waren „Wissende", d. h. Leute, welche die heiligen und unheiligen Gebräuche der Veme kennen durften. Strengste Geheimhaltung aller Vemsachen war vorgeschrieben. Gewisse Gebärden oder ein unerklärtes Notwort, angeblich von Karl dem Großen gegeben, bildeten da und dort die (Äkennungszeichen. Wer die Heimlichkeit der Veme brach, galt als Verräter. Ihn traf furchtbare Strafe. Nach einem Rechtsbuche soll man ihm die Hände zusammenbinden, ein Tuch um seine Augen legen, ihn auf den Bauch werfen und seine Zunge zum Nacken herauswinden. Dann einen dreifach geflochtenen Strick um seinen Hals legen und ihn sieben Fuß höher henken, als einen vervemten Dieb. All diese Mysterien wirkten gewaltig auf die Menge ein. Zieht doch nichts den Menschen so tief in seinen Bann als das Geheimnis-

Medergang der Veme.

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volle. Tausende drängten sich herzu, um die Eigenschaft eines Schöf­ fen zu erwerben. Über hunderttausend Wissende verbreiteten sich zuletzt über das Reich. Eine der größten Massensuggestionen, die das Mittelalter erlebte! 3. Auf die Rügetätigkeit der Schöffen. Sie waren berechtigt und verpflichtet, alle vemrügigen Sachen vor Gericht zu bringen, sobald sie von ihnen Kenntnis hatten. Man brauchte keinen Kläger abzuwarten. Von Amts wegen schritt die Justiz ein. 4. Auf ein sehr schneidiges Voll­ streckungsverfahren gegen verurteilte Leute.. Durch einen auserwählten Schöffen wurde der Vervemte sofort dem Strange übergeben. Ja, wenn eine Handhafte Tat vorlag, wenn der Täter bei oder unmittelbar nach Begehung der Tat überrascht wurde, so durfte er von drei Schöffen ohne weiteres Urteil am nächsten Baum aufgeknüpft werden. Zum Geheimwesen traten also noch Furcht und Entsetzen und vollendeten die zauberhafte Umwelt dieser Gerichtseinrichtung. Aber die Veme hatte sich selbst überspannt, wie so viele gut begonnene Dinge im Reich. Gerade gemeine und verdächtige Kreaturen suchten Aufnahme, so daß der Frankfurter Reichsabschied von 1442 sagen konnte, „gemeiner nutz und fried" im Reich werde gestört, weil gebannte, verachtete, uneheliche, meineidige und unfreie Leute zu Schöffen gemacht würden. Auch begann man das Schöffen­ amt gegen Entgelt zu vergeben und damit ein Geschäft zu machen. Als dann die Veme sogar mit dem Kaiser Friedrich III. selbst in Konflikt geriet, war ihr Schicksal besiegelt. Mit dem Ausgang der Kurfürstenzeit sank sie zu einer angefeindeten und verachteten Einrichtung herab, die nur noch in ihrem Ursprungslande, in West­ falen, letzte Reste ihres Glanzes aufwies. 4. Das Gerichtswesen in den landesherrlichen Gebieten. a) Kraft der Gerichtshoheit der Landesherren wurde die ganze Gerichtsorganisation eine Landessache, wie bereits gesagt. Ein buntes Bild begann jetzt auch auf diesem Gebiete sich zu entfalten, und wir müssen uns mit der Aufzählung weniger Grundzüge begnügen. Die Blutgerichtsbarkeit und die Gerichtsbarkeit über Grund und Boden vermochte der Landesherr den unteren Gewalten zu entreißen. Wo er sie nicht selbst ausübte oder durch eigene Richter versehen ließ, da galt er wenigstens als oberster Gerichtsherr, von dem die Gerichtsgewalt abgeleitet wurde. Auch allodial gewordene Gerichte wußte er wieder in irgend einer Weise mit der Landes­ herrschaft zu verbinden. Die Volksrichter drängte er nach Möglich-

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Mittlere Gerichtsbarkeit.

feit zurück. Nun hatte der Territorialherr am eigenen Leibe erfahren, wie gefährlich belehnte Richter waren.. Wollte er in seinem Lande nicht erleben, was der König im Reiche durchgemacht hatt'', so mußte er auf eine günstige Gestaltung des Lehnrechts bedacht sein. Und er hatte Erfolg damit. Das territoriale Lehnrecht schlug zugunsten des Landesherrn um, so daß sich aus seinen belehnten Richtern nicht wiederum selbständige Gerichtsgewalten entwickeln konnten. Die Vassallen blieben in Unterordnung unter ihrem Herrn. Aber die Fürsten gingen noch einen Schritt weiter. Sie suchten aus belehnten Richtern wieder beamtete Richter zu machen. Und auch dieses glückte vielerorts. Der Herzog von Jülich-Berg z. B. besetzte seine Ravensberger Gogerichte durchwegs mit Beamten, die im Namen des Herzogs richteten, vom Herzog vereidigt wurden und von ihm ein- und abgesetzt werden konnten. Ein Riesenfortschritt in der Stärkung der landes­ herrlichen Gewalt! Ja selbst dabei blieben die Landesherren nicht stehen. Gerichtsbarkeit und Verwaltung wurden derart verschmolzen, daß der gefügige Verwaltungsbeamte Einfluß auf Bestellung und Entlassung der Richter erhielt oder sogar den Vorsitz in dem Gerichte selbst an sich riß. In der Stadt geriet, wie wir wissen, das Gericht in Abhängigkeit vom Rate. b) Zwischen die Hoch- und die Niedergerichtsbarkeit schob sich immer deutlicher ein Zwischenglied ein, das man mittlere Gerichtsbarkeit nennen kann. Sie mag sich gegründet haben auf Splitter alter Grafengerichte oder auf Jmmunitätsgerichte. Häufig stand sie in der Luft ohne historische Titel. In den Quellen finden wir sie meist bezeichnet mit „Dieb und Frevel" (Buße von 60 Schillingen). Mittelrichter war ein kirchlicher und klösterlicher Vogt oder aber ein weltlicher Herr. Der Mittelrichter besaß Hochgerichtsbarkeit, namentlich die über Diebstahl und Totschlag. Aber er vermochte das Urteil nicht zu vollstrecken. Der Mittelrichter hatte volle Gerichtsgewalt, aber keine Vollzugsgewalt. Urteilsfällung und peinlicher Strafvollzug gingen auseinander. Die Vollstreckung stand beim Landesherrn oder dessen Richter. Der Verurteilte mußte häufig „nur mit dem Gürtel umfangen" zur Hinrichtung ausgeliefert werden. Nicht selten befanden sich die Mittelrichter und die Landes­ herren in einem starken Gegensatz Die ersteren suchten ihre Tasche zu füllen und drängten daher die Sühnegerichtsbarkeit möglichst in den Vordergrund. Sie gestatteten in zahlreichen Fällen den Abkauf der Strafe. Der Landesherr dagegen, dem es auf die

Landesherrliches Hofgericht.

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Stärkung der öffentlichen Gewalt ankam, verlangte die Leibes­ strafe und suchte die Ablösung zu verbieten. Viele Quellen über­ liefern daher für den Mittelrichter die Verpflichtung, den verurteilten Missetäter unter allen Umständen zur Vollstreckung auszuliefern. Gerade hierin tat sich aber eine weite ständische Differenzierung auf. Die Leibesstrafe wurde häufig nur den niederen Ständen gegen­ über angewandt, während der Adel „nach Gnade" gerichtet wurde, d. h. der Landesherr konnte Strafe oder Strafvollzug nach Will­ kür festsetzen. Eines der besten Beispiele dafür ist der erste Freiheits­ brief für die bayerischen Stände von 1311. In diesem Sinne ge­ winnt das Sprichwort eine bestimmte juristische Bedeutung: „Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen". c) Von oben her, nicht von unten, gewinnt die Gerichts­ verfassung feste Formen. Der Landesherr richtete vor allem einen Jnstanzenzug ein. Er schuf mit seinen Räten ein Hof­ gericht als zweite Instanz. Da, wo er ein privilegium de non appellando erzielt >, wurde eine dritte Instanz eingesetzt. Diese Hofgerichte sind, soweit sie überhaupt historische Vorgänger haben, aus Grafengerichten oder — wie z. B. in der Mark Brandenburg — aus alten Landtagen hervorgegangen. Mit diesen Hofgerichten bekam der Landesherr eine wirksame Gewalt über seine Gerichte, und daher dehnte er deren Kompetenz möglichst weit aus. Mit am bedeutsamsten war die Zuständigkeit in Bayern. Dort konnte ein Rechtsstreit, der vor einem Land- oder Stadtgericht erledigt war, auf Verlangen einer Partei stets vor das landesherrliche Hofgericht gebracht werden. In diese Gerichte drang nun schon frühe römisches Recht ein. Die in Italien geschulten Juristen wurden vom Landes­ herrn bereitwilligst zugezogen. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts finden wir Rechtsgelehrte im Amte. Als einer der ersten tritt in Bayern auf: Meister Thomas Pirkheimer, Lehrer beider Rechte (1448). Die Landstände sahen aber mit mißtrauischen Augen auf diese Verfechter fremden Rechtes. Sie fürchteten eine Beein­ trächtigung ihrer alten Gebräuche und Privilegien und beschwerten sich daher beim Herzog (1499). Aber der Landesfürst konnte sich nicht entschließen, die Juristen wieder zu entlassen. Er machte nur das Zugeständnis, es sollten die ungelehrten Richter stets die Mehrheit bilden. Auf diese Weise haben die landesherrlichen Hofgerichte wesentlich zur Aufnahme des römischen Rechts beigetragen. Und mit Hilfe des römischen Rechts ist die Auf­ richtung einer straffen Staatsgewalt erst möglich geworden.

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Reichshofgericht.

Der Landesherr selbst konnte von seinen Untertanen am Reichs­ hofgericht verklagt werden. Aber dies war eine rein theoretische Möglichkeit; denn niemand wagte es in jener Zeit, den Fürsten in das Recht zu rufen. Die Folge blieb nicht aus. Es wurde in vielen Fällen überhaupt kein Recht gegeben, in anderen Fällen das Urteil nach politischen Gesichtspunkten gefärbt. Vom Landes­ herrn Verpflichtungen auf gerichtlichem Wege zu erzwingen, gab es praktisch kein Mittel. Der Adel griff zur Fehde oder zu anderer Art der Selbsthilfe. So ließen sich z. B. Mitte des 14. Jahr­ hunderts Vassallen und Städte der Mark Brandenburg die landes­ herrliche Versicherung geben: sie dürften sich bis zur Erfüllung der fürstlichen Pflichten einem anderen Herrn zuwenden. 5. Das Gerichtswesen im Reiche. a) Einige Landgerichte waren unmittelbare Gerichte ge­ blieben. Der König stand über ihnen als ihr Herr, und sie besaßen daher die Vorrechte des Königsgerichts, vor allem das Recht, die Reichsacht zu verhängen. Zu ihnen zählten z. B. die königlichen Landgerichte von Ingelheim, Rottweil und das auf der Leutkircher Heide. b) ‘ Die beiden großen Reichsgerichte, das Reichs­ hofgericht und das spätere Reichskammergericht, sind aus königlichen Privatgerichten hervorgegangen. Wie der König seit alter Zeit mit ausgewählten Dynasten Beratungen pflog für Regierungsangelegenheiten, so zog er vertrauenswürdige Männer herbei, um mit ihnen Recht zu sprechen. Alles war un­ geordnet oder willkürlich geordnet bis 1235. Seit dem Mainzer Gesetz treffen wir einen ständigen königlichen Hofrichter an, der alle Tage Gericht halten sollte, „ane (ohne) den suntag und ane groze hohziten(Festtage)". Die Ständigkeit des Gerichts war damit anerkannt. Der Hofrichter sollte allen Leuten richten „ane fürsten und ander hohe liute, swa ez get an ir lip oder an ir reht oder an ir ere oder an ir erbe oder an ir len, und von anderen hohen fachen. Daz wellen wir (der König) selbe rihten". Der Hofrichter besaß also die Kompetenz über alles, was sich der König nicht ausdrück­ lich Vorbehalten hatte. Zu den reservierten Rechten gehörten neben den genannten auch die Verhängung der Acht und die Entlassung aus der Acht. Dem Richter wurde ein Hofschreiber zur Seite ge­ geben. Er sollte ein Laie sein, was damit begründet wurde: „dar umb, ob er anders tu, denne reht ist, daz ez im an den lip ge". Man konnte nur einen Mann brauchen, über dem das Damokles­ schwert des Todes schwebte. Dieses Hofgericht hat keine großen

Reichskammergericht.

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Lorbeeren geerntet und stand teilweise vollkommen stille. Vor allem vermochte es ein Hauptziel nicht zu erreichen, den Schutz des Land­ friedens und die Bestrafung von Fehdeexzessen. Es stand von Anfang an auf schwachen Füßen und hatte zwei große Gegner. Einmal die Austrägalgerichte, d. h. die öffentlich anerkannten Vertragsgerichte der Fürsten und Reichsstädte. Streitigkeiten unter­ einander und Streitigkeiten dieser Mächte mit Dritten wurden vor diesen Austrägen durchgefochten. Zweitens fiel es dem König nicht ein, sein privates Gericht, das er mit seinem Hofmeister und seinen Räten hielt, aufzugeben. Der Herr des Reiches amtete weiter, nahm Appellationen vom Reichshofgericht an oder trat auch, von einer Partei angerufen, sofort als höchste Instanz auf. Und — menschlich wie juristisch leicht faßbar — man hatte das größere Zutrauen zu einem Gerichte, dem der König selbst Vor­ stand, als zu einem Hofrichter, der nur des Königs Untergebener war. Ein unmittelbar königliches Urteil in der Hand zu habxn, galt als das sicherste. Das Reichshofgericht ertrug diese Kon­ kurrenz nicht. Es schloß um die Mitte des 15. Jahrhunderts seine Pforten auf ewig zu. c) Das Privatgericht des Königs, im 15. Jahrhundert bereits Kammergericht genannt, vermochte aber die gtoßen gerichtlichen Aufgaben des Reiches auch nicht zur Zufriedenheit zu lösen. Die Klagen über die Vernachlässigung der obersten Gerichtsbarkeit waren allgemein. Es wirst ein Helles Licht auf die pekuniäre Aussaugung aller Hoheitsrechte, daß die Rechtsprechung erst besser wurde, als Adolf von Mainz das Kammergericht auf 5 Jahre gepachtet hatte (1470 bis 1475). Nachher wieder der alte Schlen­ drian! Das Bestreben der Kurfürsten und Fürsten ging daher dahin, das Gericht vom Kaiser möglichst unabhängig zu machen, aus einer königlichen Einrichtung eine Reichs ei nrichtung zu schaffen. Seit 1486 ließen ihm die Stände keine Ruhe mehr. Sie stellten einen eigenen Entwurf einer neuen Kammergerichtsordnung auf, nach welchem die Kurfürsten und die übrigen Stände die Beisitzer ernannten. Aber in Fluß geriet die Reform erst mit dem Tode des Kaisers und mit dem tatkräftigen Eingreifen des Kur­ fürsten Berthold von Mainz. Auf dem Reichstage zu Worms kam es dann zur Einsetzung des neuen Reichskammergerichts (1495), das aus einem Kompromiß zwischer Kaiser und Ständen hervorging.

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36.

Niedergang des Lehnsheeres.

Das Heerwesen.

1. Die erste Wandlung. Seit dem 13. Jahrhundert geridt die Grundlage der Heerverfassung, das Lehnwesen, immer stärker in Verfall. Zwar dienten noch viele belehnte Ritter im Heere. Aber in der Kurfürstenzeit trat das Söldnerheer bereits als ebenbürtiges Glied neben das Lehnsheer. Die Ritter waren zum Teil rein dekora­ tiver Natur geworden.. Gerade an Prunkhafter und feierlicher Schön­ heit hält ja ein Volk am längsten fest. Drei Gründe riefen den Niedergang des Lehnheeres hervor. a) In vielen Gegenden finden wir den deutschen Adel herunter­ gekommen. Vor allem der niedere Adel war verarmt und suchte durch Beute- und Raubzüge, statt durch Arbeit und Fleiß sein Leben zu fristen. Er fand sich daher nicht mehr gewillt, die Lehnsverpflichtungen kostenlos zu tragen. Er verlangte Vergütungen für jeden längeren Kriegszug, einen Sold, den der König oder der aufbietende Landesherr zu zahlen hatte. Vom besoldeten Belehnten bis zum besoldeten Landsknecht blieb daher nur noch ein kleiner Schritt, b) Die veränderte Taktik war ein schwerer Schlag für das Reiterheer. Man fing schon im 13. Jahrhundert an, wieder größere Massen von Fußvolk zu verwenden. Im 14. Jahr­ hundert trat die Feuerwaffe dazu, die gefährlichste Waffe für einen Reiter. Im 15. Jahrhundert errangen die Hussiten große Erfolge, vor allem mit ihren Wagenburgen, an denen der Reiterangriff fruchtlos zerschellte. So drängten Erfindung und neue Taktik auf Abschaffung der Lehnskavallerie. Denn zu Fuß zu dienen, fiel keinem Vassallen ein. c) Das dritte Moment bildeten die Städtt, im aktiven wie im passiven Sinne. Aktiv beteiligte sich der Städter grundsätzlich nicht am Feldzuge. Er zahlte Steuern und kaufte sich dafür Leute, die lebenslustig und todesmutig zu­ gleich, für ihn zu fechten begehrten. Die Stadt stellte Söldner in immer größeren Massen. Der Söldner kämpfte überwiegend zu Fuß, wiewohl es auch eine Fülle von Soldrittern gab. Passiv drängten die Städte auf das Fußheer und damit auf das Sold­ system hin, weil sie meist lange belagert werden mußten, bevor sie kapitulierten. Was half da ein Reiterheer, das doch die Mauern nicht erklimmen konnte! Kein Wunder, daß diese Momente im Laufe unserer Periode das Lehnsheer verdrängen mußten, daß das Soldsystem an Stelle des Lehnssystems trat, sowohl im Reich wie in den Territorien.

Neubildung des Volksheeres.

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Wir haben Einrichtungen, welche den Übergang trefflich illustrieren. So verpflichteten sich z. B. Mitte des 14. Jahrhunderts österreichische Vasjall en, reisige Leute gegen Entgelt zu stellen. Der Lehensmann wurde zum Unternehmer, welcher seinerseits Söldner (solidarii) warb. Oder: im 15. Jahrhundert hatte es der österreichische Lehnsadel dahin gebracht, nur noch gegen Sold zu dienen außerhalb seines Landes. In einem Schreiben König Ruprechts von 1401 ist gesagt, jeder Fürst und Herr, der mit 40 Gleven (2 Reiter und 3 Pferde bildeten eine Gleve) einrücke, erhalte einen Monatssold von 1000 rheinischen Gulden. Das Soldwesen züchtete das Unter­ nehmertum. Der Führer war der Unternehmer, der den Sold erhielt und von sich aus unter möglichst günstigen Bedingungen Krieger anwarb. Das Kriegshandwerk wurde zu einem spekulativen, wirtschaftlichen Unternehmen. Das Reis­ laufen ernährte die Bevölkerung weiter Gebiete, z. B. der Schweiz. Man betete zu Gott um guten Sold und reiche Beute, ähnlich wie die Bewohner der Küsten um einen gesegneten „Strand" flehten. Weiter denn je war man davon entfernt, den Dienst als Untertanendienst, als Leistung an den Staat aufzufassen. Dem Meistbietenden sagte man sich zu, und mancher deutsche Fürst hat mit deutschen Soldscharen gegen das deutsche Reich gekämpft, besonders im Bunde mit den Westmächten. Das Soldsystem war der größte Feind des Vaterlandsgedankens. 2. Die zweite Wandlung. Die andere große Verschiebung berührte das Reich nicht. Sie vollzog sich nur innerhalb der landesherrlichen Gebiete. Sie bestand in der Neubildung des Volksheeres. Im 15. Jahr­ hundert begann man die Bauern neu zu organisieren. Da und dort hatten sich Reste des alten Heerbannes erhalten. Da und dort trifft man auf ein wohleingerichtetes bäuerliches Landfolgesystem. Aber überwiegend bildete sich die neue Kriegspflicht der Bauern aus der Gerichtsfolge, nicht aus der Heerfolge heraus. Für Bayern läßt sich dies z. B. einwandfrei nachweisen. Das Schwinden feudaler Vorstellungen, die Notwendigkeit, stärkere Truppenmassen zu Fuß zu verwenden, und die größere Billigkeit der Bauernkrieger gegenüber Söldnern und Lehnsleuten vernnlaßten Landesherren und andere Dynesten, die Bauern heeresmäßig zu organisieren. Das Bauernheer war reines Ver­ teidigungsheer. Es wurde nur aufgeboten zur Verteidigung seiner Gerichtsbezirke, wobei zuweilen das treffliche Wort ver­ wirklicht wurde: die beste Verteidigung ist der Angriff. In Österreich

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Reformen im Reiche.

hob man z. B. im Jahre 1426 je den zehnten Mann im ganzen Lande aus zum Schutze gegen die Hussiten. Jetzt fing man an, eigentliche Musterungen der Bauernmiliz einzuführen (sog. Harnisch schau). Jetzt wurden die Waffen rechtlich mit einem bestimmten Hauswesen verbunden, zu dem sie als unveräußerliches Zubehör gehörten. Jetzt verbot man die Ausfuhr von Kriegsgerät aller Art, wie es etwa im Appenzeller Landrecht von 1585 heißt: es soll auch niemand kein Harnist, Bantzer, Musqueten noch Waffen nit für daß Landt aus Verkauffen, bey der Buoß von 5 Pfund Pfennig, außgenommen welche mit unseren Landleutten in Krieg zihend, denen Mag man wohl Waffen zu Kauffen geben". Durch das bäuerliche Volksheer ist die Idee neu erwacht, der Heeresdienst sei Untertanendienst, die Heerespflicht sei Bürgerpflicht. Das bäuerliche Volksheer hat daher zur Bildung und Fortbildung des Staatsgedankens wie des Vaterlandsgedankens beigetragen. Freilich, große Erfolge, wie etwa in der Schweiz und in Dithmarschen, errang das Volksheer nur selten. Dem Bauern war durch die lange Ausschaltung aus Heer und Fehde der kriegerische Sinn abhanden gekommen. Der Nährstand konnte mcht mit einem Schlage wieder zum Kriegerstand werden. Auch fehlte es an militäri­ schen Übungen, die ihn ordentlich geschult und im Schießen aus­ gebildet hätten. So versagte der Bauernkrieger in vielen kritischen Augenblicken, und der Söldner hat vor seinem bewaffneten Vetter niemals großen Respekt gehabt. 3. Reformbestrebungen im Reiche. Wie im Gerichtswesen, so kann man auch im Heerwesen dem Reiche nicht den Willen zu Verbesserungen absprechen. Aber dort wie hier hat der Elefant nur eine Mücke geboren. — Anknüpfend an die alten Einrichtungen ist zunächst festzustellen, daß jeder Angriffskrieg auf einem Reichstag beschlossen und die Pflicht zur Heerfahrt bis ins 13. Jahrhundert von den Großen beschworen wurde. Den Heerbefehl erließ der König, wie er auch den Sammel­ punkt bestimmte. Stets wurden nur Teile Deutschlands auf­ geboten, und man muß, was die Zahl anbetrifft, den Quellen, besonders den Chronisten gegenüber, sehr vorsichtig sein. Sie übertreiben ins maßlose. Ein Heer von hunderttausend Mann war im Mittelalter eine Seltenheit. — Heerfahrt und Rom­ fahrt blieben scharf geschieden. Für die Fahrt „9ein Lamperten" (Lombardei) brauchte der König nicht mit der Reichs­ behörde zu verhandeln. Hierfür bestand für die Reichsstände eine reichsrechtliche Verpflichtung. Aber wenn man das Aufgebots-

Soldsystem.

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schreiben König Ruprechts von 1401 an die Stadt Straßburg und an die Fürsten und Herren des Reiches liest, so gewinnt man eher den Eindruck einer königlichen Bitte als eines königlichen Be­ fehls. Von Heereszügen waren die wenigsten Eroberungszüge. Der König bedurfte der Krieger meistens, um die Reichsgrenzen zu verteidigen (besonders nach Osten und Süden), um Erbstreitig­ keiten zu regeln und vor allem, um die Ruhe im Innern aufrecht zu erhalten. Eine brauchbare Heeresverfassung fehlte. Je nach dem politischen Übergewicht der Landesherren und Städte vermochte der König schneidiger oder weniger energisch vorzugehen. Das einzelne Aufgebot war eher ein politischer als ein Rechtsakt. Juristisch war alles ungewiß; denn die alten Lehnsverpflichtungen hatten fast aufgehört, und ein neues System war noch nicht ausgebildet worden. Wie in so manchen Dingen brachte auch hier erst die äußere Not ein Aufrütteln und Neugestalten der Verhältnisse. Am 2. Oktober 1421 floh das deutsche Heer bei Saaz vor den Böhmen, und am 8. Januar 1422 erlitt es bei Deutsch­ brod eine jämmerliche Niederlage. In höchster Not tagte im Juli bis September der Reichstag zu Nürnberg. Es handelte sich darum, Truppen und Geld zu bekommen. Daher stellte man zunächst eine sog. „Matrikel für den täglichen Krieg" auf, ein Ver­ zeichnis für die Stellung von Mannschaften und für die Zahlung einer Steuer. Eine bestimmte Gruppe geistlicher und weltlicher Fürsten, Grafen, Herren, Äbte und Städte mußten Truppen­ kontingente aufbringen, z. B. der Erzbischof von Magdeburg 30 Gleven und 10 Schützen, die Städte Speier, Worms und Mainz 24 Gleven. Alle übrigen Laien, Grafen, Herren, Ritter und Knechte sollten den hundertsten Pfennig vom Vermögen geben. Nur die obersten Dynasten durften frei wählen, ob sie zahlen oder Mann­ schaft stellen wollten. Die ganze Anlage war so getroffen, daß die niederen Klassen viel schwerer belastet waren, als die höheren. Der Erfolg war: Die Nürnberger Matrikel war eine Halbheit, ein mißratenes Übergangsgesetz, in dem man nicht ganz zu brechen wagte mit dem Rudiment der Lehnsverfassung und nicht den Mut hatte, das reine Soldsystem einzuführen. Wieder klopfte die Not an die Tür des Reiches. Am 16. Juni 1426 erlag das deutsche Heer der Leidenschaft der hussitischen Krieger bei Aussig und trat im August einen schimpflichen Rückzug an. Im November und Dezember 1427 beriet daher ein Reichstag zu Frankfurt aufs neue über das Heerwesen und brachte das Reichskriegssteuergesetz vom 2. Dezember 1427 zustande.

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Heersteuern.

Es wurde mit dem Kardinal-Legaten von England ohne den Kaiser beschlossen und sollte dazu helfen: „wie man den Hussen und-keczern zu Beheim (Böhmen) widersten mug, die keczerei zu verdügen und auszurewten". Das Frankfurter Gesetz predigte also den Religionskrieg. Es brach vollständig mit dem Zwang, Mannschaft zu stellen. Vom Feudalheer war Nichts mehr zu spüren. Man wollte nur noch „Volke und gelte bestellen", also ein reines Söldnersystem. Die erforderlichen Steuern sollten ein­ getrieben werden aus allen Schichten der Bevölkerung, Laien und Geistlichen, Christen und Juden, Männern und Frauen. Man griff zu einer progressiven Vermögens- und Standessteuer, für die Juden zu einer Kopfsteuer (die dem Germanen verpönteste Steuer!) und für die Geistlichen zu einet Einkommensteuer. Nur die mächtigsten Fürsten des Reiches, die Kurfürsten, waren über­ gangen. Zwei wesentlich neue Gedanken finden wir in diesem Gesetze verkörpert: 1. Es wurde der Versuch gemacht, eine all­ gemeine, alle Stände umfassende Reichssteuer durchzuführen, die reichliche Mittel für em Soldheer hätte darbieten können. 2. Es wurden alle Einwohner direkt von der Steuer erfaßt. Die Landeshoheit war zurückgedrängt und der Reichsgedanke in den Vordergrund gerückt worden. Die Reichseinheit hatte einen großen Erfolg erzielt. Doch nun rächte es sich bitter, daß das Reich bis dahin eines geordneten Steuerwesens entbehrt hatte. Eine Steuerverfassung kann m keinem Staatswesen von einem Tag zum anderen geschaffen werden. Denn im Steuerwesen ist die technische Durchführung noch wichtiger als die gesetzliche Grundlage. Den deutschen Beamten aber fehlte die technische Vorbildung zur Handhabung eines solch großen Apparates. Auch waren die Steuerinstanzen schlecht aufgebaut und der Steuerbehörde zu wenig Mittel an die Hand gegeben, die Gelder wirksam ein­ zutreiben. Der ganze Mechanismus versagte. Die Gelder liefen spärlich, allzu spärlich ein. Die geplante Steuer wie das geplante Soldheer schwebten in der Luft. In der Kurfürstenzeit hat das Reich nichts brauchbares mehr geleistet für die Verbesserung des Heerwesens. Auch die Steuer­ anschläge wider die Türken brachten nicht genügend Hilfsmittel ein. Hätten sich nicht die Hussiten zuletzt selbst entzweit, man weiß nicht, was aus dem schwerfälligen Reichskoloß und seinen Be­ wohnern geworden wäre.

Art der Rechtsbildung.

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Recht und Rechtsquellen.

§ 37.

1. Allgemeines. Die Rechtskreise des Landrechts, Stadt- und Hofrechts schlossen sich immer enger ab. Die Differenzierung schritt vorwärts und jeder Rechtskreis erzeugte neues, eigenartiges Leben. Seit dem 13. Jahrhundert beginnen die Quellen reichlicher zu fließen. Lehnrecht und Dienstrecht dagegen schrumpften im 14. Jahr­ hundert zusammen. Das ist verständlich, wenn wir uns an den allgemeinen Rückgang feudaler Vorstellungen erinnern, sowie an die zunehmende Verschmelzung von Lehnsleuten und Ministerialen. Es entstanden Ritterrechte, wie etwa das „livländische Ritterrecht", welches beide Gruppen zusammenfaßte. Die Rechtsbildung vollzog sich, wie seit alter Zeit, von unten nach oben. Ein enger, ein engster Lebenskreis schuf sich seine Ordnung, eine Familie ihr Hausgesetz, mehrere Sippen ihr gemeinsames Erbfolgerecht (sog. Erbverbrüderungen), eine Kaufmannsgilde ihre Handelssatzungen, eine Zunft ihre Zunftverfassung, ein Dorf sein Dorfrecht, eine Stadt ihr Stadtrecht usw. Noch war keine Rede davon, daß der Staat dominierend an die Spitze der Rechtserzeugung getreten wäre. Eine solche Staats­ autonomie, wie sie der moderne Staat aufweist, war dem ganzen Mittelalter unbekannt. Die Rechtsbildung von oben, vom Staate her, vermochte grundsätzlich nur subsidiär zu wirken. Nur wo sich Lücken zeigten, konnten Staat und staatsähnliche Gewalten rechts­ erzeugend auftreten. In diesem Prozeß lag etwas großartiges und fein gefühltes. Denn bei diesem Lauf der Dinge waren der Mensch und die kleinen Menschengemeinschaften imstande, ihr Recht auf das engste ihrem ureigensten Lebensbereich anzupassen. So allein konnte sich Einzelrecht statt Massenrecht entwickeln. So allein konnten Recht und Vernunft zusammengelen. Aber in diesem System lag zugleich eine ungeheure Gefahr. Hielt gemein­ sames Denken und Fühlen die Menschen nicht mehr in großen Bereichen zusammen, so mußte sich notwendig eine ganz gewaltige Rechtszersplitterung einstellen. Und dies war in der Tat der Fall. Zusehends entwickelten sich diese kleinen und kleinsten Rechtskreise auseinander, ohne von einer einflußreichen Zentralquelle zusammengehalten zu sein. Das Reichsrecht war fast ohnmächtig und mußte es bleiben, so lange ihm nur eine lückenausfüllende Rechtsbildung zugesprochen war. Im schärfsten Gegensatz zu dieser Lage des weltlichen Rechts standen die Dinge in der Welt des geistlichen Rechts. Fehr, Deutsche Rechtsgeschtchte.

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Reichsrecht und Landesrecht.

Hier ging alles aus von den Zentralpunkten, vom Papst und von den Bischöfen. Hier ging der Fluß des Rechts von oben üach unten. Hier war alles Einheit, Festigkeit und Straffheit. Ge­ waltige Päpste und Kanonisten sorgten für Sammlung und Be­ arbeitung des kanonischen Rechts, welches europäische, welches Welt­ geltung beanspruchte. (Decretum Gratiani; Decretalen Gregor IX, genannt Liber Extra; Liber sextus von Bonifaz VIII; die Clemen­ tinen Clemens V. und die willkürliche Privatsammlung des Kano­ nisten Jean Chappuis: die Decretalen Johann XXII. und die Extravagantes communes enthaltend). Nur spärlich vermochte sich partikuläres Kirchenrecht auszubilden. Es spielte im großen Gang der Geschichte keine Rolle. Auch darin besaß die Kirche dem Reiche gegenüber einen markanten Vorsprung, als ein Teil ihrer Satzungen als ewiges, göttliches, unveränderliches Recht angesehen wurde: das jus divinum. Wie felsenfest steht eine In­ stitution da, die sich auf unwandelbare, absolute Normen zu gründen vermag! Und so ist das jus divinum heute noch der Eckpfeiler der katholischen Kirche und ihrer Macht. 2. Reichsrecht und Landesrecht. In den weltlichen Bezirken suchten die Einheitlichkeit des Rechts zu retten der König und der Landesherr. Der König, regelmäßig in Verbindung mit dem Reichstag, griff soweit dies beim geschilderten Gang der Rechtsbildung möglich war, durch Verfassungsgesetze ein (etwa die vielfach berührten Privilegien Friedrich II. von 1220 und 1232 und die goldene Bulle von' 1356), durch Heerund Steuergesetze sowie durch Mandate. Ferner durch Reichs­ sprüche, die namentlich zur Zeit Rudolfs von Habsburg eine Rolle erster Ordnung spielten und zweifelhafte Rechtsfragen von allgemeiner Bedeutung entschieden. Durch Landfriedensgesetze, deren Schwerpunkt in der Verbesserung des Fehdewesens und in der Bestrafung der Landfriedensbrüche bestand (bedeutungsvoll namentlich die Landfrieden von 1235 und 1495), und durch Kon­ kordate, Vereinbarungen zwischen Kaiser und Papst zur Ab­ grenzung des weltlichen und des geistlichen Rechtskreises. Sehr schöpferisch war das Reich nicht, und das Wenige, was geboren wurde, drang schwer in die Masse ein, weil dem Reich wirksame Veröffentlichungsmittel fehlten. So stand das Volk dem Reichs­ recht kalt und fremd gegenüber. Das Reichsrecht war Fürstenrecht (von Fürsten gesetztes Recht), nicht Volksrecht. Und unter den Fürsten thronten auch auf diesem Gebiete obenan die Kurfürsten. Die Landesherren hatten hohes Interesse daran, das geltende

Hofrecht.

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Recht ihres Landes aufzeichnen zu lassen und neues Recht zu geben, wo sich Lücken zeigten. Ein hervorragendes Denkmal dieser Art besitzen wir im österreichischen Landrecht von 1236 bis 1237, eine Aufzeichnung, die teils altes Gewohnheitsrecht, teils neues Satzungsrecht enthält. Auch die Kulmische Handfeste für das deutsche Ordensland (1233) und das oberbayerische Landrecht Kaiser Ludwigs (um 1328, erneuert 1346) sind Beispiele treff­ licher landesherrlicher Gesetzgebung. Die Freiheitskrieg und Privilegien, die bald einzelnen Großen, bald den Ständen des Landes erteilt wurden, griffen ebenfalls in den Rechtszustand der Territorien ein (etwa der erste bayerische Freiheitsbrief von 1311) wie die Landfrieden, die teils von einem, teils von mehreren Fürsten (und Städten) zusammen errichtet wurden. Wo eine starke landesherrliche Gewalt fehlte, nahmen das Volk selbst oder dessen Vertreter das Gesetzgebungswerk und die Kodifikation in die Hand. Ein Hauptbeispiel ist Friesland, das reiches, plastisches, lebensvolles, gemeinfriesisches Recht, sowie Recht einzelner Gaue und Landbezirke hervorbrachte. Ebenbürtig neben ihm finden wir namentlich die Satzungen aus den inneren Teilen der schweize­ rischen Eidgenossenschaft, Satzungen, welche den volklichen Einigungsgedanken aufs schönste und kräftigste verkörperten. 3. Das Hofrecht. In dieser Epoche ist der Begriff des Hofrechts ganz allgemein zu fassen als das Recht im bäuerlichen Lebenskreise. Jede Gerichts­ herrschaft, jedes Dorf, jeder Flecken, einzelne Grundherrschaften und Markgenossenschaften suchten ihr eigenes Recht zu bilden und fortzupflanzen. Hier bot die Rechtswelt eine unendliche Mannigfaltigkeit dar. Man konnte auf einem galoppierenden Pferde durch ein Dutzend verschiedener Rechtsgebiete in einer Stunde reiten. Diese Dorf- und Hofrechte heißen Weistümer, weil die Genossenschaft vielerorts ein- bis zweimal im Jahre zusammengerufen wurde, um sich das geltende Recht vortragen zu lassen. Schon dieses regelmäßige „Weisen" deutet darauf hin, daß Volk und Recht nicht mehr so eng wie früher zusammenlebten. Denn was im Gemüt wirkend ist, wird nicht vergessen und braucht nicht in Erinnerung gerufen zu werden. Neuere Forschungen haben daher mit Schärfe daraufhingewiesen, daß die Weistümer vielfach nicht genossenschaftlichen, sondern herrschaftlichen Charakter an sich tragen. Sie waren vom Gerichts- oder Grundherrn den Bauern auferlegt, und daher zeigt sich auch immer deutlicher die Übereinstimmung zahlreicher Weistümer. Diese „Weislums12*

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Siadtrechr.

familien" gehörten wohl größtenteils Genossenschaften an, bte unter gemeinsamer Herrschaft standen oder einst gestanden hatten. Aber man darf in diesem Gedankengang nicht zu weit gehen. Zahlreiche Weistümer tragen ein so ursprüngliches, kerniges, blutvolles, sinniges und humorvolles Gepräge, daß in ihnen die unmittelbare Schöpferkraft des Volkes am Werke gewesen fein muß. Auf schweizerische und westfälische Bauernrechte sei vor allem verwiesen. Vieles ist noch ungewiß. Eine eingehende Weistumsforschung muß hier einsetzen. Nur soviel läßt sich heute schon sagen: der rein volkstümliche Geist der Weistümer ist über­ schätzt worden. Je mehr wir uns der Neuzeit nähern, umso deutlicher tritt die herrschaftliche Natur der Ordnungen und Ver­ ordnungen hervor. In breiterem Umfange fließen diese Quellen erst seit dem 14. Jahrhundert. 4. Das Stadtrecht. Die deutschen Städte mit ihrer autonomen Gewalt, ihrem „Kürrecht", brachten ebenfalls reiche, überreiche Rechtsnormen hervor, an denen der Stadtherr, der Rat, die Gilden oder die ganze Bürgerschaft arbeiteten. Auch die Städte suchten nach dem engsten Zusammenleben von Volk und Recht. Daher trugen auch die Stadt­ rechte das Moment der Vielgestaltigkeit in sich. Aber hier wurde die Zersplitterung nicht soweit getrieben wie auf dem Lande. Denn hier bildeten sich ganz große Stadtrechtsfamilien aus, innerhalb deren eine Mutterstadt eine Reihe anderer Städte mit ihrem Rechte „bewidmete", oder wobei eine Stadt von sich aus das Recht einer anderen nachahmte. So lebten z. B. im Osten und Norden zahlreiche Städte nach lübischem und nach magdeburgischem Rechte, im Süden und Westen nach dem Rechte der Stadt Straßburg, der Stadt Freiburg i. Br. und der Stadt Wien. Immer deutlicher tritt z. B. der Einfluß Freiburgs auf die schweize­ rischen Städte hervor (vgl. etwa die aargauischen Stadtrechte). War ein tüchtiges Schöffengericht vorhanden, das verständige Urteile fällte, so gelangten Gericht oder Rat einer anderen Stadt gerne an ein solches Tribunal. Dieses entwickelte sich dann zu einem „Oberhofe", bei dem andere Städte zu „Haupte" gingen, d. h. von ihnen Rechtsbelehrung empfingen. Hunderte solcher Schöffensprüche liegen zusammengefaßt in Büchern vor (z. B. das Schöffenbuch des Stadtschreibers Johann von Gelnhausen, zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts) und bieten einen trefflichen Einblick in Recht und Lebender Stadt. Die Stadtbücher im e. S. enthalten Aufzeichnungen städtischer Behörden nach den ver-

Sachsenspiegel.

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schiebensten Richtungen, z. B. Ratslisten und Ratsverordnungen, Straf- und Achtsverzeichnisse, Vermerke über Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, wie Auflassungen und Verpfändungen. Den breitesten, wenn auch nicht immer wertvollsten Aufschluß gewähren die Privatarbeiten über Stadtrecht und städtisches Leben. An deren Spitze stehen die zahlreichen Darstellungen aus dem Magde­ burger Rechtskreis, vielfach befruchtet vom Sachsenspiegel selbst. So etwa das sächsische Weichbild aus dem 13. Jahrhundert, die neun Bücher Magdeburger Rechts zu Beginn des 15. Jahr­ hunderts oder der sog. vermehrte Sachsenspiegel, in dem ein Meißner Verfasser bestrebt war, die Unterschiede von Stadtund Landrecht dem Leser vor Augen zu führen (Mitte des 14. Jahr­ hunderts). Auch der österreichische Rechtskreis (Wiener Stadt­ rechtsbuch) hat hervorragendes geleistet. Tas Berliner Stadtbuch von 1397 bietet köstliche Einblicke in das Leben des Einzelnen wie in das Leben der Gemeinde. 5. Der Sachsenspiegel. Weitaus die größte juristische Tat vollbrachte ein Mann, der mit besorgtem Blicke in das Wirrwarr deutschen Rechtslebens hineinsah, der die harten Gegensätze von Staat und Kirche, von Reichsgewalt und Landesgewalt, von Herrschaft und Genossen­ schaft, von Rechtshilfe und Eigenmacht tief empfand und ver­ stand. Sein Name ist Eike von Repgau, seine Heimat der Gau Serimunt, seine Tat der Sachsenspiegel. Dieser Ritter mit dem warmen Herzen für Volk und Staat verfaßte um das Jahr 1230 ein Landrechtsbuch und wenige Jahre darauf ein Lehnrechtsbuch, in denen er sächsisches Stammesrecht und ostfälisches Landschaftsrecht darstellte. Er ist der erste große Kodi­ fikator deutschen Rechts. Er ist ein Sammler und Verarbeiter des lebendigen Gewohnheitsrechts. Er ist ein Mann, den Weit­ sicht und Leidenschaft dahin trieben, auf bestimmte rechtliche Ziele hinzuarbeiten, ohne das Recht zu fälschen. Eike hat nirgends gefälscht. Aber er hat da und dort tendenziös gearbeitet, indem er manche Einrichtungen stark in den Vordergrund rückte, andere beiseite setzte und wieder andere fallen ließ. Der Spi egler wollte mit seinem Rechtsbuch nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine sprachliche und politische Tat vollbringen. Sprachlich leistete er für das Recht, was drei Jahrhunderte später Luther für die Religion. Er schuf eine deutsche Rechtssprache, die gewaltig genug war, die lateinische allmählich zu verdrängen. Aus einem lateinischen Texte, der uns nicht erhalten ist, brachte

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Schwabenspiegel.

er seinen Sachsenspiegel in deutsche Form (Urform wahrschein­ lich die Quedlinburger Handschrift). Es machte ihm Mühe, und er begann die Arbeit nicht ohne Widerstreben, wie er in seiner reizvollen Vorrede sribst versichert. Die rechtliche Kunst, die dem Spiegler eignete, bestand nicht nur in dem geschickten Aufsuchen und Gestalten der Rechtssätze, sondern auch in dem harmonischen Aufbau des gesamten Rechtsstoffes. Er wgr ein Scholastiker, der in der Überwindung der Gegensätze, in der „Konkordierung der Diskordanzen", eine Hauptaufgabe erblickte. Von den großen Einheiten Gott, Kaiser, Volk geht er aus. Und innerhalb dieser Einheiten versucht er die vielen Widersprüche zu überbrücken. Der Wille zum Ausgleich der Gegensätze in der RechtswÄt ist der große Zug in seinem großen Buche. Und was war snn politisches Ziel? Eike von Repgau erweist sich als ein glühender Verehrer her Reichseinheit. Stärkung des deutschen Königtums, Mederhalten der aufstrebenden Landesgewalten, das war das große Streben, welches ihn beseelte. Er wollte einen deutschen National­ staat schassen, wie er dem Epiker Wolfram und dem Lyriker Walther vor Augen schwebte. Die Geschichte hat gegen ihn entschieden, und d

Grundsätze der ReichSverfasiung von 1849.

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Alle Standesunterschiede und Standesvorrechte verschwanden. Der Adel wurde als Stand aufgehoben, und den Fideikommissen mußte durch die Landesgesetzgebung der Garaus gemacht werden. (§ 170.) Auch die Fortdauer des Lehnsverbandes wurde verboten. Es sollte nur noch Landrecht geben. (§ 171.) Nichts mehr von feudalen Anschauungen, nichts mehr von lehnrechtlicher Überund Unterordnung, nichts mehr von Basallentreue und Vasallenpflichten. Der Staat wurde vollkommen auf weltliche Füße gestellt. Es durfte keine Staatskirche mehr geben (§ 147) und die Ehe wurde der Kirche insoweit entrissen, als die Gültigkeit des Eheschlusses nur vom Zivllakt abhing. (§ 150.) Die Bildung von Religionsgesellschaften stand frei. Die kirchlichen Verbände wurden zu Selbstverwaltungskörpern des privaten Rechts. (§ 147.) Staat und Kirche waren getrennt. Der Monarch war nicht Quelle der Gerichtsbarkeit, sondern der Staat. Er allein. (§ 174.) Die letzten Reste patrimonialer Gerichtsbarkeit mußten verschwinden, und privilegierte Gerichtsstände für Personen oder Güter durfte es fortan nicht mehr geben. (§ 176.) Im Prozeß galten die Grundsätze der Öffentlich­ keit und der Mündlichkeit. (§ 178.) Für schwere Sachen sollte das Volk in Schwurgerichten zugezogen werden. (§ 179.) Re­ gierung und Rechtsprechung wurden endgültig getrennt, der Staat als Rechtsstaat vollkommen anerkannt, indem einzig Gerichte (leine Verwaltungsbehörden) über Rechtsverletzungen zu entscheiden hatten. Die alte Verwaltungsrechtspflege hörte auf. (§ 182.) Die Fülle der neuen Gedanken ist zu groß, als daß ich sie nur annähernd hervorheben könnte. Aus allen Ecken und Enden sprudelten sie hervor und weisen hin auf das reiche Rechtsleben, das sich im deutschen Bürgertum entfaltet hatte. Die Verfassung von 1849 hätte den modernsten europäischen Staat geschaffen, wäre sie wirffam geworden. Für uns besitzt sie einen un, geheuern Wert, indem sie das Verständnis der Reichs­ verfassung von 1919 wesentlich erleichtert. Sie bildet ideengeschichtüch geradezu die Brücke zur heutigen Staatsform. —> Das Werk mußte damals scheitern, denn der Gegner waren zu viele. Zu ihnen zählten die Mittelstaaten, die zugunsten eine­ preußischen Erbkaisers ihre Selbständigkeit nicht opfern wollten, zu ihnen vor allem Österreich. Der Kaiserstaat verschmähte es, Mitglied dieses Bundesstaates zu werden und wollte doch anderer­ seits diese starke Einigung deuffcher Stämme nimmermehr dulden.

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Norddeutscher Bund.

Schließlich stiegen in Preußen selbst, zum mindesten in seinem König, schwere Bedenken auf. Der leidende Monarch hatte weder die Größe noch die Spannkraft, die drückende Reichslast, den mehr geplanten, als fertigen Staat auf männliche Schultern zu nehmen. 8 58.

Der norddeutsche Bund.

1. Wie um die Wende des 16. JahrhuUderts kann man um die Mitte des 19. Jahrhunderts den deutschen Fürsten das ernste Bestreben nicht absprechen, zu festerer staatlicher Bereinigung zu gelangen. Man darf geradezu von einer Epoche des Experi­ mentierens reden. Die auf dem Fürstcntage zu Frankfurt fest­ gestellte Reformakte (1863), welche eine wirksame Exekutivbehörde im Reiche vorsah, ein Direktorium, erinnert in manchen Zügen an die Reformen, die unter Maximilian erstrebt wurden, vor allem an das Reichsregiment. Aber es war unmöglich, zu einer brauch­ baren Reichsverfassung im Sinne der großen nationalen For­ derungen zu gelangen, bevor nicht die inneren Spannungen über­ wunden werden konnten. Jeder weiß, was gemeint ist: der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Preußen und Öster­ reich. Auch insofern schien die Verfassungsfrage in ein ganz anderes Stadium gerückt, als Preußen seit 1850 ans der Reihe der abso­ luten Staaten ausgetreten war. Preußen besaß jetzt eine Ver­ fassung und stellte einen konstitutionellen Staat dar. Der König hatte mit den Wünschen zweier Kammern zu rechnen. Und noch eins. In Deutschland war ein Genie hervorgetreten, Otto von Bismarck. Ihm, seiner Einsicht, seinem Weitblick, seiner Tatkraft, seinem stahlharten Willen konnten sich kein Herrscher und keine Herrschaft entziehen. Alles was in Deutschland geschah, geschah fortan im Zeichen dieses überragenden Geistes. Dieser aber war entschlossen, die Waffen entscheiden zu lassen. Der Weg zur Einheit wurde nur frei, wenn Österreich nicht mehr hindernd im Wege stand. Am 23. August 1866 mußte es im Prager Frieden die Auflösung des deutschen Bundes anerkennen und seine Zu­ stimmung zu einer Umgestaltung Deutschlands ohne seine Beteiligung geben. Ein unvergleichliches Novum in der Geschichte! Öster­ reich und die Habsburger aus dem künftigen Reich ausgeschaltet! Ein radikaler Bruch mit der Tradition von Jahrhunderten! 2. Das siegreiche Preußen legte am 4. August 1866 den Entwurf eines Bündnisvertrages vor und am 18. August schlossen 16 norddeutsche Regierungen diesen Vertrag miteinander ab. Er war ein Offensiv- und ■ ein Defensivbündnis zur Erhaltung

Das deutsche Reich.

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-er Unabhängigkeit und Integrität, sowie der innern und äußeren Sicherheit dieser Staaten. Aber dieser norddeutsche Bund bezweckte von Ansang a,n mehr als eine bloße Sicherheit^ und Friedensgarantie. Er sah im Art. 2 eine Bundesverfassung vor auf der Basis der preußischen Grundzüge vom 10. Juni 1866, die unter Mitwirkung eines gemeinschafüich zu berufenden Parla­ ments geschaffen werden sollte. Sämtliche Truppen standen unter preußischem Oberbefehl. Die volle militärische Einheit war dem­ nach bereits erreicht. Nicht durch die Regierungen allein, sondern durch Regierung und Volk kam die norddeutsche Bundes­ verfassung vom 17. April 1867 zustande. Sie war eine Vereinbarung zwischen Fürsten und Parlament. Ein gemeinsamer Wille war bekundet, sich gemeinsam unter das Gesetz zu stellen. Ein durchaus genossenschaftlicher Gedanke hatte Gestalt gewonnen. Aber diese Vereinbarung konnte rechtliche Gültigkeit in den Bundes­ staaten erst erlangen, nachdem die einzelnen Landtage ihr zugestimmt hatten. Dies geschah, und daher wurde die Bundesverfassung zwischen dem 21. und 27. Juni 1867 in den einzelnen Ländern publiziert. Der Bund umfaßte 22 Staaten. — Die Verbindung mit den süddeutschen Staaten war schon 1866 durch Schutz- und Trutzbündnisse gesichert worden, und diese Bündnisse gingen ohne weiteres auf den norddeutschen Bund über. Auch wirtschaftlich fand mit den Südstaaten eine engere Verknüpfung statt. Der Zollverein wurde fester ausgebaut und mit einem Zollbundesrat und einem Zollparlament ausgestattet. Zollpräsidium war Preußen. Alle guten Auspizien waren vorhanden, die Länder einer staatlichen Einheit entgegenzuführen.

Das deutsche «eich als »atserstaat. 1. Als Napoleon III. versuchte, den engeren Zusammen­ schluß von Nord- und Süddeutschland zu verhindern und das Überspringen der Mainlinie zu verbieten, erhoben sich vereint die deutschen Stämme unter Preußens Führung und schlugeü ihn aufs Haupt. Schon während des Krieges war der Gedanke 'der Bereinigung aller Staaten unter einer Verfassung wach geworden. Die Novemberverträge des Jahres 1870 brachten den Plan dem Ziele wesentlich näher. Am 15. November traten Baden und Hessen in den norddeutschen Bund ein, acht Tage später Bayern und am 25. November Württemberg. Das Reich war fertig. Mes was fernerhin erfolgte, erscheint nur als die Aus-

§ 59.

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Reichsverfassung von 1871.

führung der großen Vereinigungsidee, begleitet von einigen klein­ lichen partikularistischen Forderungen (z. B. von feiten Bayerns). Die Verträge, vom norddeutschen Reichstage und von den Ständen der süddeutschen Staaten angenommen, erhielten auf den 1. Januar 1871 gesetzliche Kraft. Dieser Tag ist der Geburtstag des deutschen Reiches. Die Fürsten und das in den Parlamenten geeinigte Volk haben gleichmäßig an der Vollendung des Werkes gearbeitet. Staatsrechtlich stellte das Reich nichts anderes dar, als den durch den Beitritt der Südstaaten erweiterten norddeutschen Bund. Deshalb wurde auch die norddeutsche Bundesverfassung mit geringen Änderungen zur deutschen Reichsverfassung. Selbst das Bundespräsidium blieb, nur führte es seit der Proklamation zu Versailles vom 18. Januar 1871 den Titel „Teutscher Kaiser". An die Stelle der durch die Einzelvertäge vereinbarten Verfassung setzte sich die Reichsverfassung vom 16. April 1871. Tas von Frankreich abgetretene Elsaß-Lothringen wurde (zum Schaden des neuen Staates!) als Reichsland erklärt. Die Machtprobe war geglückt, und die deutsche Nation hatte sich innerlich und äußerlich wieder gefunden. Ein neuer Staat mit neuem Leben und neuen Aufgaben tat sich auf, und wer darin die Führung übernehmen sollte, war niemals zweifelhaft Es konnte nur Preußen, der Einiger und Vereiniger sein. 2. a) Das Reich war ein Bundesstaat, also ein zusammen­ gesetzter Staat, mit monarchischer Spitze und geteilter Souveränität. Was das Reich nicht an höchster Gewalt in Anspruch nahm, ver­ blieb den Einzelstaaten. Die Landesstaatsgewalt erhielt sich in der reichsfreien Sphäre unangetastet weiter, und kein Staat wurde genötigt, seine Verfassung zu ändern. Die konstitutionellen Mo­ narchien und die drei Republiken (Hamburg, Lübeck und Bremen) bewahrten daher ihren alten Rechtsbestand. Aber das Reich besaß die sog. Kompetenz-Kompetenz, kraft deren es den Kreis der Reichs­ gesetzgebung auf Kosten der Landesgesetzgebung erweitern konnte. Und davon machte es wiederholt Gebrauch. Von Anfang an zeigte sich im neuen Staatskörper das Bestreben, das Reich zu stärken auf Kosten der Einzelstaaten. Und das eben ist der große politische Unterschied zum alten römischen Reich deutscher Nation; denn in diesem konnten wir seit seiner Gründung verfolgen, wie durch die Immunitäten und die früh einsetzende Territorialgewalt des Reiches Kraft geschwächt wurde. Tas neue Reich trägt also seit seinem Bestehen einen viel größeren Trieb zur Einheit und Festigkeit in sich, als das alte. Diesem Trieb entsprach auch

Altes Reich und neues Reich.

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die Art der Rechtsbildung. Beim Reiche selbst nahm sie ihren Anfang und stieg hinunter bis in die kleinen, mit Autonomie ausgestatteten Kreise, etwa die Gemeinden oder die Familien des hohen Adels. Der ganze Prozeß der Rechtserzeugung hatte sich umgedreht. Jetzt brach Reichsrecht Landrecht, Landrecht Stadtrecht, Stadtrecht Willkür (vergl. § 37,1). Mit einem Schlage kam Klar­ heit in all diese Dinge hinein, die im alten Reich so heiß umstritten gewesen. Die unendliche Kraft, die das heilige römische Reich zur Schlichtung von Streitigkeiten auf diesem Gebiete nutzlos verbraucht hatte, diese Kraft konnte im neuen Gemeinwesen für positive Aufgaben fruchtbar verwendet werden. Nur ein Element litt schwer unter dieser Zentralisierung, das Gewohnheitsrecht. Die lebhaft einsetzende gesetzgeberische Tätigkeit riß im Reich, wie in den Bundesstaaten, immer weitere Gebiete an sich. Fast keine wichtigere Materie blieb ungeordnet, so daß heute kaum mehr Raum vorhanden ist für die Bildung der ursprünglichsten und tiefsten Art des Rechts, für das Gewohnheitsrecht. Mit dem alles dominierenden Staate trat das alles dominierende Satzungs­ recht in Erscheinung, wie nie zuvor. b) Träger der obersten Reichsgewalt war der Bundesrat oder genauer die im Bundesrat verkörperte Einheit der Einzel­ staatsgewalten. Unschön aber richtig nennt man ihn den Kollektiv­ souverän: die 22 deutschen Landesherren und die 3 Senate der Hansastädte. Eine neuere Untersuchung hat hübsche Parallelen aufgewiesen zwischen dem alten Reichstag und dem neuen Bundes­ rat, man denke etwa an die Instruktion der Stimmen. Hier, wie dort waren die Gesandten nicht frei in der Stimmabgabe (großer Gegensatz zum Parlament). Hier wie dort traten sie nur auf als unselbständige Boten ihrer Souveräne. Aber im ganzen muß man sich hüten, das neue Reich in juristische Verbindung zu bringen mit dem alten. Das Reich von 1871 steht ideengeschicht­ lich wie institutionell nur in ganz losem Zusammen­ hang mit seinem untergegangenen Namensvetter. Dies zeigt sich auf den ersten Blick, wenn wir etwa die Stellung des alten und des neuen Kaisers oder des alten und des neuen Reichs­ kanzlers betrachten. Beide Organe, wie sie in der Reichsverfassung von 1871 geordnet sind, stellen staatsrechtlich etwas völlig neues dar. Der römische Kaiser hatte mit dem deutschen Kaiser und der alte Erzkanzler mit dem neuen Reichskanzler nicht einmal den Namen gemein und. nichts von der ursprünglichen, eigenen Gewalt des alten Kaisers war auf den neuen Herrscher gekommen.

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Der neue Reichstag.

Der deutsche Kaiser besaß nur übertragene Befugnisse, die er im fremden Namen, im Namen des Reiches oder der verbündeten Regierungen ausüben durfte. Nichts von einem Vetorecht bei der Gesetzgebung ist wahrzunehmen. Hatten Bundesrat und Reichstag einen Gesetzesentwurf angenommen, so mußte der Kaiser den Publikationsbefehl erteilen und ihn zum Gesetze erheben. c) Das Parlament, der Reichstag, fand seine Vor­ bilder in den Landtagen der Einzelstaaten. Politisch war er gedacht als Repräsentant des Reichsvolkes, der Reichs­ interessen vertrat, im Gegensatz zum Bundesrat, in dem mehr die Interessen der Länder zum Durchbruch gelangen sollten. Staatsrechtlich nahm er durchaus keine Gleichstellung mit dem Bundesrat ein, etwa im Sinne eines Unterhauses als Ergänzung zu einem Oberhause. Staatsrechtlich war er gedacht als ein hemmen­ des und kontrollierendes Organ, als ein Element im Staate, das die im Bundesrat vereinigten Regierungen in wichtigen Angelegen­ heiten an seine Mitwirkung band, ihre Machtfülle also beschränkte, und die Verwaltung, namentlich die Finanzverwaltung über­ prüfte. Der Reichstag, aus allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen hervorgehend (Wahlgesetz vom 31. Mai 1869) erwies sich also als ein genossenschaftlicher Faktor erster Ordnung, der dem herrschaftlichen Faktor Schranken auferlegte, ähnlich wie in den Bundesstaaten die Kammern ihren Regierungen. Wie kennzeichnend ist es nun aber für den starken genossenschaftlichen Trieb im deutschen Volke, daß das Parlament im Laufe der Jahr­ zehnte vollständig aus seiner passiv gedachten Rolle heraustrat und zu einem äußerst aktiv wirkenden Reichsorgan aufstieg. Ganz begreiflich, daß daher dem Reichstag die Kraft innewohnte, die Revolution — wenigstens ideengeschichtlich — zu überleben, während der Kaiser und der Bundesrat ihrem Ansturm unter­ lagen. (Der neue Reichsrat hat staatsrechtlich eine ganz andere Stellung als der alte Bundesrat.) d) Man hat das deutsche Reich ein Flickwerk oder ein Zerr­ bild genannt. Zu Unrecht! Wie hätte ein Zerrbild es vermocht, während eines halben Jahrhunderts so reiches Leben zu entwickeln und Deutschland im Rate der Völker eine so gewaltige Stimme zu verschaffen. Richtig ist nur, daß die Reichsverfassung staatsrecht­ lich eine allzu künstliche Konstruktion aufwies (man denke allein an die Stellung des Kaisers oder an das Verhältnis des Gesamt­ staates zu den Gliedstaaten) und allzu wenig Spielraum offen ließ, um die immer energischer hervortretenden Spannungen

Der Umsturz von 1918.

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auszugleichen. Und dennoch würden diese Spannungen, die ich tm § 56,4 kurz berührte, das Reich memals zu Fall gebracht haben, wenn nicht der äußere Druck des übermächtigen Feindes so schwer auf ihm gelastet hätte. Dieser zwiefachen Kraftprobe war es nicht gewachsen. Der Kaiserstaat fiel und riß in seinem Falle die Ver­ fassungen der Einzelstaaten notwendig mit sich.

Das Deutsche Reich als Freistaat. 1. In den Herbsttagen des Jahres 1918 konnte man in Deutsch­ land em bedeutungsvolles Spiel und Gegenspiel beobachten. Je unglücklicher sich die kriegerischen Ereignisse gestalteten, um so nachgiebiger wurde die kaiserliche Regierung gegenüber den demokratischen Wünschen, welche auf lebhaftere Anteilnahme des Volkes am Staatsleben gerichtet waren. Bereits am 30. Sep­ tember hatte ein Erlaß des Kaisers verkündet: „Ich wünsche, daß das deutsche Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der Geschicke des Vaterlandes mitarbeite", und am 28. Oktober er­ folgte der tiefe Einbruch in das bisherige Verhältnis von Kaiser und Reichskanzler. Ter neue Artikel 15 der Reichsverfassung gab der längst erhobenen Forderung Raum, wonach kein Reichs­ kanzler mehr berufen oder weiter amtieren durfte, der nicht das Vertrauen des Reichstages besaß. Der parlamentarische Ge­ danke hatte endlich gesiegt. Aus der politischen Verantwortlichkeit des Kanzlers war jetzt eine rechtliche geworden. Auch auf Krieg und Frieden erhielt der Reichstag Einfluß. Das Oktobergesetz änderte die Reichsverfassung dahin ab, daß Kriegserklärungen und Jriedensverträge der Zustimmung des Bundesrates wie des Reichstages bedurften. Was jahrelang erstrebt war, wurde mit einem Schlage geltendes Recht, und der Kaiser selbst prokla­ mierte, „daß eme neue Ordnung in Kraft trete, welche grund­ legende Rechte von der Person des Kaisers auf das Volk über­ trage". — Aber all diese Flickarbeit vermochte den Sturz des alten Systems mcht mehr aufzuhalten. Elementare Bolkskräfte waren im Spiele. Eine ungeheure Suggestion hatte sich der ermüdeten und zugleich überreizten Massen bemächtigt. Am 9. November brach die Revolution aus. Ter Staatssekretär Scheidemann verkündete aus dem Fenster des Reichstagsgebäudes die deutsche Republik. Ter Kaiser und die deutschen Fürsten verzichteten auf ihre Throne, so daß am 13. November 1918 die revolutionäre preußische Regierung verkünden konnte: „Preußen ist, wie das deutsche Reich und die anderen Bundesstaaten durch den Volks-

§ 60.

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Räteregierung.

willen zum freien Staat geworden." Was aber vermag den un­ erbittlichen Sinn für Ruhe und Ordnung, der im Teutschen steckt, besser zu kennzeichnen, als die Tatsache, daß der ganze Umsturz sich in Tagen, ja saft in Stunden vollzogen hatte, und daß nicht ein Tropfen Fürstenblutes geflossen war. Jedes Volk revolutioniert in seiner Art, und man kann seinen Charakter niemals besser er­ fassen, als in Zeiten elementarer Ausbrüche. Ter sozialistische Staatsstreich war gelungen. Cin Zurück zur monarchischen Ver­ fassung gab es nicht mehr, und nicht nur die Sozialisten, sondern die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes dachte nicht daran, den entflohenen Träger der Königs- und Kaiserkrone zurückzurufen. Mit dem preußischen Königstum war auch das deutsche Kaisertum erloschen. 2. Einige bange, ungewisse Wochen folgten. Tenn Teutschland stand vor der schweren Schicksalsfrage: Soll der alte Staat völlig untergehen? Soll, wie nach dem unheimlichen Vorbild Rußlands ein Arbeiterstaat mit proletarischer Diktatur ins Leben treten? Oder soll das alte Reich in der neuen Form eines demokratischen Freistaates fortgesetzt werden? Soll aus dem Schoße des gesamten Volkes eine volkstümliche Verfassung geboren werden? Tie Tradition von Jahrhunderten deutete auf die Lösung im letzteren Sinne. Nur ein völliger Bruch mit allen geschichtlichen Werten, nur der Sprung in ein historisches Nichts hinein, hatten Deutschland in den Klassenstaat hineintreiben können. — Nach kurzem Schwanken entschied man sich für die Demokratie. Ten bedeutsamsten Schritt tat die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte, die in der Mitte des Dezember das Rätesystem verwarf und die Ein­ setzung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung aus allen Kreisen der Bevölkerung verlangte. Die Räte selbst haben also die Räteregierung nicht gewollt. Die revolutionäre Reichsregierung, der Rat der Volksbeauftragten, welcher damals als Räteregierung die Reichsgewalt in der Hand hatte, war schon am 30. November mit einem Reichswahlgesetz hervorgetreten, welches die Wahl einer Nationalversammlung von 421 Mitgliedern in allgemeinen, unmittelbaren und geheimen Wahlen anordnete. Zum ersten Male sand das System der Verhältniswahl (Proportionalsystem) für ganz Deutschland Anwendung, zum ersten Male wählten die Frauen gleichberechtigt mit den Männern. Tie Wahlen fanden am 19. Januar 1919 statt und ergaben eine erhebliche Mehrheit der bürgerlichen Parteien. Das Reich, das Volk, die deutsche Kultur, das deutsche Recht waren gerettet. Die Richtung für die künfttge

Reichsverfassung von 1919.

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Verfassung war vorgezeichnet: sie mußte demokratischen Charakter haben und das Rätesystem ausschließen. 3. Nach Berlin zu gehen wagte man nicht. Tie National­ versammlung wurde nach Weimar berufen und brachte sofort Ordnung in den unsicheren Reichszustand hinein. Sie schob die Räteregierung beiseite, wählte den bisherigen Volksbeauf­ tragten Ebert zum Reichspräsidenten (der nun seinerseits ein Reichsministerium bildete) und stellte die Rechtskontinuität her, so daß die bisherigen Reichsgesetze und erlassenen Revolutions­ verordnungen grundsätzlich in Kraft blieben. (Gesetz über die vor­ läufige Reichsgewalt vom 10. Februar und Übergangsgesetz vom

4. März 1919.) Jetzt war wieder eine feste staatsrechtliche Basis gewonnen und eine Brücke geschlagen, auf welcher das alte Reich in das neue, der Kaiferstaat in den Freistaat hinübergeführt wurde. Von jetzt ab konnte über die Legitimität der neuen Gewalten kein Zweifel mehr sein; denn die Nationalversammlung war die unangefochtene Trägerin der Souveränität. Zur Schaffung des grundlegenden Verfassungswerkes war sie aber zu groß. Und so ist denn das materiell Wichtigste nicht ihrem Kreise, sondern dem Kreise des Verfassungsausschusses entsprungen, ja ein einzelner Mann hat dem neuen Gesetz zum Teil seinen Geist aufgedrückt, der Reichsminister des Innern, Hugo Preuß. Tie Verbindung mit den Regierungen der Einzelstaaten, jetzt Länder genannt, konnte nicht entbehrt werden. Man hatte daher bereits einen sog. Staatenausschuß geschaffen, ein Organ, das aus den Vertretern derjenigen deutschen Freistaaten gebildet worden war, deren Regierung auf dem Vertrauen einer aus allgemeinen, gleichen Wahlen hervorgegangenen Volksvertretung beruhte. In enger Berührung mit diesem Staatenausschuß, der an die Stelle des alten Bundesrates getreten war, ging man an die Beratungen der Entwürfe, und am 31. Juli 1919 nahm die National­ versammlung die Verfassung mit großer Mehrheit an. Der Reichspräsident fertigte sie am 11. August aus. Schon 3 Tage darauf trat sie in Kraft. Einen neuen Staat hat sie nicht geschaffen, sondern nur dem alten eine neue Form, die Form der Republik gegeben. 4. Wir sind am Ziele. Ter Staatsrechtler greift nach der Feder, die der Rechtshistoriker schon allzulange festhielt. Und so mag mir nur noch ein ganz kurzer geschichtlicher Rückblick verstattet sein. a) Das Kaisertum ist erloschen, und die Landesherren, die einst den deutschen Staat geschaffen, haben ihre Landeshoheit

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Bolkssouveränität.

verloren. Kein Vorrecht zeichnet sie mehr aus. Sie sind Bürger wie jeder andere Teutsche. Ter Grundsatz der dynastischen Legi­ timität ist vollständig aufgegeben. Die Staatsgewalt geht vom Volke, allein vom Volke aus. Das Volk ist der einzige Sou­ verän. Wie vor zweitausend Jahren besteht heute die republi­ kanische Staatsform. Wir sind zu Urväterzeiten zurückgekehrt. Ja, der demokratisch-genossenschaftliche Zug ist heute sogar stärker ausgeprägt, als ehemals. Es fehlt ein Adel, es fehlt irgend eine Einrichtung, die der aristokratisch gestalteten Gefolgschaft gleich käme, es fehlen Halbfreiheit und Unfreiheit, es fehlt die Schlechter­ stellung des Weibes gegenüber dem Manne. Ein allgemeines, gleiches Staatsbürgertum ist Grundlage und Grundfeste der Ver­ fassung, und die Frau nimmt an allen Rechten und Pflichten gleichen Anteil wie der Mann. Als Mutter wird sie sogar bevor­ zugt. Die Mutterschaft hat der Staat in seinen besonderen Schutz genommen. b) Jedoch mußte dem Volke eine so unmittelbare Teilnahme am.Staatsleben, wie in der germanischen Epoche, versagt bleiben. Ter Massenstaat, die verwickelten Staatsaufgaben und politische Rücksichten verboten die Einrichtung von Landsgemeinden, dem Konzilium oder den heute bestehenden schweizerischen Landsgemeinden ähnlich. Tas Volk als ganzes tritt nur in Funktion bei Wahlen oder zur Abgabe eines Volks­ entscheides. Das Ideal Rousseaus ist nicht erreicht. Tas Volk spricht in der Regel nicht selbst, sondern durch seine Sendboten im Reichstag. Aber das Volk wählt seinen obersten Führer, den Reichspräsidenten, wie ehemals die Volksversammlung ihren König oder ihren Herzog. Wir besitzen keine „parlamentarische Präsident­ schaft", wie sie Frankreich aufweist. Tas ganze deutsche Volk kürt sein Oberhaupt und das ganze deutsche Volk setzt es ab, wenn der Präsident sein Vertrauen verloren hat. c) Auch ist das Heer tatsächlich nicht mehr das Volk in Waffen. Zwar besteht die Wehrpflicht als allgemeine Unter­ tanenpflicht, dem ganzen Geist der Verfassung nach (vgl. Art. 133,1), gerade so, wie in den germanischen Volksstaaten. Aber sie ist gegen­ wärtig aufgehoben (Gesetz vom 21. August 1920 u. Wehrgesetz vom 23. März 1921) durch erzwungenes Recht, durch den Friedens­ vertrag (Art. 173). Es gibt in Deutschland nur freiwillige Soldaten, die sich vertraglich zu Dienstleistungen verpflichten. Wir stehen also positivrechtlich dem Soldsystem des späteren Mittelalters viel näher, als den germanischen und fränkischen Heereseinrichtungen.

Genossenschaftliche Prinzipien in der Reichsverfassung.

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d) Ter Obrigkeitsstaat ist verschwunden. Tie Reichs­ verfassung wacht beinahe ängstlich darüber, daß die eingeströmten genossenschaftlichen Ideen nicht wieder verdrängt werden. Nur zwei bezeichnende Beispiele dafür. Einmal: Tie auswärtigen Angelegenheiten, im ganzen in die Hand der Reichsregierung gelegt, sind der anstaltlichen Regelung, wie sie zum Unwillen Vieler vor dem Kriege bestand, entzogen. Art. 35 setzt einen Überwachungs­ ausschuß ein, welcher zur „Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung" bestellt ist. Oder: Art. 54, welcher das parlamentarische Regierungssystem einführt. Reichskanzler und Reichsminister müssen zurücktreten, wenn ihnen die Send­ boten des Volkes ihr Vertrauen entzogen haben. Und daß auch der Reichspräsident abgesetzt werden kann, wurde eben gezeigt. Auswärtige wie innere Politik können also nicht mehr ausschließlich von oben und außen her geleitet, dem Volke kann nicht mehr ein fremder, anstaltlicher Wille aufgezwängt werden. Aber auch sonst, nicht nur als Gegenpol zum An­ staltsstaat, sind genossenschaftliche Prinzipien in Fülle aufgenommen worden. Sie treten bald als eigentliche Normen, bald als Richtlinien für künftige Normen auf. So bestimmt z. B. Art. 132, daß jeder Deutsche verpflichtet sei, ehrenamtliche Tätig­ keiten nach Maßgabe der Gesetze zu übernehmen. Niemand darf also seine Persönlichkeit dem Staate oder der Gemeinde entziehen. Niemand lebt nur sich selbst. In Artikel 163 kommt der nämliche Grundgedanke zum Ausdruck. Darnach wird jedem Deutschen, unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die Pflicht auferlegt, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert. (Vergl. Art. 155, 3.) Neben starken individualistischen Zielpunkten (man denke an den breiten Katalog der Grundrechte), gelangt somit in der Reichs­ verfassung ein eifriges genossenschaftliches Streben zu wohl­ tuendem Durchbruch. Die Bürger- und Menschenrechte, wie sie die Landesverfassungen des 19. Jahrhunderts aufwiesen, sind in enge Verbindung mit dem alten genossenschaftlichen Gedanken gebracht, wonach der Mensch nicht allein steht, wonach er ein tätiges Glied ist in dem großen, durch Rechte und Pflichten eng gefügten Räderwerk des Gemeinwesens. e) Ist es bei dieser Stimmung erstaunlich, daß die neue Ver­ fassung auch anrennt gegen jene Macht, die auf wirtschaftlichem Gebiete den Anstaltsbegriff verkörpert, die nur befehlende Wirtschaftssubjekte und gehorchende Wirtschaftsobjekte kennt? Mußte Setjr, DeuUche R-cktsgeschickre.

23

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Schlußwort.

nicht der Gesetzgeber einen Keil treiben in den Kapitalismus? Jeder Verständige wird antworten: das mußte so sein. Daher sinken wir die genossenschaftliche Idee auch ausgeprägt im Schutze des Mittelstandes, im Schutze der Arbeitskraft, im Schutze gegen den Bodenwucher, in den Normen über die Sozialisierung der privatwirtschaftlichen Unternehmungen und in der Einrichtung von Betriebsräten für Arbeiter und Angestellte. Überall da- nämliche Streben, aus der sozialen und wirtschaftlichen Unterund Überordnung zur Nebenordnung, zum Ausgleich von Arbeit

und Kapital, zur inneren und äußeren Verbindung der Starken und der Schwachen, zur Harmonie der Menschen zu gelangen. Ein großer idealer Schwung geht durch unsere Reichsverfassung. Mag sich das deutsche Volk ihrer würdig erweisen. Allen voran die akademische Jugend!

Mit einem entsagungsvollen Auftakt begann ich unsere Ge­

schichte. „Wir wissen nicht, woher wir kommen," ries ich aus. Mit einem entsagungsvollen Schlußtakt muß ich enden: „Wir wissen nicht, wohin wir gehen". Das deutsche Reich ist gefesselt, und die Sieger sind gewillt, die Stricke fester oder loser zu binden, wie es ihnen gefällt. Der Friedensvertrag gibt das formelle Recht dazu. Deutschland ist nicht mehr auf sich selbst gestellt, seine Hand­ lungsfreiheit ist völkerrechtlich eingeengt, unerträglich eingeengt. — Aber nicht diese Schranke ist es, die den Blick in die Zukunft so ungewiß macht; denn an dieser Schranke zerbricht das Reich nimmermehr. Das Ungewisse kommt aus der Welt der Ideen. Das Ungewisse kommt aus jener internattonalen Ge­ sinnung, die gegen alle Staaten, gegen jede kapitalistische Wirtschaftsform, gegen tic gesamte europäische Kultur Front gemacht hat. Es gingt bisweilen, als wollten sich, wie zu Ende des 18. Jahr­ hunderts neue Grundrechte, neue Menschenrechte ausbilden. Aber betrachtet man sie genauer, so sind es weder Menschennoch Bürgerrechte. Es sind Klassenrechte. Es sind die Herrschafts­ rechte des internattonalen Proletariats. Es sind die undemokrattschen, anttgenossenschaftlichen Gedanken, wie sie schon im kommu­ nistischen Manifest so suggestiv und aufreizend geformt wurden. In ihnen liegt das Unheimliche, das Zukunft Verhüllende. Sollte diese Grundstimmung einst auch dich gefangen nehmen, lieber Leser, dann verüefe dich noch einmal, lange und eindringlich ist dieses Buch. Seine Geschichte wird dir zeigen, daß zwar seit frühen

Schlußwort.

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Zeiten fremde Rechtsgedanken sich mit einheimischen vermengten, daß also das deutsche Volk so wenig wie andere Völker nach reinem Stammesrecht zu lebe» vermochte. Aber andererseits wird dir die Historie beweisen, daß die tiefsten Wurzeln des Rechts nationaler Art sind, daß sie aus dem schöpferischen Bode» des Volkes selbst herauswachsen und daß vieles, was das fremde Recht gebracht hat, nur äußerlicher, nur technischer Natur war. Solange wir Per­ sönlichkeiten bleiben, so lange uns nicht die Masse in ihrem rein zahlenmäßig gearteten Netze zu ersticken vermag, solange wird auch das Heil der Völker niemals einem konstruktiv ersonnenen Arbeiterstaate, gegründet auf internationale Rechtsvorstellungen, entspringen können. Im Nationalen wurzelt der Wert der Per­ sönlichkeit. Im Nationalen wuselt der Wert des Rechts^ Im Nationalen wurzelt der Wert des Staates.

es*

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Schrifttum und Ouellen. Abkürrungrn. Tacitus - Germania des Tacitus. Ssp. = Sachsenspiegel Landrecht. Ssp- Lehnr. - Sachsenspiegel Lehnrecht. C. C. C. oder P. G. 0. — Peinliche Gerichtsordnung Karls V. Z. R. G. Germ. Abtlg. — Zeitschrift der Savigny-Stistung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung.

1. Allgemeines. a) Bon Einführungen in die Rechtsgeschichte seien erwähnt: Karl von Amira, Grundriß des germanischen Rechts(1913), besonders geeignet für den Studenten, der die angelsächsischen und skandinavischen Rechte mit studieren und sich philologisch vertiefen will. Brunner-Heymann, Grund­ züge der deutschen Rechtsgerichtet (1919), ein Buch, das Rechtsgeschichte und Privatrecht zur Darstellung bringt und (im Gegensatz zu Amira) die Entwicklung bis in das 20. Jahrhundert fortführt. Schröder-Glitsch, Deutsche Rechtsgeschichte?, in der Sammlung Göschen 1920, der sog. Kleine Schröder, der einen sorgfältigen Auszug aus Richard Schröders großer Rechtsgeschichte in 2 Heften bietet. Claudius von Schwerin, Deutsche Rechtsgeschichte? in Meisters Grundriß der Geschichtswissenschaft (1915), ein stoffreiches Buch, in dem Quellenlehre, Privatrecht, Straf- und Prozeß­ recht in Mittelalter und Neuzeit in sehr scharfer Fassung dargestellt sind. Andreas Heuslers kunstvolles Buch: Deutsche Berfassungsgeschichte, behandelt nur die Verfassungsgeschichte (1905). Um diesen Grundriß nicht mit Literatur- und Quellenangaben 51t überlasten, verweise ich ein für allemal auf diese Werke. Wer nach den aus­ führlichsten Angaben verlangt, der greife zu Schröder-Künßberg, Lehr­ buch der deutschen Rechtsgeschichte. 1. Teil der 6. Aufl. 1919. Der 2. Teil ist im Erscheinen begriffen. Es ist ein großes Verdienst von Künßbergs, das treffliche Lehrbuch durch sehr sorgfältige Einarbeitung der neusten Er­ gebnisse und des neusten Schrifttums wieder auf die gewünschte Höhe gebracht zu haben. — v. Künßberg hat auch mich mit Nachweisen aller Art und durch Lesen von Korrektur kräftigst unterstützt und ich sage ihm an dieser Stelle warm empfundenen Dank. Für die Geschichte des Kirchenrechts ist Ulrich Stutz, Kirchen­ recht, 1. Teil zu vergleichen; Enzyklopädie der Rechtswissenschaft von Holtzendorff-Kohler, 7. Aufl. 1914, 5. Band, S. 279—390: Geschichte des Kirchen-

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rechte. Stutz gebührt das große Verdienst, die gerntanischen Rechtsgedanken, die im Kirchenrecht stecken, herausgearbeitet und wissenschaftlich verbunden zu haben. Wie weit die Einwendungen Dop sch s gegen den germanischen Charakter der Eigenkirche berechtigt sind, muß erst genaue Forschung erweisen. Für die Geschichte des Handelsrechts siehe Paul Rehme, Geschichte des Handelsrechts in Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handels­ rechts Bd. 1, S. 28—325 (1913), die erste vollständige Geschichte dieses Ge­ bietes, die wir besitzen. Rehme bettet das Handelsrecht in den großen Ent­ wicklungsgang ein und bringt treffliche Ausführungen u. a. über Zunftund Städtewesen. Er berücksichtigt meines Erachtens nur zu wenig ire Ein­ flüsse des italienischen Rechts. Die Wirtschaftsgeschichte hat eine lehrreiche Darstellung gefunden durch Rudolf Kötzschke, Grundzüge der deutschen Wirtschaftsgeschichte bis zum 17. Jahrhundert. Die zweite, umgearbeitete Auflage, Berlin 1921, tonnte ich nur noch stellenweise benutzen. (Erschienen in Grundriß der Ge­ schichtswissenschaft, Reihe II. Abteilung 1. Seite 1—6 eine ausführliche Über­ sicht über die wirtschaftsgeschichtliche Forschung in Deutschland.) — Zu ver­ gleichen sind damit namentlich die umfassenden Werke von Werner Som bart, besonders der nachher genannte: Moderne Kapitalismus. Für die Urkundenlehre empfehle ich: Harry Breßlau, Hand­ buch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, 1. Band, 2. Auflage, 1912. 2. Band, 1. Abt. 1915. Auswahl und Anordnung dieser verwickelten Materie sind voll gelungen. Ein Werk ganz eigener Art ist Cito v. Gierke, Tas deutsche Genossenschaf tsrecht. 4 Bände 1868, 1873, 1881 und 1913, ein Meisterwerk vom Genossenschaftsgedanken Beseler-Gierke aus betrachtet. Vom Studenten mit Erfolg erst in reifen Jahren zu lesen. — Den bedeutsamsten Versuch, diesen Gedanken weiterzuführen und „eine deutsche Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie" zu geben, hat Hugo Preuß gemacht in: Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschafien (1889). — Gegen­ wärtig hat sich namentlich Kurt Wolzendorff in verschiedenen Arbeiten der Genossenschaftstheorie mit Erfolg angenommen. Vergl. z. B. Vom deutschen Staat und seinem Recht 1917. b) So früh wie möglich muß mit dem Studium der Quellen begonnen werden. Aber eines ist dabei wichtig: die geschichtlichen Zeugnisse, welcher Art sie sind, müssen in ihrem Zusammenhang studiert und erforscht werden. Tas Herausreißen einzelner Quellenstellen ist wertlos. Mit solcher Methode kann man nichts und zugleich alles beweisen. Tenn es gibt in der Welt- und in der Staatengeschichte nichts, wofür sich nicht ein Beleg fände. Karl Zeumer hat eine ausgezeichnete Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit herausgegeben, jetzt in 2. Ausl. 1913, mit einer rasch orientierenden chronologischen wie alpha­ betischen Übersicht. An ihrer Hand findet der Leser leicht eine Reihe im Text verwerteter Quellenstellen auf. — Einen breiteren Quellenkreis umfassend, jedoch nur das Mittelalter verwertend: Altmann und Bernheim, Aus­ gewählte Urkunden z. Erl. der Verfassungsgeschichte Deutschlands im M. A. 3. Ausl. 1904, ebenfalls mit chronologischem Verzeichnis. Eine wertvolle Ergänzung zu diesem Buche gibt Altmann in: Ausgewählte Urkunden zur außerdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776, 2. Ausl. 1913, wo sich vor allem die hochinteressanten Verfassungen der amerikanischen Freistaaten (Virginia, Pennsylvania und Massachusetts) finden.

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Für die Geschichte der katholischen Kirche und ihres Rechts siehe Carl Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des Römischen Katholi­ zismus, 3. Ausl. 1911, mit gutem Register und einem sehr willkommenen chronologischen Verzeichnis der römischen Päpste. Das offizielle Verzeichnis schließt mit Pius X., dem 258. Papste ab. Im übrigen sind alte und neue Quellenwerke mit größter Ausführlichkeit angegeben bei Schröder-Künßberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichteb, S. 3—13. — Für die neuste Geschichte war mir wertvoll: Wilh. Altmann, Ausgewählte Urkunden zur deutschen Verfassungsgeschichte seit 1806 in 2 Teilen. 1. Teil: 1806—1866. 2. Teil: seit 1867. Berlin 1898. Empfohlen sei zum Studium die Quellensammlung zur Deutschen Geschichte, herausg. von Brandenburg und Seeliger, daraus z. B. die Quellen zur Geschichte der Ostdeutschen Kolonisation vom 12. bis 14. Jahr­ hundert von Rudolf Kötzschke (1912). Sehr reichhaltig und belehrend ist das groß angelegte Werk von Voigtländer, Voigtländers Quellenbücher. Leipzig. Alle Lebensgebiete sind be­ rührt und alle Geschichtsepochen. Die Übersetzungen sind zuverlässig und die Auswahl der Quellen oder der Quellenstellen ist meistens pädagogisch geglückt. Der Student sei auch noch aufmerksam gemacht auf die didaktisch hübsch angelegte Sammlung von Karl Diehl und Paul Mombert, Ausgewählte Lesestücke zum Studium der politischen Ökonomie. Bereits zahlreiche Bänd­ chen erschienen. 2. Angaben zu den einzelnen Paragraphen.

Bei der Auswahl der Zitate bin ich von drei Gesichtspunkten aus­ gegangen. Einmal vom pädagogischen, indem ich Werke, namentlich Quellen nenne, die dem Studenten bei seinen Studien besonders förderlich sind. Ferner vom rein wissenschaftlicheil, indem ich Werke nenne, die höhere Aufmerksamkeit verdienen oder die ganz neu erschienen sind. Drittens vom persönlichen, indem ich Werke nenne, die mich bei dieser Arbeit be­ sonders angeregt haben. —

Zu 81. Die ganzen Hypothesen über die Ureingesessenheit und über die Ein­ wanderung der Germanen stellt sorgfältig zusammen Sigmund Feist, Kultur, Ausbreitung und Herkunft der Jndogermanen. Berlin 1913. Ter Verfasser schließt sich der Wanderhypothese an. Doch läßt seine Darstellung erkennen, wie schwierig es ist, überhaupt zu einer wissenschaftlich brauchbaren Vermutung zu gelangen. Dem Dilettantismus ist auf diesem Gebiete der weiteste Spielraum geöffnet und deshalb große Vorsicht geboten. Johannes Hoops, Waldbäume und Kulturpflanzen im germanischen Altertum, Straßburg 1905, zieht aus feinen Untersuchungen sehr interessante Rückschlüsse auf die Lage der Heimat der Jndogermanen. Er nimmt als Ursitz das südliche Mitteleuropa an, namentlich deshalb, weil das Hauptgetreide der Jndogermanen die Gerste (nickt der Weizen) war. Bergl. be­ sonders S. 377 ff/ Einen lehrreichen Einblick in die Problemstellung für Rechts- und Wirt­ schaftsfragen der germanischen Zeit gibt Max Weber, Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts. Conrads Jahrb., III. Folge, Bd. 28, S. 433—470 (1904).

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Zu 8 4. Daß die Gottesurteile nicht germanischen, sondern orientalischen Ur­ sprungs sind, wird jetzt mehr und mehr angenommen. Vergl. neustens Rudolf Gvette, Kulturgeschichte der Urzeit Germaniens, des Franken­ reiches und Deutschlands im frühen Mittelalter (1920, besonders S. 171) und Gustav Neckel, Die Überlieferungen vom Gotte Balder (1920). Der Verfasser erbringt den Beweis, daß die germanischen Überlieferungen von diesem Gott aus dem vorderen Orient stammen, eine Entdeckung, die auch für das germanische Recht viel zu denken gibt. Über das frühe Eindringen antiker Sagen in den Norden vergl. jetzt auch F. R. Schröder, Skandinavien und der Orient im Mittelalter. Germ.roman. Monatsschrift, 1920, S. 204 ff. und 281 ff.

Zu 8 7. Die Germania des Tacitus ist sehr gut herausgegeben und erklärt in der Ausgabe von Schweizer-Sidler, 7.Aufl., 1912. Sie zeichnet sich durch eine Fülle wertvoller rechtshistorischer Erläuterungen aus. Schwedische Felsbilder von Göteborg bis Strömstad, ohne Ver­ fassernennung im Folkwang-Verlag, Hagen 1919 erschienen, als 1. Band -er Werke der Urgermanen. Die von Baltzer, Göteborg entdeckten Tafeln sind hier in großer Zahl wiedergegeben und bieten überaus interessante Ein­ blicke in die germanische Kultur. Der beigegebene Text ist wissenschaftlich unbrauchbar.

Zu 8«. Alfons Dop sch, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Äulturentwicklung, aus der Zeit von Cäsar bis auf Karl den Großen. 2 Teile, 1. Teil 1918, 2. Teil 1920. In diesem groß angelegten Werke sucht der Verfasser den Nachweis zu erbringen, daß die Germanen weit weniger römische Kultur und römische Einrichtungen zertrümmerten, als bisher angenommen. Eine Reihe von Einrichtungen, die man als spezifisch germanisch in Anspruch nahm, sollen römischen Ursprungs und von den Germanen nur übernommen sein. Die Germanen werden geschildert als „alte Kenner und Wertschätzer der römischen Zivilisation". Der 2. Teil verrückt wichtige Grundlagen der fränkischen Ent­ wicklung. Er will u. a. die übermächtige Ausbildung der Grundherrschaft, das Städtewesen, den Tiefstand der kleinbäuerlichen Bevölkerung, das Lehn­ wesen und die Veränderungen im Heerwesen in eine viel frühere Zeit hinaus­ rücken (z. Teil ins 6. Jahrhundert) als die Forschung annimmt. Wissenschaft­ lich wertvoll ist, daß Dopsch eindringlicher als bisher den römisch-germanischen Verbindungssäden nachgeht und Anstöße zu Veränderungen aufdeckt in Zeiten, in denen sie noch nicht gesucht wurden. Ich glaube aber nicht, daß es ihm gelungen ist, das fränkische Gesamtbild zu verschieben. Denn man muß zwischen leisen Ansätzen und der vollen breiten Entwicklung einer Einrichtung wohl unterscheiden. (Vergl. zum 1. Teil die treffliche Kritik von Keutgen in Jahrb. für Nat. und Statistik, 115. Bd., 1920, zum 2. Teil Brinkmann in Z. R. G. Germ. Abtlg., Bd.41, S. 394—400.) Gehen wir den letzten Wurzeln nach, so dürfen wir auch beim römischen, ja nicht einmal beim griechischen Rechte Halt machen. Und in der Tat, Dopsch geht bisweilen weit zurück und erklärt z. B. das Eigenkirchenwesen komme auch bei Römern und Griechen vor.

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es sei national indifferent gewesen (S. 243). Damit ist der große Schritt in die internationale Rechtsvergleichung und in die Jdeengeschichte hinein getan. Ernst Mayer, Das altspanische Obligationenrecht in seinen Grund­ zügen, Zeitschr.sür vergl. Rechtswissenschaft, 38. Bd. S.31—240, auch als S.-A. erschienen, eine Studie, die für den schwer nachzuprüfen ist, der altspanisch nicht versteht, die aber in ihrer Gesamtanlage und Durchführung überzeugend dartut, wie viel altes germanisches Schuldrecht im Norden von Spanien und Portugal trotz der Einflüsse der lex Visigothorum erhalten geblieben ist. Auf den Spuren von Mayer und Ficker wandelnd, wird uns die Forschung noch manch überraschendes Resultat bringen.

Zu § 13. Adolf Waas, Vogtei und Bede in der deutschen Kaiserzeit, 1. Teil, Arbeiten zur deutschen Rechts- und Versassungsgeschichte, Berlin 1919, weist die Vogtei des Mittelalters als eine Herrenvogtei nach im Gegensatz zur Beamtenvogtei, erklärt aber fälschlich die Vogtei als Ausfluß des Eigenkirchenrechts und übersieht das Vorkommen zahlreicher Herrenvögte bereits in fränkischer Zeit. Alfons Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, vor­ nehmlich in Deutschland, 2 Teile 1913, ein höchst lesenswertes Werk, das von breiten Grundanschauungen getragen ist. In § 9 (Immunität und Vogtei) betont Verfasser mit Recht die selbständige Vogtwahl der Geistlichen, unter­ schätzt aber die Maßnahmen der Karolinger, die Vogtei dem Staatsorganismus einzugliedern. Auch die Lösung der Frage, welche Kräfte aus der Grund­ herrschaft und welche aus der Immunität stammen — vielleicht die schwierigste von allen — ist ihm nicht ganz gelungen. Die „Verstaatlichung" der Immunität betont am besten und ant stärksten Gerhard Seeliger in vielen seiner Arbeiten, vergl. besonders: Die soziale und politische Bedeutung der Grundherrschaft im frühen Mittelalter, Bd. I, 1903.

Zu § 16. Die neuere Theorie von der Stellung des Zentenars im Gericht und den Gegensatz von richterlichem Verhandeln und Untersuchen zum sog. causam finire“ oder „terminare“ siehe bei Heinrich Glitsch, Der alamannische Zentenar und sein Gericht. Berichte über die Verh. der König!. Sächs. Gesell, der Miss. Phil.-Hist. Klasse, 69. Bd., Heft 2 (1917), besonders» S. 23 ff.

Zu § 17. Franz Beyerle, Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechts­ gang. 1. Sühne, Rache und Preisgabe in ihrer Beziehung zum Strafprozeß der Volksrechte (Deutschrechtliche Beiträge, Bd. X, Heft 2, 1915), der erste Band eines groß angelegten Werkes, der neues Licht auf die Entstehung der Strafe wirst und gegenüber der herrschenden Meinung die Bedeutung des Fehderechtes aufs neue mit Erfolg herausarbeitet. Der Verfasser macht nur den Fehler, daß er die begriffliche Konstruktion (Ableitung der Strafe aus dem Friedensbruch) und die historische Auffassung (Ableitung der Strafe aus Friedensbruch und Fehde) zu wenig scharf von einander scheidet.

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Zu § IN. Von den Volksrechten nenne ich vier Rechte, welche dem Studenten in Sonderausgaben zugänglich sind, so daß er nicht auf den Abdruck in den Monumenta Gertpaniae historica angewiesen ist. 1. Lex Salica, herausg. zum akademischen Gebrauche von Heinrich Gesscken, Leipzig 1898 mit sehr zahlreichen, guten Erläuterungen. Sie ist das wichtigste Bolksrecht, das uns am besten in Recht und Geist der fränkischen Zeit einführt. 2. Lex Ribuaria und Lex Francorum Chama vorum, herausg. von Rudolph So hm, Hannover 1883, Volksrechte, die mit Vorteil als Ergänzungen zum salischen Recht herangezogen werden. 3. Lex Saxonum und Lex Thu» ringorum, herausg. von Claudius von Schwerin, Hannover und Leipzig 1918. Der erste Teil des sächsischen Rechts ruht aus der Lex Ribuaria und kann daher ergänzend zu dieser benutzt werden. 4. Edictus ceteraeque Langobardorum Leges, herausg. von Friedrich Bluhme, Hannover 1864, juristisch wie kulturgeschichtlich sehr wertvoll, besonders das Edikt des Königs Rothari von 643. Leider fehlt ein kleines brauchbares Lexikon für das mittelalterliche Latein, so daß man immer noch auf das große Glossarium von Du Cange, in 7 und in 10 Bänden herausg., angewiesen ist. Aus der großen Zahl der Abhandlungen über die Methode einer neuen Ausgabe der Lex Salica erwähne ich nur zwei treffliche Arbeiten: 1. Bruno Krusch, Der Umsturz der kritischen Grundlagen der Lex Salica. Eine text­ kritische Studie aus der alten Schule. 2. Claudius von Schwerin, Zur Textgeschichte der Lex Salica, beide erschienen im Neuen Archiv der Gesell, für ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. 40 (1916). Sie führen vorzüglich ein in die Methode, die Volksrechte rechtshistorisch und sprachlich zu bewerten und zeigen die ungeheueren Schwierigkeiten mit denen ein Herausgeber zu kämpfen hat. Sie tragen mit das Verdienst, verhindert zu haben, daß „dem schlechtesten Text die Ehre widerfuhr, an die Spitze der ganzen Überlieferung zu treten".

Zu § 21. F. Keutgen, Der deutsche Staat des Mittelalters, Jena 1918, ein Buch, auf das ich besonders Hinweisen möchte wegen seiner trefflichen Ein­ führung in die schwierige Lehre vom deutschen Fürstenstand. Keutgen hat überzeugend nachgewiesen, daß der Fürsten begriff ohne Zuhilfenahme poli­ tischer und wirtschaftlicher Gesichtspunkte (neben den rechtlichen) nicht er­ faßt werden kann. Auch bildet das Buch eine lehrreiche Ergänzung zu dem gleichnamigen Wert Georg von Belows (1914).

Zu § 22. Einen hübschen Überblick über die Wahlidee und die Wahleinrich­ tungen in Hinsicht auf die Herrscherwahl, gibt neustens Albert Wermingdoff. Die Wahl des Staatsoberhauptes in der deutschen Geschichte, Neue Jahrbücher, Jhrg. 1920, 1. Abt., Bd. XLV, Heft 10, S. 414-434.

Zu § 23. Von den zahlreichen neueren Abhandlungen über die Entstehung der Landeshoheit, nenne ich nur Manfred Stimming, Die Entstehung des weltlichen Territoriums des Erzbistums Mainz. Quellen und Forschungen

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zur hessischen Geschichte, Heft 3 (1915), um vor der grundherrlichen Theorie als juristischem Erklärungsversuch zu warnen. Mainz ist ein sprechendes Beispiel dafür, daß aus dem erzbischöflichen Streubesitz die Landeshoheit nicht entstehen konnte. Das eben erschienene Buch von Hermann Aubin, Die Entstehung der Landeshoheit nach niederrheinischen Quellen. Studien über Grafschaft, Immunität und Vogtei, Berlin 1920, Histor. Studien, Heft 143, konnte nicht mehr verwertet werden. Die drei Vorworte zeigen, unter welch be schwerlichen Umständen das Buch zustande kam.

Zu § 24. Zur 800jährigen Feier Freiburgs i. B. (1120—1920) sind eine Reihe hübscher kleinerer Arbeiten erschienen, welche die Bedeutung und Entwicklung dieser zähringischen Gründung anschaulich machen. Populär geschrieben und mit Bilderschmuck versehen ist Peter P. Albert, Achthundert Jahre Freiburg im Breisgau. 1120—1920. Freiburg 1920. In den großen Gang der deutschen Städtegründungen wird Freiburg eingereiht von Georg v. Below, Deutsche Städtegründungen im Mittelalter, Frei bürg 1920, ein Büchlein, das aufs neue und mit Recht die Ansicht bekämpft, Freiburg sei aus einer Burgansiedlung entstanden. Nicht die Burg, sondern der Markt war maßgebend. (Gegen die Entstehung aus einer Landgemeinde S. 19.) Die Ansichten und das reichhaltige Schrifttum über das älteste Stadt­ recht gut zusammenfassend ist v. Belows Studie, Zur Deutung des ältesten Freiburger Stadtrechts, Überlingen 1920. (Ob das „recedeie1 S. 27, Anm. 1, richtig gedeutet ist, erscheint mir zweifelhaft.)

Zu 8 31. Die eben erschienene Verfassungsgeschichte von Schwarzburg-Sonders­ hausen von Friedrich Lammert, 1920, Bücherei der Kultur und Gegen­ wart, Bd. 10, fällt nur wegen ihres Anhangs S. 166—268: „Zeitgenössische Zeugnisse" in Betracht. Georg von Below, Die städtische Verwaltung des Mittelalters als Vorbild für die spätere Territorialverwaltung, Histor. Zeitschr., Nelle Folge, Bd. 39, S. 396—463, eine Abhandlung, welche in fein abwägender Weise aufdeckt, inwiefern städtische Einrichtungen institutionell oder gedank­ lich auf den deutschen Territorialstaat eingewirkt haben, eine Entwicklung, die ich im einzelnen im Text leider nicht verfolgen konnte. Martin Haß, Die Hofordnung Joachims II. von Brandenburg, Hist. Studien, Heft 87 (1910), gewährt in Text und Erläuterungen ein lebens­ volles Bild von allen Einzelheiten eines Hoforganismus im 16. Jahrhundert, auch interessante Einblicke in Disziplin und Wirtschaft. Dazu ist zu vergleichen die Hof- und Kanzleiordnung des Erzbischofs Rupprecht von Köln von 1469, der versuchte, die ganze Verwaltung in einem Rat von vier Männern zu konzentrieren. F. Walter, Das alte Erzstift und die Reichsstadt Cöln. 1866.

Zu § 32. Das schwierige Problem des Widerstandsrechts ist neuerdings trefflich behandelt von Fritz Kern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mttelalter, (Leipzig 1915) eingehender besonders das 9., 11. und

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13. Jahrhundert ins Auge fassend und von Kurt Wolzendorff, Staats­ recht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt (v. Gierkes Unters. Heft 126. In 16), mit dem ständischen Staate einsetzend und das Widerstandsrecht bis in die Neuzeit hinein verfolgend.

Zu § 33. Georg von Below. Probleme der Wirtschaftsgeschichte. Tübingen 1920, eine Sammlung der wirtschaftsgeschichtlichen, alten Abhandlungen Belows, unter Hinzufügung zweier neuer Aufsätze des Verfassers. Wo der Leser auch nicht zustimmen kann, liest er das Buch doch mit Nutzen; denn es führt ausgezeichnet in die großen Fragen der Wirtschaftsgeschichte ein und verzeichnet das Schrifttum sehr genau. Es zeigt deutlich, daß Wirtschafts­ geschichte und Rechtsgeschichte engere Fühlung miteinander nehmen müssen, als bisher. Deshalb brauchen sie aber methodisch keine neuen Bahnen ein­ zuschlagen. Balthasar Reber, Felix Hernmerlin von Zürich, Zürich 1846, führt ein in die bedeutendste wissenschaftliche Schrift dieses Mannes: Liber de Nobilitatie, verfaßt von 1444—1450, sehr anziehend geschrieben in Form eines Streits zwischen einem Nobilis und einem Rusticus. Der Adel wird tendenziös verherrlicht, der Bauern- und Bürgerstand herabgesetzt. Aber das Buch darf trotzdem aufgefaßt werden als der Ausdruck der Stimmung, die damals in Adelskreisen herrschte, als ein Bild des Kampfes, den der Adel gegen das aufstrebende Bürger­ und Bauerntum focht. Vergl. etwa Kap. 32: „Es wäre gut, wenn von Zeit zu Zeit, etwa alle 50 Jahre, den Bauern Haus und Hof zerstört würden, damit die üppigen Zweige ihres Übermuts beschnitten würden" (S. 248).

Zu § 34. Auf die fruchtbare, soziologisch erfaßte Unterscheidung von kleinem und großem sozialen Kreise bin ich durch das Buch von Paul Sander, Feudalstaat und bürgerliche Verfassung aufmerksam gemacht worden. (Berlin 1906.) Sander hat zwar „das Grund Problem der deutschen Verfassungs­ geschichte" nicht gelöst, aber er hat einen Gedanken in die Debatte geworfen, der von keinem Historiker übersehen werden darf. Denn die Größe eines Verbandes ist von enormer Bedeutung für das rechtliche Zusammenleben der Menschen und ich habe diese Unterscheidung wiederholt benützt. Siehe neustens für die Besiedelung des Ostens das vorzügliche, an schauliche Büchlein K. Hampes: Der Zug nach dem Osten. Die kolonisa­ torische Großtat des deutschen Volkes im Mittelalter. Aus Natur und Geistes­ welt, Bd. 731 (1921). U. et. ist der Einfluß Heinrichs des Löwen auf die Koloni­ sation S. 33f. in richtiges Licht gerückt, vor allem durch die Bemerkung, daß der Löwe weit mehr als bloße territoriale Ausdehnungspolitik getrieben hat. S. 98 ff. ist eine reiche Literaturübersicht geboten. Andreas Heusler, Schweizerische Berfassungsgeschichte, Basel 1920, die erste Verfassungsgeschichte, welcher es wirklich geglückt ist, die Eidgenossenschaft im ganzen zu umspannen. Sie reicht von den Urzeiten bis zum Jahre 1848 und gibt ein Plastisch abgerundetes Bild schönster und feinster Art. Juristisch konstruktiv wird sich noch vieles sagen lassen, was unausgesprochen blieb. Jdeengeschichtlich ist zu wenig Rücksicht genommen auf die Strömungen,

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die von Italien hinten. Vergl. dazu Karl Meyer, Italienische Einflüsse bei der Entstehung der Eidgenossenschaft. Jahrb. f. Schweizerische Geschichte, Bd. 45 (1920). Die Forschung muß sich mit der Frage der ital'enischen Ein* Wirkungen, die besonders Karl Meyer in seinen Arbeiten neuerdings betont, noch stark befassen. — Über die Entstehung der Landsgemeinden findet sich gutes bei Heinrich Ryfsel: Die schweizerischen Landsgemeinden. Zürich 1903. — Die enge Zusammenarbeit von schweizerischer und deutscher Rechts­ geschichte verlangt mit eindringlichen Worten Ulrich Stutz, Die Schweiz in der deutschen Rechtsgeschichte. Sitz.-Ber. der Preuß. Akad. der Wiss. 1920, Bd. IV, S. 92—114.

Zu § 37. Der Sachsenspiegel (Landrecht) ist am besten herausgegeben von Gustav Homeyer, in dritter umgearbeiteter Ausgabe 1861, nach derBerliner Handschrift von 1369. Das sächsische Lehnrecht und der Richt­ steig Lehnrechts, ebenfalls von Homeyer, erste Ausgabe 1842. Einen von Zusätzen gereinigten Text des Landrechts gibt Zeumer (Quellensammlung Nr. 63) im Auszug. Er legt in der Hauptsache die Quedlinburger Hand­ schrift zugrunde. Die Homeyersche Ausgabe ist seit Jahren vergriffen, so daß sich der Student mit der Ausgabe von Weiske und Hildebrand be­ gnügen muß. In keines Juristen Bibliothek sollte dieses kostbare, urdeutsche Werk fehlen. Freih. von Laßberg, Der Schwabenspiegel oder schwäbisches Landund Lehen-Rechtbuch, Tübingen 1840, eine gute, aber nicht mehr auf der Höhe der Forschung stehende Ausgabe des so wichtigen schwäbischen Land­ rechts. Die gleichzeitig (auch 1840) erschienene Ausgabe von Wilhelm Wackernagel, nach der Ambraser und Einsiedler Handschrift herausg., weicht erheblich von der Laßbergschen Handschrift ab und ist insofern für den Studenten weniger brauchbar, als sie das Lehnrecht nicht enthält. Ob die von Rockinger vorbereitete kritische Ausgabe je erscheinen wird, weiß niemand. Hermann Knapp, Das Rechtsbuch Rupprechts von Freising (1328), Leipzig 1916, eine Ausgabe, welche die alte Ausgabe Ludwig von Maurers, die längst vergriffen war (1839) entbehrlich macht. Ruprechts Rechtsbuch weicht insofern vom Sachsen- wie vom Schwabenspiegel ab, als es Stadt­ recht und Landrecht miteinander verbindet, während jene fast ausschließlich. Landrecht enthalten. Tie alte Ordnung des Hofgerichts zu Rottweil (um 1435) ist jetzt herausg. von Heinrich Glitsch und Otto Müller. S.-A. aus der Z. R. G. Germ. Abtlg. 41, erweitert um einen Anhang und ein Register (1921). Das Gericht unterstand unmittelbar dem König. Seit 1360 waren die Grafen von Sulz, seit 1687 die Fürsten von Schwarzenberg im Besitze des Gerichts. 1784 erlosch es. Die Aufzeichnung des Rottweiler Rechts hat vermutlich schon 1383 statt­ gefunden. Tie Ordnung ist nicht nur prozessual höchst bedeutsam, besonders für die Art und den Verlauf des Achtverfahrens. Sie gibt uns auch einen tiefen Einblick in das materielle Recht, so daß sie die Herausgeber bezeichnen konnten als „die umfangreichste und hervorragendste Quelle schwäbischen Landrechts des Mittelalters nach dem Schwsp." P. Clausewitz, Berlinisches Stadtbuch. Neue Ausgabe. Berlin 1883, eine Ende des 14. Jahrhunderts abgeschlossene Quelle, die einen sehr interessanten Einblick in die mannigfachsten Verhältnisse einer norddeutschen

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Stadt bietet und noch nicht genügend ausgebeutet ist von der Rechts­ und Wirtschaftsgeschichte. Die Sprache ist zum Teil die kurze, prägnante, treffsichere Sprache des sächsischen Rechts. Eine sehr instruktive Quellensammlung ist die Leipziger SchöffenspruchSammlung von Guido Kisch, erschienen als 1. Band der Quellen zur Ge­ schichte der Rezeption. Leipzig 1919, mit einem gut gearbeiteten Wort-, Sach- und Personenregister versehen, das den Gebrauch wesentlich erleichtert. Es ist eine Sammlung privaten Charakters, niedergeschrieben etwa zwischen 1523 und 1524 in Leipzig durch einen Leipziger Schöffen. Kisch macht aber in seiner gediegenen Einleitung (S. 1*—111*) wahrscheinlich, daß dem Kompi­ lator eine amtliche Spruchsammlung des Leipziger Schössenstuhles aus der Mitte des 15. Jahrhunderts als Hauptquelle diente. Fritz Kern, Über die mittelalterliche Anschauung vom Recht, Hist. Zeitschrift, Bd. 115, S. 496 ff., führt eindrucksvoll ein in die mittelalterliche Harmonie von seiendem und seinsollendem Recht, unterschätzt aber im modernen Staat die Ausbildung von Gewohnheitsrecht und im alten Staat die Er­ zeugung von Satzungsrecht.

Zu § 38.

Zum mittelalterlichen Strafrecht ist neustens zu vergleichen Karl Bindiug, Die Normen und ihre Übertretung, IV. Bd., 1. Abteilung: Tie geschichtliche Entwicklung des Fahrlässigkeitsbegriffes 1919. Der Ver­ fasser kämpft gegen die Annahme, das deutsche Strafrecht habe ein fahr­ lässiges Delikt gekannt. Weder im Stadt- noch im Landrecht sei der Begriff der Fahrlässigkeit zur Ausbildung gelangt. Bescheidene Anfänge hätten sich in den Volksrechten gezeigt. Doch hätten gerade hier römische Anschauungen stark eingewirkt. Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters. Erster Teil: Tie Verbrechen und ihre Folgen im allgemeinen. Leipzig 1920. (Der zweite Teil soll den einzelnen Vergehen gewidmet sein.) Das Buch ist mit erstaun­ licher Quellenkunde und mit feinem Gefühl für die differenzierten Straf rechtsbildungen in den deutschen Landschaften geschrieben. Es bietet der weiteren Forschung ein sehr reiches Material. Das Bild gewaltigster Zer­ splitterung hätte gar nicht besser gegeben werden können. Dagegen vermißt man die Darstellung über grundlegende Gedanken, wie über den gesamten Schuldbegriff. Auch das schwierigste Problem, die Fahrlässigkeit, ist un­ genügend behandelt. In der ZRG. Germ. Abtlg. (1920) ergänzt His sein Buch durch einen sorgfältigen Aufsatz über die Geschichte der Körperverletzung. Für die Erkenntnis des Strafrechts in der Übergangszeit vom Mittel­ alter zur O.O.O. ist eine bedeutsame Quelle die Wormser Reformation von 1498. Sie steht auf dem Boden des Abschreckungsprinzips, wie die Vorrede zum 6. Buche deutlich ergibt: „und die straffe eins unfridsamen sey ein forcht andern Menschen". Ferner: „daß durch nachlassen der straffe die bösen in jrer boßheit nit gesterckt und andern ursach gegeben werde zu leichtfertigkeit —" (Spezial- und Generalprävention). Einen der interessantesten Achtprozesse des ausgehenden Mittelalters stellt Friedrich Hegi dar: Die geächteten Räte des Erzherzogs Sigmund von Österreich und ihre Beziehungen zur Schweiz, 1487—1499, Innsbruck 1900. Die Räte wurden geächtet wegen crimen laesae majestatis und die Acht galt als eingetreten mit der Tat (also eine Achtung ipso facto, nicht cum judicio). Das Buch, das juristisch noch besser verwertet werden könnte.

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Schrifttum und Quellen.

zeigt den starken Einschlag des römisch-italienischen Strafrechts in das deutsche Strafrecht des 15. Jahrhunderts.

Zu § 39. Jacob Wackernagel, Zur Entstehung der städtischen Ratsgerichts­ barkeit im Mittelalter, Festgabe zum schweiz. Juristentag 1920, Basel 1920 (auch in Separatabzug) weist auf den engen Zusammenhang zwischen dieser Gerichtsbarkeit und den Friedensordnungen der Städte hin. Zu unter­ suchen ist noch das Verhältnis des Rates zur peinlichen Gerichtsbarkeit. Fritz Ruoff, Die Radolfzeller Halsgerichtsordnung von 1506, Frei­ bürger Abh. aus dem Gebiete des öffentlichen Rechts, Heft XXI (1912), wichtig für das Eindringen des Jnquisitionsprozesses im weltlichen Recht. Abdruck der Ordnung selbst S. 155—160. Als Anhang II eine Reihe inter­ essanter Urfehdebriese. Ulrich Stutz, Höngger Maiergerichtsurteile des 16. und 17. Jahr­ hunderts, Bonn 1912, bringt u. a. eine Reihe von Belegen für das Bestreben der bäuerlichen Gerichte, die Parteien auf den Weg gütlichen Ausgleichs zu verweisen. In Nr. 22 (anno 1559) wird sogar eine besondere Kommission eingesetzt, bestehend aus zwei Vögten mit) einem Meister Sprüngli, um die Parteien „inn der gutlicheyt zu "vertragen". Die Stutzsche Sammlung ist in privatrechtlicher wie prozessualer Beziehung für den Studenten wertvoll. Hans Planitz, Handhaft und Blutrache, Voigtländers Quellen­ bücher Bd. 94, gibt eine anschauliche Zusammenstellung von besonders sprechenden Quellen auf diesem Gebiete, begleitet von knappen, lehrreichen Einführungen zu den einzelnen Stoffkreisen. Herbert Meyer, „Gerüst, Handhaftversahren und Anefang" in ZRG. Germ. Abtlg. 37, S. 382—497, führt ein in die wichtigsten neuen Kontroversen auf diesem schwierigen Grenzgebiet zwischen Zivil- und Straf­ recht und beweist die große Tragweite der Publizitätswirkung im deutschen Recht. Karl von Amira, Thierstrafen und Thierprozesse, Mitteilungen des Instituts für österr. Geschichtsforschung XII. Bd., 4. Heft, S. 545—601, auch als Separatabdruck erschienen (1891), stellt sorgsam das Schrifttum dieser viel zu wenig behandelten Materie zusammen und weist u. a. den großen Einfluß der Lex Bei auf die mittelalterlichen Anschauungen nach. Einen sehr interessanten Prozeß, der die Zuständigkeit der kaiserlichen Landgerichte in Helles Licht rückt, verzeichnen die Selecta Norimbergensia, IV. Teil, Anspach 1772 S. 251—366. Markgraf Albrecht von Brandenburg hatte den Federsee vom Kaiser Friedrich als Reichslehen erhalten. Die Leute von Buchau und ihre Nachbarn widersprachen der Berechtigung des Mark­ grafen, im dortigen See zu fischen, weshalb Albrecht beim kaiserlichen Land­ gericht das dem Burggrafentum Nürnberg einverleibt war, um „Anleite" nach­ suchte. Nun wurden die v. Buchau geladen, erschienen aber nicht. Daher wurde die Anleite (gerichtliche Einweisung in das Objekt) erteilt. Doch die von Buchau kehrten sich nicht daran, so daß gegen sie die „Vollung" (Ver­ urteilung) und die „Acht" ausgesprochen wurde. Albrecht suchte beim Kaiser um die Bestätigung der Exekution und der Acht nach, aber die von Buchau, im Verein mit vier Dörfern und der Reichsstadt Biberach machten vor dem Kaiser Einwendungen gegen das Erkenntnis des Landgerichts. Sie erklärten u. a. a) das Nürmberger Landgericht habe nur Zuständigkeit für Franken;

Schrifttum und Quellen.

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b) Buchau würde als in Schwaben liegend „regulärster*1 dem Rott­ weiler Hofgericht unterstehen, sei aber gefreit gegen dieses, c) österreichische Privilegien stünden der Kompetenz entgegen (Öster­ reich hatte nämlich die Grafschaft Wardenberg und einige Bauern in den vier oben erwähnten Dörfern inne. Diese waren an Biberach verpfändet und Biberach selbst war ein „Schirmort" von Buchau). Der Markgraf trat nun seinerseits den Gegenbeweis an und erstritt vor dem königlichen Kammergericht die Rechtmäßigkeit seines Lehnsbesitzes, (übertrug ihn dann aber mit Bewilligung des Kaisers an Österreich). Der Prozeß begann am 19. Juni 1447. Der letzte Urteilsbrief ist vom 28. Juli 1456. Die Verhandlungen sind für den damaligen Rechtsgang sehr kennzeichnend, besonders: für die Prozeßfristen, die Prozeßvertretungen (durch „angedingte Fürsprecher" und „vollmächtige Anwälte"), die ProzeßKommissarien (Erbmarschall von Pappenheim), den Zeugniszwang für Zeugen, die Ladung zum gerichtlichen Zweikampf (sogar Bürger wurden kämpflich geladen), die Achtverhängung und die Achtentlassung, die Stellung der kaiserlichen Notare, und der „Warner und Anweiser", die Mündlichkeit des Verfahrens, das Eindringen des römischen Rechts (der Anwalt nennt sich „ein schlechter Ley der recht nicht gelert", S. 287), das Verhüten von Prozeßverzögerungen und endlich für die Verteilung des Schadens und der Gerichts­ kosten. — Das Studium eines solchen verwickelten, reichhaltigen Prozesses führt in die geistige Struktur der damaligen Rechtsordnung und der ihr unterworfenen Menschen ausgezeichnet ein und sei daher dem Studenten empfohlen.

Zu § 40. Die Versassungsgeschichte der Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert hinein ist mustergültig dargestellt von Fritz Hartung, Deutsche Verfassungs­ geschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Berlin 1914 (Grundriß der Geschichtswissenschaft. Reihe II, Abteilung 4). Die seine Art der Ver­ wertung von politischen und verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten ist be­ sonders anziehend. Wilhelm Oncken, Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, aus der mir vor allem die Bände III, 1 (von Bezold, Geschichte der deutschen Reformation) und III, 7 (Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte von 1648 bis 1740 in zwei Bänden) wertvoll waren. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, I. II. 2.Ausl., 1916ff., ein Werk, das außerordentlich umfassend und reich angelegt ist und von der richtigen Grundanschauung ausgeht, daß Kapitalismus mehr ist als nur ein bestimmtes Wirtschaftssystem, daß Kapitalismus einen besonders gearteten Wirtschaftsgeist bedeutet. Allzu paradox geschrieben sind gewisse Partien über das städtische Wirtschaftsleben im Mittelalter. Dagegen sind u. a. glänzend durchgeführt die Einflüsse der großen stehenden Heere auf Staat und Staatsgesinnung und auf die Ausbildung des Hochkapitalismus. — Wer sich mit einem Gegner Sombarts befassen will — er hat deren mehr als genug — lese zunächst einmal Lu jo Brentano, Die Anfänge des modernen Kapitalismus, München 1916. Jacob ter Meulen, Der Gedanke der Internationalen Organi­ sation in seiner Entwicklung 1300—1800, Haag 1917, als Quellensammlung zu benutzen. Ebenso als gute Quellensammlung: Martin Rade, Luther in Worten aus seinen Werken (in: Die Klassiker der Religion), Berlin 1917.

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Für den Juristen besonders S. 313 ff.: Bon weltlichen Ordnungen. Ferner 55 ff.: Um die wahre Kirche. Den Nachweis, daß das deutsche Recht elastisch genug war, sich zu einem Verkehrsrecht mit starkem Gläubigerschutz zu entfalten, hat Heinrich Mitteis geliefert, Rechtsfolgen des Leistungsverzugs beim Kaufvertrag nach nieder­ ländischen Quellen des Mittelalters. (Beyerles Beiträge Bd.VIII.) 1913. Freilich mußten besonders günstige Voraussetzungen da sein, wie dies in den Niederlanden der Fall war.

Zu § 41. Das berühmte Buch Samuel von Pufendorfs ist neu herausgegeben von Fritz Salomon, Spverinus de Monzambano, De Statu Impeni Germanici. Nach dem ersten Druck mit Berücksichtigung der Ausgabe letzter Hand. Zeumer, Quellen und Studien, Bd. III, Heft 4 (1910). Die erste Ausgabe stammt vom Jahre 1667. Johann Jacob Moser, Compendium Juris Publici Mod'emi Regni Germanici, Tübingen 1742, ein Grundriß, der den Studenten kurz in' das Staatsrecht des 18. Jahrhunderts einführt (Deutsch geschrieben). Man übersieht den historischen Zusammenhang am besten, wenn man Pütter, Geist des westfälischen Friedens, Göttingen 1795 zu Hilfe zieht. Wo im Text Moser genannt ist, ist dieses' Werk des äußerst fruchtbaren Schriftstellers

gemeint.

Zu § 44. Rudolf Smend. Das Reichskammergericht, l.Teil: Geschichte und Verfassung, als 4. Band, 3. Heft der Quellen und Studien von Karl Zeumer, 1911 erschienen. Das Buch gewährt nicht nur einen Einblick in die vielgestal­ tigen Gründungsvorgänge und die besonderen Einrichtungen des Gerichts. Es reiht auch dieses oberste Forum des Reiches geschickt und weitsichtig in den ganzen Organismus des deutschen Staates ein. Politische, wie recht­ liche Momente werden dabei berücksichtigt. Beilage 1 gibt die interessanten Abweichungen der einzelnen Entwürfe wieder.

Zu § 45. Eduard Fueter, Geschichte des europäischen Staatensystems 1492 bis 1559, Berlin, München 1919, bettet das deutsche Reich, vor allem den habsburgischen Staat, trefflich in das europäische Konzert ein und gibt weite Einblicke in die Neugestaltung des Militärwesens in enger Verbindung mit den Wirtschaftsverhältnissen.

Zu 8 4«. Zur Bildung des badischen Territorialstaates, staatsrechtlich, wie wirtschaftlich interessant Eberhard Gothein, Die badischen Markgrafschaften im 16. Jahrhundert, Neujahrsbl. der Bad. Hist. Kommission 1910.

Zu § 47. Einen guten, kurzen Einblick in die Geschichte des Verwaltungsrechts gibt Fritz Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 4. Aufl. 1919, S. 31-47.

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Tie Vorlesungen Gustav Schmollers über Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte sind jetzt herausg. von Karl Rathgen. Berlin 1921. Sie umfassen den Zeitraum von 1640—1887. Die von mir vernachlässigte Finanzgeschichte kann daraus ergänzt werden. Otto Hintze, Der Kommissarius und seine Bedeutung in der all­ gemeinen Verwaltungsgeschichte. Eine vergleichende Studie. (Historische Aufsätze für Karl Zeumer, Weimar 1910, S. 493—528.) Dieses außer­ ordentliche Organ der Staatsgewalt wird auf seinen Ursprung und auf seine große Bedeutung für die Ausbildung des modernen Staates untersucht. Zu wenig nachgegangen ist nur dem möglichen Vorbild der Kirche. Der Streit um die Rezeption der burgundischen Verwaltungseinrich­ tungen ist heute stärker, denn je. Vergl. Theodor Mayer, Die Verwaltungs­ organisation Maximilians I., ihr Ursprung und ihre Bedeutung, Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs, herausg. von A. Dopsch, Heft 14 (1920). Verfasser hält es für ausgeschlossen, daß Maximilian das burgundische Muster „im einzelnen" übertragen wollte und er spricht dem Landesfürsten eine planmäßige Reformtätigkeit überhaupt ab. Es waren hauptsächlich „Augen­ blicksmaßregeln" (S. 57 ff.), die ergriffen wurden. Edgar Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen. Ein Beitrag zur Preußischen Rechts- und Verfassungs­ geschichte, Halle 1914, führt mit großer juristischer Schärfe in die Verhält­ nisse des absoluten Staates ein und beweist, wie außerordentlich schwierig es für den Fürsten war, Ger'cht und Verwaltung von einander zu trennen. Ein treffliches Gegenstück dazu finden wir im 2. Bande von Eduard Rosen­ thal, Geschichte des Gerichtswesens und der Verwaltungsorganisation Bayerns, die Zeit von 1598—1745 behandelnd. (Würzburg 1906.) Die verschiedenen Angriffe von Stölzel haben den Wert dieses Buches nicht be­ einträchtigt. (Der erste Band umfaßt die Zeit von 1180—1598.) Zum badischen Syndikatsprozeß vergl. Wolfgang Windelband, Staat und katholische Kirche in der Markgrafschaft Baden zur Zeit Karl Friedrichs, Tübingen 1912, besonders S. 89 ff.

Zu § 48. Clemens Theodor Perthes, Tas deutsche Staatsleben vor der Revolution, Hamburg und Gotha 1845, eine außerordentlich lebensvolle, an­ schauliche Darstellung, als „Vorarbeit zum deutschen Staatsrecht" bezeichnet.

Zu 8 49. Earl Friedrich Gerstlacher, Handbuch der deutschen Reichs­ gesetze, 11 Bände. 1786—1793, eine sehr ausgiebige Sammlung der Reichs­ gesetze mit -kurzen historischen Hinweisen auf die Entstehung der Normen, aber in nicht besonders übersichtlicher systematischer Anordnung. Julius Weiske. Die Quellen des sächsischen Rechts. Leipzig 1846, gibt zunächst einzelne Stellen des Sachsenspiegels wieder (S. 1—35), bringt dann die kursächsischen Konstitutionen Herzog Augusts von Sachsen von 1572 (S. 36—102) und die sich daran anschließenden kursächsischen Decisionen von 1661 (S. 179—235) zum Abdruck. Auch die kursächsische Prozeß­ ordnung von 1622 (102—178) ist abgedruckt. Diese Quellen sind besonders bedeutungsvoll für die Erkenntnis des auf deutschrechtlichen Grundlagen basierten sächsischen Prozesses und für die Tatsache, daß das Recht Eikes von Repgau noch in der Neuzeit ein zähes Leben geführt hat.

Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte.

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Schrifttum und Quellen.

Johann Stephan Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats- und Fürstenrecht, II. Teil, Göttingen 1779, druckt S. 288 ff. einen lehrreichen Prozeß ab, der sich im Jahre 1589 im Stiftsgebiet von Osna­ brück abspielte. Es wurden nicht weniger als 115 Beweisartikel entworfen und 40 Zeugen vernommen. Die Zeugen sollten feststellen, daß in jener Gegend ein Gewohnheitsrecht bestehe, wonach adelige Töchter kein Erbrecht besäßen an väterlichen und mütterlichen Gütern, sondern nur einen Anspruch auf standesgemäße Aussteuer. Der Beweis, geführt hauptsächlich von adeligen Damen und Herren im Alter von 50, 60 und 70 Jahren, glückte. Art und Inhalt der Beweisstücke sind interessant für das heiße Ringen des alten deutschen Rechts mit dem eindringenden römischen Recht. Pütter bemerkt S. 313 sehr hübsch, daß die damalige Zeit von dem unglücklichen Vorurteil getragen war, „als ob nur das römische Recht gemeines Recht in Teutschland sey", und daß man glaubte, „selbst die richtigsten Grund­ sätze unserer einheimischen Rechte immer doch mit Stellen fremder Gesetz­ bücher belegen zu müssen". Die Ritterschaft hielt zäh an ihrem Erbrecht fest und ließ sich ihr altes Gewohnheitsrecht durch eine Verordnung vom 15. Mai 1778 neu bestätigen. Die Vorrede, welche der treffliche Justus Möser im Jahre 1777 zu dieser Verordnung geschrieben hatte (S. 333—337), zeigt, wie das Ende des 18. Jahrhunderts dem römischen Rechte bereits abgeneigt war. Zu § 50. Die Carolina ist immer noch am besten zu vergleichen in der Ausgabe von Heinrich Zoepfl, Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., Leipzig und Heidelberg 1883. Es ist eine synoptische Dar­ stellung, welche neben der C. C. C. die Bambergensis (Mater Carolinae von 1507) und Brandenburgica (Soror Carolinae von 1516) nebst den beiden Projekten der C. C. C. von 1521 und 1529 wiedergibt. Zugrunde gelegt ist der Heidelberger Kodex, die älteste Druckausgabe von Juo Schösser in Mainz, 1533.— Zu warnen ist vor der Ausgabe von I. Kohler und Willy Scheel, Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., Halle a. S. 1900. Die Ver­ fasser haben eine Abschrift des Speyerer Entwurfs, die sich in den Kölner Reichstagsakten fand, zugrunde gelegt. Aber dieser Text hat niemals Gesetzes­ kraft besessen. — Sehr lehrreich ist die Darstellung von August Schoetensack, Der Strafprozeß der Carolina, Leipzig 1904, in der allerdings die Dar­ stellung des Jnquisitionsprozesses etwas ausführlicher hätte bearbeitet werden können. Als Quellensammlung für die neuere österreichische Geschichte des Strafrechts ist das kleine Büchlein von Carl Stooß und E. Frh. von Künßberg, Allg. Bestimmungen österr. Strafgesetzbücher, zu empfehlen. Heidelberg 1909. Es behandelt synoptisch die allgemeinen Bestimmungen der Theresiana (1769), der Josephina (1787), des westgalizischen Strafgesetzbuches (1796) unb der Strafgesetze von 1803 und 1852. Ein gelehrtes und gründliches Buch, das kanonische, römische und deutsche Recht umfassend und vom Mittelalter bis zur Neuzeit reichend, ist das Werk von Joh. Nagler, Die Strafe, 1. Hälfte. Leipzig 1918. Es kündet sich an als eine „juristisch" empirische Untersuchung, begeht aber den Fehler, zu stark mit deduktiv gewonnenen Gedanken an den Stoff heranzutreten. Dieser Gedanke ist die Vergeltungsstrafe. Gerechter wird den verschiedenen Prinzipien, welche das Strafrecht beherrschten, L. v.Bar, Handbuch des Deutschen Strafrechts, 1. Band:

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Geschichte des Deutschen Strafrechts und der Strasrechtstheorien. Berlin 1882. Daß Bar allerdings die Theorie Feuerbachs mehr eine Theorie des positiven Gesetzes, als eine Theorie des psychologischen Zwanges (der Ab­ schreckung) benennt, ist mir nicht einleuchtend (S. 249). Gut gegenübergestellt sind die Theorien von Karl v. Lilienthal: Der Streit um die Strafrechtsreform; Rede 1912. Sie zeigt, wie Bergeltungs- und Sicherungsstrase weit mehr zusammengehen als vielfach an­ genommen wird.

Zu 8 51. Die „Malefitz-Proceß-Ordnung der Fürstenthumben Obern und Ridern Bayrn" ist abgedruckt in der großen Ausgabe des Bayerischen Land­ rechts, München 1616, S. 794 ff. Sie erweist sich als ein interessantes Über­

gangsgesetz zwischen der C. C. C. und den Strafprozeßordnungen des 18. Jahr­ hunderts. Über die verschiedenen Zweifel, die sich seit dem 16. Jahrhundert auf prozessualem Gebiet ergeben haben, siehe die Vorrede. Für die ständischen Abstufungen, die das 17. Jahrhundert noch aufweist, vergl. Teil III, Art. 15: Auch die Zeugen (nicht nur der Angeklagte) dürfen gefoltert werden, sofern sie leibeigene Knechte oder Sklaven sind! Die inquisitorischen Bestandteile in unserem heutigen Prozesse sind jüngst treffend herausgearbeitet worden von Ernst Delaquis, in der Fest­ gabe für Emil Zürcher (1920): Die Voruntersuchung im deutschen Straf­ verfahren. Historisch, dogmatisch, kritisch. S. 42—61.

Zu 8 52. Für die Schweiz ist neustens zu vergleichen: Emil Schieß, Die Hexen­ prozesse und das Gerichtswesen im Lande Appenzell im 15.—17. Jahrhundert. S.-A. aus dessen Diss. (ohne Datum). Trogen. Das Büchlein zeigt, wie stark auch im protestantischen Teil Appenzells, in Außerrhoden, Hexenwahn und Hexenversolgungen verbreitet waren. Siehe die S. 162 ff. abgedruckten Hexengeständnisse aus dem Malefizbuch von 1597—1625, sowie aus dem Malefizbuch von 1625—1713. Sie weisen auf die reiche Phantasie der Appen­ zeller im Reiche des Aberglaubens hin. — Im übrigen ist als treffliche Dar­ stellung mit vielen Literaturverweisen zu vergleichen Soldan-Heppe, Geschichte der Hexenprozesse, neu bearbeitet von Max Bauer, 2 Bände, 1911. Das in meinem Text genannte erschütternde Würzburger Verzeichnis ist abgedruckt Bd. II, S. 17—20. Die rein juristische' Darstellung des Pro­ zesses, der Anlage des Buches gemäß, allerdings etwas zu kurz. Über die wissenschaftliche Literatur, die sich an den Malleus maleficamm anschloß, vergl. R. Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. 1. Abt., 1880, S. 642 ff.

Zu 8 53. Richard Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts? (1906) gibt im seinem ersten Buche eine ausgezeichnete geschichtliche Darstellung des Rechtsganges mit reichen Quellenangaben. Rudolf Sohm, Die litis contestatio in ihrer Entwicklung vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, 1914. Verfasser geht aus von der Urform der litis contestatio, die er im römischen Legisaktionen- und Formularprozeß findet. Sie ist ein Vertrag mit novierender Wirkung. Durch den Vertrag tritt das Prozeßrechtsverhältnis an Stelle des alten Rechtsverhältnisses. 24*

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Sehr interessant zu verfolgen ist die zunehmende Abschwächung des Vertrags­ gedankens im Laufe der Jahrhunderte. Erst die Neuzeit, ja eigentlich erst Jhering, hat dann die wahre Natur der litis contestatio wieder aufgedeckt. Die Form eines Gant-Prozesses in: Ordnung des Gandt-Proceß der Fürstenthumben Obern und Nidern Bahrn, abgedruckt im Bayerischen Landrecht von 1616, S. 63 ff. Sie gibt vor allem eine interessante Reihen­ folge der Konkursgläubiger und im 3. und 4. Titel den „Edicts-Proceß", d. h. Normen über Zwangsvollstreckung. Ein kurzer Konkurs-Prozeß im Kurmainzischen Landrecht von 1755, S. 86 ff. Die Kodifikation hob die deutschen Gewohnheiten auf und verwies subsidiär auf das gemeine Recht.

Zu § 54. Über den Ursprung der Grundrechte, die ja heute wieder so bedeutsam geworden sind, liest man immer noch am besten Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl., besorgt von Walther Jellinek. Leipzig 1919. Das eben erschienene zweibändige Werk Franz Rosenzweigs, Hegel und der Staat (1920) führt nicht nur in die Staatsauffassung des großen Philosophen ein, sondern gibt gute Einblicke in die separatistischen Tendenzen der deutschen Staaten, namentlich Württembergs. Zur Einführung in die verfassungsrechtliche Grundstimmung vor der französischen Revolution bis 1830 vergl. Karl Heinrich Ludwig Poelitz, Das konstitutionelle Leben nach seinen Formen und Bedingungen. Leipzig 1831. Hermann Oncken, Lassalle, Eine politische Biographie. 3. Aufl. 1920, hat mir namentlich für die Erkenntnis der Parteibildungen wertvolle Dienste geleistet. Zur Lehre Kants vergl. neustens Hans Maier, Die geistesgeschicht­ lichen Grundlagen der konstitutionellen Theorie. Tübingen 1914 (besonders S. 51—71). Ebenso Bruno Bauch, Das Rechtsproblem in der Kantischen Philosophie in Zeitschr. f. Rechtsphilosophie, Bd. III, S. 1 ff. Zum Titel bemerkt der Verfasser, daß ihm „Kantische Philosophie nicht bloß eine historische Größe, sondern mehr noch eine systematische Potenz bezeichne". Über Kants kategorischen Imperativ und die Unterscheidung von metaphvsischer Freiheit und natürlicher Freiheit siehe Eugen Huber, Recht und Rechtsverwirklichung. Probleme der Gesetzgebung und Rechtsphilosophie. Basel 1920. Ein Buch, das einen tiefen und klärenden Eindruck auf mich gemacht hat.

Zu § 55. Als Quellen für die Verfassungsgeschichte von 1806 an, waren mir dienlich: Johann Ludwig Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten^, Frankfurt 1831, und Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation von Klüber und Welcker, Mannheim 1844. Im übrigen siehe die reichen Literaturangaben bei MeyerAnschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts 7. Aufl. S. 99ff. Eben ist in Natur und Geisteswelt (Bd. 639) eine Deutsche Verfassungs­ geschichte vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart erschienen vor: Manfred Stimming. (1920.) Sie bringt in skizzenhafter Kürze auch die jüngsten Ereignisse. (S. 110—118.) Heinrich O. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip im Zeitalter der Restauration und des Deutscher: Bundes (v. Gierkes Unter-

Schrifttum und Quellen.

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suchungen, Heft 122), 1913, insofern lesenswert, als gezeigt wird, daß die französische Auffassung in Deutschland nicht blind übernommen, sondern mit nationaler Eigenart erfüllt wurde.

Zu § 5«. Badische Landtagsabschiede von Leonhard Müller, Berlin 1900 bis 1902, 4 Teile umfassend, und die Jahre 1819—1840 behandelnd, gibt einen vorzüglichen Einblick in das landständische Leben des badischen Staats­

wesens und in die Anschauungen des badischen Liberalismus. Die Gestalt Karl von Rottecks kommt besonders zur Geltung. Am Schlüsse der Teile werden jeweils die Abgeordneten der 2. Kammer aufgezählt und der 4. Teil bringt die politische Literatur Badens von 1840—1870. Zu der Entwicklung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Deutsch­ land vgl. Johanna Philippson, Über den Ursprung und die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Deutschland mit besonderer Berück­ sichtigung der Wahlen zum Frankfurter Parlament im Großherzogtum Baden. 1913. Heft 52 der Abh. zur Mittleren und Neueren Geschichte. Das Problem der ministeriellen Verantwortlichkeit und Gegenzeichnung ist von Grund auf neu aufgerollt worden durch das Buch von F. Freiherrn Marschall von Bieberstein, Verantwortlichkeit und Gegenzeichnung bei Anordnungen des Obersten Kriegsherrn. Berlin 1911. Die historischen Teile bieten sehr wertvolle Einblicke in das Verfassungsleben des deutschen Staates im allgemeinen und beweisen, wie schwer man von der Auffassung los kam: Das Heer gehört der Krone. Ausgezeichnet über das Wesen des Obrigkeitsstaates, über Freiheit i m Staate und Freiheit vom Staate, über die Identität von Staat und Volk Hugo Preuß, Das deutsche Volk und die Politik, Jena 1915. Dazu die treffliche Besprechung von Gerhard Anschütz in Preußische Jahrbücher Bd. 164 (1916), S. 339—346, mit einem Nachwort von Delbrück, das wenig überzeugend ist. Kurt Wolzendorff, Ter Polizeigedanke des modernen Staates (35. Heft der Abh. aus dem Staats- und Verwaltungsrecht usw. herausg. von Brie, Fleischmann und Giese) Breslau 1918, eine Arbeit, die geistvoll aber zu einseitig den deutschen Genossenschaftsgedanken verwertet. Das Streben nach persönlicher Ungebundenheit (auch von den Bindungen der Genossenschaft) ist zu wenig erkannt und verarbeitet.

Zu § 57. Karl Binding hat seine Machtvollen Aufsätze staatsrechtlicher Natur gesammelt herausgegeben: Zum Werden und Leben der Staaten. Zehn staatsrechtliche Abhandlungen. 1920. Unter diesen waren mir besonders willkommen: Ter Versuch der Reichsgründung durch die Paulskirche in den Jahren 1848 und 1849, sowie Die Gründung des Norddeutschen Bundes.

Zu 8 59. Heinrich Reincke, Der alte Reichstag und der neue Bundesrat, Abh. aus dem Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, II, 1 (1906). „Un­ mittelbare Ableitungen" kann ich nicht zugeben, sondern nur ideengeschichtliche.

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Zu § 60. Die geschichtliche Entwicklung der Verfassung seit dem Herbst 1918 bis zur Vollendung des Werkes und einen guten systematischen Überblick gibt Stier-Somlo, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Bonn 1919. 2. Aufl. 1920. Die auf „den Einheitsstaat genommene Richtung" kommt darin deutlich zum Ausdruck. Wir besitzen bereits einen ausgezeichneten Kommentar zur Reichs­ verfassung von Gerhard Anschütz: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Berlin 1921. In diesem Buche kommt deutlich zur Geltung, wie wertvoll die Verhandlungen des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung sind. Es ist ein großes Verdienst des Verfassers, das parlamentarische Material so gründlich zugänglich gemacht zu haben. Auf die Verfassungen der Einzelstaaten konnte und wollte ich nicht mehr eingehen. Für Preußen verweise ich aus Stier-Somlo, Kom­ mentar zur Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. November 1920. Berlin 1921. S. 1—23 sind gute einführende Erläuterungen gegeben. Zur Entstehungsgeschichte der Badischen Verfassung verweise ich auf den hübschen Bericht des Abgeordneten Zehnter: Bericht der Berfassungs­ Kommission der Badischen verfassunggebenden Nationalversammlung zu dem Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Badische Verfassung, samt ein­ schlägigen Petitionen. Erschienen als Beilage zum Protokoll der 11. öffent­ lichen Sitzung vom 19. März 1919. Die Verwertung des genossenschaftlichen Prinzips im Bereiche der Wirtschaft betont neustens Geiler: Der genossenschaftliche Gedanke und seine stärkere Verwirklichung im heutigen Wirtschaftsrecht. (Beitr. z. Erläutr. des Deutschen Rechts. N.F. 2. Jahrg. 2. Heft. S. 134—150. 1921.) Mit dem Verfasser bin ich der Ansicht, daß eine Vergesellschaftung im genossenschaft­ lichen Sinne dem Neubau unserer Wirtschaft viel förderlicher ist, als eine mechanische Sozialisierung. Sie entspricht weit mehr deutschen Rechtsideen.

Register. Das Register ist in dankenswerter Weise und mit großer Umsicht von

Herrn cand. jur. Albin Kellner angefertigt.

(Die Zahlen geben die Seiten an.) Aachen 84, 193. Aberacht, s. Oberacht. Ablösung der Acht 62, 125; der Blut­ rache 6; des Fehderechts 15f., 20, 63; der Strafen 164, 165, 168, 187 279 Ablösungsgesetze 323. Abschreckungsprinzip 65, 125, 192; 282; in der C. C. C. 277, 278, bei Feuerbach 281, 283; Lit. 365. Absolutismus 38, 203, 231, 238 ff., 241 f., 256ff.; aufgeklärter Absol. 260, 315. Accursius 206. Acht als Strafe 61, 165, 170, 194; als prozessuales Zwangsmittel 67, 125, 194, 296, 299; Achtverfahren 364; Beispiel eines Achtprozesses 365. Achtregister 126. Ackerlos 3, 18. Adel 7, 18; 32, 34; 99; Adelsgerichte 117, 145, 158, 163, 169, 172; 233; 315, 322, 330, 343; Literatur 363; Patrimonialgerichtsbarkeit s. d. adiutorium 53. Adolf von Mainz 171. advocatus 45, 46 s. Vogt. Agrargesetzgebung 323. Akkusationsprinzip 67,198, 288, 289. Aktenversendung 198, 279, 299. Akzise 111.

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Alamannen 25, 29, 30, 57, 59, 73; Volksrecht s. lex Alamannorum. Alarich I. 26. Alarich II. 76. Albrecht Achilles 140. Albrecht V. von Österreich 144. Allodialbesitz 92, 121, 128; Allodialisierung der Niedergerichtsbarkeit 163. Allodialgrafschaft 93. Almende 4, 33, 156, 161, 162. Altnorwegisches Recht 20. Altona 253. Altspanisches Recht 29; Fueros 76, „ Lit. 360. Ämter (officia) im Handwerk 108 f. Ammianus Marcellinus 23. Amtmann 144. Amtsfürstentum 87. Amtsgericht 246. Andlau, Peter von 206. Anefangsverfahren 200, 366. Angeln 25, 75; angelsächsisches Recht 63, 64, 76, Lit. 356. Annalen als Rechtsquellen 185. Annalen des Tacitus 18, 23. Anstaltsstaat 335, 337, 338, 353. Antrusttonen 50. Appellationsprivilegien 129,169,227, 257. Appenzell: Landrecht 174,272; Hexen­ prozesse 291, Lit. 371.

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Register.

Araber 49. Arbeiterstand 320, 335, 336. Arbeitsrecht 336. Arbeitszwang 159. Aretinus 276. Arianismus 30. Arminius 18. Arnold von Lübeck 185. Arrestprozeß 300. Ars dictandi 184. Artikuliertes Verfahren 296, 297,298. Askanier 89. Asylrecht 104, 121, 189. Aufgebotsrecht 52, 54; 116,157; 174; Augsburg 148, 220, 232; Religions­ friede 203, 214, 216, 263; Kon­ fession 231. Augustinus 131. Aussig 175. Austrägalgerichte 97, 163, 171, 227. Autarkie 254, 256. Autonomie 106, 151 f., 158,180, 252, 305, 333. Avignon 132.

Babenberger 89. Baden 240, 243, 246, 248, 314, 315, 324, 325, 328, 330f., 345; Land­ recht 175; Baden-Badener Land­ recht 269, 272; Literatur 368, 373; Verfassung 316, 317, 331, Lit. 374. Bagatellverfahren 300. Bahrprobe 196, 199. Bamberger Halsgerichtsordnung 268, 275f., 370. Banken: Staatsbanken 256. Bann: Blutbann 93, 110, 246; Königsbann 81, 95,116, 118,138; über Leihezwang s. d.; Kirchenbann 126, 185. Bannleihe 81, 95, 99, 118, 138. Bannrechte der Gerichtsherrschaften 156. bannus (fränk.) 66, 73. Bartolus 276. Basel 97, 133, 228. Bauerngericht: Zentgericht 117. Bauernkrieg 153.

Bauernlegen 159, 255. Bauernrechte s. Weistümer. Bauernstand: Lage des fränk. B. 36, 37, 53; B. im Mittelalter 101, 114, 146, 152 ff., 155; im Osten 158, 159; in der Schweiz 161, 162; Bauernheer 173; Patrimonialgerichte s. d.; B. im absoluten Staat 25»; Bauernbefreiung 323. Baumgartenberger Formelbuch 184. Bayern 25, 29, 61, 89, 91, 145, 169, 173, 246, 314, 315, 346. „Erklärung der Landfreiheit" 282; Freiheitsbriefe 169, 179, 303; Ko­ difikation 274; Landrecht 269f., Strafgesetze 282, 283, Lit. 371. Verfassung 317. Beamtentum 15, 39, 41, 74; im Lehnsstaat 116, 144, 168; im absoluten Staat 244, 272, 334. Bebel 321. Beccaria 281. Bedarfsdeckungsprinzip 33, 35, 101, 119. Bede 98, 140. Befreiungskriege 250, 316, 339. Beisteuer (fränk.) 53. Bekenntnisfreiheit 323 f. Bekker, Balthasar 291. Belgien 102; Verfassung 318, 319. beneficium 35, 49, 51, 55, 93. Berlin 151, 181, 351, Lit. 364. Bern 162 Berthold von Mainz 171. Berufungsgerichte 6ie Herausgeber.

Bereinigung wissenschaftlicher Verleger Berlin

Walter de Gruyter & Co.

Leipzig

Bon den „Grundrissen" sind erschienen:

Band I.

Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches

von Oberlandesgerichtsrat Dr. Heinrich Lehmann, Prof. a. d. Uni­ versität Bonn. 1919. Oktav. Geheftet M. 12.75, gebunden M. 18.—

Band II.

Schuldrecht deS Bürgerlichen Gesetzbuches

von Oberlandesgerichtsrat Prof. Dr. Justus Wilhelm Hedemann. 1920. Oktav. Geheftet M. 34.—, gebunden M. 38.—

Band VI.

Handelsrecht und Schiffahrtsrecht

von Dr. Julius v. Gierke, ord. Prof, der Rechte in Halle a. S. 1921. Oktav. Geheftet M. 40.—, gebunden M. 46.—

Band IX.

Ginführung in die Rechtswissenschaft

von Dr. Justus Wilhelm Hedemann, o. Prof, des bürgerlichen Rechts in Jena. 1919. Oktav. Geheftet M. 16.50, gebunden M. 21.75

Band XIII.

Grundzüge deS deutschen Privatrechts

von Dr. Freiherr von Schwerin, o. Prof. a. d. Universität Freiburg i. B. 1919. Oktav. Geheftet M. 16.50, gebunden M. 21.75

Im übrigen sind in Vorbereitung: Band in. Sachenrecht von OberlandesgerichtSra: Prof. Dr. Lebemann in Jena. Band IV. Familienrecht von Oberlandesgerichtsrat Prof. Dr. H e d e m a n n in Jena. Band V. Erbrecht von Geheimrat Prof. Dr. Endemann in Heidelberg.

Band vii. Recht der Wertpapiere von Prof. Dr. Frhr. vonSch werin in Frei' bürg i. B.

Urheber- und Patentrecht. Band x. Grundrüge der deutschen Rechtsgeschichte von Geheimrat Prof.

Band VIII.

Dr. Hans Fehr in Heidelberg.

«rundlüge der römischen RechtSgeschichte. Band xii. «rundrüge des römischen Privatrechts von Prof. Dr. Fritz Band XI.

Schulz in Göttingen. Band XIV. Zivilprorehrecht von Prof. Dr. Lehmann in Cöln a. Rh.

Baud xv. Konkurs- und Anfechtungs­ recht von Prof. Dr. Lehmann in Cöln a. Rh. Band XVI. Strafrecht von OberlandesgerichtSrat Prof. Dr. H. G e rland in Jena.

Band XVII. Strafproreh von Geheimrat Prof. Dr. v. Beling in München. Band XVIII u. XIX.

ReichSftaatSrecht und GinrelftaatSrecht von Prof. Dr. Stier-Somlo in Cöln a. Rh.

Band xx u. xxi. verwaltuugsrecht in zwei Teilen von Prof. Dr. StierSomlo in Cöln a. Rh. Band xxii. Soziales Versicherungs­ recht von Prof. Dr. Stier-Somlo.

Band XXIII. Soziales Arbeit», und Schutzrecht. Band XXIV. Kirchenrecht. Band XXV. Völkerrecht.

Bereinigung wissenschaftlicher Verleger Berlin

Walter de Gruyter & Co.

Leipzig

Preußische Kecbt$ge|cbicbte Überlebt über die Recbtsentwicklung der preußischen Monarchie und ihrer sandesteile

Ein Lehrbuch für Studierende Von

Dr. jur. Friedrich Diele

Professor der Rechtswissenschaft a. d. Universität Frankfurt

1920.

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Die Pflege der geschichtlichen Entwicklung, die das Verfaffungs-, Verwaltungs- und Iustizrecht in Preußen genommen haben, wird auch künftig einen notwendigen Bestandteil des Lehrplanes der Uni­ versitäten bilden, da das heutige preußische Landesrecht in allen seinen Zweigen in der Vergangenheit wurzelt und ohne die genaue Kenntnis seines Werdeganges nicht zu verstehen ist. Für Unterricht und Studium dieser Rechtsdisziplin wird dieses Buch den bisher fehlenden kurzen und doch vollständigen wissenschaftlichen Leitfaden bilden.

Enzyklopädie Von

Dr. Adolf Merkel

zuletzt Professor in Straßburg i. E.

Sechste unveränderte Auflage Lerausgegeben von

Dr. Rudolf Merkel Professor in Freiburg i. B. 1920.

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. . . Das Buch gehört zu den jedem jungen Juristen be­ sonnten Werken . . . Es ist auch in der vorliegenden Fassung für den Rechtsstudenten nützlich wegen der Klarheit der Einteilung, der Begriffsbestimmungen und der Zusammenstellung des Schrifttums. Deutsche Allgemeine Zeitung.