Deutsche Rechtsgeschichte [4. verb. Aufl. Reprint 2019]
 9783111667379, 9783111282657

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
I. Abschnitt. Die germanische Zeit (von den Anfängen bis 500 n. Chr.)
II. Abschnitt. Die fränkische Zeit (von 500—900)
III. Abschnitt. Die Kaiserzeit (von 900—1260)
IV. Abschnitt. Die Kurfürstenzeit (1250—1500)
V. Abschnitt. Die Landesfürstenzeit (1500—1800)
VI. Abschnitt. Die Zelt des Verfassungsstaates (1800—1940)
Schrifttum und Quellen
Sachregister

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Lehrbücher und Grundrisse der

RECHTSWISSENSCHAFT

Zehnter Band

Berlin 1948 W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschen'ßche Verlagshandlung • J . Guttentag» Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Triibner • Veit & Comp.

DEUTSCHE RECHTSGESCHICHTE von

DR. H A N S

FEHR

Professor in Bern

Vierte, verbesserte Auflage

Berlin 1948 W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J . Göschen'sche Verlagahandlung • J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J . Trübner • Veit & Comp.

Archiv Nr. 230648/10 Druok: Langenscheldt E G . , Berlin-Schöncberg ICB 481 - 1. 48 - 3900 - 7592

Gewidmet den S t i l l e n im Lande, die mithelfen am Neubau der europäischen K u l t u r

Inhaltsverzeichnis. I. Abschnitt. Die germanisch« Zeit (yon den Anfängen bis 500 n. Chr.). Seit«

§ 1. § 2. § 3. § 4. § 5.

§ § §

6. 7. 8.

Heimat, Landnahme und Siedelung der Germanen Sippe und Gefolgschaft Das Heerwesen Das Gerichtswesen Staat und Volk ' 1. Der Staat 2. Das Volk Das Strafrecht Die Rechtsquellen Die Völkerwanderung. Römer und Germanen

1 4 6 8 10 10 11 14 16 18

II. Abschnitt. Die fränkische Zeit (yon 5 0 0 — 9 0 0 ) . § 9. § 10. § 11. §12. §13. § 14. § 15. § 16. § 17. $ 18. § 19.

Die Gründung des" fränkischen Reiches Land Verteilung und Wirtschaftssystem Der Staat. Königtum und Kaisertum Königsbeamte und Volksbeamte Die Immunität Die Kirche Lehnwesen und Heerverfassung Die Gerichtsverfassung Das Strafrecht Der Rechtsgang Das Recht und die Rechtsquellen

21 24 28 30 32 35 36 41 45 50 53

VIII

Inhaltsverzeichnis. III. A b s c h n i t t . Die Kaiserzeit (von 900—1260). Seite

§ § § §

20. 21. 22. 23.

§ 24.

§ 25.

§ 26. § 27.

Das Deutsche Reich. Königtum und Kaisertum Das Fürstentum Die Königswahl Die Entstehung der Landeshoheit 1. Die Lockerung vom Reich 2. Die Befestigung im Innern Das Städtewesen 1. Die Wirtschaftslage 2. Der Markt 3. Friede und Fehde 4. Der Anteil des Königtums 5. Reichs- und Landstädte 6. Das Bürgertum. Die .Zünfte 7. Städtische Einrichtungen Die FeudaliSierung der Heer- und Gerichtsverfassung 1. Das Lehnrecht 2. Die Heerverfassung 3. Die Gerichtsverfassung Die Rechtskreise Das Strafrecht der Landfrieden

59 64 67 69 70 72 76 76 77 78 79 80 81 83 85 85 86 88 90 94

IV. A b s c h n i t t . Die Kurfürstenzeit (1250—1500). § 28. Das Reich und die Kurfürstentümer § 29. Das Reich und die Kirche 1. Der Aufstieg des Papsttums 2. Der Niedergang des Papsttums 3. Die Orden 4. Die geistliche Gerichtsbarkeit § 30. Der Reichstag § 3 1 . Der Ausbau der Landeshoheit 1. König und Landesherr 2. Landesherr und Territorium 3. Landesherr und Staatsgewalt 4. Die landesherrliche Verwaltung § 32. Die Landstände

97 100 100 101 102 103 103 104 104 1Ö6 108 110 111

Inhaltsverzeichnis. § 33. Recht und Wirtschaft in den Städten § 34. Recht und Wirtschaft auf dem Lande 1. Der Gegensatz zur Stadt 2. Die Verhältnisse im Altlande 3. Die Verhältnisse im Kolonisationsgebiet 4. Die Verhältnisse in der Schweiz § 35. Das Gerichtswesen 1. Der Niedergang des Gerichtswesens 2. Die Landfriedensgerichte 3. Die Verne 4. Das Gerichtswesen in den landesherrlichen Gebieten 5. Das Gerichtswesen im Reiche § 36. Das Heerwesen 1. Die erste Wandlung 2. Die zweite Wandlung 3. Reformbestrebungen im Reiche § 37. Recht und RechtsqueUen 1. Allgemeines 2. Reichsrecht und Landesrecht 3. Das Hofrecht 4. Das Stadtrecht 5. Der Sachsenspiegel 6. Die übrigen Rechtsbücher 7. Urkunden und Chroniken 8. Über die Natur des Rechts ' § 38. Das Strafrecht 1. Die fünf Entwicklungslinien 2. Die Strafarten § 39. Der Rechtsgang

IX Seite

113 116 116 118 121 122 125 125 126 127 129 131 132 132 133 134 135 135 1.37 137 138 139 140 141 142 144 144 147 149

V. A b s c h n i t t . Die Landesfürstenzeit (1500—1800). ^ 40.

Der Einfluß von Reformation und Renaissance auf Staat und Recht. Die Aufnahme des römischen Rechts 154 ^ 41. Das Reich und seine schweren inneren Gegensätze •. . 159 I,. Allgemeines 159 2. Fortsetzung. . 160 3. Kaiser und Reich 161

X

Inhaltsverzeichnis. Seite

§ 42. § 43.

§ 44.

§ 45. § 46. § 47.

§ 48. § 49.

§ § § §

50. 51. 52. 53.

4. Das Reichsregiment 161 5. Große und kleine Reichsstände 162 6. Katholiken und Protestanten 163 7. Das Reich und die Völkergemeinschaft 165 Die Kreisverfassnng und das Heerwesen im Reiche 166 Der Reichstag 168 1. Die Organisation des Reichstages 168 2. Kaiser und Reichstag 170 Die Reichsgerichte 171 1. Allgemeines 171 2. Das Reich§kammergericht 171 3. Der Reichshofrat 173 4. Die E x e k u t i v e n 174 Politische und wirtschaftliche Verhältnisse im 16. Jahrhundert . . . 174 Das Landesfürstentum und seine Gewalt 176 Die Ausbildung des absoluten Staates 179 1. Der Absolutismus als europäische Erscheinung 179 2. Die Übergangszeit 180 3. Zersplitterung und Zusammenfassung 182 a) Auf kirchlichem Gebiet 182 b) Auf dem Gebiete der Verwaltung 183 c) Auf dem Gebiete des Gerichtswesens 184 d) Auf dem Gebiete des Heerwesens 185 e) Auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens 187 Der Geist des absoluten Staates 191 Recht und Rechtsquellen 195 1. Neue Gesichtspunkte 195 2. Das Kirchenrecht 195 3. Volksrecht und J.uristenrecht '. 196 4. Das Naturrecht 197 5. Das Reichsrecht 198 6. Das Landesrecht bis zur Mitte des 18. JahrKunderts 199 7. Die Zeit der Kodifikationen 202 Das Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft 204 Das Verfahren in Strafsachen 209 Der Hexenprozeß 213 Der Zivilprozeß 216 a) Der Kammergerichtsprozeß 218 b) Der sächsische Prozeß 219 c) Der gemeine Prozeß 219 d) Der preußische Prozeß 220

Inhaltsverzeichnis.

XI

VI. A b s c h n i t t . Die Zelt des Verfassungsstaates (1800—1940). Seit«

§ 54.

§ 55. § 56.

§ 57.

§ § § §

58. 59. 60. ßl.

Die neuen Ideen in Staat und Wirtschaft 221 1. Die Menschenrechte 221 2. Die Freiheit und Gleichheit 222 3. Die Selbstverwaltung 224 4. Die Volkssouveränität 224 5. Die Trennung der Gewalten 225 6. Die konstitutionelle Staatsform 226 7. K a n t 226 8. Adam-Smith 228 Die Entstehung des modernen Staates 228 Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt und Staatserfolg 234 1. Das Staatsgebiet 234 2. Das Staatsvolk 235 3. Die Staatsgewalt 238 4. Der Staatserfolg 244 Das Streben nach nationaler Einheit und der Versuch der Reichsgründung (1848 und 1849) 247 1. Ideelle und materielle Ziele 247 2. Die mißglückte Reichsgründung 249 Der Norddeutsche Bund 251 Das Deutsche Reich als Kaiserstaat 252 Das Deutsche Reich als Freistaat 255 Das nationalsozialistische Reich 258

Schrifttum und Quellen 1. Allgemeines 2. Schrifttum zu den einzelnen Paragraphen

260 260 263

Sachregister

271

I. A b s c h n i t t

Die germanische Zeit. (Von den Anfängen bis 500 n. Chr.) § 1. Heimat, Landnahme und Siedeluni,' der Germanen. 1. Mit einem entsagungsvollen Auftakt müssen wir unsere Geschichte beginnen. Wir wissen nicht, woher wir kommen. Wir wissen nicht, wo die Ursitze lagen. Wiewohl die Wissenschaft mit den schärfsten Mitteln zu Werke ging, wiewohl sich in glücklichster Weise die Geschichts- und Sprachforscher mit Prähistorikem und Anthropologen vereinigten, über ein kleines positives und negatives Ergebnis sind wir nicht hinausgekommen. Fest steht heute nur, daß die Völker der indogermanischen Sprachfamilie einstmals in e i n e m Raum zusammensaßen. Und verneinend können wir sagen, daß Rasse (Körperbau, Schädelform, H a a r farbe) und Sprache nicht notwendig zusammengehen müssen. Alle exakten Beweise, die Urheimat geographisch genauer zu umgrenzen, scheitern an Widersprüchen der Quellen und am Mangel der Überlieferungen. Die Hauptfrage, zu der sich alles zuspitzt, ist immer: Sind die Germanen ureingesessen (wie bekanntlich Tacitus, Germania, Kap. 2, annimmt) oder sind sie eingewandert? Decken sich ihre Sitze im großen und ganzen mit ihren heutigen Sitzen, oder haben sie sich in Jahrhundertwanderungen auf unendlichen Zickzackwegen von einem indogermanischen Urvolke abgelöst, dessen Heimat im Osten, in unmittelbarer Nähe der Altai-Völker zu suchen ist? Wenn man sich, wie ich es tue, der Wanderhypothese zuneigt, so darf wohl die Grenze zwischen der Steinzeit und der Metallzeit, also ungefähr der Ausgang des 3. Jahrtausends vor Chr., als Beginn der großen Wanderepoche angenommen werden. Die Germanen, die sich im Norden Europas festsetzten und dort eine vorindogermanische Kultur vorfanden, bilden den Kern der germanischen Völker. Sie heißen in der Wissenschaft Streitaxtleute, weil sie als Waffe die Hammer axt führten. Der Wandertrieb steckt noch zu Cäsars Zeiten in den Germanen. Nur einzelne Völkerschaften, wie die Ubier, hatten dauernde Sitze gewonnen; langsam, sehr langsam kam Ruhe in die Bewegung. 150 Jahre später, als Tacitus schrieb, t r a t das unstäte Umherziehen zurück. Die Niederlassungen waren fester, die Wanderzüge seltener geworden. Aber dann beginnt um die Mitte des 2. Jahrhunderts nach Chr. jene riesenhafte Verschiebung, die wir die Völkerwanderung nennen und die aufs neue alle Grenzen verrückte. Erst mit deren Abschluß gelangten die Germanen zur endgültigen Ruhe. E r s t i m 5. J a h r h u n d e r t h a b e n wir m i t F e h r , Deutsche Rechtsgeschichte.

4. Aull.

1

2

Landnahme.

d a u e r n d s e ß h a f t e n S t ä m m e n zu r e c h n e n . Bis dahin ist alles in Bewegung. Bis dahin sucht alles nach neuen, reicheren, gefahrloseren Sitzen und Wohnstätten für Mensch und Vieh. Und wer herumschweift, muß stark sein, muß bewaffnet sein. So ist denn diese ganze germanische Zeit die Geschichte wandernder Kriegs Völker und Ackerbauer, die Geschichte von*~Völkerschaften, die sich nicht auB nomadischem Triebe verschieben, sondern aus Mangel an Nahrung und Mangel an Sicherheit. Daher war wenig Raum gegeben für friedlichen Warenaustausch von Volk zu Volk. Doch fehlte schon in ältester Zeit der Handel nicht ganz, wie hauptsächlich die Germanen an den Rheinufern erkennen lassen. 2. Von größter Bedeutung für die Rechtsentwicklung ist die Frage nach der Besetzung des Landes und der Art der Ansiedlung. Denn ein Naturvolk wie die Germanen paßt sein Recht aufs engste der Wirtschaft an, und nicht nur sein agrarisches Recht, sondern auch sein Familienrecht, sein Erbrecht, sein Vermögensund Strafrecht. Griff eine Völkerschaft nach neuem Gebiet, so riß zunächst der Eroberer das Land an sich. Der Eroberer war die Gesamtheit. Starke Führer hielten sie zusammen. D a s V o l k e r o b e r t e und d e s h a l b g a l t d a s V o l k a l s E i g e n t ü m e r . Die Okkupation verlieh den Rechtstitel, nicht nur weil der Eroberer die tatsächliche Macht über die eroberte Landstrecke besaß, sondern weil das durch Kampf erworbene als rechtmäßig erworben galt. Begleitete doch der Kriegsgott die ausziehenden Männer. Verteilte doch er Sieg oder Niederlage. Von Anfang an können wir beobachten, in welch inniger Verbindung Kraft und Recht standen. Was durch Kraftleistung erworben war, galt als rechtmäßig erworben. Dieses eroberte Volksland wurde zur Nutzung ausgegeben an die einzelnen (Tacitus 16). Privateigentum an Grund und Boden war unbekannt und mußte unbekannt bleiben, solange der volkliche Eroberungsgedanke herrschend war. K e i n e S p u r a b e r v o n g l e i c h m ä ß i g e m B e s i t z ! Nicht e i n Anhaltspunkt dafür, daß jeder Germane ein gleich großes Ackerlos erhalten hätte. Im Gegenteil, die Äcker werden verteilt: secundum dignationem (Tacitus 26), so daß der etändisch höherstehende oder besonders verdienstvolle Mann eiiL größeres Feld zugewiesen erhielt als der schlichte Freie. Der Organismus, welchen die Wissenschaft mit dem Namen Grundhcrrschaft bezeichnet, war vermutlich in bescheidenen Anfängen bereits vorhanden. Die Vornehmen, Edlen, Mächtigen, Tüchtigen, mit einem Worte, die Herrennaturen, waren die Ersten im Staate. Sie stellten die Grundherren dar und siedelten auf ihren Ländereien freie und unfreie Bauern an, währond sie einen Teil des Grund und Bodens im Eigenbetrieb zurückhielten. Aber diese grundherrlichen Zellen standen in scharfem Gegensatz zu der feudalgrundherrlichen Organisation der Gallier. Diese nützte den Bauern als reines Arbeitstier im Interesse des Grundherrn aus. Der germanische Grundherr dagegen schuf sich im Bauern einen sicheren Gewinn in Naturalien und erhöhte die Arbeitslust der angesiedelten Leute dadurch, daß er sie den überschüssigen Ertrag, frei und ledig von grundherrlicher Gebundenheit, im eigenen Interesse genießen ließ. Hatte der grundhörige Mann Getreide, Vieh und Gewänder an den grundherrlichen Hof abgeliefert, so schaltete er mit den übrigen Erzeugnissen nach freiem Ermessen. In G e r m a n i e n g a b es nifemals e i n e r ö m i s c h e S k l a v e n w i r t s c h a f t . Seit der Urzeit tritt uns die große Masse der unselbständigen Leute wirtschaftlich viel freier ala

Besitz.

3

in römischen Gebieten und im Orient entgegen. Diese Tatsache verleiht dem gesamten Volkstum eine eigenartige, echt germanische Prägung. War doch damit von Anfang an die Möglichkeit des Aufstiegs der unteren Klassen gegeben. 3. Neben den Grundherren saßen die freien Bauern auf ihrer freien Scholle. Sie bildeten die große Masse der Bevölkerung. Aber eine schematisch gleiche Verteilung des Ackerlandes darf nicht angenommen werden. Wer schlechten Boden bekam, erhielt ein größeres Stück zur Bebauung.'Arbeitete einer mit Glück und Verstand, gelang es, dem Acker unerwarteten Ertrag abzugewinnen, so stieg er leicht im Laufe der Jahre über seine bescheideneren Nachbarn hinaus. Wie immer bei der Verteilung des Ackerlandes vorgegangen wurde, soviel ist gewiß: D a s z u g e s p r o c h e n e L a n d e r n ä h r t e s e i n e n M a n n . Was der germanische Hausstand von der Gesamtheit zur Nutzung zugewiesen erhielt, war der Erhaltung der Familie angemessen. In diesem Sinne stoßen wir auf das gesündeste und gerechteste Wirtschaftssystem. E s g a b k e i n g e r m a n i s c h e s P r o l e t a r i a t . Jeder hatte sein Arbeitsfeld, und wer arbeitete, sein gesichertes, würdiges Auskommen. Auf sich selbst gestellt, getragen von eigener wirtschaftlicher Sicherheit, vermochten stolze, unabhängige .und ungebändigte Geschlechter heran, zuwachsen. Doch nur kurze Zeit. Denn schon die fränkische Epoche weist ein anderes, ein trüberes Bild auf. Die Äcker der Bauern lagen durcheinander. Von Anfang an waren demnach die Leute aufeinander angewiesen. D i e B e s t e l l u n g , d i e S a a t , die E r n t e , d i e W e i d e v o l l z o g e n sich in g e m e i n s c h a f t l i c h g e o r d n e t e n F o r m e n , d i e w i r d e n F l u r z w a n g n e n n e n . Man hat jünglt prähistorische Wege nachgewiesen. Aber diese Tatsache widerspricht der Ansicht nicht, daß grundsätzlich doch über die angrenzenden Äcker gegangen und gefahren werden mußte und daher eine eingehende, gemeinsame Regelung des gesamten Flurwesens notwendig war. Gerade diese gemeinsame Wirtschaftsordnung brachte die einzelnen Dorfgenossen in ein rechtliches und sittliches ^Verhältnis zueinander. Die Dorfgenossen wurden zu einer Wirtschaftsgenossenschaft, die aufs engste durch gemeinsame Interessen verkettet war. Eine straffe Ordnung umfaßte alle und machte den einen vom anderen abhängig. Kein Wunder, daß sich der Bauer gegen alles Fremde sträubte. Kein Wunder, daß noch im 6. Jahrhundert jeder einzelne Bewohner den Einzug eines Fremden im Dorfe durch seinen Widerspruch zu hindern vermochte (Lex Salica, Titel 45). Neben dem Lande, das zur Sondernutzung ausgegeben war, gab es Flächen, die allen Gliedern der Dorfgemeinschaft zu gemeinsamem Gebrauche zustanden. Dieses allen Männern gemeinsame L a n d heißt später die Almende. Eigentümerin waren die Dorfgenossen zur gesamten Hand, nutzungsberechtigt die einzelnen Familien nach der Größe ihrer Hufe. Dort durften Bäume gefällt und Steine gebrochen werden. Dorthin trieb man das Vieh zur Weide. Dort gab der Wassqrlauf f ü r jeden seine Wohltat her. Auch diese Almende wurde in die Wirtschaftsordnung des Dorfes einbezogen, ja es ist nicht ausgeschlossen, daß schon in germanischer"Zeit mehrere benachbarte Dörfer e i n e gemeinsame Almende besaßen. Wann eich diese großen Markgenossenschaften bildeten und ob sie mehr der Initiative der Bauern oder der Grundherren zu verdanken waren, vermögen wir nicht zu sagen. l*

4

Sippe.

In gebirgigen Gegenden, ja schon im Hügellande, war das Zusammenleben in Dörfern eine Seltenheit. Dort überwog die Ansiedelung in Einzelhöfen. Dort saßen Söhne und Enkel enge beisammen, besonders innig verbunden und geleitet durch den Ältesten des ganzen Geschlechts. D o r f s y s t e m u n d E i n z e l h o f S y s t e m h a b e n zu a l l e n Z e i t e n n e b e n e i n a n d e r b e s t a n d e n . Es gibt keine einheitliche germanische Siedlungsart, und die Ansicht ist überwunden, daß der Einzel hof keltischen Ursprungs gewesen sei. U m j e d e g r ö ß e r e S i e d e l u n g zog s i c h e i n G ü r t e l v o n Ö d l a n d . Zur Abwehr von Tier und Mensch ließ man gerne solche Wüsteneien bestehen. Gerade dieses Ödland ist es, das im Laufe der Jahrhunderte intensiv in Bebauung genommen wurde, so daß die Möglichkeit zu frischer, ausgreifender Kolonisation nicht nur nach außen, sondern auch im Innern gegeben war. Große Wälder flößten Angst ein. Sie waren voll von Dämonen und Unholden. § 2. Sippe und Gefolgschaft. 1. Was das Blut zusammenhält, ist Sippe (Magschaft). Die Magen sind die Blutsverwandten, die Menschen, die durch natürliche Bindung aneinander gekettet sind (propinquitas). Die Magschaft geht über den engeren Familien- und Erbenkreis (Sohn, Tochter, Vater, Mutter, Bruder, Schwester) hinaus. Sie umfaßt weitere Glieder, und eine Blutgrenze, eine Sippengrenze ist in germanischer Zeit nicht gegeben. Diese Sippen oder Geschlechtsverbände standen da wie Felsblöcke, auf denen Recht und Staat ruhten. Begreiflich! Sah doch der germanische Mensch ein Hauptziel seines Lebens in der kräftigen Fortpflanzung seines Stammes, in der Schaffung von tüchtigen Erben. Das Blut war ihm der heilige Saft, der allein die K r a f t besaß, die itmigste Verbindung von Menschen zu vermitteln. Wer von nämlichen Blut war, war von nämlicher Art, von nämlichem Geist. Gutes Blut brachte Heil, schlechtes Blut brachte Verderben. Darin liegt der höhere Sinn der Ebenbürtigkeit. Anders geartet war der Geschlechtsfremde, selbst wenn er sich treu und mithelfend erwies. Auch die angetraute Frau war eine Fremde. Sie trat nicht in die Familie des Mannes ein und entbehrte viele Jahrhunderte lang jeden Erbrechtes am Mannesvermögen. I n diesem Sinne bedeutet die Sippe die natürlichste, von der Gottheit geschützte menschliche Verbindung, die auf sittliche und rechtliche Grundfesten gestützt war. Schon bei der Okkupation des Landes trat die K r a f t der Magschaft hervor. Die G e r m a n e n siedelten sich an nach Geschlechts v e r b ä n d e n , a r b e i t e t e n z u s a m m e n in G e s c h l e c h t s v e r b ä n d e n u n d v e r e r b t e n ihr H a b und Gut i n n e r h a l b d e r G e s c h l e c h t s v e r b ä n d e . „Das Erbe geht durch das Blut", sagt ein altes Sprichwort. W i e b e i d e n G r i e c h e n b i l d e t e d i e M a g s c h a f t e i n e E i n h e i t im H e e r e . Die Magen kämpften im Volksheer Schulter an Sohulter, unterstützten einander, starben für einander. Das Jammern von Weib und Kind feuerte sie an und ließ sie streiten bis zum äußersten. A u c h i m G e r i c h t s w e s e n z e i g t e s i c h d i e K r a f t d e r M a g s c h a f t . Mußte in einer Streitsache ein Eid geschworen werden, so waren die Magen verpflichtet, einander Eideshilfe zu gewähren. Einer unterstützte den Eid des anderen und bezeugte damit vor aller Welt, daß er den Schwörenden für einen ehrlichen Mann halte, dessen Worten man glauben

Gefolgschaft.

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müsse. Wer in eine reiche Sippe hineingeboren war, konnte nicht verarmen. D i e M a g e n h a t t e n sich g e g e n s e i t i g H i l f e zu l e i s t e n u n d d i e N o t d e s Ge-n o s s e n zu l i n d e r n . So ist es nicht erstaunlich, d a ß die M a g s c h a f t a u c h e i n e n F r i e d e n s v e r b a n d d a r s t e l l t e . Draußen, außerhalb der Sippe, herrschte die Fehde, der durch die Sitte geheiligte Krieg der germanischen Geschlechter. Die verfeindeten Familien fielen übereinander her, und in fürchterlichen Kämpfen richteten sich ganze Generationen zugrunde. Rache rief nach Rache, Tod nach Tod. Der Staat mischte sich nicht ein. Innerhalb der Magschaft aber war ewiger Friede. Das Blutband verbot jede Befehdung, jede Verletzung, jede Schädigung. Umgekehrt gebot es Hilfeleistung, wenn Geschlechtsgenossen fremder Fehde ausgesetzt waren. Und „wer den bösen Tropfen genießt, genießt auch den guten": Wurde die Rache mit Geld oder Geldeswert abgekauft, so mußte dieser Wert unter jene Magen verteilt werden, welche zur Blutrache verpflichtet gewesen wären. So bildete die germanische Sippe eine Friedensbürgschaft, eine Friedensinsel in dem ungeheuren Meer von Gewalt, die den germanischen Staat durchtobte. Wie löste nun das Recht die Gewissenskonflikte, welche sich bei diesem eisernen Ge8cblechterprinzip leicht ergeben konnten? Wie stand es mit dem Manne, der seinen Magen nicht mehr traute, oder seine Verwandtschaft verachtete? D a f ü r b o t d a s R e c h t d i e M ö g l i c h k e i t der E n t s i p p u n g . Aus der Lex Salica erfahren wir, daß der Ausscheidende vier Erlenstäbe über seinem Haupt zerbrechen mußte. Mit dieser feierlichen Handlung sagte er sich von seiner Magschaft los, und alle Rechte und Pflichten des Geschlechtsverbandes fielen von ihm ab. Das Recht besaß die Kraft, das Blutband zu zerschneiden. Aus späteren Epochen wissen wir sogar, daß die Sippe ein verbrecherisches Glied ausstoßen und an die Feinde ausliefern durfte. 2. E i n z w e i t e r G r u n d s t e i n des g e r m a n i s c h e n S t a a t s g e b ä u d e s w a r d i e G e f o l g s c h a f t (comitatus), ein künstliches, durch das Recht geschaffenes Gebilde. Nicht das Blut schuf sie, sondern der Wille nach kriegerischer Macht und die Freude an dekorativem Pomp (Tacitus 13). König und Fürsten hielten ein Gefolge. Sie umgaben sich mit einer Schar junger Männer, die durch alte, erfahrene Schwertmeister unterrichtet und herangebildet wurden. Zugleich waren die Gefolgleute, die comités, die Tisch- und Bankgenossen der Großen. Ihre Aufnahme erfolgte wahrscheinlich so, daß der Jüngling eine kühne Waffentat zu leisten hatte, worauf ihm in feierlicher Form die Waffen, die er als Gefolgsmann trug, überreicht wurden. Jedem stand der Eintritt offen. Aber wie aristokratisch doch im Grunde die ganze Einrichtung gefärbt war, beweist die Bemerkung des Tacitus: Hoher Adel (insignis nobilitas) oder große Verdienste der Ahnen (magna patrum mérita) gewährten die Aufnahme schon im frühen Jünglingsalter (13). So geht wohl die Vermutung nicht fehl, in der Gefolgschaft eine Einrichtung zu erblicken, welche in erster Linie die Heranbildung eines Kriegsadels erstrebte. Eine Kriegerkaste sollte geschaffen •werden zum Schutze und zum Ruhme der Großen des Landes. Die bewaffnete Macht des Volksheeres genügte nicht. König und Fürsten riefen nach einer technisch ausgebildeten Garde von absoluter Zuverlässigkeit. I m K o m i t a t l i e g t d i e W u r z e l d e r B e r u f s k r i e g e r . Aber im Komitat liegt noch mehr. Comités pro principe pugnant, sagte Tacitus (Kap. 14). Nicht für den Staat kämpfen die Gefolgschaftsleute, sondern für ihren Fürsten, dem sie sich angelobt

6

Heer.

haben und der sie unterhält. Wer in die Zukunft sieht, der errät sofort die Tragweite dieser Überlieferung: Die staatliche Idee ist durchbrochen. Die Treue gilt dem einzelnen, das Schwert wird für den Gefolgsherrn gezogen. Schon die germanische Zeit kennt also die Rivalität zwischen Herrn und Gesamtheit. Schon die germanische Zeit kennt eine doppelte Treue ihrer Krieger, eine Treue, die man dem Staat, und eine Treue, die man dem Herrn hält. Schon die germanische Zeit sendet die Lichter voraus, die später im Lehnwesen so hell emporblitzen. 'Man soll nicht darüber streiten, ob der germanische Gefolgsmann seinem Herrn einen Eid leistete wie der Lehnsmann. Der Eid ist nur eine Beigabe, eine Festigung der Treue. Das Wesentliche liegt im Gegensatz, der sich auftut, im verschiedenen Ziel, dem die Treue zustrebt. Der Dualismus des mittelalterlichen Lelmsstaates hat seine ersten Spuren im germanischen Gefolgswesen. 3. So stehen Sippe und Gefolgschaft da als Säulen für den künftigen Bau. So verschieden sie sich auch erweisen in Idee und Ausbau, so fehlt ihnen doch nicht jede Gemeinsamkeit. Beide zielen ab auf eine enge Lebensgemeinschaft. Beide tragen eine herrschaftliche Spitze: In der Magschaft ist es der Stammvater des Hauses, im Komitat ist es der König oder der Fürst. Beide stellen sich dar ala Fliedens- und Schutzverband, der eine durch das Blut, der andere durch Mannestreue geschaffen. Beide also sind Verbände, welche beitragen, ein geordnetes, friedensmäßiges Zusammenleben der Menschen herbeizuführen, welche aber zugleich der Ausgestaltung einer festen Staatsgewalt schwere Hindernisse in den Weg legen. Vom Staate aus gesehen, tragen Magschaft und Gefolgschaft ein widerspruchsvolles Moment in sich: Sie fördern den Staatsgedanken und treten ihn zugleich mit harten Füßen. Ein heißes Bingen war nötig, diesen Zwiespalt auszugleichen. § 3. Dns Heerwesen. 1. Alle einfachen Staaten sind auf zwei gewaltige Einrichtungen aufgebaut: Auf Heer und Gericht. Kein Staat ohne bewaffnete Macht. Kein Staat ohne kriegstüchtige Scharen, welche im Innern die Ordnung garantieren und nach außen den Feind abwehren. Ein Staat ohne Heer ist ein Körper ohne Blut. Aber auch kein Staat ohne Gei'icht, ohne ein Organ, welches durch Richterspruch in die gestörte Ordnung einzugreifen vermag. Heer und Gericht sind mit jedem Staatswesen untrennbar verbunden. I n der g e r m a n i s c h e n Z e i t s t e h t d a s H e e r b e s o n d e r s s t a r k im V o r d e r g r ü n d e . Wir haben die Germanen kennen gelernt als wandernde Krieger-, Jäger- und Ackervölker, die auf Schritt und Tritt ihr erobertes Land schützen mußten. Doch mit dem Schutze begnügten sie sich nicht. Viele germanischen Stämme gehörten zu den beutelustigsten Völkerschaften, die es jemals gegeben hat. Cäsar übertreibt nicht, wenn er von den Sueben berichtet, daß sie römische und griechische Kaufleute in ihr Land hauptsächlich deshalb hineinließen, um Gelegenheit zu haben, ihre Kriegsbeute zu verkaufen. Da und dort vernehmen wir deutlich, daß nur die Aussicht-auf Beute die Truppen weiter brachte. Nach Tacitus (14) boten Krieg und Raub dem Fürsten die Mittel, um den Aufwand bei Gelagen und Schmausereien zu bestreiten. So sind denn die germanischen Heereszüge: Eroberungszüge, Ver-

Heergewalt. teidigungszüge und Beutezüge. Kein Wunder, daß als vornehmstes Handwerk der Krieg und der Beutezug galten und daß die Ackerarbeit tiefer Verachtung preisgegeben war. An der Spitze ^ller stand der Held, der Kriegsheld, wie er in unzähligen Liedern gefeiert ist. Mit Glück zu kämpfen und vom Sänger gepriesen zu werden, war höchstes Streben. „Einen König hat man für den Ruhm und nicht, damit er lange lebt," sagt ein nordisches Sprichwort. Das Volk im großen liebte die Ruhe. Mann und Weib arbeiteten auf dem Acker. Den schweren Pflug bediente der Mann. Zu kriegerischen Zwecken trat das ganze Volk zusammen, wenn die Not es erheischte. D^r Beutezug, der Raubzug jedoch ging aus von den Mächtigen im Lande mit ihrem Gefolge. Gefolgswesen und Beutewesen stehen in allerengstem Zusammenhang. 2. Das Recht, kriegerische Waffen zutragen und mit diesen für das Gemeinwesen zu kämpfen, war ein Vorrecht der Freien. Der Heerdienst war Ehrdienst. Die G e s a m t h e i t der f r e i e n M ä n n e r b i l d e t e d a s g e r m a n i s c h e H e e r . Halbfreie und unfreie Leute mögen als Troßknechte, als Wächter und Schanzurbciter Verwendung gefunden haben; im Heerverbande standen sie nicht. Als die Langobarden in der Not Unfreie ins Heer aufnehmen mußten, machten sie diese erst durch Pfeilwurf wehrhaft. Wo ein König herrschte, war er der geborene Führer im Felde, wie überhaupt das Königtum in erster Linie aus glücklicher Heerführerschaft entstanden sein mag. In Völkerschaften ohne König wurde ein Herzog gewählt (dux, herizogo, altnd. heritogo). Dabei waren weder vornehme Geburt noch Reichtum ausschlaggebend für dessen Ernennung. Duces ex virtute sumunt sagt der Verfasser der Germania (7). Männliche Tüchtigkeit sollte allein entscheiden. Doch war der Adel in Wirklichkeit dem Führeramte näher, als der gemeine Mann. Denn die hochgestellten Familien galten als die Heilbringer. Wer ihnen folgte, genoß von ihrem Heil. Ob Königtum, ob Herzogtum den Führer stellten, stets blieben diese Männer nur ausführende Gewalten. Die oberste Heeresgewalt s t a n d a l l ü b e r a l l bei d e r V e r s a m m l u n g d e r f r e i e n G e r m a n e n , b e i d e r L a n d s g e m e i n d e . Sie gebot über Krieg und Frieden, sie urteilte über den Erfolg der ganzen Unternehmung, sie bewertete die einzelne Schlacht. War der Führer unglücklich, so setzte sie ihn ab und opferte ihn nicht selten den Göttern. Denn wer das Volk nicht zum Siege führte, der galt als Feind der Götter, der mußte ihrem Zorn preisgegeben werden. Krieg und Religion hingen innig zusammen: Der Gott begleitete das Heer in die Schlacht. Bilder und Feldzeichen aus den heiligen Hainen wurden vorangetragen, und nach Tacitus Bericht übten die Herzöge die Strafgewalt nur mit priesterlicher Erlaubnis aus (7). Der Frieden im Heere stand unter besonderem göttlichen Schutz. Der Heerfrieden ist einer der ältesten Sonderfrieden, die wir kennen. Die Götter allein kannten den Ausgang der Schlaoht. Deshalb befrug sie der Mensch ängstlich nach einem günstigen Zeichen, bevor er in den Kampf eintrat (Tacitus 10). Denn nur eip der Gottheit genehmer Krieg galt als ein gerechter Krieg. Deshalb wurde der besiegte Feind der Gottheit geopfert oder versklavt. 3. Das volkstümliche Wesen der germanischen Heerverfassung mit seiner allgemeinen Wehrpflicht und seinem Volksführertum erlitt aber einen starken Stoß durch das Gefolgswesen. Der Comitatus war, wie wir bereits wissen, eine aristokratisch gefärbte Einrichtung, in erster Linie bestimmt, eine Garde von Berufs-

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Die Hundert.

Soldaten auszubilden. Was für eine Bedeutung diese Garde innerhalb des Volksheeres besaß, wissen wir nicht. Vermutlich gingen aus ihr die Führer hervor, die germanischen Offiziere. Leider vermögen wir auch nicht die Frage zu lösen, wie die Gefolgschaft sich verhielt zur Mannschaft der sog. „Hundert". Tacitus berichtet nämlich (Kap. 6), daß an der Spitze der Schlachtordnung, die in Keilform aufgestellt war, eine Schar ausgezeichneter Vorkämpfer stand. Ursprünglich waren es je hundert Mann aus einem Gau. Dann verschwand die Zahl und der Name „Hundert" blieb nur noch als Ehrenname erhalten. Ein „Hunderter" zu sein, gereichte jedem zur höchsten Ehre. Waren diese Hundert Gefolgsleute, die an der Seite ihrer Fürsten die Keilspitze bildeten ? Haben wir es mit römischen Einteilungen in Hundertschaften und Tausendschaften zu tun ? Wie weit sind überhaupt römische Einflüsse im germanischen Heerwesen zu verzeichnen? All dies bleibt vorerst ungelöst. Zurückzuweisen ist nur die Vermutung, es ständen diese Hundert in einer Verbindung mit der Centena, die wir im Gerichtswesen kennen lernen werden. Außer dem Namen haben diese Verbände nichts miteinander gemein. 4. Das get manische Heer war ein Fußheer. Seine Taktik lag im Stoß. In keilförmiger Aufstellung versuchte man die feindliche Linie zu durchbrechen. Daher kämpfte der Führer mit, daher stellte man die Tüchtigsten voran, daher war nach mißglücktem Angriff das Heer ratlos. Aber nicht in dieser Schlachtordnung lag der Erfolg der Germanen. Im freien Kampf waren sie die Meister, in Wäldern und Sümpfen, die für die Anordnung im Keil keine Gelegenheit boten. Es ist kein Zufall, daß den Römern ein militärisches Grab im Teutoburger Walde gegraben wurde. Die Natur mußte erst die konstruktive germanische Schlachtordnung zerbrechen, bis das Volk zum Sieg gelangen konnte. — Reiterei fehlte nicht. Auch kunstvolle Reiterübungen sind überliefert. Aber — und das ist das Wesentliche für unsere Rechtsentwicklung — nirgends tritt der Reiter als besonders ausgezeichneter Mann hervor. Der Mann zu Fuß war dem Manne zu Pferd durchaus ebenbürtig. § 4. Das Gerichtswesen. 1. Wie das Heer ein Volksheer darstellte, so wuchs auch das Gerichtswesen unmittelbar aus dem Volke heraus. Ja, in der Gerichtsverfassung fehlte sogar jener aristokratische Einschlag, den wir in der Gefolgschaft beobachten konnten. D a s G e r i c h t i s t ein r e i n e s V o l k s g e r i c h t , die R i c h t e r s i n d V o l k s r i c h t e r im w a h r s t e n S i n n e des W o r t e s . Sie richten nach keinem anderen Recht als nach Volksrecht. Die Genchtsgewalt hegt beim vereinigten Volke, bei der Lands gemeinde. Niemand richtet zu eigenem Recht. Der Richter ist Verwalter einer fremden Gewalt, der Volksgewalt. Die Richterwahl beruht auf Volkswahl. Auf dieser Grundlage erscheint die germanische Gerichtsverfassung in der Tat als das Ideal des demokratischen Gedankens, ein Ideal, welches freilich nur in kleineren Volksgemeinschaften erreichbar ist, welches in großen Verbänden zum Zerrbild werden muß. 2. Angesehene, zu Richtern gewählte Leute bereisten den germanischen Gau, den pagus (Tacitus 12). In diesem befanden sich mehrere Gerichtsstätten, wahrscheinlich alte Kultstätten, die den Göttern heilig waren. In freier Natur, im

Richter.

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Walde oder auf geräumigem Hügel, unter alten Bäumen oder an wohltätigen Quellen fand der Germane sein' Recht. Wie das Recht selbst dem frischen Schöße des Volkes entsprang, so sollte die Rechtsprechung nicht gehemmt sein durch Wände und Zelte. Dem Richter (princeps) half eine größere Zahl zuverlässiger Männer aus dem Gau seine Aufgabe zu erfüllen. Centeni comités nennt sie Tacitus (12). In dem territorial abgegrenzten Gerichtsbezirk, dem Gau, stellten diese Hundert einen persönlichen Gerichtsverband dar, eine Gemeinde, die das Vertrauen des Richters besaß und von ihm oder vom Gauvolk gekoren wurde. Die Aufgabe dieser Hundert war eine doppelte. Sie fanden auf Befragen des Richters das Urteil; denn es war germanisches Recht, daß der Verhandlungsleiter, der Richter, nicht auch Urteiler sein sollte. Der Richter erschien als Träger der staatlichen Gerichtsgewalt, das Volk (die Urteiler) als die Quelle der Rechtsfindung. Zugleich standen die Hundert dem Richter zur Seite mit auctoritas (Tacitus 12). Man hat das Worf mit Ansehen übersetzt. Plastischer gefaßt muß es heißen: mit Macht und Gewalt. Wie wäre es dem germanischen Richter ergangen, wenn er ohne machtvollen Hintergrund aufgetreten wäre! Wie manches Gericht wäre mitten in den Verhandlungen gestört, wie mancher Richter wäre von den Parteien nicht zur Urteilsverkündung zugelassen worden ! Nichts deutet darauf hin, daß, wie oft behauptet, dem ganzen Gauvolke dio letzte Entscheidung im Gericht vorbehalten war. Stimmten die Hundert einem Vorschlage zu, so war ein rechtskräftiges Urteil gefällt, und der Richter hatte das Rechtsgebot zu erlassen, den Spruch : Dies soll Recht sein. Für die Vollstreckung sorgte der Richter nur ausnahmsweise, wahrscheinlich nur in einzelnen Strafsachen. Den Urteilsvorschlag machten Männer aus der Zahl der Hundert. Der weise, rechtsbegabte Kopf gelangte rasch zu großem Ansehen im Gericht. So wurde da und dort ein Ausschuß zusammengerufen. Bei Oberdeutschen und Friesen treffen wir später ständige Urteilsfinder an. Dabei mögen die Priester einq besondere Rolle gespielt haben, vornehmlich wenn es sich um die Versöhnung der Parteien handelte. Cäsar berichtet: principes controversias minuunt, was darauf hindeutet, daß manches Gericht als Schiedsgericht amtete, um den Streit auf gütlichem Wege aus der Welt zu schaffen. Unsere heutigen Bestrebungen, durch ein Güteverfahren den eigentlichen Prozeß zu vermeiden, haben ihre Wurzeln in Urväterzeiten. — Am Gaugericht mußten sich außer dem Richter und den Hundert nur die Parteien, die Zeugen und andere am Prozeß beteiligte Personen einfinden. Von e i n e r G e r i c h t s p f l i c h t aller G a u g e n o s s e n i s t k e i n e R e d e . Es ist ein Irrtum zu behaupten, schon in germanischer Zeit habe es eine allgemeine Dingpflicht gegeben, d. h. eine Pflicht für jederman im Gau, zu bestimmten Zeiten im Gericht zu erscheinen. 3. Über dem Gaugericht erhob sich das Gericht der ganzen civitas. Die g e r m a n i s c h e L a n d s g e m e i n d e w a r n i c h t nur o b e r s t e s g e s e t z g e b e n d e s O r g a n , s o n d e r n a u c h h ö c h s t e s G e r i c h t . Vor diesem Gericht wurden Anklagen erhoben, wenn es sich um besonders schwere Fälle handelte, und Prozesse durchgeführt, wenn es einem freien Manne an Leib und Leben ging. Wahrscheinlich konnte hier auch gegen Gaurichter geklagt werden, die ihr richterliches Amt aus Gleichgültigkeit oder aus bösem Willen schlecht versahen. Hier, in dieser Lands gemeinde, urteilte das g e s a m t e Volk. Nur der Urteilsvorschlag, der ihm genehm

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Gericht und Gottheit.

war, bildete ein Urteil im Rechtssinne. Die Landsgemeinde trat zu bestimmten Zeiten des Jahres zusammen, an den Tagen des Neumondes oder des Vollmondes . Jeder im Lande kannte Ort und Zeit. Hier gab es keine besondere Ladung. H i e r zu erscheinen war Pflicht eines jeden freien Germanen, der in das wehrhafte Alter gekommen war. (Vermutlich mit vollendetem zwölften Jahre.) Bas Gericht der Landsgemeinde ist somit das Vorbild des späteren „echten Dings" und stellt in wunderbarer Plastik den lebendigen Rechtswillen eines Volkes dar. 4. Gerichthalten und Rechtsprechen waren heilige Angelegenheiten. Die Germanen verehrten ihre Gottheiten in den Wäldern, als geheimnisvolle Mächte, als Naturgewalten. In den Wäldern wurde daher Gericht gehalten. Wie die Gottheit über der Rechtsordnung waltete, so schwebte sie auch unsichtbar über jedem Prozesse. Die Gottheit bildete in diesem Sinne die höchste richterliehe Autorität, der sich der Mensch in Hingabe und Vertrauen, zugleich aber in Furcht und Zagen unterwarf (unten § 6). Die Germanen kennen einen besonderen Gerichtsgott, den Tius. oder Ziu, von dessen Gewalt heute noch unser Dienstag spricht. Der Dienstag ist der Gerichtstag dieses Gottes. Aus,diesem engen Zusammenhang von Gericht und Gottheit erklären sich vier wichtige Erscheinungen. Einmal: Durch heilige Zeichen mußte der Wille der Gottheit erkundet werden. Vermutlich stellte der Richter an die Priester die sog. Hegungsfragen. Durch Werfen des Loses wurde dann festgestellt, ob Ort und Zeit des Gerichts richtig gewählt seien, ob das Gericht richtig besetzt sei, und ob man den Gerichtsfrieden, den Dingfrieden gebieten dürfe. Erst nach dieser feierlichen Handlung konnte der Richter die Sitzung beginnen. Ein von der Gottheit nicht gewolltes Gericht war kein Gericht im Rechtssinne. Man versetze sich in die Lage der Zeit! Mit welcher Sicherheit vermochte der Mensch seinen Urteilsspruch zu fällen, wenn er sich unmittelbar durch den Gerichtsgott geborgen, ja inspiriert fühlte. Das.zweite Moment, welches auf die Verbindung von Gott und-Gericht hinweist, ist die S t r a f g e w a l t der P r i e s t e r . Wer den Gerichtsfrieden störte, wurde durch den Priester bestraft (Tacitus 11). Er war allein befähigt, Strafen im Ding zu verhängen; denn er allein wußte, wie die erzürnte Gottheit versöhnt werden konnte. Drittens mußte die Klage in feierlichster Form unter A n r u f u n g der G ö t t e r erhoben werden. Der Kläger stellte sich damit in den Schutz der Gottheit und vertraute ihr gleichsam seinen Handel an. Der Rechtsstreit galt als eine Wette, als ein Kampf, über welchem der Kampfgott waltete. Schließlich deutet auch der Eid auf die innige Verbindung von Gottheit und Recht. Er war das Hauptbeweismittel im Rechtsgang. Er ist entstanden aus der Selbstverfluchung: Wer.die Wahrheit nicht aussagte, beschwor den Fluch der Götter auf sich herab. § 5. Staat und Volk. 1. Der Staat. D i e g e r m a n i s c h e n c i v i t a t e s w a r e n d e m o k r a t i s c h e S t a a t e n . Das Staatsvolk stellten die freien Leute dar. Ein Gesamtbewußtsein äußerte sich nicht nur im Strafreeht (§ 6), sondern auch in der allgemeinen Wehrpflicht (jeder wehrfähige Mann hatte einzustehen für den Schutz des Ganzen), in der Rechtsprechung

Natur des Staates.

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(das Volk sprach Recht durch das Mittel der Richter und der Urteiler) und in der Art der Landnahme („ab universis" wurde das Land okkupiert, das wirtschaftliche Fortkommen aller erstrebt). Freilich von einem „Staatsgebiet" läßt sich kaum sprechen. Alles war aufgebaut auf den Menschenverband. In der Gemeinschaft der Volksgenossen allein lebte das Recht und war weit entfernt, sich auf ein Territorium niederzuschlagen. Von einer solchen Verwurzelung des Rechts haben noch viele Jahrhunderte nichts gewußt. Oberster Hüter des Rechts war das Volle in der Volksversammlung (concilium). Von ihm ging die höchste Gewalt aus und spiegelte sich in starken Einrichtungen des Heer- und Gerichtswesens (§ 3 und 4). Auch die Gottheit hatte Gewalt im Staate. Der Mensch führte sie durch. Weltliche und sakrale Gewalt waren aufs innigste verbunden. Und der Erfolg ? Manche Völkerschaften sind nach kurzer Zeit aufgerieben worden. Unglücklicher Kampf und lose innere Verbindung mögen die Ursache gewesen sein. Viele aber haben Jahrhunderte lang ein kräftiges Dasein geführt, immer enger zusammenwachsend, immer zunehmend an Zahl und Wucht, immer größere Aufgaben erfüllend. Aus ihnen sind die Stämme der Völkerwanderung hervorgegangen. Aus ihnen ist eine Fülle staatlicher Einrichtungen in die fränkische Zeit hinübergerettet worden. ^ Nach alldem ist es nicht zu kühn, zu sagen: der germanische Staat war weder ein Patriarchalstaat, noch ein Geschlechterstaat. E r s t e l l t e e i n e n w a h r e n k r ä f t i g e n Volksstaat dar, einen genossenschaftlichen Verband mit g e r i n g e r a r i s t o k r a t i s c h e r F ä r b u n g . In Staaten, die ein Königtum besaßen, traten die demokratischen Elemente natürlich mehr in den Hintergrund, als in den Freistaaten. Aber verfassungsgeschichtlich betrachtet, liegen große Unterschiede nicht vor. D a s g e r m a n i s c h e K ö n i g t u m war e i n Voikskönigtum". Der König übte Volksgewalt, keine Königsgewalt aus. Der König war nichts als ein Leiter des Volkes, das ihm seine Gewalt übertragen hatte und ihn jederzeit abzuberufen vermochte. Ein Königtum zu eigenem Recht ist der germanischen Epoche fremd gewesen. In diesem Sinne ist der Staat einheitlich gestaltet. Noch kannte man keinen Gegensatz von Volksrecht und Königsrecht, von Volksland und Königsland, von Volksbeamten und Königsbeamten. Ja, in diesem Sinne war der Staat fester und gleichmäßiger gefügt, als manches Staatsgebilde des 20. Jahr-, hunderts. Freilich nach unserer heutigen Auffassung vom Rechtsstaate war die staatliche Idee an e i n e r Steife tief durchbrochen: im Fehdewesen. Der Privatkrieg war erlaubt. Die verletzte Sippe durfte am Übeltäter und seiner Verwandtschaft Rache nehmen, Rache bis aufs Blut. Geschlossenen Auges stand der Staat dieser Zerfleischung gegenüber da; denn die Fehde war ein Rechtsinstitut. Aber um dieser Einrichtung willen den Staat überhaupt zu leugnen, geht nicht an. Dies um so weniger,' als sich das Gemeinwesen schon in germanischer Zeit um die Eindämmung dieser staatsfeindlichen Gewohnheit bemühte. Fehden konnten durch Bußen abgekauft werden. Zahlte der Missetäter Buße (in Gestalt von Vieh), so fiel die eine Hälfte an die verletzte Sippe, die andere an den Staat. Und dieser Abkauf wurde betrachtet als utiliter in publicum, nützlich für das Gesamtwohl (Tacitus 21). 2. Das Volk. Der germanische Volksverband war in seiner Grundlage ein einheitlicher Verband. Die Summe aller freien wehrhaften Männer bildete das politisch mündige

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Volksstaat.

Volk. A u c h d a s W e i b war V o l k s g e n o s s i n . Aber die Munt, die Gewalt- und Schutzherrschaft des Mannes, zehrte alle politischen Kräfte des Weibes auf. Eine Zeit, die so intensiv auf den Zusammenhang von Kraft u n d Recht aufgebaut war, vermochte dem schwachen Geschlecht unmöglich einen eigenen, vom Manne unabhängigen Rechtskreis einzuräumen. Der Kräftigere übte Gewalt und Schutz über den Schwächeren. Mit der größeren Körperkraft dachte man sich auch größere geistige Kräfte verbunden. So allein erklärt sich die straffe Unterordnung des Weibes unter den Mann, die viele Jahrhunderte das Rechtsleben beherrschte. Erst die Neuzeit hat dann endgültig mit diesem Axiom gebrochen. A u ß e r h a l b des V o l k e s s t a n d e n die U n f r e i e n , d i e K n e c h t e . Diese unselige Menschenklasse ging in ihrer Hauptsache auf Kriegsunterworfenheit zurück. Die Unterwerfung der Thüringer durch die Sachsen liefert in späterer Zeit ein klassisches Beispiel dafür. Der Krieg galt als ein Gottesurteil. Das siegende Heer war das Volk, das eine gerechte Sache führte. Den Besiegten hatten die Götter verlassen. Auch durch Einsetzen seiner Person im Spiel (Tacitus 24), sowie durch Heirat mit einem Unfreien konnte man seine Freiheit verlieren. Der treibende Gedanke war: die U n f r e i h e i t e n t s t e h t a u s S c h u l d . Schuldig ist das unterworfene Volk, schuldig der Mensch, der sich verspielt, schuldig das freie Weib, das einen Unfreien ehelicht. Die Unfreiheit war also letzten Endes Vergeltung für begangenes Unrecht. Darum wurde sie als „richtiges Recht" empfunden und gehandhabt. Die Unfreien der Germanen, mochten sie im Hause Dienste leisten, mochten sie auf Gütern angesiedelt sein, standen außerhalb des Rechts. Noch das salische Gesetz (Titel 10) nennt sie in einem Atemzuge mit den Vierfüßlern. Sie waren nur Objekte des Rechts und gehörten zum Eigentum ihres Herrn wie eine Sache. Der Herr konnte sie verletzen, töten, verkaufen, ohne mit der Rechtsordnung in Widerspruch zu geraten. Auf Güte und Mitleid ihrer Gebieter blieben diese Menschen minderer Ordnung angewiesen. Da sie ein kostbares Vermögensstück darstellten, erhielt man ihnen Leben und Gesundheit häufig aus Eigennutz. Aber wir wollen zur Ehre unserer Vorfahren nicht vergessen, daß Tacitus (25) berichtet: „Selten wird ein Unfreier gepeitscht, in Fesseln gelegt oder zur Zwangsarbeit herangezogen." Im Gegensatz zum späten Rom lebten Gutmütigkeit und Menschlichkeit in der germanischen Seele. „Nur aus Jähzorn wird dann und wann ein Sklave getötet", berichtet unser Gewährsmann (25). Den Übergang zu den freien Leuten bildeten die H a l b f r e i e n . Wir wissen wenig von ihnen. Doch steht so viel fest, daß sie ihrem ganzen Wesen nach weit mehr zu den Sklaven, als zu den liberi gezählt wurden. Noch in der gesamten fränkischen Periode ist die ständische Haupteinteilung die in freie und unfreie Menschen. D i e H a u p t m a s s e s t e l l t e n d i e F r e i e n d a r . Die freie Geburt in freier Sippe gab die Mitgliedschaft im Volksverbande. Darum wurde der Fremde, welcher der Mägschaft entbehrte, als ein rechtloses Geschöpf betrachtet; denn der Mensch war noch nicht auf sich selbst gestellt. Sein rechtlicher und sein sittlicher Wert ruhte in seinem ganzen Geschlecht. Ein guter Mann aus guter Sippe, ein schlechter Mann aus schlechter Sippe. Kein Wunder, daß bei Griechen und Römern, bei Galliern und Germanen dem Ankommenden zu allererst die Frage gestellt wurde:

Freie und Unfreie.

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„Sage mir, aus welchem Geschlechte stammst du." Das Geschlecht vermittelte die Eigenschaften, gab Aufschluß über Charakter und Gesinnung, über Verdienst und Schicksal, über'Heil und Unheil. Die Ahnen genossen eine starke, überstarke Verehrung. Das Ahnengrab stellte Mittelpunkt und Sammelpunkt des Geschlechts dar. Im Ahnenpfahl sah man das Bild der heilbringenden Toten. Manche Geschlechter wurden von den Göttern gelenkt, die sie zur schwindelnden Höhe führten oder elend in der Tiefe zerschmetterten. Götter traten als Helden auf, und Wotan galt als das Haupt der Edlen. Daß dieser Glaube auf das Recht einwirken mußte, ist leicht einzusehen. Die Freien waren Krieger, Jäger und Ackerbauern, vereinzelt auch Händler. Viele lebten als freie Grandherren auf eigenem Gutshofe. Aber größer war die Zahl der freien Bauern auf eigener Bauernstelle. Zahlreiche Freie mögen bereits in germanischer Zeit als angesiedelte Leute auf Grundherrschaften gesessen haben. Es gab sicherlich Freie, die wirtschaftlich unselbständig waren, so d a ß w i r t s c h a f t l i c h e F r e i h e i t u n d r e c h t l i c h e F r e i h e i t sich v o n A n f a n g an n i c h t d e c k t e n . Allerdings bestand für diese Klasse von Freien die Gefahr, allmählich auch in rechtliche Unterordnung unter ihre Herren zu geraten. Denn es ist ein starker Zug im germanischen Recht vorhanden, einen vollkommen freien Mann nur in der Person zu sehen, die eigenen Grund und Boden besitzt. Ist ca doch ein stolzer Gedanke: Nur der wirtschaftlich unabhängige Mann soll vollfrei sein. Üb er d e n F r e i e n er hob sich d e r A d e l , d i e n o b i l i t a s (Tacitus 7). Familien mit besonders wertvollen Eigenschaften an Körper und Geist stiegen über einfach geartete Geschlechter hinaus. A u s K r i e g s t ü c h t i g k e i t u n d p o l i t i s c h e r F ü h r e r s c h a f t i s t d e r U r a d e l e n t s t a n d e n . Die virtus (Tacitus 7), die Mannhaftigkeit, schuf den Adel. Aller Adel war ursprünglich Verdienstadel. Wie Unglück und Schuld herabdrückten, so hoben Erfolg und Verdienste den Menschen empor. Und da der Sohn die Eigenschaften des Vaters fortsetzte nach dem Glauben der Zeit,- so stieg das ganze Geschlecht in den Stand des Adels auf. Die nobilitas des Tacitus (7) ist bereits ein Geburtsadel. Ein klassisches Beispiel bietet Arminius. Die auf ihn folgende Generation wurde als stirps regia, als königliches Geschlecht bezeichnet. (Annales 2, 9.) — E r h ö h t e r B e s i t z z e i c h n e t e f r ü h z e i t i g d e n A d l i g e n aus. Das Wort „edel" gründet sich ursprünglich, wie „adel", auf Besitz und Abkunft. Und schon von Tacitus erfahren wir ja, daß die Tüchtigen und Vornehmen größere Ackerlose erhielten (26). E r s t im L a u f e v i e l e r J a h r h u n d e r t e schuf sich a b e r der Adel eine a l l g e m e i n e B e s s e r s t e l l u n g im R e c h t . Erst mit dem Aufkommen eines starken Königtums wuchs der Adel rechtlich heran. In der Urzeit vernehmen wir noch nichts von einem höheren Wergeid oder von höherer Buße, die bei Tötung oder Verwundung einer Adelsperson hätten bezahlt werden müssen (Tacitus 12 und 21). Noch standen der Freie und der Adlige im Werte gleich. Eines der wichtigsten Adelsmerkmale fehlte noch. Auch sagt uns keine einzige Nachricht, die Richterstellen und die Offiziersposten seien ausschließlich mit Adligen besetzt worden. Tatsächlich wird freilich der Adel bevorzugt gewesen sein, aber nicht wegen eines rechtlichen Anspruchs, sondern wegen seiner Leistungen. N u r d e r K ö n i g e n t s p r a n g v o n R e c h t s w e g e n d e m Adel. Dies hängt aufs innigste mit der Vorstellung zusammen, daß man den König aus einem Ge-

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Entstehung der Strafe.

schlecht küren sollte, das in engster Beziehung zu den Göttern stand und dem ganzen Volke Glück, Heil brachte. Zwischen Gott und Mensch tat sich keine ewige Scheidung auf. Hervorragende Geschlechter stellten eine Brtieke dar, und durch diese Brücke nahm schließlich das ganze Volk an göttlichem Wesen teil. Der germanische König war nicht nur ein „g'ottbegnadeter Mann", sondern ein letztes Stück der Gottheit selbst. § 6. Das Strafrccht. 1. Die Entstehung der Strafe gehört zu den größten Problemen der Geschichte. Rühren wir in diesen Fragen doch nicht nur an die tiefsten Wurzeln des Rechts, sondern auch an die unbändigsten Leidenschaften und an die verborgensten sittlichen Geheimnisse eines jeden Menschen und einer jeden Gemeinschaft. J a noch mehr! Der eifersüchtig über den Erdenkindern lauernde Gott mischt sich mit gewaltiger Hand ein und fordert Sühne, wenn er verletzt wird. Strafrecht und Gottheit siud untrennbar verkettet. Man vergesse dabei nicht: Die germanischen Gottheiten thronten nicht als sittlich gute Wesen in ihren Gefilden. Sie waren heroische, herrische, ränkevolle Naturen, die nach ihrem Willen belohnten und bestraften. Bald zeigten sie sich gütig und milde, standen schützend über Tier und Mensch und spendeten dem Acker Segen. Bald aber verbreiteten sie Angst und Schrecken und ließen die gepeinigte Kreatur erzittern. Durch die ganze germanische Mythologie geht dieser dualistische Zug. Sonnenhafte, heroische Vorstellungen mischten sich mit dumpfen, erdenschweren Empfindungen. Alte Lieder erzählen, daß der Mensch so kühn war, sjch mit Göttern im Kampfe zu messen. Andererseits berichtet Tacitus (40), daß man selbst Menschenopfer nicht scheute, um den erzürnten Gott zu versöhnen. Dieses zwiespältige Wesen der göttlichen Natur wirft seine Schatten weit in das Strafrecht hinein. Immer wieder tritt die eine Hauptfrage hervor: War einst alles Strafrecht sakraler Natur? Und dazu gesellt sich die zweite große Frage: Ließ der Staat die Missetat ungesühnt, wenn sich kein Kläger einstellte ? 2._ Gehen wir von der Sippe, von der Magschaft aus, so erinnern wir uns, daß sie eine Friedensgenossenschaft darstellte, in der ein Genosse dem anderen dauernden Frieden zusicherte. Friede und Liebe, Freundschaft und Verwandtschaft sind im Indogermanischen identische Begriffe. Schädigte nun ein Dritter etwa durch Tötung, Diebstahl oder Ehrverletzung das Glied einer Magschaft, so sah der germanische Staat dieser Verletzung tatenlos zu. Er zog den Übeltäter nicht zu~strafrechtlicher Verantwortung. Die Magschaft war auf sich selbst angewiesen. Die Rechtsordnung gewährte ihr die Selbsthilfe. Durch die Schädigung war der Friede an ihr gebrochen. Der Friedensbruch rief seinerseits die Feindschaft (inimicitia, Tacitus 21) und die Feindschaft ihrerseits das Fehderecht hervor. Inhalt des Fehderechts war: Erlaubte Rache am Gegner (vindicare, Tacitus 12). Lag eine Blutschuld vor, so ging die Rache bis aufs Blut. Bei"gßringeren Schädigungen mag man sich mit Körperverletzungen und Zerstörungen wirtschaftlicher Werte begnügt haben. In der Fehde um Blutschuld lag ein dämonisches Moment tief eingeschlossen. Die Germanen standen jahrhundertelang unter der fürchterlichen Vorstellung, ein Ungerächter finde keine Ruhe im Grabe. Man glaubte, die Seele des Getöteten

Sippestrafrecht.

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umziehe als spukender Dämon Haus und Hof des Geschlechtsgenossen, der sich nicht anschickte, zur Rache zu schreiten. So sind es teils Beweggründe der Angst und des Grauens, teils Motive heldenhafter und herrischer Art, die zur Blutrache aufriefen. Zur Zeit des Tacitus lagen die Dinge bereits so, daß die Sippefeindschaft gesühnt, das Fehderecht abgekauft werden konnte. Der Staat begann sich einzumischen und bildete einen Bußenprozeß aus. Der unterliegende Teil zahlte die eine Hälfte der Buße dem Staat als Vermittlungsgebühr, die andere Hälfte dem Geschädigten oder dessen Verwandten als Sühnegeld (Tacitus 12). Wie weit aus der Ablösungsmöglichkeit bereits ein Ablösungsrecht geworden war, wissen wir nicht. Die Fehde um Blut "wird man meist dann verschmäht haben, wenn kein rachefähiger Geschlechtsgenosse lebte. Wie es in einer altrussischen Quelle heißt: „Wenn aber niemand um zu rächen da ist, so sollen für den Kopf 80 Grionen bezahlt werden." (Vgl. Tacitus 21, wo die Durchführung der Blutrache noch als Regel erscheint.) Mit dem Abkauf kam später der Ersatzgedanke in das Strafrecht hinein, der ihm von Haus aus fremd war. In der Rache lag einzig der Vergeltungsgedanke für die erlittene materielle Schädigung, sowie für die Verletzung und Mißachtung der Persönlichkeit. Diese Vergeltungsstimmung drückt das norwegische Recht plastisch aus, wenn es sagt: Rache sei zu nehmen am besten Manne des feindlichen Geschlechts, gleichgültig, ob dieser der Täter sei oder nicht. Die von Tacitus genannten Wergelder und Bußen sind also nicht als Schadenersatz, sondern als Abkauf des Fehderechts anzusehen. Wahrscheinlich waren schon in ältester Zeit die Fehdehandlungen an eine bestimmte Form gebunden, so daß z. B. die in Rache verübte Tötung sofort bekannt gegeben werden mußte. Es ist töricht, zu behaupten, die Rache habe außerhalb de» Rechts gestanden. Sie bewegte sich nur außerhalb staatlicher Teilnahme, nicht aber außerhalb des Rechts. E s g a b ein F e h d e r e c h t , u n d d i e in F e h d e v o l l z o g e n e R a c h e e r w e i s t sich als eine v o m R e c h t z u g e l a s s e n e S e l b s t h i l f e u n d in d i e s e m S i n n e a l s S t r a f e . Zeigte sich ein Geschlechtsgenosse seiner eigenen Sippe unwürdig, beschimpfte er durch eine Tat sein eigenes Geschlecht, so durfte er in ältester Zeit nicht nur aus dem Verbände ausgestoßen, sondern getötet werden. Einen Hauptfall dieses alten Sippestrafrechts bildete bis in die späten Jahrhunderte hinein die Tötung der Ehebrecherin. 3. Neben dieser Art der Strafe gab es auch staatliches Strafrecht. Tacitus berichtet, daß Verräter und Überläufer an Bäumen aufgehenkt, Feigheit, Fahnenflucht und widernatürliche Unzucht durch den Erstickungstod gesühnt wurden. Diese Strafen mußten vom obersten Gericht, dem concilium, ausgesprochen werden (Tacitus 12). Man hat gesagt, dieses staatliche Strafrecht sei herausgewachsen aus dem Friedensbruch. Ein allgemeiner Friede, ein Volksfriede, habe die ganze Völkerschaft erfaßt, die Verbrecher hätten sich aus dem Volksfrieden gesetzt. Die staatlichen Strafen seien aus der-allgemeinen Friedlosigkeit entstanden. Aber einen solchen dauernden Gemeinfrieden kennt die germanische-Zeit nicht. Erst Königtum und Christentum haben ihn in späterer Zeit geschaffen. Unsere römischen Schriftsteller wissen nichts von einer solchen allgemeinen Friedlosigkeit. Tacitus 40 deutet darauf hin, daß bei den Langobarden ein allgemeiner Friede nur bekannt war

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Staatliches Strafrecht.

und geschätzt wurde (nota et amata) am Feste der Göttin Nerthus, und Tacitus 6 berichtet, daß die größte Schande, die Zurücklassung des Schildes, nicht mit Ausstoßung aus der Rechtsgemeinschaft, sondern nur mit dem Verbote bestraft wurde, dem Götterdienste beizuwohnen und die Volksversammlungen zu besuchen. D i e ö f f e n t l i c h e S t r a f e k a n n d a h e r n i c h t a u s dem B r u c h e eines G e m e i n f r i e d e n s a b g e l e i t e t w e r d e n . In der Urzeit gab es von Staats wegen nur Sonderfrieden, wie den Heerfrieden, den Dingfrieden, den Tempelfrieden, den Hausfrieden. E i n Teil des S t r a f r e c h t s i s t auf d e n B r u c h d i e s e r S o n d e r f r i e d e n z u r ü c k z u f ü h r e n . Da die Gottheit Schützer dieser Frieden war, so verletzte der Friedensbruch die Gottheit selbst. Die Bestrafung des Friedensbrechers, regelmäßig wohl mit dem Tode, galt als Opfer an die Götter. Nur durch Opferung vermochte man den drohenden Zorn der Himmlischen von dem Volke abzuwenden. Das durch die Missetat befleckte Volk mußte entsühnt werden. Der Friedlose m u ß t e daher im Interesse der Gemeinschaft getötet werden. Jeder Volksgenosse hatte die Pflicht, den Friedlosen festzunehmen und vor Gericht zu schleppen oder ihn selbst zu töten. Sofern jedoch die Missetat emeii staatlichen Sonderfrieden nicht verletzte, dennoch aber eine Schädigung oder eine Gefahr für die Gesamtheit in sich schloß, so beruhte die Strafe, juristisch genau gesprochen, nicht auf einem Friedensbruch und schloß kein sakrales Moment in sich. Die Tat war ein Einbruch in die Rechts Ordnung, ein einfacher Rechtsbruch, wie denn z. B. die isländische Gragas die Missetat als eine Negation des Rechts (skil) und der Rechtsordnung (log) mit üskil und tilog bezeichnet. Ein solcher Täter galt als Volksfeind, nicht notwendig als Feind der Götter. Unzuchtsdelikte, Brandstiftung und Mord (heimliche, hinterlistige Tötung) njögen zu diesen Verbrechen gehört haben. Gegenüber diesem Täter gab es keine Tötungspflicht. Er durfte jedoch, weil der Gesamtfehde ausgesetzt, von jedem Volksgenossen ergriffen und bestraft werden. Und daß auch hier die Strafe regelmäßig bis an den Tod ging, ist anzunehmen. Doch kamen vermutlich auch geringere Strafen vor, wie die Ausstoßung aus • Götterdienst und Lands gemeinde (Tacitus 6), vielleicht sogar Geldstrafen. Das staatliche Strafrecht der ältesten Zeit geht also auf zwei Wurzeln zurück: Auf den Bruch eines von der Gottheit geschützten Sonderfriedens und auf die gemeinschädliche Verletzung der Rechtsordnung profaner Art. Daher gehen Tötungspflicht und Tötungsrecht nebeneinander her. Daher haben schon die Germanen neben sakralem auch weltliches Strafrecht gekannt. Daß dem Zweck der Strafe auch ein reinigendes Moment innewohnt, lassen viele spätere Zeugnisse erkennen. Das todeswürdige Verbrechen zählte zu den „Neidingswerken", zu den Taten, die auf eine gemeine Gesinnung schließen ließen. Das Verbrechen erwies den Verbrecher als einen Entarteten, aus der Art Geschlagenen. Die Tötung solcher Schädlinge war daher ein Mittel, die Reinheit, die gute Art der Rasse zu erhalten. § 7. Die Rechtsquellen. 1. Aus welchen Quellen schöpfen wir das Bild, das wir von der Urzeit entworfen haben ? Wer gab uns die Bausteine zu diesem Gebäude ? Die Germanen selbst zeichneten ihr Recht nicht auf. Religion und Kunst, Sittlichkeit und Recht,

Cäsar und Tacitus.

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Sprache und Gebärde stellten eine Einheit dar, in der und mit der jeder Mensch lebte. Was Recht war, war vernünftig und was vernünftig war, war Recht. Das Auseinanderfallen der Lebensgebiete blieb dem Germanen völlig fremd.' Ja, noch der Mensch des Mittelalters hat in wichtigen Zügen diese Lebenseinheit festgehalten. Sie bildet einen der größten Gegensätze zum modernen Dasein. Heute ist alles geteilt, geschachtelt, zersplittert. Von einem Lebenskreis zum anderen, von der Sitte zum Recht, von der Religion zur Kunst, von der Kunst zur Moral, von der Sprache zum Recht findet sich kaum noch eine Brücke. In der Urzeit ist alles vereint in einem tiefen, kräftigen, lebensvollen Untergrunde. Der germanische Mensch tritt dem prüfenden Auge entgegen in naiver Geschlossenheit. Ein solches Volk hat kein Bedürfnis, sein Recht festzulegen in Worten. Es kommt ihm gar nicht zum Bewußtsein, einen Lebenskreis höher zu werten als den anderen. Die Fixierung des Rechts ist immer der Anfang einer Differenzierung des Lebens. Damals lebte das Recht im Volke und mit dem Volke wie eine sorgende Mutter mit ihren Kindern. 2. Die wichtigste Quelle für die Erkenntnis der rechtlichen Zustände bilden die römischen Schriftsteller, an deren Spitze C ä s a r m i t d e m g a l l i s c h e n K r i e g ( r u n d u m 50 v. Chr. v e r f a ß t ) u n d T a c i t u s m i t d e r G e r m a n i a (etwa h u n d e r t f ü n f z i g J a h r e s p ä t e r ) . Die Annalen des Tacitus treten wesentlich zurück. Wiewohl Cäsar aus eigener Anschauung schöpfte, Tacitus dagegen dio verlorenen Quellen des. älteren Plinius benutzte, ist letzterer doch wesentlich wertvoller als Cäsar. Man muß sich immer aufs neue hüten, die Angaben des großen Feldherrn über die Sueben zur Richtschnur für alle übrigen Germanen zu nehmen. Die Sueben waren damals ein gegen den Rhein vordringendes, überaus kriegerisches Volk, von dem viele germanische Stämme, z. B. die Rheinuferfranken, sich stark unterschieden. Auch ist Tacitus zuverlässiger. Überall, wo er Angaben tatsächlicher Natur macht,- dürfen wir ihm Glauben schenken. Nur da übertreibt er, wo er die verderbten Römersitten der Reinheit germanischen Lebens gegenüberstellt. Die kleineren Schriftsteller wie Plinius, Strabo, Pomponius Mela und Ammianus Marcellinus treten neben den beiden Großen für die Rechtsgeechichte in den Hintergrund. 3. Vielfach sind wir angewiesen auf die M e t h o d e der R ü c k s c h l ü s s e . Wenn Rechtseinrichtungen nach der Völkerwanderung wahrgenommen werden können bei allen oder den meisten germanischen Stämmen, so dürfen wir sie als gemein germanisch in Anspruch nehmen. Sie waren schon in der Urzeit vorhanden, wiewohl die römischen Schriftsteller nicht darüber berichten. Freilich darf man dabei nicht allzu tief ins Mittelalter hineinsteigen. Die Bauernrechte, etwa Weistümer des 14. und 15. Jahrhunderts noch zu verwerten, geht z. B. nicht an. Dagegen darf aus Erzählungen und Heldenliedern mancher Rechtsgedanke in die Anfänge unserer Geschichte zurückverlegt werden. Die Eddalieder und die isländischen Sagas liefern uns köstlichen Stoff. 4. Ein dritter Quellenkreis tritt in neuerer Zeit immer fruchtbarer hervor: die archäologischen Zeugnisse, u n t e r s t ü t z t durch wichtige Funde, u n d d i e S p r a c h f o r s c h u n g . So gewähren z. B. die stets fortschreitenden Ausgrabungen am römischen Limes, dem Grenzwall zwischen Römern und Germanen, einen immer genaueren Einblick in die Siedelung, in das Münz- und Handelswesen, T e h r , Deutsche Rechtsgeschichte.

4. Aufl.

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Völkerwanderung.

in die Taktik und Heerverfassung der Germanen. Einzelne Aufschlüsse bieten auch künstlerische Leistungen, wie die schwedischen Felsbilder. I>ie Ortsnamenforschung hat die wichtigsten Resultate ergeben in bezug auf die Art der Gliederung von Völkern und Geschlechtern, der Landnahme und der Wanderungen. Ein Beispiel: Die alten Siedelungen, die auf ingen enden (wie Ettlingen oderEppingen), deuten vielfach auf römische und vorrömische Niederlassungen hin, Sie beweisen daher, daß dorten'die Germanen in die alten vorgefundenen Siedelungen eingezogen sind. — Namentlich muß auch die indogermanische Sprachwissenschaft immer intensiver die Lücken des alten Rechts ausfüllen. Schon jetzt kann man sich über manches Rätsel freuen, das sie gelöst hat. Soweit wir überhaupt das stolze Wort „Sicherheit" in den Mund nehmen dürfen, hat sie z. B. „mit Sicherheit" festgestellt, daß die Germanen bei ihrem Eintritt in die Geschichte nach Vaterrecht, nicht nach Mutterrecht gelebt haben. § 8. Die Völkerwanderung. Römer und Germanen. 1. Um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. setzt der große Krieg ein, den wir den Markomannenkrieg nennen. Er ging von den Goten aus. Gotische Gaue, geführt von kühnen, leidenschaftlichen Fürsten, gerieten in Bewegung. Sie verließen ihre alte Heimat an der unteren Weichsel und stießen vor gegen das Schwarze Meer. Auch die Burgunden kamen in Unruhe, drangen im Süden ein und vertrieben die Lugier, die ihrerseits den Kampf entfachten gegen die Markomannen und andere Stämme. Eine ungeheuere Kriegs- und Fehdelust muß das ganze Germanien erfaßt haben. Aufs neue erwachte der Wandertrieb, der eben etwas gebändigt zu sein schien. Alle Grenzen wurden durchbrochen. Gleich dem flutenden Bergwasser ergoß sich der Germanenstrom über das erstaunte Europa. Die erschrockenen Römer standen ratlos da. Nur mit ungenügenden Mitteln versehen, vermochten sie den Ansturm nicht aufzuhalten. Der weltgeschichtliche Augenblick war gekommen: Römertum und Germanentum, bis dahin in loser Berührung miteinander, mußten ,zu endgültiger furchtbarer Auseinandersetzung gelangen. Wie ging diese Auseinandersetzung vor sich? Wie hat die ältere, gefestigtere, feinere römische Kultur ihre jüngere, kräftigere, wildere Schwester aufgenommen ? Oder umgekehrt: H a t sich die germanische Kultur vor jeder Romanisierung gewehrt, hat sie ihre römische Schwester rücksichtslos vernichtet ? Bevor ich die Antwort auf diese wichtigste, auch für das Recht so bedeutsame Frage gebe, muß verfassungsgeschichtlich folgendes gesagt werden. 2. Hervorgerufen wurde die Völkerwanderung durch drei Momente, von denen eins bald stärker, bald schwächer gewirkt haben mag. Wie schon bemerkt, war der W a n d e r t r i e b in den Germanen nicht erstorben. Noch steckte Unruhe in allen Köpfen, noch die Sehnsucht nach Veränderung. Ferner: günstige Fortpflanzungsbedingungen hatten die Völkerschaften zahlenmäßig wachsen lassen. M a n g e l a n A c k e r - , W e i d e - u n d W o h n p l ä t z e n w a r e i n g e t r e t e n . Von den Langobarden wissen wir, daß ein Drittel des Volkes wegen fehlender Nahrung ausziehen mußte. Klimatische Veränderungen, z. B. lange Regenperioden, mögen mitgewirkt haben. E i n w e i t e r e r A n s p o r n s t e c k t e i m H e l d e n g e i s t u n d i n d e r B e u t e l u s t . Die Fürsten mit ihren Gefolgschaften

Germanische Stämme.

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waren nicht geboren für Tage der Muße und der Ruhe. Sie riefen fortwährend nach kleineren und größeren Kriegszügen. Der Held drängte nach Waffentaten und der Starke nach Ruhm. Nur bei reicher Beute vermochte ein Fürst auf die Dauer ein Gefolge (comitat) zu halten. Noch aus der späteren Epoche treten uns deutlich organisierte Raubzüge entgegen, wie etwa die Züge der Sachsen nach Nordfrankreich und England. Die Völkerwanderung, entsprungen aus dieser» dreifachen Wurzel, schuf die verfassungsgeschichtlich.bedeutsame Veränderung: a u s d e n lose v e r b u n d e n e n g e r m a n i s c h e n V ö l k e r s c h a f t e n erwachsen die g e r m a n i s c h e n Stämme. Der Krieg gegen einen gemeinsamen Feind verbindet aufs' stärkste alle Volksgenossen. Jeder Krieg hat etwas wahrhaft Schöpferisches. So gehen denn aus den langen Kämpfen der Völkerwanderung vom zweiten bis fünften Jahrhundert die germanischen Stämme als nationale Einheiten hervor. Politische, lechtliche, sprachliche, wirtschaftliche, vielleicht auch religiöse Momente gaben bei deren Bildung den Ausschlag. Gleichartige Mischungsverhältnisse mit den Ureinwohnern und mit anderen Völkerschaften traten hinzu, Wahrscheinlich ist z. B. die Verbindung der vereinzelten alamannischen Gaue zu einem Gesamtvolko in erster Linie auf politische Kräfte zurückzuführen. D r e i z e h n S t ä m m e sind es, dio d e r g r o ß e P r o z e ß schuf und ßieben davon liefern den Stoff für unsere Geschichte: Franken, Sachsen, Alamannen, Thüringer, Bayern, Friesen und Angelsachsen. Letztere, im folgenden nur wenig berührt, sind das Volk, welches sich ums Jahr 450 in Britannien festsetzte und aus ingväonischen Sachsen sowie aus Jüten und Angeln bestand. Neben diesen westgermanischen Stämmen kennt die Geschichte die O s t g e r m a n e n , von denen die Goten und Vandalen, die Burgunden und Langobarden berühmt sind durch ihre weiten, ruhelosen Züge nach Süden. Einzelne Gebilde, wie die Gepiden und Heruler sind in der Völkerwanderung völlig aufgerieben worden. I n d i e G e b i e t e r e c h t s der E l b e s t r ö m t e n S l a v e n ein. Erst die Kolonisierung im Mittelalter hat diese weiter nach Osten zurückgedrängt. D i e V ö l k e r w a n d e r u i j g v e r n i c h t e t e bei d e n m e i s t e n S t ä m m e n d e n F r e i s t a a t . Das Königtum, anfangs den Westgermanen fremd, hob machtvoll sein Haupt empor. Der Krieg verlangte nach kräftiger Spitze. Ein siegreicher Heerführer galt als Liebling der Götter, der auch in Zeiten der Ruhe und des Friedens seine zentrale Gewalt behalten sollte. Man denke an Alarich (gest. 410), an Geiserich (gest. 477) oder an Theodorich den Großen (gest. 526),'alle vom Stamme gewählt und vom Volke auf den Schild gehoben. Das Anwachsen der Massen unterstützte die Bewegung. J e schwieriger es wurde, alle Volksgenossen ah einem Tage, an einem Platze zusammenzurufen, um so mehr Aussichten waren für eine staatliche Spitze in e i n e r Person vorhanden. Kriegsführung und VolksVergrößerung sind die Hauptkräfte, welche bei der Bildung des deutschen Königtums im Spiele waren. — Hätten sich die germanischen Völkerschaften nicht in sich zusammengeschlossen, so wäre, das Römerreich in seinem Bestände nioht so rasch erschüttert worden. Große Feinde rufen große nationale Stimmungen hervor. Ist ein Volk deren nicht mehr fähig, so geht es unter. Die V ö l k e r w a n d e r u n g b r a c h t e s e h r v i e l n e u e s R e c h t . Neue Staatsund Wirtschaftsverhältnisse verlangten nach Neuordnung des Rechts. Die Rechts2*

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Einquartierungssystem.

bildung war gewaltig im Flusse, und nur e i n e r vermochte sie in ihrer ganzen Tragweite zu übersehen: der König. Neben dem langsam sich bildenden Volksreeht tauchte das Königsrecht auf, beweglicher, formfreier, rascher das Neue erfassend. Seit der Völkerwanderung gehen Volksrecht und Königsrecht nebeneinander und durcheinander. Aus dieser Zweiung erklärt sich hauptsächlich die große Kodifiikationsbewegung, welche im fünften Jahrhundert mit dem Westgotenkönig Eurich einsetzte. 3. Seit dem Tage, an dem Kömer und Germanen miteinander in Berührung traten, erfolgte eine starke Beeinflussung beider Völker. Man darf von einer Romanisierung der Germanen, aber ebensogut von einer Germanisierung der Römer sprechen. Germaiiische Kriegsgefangene und Söldner übten z. B. auf die Ausgestaltung römischer Heereseinrichtungen den größten Einfluß aus. Sogar der germanische Keil, cuneus, wird römische Bezeichnung im Heere. Viele Sklaven werden auf italienischen Grundstücken angesiedelt, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß das spätrömische Kolonat auf die deutsche Siedlungsart zurückgeht. Auch das Gefolgswesen färbte ab und warf sein Lic)it auf die Tiuppe der römischen Protektores. Die Römer ihrerseits brachten den Germanen manche Verkehrseinrichtung, vor allem ihren großartigen Straßenbau. Den gewaltigen, gut fundierten Straßen entlang legten sie ihre Türme und Höfe an, die Vorgänger jener berühmten deutschen Königshöfe (villae), ohne welche das merowingische und karolingische Kolonisierungssystem gar nicht denkbar ist. Auch Städte bauten sie, und die neuere Forschung macht es immer wahrscheinlicher, daß manche germanische Siedelung innerhalb einer verlassenen Römerstadt erfolgte. Die Verwüstung aller Städte durch die Germanen wird mehr und mehr in das Reich der Fabel verwiesen. Wie weit andere Arten der Siedelung, z. B. die ganze Hufenverfassung, auf römisches Wesen gegründet werden muß, bedarf noch genauer Untersuchung. Hierin vorschnelle, sichere Urteile fällen zu wollen, ist der Wissenschaft nicht würdig. Als Techniker waren die Römer den Germanen natürlich weit überlegen. Setzt man den Begriff Technik dem Begriff Kultur gleich (was leider allzuoft geschieht), so haben die Römer den Germanen in Staats- und Rechtsleben eine Fülle von Kultur gebracht. Das spätere Verwaltungssystem der Franken steht größtenteils unter römischem Zeichen; ebenso das Urkundenwesen und die fränkische Immunität, wie auch-die Technik, mit welcher Gesetze abgefaßt wurden. Daß die Truppen des ersten großen Frankenkönigs Chlodwig die römischen und deutschen Heere mit den Waffen römischer Kriegskunst schlugen, ist längst bekannt. Wie verfuhren die ins römische Gebiet eindringenden Germanen mit de/ eingesessenen Bevölkerung? Recht ungleich, verschieden je nach der Art der Eroberung und der Gesinnung des siegreichen Stammes. Die meisten befolgten das sog. E i n q u a r t i e r u n g s s y s t e m : Man nahm dem römischen Grundbesitzer nicht Haus und Hof weg, sondern der eindringende Germane begnügte sich mit einem Teil des Landes und einem Teil der Wohnstätte. Eine außerordentlich kluge Maßnahme, welche allein ein friedliches Auskommen zwischen Sieger und Besiegten ermöglichte. Freilich gebärdeten sich nicht alle Stämme so geschickt und menschlich. Die Langobarden z . B . rissen im Laufe derZeit alles Land an sich, schlugen Tausende von Ansiedlern tot und setzten die Überlebenden als zinspflichtige Hintersassen

Börner und Germanen.

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auf ihre Scholle ein. Der Germane wurde zum Herrn, der Römer zum Diener. Da und dort nahm man keine,Realteilung vor, vielmehr blieben Römer und Germanen in gemeinsamem Besitz und wurden zu Besitzgenossen oder consortes. Überblicken wir die Frucht des ungeheuren geistigen und körperlichen Ringens zwischen den beiden großen Völkermassen Europas, so muß sie in einer engen Durchdringung römischer und germanischer Lebenselemente gefunden werden. H e u t e w i r d n i e m a n d m e h r auf d e m B o d e n d e r „ V e r n i c h t u n g s t h e o r i e " s t e h e n . Die Germanen haben in der Völkerwanderung die römische Kultur nicht einfach über den Haufen geworfen. Die Germanen haben die Weltgeschichte nicht um fünf Jahrhunderte zurückgebracht. Die Germanen haben aus den römischen Pflanzungen kein Chaos bereitet, um von neuem, vom Ursprung her, wieder auf. zubauen. Die Völkerwanderung bedeutet nicht jenen brutalen Einschnitt und Eingriff, den die Geschichtsschreibung, vor allem die französische und italienische, so gerne annimmt. Die Germanen sogen vielmehr einen großen Teil der römischen K u l t u r auf u n d v e r a r b e i t e t e n i h n in s e l b s t ä n d i g e r Weise. W a s d i e T e c h n i k in W i r t s c h a f t u n d S t a a t , in V e r k e h r u n d R e c h t B r a u c h b a r e s g e s c h a f f e n h a t t e , d a s h a b e n sie t e i l w e i s e m i t G e s c h i c k ü b e r n o m m e n . Nur wenige Stämme sind auch ihrem Wesen, ihrer inneren Struktur nach, romanisiert worden. I n d e r H a u p t m a s s e b l i e b e n d i e G e r m a n e n sich s e l b s t t r e u u n d r e t t e t e n g e r m a n i s c h e s , n i c h t r ö m i s c h e s W e s e n in d a s M i t t e l a l t e r h i n e i n . Die seit dem sechsten Jahrhundert fließenden Volksrechte reden davon eine deutliche Sprache. Sie sind, wiewohl vom römischen Recht beeinflußt, ihrem Kerne nach durchaus germanisch. Sie bilden einen untrüglichen Beweis dafür, daß ein Stück technischer Kultur von einem Volke aufgesogen werden kann, ohne daß dessen geistiger Grundstock berührt wird. Und die neusten Forschungen über das altspänisehe Recht führen zum gleichen Ergebnis. Das romanisierte Volksrecht der Westgoten, die lex Visigothorum, vermochte das bodenständige germanische Obligationenrecht im Norden von Spanien und Portugal nicht zu verdrängen. Wie immer man sich zu diesen Rezeptionsfragen stellen mag, soviel bleibt gesidhert: die Germanen vermochten an Stelle der antiken Stadtstaaten einen neuen, aus völkischer Grundlage geborenen Landstaat zu schaffen und diesen Landstaat seinem Wesen nach mit eigenen, fruchtbaren Lebenskräften zu erfüllen. II. A b s c h n i t t .

fränkische § 9. Die Gründung des fränkischen Reiches. 1. Der Merowinger Chlodwig, einer der verwegensten und unerschütterlichsten Gestalten deutscher Geschichte, besiegte im Jahre 486 den letzten römischen Statthalter Syagrius auf den blutgetränkten Feldern von Soissons. Das war die

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Chlodwig.

entscheidende Tat. Jetzt vermochten die Pläne des rücksichtslosen Fürsten ihre Verwirklichung zu finden. Er versprengte die kleinen Gaukönige, errichtete eine machtvolle Herrschaft im nördlichen Gallien und dehnte sein Reich aus bis zur Loire. Sein Geist, sein Heer und sein Besitz verliehen ihm die Gewalt, seine Waffen zu kehren gegen die Völker eigener Rasse. Tn erfolgreichen, verhältnismäßig kurzen Kriegen bezwang er eine Reihe umliegender deutscher Stämme, die Thüringer, die Alamannen, die Burgunden und die Westgoten. Es war ein großer Augenblick, als die stammverwandten, ribuarischen Franken sich freiwillig durch Volksbeschluß dem Reiche des Siegers angliederten. Unter Chlodwigs Nachfolgern wurden Burgund und Südfrankreich dem jungen merowingischen Staate einverleibt, die Herrschaft in Alamannien und Thüringen immer fester gestaltet und Bayern nach wechselvollen Feldzügen erkämpft. Manche Unternehmung hatte zunächst nicht vollen Erfolg. Aber der endgültige Sieg verblieb dem Staäime der salischen Franken. Ein Reich war geschaffen, kraftvoll genug, sich im Laufe der Jahrhunderte zu einem europäischen Staate auszudehnen. 2. Wichtig für die Verfassungsgeschichte ist nicht die Frage, weshalb besiegten Chlodwig und seine Söhne Gallier und Germanen ? Zweifellos hat hier die römische Kriegsschule mitgewirkt. Wichtig ist vielmehr zu wissen: Was gab dem jungen fränkischen Staat die Kraft, die Taten mit der Waffe auszunützen und eine Monarchie ins Leben zu rufen, wie sie das Merowingerreich darstellte? Denn Kolonisieren ist schwieriger als Erobern! Hier sind zwei Momente ausschlaggebend gewesen: ein politisches und ein wirtschaftliches. Kluge politische Einsicht führte den Eroberer dazu, die romanische Bevölkerung in ihren Sitzen zu belassen und die Römer als gleichberechtigte Untertanen anzuerkennen. Auch die Völker der unterworfenen Germanenstämme ließ Chlodwig in alter Weise ihre Scholle bewirtschaften. So entstand imMerowingerreich nicht der unheilvolle Gegensatz von Siegern und Besiegten, von Herren und widerwilligen Hörigen. Die Politik war von Anfang an auf Ausgleich und gegenseitige Unterstützung berechpet. — Ebenso klug war der Schritt, den Chlodwig nach der Alamannenschlacht unternahm. Er trat zum katholischen Christentum über und lehnte sich damit an den Glauben der Romanen an. Er brachte den geschulten, einflußreichen römischen Klerus auf seine Seite und ließ ihn am politischen Leben teilnehmen. Etwa hundert Jahre später,'^uf dem großen Reichstage zu Paris, finden wir nicht weniger als 73 Bischöfe versammelt. Die Kriege gegen die arianischen Germanenstämme, wie gegen Burgunden und Westgoten, wurden leidenschaftlicher und durchgreifender geführt, waren sie doch zugleich Religionskriege, welche katholische Christen für ihren Glauben durchfochten. Aber auch hierin galt Toleranz: es war kein Verbrechen, beim Arianismus zu bleiben. Die Verfolgung der Arianer als Ketzer tritt viel später, erst im 10. und 11. Jahrhundert hervor. Chlodwigs wirtschaftliche Einsicht war ebenso groß wie seine politische. Der König riß das gewaltige römische Fiskalgut an sich und wurde damit zum größten Eigentümer des Reiches. Einen Teil der Güter behielt er in eigener Hand und ließ sie durch seine Diener bewirtschaften. Einen anderen Teil gab er a n verdienstvolle Große aus. Und dabei erfand er ein System, das von besonderer Tragweite wurde:

Treueid.

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Die Landschenkungen der merowingischen Könige verschafften dem Beschenkten kein volles Eigentum. Sie fielen bei Mangel männlicher Nachkommen an den Fürsten zurück und durften außerhalb der Familie nur veräußert werden, wenn der König seine Zustimmung gab. Ein persönliches Treuband knüpfte die Beschenkten an den König. Dienste bildeten das Entgelt. Mit diesem System war erreicht, daß die Güter aufs engste an königstreue Familien gebunden blieben und daß dem König eine Oberhoheit gewahrt wurde, die sich für ihn wirtschaftlich wie politisch gleich wertvoll erwies. Zugleich setzte eine emsige Kolonisationstätigkeit an allen Ecken ein. Militärisch wichtige Punkte wurden befestigt. An den gut erhaltenen Römerstraßen erstanden Gutshöfe, die als Burgen und Zufluchtsorte, sowie als Fronhöfe und Sammelplätze für landwirtschaftliche Erträgnisse dienten. Von diesen villae aus wurde die ganze Gutsverwaltung betrieben. Alte römische Einrichtungen machte man nutzbar. Mancher ummauerte Stützpunkt fand neue Verwertung. So ist auch wahrscheinlich, daß die römischen Wasserwerke, z. B. am Neckar, in wohltätigen Gebrauch genommen wurden. Grenzen wurden gezogSn und genau festgelegt. Nachmals haben die Karolinger dieses System der sog. Markensetzung besonders fein ausgebaut. 3. D e r S t a a t der s a l i s c h e n F r a n k e n ist als M i l i t ä r s t a a t e n t s t a n d e n , als ein Staat, in welchem der Gehorsam gegenüber dem siegreichen Heerkönig durchaus im Vordergrund stand. Aber diese Staatsform ist bereits von den Söhnen Chlodwigs verlassen worden. Zum Gehorsam trat die Treue. Seit den ersten Dezennien des 6. Jahrhunderts können wir einen Untertaneneid als ständige Einrichtung wahrnehmen. Das Volk schwört seinem Fürsten „fidelitas und leudesamio" zu, Treue und Mannschaft. Zwar Jeistete der König seinerseits keinen Eid. Aber t r o t z d e m muß d a s V e r h ä l t n i s v o n K ö n i g u n d Volk als eine V e r b i n d u n g g e g e n s e i t i g e r T r e u e a u f g e f a ß t w e r d e n . Wesentlich für das Rechtsverhältnis war fortan: Wer das sacramentum fidelitatis, den Treueid, brach, der wurde nicht nach Volksrecht gerichtet, sondern secundum nostram (des Königs) voluntatem et potestatem (Capitulare von 818 bis 819). Für den Treubruch bildete sich also neues Recht, Königsrecht, aus. Der Untertanenverband als Treuverband war aus der königlichen, nicht aus der völkischen Initiative hervorgegangen, war gegründet auf Königsrecht, nicht auf Volksrecht. Dieser Treueid hat nicht nur einen persönlich engen Zusammenhang zwischen Volksgenossen und Eürsten geschaffen, er hat auch den staatlichere Gedanken im Sinne des Gemeininteresses gestärkt: Persönliche Bindungen, Einigungen im Sonderinteresse, die dem Untertaneneid widersprachen, waren rechtlich ungültig. Der Eid stellte das Gesamtwohl über das Einzelwohl, und es ist daher begreiflich, daß später die Karolinger mit ganz besonderer Energie für die Durchführung der. Vereidigung Sorge trugen. 4. Aber das fränkische Reich unterlag einer gefährlichen Teilungsart: Soviel Söhne, soviel Teilreiche. Das Wahlrecht des Volkes hatte aufgehört. Sogar Uneheliche sehen wir auf den Thron steigen. Notwendig zur Nachfolge war nur das männliche Fürstenblut. Dennoch lag die Hauptgefahr für den Verfall des jungen Staates nicht in diesem Teilungssystem. Aus dem Inneren heraus kam der Widerstand. Der in den Kriegen üppig und gewalttätig gewordene Adel störte eine ruhige, zentrale Rechtsentwicklung, ebenso die Bischöfe und die Führer der ein-

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Grund und Boden.

zelnen Stämme, die Stammesherzöge, die gleich Kleinkönigen regierten. Der fränkische König wehrte sich gegen die Eingriffe und antwortete mit Beschlagnahme großer Gütermassen. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts hatte sich die Lage so zugespitzt, daß nur noch ein Vergleich helfen konnte. Aus dem Jahre 614 ist eine Vergleichsakte erhalten. Man kann sie eine Magna Charta Libertatum für Bischöfe und Adel nennen. Das Königtum hatte nicht mehr die Kraft zu befehlen und zu bestrafen. Durch beiderseitiges Nachgeben suchte man einen neuen leidlichen Verfassungszustand zu schaffen, der die Grundlage für das ganze siebente Jahrhundert bildete. D i e l e t z t e P e r i o d e m e r o w i n g i s c h e r H e r r s c h a f t r u h t e auf e i n e m K o m p r o m i ß z w i s c h e n Adel u n d G e i s t l i c h k e i t m i t dem K ö n i g . Nicht durch Verfassungsstreitigkeiten, sondern aus eigener Zermürbtheit und Untüchtigkeit ging schließlich die merowingische Dynastie zugrunde. Sie hatte sich selbst überlebt. Das Reich war kräftiger als sein Führer, und dies war des Führers Tod. § 10. Landverteihmg und Wirtschaftssystem. 1. Der Reichtum des deutschen Volkes lag auch in der fränkischen Epoche ausschließlich in Grundbesitz und Viehbestand. Um das Landgut mit seinem Zubehör gruppierte sich in Friedenszeiten das Hauptinteresse des volklichen Lebens. Daher ist auch das Recht dieser Zeitspanne überwiegend Landrecht, eine Ordnung, die den Grundherrn wie den Bauern, den Mann im Einzelhof-wie in den Dörfern schützen und fördern will. Grund und Boden sind aufs engste mit der Familie verkettet. Aller Besitz ist Familienbesitz. Er gehört der Familie und vererbt sich in der Familie. Schaffung und Fortpflanzung tüchtiger Geschlechter ist ein Hauptziel des Daseins. Und was wäre geeigneter, eine sichere Gewähr zu bieten für blühende Magschaft als Grundbesitz! Ja, das Interesse am Land hatte sich wesentlich vermehrt, seit die Völker endgültig seßhaft geworden waren. Denn mit der Seßhaftigkeit und der immer zunehmenden Rodimgstätigkeit hatte die einzelne Familie Eigentum an ihrem Grund erworben. „Das Eigentum ist der Lohn der Arbeit." Aus d e m G e s a m t e i g e n t u m d e s E r o b e r e r s ging G e s c h l e c h t s e i g e n t u m des B e b a u e r s h e r v o r . Im Laufe des fünften Jahrhunderts war diese Wandlung größtenteils vollzogen. Nur an der Alm ende, die Weide und Wald, Steinbrüche und Bäche einschloß, erhielt sich das Gesamteigentum der bäuerlichen Genossenschaft fort und fort. 2. Wirtschaft im Einzelhof und Wirtschaft im Dorfe gingen noch immer nebeneinander her. Der Bauer bearbeitete mit seiner Familie, der reichere unter Zuzug von Knechten, seine Scholle, und im großen ganzen war das bäuerliche Gut dem Stand einer Normalfamilie angepaßt. Bei normaler Arbeit ernährte der Boden seine Leute. D a s W i r t s c h a f t s s y s t e m b l i e b g e o r d n e t n a c h d e m S y s t e m der B e d a r f s d e c k u n g u n d der S e l b s t ä n d i g k e i t . Der Bauer arbeitete nicht, um zu erwerben und sein Vermögen zu vermehren. Die gesamte Wirtschaft war darauf angelegt, dem Menschen einen auskömmlichen Lebensunterhalt zu verschaffen. Dazu trat der Wille zu möglichst großer Selbständigkeit in der Produktion. Der Bauer versuchte nicht nur alles, was er an Früchten brauchte, selbst

Grundherrschaft.

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zu erzeugen, er buk auch sein Brot, verfertigte sich Kleider und schaffte sich Werkzeuge. Die geringen Verbindungswege, die Gefahr des Reisens und Transportierens und der Mangel an Geld nötigten ihn dazu. So erscheint nicht nur jedes Dorf für sich, sondern im Dorfe jede Haushaltung als eine kleine Wirtschaftseinheit. Der verschlossene, in sich gekehrte Sinn des Bauern hangt mit diesem «Wirtschaftssystem aufs engste zusammen. Für größere Anlagen sorgte die Dorfgemeinde selbst, so für die Schmiede, für die Mühle. Und auch kostbare Tiere wurden von Gemeinde wegen gehalten, wie der Zuchtstier, der Hengst, der Eber. Die bäuerlichen Äcker lagen im Gemenge. Im Sommerfeld, im Winterfeld und in der Brache hatte jedes Haus sein Stück Land zu Eigentum. An der Almende bestanden nur Nutzungsrechte für die einzelnen. Dort konnte, wie früher, Holz geschlagen werden. Dort wurde das Vieh geweidet und der Wasserlauf benützt. Für den mitteldeutschen Raum ist soeben nachgewiesen worden, daß auch Einzelhaushaltungen ganze Wälder und freies Rodungsland besaßen. Zur Regelung gemeinsamer wirtschaftlicher Fragen traten die Dörfler in einer Gemeinde zusammen, einer reinen Wirtschaftsgenossenschaft, die keinen Anspruch auf politische Rechte erhob. Sie regelte namentlich den Flurzwang, eine Ordnung, welche das Verhältnis von Privatgut und Gemeingut, sowie das gegenseitige Verhältnis der Privatgüter unter sich ins Auge faßte. Denn bei Äckern in Gemengelage war der Nachbar enge auf den Nachbarn angewiesen, auch wenn inzwischen mehr Wege angelegt worden waren. Neue Forschungen haben gezeigt, daß in dieser wirtschaftlichen Dorf- und Markgenossenschaft schon in fränkischer Zeit nicht jene Gleichheit bestand, die man erwarten sollte. Der Adlige, der nobilis, welcher im Dorfe mit Grund und Boden angesessen war, erscheint schon frühe mit Vorrechten ausgestattet. Er wußte sich in der gemeinen Mark eine Besserstellung zu verschaffen und zugleich eine gewisse Freiheit vom Flurzwang zu erringen. Wahrscheinlich erhielt er auch größere Rechte im Grundstücksverkehr. Seine Güter, wiewohl zwischen den anderen bäuerlichen Gütern gelegen, erlangten daher leicht eine höhere wirtschaftliche Kraft. D a s R e c h t h a t t e s e i n e r e i n ' d e m o k r a t i s c h e G r u n d l a g e v e r l a s s e n . Der Adel hatte nicht nur größeren Grundbesitz (wie in germanischer Zeit); er war auch im Recht privilegiert. 3. Schon in der germanischen Agrarverfassung stießen wir auf d i e e r s t e n A n f ä n g e d e r G r u n d h e r r s c h a f t (§ 1). J e t z t t r e t e n wir in die k l a s s i s c h e P e r i o d e dieser W i r t s c h a f t s f o r m ein. Die Grundherrschaft der fränkischen Zeit ist eine n o t w e n d i g e Erscheinungsform, besonders was den Prozeß der GüteiVerteilung und des Güterverkehrs anbelangt. Kein Wunder, wenn sie in ganz Europa ziemlich gleichmäßig auftritt. Vorbild war das gallo-römische System. Die Grundherrschaft umfaßte bald große, zusammenhängende Gütermassen, bald war die Gemengelage für sie maßgebend. Es gab Grundherrschaften, die in mehrere Stammgebiete hineinreichten. Die auf den Höfen angesiedelten Leute schafften, wie in der Urzeit, für ihren Grundherrn und zugleich für sich selbst. Auch in der Qfundherrschaft gilt im Kerne das Bedarfsdeckungsprinzip. Wenn wir von riesigen, auf den Fronhöfen'angesammelten Vorräten hören, so ist stets zu bedenken, daß auch die Zahl der Konsumenten eine beträchtliche sein konnte. Der König versorgte seinen Hof, die großen Adligen ihr Gefolge, die Kirchen ihre Geistlichkeit, die Klöster ihre Brüder. Vom Kloster Corbei wissen wir, daß 300

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Grundherrscliaf t.

bis 400 Köpfe auf Nahrung warteten. Die täglich zu backenden Brote beliefen sich auf 450; die jährlich verzehrten Schweine auf 600; 15 Mühlen arbeiteten in dem Riesenbetrieb. Auch die Grundherrschaft schuf sich keinen Markt. G e r a d e w e i l die M ä r k t e so wenig e n t w i c k e l t w a r e n , wurde die G r u n d h e r r s c h a f t zur N o t w e n d i g k e i t . Man war nicht auf Kauf, man war auf eigene Produktion, auf eigene Zufuhr angewiesen. Der Wille zur selbständigen Versorgung trat hier noch stärker hervor als beim Bauernhofe. Daher ist das Bestreben der Grundherren verständlich, nicht nur landwirtschaftliche Arbeiter, sondern vor allem auch gewerbliche Kräfte auf ihre Güter zu ziehen: Müller, Schmiede, Weber, Schneider, Schuhmacher, auch Fischer und Jäger. Es muß ein Bild eigenartiger und großartiger Kraftentwicklung gewesen sein. Der Einrichtung nach wiesen die einzelnen Grundherrschaften die verschiedenartigsten Formen auf. Eine große königliche Grundherrschaft zoigte ein anderes Bild als die eines kleinen geistlichen Stifts. Aber als Normalform läßt sich bezeichnen: Im Mittelpunkt lag das H e r r e n l a n d , die terra salica. Im festen burgartigen Hause saß der Herr selbst oder sein Verwalter, der villicus. Mit eigenen Arbeitern und mit den Kräften der angesiedelten Leute bestellte er die Wirtschaft in diesem Eigenbetrieb. Den zweiten Komplex bildete das ausgegebene L a n d , die Grundstücke, die in der Form der Erbleihe oder der Zeitleihe, des benefieiums oder precariums an Hintersassen übertragen wurden. Diese Grundholden entrichteten Zinse, meist Naturalzinse, oder sie dienten dem Grundherren in der Weise, daß sie gemessene oder ungemessene Dienste auf dem Herrenland zu leisten hatten, vor allem in Zeiten der Aussaat und der Ernte. Das von einem Hintersassen bebaute Land hieß Hufe (hoba), ein Wort, das ursprünglich nichts anderes bedeutete als „abgegrenztes Land". Häufig war die Wohnstätte in dieser hoba inbegriffen. Bewußt scheinen die Grundherren auf diese Ordnungsform hingearbeitet zu haben. Drittens besaß mancher Grundherr noch Schutzland, d. h. Gebiete, über welche er eine Schutzherrschaft ausübte und für diesen Schutz Abgaben vom Kopfe der Schutzleute erhob. Ein solcher Riesenorganismus konnte nur gedeihen unter einem starken Rechte. Das g r u n d h e r r l i c h e R e c h t , das H o f r e c h t , i s t eine der i n t e r essantesten Erscheinungen des M i t t e l a l t e r s . . Bei allen Verschiedenheiten, die es aufweist, bekundet es doch übereinstimmend einen äußerst feinen Sinn für Abstufungen dinglicher und persönlicher Art. Wenn auch in überwiegender Zahl nichtfreie Arbeitskräfte dem Grundherrn zur Verfügung standen, so ist doch an dem Satze festzuhalten: D i e G r u n d h e r r s c h a f t als solche berührte den Stand des Menschen nicht. Freie, Unfreie und Halsfreie konnten auf den Gütern angesiedelt sein, ohne eine Veränderung ihrer Standesrechte erdulden zu müssen. Da es dem Grundherrn in erster Linie auf reichen Gutsertrag und tüchtige Dienstleistungen ankam, so gab das grundherrliche Recht hauptsächlich Bestimmungen in wirtschaftlicher Hinsicht, etwa, zu welchen- Zeiten der Mann auf dem Fronhof zu dienen, wieviel Getreide, wieviel Wachs, wieviel Hühner, wieviel Schuhe oder welchen Geldbetrag er jährlich zu liefern hatte. Ja, mehr und mehr beobachten wir, daß diese Leistungen sich niederschlugen auf Grund und Boden, so daß eigentlich die Last auf dem Gute, nicht mehr auf der Person ruhte. Dieser Verdinglichungsvorgang ist kennzeichnend für die gesamte-deutsche Rechts-

Hofrecht.

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entwicklung, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern im gesamten staatlichen Bereiche. Über die Ausdehnung der Grundherrschaft sowie über deren allmählichen Niedergang im neunten Jahrhundert ist nun folgendes zu sagen: I n der Merowingerzeit und zu Beginn der Karolingerepoche nimmt die Grund, herrschaft dauernd zu auf Kosten der Bauerngüter. Die größten Komplexe fanden sich in der Hand des Königs und der Kirche. Zahlreiche Einzelgüter, ja ganze Dörfer geraten in grundherrliche Abhängigkeit. Der Bauer wird zum Hintersassen, der Herr zum Eigentümer und an der gemeinen Mark häufig zum Obermärker. Vor allem die Kriege, die den Bauern wirtschaftlich schwer drückten, aber auch ein rohes Ausbeutungssystem von Seiten geistlicher und weltlicher Beamter, führten zu grundherrlicher Abhängigkeit. Vielfach mag auch frommer Sinn und Angst vor dem Tode den einfachen Mann getrieben haben, sein Gut einer geistlichen Grundherrschaft aufzutragen. Aber niemals hat die Grundherrschaft allen Boden aufgesogen. A u c h in Z e i t e n i h r e r h ö c h s t e n B l ü t e g a b es w i r t s c h a f t l i c h f r e i e B a u e r n h ö f e . Die Lage des fränkischen Bauernstandes war im allgemeinen nicht schlecht. Man darf sich den Bauern als grundherrlichen Hintersassen durchaus nicht in schwerem, gedrücktem Dasein vorstellen. Sein wirtschaftliches Auskommen. war gesichert und die Eingliederung in einen großen technischen Betrieb bot ihm manchen Vorteil, dessen sich der Bauer mit Eigengut nicht rühmen konnte. Traurig war einzig das Los der tiefsten bäuerlichen Klasse, der eigentlichen Arbeitsknechte, der Unfreien, welche Mancipien (maneipia) hießen. Noch zur Zeit des großen K a r l mußte den Herren eingeschärft werden, man dürfe sie nicht Hungers sterben lassen. E s ist leicht verständlich, d a ß d i e G r u n d h e r r e n b e i d e m s c h w e r z u leitenden Mechanismus der Grundherrschaft nach hoheitlichen Recht e n v e r l a n g t e n . Eine solche gewaltige Anlage konnte nur blühen, wenn ihnen gewisse obrigkeitliche Rechte zukamen. Man denke nur an die vielen Streitigkeiten im Dienst- und Abgabewesen. Sollte da der Herr jedesmal gezwungen sein, das staatliche Gericht anzurufen ? Unmöglich wäre dies in der Praxis gegangen. Oder man denke an die vielen grundherrlichen Unfreien, die anfangs überhaupt keinen Anspruch auf richterliche Aburteilung besaßen. Der an sich rechtlose Sklave konnte vom Herrn gebüßt und gezüchtigt, ja nach Belieben verkauft und getötet werden. Daher e r h i e l t d i e G r u n d h e r r s c h a f t , w a h r s c h e i n l i c h u n t e r r ö m i s c h e m E i n f l u ß , s c h o n i n m e r o w i n g i s c h e r Z e i t G e r i c h t s b a r k e i t . Die Entwicklung war derart, daß zunächst die Unfreien einem Rechte unterworfen und damit der Willkür des Herrn entzogen wurden. Andererseits wurden die Freien und Halbfreien f ü r wirtschaftliche Angelegenheiten dem grundherrlichen Gericht unterstellt, so daß für diese Dinge die Kompetenz des staatlichen Richters ausschied. Den großen Schritt aber zu bedeutsamer staatlicher Gewalt hat die Grundherrschaft nicht von sich aus getan. Erst als sie sich mit einer kraftvollen anderen Macht paarte, wurde ihr staatlicher Aufstieg gesichert. Diese Macht war die Immunität. Grundherrschaft und Immunität zusammen bedrohten eine Zeitlang den staatlichen Organismus, bis Karl der Große ordnend eingriff (§ 13, 4). Im neunten Jahrhundert beginnt bereits eine Lockerung unseres Gebildes. Jener oben berührte Verdinglichungsprozeß tryg eine Hauptschuld daran. Dienste und Abgaben wurden mehr und mehr als Lasten, die unmittelbar am Boden klebten,

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König und Volk.

angesehen (Reallasten), so daß die Person immer stärker zurücktrat und die Grund herrschaft mancherorts zu einer Rentenwirtschaft herabsank. Sogar die Eigenwirtschaft des Grundherrn hörte da und dort auf. Man gab auch die terra salica an Bauern aus. Die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit der Bauern nahm zu. § 11. Der Staat. Königtum und Kaisertum. 1. Der fränkische Staat war in seinem Hauptbestand eine Zusammenfassung von Stammesgebieten unter einem starken Königtum. Er stellte keinen Bund dar. Er hatte vielmehr die Form eines Einheitsstaates, in welche sich die Stämme bald friedlich, bald gezwungen einfügten. Ein tragischer Zweispalt ging von Anfang an durch dieses Gebilde: das Bedürfnis nach staatlicher und volklicher Selbstentfaltung im Stamme und zugleich das Bestreben nach Festigung einer zentralen Staategewalt. Denn das sei gleich betont: nach außen hin, den Feinden gegenüber, hätten sich die Stämme ohne eine feste Zentralgewalt nicht zu behaupten vermocht. So b e s t e h t im f r ä n k i s c h e n R e i c h der t i e f g r e i f e n d e G e g e n s a t z v o n R e i c h s r e c h t und S t a m m e s r e c h t , von R e i c h s b e a m t e n und Stammes. b e a m t e n , v o n R e i c h s i n t e r e s s e n u n d S t a m m e s i n t e r e s s e n . Die stärksten Mächte zusammenhaltender Natur waren der König und die Kirche. Beide arbeiteten mit Geschick und Energie auf den Bestand des Gesamtreiches, bisweilen freilich sich befehdend, viel häufiger aber einander helfend. Ganz begreiflich ist es daher, daß die fränkischen Könige den Ehrgeiz der Kirche nach weltlicher Machtentfaltung unterstützten und den Bischöfen und Äbten eine hervorragende Rolle im Staatsleben einräumten. 2. A b e r n o c h ein z w e i t e r G e g e n s a t z t a t sich im R e i c h e a u f , der G e g e n s a t z v o n K ö n i g u n d Volk. Es bedurfte der inneren Kämpfe von Jahrhunderten, um die alte Volksgewalt, auf welcher der germanische Staat aufgebaut gewesen, zurückzudrängen. Nur langsam befestigte sich neben und über dem Volke ein Königtum zu eigenem Recht, eine monarchische Gewalt, welche ihre Legitimation nicht mehr vom Volke, sondern aus sich selbst, nach damaliger Auffassung von Gott ableitete. König und Volk stehen sich seit den Zeiten der Merowinger als gleichwertige Mächte gegenüber. Trefflich drückt diesen Zustand die Formel aus: lex consensu populi et constitutione regis fit. Zuweilen werden die Gesetze als pactus bezeichnet. Aber man ist in jeder Geschichtsepoche weit davon entfernt, einen Herrschaftsvertrag anzunehmen, der zwischen Volk und Herrscher geschlossen worden wäre. Jede Macht, das genossenschaftliche Element im Volke wie das herrschaftliche Element im König, war auf sich selbst gestellt. Sie fanden sich zusammen in der höheren Ordnung der Dinge, im Rechte, und in dem das Ganze umspannenden Interesse, im Staatsinteresse. W i e das' V o l k , so w a r auch der K ö n i g an d i e R e c h t s o r d n u n g g e b u n d e n . Wederdas merowingische noch das karolingische Königtum waren absolute Monarchien, in denen der Herrscher über dem Gesetze gestanden hätte. Die Geschichte scheint allerdings zuweilen das Gegenteil zu beweisen. So gesteht z. B. der König in einem Kapitulare von 818/819 zu, daß die Bischöfe fortan gewählt werden dürfen. Trotzdem fährt der Monarch ruhig fort, die Geistlichen auf ihre Stühle einzusetzen. Solche Handlungen waren dann nicht dem Rechte gemäß. Solche Handlungen bedeuteten einen

Kaisertum.

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Rechts- oder Verfassungsbruch und dürfen zum Beweis einer absoluten Herrschergewalt nicht verwendet werden. Der Dualismus von Volk und Fürst ist nicht mehr aus dem Staate gewichen. Er hat das fränkische und das Deutsche Reich überdauert und seine endgültige Auflösung erst in der Revolution vom Jahre 1918 erhalten. Aus diesem Gegensatz gingen hervor Volksrecht und Königsrecht, Volksbeamte und Königsbeamte, Volksfriede und Königsfriede, Volksrichter und Königsrichter, Volksland und Königsland. Das fränkisohe Königtum hat eine ungeheure Kraft entwickelt. Es vermochte Europa in langen Jahren zusammenzuhalten und immer wieder mit neuen, staatskraftigen Ideen zu erfüllen. Seit Karl dem Großen verfiel es in den Fehler allzu starker Zentralisation, ohne daneben eine ebenso bedeutsame Staatsverwaltung heranzubilden. In höchster Anspannung befiehlt der große Herrscher, daß alle wichtigen Fäden von seinem Hofe ausgehen sollten. Man begreift die Erzählung Einhards, der Kaiser habe sich sogar während des Ankleidens vom Pfalzgrafen Vortrag über Streitsachen halten lassen. Das Genie überspannte sich selbst, weil es alle Dinge auf die Urkraft seiner eigenen Person aufbaute. Daher ging das frankische Reich seit dem Tode Karls einer langsamen Auflösung entgegen. 3. Am Weihnachtsfest des Jahres 800 nahm der Frankenkönig die römische Kaiserkrone. Das Königtum blieb trotzdem in seinen Grundlagen deutsch. Es ist durch das Kaisertum nur theokratischer gefärbt worden. Kirchliche und staatliche Regierung gingen inniger zusammen. Nach außen hin trat aber eine große Verschiebung ein. Ich denke nicht so sehr daran, daß der Kaiser nun auch Herrscher über das regnum Langobardorum wurde. Nein, das wesentlich Neue lag in dem Gedanken der Einheit der Welt. D i e C h r i s t e n h e i t g a l t a l s die g r o ß e E i n h e i t , d i e zu s c h ü t z e n , die zu f ö r d e r n h ö c h s t e A u f g a b e d e s K a i s e r s war. Das Königtum hätte ein so ungeheures Ziel nicht fassen können. Das Kaisertum allein durfte sich ebenbürtig an die Seite des Papsttums stellen, um neben dem kirchlichen Herrn als Herr der weltlichen Welt zu thronen. Diese imperialistischen Gedanken wohnten allein dem Kaisertum inne. Papst und Kaiser, Kaiser und Papst fanden sich zusammen in der großen, über ihnen aufsteigenden Einheit, in der Christenheit. Konflikte zwischen Kirche und Staat mußten fortan von dem Gesichtspunkte ausgelöst werden, das Wohl der Christenheit zu fördern. Aber wie es geht mit den Ideen. J e größer sie sind, um so schwerer ist ihre Verwirklichung in Hieser Welt. So auch hier. Papst und Kaiser, wiewohl nun eng verbunden durch religiöse und rechtliche Ziele, faßten Aufgabe und Durchführung verschieden auf. Beide fühlten sich im Streitfall auf dem Boden des Rechts. Beide griffen daher mit doppeltem Eifer zu der Waffe des Rechts oder der Gewalt. Seit 800 hatte die christliche Welt zwei Köpfe, die auf verschiedenen Körpern ruhten und das Erträumte, eins zu sein, in Ewigkeit nicht erreichen konnten. 4. I m U n t e r t a n e n v e r b a n d e g i n g im L a u f e der f r ä n k i s c h e n P e r i o d e e i n e V e r ä n d e r u n g v o r sich. Zunächst wurde er, wie in germanischer Zeit, gebildet duroh die freien Männer, welche zu Gerichts- und Heeresdienst verpflichtet waren und welche dem König den Treueid geschworen hatten. Aber im 8. Jahrhundert traten auch -Unfreie und Halbfreie in die Untertanenschaft ein. Die Un-

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Untertanenverband.

freien, bis zum niedersten mancipium, hatten allmählich ihre Sachstellung abgestreift und waren zu Personen minderen Rechts geworden. Durch den König als. Hort des Friedens und vor allem durch das Christentum als Religion des Friedens gestaltete sieh die Rechtsordnung immer intensiver um in eine Friedensordnung. Oberstes Ziel des Rechtes und damit des Staates wurde die Bewahrung und Stärkung eines allgemeinen Friedens, der auf dem ganzen Lande ruhte. Diese Friedensordnung ergriff auch die Elemente, die bis dahin dem Untertanenverbande nicht angehört hatten: die Unfreien und Halbfreien. Alle MenBchen im f r ä n k i s c h e n R e i c h e o h n e A u s n a h m e b i l d e t e n e i n e n F r i e d e n s v o r b a n d , eine Gemeinschaft, in der „jeder dem Nächsten den Frieden zu bewahren hatte" (pacem proximo unusquisque servare debet, Kapitulare von 853). Der Verband erzeugte für jedermann die Pflicht, Friedensbrüche zu unterlassen und bei gebrochenem Frieden an dessen Wiederherstellung mitzuhelfen. Daher finden sich in den fränkischen Gesetzen zahlreiche Bestimmungen, welche für alle die Pflicht enthielten, Diebe, Räuber und andere Missetäter zu verfolgen und an deren Gefangennahme sich zu beteiligen. Das war die Pflicht der Gerichtsfolge, deren Verletzung für jeden eine Buße nach sich zog. D i e s e r S i c h e r h e i t s d i e n s t , d i e s e r P o l i z e i d i e n s t s t e l l t e die U n t e r t a n e n p f l i c h t des w e i t e r e n U n t e r t a n e n v e r b a n d e s d a r . Sie war wichtig genug! Der e n g e r e U n t e r t a n e n v e r b a n d b e s t a n d n a c h wie v o r n u r a u s F r e i e n . Nur die Freien galten als würdig, -die politischen Rechte und Pflichten auf sich zu nehmen, das Land in seinem Bestände zu verteidigen und Recht zu sprechen. Nur sie leisteten den Untertaneneid. Nur sie hatten ein Vaterland, eine patria, wie die Quellen sagen. Nur sie bildeten das eigentliche Staatsvolk. Aber die Brücke zu den unfreien Elementen hinüber war geschlagen, eine Brücke, auf der das spätere Mittelalter kraftvoll und energisch vorwärts schritt. § 12. Königsbeamte und Volksbeamte. 1. Das Königtum, das aus dem Volke herausgewachsen war, mußte sich notwendig mit eigenen Beamten umgeben. Ein König zu eigenem Rechte kann auf die Dauer nicht mit Volksbeamten regieren. Der König brauchte Königs, beamte, Diener, welche ihre Gewalt vom Könige ableiteten und im Namen des Königs verwalteten. Das Ziel war gegeben: Der fränkische König, wollte er wirklich König sein, hatte eine der vornehmsten, aber schwierigsten Aufgaben zu lösen, die Verdrängung der Volksbeamten-. Das Ziel ist teilweise erreicht worden. Ohne einen Stab von Königsbeamten hätte daa fränkische Reich nicht fünf Jahrhunderte zusammengehalten. Aber, so wird sich im folgenden zeigen, die fränkische Beamtenschaft war nicht hingebend genug, ihre Staatsaufgaben in uneigennütziger Weise zu erfüllen. Das kam daher, daß die großen Beamten des Reiches zugleich eine politische Stellung einnahmen und daß die losen Verhältnisse Raum genug boten, diese Stellung zum eigenen Vorteil auszunutzen. Im fränkischen Beamtentum ist das Streben enthalten, sich mit eigener Gewalt zu umgeben und sich sowohl von der Königsgewalt, wie von der Volksgewalt möglichst unabhängig emporzuschwingen. Der Wille nach eigener Fürstengewalt tritt deutlich zutage. Diese Bestrebungen sind bis in das 9. Jahrhundert hinein immer wieder zugunsten des Königtums

Kichtertuni.

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unterdrückt worden. Im 9. Jahrhundert flammen sie mächtig empor und gipfeln in dem Erblichwerden der Ämter. Im 9. Jahrhundert ist das wichtigste Amt, das Grafenamt, erblich geworden. Ein erblicher Beamter aber ist ein Widerspruch in sich selbst. Denn ein Amt darf nicht nach Grundsätzen der Geburt, sondern einzig nach Grundsätzen der Tüchtigkeit besetzt werden. Das fränkische Königtum ist niemals zu Ruhe gelangt. Es hat in der ersten Zeit seines Bestehens ringen müssen, um den Volksbeamten durch den Königsbeamten zu ersetzen. Und in den späteren Jahrhunderten fiel ihm die noch schwerere Last zu, den Kampf gegen die eigenen Beamten aufzunehmen. 2. Den Germanen galt es als selbstverständlich, daß sie ihre Richter einsetzten. Das Volksrecht drängt nach Volksrichtern. Der fränkische König seinerseits mußte mit allen Mitteln darauf bedacht sein, das Richtertum in seine Hände zu bekommen. War doch der König der oberste Wahrer des Rechtes, bildete eine zuverlässige Rechtsprechung doch eine der bedeutsamsten Aufgaben des Staates! — Noch zur Zeit der Lex Salica, um die Wende des 6. Jahrhunderts, waren die beiden Gerichtsbeamten, denen wir begegnen, Volksbeamte, der Thunginus und der Centenarius. Im Laufe jenes Jahrhunderts erhob sich aber über diese Beamten der Graf (comes) als Verwalter königlicher Rechte, der sowohl Zivil- wie Militärgewalt in sich vereinigte. Der Thunginus verschwand. D i e G r a f s c h a f t (comit a t u s ) w u r d e z u m M i t t e l p u n k t der g e s a m t e n V e r w a l t u n g u n d R e c h t s p f l e g e . Aber mit größter Zähigkeit erhielten sich die Hundertschaften, so daß man unter dem „Grafengericht" vielerorts das Hundertschaftsgericht (Centena) unter dem Vorsitz des Grafen verstehen muß. Daher ist es dem Centenarius häufig geglückt, den engsten Zusammenhang mit dem Volke zu wahren. Er ist Volksbeamter geblieben. Im alemannischen Volksrecht heißt es, der Richter, der iudex, werde vi>m Herzog eingesetzt per conventionem populi. Und noch im späten Mittelalter begegnen uns Hundertschafts- und Gauvorsteher, die vom Volke gewählt sind. Namentlich in Schwaben und in Sachsen tritt der Volkseinfluß deutlich hervor. Der Graf ü]pte «eine Gerichtsbarkeit im Namen des Königs, bannte die Leute zum Heeresdienst auf Befehl des Königs und legte Steuern und Dienste auf nach Geheiß des Königs. Volksgrafen mit Volksgewalt hat es nie gegeben. 3. An den Grenzen des Reiches war ein doppelt starker Schutz notwendig. Der Wille, eine große militärische Gewalt in e i n e r Hand zu vereinigen, mußte hier zur Verwirklichung kommen. D a h e r b i l d e t e m a n a n d e n G r e n z e n a u s g e d e h n t e - M a r k g r ä f s c b a f t f e n aus. Sie zerfielen nicht in Untergrafschaften, so daß dem Markgrafen (marchio) politisch, wie rechtlich, eine weit größere Gewalt in die Hand gegeben war als dem Grafen. Kein Wunder, daß bei dieser Beamtenklasse das Streben nach Selbständigkeit sehon frühe und mit Energie hervortrat. Im Gegensatz zum alten Volksland war die Markgrafschaft, soweit sie erobertes Land darstellte, Königsland. Denn in fränkischer Zeit galt als Eroberer nicht mehr das Volk, sondern sein Haupt, der König. 4. Schon früh sah der König mit mißtrauischen Augen auf seine Beamten. Er mochte empfunden Tiaben, wie sehr sie nach .eigener Gewalt strebten, und hunderte von Klagen über widerrechtliche Bedrückung der Bevölkerung drangen an sein Ohr. So s c h u f e n sich b e r e i t s die s p ä t e r e n M e r o w i n g e r ein K o n -

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Grafschaft.

t r o l l o r g a n , die K ö n i g s b o t e n , die missi dominici. Als Vorbild dienten die päpstlichen Legaten. Karl der Große hat sie zu einer ständigen Einrichtung des Reiches erhoben. Man kann sie die erste große sozialpolitische Schöpfung nennen. Denn die missi überprüften die Grafen, Markgrafen und kleinen Beamten, hauptsächlich zum Schutze der wirtschaftlich Schwachen (maxime propter pauperes populi). Auch waren sie gesandt, um die Reichsinteressen zu vertreten und die unmittelbare Verbindung zwischen König und Grafen, sowie zwischen König und Volk herzustellen, nachdem das Herzogtum vernichtet worden war. Das Reich wurde in besondere Kontrollsprengel, in missatica, eingeteilt, und der Missus rief die Untertanen zu eigenen missatischen Versammlungen herbei. Es ist ein sprechendes Zeichen für die üppig aufschließende Grafengewalt, daß sie im 9. Jahrhundert dieses unbequeme Organ lahmzulegen wußte. In jenem Jahrhundert verlor das Kölligsbotenamt jede Bedeutung. 5. Den h ä r t e s t e n K a m p f f ü h r t e der f r ä n k i s c h e K ö n i g gegen d a s H e r z o g t u m . Im Herzogtum fanden sich die beiden Interessen vertreten, die dem Königtum ein Dorn im Auge waren: die Volksgewalt im Gegensatz zur Königs gewalt und der föderalistische Gedanke im Gegensatz zum Reichsgedanken. Die Herzogsgewalt ruht in ihrem Schwergewicht im Volke. Der Herzog nahm Stammes interessen, nicht Reichsinteressen wahr. Ja, auf der Höhe der Macht, im 8. Jahrhundert, erschienen die Stammesherzöge fast wie Nebenkönige, wie Kleinkönige neben dem Haupt des Gesamtreiches. Ihre einstige Volksgewalt war mehr und mehr erstarkt zu einer eigenen Gewalt im Stamme. Von einem Beamtencharakter trugen sie eigentlich nichts mehr an sich. Nur mit der Waffe vermochte der König diesen gefährlichen Gönner unschädlich zu machen. Der Herrscher nahm die Gewaltprobe auf. Mit der Vertilgung des Bayernherzogs Tassilo sank der letzte Stammesherzog dahin und die Karolinger hüteten sich wohl, das Herzogtum im Sinne eines Amtes wiederherzustellen. Wo seit Karl dem Großen Herzöge auftreten, tragen sie diesen Namen nur als Ehrennamen. 6. Wie gefährlich dem Königtum das Amt eines Hausmeiers geworden war, ist aus der Geschichte bekannt. Der M a j o r d o m u s war der e i n f l u ß r e i c h s t e B e a m t e am k ö n i g l i c h e n H o f e , besonders, weil er an der S p i t z e d e r k ö n i g l i c h e n G a r d e , der k ö n i g l i c h e n B e r u f s k r i e g e r , s t a n d . Er war die gegebene Figur für Palastrevolutionen. Der urkräftige Hausmeier Pipin, unterstützt durch den Papst, ließ bekanntlich den letzten merowingischen König scheren und ins Kloster stecken. Unter den Karolingern gab es keine Hausmeier mehr. 7. Von bedeutsamen Beamten seien noch aufgeführt der K a n z l e r des Reiches, anfangs ein weltlicher Herr, dann ein Geistlicher; der P f a l z g r a f , der als königlicher Hofrichter tätig war, und der Hof r a t , ein ständiges Beamtenkollegium, welches das besondere Vertrauen des Königs besaß. Alle drei Einrichtungen überdauerten den Untergang des Reiches. § 13. Die Immunität. 1. Das Wesen der Immunität liegt in der Ausnahmestellung, die einem Mächtigen gewährt wird. Der Immunitätsherr und seine Leute, wie sein Land, werden aus der allgemeinen Staatsverwaltung herausgehoben. Die Immunität schafft

Immunitätsleute.

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einen privilegierten Rechtszustand zugunsten des Immunitätsherrn. Es entstehen Sondergruppen im Staate mit der Tendenz größter Kräfteansammlung. Und ein gewaltiger Erfolg sollte ihnen beschieden sein. Denn ihnen ist großenteils die Sprengung des alten Staatsgebäudes im Mittelalter zu verdanken. Was Wunder, wenn da wieder und wieder nach Ursprung und Art dieser Gewalt geforscht wird! Vermutlich h a t die fränkische Immunität zwei Wurzeln, eine deutsche und eine römische. Die deutsche Grundlage war die königlicho Munt (mundeburdium; davon heute noch unser Wort Vormund). Diese Munt, alter germanischer Herkunft, schloß ein personenrechtliches Herrschaftsverhältnis in sich. Der König war der Herr seiner Muntbefohlenen, diese seine Gewaltunterworfenen. Wie aber jede Gewalt Schutz nach sich zieht, so waren die Muntleute zugleich die Schutzleute des Königs. Interessen des Muntherrn (z. B. ein Recht auf Abgaben oder ein Recht auf gerichtliche Vertretung in Prozessen) und Interessen der Muntnamen (z. B. pekuniärer und strafrechtlicher Schutz) erscheinen von Anfang an aufs engste miteinander verknüpft. Es ist bisweilen schwer zu sagen, ob eine Äußerung des mundialen Rechts mehr auf das unmittelbare Interesse des Herrn oder des Unterworfenen gerichtet war. Will doch jeder Gewaltherr seinen Schützling, von dessen K r a f t er saugt, kräftig und lebensfrisch erhalten. In solcher Königsmunt standen nun seit alter Zeit die Leute auf den königlichen Ländereien (Domänen), die Hintersassen von königlichen Kirchen und Klöstern und auf manchen Gütern großer Adelsgeschlechter. Der König aber, nicht gewillt und nicht fähig, diese Munt selbst auszuüben, überließ die Ausübung Vertrauenspersonen, den advocati, causidici, später Vögte genannt. Bereits in vorkarolingischer Zeit ist dieser Zustand wahrzunehmen. D i e I m m u n i t ä t s l e u t e b i l d e t e n p e r s o n e n r e c h t l i c h e V e r b ä n d e , die n a m e n t l i c h i m G e r i c h t s w e s e n e i n e e i g e n a r t i g e S t e l l u n g e i n n a h m e n . Klagte ein nicht zur I m m u n i t ä t gehöriger Mann gegen sie, so mußten sie vom Vogte nur dann vor das Grafengeri.cht gestellt werden, wenn oipe besonders schwere Sache (causa maior), etwa eine Blutschuld, vorlag. Alle übrigen Fälle richtete der Immunitätsherr (oder dessen Vogt) im eigenen Gericht. Nur bei Rechtsverweigerung t r a t der Graf ein. Die Immunität besaß also schon in der merowingischen Epoche eigene Gerichtsbarkeit. Und damit kommen wir zu ihrer zweiten Wurzel. 2. Aus dem 4. Jahrhundert nach Chr. wissen wir, daß das römische Fiskalgut das Privileg besaß, von Steuern und Lasten befreit zu sein. Die fränkischen Könige, welche in Gallien einrückten, übernahmen die Vorzüge dieser Immunitätsgüter (wie die Merowinger zunächst auch die römische Steuerverfassung bestehen ließen) und verwehrten den Grafen, Abgaben in den befreiten Gebieten einzutreiben. Der Fiskalbeamte machte im Namen des Königs Steuer- und Abgabenrechte geltend und durchbrach damit die ordentlichen Grafenrechte. Wahrscheinlich ist von dieser Seite her das dingliche Moment in die Immunität hineingeflossen. Denn aus späterer Zeit erfahren wir, daß sämtliche Einwohner eines geographisch bestimmten Gebietes, freie wie unfreie, einem Immunitätsherrn unterworfen waren. So sei mit aller Vorsicht gesagt: d i e p e r s o n e n r e c h t l i c h e G r u n d l a g e d e r I m m u n i t ä t s t a m m t aus der d e u t s c h e n Munt, die t e r r i t o r i a l e G r u n d l a g e a u s d e r V o r z u g s s t e l l u n g d e r r ö m i s c h e n D o m ä n e n . Oft rascher, oft langsamer, oft in klarerer, oft in verschwommenerer Ausprägung verschmolzen F e h r , Deutsche Rechtsgeschichte.

4. Aufl.

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Immunitätsprivilegien.

nun die beiden Grundlagen miteinander und riefen seit dem 10. Jahrhundert geschlossene Immunitätsbezirke hervor, Herrschaften, welche weder mit dem Streubesitz der immunen Grundherrschaft, noch mit dem Kreis einer personalen Genossenschaft von Unfreien zusammenfielen. 3. Seit dem 6. Jahrhundert treten sehr zahlreiche Immunitätsprivilegien hervor. Vor allem suchten Kirchen und Klöster um Verleihung von Immunität nach, und der König begünstigte dieses Verlangen derart, daß am Ende unserer Epoche kirchlicher Grund und Boden mit seinen Hintersassen ohne besondere Verleihung als immun galt. Aber auch viele weltliche Große (potentes) gelangten für ihre Grundherrschaften zu dieser Vorzugsstellung und galten fortan als selbständige Immunitätslierren. Freilich, weder in merowingischer noch in karolingischer Zeit führte die I m m u n i t ä t vollständig aus dem Grafenverbande heraus. Nichts deutet darauf, daß die Herren eine dem Grafen ebenbürtige Stellung eingenommen hätten. Sie besaßen weder die hohe Gerichtsbarkeit, noch eine vollkommene Freiheit von öffentlichen Leistungen. Oft konnte der Graf die Immunitätsleute zu Kriegsdiensten und öffentlichen Arbeiten (etwa Straßenbauten) heranziehen. J a nicht einmal aller Steuern waren sie bisweilen enthoben. Und dennoch boten die Niedergerichtsbarkeit, die -finanziellen Privilegien und das Verbot an den Grafen, auf immunem Gebiete Amtshandlungen vorzunehmen (Verbot des introitus), den Immunitätsherren eine gewaltige Waffe dar. In den Staat war ein Keim hineingetragen, der nach immer selbständigerer Entfaltung verlangte. 4. Wer in der Immunität die Gewalt- und Schutzherrschaft ausübte, h a t t e die Rolle eines Vogtes (advocatus). Die Vogtei stand in engster Beziehung zum Eigenkirchenwesen, trotzdem sie juristisch von ihm geschieden war. (§ 14, 1.) Aus der Vogtei als einer Muntherrschaft floß die Befugnis, als Herr und Schützer der Kirche und des Klosters nach innen und außen aufzutreten und d a f ü r Vogtabgaben zu verlangen. Den königlichen Instituten stand der Herrscher selbst als Vogt vor. Doch überließ er die Vogtei regelmäßig einem Untervogt, der in seinem Namen amtete. Hunderte von Kirchen und Abteien aber erhielten durch königliches Privilegium das Recht, ihre Vögte selbst zu wählen, und wo etwa ein frommer Graf ein Kloster stiftete, da bewahrte er für sich und seine Familie (als Herr der Eigenkirche) das Vogteirecht. Es ist bereits für die fränkische Zeit festzustellen, daß der Vogt bei weitem nicht überall als ein Beamter auftritt. N e b e n d e m B e a m t e n v o g t s t e h t d e r H e r r e n v o g t . — Zu Beginn der karolingischen Zeit war das Vogtwesen in eine gewisse Unordnung geraten. Vor allem die Beamtenvögte der geistlichen Herren erwiesen sich als unbotmäßige Gesellen, die ihre Rechte zum eigenen Vorteil ausnützten. Kapitularien bezeichnen sie- als damnosi und cupidi (Kapitulare von 802). Andererseits hatte man viele untaugliche Vögte bestellt, welche von Recht und Gericht nichts verstanden, also mehr dekorativer N a t u r waren, und seit dem 8. Jahrhundert griff das aufsteigende Staatsbeamtentum oft rücksichtslos in den Kreis der- Immunität ein. Der Vogt war nicht mächtig genug, den Gewalttätigkeiten zu begegnen. Daher bedurfte das ganze Institut der Vogtei einer Befestigung. M i t K a r l d e m G t o ß e n k ö n n e n w i r e i n e n n e u e n K u r s w a h r n e h m e n . Der weise Mann h a t t e offenbar eingesehen, daß dai sich ^selbst überlassene Vogteiwesen zerfallen müßte. Die zahlreichen Maßnahmen, die uns in der karolingischen Zeit entgegentreten, gipfeln in zwei Grundgedanken:

Eigenkirche.

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1. Die zu bestellenden Vögte müssen bestimmte Eigenschaften besitzen. Nur zuverlässige Leute (die den Nutzen der Immunität fördern) und nur technisch gebildete Leute (die den Rechtsorganismus der Immunität kennen) dürfen gewählt werden. 2. Auf die Wahl erhält die öffentliche Gewalt Einfluß, der Graf, der Missus, nach einem Kapitulare von 809 sogar das ganze Volk (echtes Grafending). Damit war ein weiter Schritt vorwärts getan. Damit waren Vogtei und Immunität in wichtigen Beziehungen dem öffentlichen Rechte eingegliedert. Noch zur rechten Zeit hatte die Staatsgewalt eingegriffen, um zum Vorteil der Immunität und zum Nutzen ihrer selbst diesen Zwischeninstanzen eine sichere, eine staatliche Stütze zu geben. Aber der Wille zur eigenen, vom Grafen unabhängigen Entfaltung, konnte nicht wieder unterdrückt werden. Unter den Ottonen trat er mit größter Wucht zutage. § 14. Die Kirche. 1. Im fränkischen Reich war der Kirche eine hohe Blüte, aber nur eine Scheinblüte beschieden. Denn in ihre Mauern drangen Elemente ein, die drohten, ihren eigentlichen Kern, ihren geistlichen Kern zu zerstören. D a war es z u n ä c h s t das E i g e n k i r c h e n w e s e n , das in i h r W u r z e l schlug. Das kam so. Aus dem germanischen Haustempel hatte sich die Vorstellung hinübergerettet, daß der Grundherr Eigentümer der Kirche sei, die er auf seinem'Grund und Boden errichtet hatte. Auf der Basis dieses dinglichen Rechts maßte er sich die weitgehendsten Rechte an. E r nahm die reichen wirtschaftlichen Nutzungen, welche die Kirche abwarf, für sich in Anspruch, vor allem die Zehnten, ja er ging vielerorts so weit, den Priester ein- und abzusetzen, wie es ihm beliebte. Da sich auf diese Weise eine glänzende Bodenrente ergab, wurden Hunderte, Tausende von Eigenkirchen geschaffen. Und diese Kirchen wurden verkauft, verschenkt, verliehen, wie ein privates Landgut. Diese Anschauungen übertrug man auf die Klöster. Es wimmelte von Eigenklöstern, und der größte Förderer und Beherrscher dieser Eigenklöster war der König selbst. Er berief nach seiner Willkür die Äbte, setzte sie nach seiner Willkür ab, und er frug nicht, ob ein solcher, ihm gefügiger Mann ein Geweihter war oder gar ein Laie. Welch ein Faustschlag gegen das katholische, kanonische Kirchenrecht! Welche Zertrümmerung echt kirchlichen Geistes! Die Folgen blieben nicht aus. Im 8. Jahrhundert setzte eine furchtbare Verwilderung der Kirche ein. Über achtzig Jahre werden keine Synoden abgehalten^ Falsche Priester tauchten in Massen auf. Geweihte liefen herum im Laiengewand. Betrüger (fraudatores) raubten der Kirche ihre Habe, und die Kleriker saßen statt im Gottesdienst auf ihren Pferden und ritten zur Jagd. Viel Volk sank ins Heidentum zurück. Die Kirche ging einer entsetzlichen materiellen und geistigen Verarmung entgegen. 2. Ebenso große Gefahr drohte ihr durch die Politisierung. Der Staat zog die großen Geistlichen mit allen Hebeln in seinen Machtbereich hinein und interessierte sie am Schicksal des Reiches. In der obersten staatlichen Behörde, im fränkischen Reichstag, saßen mehr geistliche als weltliche Herren. Zu gewissen Zeiten spielten Bischöfe und Äbte darin die Hauptrolle. Staatliche Aufgaben aller Art gab der König ihnen zu lösen, und bewußt arbeitete er auf die Schaffung •3

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Kirchenreformen.

einer fränkischen Landeskirche, abseits von Rom. Weniger aus religiösem Enthusiasmus, als aus politischer Überlegung stattete er die kirchlichen Institute mit ausgedehnten Schenkungen aus. Mit einem Worte: in der Kirche sah er ein Hauptmittel den fränkischen Staat erfolgreich zu regieren. 3. R e a k t i o n e n k o n n t e n n i c h t a u s b l e i b e n . Ohne tiefgreifende Reformen wäre die Kirche einer unseligen Verweltlichung entgegengegangen. Zunächst griffen die karolingischen Hausmeier ein. Dreiundzwanzig Bischöfe werden abgesetzt. Der entfremdete und verschleuderte Kirchenbesitz wird gesammelt und verzeichnet (die fraudatae pecuniae, wie es im Capitulare von 742 heißt) und der Kirche wird so viel zurückgegeben, daß sie nicht der Not und Armut ausgesetzt sein soll (penuriam et paupertatem non patiantur, Capitularien von 743 und 744). Das übrige Gut wird verwendet zu Gunsten des Staates, vor allem zur Stärkung des Heeres. Damit sind Ordnung und Maß in die fränkische Kirche hineingekommen. A u c h die Ü b e r s p i t z u n g des E i g e n k i r c h e n w e s e n s w u r d e in d i e s e r Z e i t g e d ä m p f t . Geistliche durften nicht mehr ohne Zustimmung dfes Bischofs eingesetzt werden (Annäherung an das kanonische Recht). Unfreien war fortan der Zutritt zum Priesteramt versagt. Der vom Grundherrn eingesetzte Geistliche trat in engere Verbindung zu seiner Kirche: er erhielt an ihr ein Benefizialrecht. A u c h k o n n t e auf d i e D a u e r ein e n g e r e r A n s c h l u ß a n R o m n i c h t a u s b l e i b e n . Der große Mann, der diese Tendenz verfolgte und durchsetzte, war der Bischof Winfried oder Bonifacius. Erfüllt von echt katholischen Gedanken, unterwarf er sich im 8. Jahrhundert dem Papste und setzte das Bistum in den Mittelpunkt der kirchlichen Verfassung und Verwaltung. Er brach mit der u n . kanonischen Klosterverfassung und machte den Bischof zum wahren Herrn des Bistums, soweit dies bei dem immer noch bestehenden Eigenkirchenrecht möglich war. Als oberster Bischof wurde der Papst anerkannt. Ein Treueid band ihn an den König. § 15. Lehnwesen und Heerverfassung. 1. Der Kern des Lehnwesens liegt in der engen Verbindung von Besitz und Amt. Durch die Hingabe von Grund und Boden oder durch Einräumung von Rechten, welche dauernde Erträgnisse in sich schließen, erwachsen dem Beliehenen Amts- und Dienstpflichten. Wer unwürdig oder unfähig wird zu Amt und Dienst, verliert den Besitz. Von diesem Grundgedanken aus gesehen umspannt das Lehnwesen einen großen Teil der ganzen Welt. Schon in der Gesetzgebung des babylonischen Königs Hammurapi (etwa 2000 v. Chr.) lassen sich die ersten Spuren verfolgen. In Japan galt Lehnrecht bis zum Jahre 1872. Zahlreich und bunt sind natürlich die Abschattierungen in einzelnen Zeiten und bei einzelnen Völkern, und namentlich darin unterscheiden sich die Lehnsordnungen ganz bedeutsam, daß sie das Moment der Hingabe, der Treue von Herr und Mann, verschieden bewerten. In manchen Ländern tritt dieses Treueverhältnis mit besonderer Stärke hervor, so in Europa und speziell im deutschen Lehnrecht. 2. Die deutsche Verfassungsgeschichte hat die Entstehung des Lehnwesens stets als eines der wichtigsten Probleme betrachtet. Ganz begreiflich, sind doch

Vassalität.

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die Kräfte, die im Lehnsrecht ruhten, fähig gewesen, den ganzen Staat umzugestalten. Im größten Teil des Mittelalters herrscht nicht mehr der Beamtenstaat, sondern der Lehnsstaat. Gerade in letzter Zeit ist ein reiches Schrifttum über das Lehnwesen entstanden. Es hat eine Hauptfrage anders beantwortet als früher, die Frage: Ist das Lehnwesen ad hoc, zu bestimmten militärischen Zwecken im 8. Jahrhundert geschaffen worden, oder hat es sich seit der frühen Zeit der Merowinger langsam mehr oder weniger organisch herausgebildet. Die ältere Forschung nimmt das erste an, die neuere Forschung das zweite. Dieser trete ich bei. 3. D i e e i n e W u r z e l d e s L e h n w e s e n s i s t d i e V a s s a l i t ä t (ein keltisches Wort). Es bedeutet die Hingabe eines Mannes an einen Herrn, das Darreichen der Persönlichkeit eines Menschen im Sinne höchster Treue. Einer solchen Hingabe zu treuen Diensten auf Zeit begegneten wir schon iip germanischen Gefolgschaftswesen. Die Idee ist nie mehr verloren gegangen. Auch das gallische Klientelverhältnis mit seinen clientes, seinen Schutzbefohlenen, wirkte bedeutsam ein. Der fränkische König umgab sich mit einem Heer von Mannen, welche in ein besonderes Treueverhältnis zu ihm rückten: die A n t r u s t i o n e n . Sie taten Dienste verschiedenster Art, und der Monarch ließ sich, um die Bindung möglichst feierlich und sicher zu machen, einen Treueid schwören. Königsdienst und Königsnähe zeichneten den Mann aus: die Mitglieder der königlichen Truatis mußten mit dem dreifachen Wergeid bezahlt werden, wenn ihrer einer getötet wurde. Aber auch kleinere weltliche und geistliche Herrn hatten ihre Mannen, die zwar nicht Antrustionen hießen, die man, weil sie sich in die Munt begaben, M u n t m a n n e n nannte. Es ist ein alter Zug im deutschen Recht, die Menschen nicht wie Gläubiger und Schuldner einander gegenübertreten zu lassen, sondern zwischen ihnen ein persönliches Band, ein Band der Treue und des Schutzes einzuflechten. Diese persönliche Bindung stellt einen der tiefsten Unterschiede, zum römischen Recht dar. Sie bringt einen feinen, innigen, menschlichen Zug in die Rechtsordnung hinein. Im Muntverhältnis tritt sie deutlich zutage. Herren ließen sich seit den frühesten Zeiten geeignete, fleißige, zuverlässige Leute „common, dieren", d. h. sie nahmen sie durch feierlichen Akt in ihre Gewalt und in ihren Schutz auf. Auch armen, verfolgten, durch Not heruntergekommenen Personen wurde diese Commendation zuteil. In diesem Muntverhältnis begegnen uns zunächst die verschiedensten Dienstleistungen: w i r t s c h a f t l i c h e , als Arbeiter in der Grundherrschaft: g e w e r b l i c h e , wie Müller, Bäcker, Schmiede; k r i e g e r i s c h e , besonders als Leibschutz eines Herrn. Und nun war die Entwicklung so, daß sich die Krieger als besondere Klasse von den anderen Dienern abhoben. Sie wurden, ihrem Handwerk entsprechend, zur ersten, vornehmsten, wichtigsten Gruppe der Muntmannen und an ihnen bleibt der alte Name der vassi oder vassalli hängen. Im 8. J a h r h u n d e r t h e i ß e n v a s s i n u r n o c h d i e L e u t e , die sich zu K r i e g s d i e n s t , vor allem z u ' R e i t e r d i e n s t , einem H e r r n commendiert hatten. 4. Die andere Wurzel des Lehnwesens ruht in der Verleihung von Berechtigungen, die dem Berechtigten eine Wohltat, eine Gunst einräumten und daher Beneficium hießen. An d e r S p i t z e d e r W o h l t a t e n s t a n d die H i n g a b e v o n G r u n d b e s i t z . Die große Masse der Beneficien bestand aus der Einräumung starker, dinglicher

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Beneficium.

Rechte an Grund und Boden. Die reichste Grundbesitzerin, die Kirche, wurde am stärksten herangezogen. So haben schon die tuerowingischea Könige Kirchengut als Beneficien vorliehen. Ein wirklich planvoller Eingriff ins Kirchengut erfolgte aber erst in der Mitte des 8. Jahrhunderts, als die Raubzüge der Araber immer heftiger wurden (propter imminentia bella, Kapitulare von 743) und es notwendig erschien, ein stärkeres Heer, vor allem ein besseres Reiterheer, aufzustellen (in adiutorium exercitus). Aber auch ihr eigenes Krongut schonten die Merowinger nicht. Ihre Landschenkungen wurden notwendig, um den Machthunger des Adels zu stillen. Wir können uns den damaligen Appetit auf Land nicht drastisch genug vorstellen. Zudem lag jeweils nach den fränkischen Siegen viel Land in der Hand des Königs, das der Vergebung an große Mitkämpfer harrte. Nach neuesten Forschungen scheint nun viel von dieser Beute derart in ein Beneficium verwandelt worden zu sein, daß dem Beneficiar nur Einkünfte aus den Ländereien zugebilligt wurden. Der mit der Wohltat ausgestattete Mann hatte die Steuern von den Bauern einzuziehen und durfte einen Teil davon in die eigene Tasche stecken. Den anderen Teil lieferte er an die Krone ab. Auch Zehnten, Bußgelder und allerlei Abgabenrechte waren Gegenstand des Lehns. Das provinzial-römische Steuersystem mag hier den Franken als Vorbild gedient haben. Nun fehlt aber dem Juristen noch eine wichtige Erklärung: Worin bestand die rechtliche Natur dieser Wohltaten? Was machte das eigenartig Juristische des Beneficiums aus ? Die Antwort muß lauten: Weder die hingegebenen weltlichen Landgüter, noch das verteilte Kirchengut verliehen dem Berechtigten das Eigentum an Grund und Boden. Beim säkularisierten Kirchengut wäre dies gar nicht möglich gewesen ohne Recjitsbruch. So wurde dem Beneficiar kein volles, zum Eigentum gesteigertes dingliches Recht gegeben. Er erhielt nur ein dingliches Leiherecht, das freilich dem Eigentum sehr nahe kam, ein Recht, das er sich gleichsam immer wieder verdienen mußte durch Wahrung der Treue seinem Herrn gegenüber: War er treulos, so wurde ihm das Beneficium abgesprochen. Auch fiel das Gut während vieler Jahrhunderte an den Herrn zurück, wenn der Mann, der Vasall, starb. Und starb der Herr, so mußte das Beneficium vom neuen Herrn wieder erbeten, „gemutet" werden. Man kann daher das fränkische Beneficium nicht einmal lebenslängliches Eigentum nennen. Das Rechtsverhältnis paßt in keine römischrechtliche Denkkategorie hinein. 5. Noch war aber das Lehnrecht im vollen Sinn des Wortes nicht ausgebildet, so lange das persönliche Substrat (die Vassallität) und das dingliche Substrat (das Beneficium) nicht eine unlösliche Ehe miteinander eingegangen waren. Das geschah grundsätzlich erst gegen Ende der fränkischen Zeit. Erst jetzt bildete sich der Rechtssatz aus: Jeder Vassall hat Anspruch auf ein Beneficium. Und jetzt erst begreift man die Bestimmung des Capitulare von 807: Quicumque beneficia habere videntur, omnes in hostem veniant. Jetzt, mit dieser untrennbaren Zweiheit, ist das Lehn, das feudum, entstanden. Das war a u c h die E p o c h e , in d e r d a s B e n e f i c i u m s t ä r k e r w u r d e als d i e T r e u p f l i c h t . Nun war es die hingegebene Wohltat, welche die Dienstverpflichtung auslöste. Die Treue trat, freilich als notwendiges, wesentliches Element, zum Lehn hinzu. Der ideale Schwung hatte nachgelassen. Ein stark materieller Gesichtspunkt hatte ihn zurückgedrängt.

Grafschaft.

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Auch darin warf der mittelalterliche Lehnsstaat seine Lichter voraus, daß eine Weiter'eihung des Lehns möglich wurde. Man durfte zu beliebigen Belehnungen greifen, so daß eine ganze Stufenleiter von Vassailen ermöglicht wurde. Das Lehn wanderte durch die verschiedensten Hände. Oberste Spitze war der König. Vom Herrscher strahlte letzten Endes alles Lehnsrecht aus. 6. D a s B e n e f i z i a l w e s e n ergriff in der f r ä n k i s c h e n Zeit n o c h e i n z w e i t e s g r o ß e s G e b i e t , die G r a f s c h a f t . Die Beziehung von Besitz und Amt erscheint zum ersten Male im Edikt Chlotars von 614. Sie ist noch lose; denn es wurde nur bestimmt, die Grafen seien aus den Grundbesitzern der Grafschaft zu entnehmen. Aber diese Verbindung hatte Folgen: die Grafen entzogen sich der Versetzbarkeit. Sie von einer Grafschaft in die andere zu rufen, war fortan unmöglich. Auch die Erblichkeit des Amts wurde dadurch angebahnt, deren erste Ansätze schon in die merowingische Zeit fallen. Statt einer Besoldung erhielt der Graf das Nutzungsrecht an königlichem Gut im Gau. Die Idee des Amtsgutes war d^mit gewonnen, eine weitere enge Beziehung von Besitz und Amt war geschaffen. Mit dem stärkeren Eindringen des Lehnwesens wurde dieses Amtsgut zum Lehnsgut, zum beneficium, umgestaltet. Und so blieb nur noch ein kleiner Schritt zu tun, auch die ganze Grafschaft als beneficium erscheinen zu lassen. Im 9. Jahrhundert können wir diese neue Auffassung wahrnehmen. Die G r a f s c h a f t als t e r r i t o r i a l e G r ö ß e , v e r b u n d e n m i t d e n G r a f e n r e c h t e n u n d - p f l i c h t e n , g a l t a l s b e n e f i c i u m , das sich in der Grafenfamilie vererbte und ihr nur noch aus ganz bestimmten, Vom Recht festgelegten Gründön entzogen werden durfte. Das fränkische Lehnwesen des 9. Jahrhunderts trägt alle Keime späterer Entwicklung in sich. Aber noch sind dessen Institutionen und Formen flüssig. Noch gibt es kein vom Landrecht geschiedenes Lehnrecht, noch keinen von den landrechtlichen Ständen abgesonderten Lehnsstand. Dazu bedurfte es starker Verschiebungen im Inneren und Äußeren des Staates. Und diese Verschiebungen brachte erst die große, leidenschaftlich bewegte Zeit der Kreuzzüge. 7. Ein stark militärischer Zug hat immer im Lehnrecht gelegen, so daß noch die Frage zu beantworten ist: Wie drang das Lehnwesen in die fränkische Heerverfassung ein, wie gestaltete es die alte Verfassung um ? Aus der germanischen Zeit hat sich der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht in die fränkische Zeit hinübergerettet. Noch ist das Heer im Grunde nichts anderes als das bewaffnete Volk der freien Männer. Der König ruft das Heer zusammen. E r a l l e i n h a t d a z u d i e Gewalt, den H e e r b a n n . Wer ausbleiht, zahlt die Königsbuße, die Buße von sechzig Schillingen, die den kleinen Mann wirtschaftlich schwer schädigte. Der Heerdienst ruhte als größte staatliche Last auf den fränkischen Untertanen. Er war fast unerträglich und brachte jährlich Hunderte von Menschen um die Früchte ihrer Arbeit. Die Feldzüge fielen meist in die gute Jahreszeit, so daß der Bauer seine Kraft nicht der Wirtschaft zuwenden konnte. Aber mehrals das: der fränkische Krieger hatte sich selbät zu bewaffnen und für mehrere Wochen im Felde zu verpflegen. Wurde er zusammengehauen und kam er als Krüppel nach Hause, bekümmerte sich niemand um sein Los. Gewiß, zu keiner Zeit ist das fränkische Reichsheer in seiner Gesamtheit einberufen worden. Stets wurden nur Teile des Reiches aufgeboten. Aber es ist falsch, zu behaupten: die

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Seniorat.

allgemeine Wehrpflicht h ä t t e überhaupt nur auf dem Papier gestanden. Nein, die Klagen der Bevölkerung über den schweren Heeresdruck sind nur zu verstehen durch die Aufgebote, welche wieder und immer wieder den Mann aus seiner friedlichen Tätigkeit heraustrieben. Ein Kapitulare von 811 sagt mit voller Klarheit: die Kleinbauern, die pauperiores, seien fortwährend zum Kriegsdienst gezwungen worden. Es war jedenfalls höchste Zeit, daß Karl der Große mildernd einschritt. Er brachte in seiner Gesetzgebung die Idee zum Ausdruck: D e r Ä r m e r e b l e i b t zu H a u s e , d e r R e i c h e r e z i e h t a u s . Entscheidend für reich und arm war im Prinzip der Bodenbesitz. Wer unter einer bestimmten Bodengröße blieb (etwa drei oder vier Hufen), der zahlte nur eine Beisteuer (adiutorium). Aus dieser Beisteuer wurde der Kleinbauer, der ausziehen mußte, unterstützt. Die zu Hause bleibenden Nachbarn halfen in dieser WTeise mit, die Kriegskosten zu decken. Die Anfänge einer Kriegssteuer liegen also in fränkischer Zeit. Im Jahre 829 wurden Stammrollen angelegt. Sie enthielten genaue Verzeichnisse der Personen, die persönlich Kriegsdienste leisteten, sowie der Personen, die nur zur Beisteuer verpflichtet waren. Zwar hielt man theoretisch noch an der Dienstpflicht aller Freien fest. Aber im praktischen Leben t r a t doch immer mehr die Verbindung von Grundbesitz und persönlicher Dienstpflicht hervor, während andererseits die Steuerpflicht des daheimbleibenden Kleinbauern mehr und mehr als Grundsteuer empfunden wurde. Auch hier die Verdinglichung der Lasten! So sanken gegen Ende der fränkischen Epoche die Kleinbauern, welche zahlten s t a t t fochten, sozial tiefer herab. Noch stand im Rechte jeder Freie dem Freien gleich. Aber die Kleinbauern wurden bereits in die Klasse der pauperes oder pauperiores, der Armen, zusammengefaßt, und es war daher nur noch ein Kleines, sie auch rechtlich tiefer zu bewerten. Diese rechtliche Schlechterstellung h a t aber erst das spätere Mittelalter vollzogen. 8. V i e l e i n g r e i f e n d e r j e d o c h w i r k t e a u f d i e l e h n r e c h t l i c h e A u s g e s t a l t u n g d e r H e e r v e r f a s s u n g e i n d a s S e n i o r a t . Die fränkischen Senioren waren Herren, welche ihre Muntmannen, ihre Gewalt- und Schutzbefohlenen, ins Feld führten. Dazu gehörten vor allem die Vassi, aber auch kleinere Leute, welche Dienste zu F u ß leisteten und nicht mit einem Benefizium ausgestattet waren. Es wimmelte im fränkischen Heere von Senioren, besonders seit Bischöfe und Äbte als Inhaber höherer Benefizien sich zur Seniorenstellung emporgeschwungen hatten. An und für sich wäre es nicht bedeutsam gewesen, dem Senior statt dem öffentlichen Beamten, dem Grafen, das Aufgebotsrecht zu verleihen, konnte es doch nur ausgeübt werden auf den Befehl des Königs. Dies h ä t t e ja nur eine technische Verschiebung bedeutet, eine Vereinfachung im Heerwesen. Denn wer kannte die wirtschaftlichen und körperlichen Verhältnisse seiner kriegspflichtigen Leute besser als der Senior selbst ? Aber der König fing nun an, einzelne Senioren von dem Kriegsdienst zu befreien. Und diese Befreiung wirkte auch zugunsten ihrer Muntmannen. Daher unternahmen es viele Leute, sich in das Seniorat solcher privilegierter Herren zu begeben, so daß der König einschreiten mußte mit dem Gebote: die Übergabe an einen Senior zum Schaden des Reiches ist ungültig. Wie enge das Verhältnis zwischen Mann und Senior bereits geworden, beweisen Kapitularien aus dem Jahre 810. Sie befehlen den Senioren, ihre Leute dazu anzuhalten, den kaiserlichen

Landfolge.

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Vorschriften (mandatis et praeceptis imperialibus) besser zu gehorchen. So ergab sich im Laufe des 9. und 10. Jahrhunderts ein unheilvoller Zwiespalt. Verfassungsrechtlich gesehen, hatte der Staat einen Sieg errungen, indem die Vassalität und das Seniorat in die fränkische Heerverfassung eingegliedert wurden. Aber psychologisch betrachtet, lagen die Dinge ganz anders. D e r v o m S e n i o r a u f g e b o t e n e M a n n f ü h l t e s i c h im D i e n s t d e s S e n i o r s u n d n i c h t m e h r i m D i e n s t e d e s R e i c h e s . Das germanische Gefolgswesen sandte seine Strahlen in das fränkische Seniorat hinein. Das persönliche, von Mensch zu Mensch geschlossene Band, begann sich als das stärkere zu erweisen gegenüber dem staatlichen Bande. D a s U n t e r t a n e n v e r h ä l t n i s war z u g u n s t e n des S e n i o r a t s v e r h ä l t n i s s e s w e s e n t l i c h g e l o c k e r t w o r d e n . Da und dort wurden daher Versuche gemacht, das Seniorat einzudämmen. Die Leute müßten mit dem Grafen ausziehen, nicht mit dem Senior, wurde z. B. befohlen. Aber der Auflösungsprozeß der alten Heeresgrundlagen war schon zu weit fortgeschritten, um ihn aufhalten zu können. Seit dem Jahre 789 konnten auch Unfreie zu Vasallen angenommen werden. Erhielten sie Benefizien und wurden sie mit Roß und Waffen ausgestattet, so durfte sie der Senior mit im Felde verwenden. D i e a l t e F r e i e n s c h r a n k e w a r d u r c h b r o c h e n . Der Unfreie trat durch Vermittlung eines Seniors ins fränkische Heer ein, und ein solcher ritterlicher Unfreier stieg bald über den armen freien Kleinbauern hinaus, der keinen Dienst mehr tat, sondern Steuern zahlte. Auch in diesem Punkte verkündete sich die neue Zeit: Tüchtige Hörige fangen an, sich rechtlich aufzuschwingen. Neben die Geburt tritt die Bewertung des Dienstes. Und krönend, über alle Dienste empor, ragte der Reiterdienst. 9. Die geschilderten Verhältnisse bezogen sich auf die Heerfolge. Dane,ben s t a n d d i e L a n d f o l g e . Wie die meisten Völker, so machten auch die Franken einen Unterschied zwischen einem Kriegszug, der sich gegen einen Feind außerhalb der Grenzen richtete, und einem Verteidigungskrieg, welcher entbrannte, wenn der Feind bereits ins Land eingebrochen war. Der Verteidigungskrieg war der Existenzkrieg. Um Sein oder Nichtsein, um Staatsvolk oder Sklavenvolk handelte es sich. Die P f l i c h t , am Verteidigungskrieg teilzunehmen mit der W a f f e , die j e d e r zu f ü h r e n i m s t a n d e w a r , h i e ß d i e L a n d f o l g e . In der Landfolge spielte das Seniorat keine Rolle. Zur Landfolge muß jeder Mann herbeieilen, so klein auch sein Besitztum war. Auch der Ärmste sollte seine Heimat schützen. Im Bereiche der Landfolge gab es nur e i n e Strafe für Ausbleiben; den Tod. Wer sein Vaterland im Stiche Keß, büßte mit dem Leben. So ist denn die Landfolge niemals auf feudale Grundlagen gestellt worden. § 16. Die Gerichtsverfassung. 1. Im Gerichtswesen hegt eine gewaltige staatsbildende und staatserhaltende Kraft. Im Gerieht sein Recht zu suchen und zu finden, gibt Ruhe und Sicherheit jedem einzelnen wie der ganzen Gemeinschaft. Wo der Richter schweigt und wo er das Recht beugt, oder wo das Gericht ganz aufhört zu wirken, da entsteht ein rechtliches und sittliches Chaos. Denn kein Volk hat jemals die Größe gehabt, die Rechtsordnung zu halten, wenn es nicht das zwingende Urteil eines gerechten Richters über sich sah.

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Gericht.

. Die Grundlage der Gerichtsverfassung bildete die Grafschaft (comitatus). Die persönlichen Gerichtsverbände, die wir in germanischer Zeit angetroffen, hatten aufgehört. D e r G e r i c h t s v e r b a n d w a r e i n t e r r i t o r i a l e r V e r b a n d gew o r d e n . Die Leute einer Grafschaft bildeten eine Gerichtseinheit. A n v i e l e n O r t e n zerfiel die G r a f s c h a f t in U n t e r b e z i r k e , in H u n d e r t s c h a f t e n oder Z e n t e n e n . Wie weit diese Zentenen mit den alten germanischen Hundertschaften im Zusammenhang stehen, bleibt ein Rätsel. Englische und skandinavische Forschungen haben trotz vielen Scharfsinnes keine volle Klarheit zu geben vermocht. Vermutlich h a t auf di^ Bildung der Hundertschaften die merowingische Großpfarrei stärker eingewirkt als viele glauben. In den Hundertschaften t r a t das Gerichtsvolk am Gerichtstage zusammen. Gerichte der ganzen Grafschaft sind nicht überliefeit. Ganz begreiflich! Denn das fränkische Gerichtswesen, ja das Gerichtswesen bis in die Neuzeit hinein, war gegründet auf gegenseitige Erfahrung, auf Kenntnis von Mensch zu Mensch. I m deutschen Gerichtswesen ist der Wille verkörpert, den Mami zu beurteilen aus seiner Familie, aus seiner Umgebung, aus seiner Vergangenheit, aus seiner Sinnesart heraus. Was wir mit vieler Mühe heute wieder suchen, saß dem fränkischen Volk in Fleisch und Blut. Eine Rechtsprechung auf so feiner, auf so echt menschlicher Grundlage konnte keine großen Garichtsbezirke dulden. Dringen doch die Augen von Richtern und Urteilern nicht über einen beschränkten Kreis hinaus. Der Ruin jeder Rechtsprechung ist letzten Endes die Masse. — So tagte das Gericht des fränkischen Grafen in den einzelnen Hundertschaften (Centenen), deren es vielleicht drei oder mehr in der Grafschaft gab. Der Richter reiste umher. D a s U r t e i l , d a s a m H u n d e r t s c h a f t s g e r i c h t g e s p r o c h e n w u r d e , w a r e i n U r t e i l f ü r d i e g a n z e G r a f s c h a f t . Die Kompetenz erstreckte sich über den ganzen Grafenbezirk. Man h a t daher mit Recht gesagt, daß die Hundertschaft hauptsächlich zu Zwecken der Gerichtsverwaltung geschaffen worden sei. 2. I n merowingischer Zeit versammelten sich die freien Franken der Hundertschaft überaus häufig im Gerichte. Die unsicheren Verhältnisse, angefüllt mit Diebstahl und Raub, brachten viele Strafklagen mit sich. Auch begann sich langsam eine freiwillige Gerichtsbarkeit auszubilden: Grundstücke und ihnen gleichkommende Gegenstände wurden vor Gericht übertragen. Als eine schwere, zeitraubende Last ruhte der Gerichtsdienst auf den Untertanen, die sich jeweils an bestimmten Tagen ohne besondere Ladung auf dem Richtplatz einzufinden hatten. Wer ausblieb, verfiel einer Buße. Die Grafen benützten diese Ordnung und quälten die Eingesessenen mit Gejichtsdiensten so sehr, daß das ganze Frankenland von Klagen laut erscholl. Lange, allzu lange dauerte es, bis Abhilfe kam. Erst Karl der Große schritt mit tiefgreifenden Neuerungen ein. Er setzte fest, daß die Dingpflicht aller Freien auf zwei bis drei Gerichtssitzungen im Jahre beschränkt werden müsse. Nur die Vornehmen und Reichen, die maiores natu, hätten öfters zu erscheinen. Sie konnte der Graf zu Gericht rufen, u m das Urteil zu finden, so oft eine Prozeßsache vorlag, die man nicht auf die großen, allgemeinen Gerichtstage verschieben wollte. (Kapitulare von- 819.) D i e s e Z w e i t e i l u n g g a b d a s e n d gültige Vorbild f ü r die Scheidung der Gerichte in echte Dinge und g e b o t e n e D i n g e . Das echte Ding tagte fortan n u r wenige Male im J a h r e an den alten Gerichtsstätten und war besetzt durch alle freien Leute der Hundertschaft.

Dingpflieht.

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Dort sprach der Umstand, das eigentliche Volk, das Urteil wie einst in der Landsgemeinde. Die übrigen Gerichte dagegen wurden durch den Grafen oder seinen Stellvertreter zusammengerufen, und hier fanden sich die wenigen ein, auf denen die Gerichtspflicht lastete. Wer war der Urteilsfinder? Schon frühe, im 6. Jahrhundert, stoßen wir auf einen besonderen Gerichtsausschuß, die Rachinburgen, welche den Urteilsvorschlag machten, ja vielleicht das Urteil selbst fanden. Das waren die Rechtskundigen, die Erfahrenen, die Weisen. Denn das Finden des Rechts war ein Akt der Weisheit. D i e s e r A u s s c h u ß w u c h s i m m e r s t ä r k e r h e r a u s , und aus ihm sind wahrscheinlich die Schöpfer des Rechts, die S c h ö f f e n oder s c a b i n i , hervorgegangen. Zunächst wohl in jeder Sitzung aus der Mitte der Rechtskundigen neu gewählt, wurden die Schöffen zu ständigen Beamten. Die Gerichtsreform Karls des Großen hat das Schöffenamt als ständiges Gerichtsamt geschaffen. Seit jener Zeit besitzen wir ein ständiges Kollegium von Urteilsfmdern. Die Schöffen wurden zu gräflichen Beamton ernannt vom Gerichtsherrn unter Zustimmung der Gerichtsleute. Überall da, wo das gebotene Gericht nicht mehr als Vollgericht tagte (in Alamannien blieb z. B. bis ins späte Mittelalter hinein jedes Gericht ein Vollgericht aller Eingesessenen), trat dieser Ausschuß von Schöffen auf den Plan. Man kann sagen: I m g e b o t e n e n G e r i c h t f ä l l t e grundsätzlich nicht mehr das Volk, sondern das Schöffenkollegium d a s U r t e i l . Ein großer Schritt war getan zur Stärkung der königlichen Gewalt auf Kosten des Volkes. Denn die Schöffen richteten nicht kraft Genossenpflicht, sondern kraft Amtspflicht. Und wie der Graf, leiteten sie letzten Endes ihre Gewalt vom Könige ab. E i n e d r i t t e F o r m d e s G e r i c h t s s t e l l t e d a s N o t g e r i c h t d a r . Es wurde nicht vom Gerichtsherrn berufen, sondern von dem, der des Rechts bedurfte, also von der verletzten Partei, die rasch zu ihrem Rechte kommen mußte. Bei den Südgermanen war es beschränkt auf den Fall der „handhaften T a t " (darüber im Strafrecht das Nähere). Diese Tat durfte nicht „übernächtig" werden, d. h., ehe eine Nacht verging, mußte das Urteil gesprochen sein. Daher konnte man jede ehrenfeste Person zum Richter wählen, wenn der ordentliche Richter nicht an Ort und Stelle weilte. Das Notgericht war ausschließlich Kriminalgericht. Es trat nur zusammen, wenn eine Missetat im Spiele war. 3. Unsicher sprechen sich die fränkischen Quellen aus über die Zuständigkeit der beiden ordentlichen Gerichte. Welche Klagen gehörten vor das echte Ding, welche vor das gebotene Gericht ? Wer führte in dem einen, wer in dem anderen den Vorsitz ? M i r s c h e i n t , d a ß b i s i n s 9. J a h r h u n d e r t h i n e i n d i e K o m p e t e n z e n d e r b e i d e n G e r i c h t e n i c h t s c h a r f g e s c h i e d e n w a r e n . Der Graf hatte als oberster Richter in der Grafschaft den Vorsitz in beiden, überließ ihn aber, ganz nach seinem Gutdünken, dem Zentenar, dem Vorsteher der Hundertschaft. Da letzterer auch die Exekution der Urteile durchzuführen hatte, tauchte der Zentenar da und dort mit dem Namen „Schultheiß" auf (der Mann, der die Schuld zu leisten heißt). Nach der karolingischen Gerichtsreform beschränkte sich der Graf fast ausschließlich auf den Vorsitz im echten Ding, während der Zentenar das gebotene Gericht leitete. Man darf nicht vergessen, daß die Grafen inzwischen zu großen, bereits sehr selbständigen Herren aufgestiegen wapen. Noch ein Kapitulare von 818

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Zentenar.

bis 819 nennt aber den Comes als Vorsitzenden der minora placita. Wahrscheinlich lagen die Dinge so, daß zwar der Zentenar auch weiterhin das echte Ding zu leiten vermochte, daß die schweren Fälle (die causae maiores) vor ihm verhandelt, nicht aber durch ihn zur Entscheidung gebracht werden durften. F ü r Blutsaehen (vor allem Klagen auf Tod), Prozesse um die Freiheit eines Menschen und Grundstücksangelegenheiten, war zur endgültigen Entscheidung der Vorsitz des Grafen notwendig. Nun sind aber auch die kleineren Fälle (causa® minores oder leviores, vgl. Kapitulare von 801 bis 810) nicht so harmloser N a t u r gewesen, wie manche annehmen. Raub, Brandstiftung, einfache Tötung, Notzucht, Verwundung zählten z. B. in Alamannien nicht zu den todeswürdigen Verbrechen. Sie konnten m i t Geld (Bußen) gesühnt werden. Die Meinung h a t daher sehr viel f ü r sich, daß dem Zentenar mehr und mehr die gesamte Bußengerichtsbarkeit (die Fehdesachen) zugesprochen wurde, während dem Grafen zunächst alles vorbehalten blieb, was Friedlosigkeit und peinliche Strafe zur Folge hatte. Rückschlüsse aus späterer Zeit weisen auf diese Kompetenzscheidung hin und lassen den Zentenar als Inhaber dieser Sühnegerichtsbarkeit erkennen. Jedenfalls hat der von der früheren Forschung geprägte lapidare Satz heute keine Berechtigung mehr: Der Graf übt im echten Ding die hohe, der Zentenar im gebotenen Gericht die niedere Gerichtsbarkeit aus. Die Dinge waren verwickelter und die Kompetenzen flössen durcheinander. Unter allen Umständen ist zu sagen: Auch der Zentenar ist an der Hochgerichtsbarkeit beteiligt gewesen. 4. Mit dem Königtum ist oberste Richterstellung aufs engste verbunden. Als Wahrer des Rechts muß in einfach gearteten Staaten der König an der Spitze der Rechtsprechung stehen. Nicht nur das,germanische, vor allem auch das orientalische Recht geben Hunderte von Beispielen weiser königlicher Gerichtstätigkeit. I m fränkischen Reiche war die Einmischung in das Gerichtswesen für den König doppelt bedeutsam, da sie für ihn eines der Hauptmittel darstellte, um den Volkseinfluß zurückzudämmen. Es zeigte sich ja deutlich, daß der Kampf zwischen König und Volk großenteils auf diesem Gebiete ausgefochten wurde. Die königliche Gewalt machte schließlich derartige Fortschritte, daß im späteren Mittelalter als Quelle aller Gerichtsbarkeit nur noch der König galt. I n zwei wohldurchdachten Einrichtungen kam die königliche Gerichtsbarkeit unmittelbar zur Erscheinung: E i n m a l i m G e r i c h t d e r K ö n i g s b o t e n , i m m i s s a t i s c h e n G e r i c h t , das oben berührt wurde. Es stand als Königsgericht über dem Grafengericht, unterstützte es aber zugleich, so etwa, wenn der Graf zu schwach war, eine widerspenstige Partei zum Erscheinen zu zwingen. F e r n e r im K ö n i g s g e r i c h t , d a s der M o n a r c h selber a b h i e l t u n d in w e l c h e m e r n i c h t s e l t e n R i c h t e r u n d U r t e i l e r z u r g l e i c h e n Z e i t w a r . Dieses Königsgericht enthielt eine Reihe überaus wertvoller Keime, deren Früchte bis in unsere Zeit hineinreichen. Das Königsrecht war an das Volksrecht nicht gebunden. Der König b a u t e seine Rechtsprechimg auf den genialen Gedanken auf, der so schwer in alle volklichen Rechtsordnungen Eingang fand, auf die Billigkeit, die aequitas. Das Volksrecht war starres Recht, das fast keine Lücken offen ließ f ü r billige Behandlung im Einzelfalle. Der objektive Erfolg, wie er vor Augen lag, war regelmäßig entscheidend. Der König setzte sich in seiner Rechtsprechung eine breitere Aufgabe.

Strafrecht.

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Er sah, daß unter Umständen Recht zu Unrecht werden könne bei starrer Anwendung der Norm. So g e s t a l t e t e er a u s e i g e n e r M a c h t f ü l l e s e i n G e r i c h t in ein Billigkeitsgericht um und b r a c h t e d a m i t eines der l e b e n s v o l l s t e n E l e m e n t e i m R e c h t z u r G e l t u n g . In allen Fällen, in denen eine Untreue gegen König und Staat vorlag, eine infidelitas, vermochte sich der Monarch überhaupt nicht an das Volksrecht zu halten, weil es darüber keine Normen enthielt. In solchen Fällen lag die freie Beurteilung beim König „secundum nostram voluntatem et postetatem" (9. Jahrhundert). Der König richtete nach Gnade. Dem Herrscher allein stand das Begnadigungsrecht zu. D a s K ö n i g s g e r i c h t w u r d e z u m B e r u f u n g s g e r i c h t . Vom Grafengericht konnten gewisse Urteile an das Königsgericht gezogen werden. Die Idee des Rechtszuges machte sich geltend. Die Autorität des Königs allein vermochte diesem Gedanken Nachdruck zu verleihen; denn im übrigen war eine Berufung ausgeschlossen. D e r K ö n i g l e g t e s i c h e i n e I n q u i s i t i o r i s g e w a l t bei. Von Amts wegen konnten Leute vors Königsgericht geladen und zu wahrheitsgetreuer Aussage verpflichtet werden. Durch promissorischen Eid wurden sie gebunden. Ihre Aussagen, die man besonders in Streitigkeiten um Grundbesitz und Freiheit forderte, waren insofern voll beweiskräftig, als sie von den Parteien nicht angefochten werden durften. Hie und da verlieh der König dieses Inquisitionsrecht an Dritte, falls sie Prozesse führten, namentlich an Kirchen und Klöster. 5. Auch in die Gerichtsverfassung zogen lehnrechtliche Vorstellungen ein. Für den Richter, den Grafen, bedeutete der Eintritt in das Benefizialwesen eine mächtige Hebung seiner Stellung. Denn nur durch das Mittel des Benefiziums konnte ihm gelingen, was er erstrebte: die Vererbung des Richteramtes in der Familie. Im Jahre 877 galt es schon als Regel, daß die Grafschaft auf den Sohn überging. Der Graf seinerseits verstrickte nicht selten seinen Unterrichter in ein Lehnsverhältnis. Der Zentenar wurde gräflicher Vassall und bahnte damit ebenfalls eine erbliche Festigung des Amtes an. I m ü b r i g e n a b e r l ä ß t s i c h n i c h t sagen, d a ß das G e r i c h t s w e s e n in f r ä n k i s c h e r Zeit f e u d a l i s i e r t w o r d e n sei. Die Lehnsidee hat hier viel langsamere Fortschritte gemacht als im Heerwesen. § 17. Das Strafrecht. 1. Das Strafrecht der fränkischen Zeit ist auf eine neue Grundlage gestellt worden durch Königtum und Christentum. Die katholiche Kirche brachte die in ihrer Religion ruhende Friedensidee zur Geltung. Friede soll herrschen auf Erden! Denn nur im friedlichen Zusammenleben der Menschen kommen die heilsamsten Kräfte zur Auslösung: Milde, Güte, Nachsicht und die alles umspannende, alles bewegende christliche Liebe. Nur wer Gewalttat meidet, wer sich friedlich und hilfreich unter seinen Mitmenschen bewegt, hat Anspruch auf die Gnade Gottes. Dieser Friedensgedanke wird in das Recht hineingetragen und prägt sich noch stärker aus als in germanischer Zeit: D i e R e c h t s o r d n u n g w i r d im v o l l e n S i n n des W o r t e s z u r F r i e d e n s o r d n u n g . Oberstes Ziel der Rechtsordnung Tyird die Aufrechterhaltung des Friedens in Staat und Volk. Ja, die ganze Christenheit soll eine Herde des Friedens bilden.

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Friedensordnung.

Mit Energie bemächtigte sich das Königtum dieser Grundsätze. Hatte es doch selbst als Befestiger der Staatsidee das größte Interesse, einen Gemeinfrieden auszubilden. Es spannte über das ganze Land einen Frieden aus, der bald m e h r als gemeiner Volksfriede, bald mehr als eigentlicher Königsfriede auftritt. I n Schwaben und Bayern treffen wir einen Herzogsfrieden an. Die germanischen Sonderfrieden mögen vielfach als Vorbild gedient haben. Aber der Idee, dem Grundgehalte nach, war der Friede, der sich über den fränkischen Staat legte, christlicher Natur. Gott selbst t r a t als oberster Friedensbewahrer auf und u n t e r ihm der fränkische König. „ P a x und diseiplina sollen im Lande herrschen", s a g t das Edikt Chlotars von 614. Und im Pactus pro tenore pacis befiehlt der Frankenkönig Chlotar: „Und was wir im Namen Gottes zur Aufrichtung des Friedens angeordnet haben, soll dauernd beobachtet werden, indem wir feststellen: welcher von den Richtern dieses Dekret zu verletzen wagt, den soll die Todesstrafo troffen." Das Grundgesetz dieser neuen christlichen Friedensordnung l a u t e t e : Jeder Volksgenosse steht im Frieden und ist dem anderen zur Friedensbewahrung verpflichtet (Kapitulare von 853, K a p . 4). Das Recht umgibt jeden mit seinem Schutze. Wer den Frieden bricht, verliert dessen Genuß. Der Friedensbrecher ist des Friedens nicht mehr würdig. D a die Rechtsordnung eine Friedensordnung ist, wird der Veräohter des Friedens aus dem Rechte ausgestoßen. E r fällt in die Acht. E r wird friedlos, exlex. Das Recht entzieht ihm seinen Schutz. E r ist wie ein Stück Vieh, dem Nachbarn auf Tod und Erbarmen preisgegeben. Einmal ausgetrieben aus dem Frieden, ist der Friedlose endgültig zum rechtlosen Manne geworden. Das ist das Grundgesetz der fränkischen Zeit, alsbald gemildert, vieler Veränderungen und Abspaltungen fähig, aber in seiner logischen K r a f t so großartig und gewaltig, daß es imstande war, ein neues Strafsystem hervorzurufen. 2. D i e F r i e d e n s b e w a h r u n g w i r d n u n S t a a t s s a c h e . D e r S t a a t a l s s o l c h e r m a c h t es s i c h z u r A u f g a b e , d e n F r i e d e n i m L a n d e z u e r h a l t e n u n d z u ' b e f e s t i g e n . Daher wirft er sksh grundsätzlich zum Rächer auf, wenn der Friede verletzt wird. Aber nur bei schweren Friedensbrücheu, namentlich b e i Delikten, welche die Gesamtheit oder deren Oberhaupt in ihrem Frieden stören oder den Täter als besonders gefährlichen Gesellen erscheinen lassen, greift er selbst strafend ein und entzieht dem Verbrecher seinen Frieden. Es gibt T a t e n , welche den Delinquenten sofort zum geächteten, friedlosen Manne machen, wie der Hochverrat, oder welche ihn erst aus dem Frieden setzen infolge Urteils, wie daa Nichterscheinen vor Gericht. Der Geächtete ist frei wie der Vogel im Walde. E r wird ein vargus, ein Wolf unter Wölfen. Jeder darf und soll ihn töten. Sein Weib wird zur Witwe, seine Kinder werden zu Waisen. Schon die merowingische Zeit kannte aber die sühnbare Acht. Der Missetäter konnte wieder in den Schutz der Rechtsordnung aufgenommen werden. F ü r e i n e A n z a h l s c h w e r e r D e l i k t e wird d a h e r der F r i e d e n s b r u c h zum A u s g a n g s p u n k t des S t r a f r e c h t s . Der Friedensirecher ist ein Volks- und Königsfeind (nobis et populo nostro inimicus) und, da der Staat unter dem Frieden des Christengottes steht, auch ein inimicus Dei. Die Strafe, die ihn trifft, ist peinlicher Art. Sie geht an Leib und Leben. Neben dem allgemeinen, das ganze Land umfassenden Frieden b e s t a n d e n S o n d e r f r i e d e n f o r t und neue, etwa Markt- und Straßenfrieden, bildeten sich aus. Wer sie brach, verfiel erhöhter Strafe.

Preisgabe.

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3. Noch das fränkische Recht kennt aber eine Fülle von Taten, die der Staat nicht von sich au3 ahndet. Er überläßt die Bestrafung der geschädigten Partei1. Auch diese Handlungen verletzten den Frieden. Aber sie machen ihrer Natur nach den Täter nicht zum Feind der Gesamtheit, sondern zum Feind des Geschädigten und dessen Magschaft. Dazu zählen die (nicht heimliche) Tötung eines Menschen, Verwundungen aller Art, Ehrenkränkungen, Frauenraub, in älterer Zeit wohl auch Brandstiftung. Der Staat gewährt dem Geschädigten die rächende Selbsthilfe. Er sieht nicht mehr wie früher nur von außen zu, wie die Parteien sich bekämpfen. Er sanktioniert das Racherecht. I n f r ä n k i s c h e r Z e i t i s t d a h e r die F e h d e d i e v o m S t a a t e g u t g e h e i ß e n e S e l b s t h i l f e . Die in d e r F e h d e g e ü b t e S c h ä d i g u n g des G e g n e r s i s t s t a a t l i c h a n e r k a n n t e S t r a f e . D a s i s t d e r g r o ß e U n t e r s c h i e d zur g e r m a n i s c h e n E p o c h e . Vom Friedensstandpunkt aus betrachtet, läßt sich wohl sagen: auch dieses Strafrecht erwächst aus Friedlosigkeit, indem der Schädiger der verletzten Partei gegenüber den Frieden einbüßt. Es entsteht der Zustand der relativen Friedlosigkeit. Rein konstruktiv gesehen, kann man daher behaupten: alle Strafen sind Abspaltungen der Friedlosigkeit. Aber historisch, dem Werdegang nach betrachtet, hat die Meinung durchaus recht, wenn sie erklärt, ein großer T e i l des S t r a f r e c h t s i s t e n t s t a n d e n a u s d e m F e h d e r e c h t . Die schädigende Tat gab das Recht auf Fehde (nicht dem Staate das Recht auf Ächtung), und, um den Austrag der Fehde zu vermeiden, gab man Wergeid und Buße erhöhte Bedeutung. Die w i c h t i g s t e n B u ß f ä l l e sind a u s F e h d e f ä l l e n g e b o r e n . Sie s i n d n i c h t A b k a u f der A c h t , s o n d e r n A b k a u f des F e h d e r e c h t s . Durch die Annahme der Sühne verzichtete der Gegner auf Rache. J e t z t t r i t t a u c h die E r s a t z i d e e viel s t ä r k e r in d e n V o r d e r g r u n d . Die Strafe soll Ersatz für zugefügten Schaden sein und zugleich soll sie dem Täter ein Leiden auferlegen zur Sühne. Mit aller Energie kämpfte der oberste Friedensbewahrer, der König, für Abschaffung der Fehde und für Einführung eines Sühnezwanges. Der Langobardenkönig Rothari sprach es ganz klar aus: „Er habe darum alle Wundbußen erhöht, damit die Langobarden eher zum Abstehen von der Fehde bewogen würden." Die Karolinger traten mit eigentlichen Fehdeverboten auf, versüchten die Sühne zu erzwingen und drängten auf Beseitigung des außergerichtlichen Sühneverfahrens. Auch die vielen Wafienbeschränkungen und Waffenverbot« verfolgten die gleiche Tendenz. Erreicht wurde das Ziel aber nicht. In' Hunderten von Fällen schritt der abergläubische, heroisch gestimmte Mensch zur Fehde, und die Tötung um Blutschuld, die Blutrache, ist das ganze Mittelalter hindurch nicht ausgestorben. Sehr g e r i n g e n E r f o l g h a t t e der S ü h n e z w a n g a u c h auf dem G e b i e t e der h a n d h a f t e n T a t , der H a n d t a t . Wurde ein Missetäter auf frischer Tat ertappt, so galt er als ein „vertaner Mann". Die offensichtliche T$t hatte ihn selbst gerichtet. Der ergriffene Ehebrecher z.B. durfte ohne weiteres ersehlagen werden und im angelsächsischen Recht hieß es: „Wenn man einen Menschen beim Diebstahl erschlägt, so liege dieser (tot) ohne Wergeid." A n s der F e h d e i s t a u c h d i e P r e i s g a b e a b z u l e i t e n . Die germanische Sippehaftung hatte sich erhalten, aber die Magschaft vermochte den Verbrecher, für den sie nicht einstehen wollte, aus ihrem Verbände auszuschließen. Sie sagte sich von ihm los oder überlieferte ihn dem Feinde. Ein angelsächsisches Gesetz

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Missetat.

bestimmte, die Sippe bleibe dann von der Fehcjp frei, wenn sie dem Täter weder Speise noch Schutz gewähre. Solche Fälle, in denen die Magschaft zur Preisgabe schritt, waren etwa Mord, Ehebruch, Frauenraub und schwere Verletzungen des Körpers. F ü r das Wergeid hatte dann die Magschaft nicht aufzukommen. Der Täter fiel in Strafknechtschaft. Der Strafknecht ersetzte die Arbeitskraft des Toten. 4. Das Strafrecht aller einfachen Staaten sieht auf den Erfolg. Die äußerlich wahrnehmbare, sichtbare und hörbare Veränderung in der Außenwelt, die durch die Tat hervorgerufen wurde, ist zunächst entscheidend für die Bewertung der verbrecherischen Handlung. E s h a t e i n e s R i n g e n s v o n J a h r h u n d e r t e n b e d u r f t , u m d a s M o m e n t d e r b ö s e n A b s i c h t im S t r a f r e c h t r i c h t i g zy b e w e r t e n . Das allmähliche Herauswachsen des Schuldbegrifles ist eine der interessantesten Erscheinungen in jeder Strafrechtsgeschichte. Denn es bedeutet stets eine höhere Stufe der Entwicklung, wenn das Willensmoment, die Absicht, anfängt, ausschlaggebend zu werden. Das Strafrecht mit bloßer Erfolgshaftung schafft nach unserer Auffassung menschenunwürdige Zustände. Im fränkischen Reich vermögen wir den Kampf um die Verinnerlichung des Strafrechts ziemlich deutlich wahrzunehmen. So berücksichtigte z. B. das alte Volksrecht der salischen Franken (um 510) bereits den bösen Willen beim Täter. Es stellte vorsätzliche Handlungen in Gegensatz zur absichtslosen Missetat (Titel 65). Auch in anderen Rechten wird der Irrtum berücksichtigt. So ist etwa die Einrede erlaubt, der Täter habe nicht gewußt, daß er einen Menschen tötete (nescius hominem occiderit). Die Feststellung des Irrtums zieht kriminalistisch die Unschuld nach sich. I m Gegensatz zu dieser fortschrittlichen Auffassung steht z. B. das Volksrecht der ribuarischen Franken. Dort ist noch die Bewertung nach dem äußeren Erfolge allein maßgebend. D e r Sieg aber war dem verfeinerten Strafrecht beschieden, mächtig gefördert durch die christliche Kirche. I m R e c h t e d e s k a r o l i n g i s c h e n R e i c h e s b r a c h s i c h d i e s a l i s c h e A u f f a s s u n g B a h n . Eine Reihe von Kapitularien scheidet deutlich zwischen der Tat, die in Absicht und die in Irrtum begangen. Ein Kapitulare von 803 bestimmt, nur der Mann, der mala volúntate gehandelt habe, müsse die ganze Buße zahlen. U m die absichtslose T a t , das U n g e f ä h r w e r k , als solches zu k e n n z e i c h n e n , s c h r e i b e n v i e l e R e c h t e d i e V e r k l a r u n g v o r . Bevor der Prozeß um die Tat anhob oder bevor überhaupt eine Klage eingebracht wurde, mußte der Täter kundbar machen, daß er zwar die Handlung begangen, jedoch im Irrtum gehandelt habe. Seine Absichtslosigkeit hatte er dann vielerorts durch einen sog. „Gefährdeeid" zu erhärten. Schädigte z. B. eines seiner Tiere einen Menschen, so mußte er unverzüglich schwören, daß er die Gefährlichkeit des Tieres nicht gekannt habe. Dann wurde er der -Fehde des Gegners nicht ausgesetzt. Namentlich bei Tötungen und Verwundungen in Notwehr tritt die Verklarung deutlich hervor. Wer einen Räuber erschlug und die T a t sofort kündbar machte, blieb straffrei. Im übrigen schieden sich absichtliche und irrtümliche Tat vielfach durch feststehende typische Merkmale. Aus äußerlich wahrnehmbaren Handlungen schloß man auf den verbrecherischen Willen. Wer z. B. eine Frauensperson ergriff, so daß sie schrie, galt als Notzüchtiger. Wer einen Menschen tötete, heimlich in der Nacht, und den Leichnam nachher verbarg, galt als Mörder. Dagegen wurde es als Ungefährwerk betrachtet, wenn etwa ein Mensch ums Leben kam beim Fällen

»

Strafen.

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eines Baumes oder beim Herabfallen von Waffen. Hier mußte nur Ersatz geleistet werden. Fehde und Buße fielen fort. Im Laufe der f r ä n k i s c h e n Periode nahm, die A n e r k e n n u n g von U n g e f ä h r w e r k e n d a u e r n d zu. Namentlich die so häufig vorkommenden Schädigungen durch Tiere wurden immer mehr dieser Gruppe zugesprochen. Zugleich verminderte sich die Schwere der Haftung. Andererseits zeigte das Straf, recht schon frühe darin einen tiefen sittlichen Untergrund als die „unerhörte T a t " , die Tat, die aus gemeiner, niederträchtiger Gesinnung entsprang, schwerer gebüßt werden mußte, als harmlosere Missetaten. Ein solcher Mann galt als „Entarteter'', als ein der Volksart fremder Mann. Ein prachtvoller Gedanke! 5. Als Strafen treten häufig Lebens- und Leibesstrafen auf. Man brachte den Verbrecher vom Leben zum Tode, etwa durch Steinigen, Henken, Ersticken im Wasser oder Köpfen. Oder man verstümmelte ihn am Körper durch Abschlagen von Gliedern, durch Blenden und anderes. Brutal war auf diesem Gebiete die Zeit, äußerst brutal. Aber ein Strafrecht, das von der Anschauung ausgeht, die Strafe müsse nicht nur Genugtuung verschaffen (Vergeltungsprinzip), sondern zugleich den Verbrecher und das ganze Volk von Missetaten abschrecken (Abschreckungsprinzip), wird immer grausam sein. Auch darf man die Furcht vor dem Toten, der mit der Wucht eines Dämon die Verfolgung und Bestrafung verlangt, nicht unterschätzen. Einen Delinquenten einzukerkern, zu füttern und zu bewachen, fiel den Franken kaum ein. An längere Inhaftierung dachte kein Mensch. Dazu hätten auch die Einrichtungen gefehlt, die Gefängnisse und die Möglichkeit sicherer Bewachung. Der sinnlichen A u f f a s s u n g vom R e c h t e n t s p r a c h e n die spiegelnden S t r a f e n : die Strafe sollte gleichsam das begangene Verbrechen den anderen "Menschen vor Augen führen wie in einem Spiegel. Darum hieb man dem Meineidigen die Schwurhand ab; darum wurde dem Gotteslästerer die Zunge ausgerissen, darum dem Falschmünzer ein Brandmal auf die Stirne gedrückt. — Selten traten auf: die Verknechtung einer Person (so daß der Mensch unfreier Schuldknecht wurde), sowie Ehrenstrafen. Auspeitschen, Schlagen mit Ruten und Knüppeln wurde fast ausschließlich gegen Sklaven angewandt. 6. Die neue Forschung"hat unseren Blick in das Wesen der öffentlichen Todesstrafe erheblich geschärft. Wir wissen jetzt, daß diese Strafen aufs engste verknüpft waren mit den mythologischen Vorstellungen der Völker. An ihrem sakralen Untergrunde kann nicht mehr gezweifelt werden. Götter- und Dämonenglauben, Zauber- und Tabuvorstellungen aller Art haben die Tötungsriten geschaffen. So war das Ertränken ursprünglich eine Hingabe an die Wasserdämonen, das Henken eine Opferung an den Windgott (Odin, Wodan), das Rädern eine Darbringung an den Sonnengott (das Rad war die Sonnenscheibe). Auch das Enthaupten scheint Kulthandlung gewesen zu sein: das H a u p t wird der Gottheit dargebracht, ähnlich dem Tiere, und daher häufig auf einem Pfahl emporgerichtet. Das Bestreichen des Täters mit Teer und das Aufkleben von Federn auf dem geteerten Kopfe, lassen bei der Steinigung das Opfertier deutlich erkennen. E s ist ein wunderbarer Beweis f ü r die Urkraft des Götter- und Dämonenglaubens, daß sich der sakrale Unterton dieser Strafen bis in das späte Mittelalter, ja zum Teil bis in die Neuzeit hinein erhalten hat. F e b r , Deutsche Rechtsgeschichte.

4. Aull.

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Prozeß.

Interessant ist es, zu beobachten, wie sich der Staat nun langsam dazu bequemt, von sich aus, ex officio, Todesstrafen anzuwenden. Das Unschädlichmachen des Täters im Wege der Verbannung verwendet er daher häufig an Stelle der Hinrichtung. 7. Im Gegensatz zu diesen Strafen standen die Vermögensstrafen. Von Wergeid und Buße war schon die Rede. Wurde eipe Partei dazu verurteilt, so hatte sie auch den Fredus zu entrichten. Wahrscheinlich bedeutet er ein Friedensgeld, das an den Staat bezahlt werden mußte für die Wiedererlangung des Friedens. S e h r h ä u f i g z u r A n w e n d u n g g e l a n g t e d i e V e r w a l t u n g s b u ß e , d e r sog. B a n n u s . Er war gesetzt auf Verletzung der Befehle des Königs und seiner Beamten. Erschien z. B. der Heerpflichtige nicht im Felde, so zahlte er eine Bannbuße von 60 Schillingen. Blieb einer im Gerichte aus, so traf ihn die Grafenbuße von 15 Schillingen. Dieses Bußsystem hat zur Kräftigung der königlichen Amtsgewalt außerordentlich viel beigetragen, und der König handhabte diese Bußgewalt mit Macht und Geschick. Auch mit Konfiskationen ging er vor. Er zog das Vermögen von Verbrechern ein und behielt es in seiner Hand oder lieferte es später den Erben aus. 8. D a s g e s a m t e S t r a f r e c h t d e r f r ä n k i s c h e n Z e i t w a r i n s o f e r n a u f eine p l u t o k r a t i s c h e G r u n d l a g e gestellt, als in der Regel jede S t r a f e , a u c h d i e T o d e s s t r a f e , a b g e k a u f t w e r d e n k o n n t e . Der Vermögliche war also besser gestellt als der Arme. Dabei ist nicht zu vergessen, daß auch der Reiche nicht immer imstande war, die Strafe mit Geld oder Geldeswert abzulösen. E r blieb auf die Hilfe seiner Magschaft angewiesen. Jedoch bestand für die Sippe nicht überall ein Zwang, einzuspringen. So haftete sie z. B. im salischen, nicht aber im ribuarischen Recht für das Wergeid eines Erschlagenen. Da dürfen wir annehmen, daß in Gegenden, in denen keine Haftung gegeben war, die Magschaft für ihr Mitglied nur eintrat, wenn sie dessen Handlungsweise billigte. In vielen Fällen fand also die gemeine Tat schließlich doch ihre peinliche Sühne. § 18. Der Rechtsgang, 1. Die fränkische Zeit ist getragen von der Grundanschauung, daß das Finden des Rechts ein Akt der Weisheit sei. Nur wer weise ist, vermag ein gerechtes Urteil zu fällen, d. h. ein Urteil, das dem Rechtsbewußtsein der Gemeinschaft entspricht. Das Urteil war nichts anderes als eine rechtsklärende Belehrung der streitenden Parteien. Es stellte einfach fest, wer im Kampfe um das Recht die Wahrheit oder den Irrtum auf seiner Seite hatte. Daraus ergaben sich: a) D i e V e r h a n d l u n g s m a x i m e , kraft deren der Prozeßbetrieb vollkommen den Parteien überlassen blieb. Der Prozeß war Parteikampf. Der Beweis wurde nicht dem Gericht erbracht, sondern dem Prozeßgegner. Glaubten die Parteien, durch außergerichtlichen Spruch zur Wahrheit zu gelangen, so stand ihnen auch dieser Weg offen. Ein solcher Spruch besaß die nämliche Kraft wie das Urteil eines staatlichen Richters. Auch fehlte dem volksrechtlichen Verfahren ein-Erecheinungszwang vor Gericht. Nicht durch amtliche Ladung, sondern nur durch Abschluß eines Ladungsvertrages konnte der Gegner rechtlich gebunden werden. Daher gab es keinen Prozeß gegen den Abwesenden, kein Versäumnisverfahren.

Gottesurteil.

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b) D a s Z u s a m m e n f a l l e n v o n Z i v i l - u n d S t r a f p r o z e ß . In einem bürgerlichen Streit oder in einer Kriminalsache Recht zu finden, konnte nach der Auffassung der Zeit einen qualitativen Unterschied nicht begründen. Denn wer in einer Sache, die wir heute eine bürgerliche nennen, seiner Verpflichtung nicht nachkam, setzte sich in strafbares Unrecht. Befriedigte ein Schuldner seinen Gläubiger nicht, so -galt dies als eine Verletzung seiner Persönlichkeit, die nach Strafe, nach Rache schrie. "" c) D i e s c h w a c h e S t e l l u n g d e s R i c h t e r s i m R e c h t s g a n g , Der Richter war Träger der Gerichtsgewalt und als solcher nur Verhandlungsleiter, Erhalter der Ordnung und Verkünder des Rechtsgebotes. Besonderer Rechtsweisheit bedurften ja nur die Männer, die im Prozesse das Recht finden mußten, die Urteiler. Weder dei germanische noch der fränkische Richter vermochte ein Leistungsurteil im heutigen Sinne zu fällen. E r verkündete, was von den weisen Leuten gefunden war und gebot den Parteien, einen Vertrag abzuschließen, des Inhalts, das Urteil erfüllen zu wollen (Urteilserfüllungsgelöbnis). Wer sich zum Abschluß nicht bequemte, galt als Recht sverweigerer und verfiel der Acht. d) D a s A n r u f e n d e r G o t t h e i t i m P r o z e ß . Das ganze Gerichtsverfahren stand in engster Beziehung zu sakralen Vorstellungen, wie f ü r die germanische Zeit bereits angeführt. In der fränkischen Epoche finden wir viele Dinge christianisiert. Aus dem unberechenbaren, launischen Heidengott ist ein Gott der Liebe und Wahrheit geworden, „ein gerechter und starker Richter, der gerecht und billig urteilt", wie ein Segensspruch aus dem 9. J a h r h u n d e r t sagt. Daher wurde das Gottesurteil in den Rechtsgang eingeführt. Zweikampf und Los wurden aus außergerichtlichen Orakeln zu eigentlichen Beweismitteln. Weitere Ordalien, wie die Wasserprobe, wie der Kesselfang und andere Feuerproben traten hinzu unter dem Einfluß orientalischer Vorstellungen. „Aus Liebe zum Vater und aus Vertrauen auf den Sieg der Wahrheit und der Gerechtigkeit" rief man Gott um seinen Beistand an, wenn Menschenweisheit aufhörte. Daher waren die Gottesurteile regelmäßig subsidiärer Natur. Man griff zu ihnen, wenn Zeugen und Eideshelfer fehlten oder wenn eine Partei der anderen die erhobene Schwurhand herunterriß, d. h. den Eid als unwahr schalt. Dann sollte Gott, dem nichts verborgen bleibt, durch ein Wunder entscheiden und dem Gerechten den Sieg mit der Waffe verleihen oder dessen Hand unversehrt aus dem wallenden Kessel befreien. — Auch die Ablegung des Eides und die strengen Formen des ganzen Verfahrens deuten auf sakrale Einschläge. So mußten Klage und Antwort in ganz bestimmter Wortfolge, vielleicht ursprünglich sogar rhythmisch, vorgebracht werden. e) D i e E i n r i c h t u n g d e r U r t e i l s s c h e l t e . Die unterliegende Partei, j a jeder im Gericht Anwesende, vermochte das gefundene Urteil als „unrichtiges Recht" zu schelten. Er warf darin dem Finder des Urteils (bewußten oder irrtümlichen) Mangel an Weisheit und Wahrheit vor. Einzig der Zweikampf zwischen Schelter und Gescholtenem, also das Anrufen höchster Weisheit und Wahrheit in Gott, besaß dann die Kraft, zu entscheiden. Siegte der Herausforderer, so galt seine Behauptung als erwiesen. Das Urteil mußte neu und besser gefunden werden. 2. Außer den Gottesurteilen, berufen den Eid des Beweisführers zu erhärten, waren Zeugen, Eineid und Eid mit Eideshelfem die hauptsächlichsten Beweismittel. Der Zeuge sagte aus über Tatsachen, die er gehört oder gesehen und auf 4»

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Eid.

die er besonders hingewiesen wurde (keine Zufallszeugen, wie später). Das Wissen aus eigener Wahrnehmung machte den Zeugen aus. Die Eideshelfer dagegen unterstützten den Eid des Beweisführers durch ihre Erklärung, man dürfe dessen Aussage trauen. Sie beschworen also nur die Ehrlichkeit des Mannes, keine auf eigene Wahrnehmung gegründete Beobachtung. Welch eine Welt tiefster sittlicher Vorstellungen t u t sich liier auf! Anfangs an das Geschlecht gekettet, durften die Eideshelfer in fränkischer Zeit auch aus fremden Leuten gewählt werden. Es gab Eide, die mit 72 Helfern geschworen werden mußten. Der Beweis mit Helfern überwog bei weitem den Beweis mit Zeugen. Daß aber der Zeugenbeweis des Klägers im fränkischen Prozesse gänzlich gefehlt habe, wie behauptet wurde, kann nicht angenommen werden. — Die Urkunde als Beweismittel t r a t hinzu. Sie Bpielte im Grundstücksprozeß die größte B.olle und war dem römischen Recht entlehnt. Das ganze Beweisrecht war insofern formeller Natur, als man annahm, durch die Erfüllung bestimmter Formen werde che materielle Rechtawalirheit ergründet. Daher war es ein Vorzug, zum Beweis zugelassen zu werden. Daher war der Beklagte grundsätzlich näher zum Beweise als der Kläger. Daher vermochte er sich in vielen Fällen durch einen Reinigungseid vom Klagevorwurf freizuschwören. Riß der Gegner dem Beweisführer die Schwurhand nicht herunter, so galt dessen Unschuld als erwiesen. 3. Der frankische König war darauf bedacht, einen immer stärkeren Einfluß auf den Rechtsgang zu bekommen. E r f ö r d e r t e i n e r s t e r L i n i e d i e G e w a l t d e s R i c h t e r s . Er schob neben der privaten Ladung eine richterliche Ladung ein und stellte bestimmte Ladungsfristen und Bußen für die ausbleibende Partei fest. Er richtete einen Sühnezwarig und ein energisches Versäumnisverfahren ein (Notitia des Königsgerichts von 868). Manches, was der Richter vordem nur auf Grund von Parteigelöbnissen durchzusetzen vermochte, konnte er jetzt k r a f t eigener Gewalt vornehmen. Er gewährte dem Richter eine erhöhte Anteilnahme im gesamten Vollstreckungsverfahren: die Pfandnahme der obsiegenden P a r t e i durfte nur noch mit Erlaubnis des Richters vor sich gehen. Es entstand neben der Privatpfändung die gerichtliche Pfändung, die schon die Lex Salica (Titel 51) kannte. Auch im Strafvollzug konkurrierte der Richter bereits neben dem obsiegenden Verletzten. L a n g s a m b i l d e t e s i c h e i n O f f i z i a l v e r f a h r e n h e r a u s . Noch galt f ü r alle Fehdesachen der Satz: Wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Die Klage zu erheben oder das erlittene Unrecht still zu tragen, blieb Sache des Verletzten. Eine solche Rechtslage war der zunehmenden Staatsgewalt nicht günstig. K a r l der Große bildete daher ein R ü g e v e r f a h r e n aus. Zuverlässige Leute in der Grafschaft wurden dahin vereidigt, dem Grafen oder Königsboten Anzeige von Verbrechen zu machen, die ihnen zu Ohren gekommen! Trat kein Kläger auf, so konnte die Verfolgung und Bestrafung mancher Delikte von Amts wegen unternommen werden. In der Rüge lagen äußerst bedeutsame Ansätze zur Ausbildung jder öffentlichen Strafe, Ansätze, die freilich in nachkarolingischsr Epoche zeitweise wieder verloren gegangen sind. Die Grundgedanken und die prozessualen Einrichtungen der fränkischen Epoche haben ein äußerst zähes Leben gefristet. Erst im 13. und 14. J a h r h u n d e r t

Rüge.

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machten sich große Verschiebungen geltend, ja, einzelne Institutionen sind erst mit Aufnahme des römisch-kanonischen Prozesses fortgefallen oder umgestaltet worden. Wie trefflich manche Prinzipien dem Volksbewußtsein angepaßt waren, beweist deren Wiedererweckung im 19. Jahrhundert. Manche Einrichtung des heutigen Rechtsganges geht zurück auf germanisch-fränkische Errungenschaften; man denke etwa an die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Rechtsganges. § 19. Das Recht und die Rechtsquellen. 1. Der fränkische Staat vermochte an der Anschauung vom Rechte nichts zu ändern. Noch waren Rechtsgesetz und Sittengesetz eins. Noch war alles positive Recht nach seinem Wesen nach auch vernünftiges Recht. Noch war die große Einheit gewahrt, welche alle Lebensäußerungen zu einem Ganzen vereinigte (§ 7). Die Rechtswelt erschien durchaus traditionalistisch gestaltet. Was die Tradition, die Überlieferung gebracht hatte, dünkte dem Menschen richtig und gut. D a s A l t e r s a n k t i o n i e r t e d a s R e c h t u n d ließ die F o r m e l e r s t e h e n : a l t e s R e c h t i s t g u t e s R e c h t . Daher die ungeheuere Schwierigkeit, neues Recht zu schaffen. Solch neues Recht vermochte sich nur durchzusetzen durch feines, langsames, dem Volke kaum erkennbares, organisches Weiterbilden alten Ilecfits oder durch plötzliche gesetzgeberische Eingriffe, die dann zunächst als Rechtsbruch erschienen, allmählich aber in die Rechtsvorstellungen der Gesamtheit einsickerten und so zum Rechte wurden. U n e n d l i c h v i e l n e u e s R e c h t i s t d u r c h R e c h t s b r u c h e r z e u g t w o r d e n . Die fränkische Königsgesetzgebung ist ohne Rechtsbrüche nicht denkbar. — Es gab nur e i n Recht der inneren Struktur nach, das Alle umfassende, gleichgeartete, dem Volksgeist gemäße Recht. Die Trennung in Privat- und Staatsrecht mußte dem fränkischen Zeitalter fremd bleiben. Auch die spätere S c h e i d u n g in e i n z e l n e R e c h t s k r e i s e blieb imbekannt. Es zeigte sich wohl eine Besser- wie eine Schlechterstellung einzelner Personenklassen. Denn welcher Staat vermöchte je eine volle Gleichheit seiner Glieder durchzuführen ? Aber seiner Natur nach hatte sich das Recht noch nicht gespülten. Noch trennte sich kein Stadtrecht vom Landrecht, kein Bauernrecht vom Adelsrecht. Das Lehnrecht war in den ersten Anfängen begriffen. Aber von einem Lehnsgericht etwa als besonderem Standesgericht erfahren wir nichts. In diesem Sinne war das fränkische Recht noch viel gleichmäßiger und viel gleichförmiger gestaltet als das Recht des späteren Mittelalters. D e r große Differenzierungsprozeß setzte erst ein mit der Scheidung in Stadt und Land; in Ritter und Bauer, in Dienstmann und Lehnsmann. Freilich, von anderer Seite gesehen, weist auch schon unsere Epoche scharfe Scheidungen auf. R e i c h s r e c h t u n d S t a m m e s r e c h t t r e t e n e i n a n d e r a l s z w e i R e c h t s w e l t e n g e g e n ü b e r , das Reichsrecht nach Einheit des fränkisdien Staates drängend und überwiegend aus dem Willen des Königs hervorgehend, das Stammesrecht die Eigenart der Völker bewahrend, aus der Volksseele herauswachsend. Noch war ein Hauptmoment, das der späteren Ordnung innewohnte, nur spärlich zur Entfaltung gelangt. Das Recht seßhafter, festgewachsener Völker hat zweifellös das Bestreben, sicl\ auf das Land niederzuschlagen. Das Recht will

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Personalitätsprinzip.

Territorialrecht werden. Nicht so in fränkischer Zeit, wo als Regel galt: Wer in ein Recht hineingeboren wird, der trägt dieses Recht mit sich herum, wohin ihn auch das Schicksal verschlägt. Man n e n n t dies d a s P e r s o n a l i t ä t s p r i n z i p . Dieses Prinzip war vorherrschend in fränkischer Zeit. Der Franke lebte nach fränkischem, der Bayer nach bayerischem Recht, mochte er in Sachsen oder in Thüringen weilen. Bischof Agobardo von Lyon hat einmal gesagt: „Es komme nicht selten vor, daß fünf Menschen zusammengehen oder zusammensitzen und keiner lebe nach dem gleichen Recht wie der andere." Die Geltung dieses Prinzipes ist ein Zeichen, wie ungeheuer stark die Idee der Abstammung in unseren Vorfahren lebte. Die Magschaft gab auch hier den Ausschlag. Man führte das Recht seines Geschlechtes, seines Stammes, mit sich. Bußen und Wergeid wurden z. B. bezahlt nach dem Heimatrecht des Verletzten. Auf den ersten Blick scheinen sich dabei große Verschiedenheiten ergeben zu haben, denn die Geldsätze der einzelnen Volksrechte weisen bedeutende Schwankungen auf. Sollte aber wirklich das Leben des ribuarischen Franken höher bewertet worden sein als etwa das des salischen ? Die Untersuchungen darüber sind schwierig. Aber die Wissenschaft neigt immer mehr dazu, die Denare, in denen Wergeid und Buße berechnet wurden, als verschieden groß anzunehmen, so daß letzten Endes die Strafsummen doch gleich oder ähnlich waren. Am w e n i g s t e n b e q u e m t e n sich die G r u n d s t ü c k e dem G e d a n k e n d e r P e r s ö n l i c h k e i t s r e c h t e an. Es hegt in dei Natur der Dinge (wie man zu sagen pflegt), ein Grundstück nach dem Rechte zu beurteilen, in dessen Stammgebiet es hegt. Wenn ein Alamanne von einem Friesen ein bayerisches Grundstück kaufte, so war es gegeben, bayerisches Recht, nicht alamannisches und nicht friesisches anzuwenden. Das Grundstück verlangt nach einem festen Recht, nach Landrecht. So ist denn in der Tat der Grundstücksverkehr für die Territorialisierung des Rechtes bedeutsam geworden. 2. Die einzelnen Stammesrechte wichen stark voneinander ab. Sind doch die deutschen Stämme in ihrer tiefsten Grundlage auch heute noch sehr verschieden! Aber selbst innerhalb der Stämme sind die Rechte bisweilen differenziert. So wurde z. B. deutlich erwiesen, daß salisches und ribuarisches Frankenrecht stark auseinanderfielen. Volkliche, geographische, wirtschaftliche und kulturelle Ursachen sind es gewesen, welche die Stämme in Recht und Sitte voneinander schieden. Religiöse Anschauungen, vor allem zurückgehend auf die niederen Erscheinungsformen dos heidnischen Glaubens, wie Hexenglauben, Tier- und PflanzenVerehrung, Furcht vor Toten und Dämonen und allerlei Art des Fetischismus, waren mitbestimmend. Von überragender Bedeutung waren a u c h die E i n w i r k u n g e n d e s r ö m i s c h e n R e c h t s . Einzelne südlich sitzende Stämme unterlagen dem Zauber römischer Kultur und damit römischen Rechts, wie etwa Burgunder und Westgoten, und die Gesetzgebung der Westgoten übte einen großen Einfluß auf die übrigen Stammesrechte aus. Aber, wie ich schon hervorhob, die Beeinflussung hat sich bei den meisten Stämmen wesentlich auf die technische Seite der Gesetzgebung beschränkt. Salisches Recht und sächsisches Recht z. B. sind ihrem Inhalte nach kaum vom römischen Rechte berührt worden. Und gerade diesen beiden Rechten war die größte Zukunft beschieden. Auch die katholische Kirche lebte nach römischem Rechte (secundum legem Romanam quam ecclesia vivit), und

Stammesrecht.

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von ihr ist natürlicherweise manche Norm in das weltliche Recht hinübergeflossen. Doch besteht von Anfang an die Tendenz, den weltlichen und geistlichen Rechtskreis voneinander zu scheiden. D.en tiefsten Einfluß auf das Stammesrecht übte das Volk selbst aus. Es bildete sein Recht organisch aus sich selbst heraus, so daß die S t a m m e s r e c h t e ü b e r w i e g e n d G e w o h n h e i t s r e c h t d a r s t e l l e n . Wo eine kräftige Herzogsgewalt entwickelt war, wie etwa in Alamannien, trat der Herzog als fortschrittlicher Rechtsbildner hervor, ergänzte durch Satzungen das Gewohnheitsrecht und drängte auf Zusammenfassung des vorhandenen Rechtsstoffes. J e mehr die Stämme an Zahl wuchsen, je schwieriger es wurde, das Volk in Landesversammlungen auf einem Platze zusammenzurufen, um so mehr ging die Gesetzgebung über an die Vornehmsten, an die großen politischen Führer, an die Optimatfen. I m 9. J a h r h u n d e r t w a r d i e V o l k s m a s s e als w i r k l i c h e r G e s e t z g e b e r f a s t v ö l l i g z u r ü c k g e t r e t e n . Stammestage und Reichstage, besucht von hohen weltlichen und geistlichen Würdenträgern, hatten das Gesetzgebungswerk an sich gerissen. 3. Neben dem Volke ist der König 3er stärkste rechtsbildende Faktor gewesen, vor allem nach vier Richtungen hin. a) Er griff in das S t a m m e s r e c h t ein, hauptsächlich auf dem Wege des Satzungsrechtes (der Kapitularien) und führte auf diese Weise das Stammesrecht einef neuen freieren Entwicklung entgegen. Die Volksrechte sind voll solcher eingestreuten Satzungen, b) Die Schaffung und Fortbildung des R e i c h s r e c h t s war sein Werk. Die meisten Reichsgesetze wuchsen aus der Initiative des Königs hervor, wenn auch Beratung und Beschlußfassung regelmäßig zusammen mit den Großen des Reiches auf den Reichstagen erfolgten. Das Königstum der fränkischen Zeit war nicht konservativer Natur. Im Gegenteil, es arbeitete unaufhörlich daran, das Recht im Sinne des Zentralgedankens zu stärken. Der König war Franke, wahrscheinlich Salier, und auch die politischen Führer, wie Bischöfe, Grafen und Königsboten gehörten vermutlich in der Mehrzahl dem salischen Stamme an. Daher ist die starke Beeinflussung des Reichsrechtes durch das saEsche Recht leicht verständlich, c) Der König wirkte ein durch sein V e r o r d n u n g s r e c h t , durch den B a n n (bannus). Das Verwaltungsrecht, wiewohl im ganzen wenig ausgebildet, ist grundsätzlich auf die Banngewalt aufgebaut. Hier hatte der König freien Spielraum. Hier war er weder an die Zustimmung des Volkes, noch an die Zustimmung der Großen gebunden. Hier konnte er besonders einflußreich wirken, und deshalb setzte er auf Verletzung der königlichen Gebote die Buße von 60 Schillingen. Der schwerwiegende Fehler des Königtums bestand nur darin, das sei noch einmal betont, daß es seine umsichtigen Verordnungen nicht von einer geschulten Beamtenschaft vollziehen ließ. Ohne einen derartigen Beamtenorganismus vermag sich kein Reich wie das fränkische auf die Dauer zu erhalten, d) D a s K ö n i g s g e r i c h t erwies sich als wichtige Einrichtung für die Fortbildung des Rechtes, wie dies gezeigt worden ist. Als der König sah, daß manche Rechte begannen, in Vergessenheit zu geraten (weil Volk und Recht nicht mehr so innig zusammenlebten wie früher), gebot er die Aufzeichnung der Normen. Karl der Große steht auch hierin als Vorbild da. Eine Reihe von Volksrechten, so z. B . das der chamavischen Franken,

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VolKsrechte.

oder die lex Saxonum, verdanken ihm ihre Festsetzung. Auch schärfte der König den Richtern ein, das geltende Recht wirklich anzuwenden und im Gericht ein Gesetzbuch zur Stelle zu haben. 4. E i n e H a u p t q u e l l e f ü r d i e E r k e n n t n i s d e s R e c h t e s s t e l l e n d i e V o l k s r e c h t e d a r . Man nennt sie ungenau: leges Barbarorum; denn sie sind in ihrer großen Masse keine leges, kein Gesetzesrecht, sondern Gewohnheitsrecht. I n Form wie Inhalt, in Aufbau wie Fassung, in Sprache wie Geist sehr verschieden, weisen sie doch zahlreiche gemeinsame Grundgedanken auf. Sie stellen keine systematischen Werke dar wie unsere heutigen Gesetzbücher. Wir suchen in den meisten vergeblich nach logischen, einheitlichen Prinzipien, nach denen die Normen gegliedert wären. (Ansätze etwa in der lex Alamannorum und im Edictus Rotari. ) Was der Einzelfall gerade bot, wurde behandelt und aufgezeichnet. Und vom Einzelfall wurden andere mögliche Fälle abgeleitet. Daher sind sie unvollständig und kasuistisch. Die Sprache ist lateinisch, vermischt mit Ausdrücken ihrer Stammesart. Das ist ein tragisches Moment; denn niemals kann sich der Rechtsgeist eines Volkes in einer fremdeil Sprache vollkommen auswirken. In den Gesetzen deutschen Geistes wiegen Strafrecht und Prozeßrecht -vor. Sehr ausgedehnt sind die Bußen-Kataloge. Familien- und Erbrecht kommen an zweiter Stelle. Schuld- und Sachenrecht, sowie Materien staatlicher und wirtschaftlicher Natur sind eingestreut. Bisweilen werden Einzelgebiete, wie etwa das Jagdrecht, sehr breit gezeichnet. Die älteste Fassung, der Pactus legis Salicae, geht wahrscheinlich auf den Reichsgründer Chlodwig I. selbst zurück und ist in die Zeit zwischen 507 und 511 zu setzen. Karl Martell schuf dann eine Neuausgabe des Gesetzes, die „Lex Salica", wohl zwischen 714 und 717, und dièses Volksrecht darf als das wichtigste und aufschlußreichste angesprochen werden. Karl der Große ließ es nochmals sprach lieh überarbeiten. Sein Rechtsgehalt ist von echt germanischem Geiste erfüllt und kräftig geformt. Formelhafte Worte, wahrscheinlich altfränkischer Herkunft, die sog. Malbergische Glosse, sind eingestreut. Die Urfassung weist noch keine christlichen Einflüsse auf. Der Lex sind Prologe und Epiloge beigegeben und wichtige Kapitularien treten ergänzend hinzu. Die an das salische Recht sich anlehnende Lex Ribuaria ist mehr als ein Gesetzbuch, denn als ein Volksrecht anzusprechen. Sie stammt vermutlich aus der Zeit Dagobert I. (gest. 639) und wurde erlassen für die riburische Landschaft. In diesem Sinne ist sie Landschaftsrecht, nicht Stammesrecht. Unter K a r l dem Großen erfuhr sie eine Überarbeitung. Ein trefFHches Kapitulare wurde ihr 803 beigegeben. Auch der kleine Stamm der chamavischen Franken am Niederrhein und Issel schuf sich seine eigene Kodifikation: die E w a ( = R e c h t ) Chamavorum, um 803 aufgèzeichnet. Ungefähr in nämlicher Zeit sind entstanden das Stammesrecht der Sachsen, d i e l e x S a x o n u m (wahrscheinlich eine Satzung des Reichstages von 802, stark beeinflußt vom ribuarischen Volksrecht), das der Angeln und Warnen in Thüringen, die l e x A n g l i o r u m e t W e r i n o r u m (wohl auch um 802 und 803), sowie wahrscheinlich die Zusammenfassung älteren und neueren friesischen Rechts, die sog. l e x F r i s i o n u m (eine sehr ungleichmäßige Kompilation, in der neben christlichem Recht noch heidnische Rechtsbräuche stecken). N

Volksrechte.

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Aus der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts stammt der P a c t u s A l a m a n n o r u m , der Rotharis Edikt benützte, während d i e l e x d e r g l e i c h e n V o l k s s t a m m e s ( l e x A l a m a n n o r u m ) unter dem Einfluß des Herzogs Lantfrid I . zustande kam (zwischen 717 und 720). Nach ihm wird sie auch Lantfridana gen a n n t . Das bayerische Volksrecht, die lex Bajuvariorum, f u ß t auf dem eurizianischen Rechte und weist enge Verwandtschaft mit der lex Alamannorum auf. Auch diese Lex gehört dem achten Jahrhundert an (wohl zwischen 743 und 748) und es ist möglich, daß sie eine gleiche Vorlage wie das alamannische Volksrecht benutzte. Aufgezeichnet wurde sie wohl unter Karl Martells Sohn, Pipin. Am begabtesten für Gesetzgebung erwiesen sich die Langobarden. Mit dem E d i k t i h r e s K ö n i g s R o t h u r i (643) beginnen sie einen wahren gesetzgeberischen Triumplirug. Das Edikt, ausgebaut und fortgeführt durch eine einsichtsvolle freisinnige Gesetzgebung (vgl. vor allem die Gesetzgebung Liutprands), ergänzt durch frankisches Recht und weiter ausgestaltet und durchgebildet durch treffliche Bearbeiter, schafft sich eine eigentlich langobardische Jimsprudenz. Pavia bildet den Mittelpunkt. Dort wird der L i b e r l e g i s L a n g o b a r d o r u m oder L i b c r P a p i e n s i s geboren und aus ihm wachst mit Hilfe römischer Kommentierungen und unter Einfügung einer feinen Systematik das glänzende Werk der L o m b a r d a heraus (vor 1100). 5. Das älteste Denkmal unserer Epoche ist der westgotische C o d e x E u r i c i a n u s um 475. Man darf ihn aber nicht das älteste Denkmal deutschen Geistes nennen; denn der römische Einfluß tritt bei ihm so stark hervor, daß er vielfach die deutschen Rechtsgedanken in den Hintergrund schiebt. Trotzdem wirkte der Kodex auf andere Volksrechte ein, wenig auf das salische; energischer auf d a s burgundische, langobardische und bayerische Recht. Die Westgoten entwickelten eine rege Tätigkeit. Der Kodex Rurichs wurde, immer im romanistischen Sinne, weitergebildet, und auf ihm f u ß t die bedeutendste Schöpfung, die l e x V i s i g o t o r u m R e c c e s s v i p d i a n a , die f ü r Goten und Römer gemeinsam galt (um 654). Die spätere Rechtsbildung verflachte vollständig; sie ist ein Bastard römischer und germanischer Anschauungen. Nur für die Römer im Westgotenreich ist noch ein gutes Gesetz zu verzeichnen: das Breviarium Alaricianum oder die l e x R o m a n a V i s i g o t o r u m von Alarich II., 506. Bedeutsamer f ü r die Erkenntnis deutschen Rechtes sind die s p a n i s c h e n F u e r o s . Sie enthalten viel reines gotisches Gewohnheitsrecht u n d . s i n d augenblicklich Gegenstand eifriger Untersuchung. A u c h ' die ostgotische Gesetzgebung stand unter römischem Einfluß. D a s E d i c t u m T h e o d o r i c i (vor 508) ist sogar nichts anderes als eine Wiedergabe vorjustinianischer römischer Normen, während im Volke selbst viel ostgotisches Gewohnheitsrecht erhalten blieb. Der erfolgreiche König der Burgunder, Gundobad, und der König Sigismund gaben im letzten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts ihrem Volke die ausgezeichnete Lex Burgundionum, auch Gundobada genannt., (Neufassimg um 517/18.) Die Lex ist eine Sammlung von Königssatzungen, gefestigt durch die Zustimmung vieler Grafen. Sie enthält viel altes burgundisches Gewohnheitsrecht und eine Reihe von Normen, die dem Gesetzbuch des westgotischen Königs Eurich entnommen sind. Zahlreiche Novellen (sog. Extravagantes) wurden angefügt. Die

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Urkunden.

im Burgunderreich lebende römische Bevölkerung wurde nicht unter die Gundobada gebeugt, vielmehr erließ der König für sie ein eigenes Gesetz: die Lex Romana Burgundionum. I n Kurrätien entstand vermutlich um 750 die L e x R o m a n a C u r i e n s i s , gegründet auf die L e x R o m a n a V i s i g o t o r u m , eine gute Erkenntnisquelle für das römische Vulgarrecht. Wahrscheinlich sind die C a p i t u l a R e m e d i i (12 Rechtsaufzeichnungen des Bischofs Remedius von Chur) eine Novelle zur Churcr Lex. • Wertvoll für das Studium des deutschen Rechts im weitesten Sinne sind die a n g e l s ä c h s i s c h e n V o l k s r e c h t e , zunächst als Einzelrechte, dann etwa seit dem 10. Jahrhundert als Rechte für das ganze angelsächsische Reich hervortretend. Ebenso die R e c h t s d e n k m ä l e r d e r N o r d g e r m a n e n (Dänemark, Schweden, Gotland, Norwegen und Island), die nicht vor dem 12. J a h r h u n d e r t einsetzen, aber viele reine germanische Rechtsideen bewahren. 6. Die K a p i t u l a r i e n (Name von der Einteilung in capitula), von denen im vorhergehenden so oft die Rede war, enthalten königliche Satzungen, die das Volksrecht ergänzen (Capitularía legibus addenda) oder selbständig neues Recht in Reich oder Stamm schaffen (Capitularía per se scribenda) oder königliche Befehle an die Königsboten einschließen (Capitularía missorum). Die F o r m e l n (formulae) sind Vorlagen f ü r die Abfassung von Urkunden, etwa f ü r Kaufgeschäfte odei Eheverträge. Da das Rechtsgeschäft meist in strenge Formen gekleidet war, gaben die Formeln die notwendigen Anweisungen f ü r die Erfüllung dieser Formen. Formeln und Kapitularien wurden schon in fränkischer Zeit in Sammlungen zusammengefaßt. Endlich die U r k u n d e n . Hier zeigt sich das Überragende der römischen Technik in der deutschen Kultur. Das fränkische Urkundenwesen geht vollständig auf römisches Vorbild zurück. Haupteinteilung ist: die Königsurkunde, die unanfechtbar war und keiner Zeugen bedurfte (diploma), und die Privaturkunde, welche in zwei Klassen zerfiel. Die eine Klasse diente nur Beweiszwecken (die notitia). Ein Graf übertrug z. B. ein Grundstück an die Kirche. Der äußere Vorgang, wie die Eigentumsverschiebung, wurde genau in der Urkunde beschrieben, um ein Beweismittel an der Hand zu haben, falls sich später Streit erheben sollte. I m Gegensatz dazu stand die carta, die ebenfalls zum Beweise verwendet werden konnte, die aber daneben eine besondere K r a f t besaß, indem vor ihrer Abfassung das Rechtsgeschäft als solches nicht bestand. Sie gehört zu den rechtschafienden oder konstitutiven Urkunden. Mit dem Niedergang der karolingischen Kultur zerfiel, wie so vieles andere auch, das fränkische Urkundenwesen. 7. Die Rechtssprache der- fränkischen Zeit zeigt gewaltige Unterschiede. Bald ist sie rein sachlich, ledern und fade, bald saftig, bildreich und von dichterischem Schwung getragen. Manche Bestimmungen, wie der berühmte Titel 58 der lex Salica, weisen geradezu dramatische Prägung auf. Die schönsten poetischen Formungen finden sich bei den Friesen. Die Vermutung, die noch Jakob Grimm ausgesprochen hatte, ist heute aufgegeben, einstens sei a l l e s Recht von Rhythmus und Poesie getragen gewesen.

Stämme.

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III. A b s c h n i t t .

Die Kaiserzeit (von 900-1250). § 20. Das Deutsch« Reich. Königtum und Kaisertum. 1. Der Chronist Neitharcf berichtet zum Jahre 842: in Straßburg kamen Ludwig und Karl zusammen, und den Eid, den sie schwuren, legte Ludwig in französischer (lingua romana), Karl in deutscher Sprache (lingua teudisca) ab. Die Scheidung war vollzogen: die allgewaltige Kraft der Sprache war zum staatentrennenden Moment geworden. Begreiflich; denn die Sprache ist ja im Grunde nichts anderes, als der äußere, sinnliche Ausdruck der eigenartigen Geistesrichtung eines Volkes. So löste sich das fränkische Reich auf in die Gebietshälfte des romanischen und des germanischen Typus, und das Mittelreich Lothars, mit einer Mischbevölkerung, war von Anfang an zu einem Bastardstaat geboren. Gewiß haben in dem grundlegenden Vertrag von Verdun (843) auch politische und geographische Gewalten eine Rolle gespielt. Aber sie blieben gegenüber der sprachlichen, der volkliehen Seite, nur von untergeordneter Bedeutung. Der Vertrag von Mersen (870) brachte die Aufteilung des Mittelreiches und bedeutete für die deutsche Hälfte eine wesentliche Bereicherung. Der größte Teil von Friesland, ein Stück von Burgund, die Sitze von Aachen, Köln, Trier, Metz, Straßburg und Basel fielen dem Osten zu. Die großen Kulturstaaten am Rhein wurden für Deutschland gewonnen. Ein Zuwachs von ungeheurer Bedeutung! Der erste deutsche König, Konrad von Franken, in ferner Verwandtschaft zu den Karolingern stehend, und von seinen Stammesgenossen sowie von Bayern, Sachsen und Schwaben zum Herrscher gewählt (911), sah sich einem äußerst lose gefügten Staatsgebilde gegenüber. Zwar kann man dem Deutschen Reiche von Anfang an den Charakter eines Staates nicht absprechen. Zwar erwies sich die königliche Gewalt bis zum Ende des 12. Jahrhunderts als dauernd im Steigen begriffen. Und dennoch lag das politische, wirtschaftliche und volkliche Schwergewicht durchaus in den deutschen Stämmen. Unter diesem tragischen Zwiespalt ist das Deutsche Reich geboren worden. Die Völker sahen sich damals geeinigt in den großen Stammesgeschlechtern, denen sie willig folgten, weil sie ihnen den Weg der Eigenart wiesen. Dem König war die ganze innere Politik vorgezeichnet: stellte er sich mit den Stammesoberhäuptern gut, so hatte er die Edeln, ja das ganze Stammesvolk" hinter sich. Der König vermochte Reichspolitik nur durch das Medium der Stammespolitik zu treiben. A u s s c h l a g g e b e n d b l i e b e n d i e v i e r g r o ß e n S t ä m m e der F r a n k e n , S c h w a b e n , S a c h s e n u n d B a y e r n . Lothringen, erst 925 dauernd dem Reiche eingegliedert, blieb im zweiten Treffen. Nach Oberlothringen kam der König fast nie, und wir haben keine sicheren Zeugnisse dafür, daß jemals königliche Hoftage für ganz Lothringen stattfanden. Besonders stark treten Franken und Sachsen, die Königsstämme, hervor, Franken, das alte reiche Kulturland mit seiner beweglichen, begabten, feinsinnigen Bevölkerungsschicht, Sachsen mit seinem rücksichtslosen, urkräftigen, mit kolonisatorischem Sinne so reich aus-

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Königsgewalt.

gestatteten Typus. Mir scheint es nicht übertrieben zu sein, das Reich zu gewissen Zeiten ein verlängertes Franken, zu anderen Zeiten ein verlängertes Sachsen zu nennen. Es ist kein Wunder, daß gerade diese Stämme auch auf dem Gebiet der Rechtsbildung voranschritten, so daß man später das Reich in eine t e r r a iuris franconici un5 in eine terra juris saxonici zergliederte. Zur Fortbildung der Stammesidee trug wesentlich bei die Selbstverteidigung, die Stämme blieben im ganzen auf sich selbst gestellt, wenn äußere Feinde drohten. So hatten sich die Bayern gegen die Böhmen, die Sachsen gegen die Slaven, d i e Lothringer gegen die Normannen kriegerisch zu wehren. Auch fehlte es d e m König an einer Reichslegitimität, wenn dies zu sagen erlaubt ist. Der König ging aus den Großen eines Stammes hervor, besaß daher an und für sich mir Stammes anspräche. E r mußte sich, im Gegensatz zu Frankreich, die Ansprüche auf d a s Gesamtreich erst erringen, verdienen durch gute Führung und durch glückliche Kämpfe. Mit diesem Mangel an Legitimität hing der Wechsel der Dynastien zusammen, der auf das Ganze so hemmend wirkte. Die Geschichte der Kaiserzeit läßt erkennen, wie schwer durch eine Legitimität kraft Blut, kraft Geschlecht, zu ersetzen war durch feine Legitimität kraft Wahl. Daher haben die Wahlen v o n Anfang an die Natur von ausgleichenden Vereinbarungen getragen. Konrad I. wurde gewählt durch einen Kompromiß von Franken und Bayern, Heinrich I . durch einen solchen von Franken und Sachsen. Man darf nie vergesset}, daß nach germanischer Auffassung die Königsgewalt an einem Geschlecht, nicht an einer Person haftete, so daß seine Mitglieder als „königsmäßige Leute" galten. U n d m a n hat daher betont, daß die französischen Forderungen auf Lothringen und den Rhein in letzter Linie „auf dem Geblütsrecht der Karolinger beruhten, das den Anspruch auf das Reich Karls des Großen in sich schloß". Mit dem Stammesprinzip hängt es auch zusammen, daß der König rechtlich stets einem bestimmten Stamme zugeschrieben wurde, nämlich dem fränkischen. Wie die Kirche nach "römischem, so lebte der deutsche König nach fränkischem Rechte. E s g a b k e i n R e i c h s r e c h t , d a s f ü r d i e P e r s o n d e s K ö n i g s b e s t i m m e n d ' g e w e s e n w ä r e . ' M i t der Wahl" zog der König in das fränkische Recht ein, „von welker bord (Geburt) daz her si", sagt der Sachsenspiegel (III. 54). Königliche Gewalt im vollen Sinne übte erst Heimich I. aus, der Städtegründer, richtiger der Burgenbauer. Unter ihm schwanden die letzten Spuren jener Auffassung, welche im Reiche ein Teilreich sah, ein staatliches Gebiet, d a s durch Erbfolge in mehrere Teilgebiete zerrissen werden könne. Nach dieser Richtimg siegte der Einheitsgedanke und hielt sich stark und fest bis zum Untergang des Reiches. Das war ein ungeheurer Gewinn. Das war der Hauptvorzug, den das Reich dem alten Karolingerreich voraushatte. H ä t t e das Reich das Teilungsprinzip des fränkischen Staates aufgenommen, so würde es nimmermehr d a s J a h r 1806 erlebt haben. 2. Zweimal ist vom Königtum der Versuch gemacht worden, den Stammes gedanken zu zerstören. Zweimal ist mit groß gedachten und groß gewählten Mitteln ein Anlauf genommen worden, aus dem lockeren Stammesreiche eine festgefügte Monarchie mit einflußreicher Herrschergewalt zu schaffen. Zweimal h a t der deutsche König gigantisch, aber unpolitisch gehandelt. Zweimal wurde die monarchische Idee zu ihrem eigenen Schaden überspannt.

Stammesidee.

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Dell ersten Versuch unternahm das Königtum mit den deutschen Bischöfen und Äbten. Die katholische Kirche, aufgebaut auf den Episkopat) stellte eine wuchtige, im Papsttum gekrönte Einheit dar. U m das J a h r 900 gab es in Deutschland fünf Erzbistümer (Mainz, Trier, Köln, Hamburg-Bremen und Salzburg), etwa 30. Bistümer und über 300 Klöster. Welch eine Macht wirtschaftlicher und politischer Art, welch eine geistige Einwirkung auf die Tausende gläubiger Seelen! Mit feinster Überlegung hatte sich der König diese Kräfte ausersehen, um sie sich im Reichsinteresse dienstbar zu machen. D e n n d i e K i r c h e w a r i h r e r N a t u r n a c h u n a b h ä n g i g v o n d e r a l t e n S t a m m e s i d e e . Das Kirchengut bildete noch immer die Hauptmasse des Grund und Bodens. Es hatte seit der frankischen Zeit dauernd zugenommen, und der Gedanke der Eigenkirche hatte sich verstärkt. Die mit dem Eigenkirchenreclit eng verwachsene Vogtei des Königs, die ihn als Herrn über Bischofs- und Klostergut erscheinen ließ, stellte daher ein gar wirksames Instrument in der Faust des Herrschers dar. Die königliche Munt (Vogtei) schien die königliche Gewalt sicherzustellen. Aus dieser Munt leiteten die Herrscher die weites|«n Befugnisse ab. Sie ernannten Bischöfe und Abte und beliehen sie mit dem geistlichen Amt (den spiritualia) und den weltlichen Herrschaftsrechten (temporalia). Sie übten das R e g a l i e n r e c h t aus, kraft dessen sie das Kirchengut während der Sedisvakanz nutzten, und das S p o l i e n r e c h t , kraft dessen sie einen Teil der beweglichen Güter des verstorbenen Kirchenherrn an sich rissen. Und noch Einkünfte anderer Art, aus denen sie Reichskosten bestritten, flössen ihnen aus der Vogtei zu (servitia). Unter den Ottonen begann nun das Reichskirchenwesen in die große Politik hineinzuwachsen. Die Immunität, in fränkischer Zeit erstanden, t r a t in einen neuen, zweiten Kurs ein. D i e I m m u n i t ä t d e r K a i s e r z e i t s c h l o ß r e g e l m ä ß i g d i e g a n z e G r a f e n g e w a l t ein. Die ottonischen Privilegien erzeugten Bistums- und Klostergrafschafterr. Sie sprengten den alten Grafschaftsverband und setzten den deutschen Laienadel zugunsten der römischen Geistlichkeit zurück. Mit Gerichts- und Heergewalt, mit Hoheitsrechten aller A r t , wie Münz-, Berg-, Zoll-, Jagd-, Geleits- /und Marktrechten wurden die großen Kleriker ausgezeichnet. Aber mehr als das. Der König verlieh Kirchen und'Klöstern das Recht der freien Vogtwahl und häufig auch das Einsetzungsrecht für diese Beamten. Wo Klöster dem Bischof unterstellt waren, schwang sich der E p i s k o p a t zum Vogtherrn auf. Der König begnügte sich mit der Obervogtei, behielt sich aber die Bannleihe vor: Ohne Verleihung des Königsbannes durfte kein Vogt Blutgerichtsbarkeit über die Immunitätsleute ausüben. Ein straffer, vom König abhängiger Organismus war geschaffen, neues staatliches Leben, gestützt auf die Kirchenfürsten, t a t sich auf. Die angebahnte politische Ordnung mußte um so eher gerechtfertigt erscheinen, als mit der Kaiserkrönung Ottos I. immer stärker die Auffassung hervortrat, die Christenheit bilde eine geschlossene Einheit, regiert durch Kaiser und Papst. Großzügig in der Durchführung und gewaltig in der Konzeption des Gedankens steht das System der Ottonen vor unseren Augen. D a g e b o t d i e K i r c h e H a l t . I m 11. J a h r h u n d e r t s e t z t e d i e R e a k t i o n g e g e n d i e k ö n i g l i e h e P o l i t i k ein. Der Papst.ging auf zwei Wegen vor. Zunächst machte er Front gegen die Obervogtei des Königs. Unter Leo I X . können wir beobachten, wie die Kurie anfing, eine oberste Vogtei über Klöster in Anspruch zu n e h m e n und den König zum päpstlichen Üntervogt herabzudrücken (vgl. z. B .

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Investiturstreit.

Leos Privileg für Goslar 1049). An Stelle der Königsmunt sollte die Papstmunt treten. E s bereitete sich die große Wendung vor, die dann im 12. J a h r h u n d e r t bereits weiten Spielraum gewonnen hatte: Alle Vogtei sollte im Papst gipfelnAlle weltlichen Vögte sollten nur Beauftragte der Kirche sein. Der Kaiser sei nicht Herr, sondern Diener der Kirche. ,,Servire et eam (die Kirche) ab inimicis defendere" sei seine Hauptaufgabe (Placidus von Nonantula, Liber de honore ecclesiae, 111). Der Herrenvogt verschwand. Der Beamtenvogt machte sich breit. Der andere Weg ist untrennbar verbunden mit der leidenschaftlichen Gestalt Gregors VII. Der Papst erkannte die Gefahr, in der die Kirche schwebte. Er sah, wie die kirchlichen Anstalten auf dem Wege waren, in reine Staatsanstalteu verwandelt zu werden. E r sah, wie die deutsche Geistlichkeit zum .willfährigen Organ des Königs herabsank. Er sah die Verweltlichung und verlangte die Vergeistigung. Sein Entschluß war gefaßt. Die Kirche mußte um jeden Preis vom Staate gelockert, ihr spiritueller Kern gehoben, das weltliche Eigenkirchenrecht zertrümmert werden. Gestützt auf das kluniazensische Ideal nahm er den K a m p f auf und schleuderte den Bannstrahl dem unentschlossenen Heinrich IV. entgegen. Das Wagnis glückte. I m W o r m s e r K o n k o r d a t v o n 1122 e r r e i c h t e d e s b e r ü h m t e I n v e s t i t u r s t r e i t s e i n E n d e . Fortan sollte für die Bestellung der Kirchenfürsten maßgebend sein die kanonische Wahl. Die Investitur m i t Bing und Stab, d. h. die Einsetzung in das kirchliche Amt (spiritualia), wurde dem König entzogen. Ihm verblieben nur Recht und Pflicht, dem Gewählten das weltliche Amt (temporalia) zu verleihen, wenn ihm der Geistliche Mannschaft gelobte. Die päpstliche Konsekration mußte nachfolgen. H a t t e auch die Kirche nicht alles erreicht, was sie wollte, ihr Endsieg stand fest. Die straffe Unterordnung u n t e r den König war gebrochen, und so bedeutete es nur einen weiteren Schritt auf dem Pfade zur Selbständigkeit, als in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die Reichskirchen aus ihrer nun ungewissen staatlichen Stellung in die reine Lehnsverfassung einrückten. Die großen Bischöfe und Äbte wurden Vasallen, ihre Gebiete Reichslehen (Szepterlehen). Und da sich das Reichslehensrecht bereits zugunsten der Dynastien und zu Ungunsten des Königs verschoben hatte, war f ü r den Herrscher jede Möglichkeit verschwunden, Kirchen und Klöster als zuverlässige Waffenträger für die Reichseinheit ins Treffen zu schicken. 3. Auch der zweite Plan mißglückte, wiewohl er vorübergehend den deutschen König auf ungeahnte Höhe und zu wunderbarer Machtentfaltung emporhob. E s war ein feiner Schachzug Ottos I., nach Rom zu ziehen und dort die Kaiserkrone zu empfangen. Germanischer Heldengeist und lebendige Frömmigkeit mögen dabei im Spiele gewesen sein, auch der Wille, in dem zerrütteten Rom Ordnung zu schaffen. Aber entscheidend blieb doch die Rücksicht auf politische Dinge. Wollte der König mit der Kirche und durch die Kirche seine Macht stärken, so blieb ihm nichts übrig, als die engste Verbindung mit Italien und dem Papste aufzunehmen und das P a p s t t u m in politische Abhängigkeit vom Kaisertum zu bringen. Dies aber war nur möglich, wenn der Herrscher als Eroberer in Italien eindrang, wenn er die reichen lombardischen Städte dienstbar machte und als Sieger in Rom einzog. Das Haupt der Welt, als welches Rom noch immer galt, mußte im faktischen Besitze des Königs sein. Noch König Konrad II., als er die Wahl zum lombardischen König erzielen wollte, wurde zugerufen: „ Q u a n d o

Kaisertum.

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veniret cum exercitu ad subiciendam Italiam." Eroberung und Wahl durch die Großen des Landes waren die Rechtstitel, welche dem König die Gewalt über Italien verschafften und die Realunion mit Deutschland begründeten. Von 961 an, nicht vom J a h r e der -Kaiserkrönung (962), rechneten die Italiener die Herrschaft Ottos über Italien. Die Krönung durch den Papst verlieh dann dem ganzen Werke seinen hohen politischen und geistlichen Gehalt. Mit der Weihe in Rom war das Recht auf Führung des Kaisertitels gegeben. Der Gekrönte erhielt geistlichen Rang (Diakonatsweihe). Mit der Kaiserkrönung war im Innern des Reiches eine große militärische Veränderung vor sich gegangen. Von jetzt an gebot der Kaiser-König über d a s Gesamtaufgebot aller deutschen Stämme. E r baute nicht mehr auf e i n e n S t a m m , er baute auf alle Stämme auf, auf einer kriegerischen Einheit. Auch bildete sich zugunsten des Kaisers ein Vorrecht aus: Ahnlich wie in ßyzanz die Väter ihre Söhne zu Mitkaisern machten, Heß der deutsche Kaiser seinen Sohn zum Mitkaiser oder zum römischen König krönen. (Otto I I I . : filius et coimperator noster.) Der Gekrönte galt als Mitherrscher in Deutschland wie in Italien. Aber welche große Gefahren dieses Königtum der Thronfolger in sich schloß, beweist die Geschichte auf jedem Blatt. Und jetzt, mit der Erhebung zum Kaiser, t r a t die augustinische Idee m i t Macht hervor: der Kaiser ist als solcher Schutzherr der ChristenlieiL Die Christenheit, in der ecclesia sich offenbarend, ist eine Einheit. Die civitas dei soll auf E r d e n verwirklicht werden durch die beiden Häupter Kaiser und Papst. Zwei Schwerter, zwei Pole sind aufgerichtet, um die grandiose Aufgabe zu erfüllen, um das Heil zu fördern, die Heiden zu bekämpfen und die Reinheit des Glaubens zu wahren. Bis zu Gregor VII. dauert diese Harmonie an. Dann kommt der große Riß, dann der ferste Versuch, den Staat hinter die Kirche zurückzudrängen. Mit dem Eintritt der Staufer in die deutsche Geschichte hebt eine bedeutsame Veränderung an. Byzantinische Ideen, genährt durch römische Juristen, drangen ein und verscheuchten die alten Traditionen. Die Staufer machten den gewaltigen Versuch, ihre Herrschermacht auf das römische Imperium, auf das Kaiserrecht Justinians, aufzubauen. G r u n d l a g e i h r e r G e w a l t s o l l t e n i c h t m e h r das d e u t s c h e K ö n i g t u m , s o n d e r n das r ö m i s c h e K a i s e r t u m sein. J e t z t traten die Versuche auf, die Krone im staufischen Hause erblich zu machen. J e t z t wollten die Staufer als Weltkaiser auch andere Länder, z. B. Frankreich, in Abhängigkeit vom Reiche bringen. Jetzt wurde imperialistische Politik getrieben nach der großen Einheitsformel: es sollte in dieser Welt sein unus Deus, unus papa, unus imperator. Aber der augustinische Gedanke wurde verlassen, die Janseitsidee wurde preisgegeben. Die Staats- und Kaiseridee erhielt ihr Eigenrecht, das in der diesseitigen Welt wurzelte. Christliche Vorstellungen, gepaart mit römischimperialistischen, gewannen die Oberhand und lenkten den Geist der Herrscher. Die solide, deutsche, s t a m m e s f e s t e , v o l k s t ü m l i c h e G r u n d l a g e des K ö n i g t u m s w a r p r e i s g e g e b e n . Der deutsche König war kein Stammeskönig, die deutschen Fürsten keine Stammesfürsten mehr. Recht und Politik wurden allein getragen von der Reichsidee. Die alten Stämme sollten aufgehen in der neuen, staatlichen Einheit des Reiches, was der Sachsenspiegel mit den Worten kennzeichnet: den Herzögen von Sachsen, Bayern, Schwaben und Franken ,hat der

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Kaiserkrönung.

Kaiser Fürsten und Fahnlehen entrissen (III 53).. Zu weit, viel zu weit hatte d e r imperialistische Sinn der Staufer ausgeholt. Sei es, da£f sie in überspanntem E h r geiz handelten, sei es, daß sie die Struktur des Deutschen Reiches zu wenig k a n n t e n und erkannten: sie schufen sich innerhalb und außerhalb des Reiches eine gewaltige Opposition, der sie zum Opfer fallen mußten. Schon im 12. Jahrhundert durchschauten die deutschen Fürsten die Gefahr der Einheitsbestrebungen. Dio Auflehnung Heinrichs des Löwen, der seine Herzogspläne in"Norddeutschland durchkreuzt sah, .war nur e i n e Episode im großen Gang der Dinge. Bischöfe, Äbte, Herzöge, Markgrafen, Landgrafen und kleinere Dynasten rissen Rechte und Gerechtigkeiten an sich. Als die tragische Figur Friedrichs II., verraten von dem eigenen Geblüte, nicht mehr aus "noch ein wußte, da ließen sie sich diese teils wohlerworbenen, teils usurpierten Rechte auf ewige Zeiten bestätigen. Das sind die berühmten, abgerungenen Privilegien vori 1220 für die geistlichen Fürsten und von 1232 für alle Fürsten (Conloederatio cum principibus ecclesiasticls und statutum in favorem principuin). Die verfehlte Politik rächte sich furchtbar. Anstatt einem großen, festgefügten Nationalstaate, sahen sich die Staufer am Ende ihrer Zeit einem Reiche gegenüber, das im Begriffe war, in einer Unsumme von kleinen und kleinsten Staaten aufzugehen. Zertrümmerung und Auflösung ließen sie zurück. Neu m u ß t e der deutsche Staat aufgebaut werden, diesmal aber nicht vom Stammesherzogtum, sondern vom Landesfürstentum aus. Und über diese Vielheit, diese Dezentralisation der staatlichen Kräfte, ist das Reich bis zu seinem Erlöschen (1800) niemals hinausgekommen. Das eben ist sein Gesetz: in der staatlichen .Fülle, Buntheit und Eigenart, nicht in der formalen Zentralisation ruht seine Größe, ruht seine Kraft. Auch in anderer Richtung wehrten sich die deutschen Fürsten gegen d i e imperialistische Idee der Staufer. S i e f ü h r t e n d a s r ö m i s c h e K a i s e r t u m a u f s e i n e a l t e u n d n a t ü r l i c h e G r u n d l a g e , auf d a s d e u t s c h e K ö n i g t u m z u r ü c k . Ein Braunschweiger Weistum von 1252 setzte bereits fest: Rex Romanorum ex quo electus est in eoncordia eandem potestalem habet quam et imperator. Das Gesetz über die Königswahl (Licet iuris) von 1338 bestätigte diese Auffassung noch einmal. Kaisertum und Königtum waren damit auf sich selbst gestellt, unabhängig von undeutschen byzantinischen und päpstlichen Einmischungen. Doch vermochte sich diese antipäpstliche Stimmung nicht aufrecht zu erhalten. Der Papst war nun einmal hergebrachterweise einzig zur Kaiserkrönung legitimiert, und so ist denn das grundlegende Reichsgesetz, die goldeiie Bulle von 1356, zur Rechtslage zurückgekehrt, wonach die Kurfürsten einen „gerechten, g u t e n und tauglichen Mann" zum römischen König „futuremque Caesarem" zu wählen hätten. Die Kaisergewalt war stillschweigend wiederum in Verbindung mit dem Papste gebracht. § 21. Das Fürstentum. 1. Den Kern des deutschen Staates im Mittelalter bildeten neben dem Kaiser die Fürsten. Auf ihnen ruhte das politische und rechtliche Schwergewicht. Die Fürsten stellten die mächtigen Heerführer. Die Fürsten waren die I n h a b e r d e r großen Gerichtsämter, die sie ihrerseits vom König empfingen. Die Fürsten riefen

Amtsfürsten.

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zu Landesversammlungen auf, um Gesetze zu geben und geltendes Gewohnheitsrecht festzulegen. Fürsten unternahmen Marktgründungen und Burgenbauten großen Stils und förderten damit Wirtschaft und Verteidigung des Landes. Die Fürsten sahen sich im Besitze der gewaltigen Grundherrschaften, jener Menschenund Gütermassen, die in Gestalt von Streubesitz noch immer weite Länderstrecken überzogen. Die Fürsten waren seit früher Zeit vom König mit reichen Nutzungsrechten ausgestattet, kraft deren sie das Erz ip den Bergen brachen, das Wild im Forste jagten, die Straßen mit Zöllen, sperrten, zukunftsvolle Märkte einrichteten und einträgliche Münzen schlagen ließen (Regalien oder regalähnliche Rechte). Die Fürsten ahmten mit ihren Höfen, in ihren Klöstern und Domkapiteln den Glanz des Königshauses nach und rissen die gewaltige Waffe, die es allzeit gegeben hat, an sich: die Bildung. Bevor die Bildung in die Städte einzog (12. Jahrhundert), war sie fürstliche und klösterliche Bildung. Die Fürsten waren die obersten geistlichen Lenker des Volkes. Au8 ihnen entströmten letzten Endes Segen und Wohltat der Religion; denn die Bischöfe und großen Äbte zählten zum Fürstenstand. Die Fürsten endlich bestimmten das Oberhaupt des Reiches. Die Königswahl wurde ein ausschließliches Vorrecht der deutschen Fürsten. Was ist da natürlicher, als daß die Frage nach Zusammensetzung und Wandelung des Fürstenstandes zu den wichtigsten Problemen der Rechtsgeschichte gehört. 2. B i s gegen E n d e des 12. J a h r h u n d e r t s s u c h e n wir v e r g e b l i c h nach einem e i n h e i t l i c h e n M e r k m a l des F ü r s t e i l b e g r i f f e s . Das hängt vornehmlich damit zusammen, daß bald das Amt, bald mehr Geburt, Reichtum, politische Stellung oder großer persönlicher Einfluß fürstenbildend wirkten und daß der Stammesgedanke mit dem Reichsgedanken rivalisierte. So sind z. B. die großen, alten, einflußreichen Herzogsgeschlechter von Stammes wegen Fürsten gewesen, während die Inhaber der Grenzgrafschaften, die Markgrafen, und vielleicht mancher, nicht zu den Grafen zählende Edle, seinen Fürstenstand königlicher Anerkennung verdankte. Zweifellos s p i e l t das Amt eine g r o ß e R o l l e , vor allem die Gerichtsbarkeit, die ans Blut ging und über den Grundbesitz schaltete, die Grafengerichtsbarkeit. In diesem Sinne waren die Fürsten Amtsfürsten. Aber es läßt sich nicht beweisen, daß alle Inhaber von Hochgerichtsbarkeit zu den Fürsten (prineipes, proceres, fursten) gerechnet wurden, während andererseits feststeht, daß auch vornehme Edle, ohne Grafengewalt, Fürstenrang besaßen, z. B. in Bayern. Die Stämme, die auf die Fürstenstellung den größten Einfluß ausübten, hatten hierin durchaus verschiedene Anschauungen, und man muß sioh hüten, die italienischen Verhältnisse als maßgebend für das ganze Reich heranzuziehen. Gerade beim Streit um den Fürstenstand muß man sich immer wieder in Erinnerung rufen, daß das ganze Leben, das gesellschaftliche, das politische wie das rechtliche, weit mehr eine Einheit bildete als heute. War ein Mann von großem sozialem und politischem Einfluß und hatte er daneben einen hohen Rang als Gerichtsherr, so frag man nicht, ob er nun Fürstenrang einnehme kfaft seiner gesellschaftlichen Stellung oder kraft seines Amtes. I n diesem S i n n e h a t die neuere F o r s c h u n g s i c h e r r e c h t , wenn sie sagt, man dürfe das ä l t e r e F ü r s t e n t u m n i c h t e i n f a c h a l s A m t s f ü r s t e n t u m b e z e i c h n e n . Amtsrechtlicher Natur war bis in das 13. Jahrhundert nur das Grafentum. Graf war der Inhaber von Grafenamt. F e h r , Deutsche Rechtsgeschichte.

4. Aufl.

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Lehnsfürsten.

„Graf" war ein Amtstitel. Geborene Grafen ohne Amt kommen — von seltenen Ausnahmen abgesehen — vor dem 13. Jahrhundert nicht vor. 3. Unter den Staufern machte der Fürstenbegriff eine bedeutsame Wandelung durch. Das hängt mit zwei Momenten zusammen. Erinnern wir uns an die Bestrebungen der staufischen Kaiser, das Reich dem festeren Einheitsstaate zuzuführen, so verstehen wir auch ihre Tendenz den Fürsten gegenüber. Die S t a u f e r v e r s u c h t e n das S t a m m e s m o m e n t a u s dem F ü r s t e n t u m zu e n t f e r n e n . U n t e r den S t a u f e r n v e r w a n d e l t e n sich die F ü r s t e n von S t a m m e s w e g e n in die F ü r s t e n von R e i c h s wegen. Es s o l l t e n u r noch ein F ü r s t e n t u m von K ö n i g s g n a d e n , ein R e i c h s f ü r s t e n t u m geben. Aber diese zentralistischen Bestrebungen hätten für sich allein nicht /.am Ziele geführt. Eine zweite unterstützende Gewalt mußte zu Hilfe eilen: das Lehnreeht. Seit den Kreuzzügen begannen die lehnrechtlichen Ideen im Staate gewaltig überhand zu nehmen. Und da alles echte Lehnrecht in der Person des Königs gipfelte, trat im feudalen Rechtskreise der Herrscher mächtig hervor. Zunächst fügten sich die w e l t l i c h e n F ü r s t e n mit ihren Ämtern in den Lehnabereich ein. Herzogtum, Maxkgrafschaft, Pfalzgrafschaft, Landgrafschaft und Grafschaft wurden zu Lehen des Reiches. Und im 12. Jahrhundert t,raten auch die g e i s t l i c h e n F ü r s t e n mit ihren Gebieten in die Lehnsverfassung ein, weil sie sahen, daß sich das Lehnrecht für die Landesgewalten äußerst günstig gestaltet hatte. Durch diese Feudalisierung der Ämter und damit des ganzen Reiches mußte sich der Fürstenbegriff verschieben. Maßgebend konnten fortan nicht mehr amtsrechtliche, soziale und politische Momente sein. M a ß g e b e n d f ü r den F ü r s t e n begriff w u r d e n feinzig l e h n r e c h t l i c h e G e s i c h t s p u n k t e . \ Diese Verschiebimg füllt das 12. Jahrhundert aus. Der neue Fürstenstand ist nicht das Ergebnis eines augenblicklichen historischen Ereignisses. Amtsfürstentum und Lehnsfürstentum machen ein langes und zähes Ringen durch. Um 1180 ist es zu Ende. Als L e h n s f ü r s t g a l t f o r t a n der D y n a s t , der a u s s c h l i e ß l i c h und u n m i t t e l b a r vom König b e l e h n t w a r und s e l b s t wieder e d e l f r e i e V a s a l l e n h a t t e . Der weltliche Fürst wurde mit einer Fahne, der geistliche mit einem Szepter symbolisch belehnt (Fahnlehen und Szepterlehen). Die lehnrechtlichen Abstufungen hießen Heerschilde. Nach dem Sachsenspiegel gab es sieben Heerschilde, eine strenge Hierarchie, die wahrscheinlich auf ein peinliches höfisches Zeremoniell bei Fest und Heerfahrten zurückgeht und stark unter dem Einflüsse der Kreuzzüge stand. Und nun galt die Regel: Wer Lehn von einem Manne gleicher oder tieferer Stufe nimmt, verunreinigt seinen Schild. Er ist kein würdiger Genosse mehr seines Gleichschildigen. Das ganze starre, geschraubte Ebenbürtigkeitsprinzip des Mittelalters gipfelt in dieser Lehre. Zum F ü r s t e n begriff g e h ö r t e n also n a c h S a c h s e n s p i e g e l - und s p ä t e r a u c h naoh S c h w a b e n s p i e g e l r e c h t die R e i c h s u n m i t t e l b a r k e i t und d i e R e i n h e i t des H e e r s c h i l d e s . Die klassische Stelle im sächsischen Lehnrecht ist Art. 71 § 21, im Landrecht III 58 § 1 und § 2. Es ist wahrscheinlich, daß alte fürstliche Familien, die es zu keinem Fahnlehn gebracht hatten, nicht ohne weiteres ihre fürstliche Stellung verloren. Es mag daher in der Übergangszeit Fürsten ohne Fahnlehn gegeben haben. Aber sie spielten keine Rolle mehr, und so l ä ß t sich sagen, d a ß im 13. J a h r h u n d e r t das F ü r s t e n a m t m i t der F a h n l e h n s t r ä g e r -

Wahlakte.

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s c h a i t i m g a n z e n z u s a m m e n f ä l l t . J a , die bedeutendsten Geschlechter hatten oft mehr als nur ein Fürstentum inno. Die Wittelsbacher besaßen Bayern und die Pfalz, die Babenberger Osterreich und Steier, die Askanier Brandenburg und Sachsen. Einfache Grafschaften zählten selten zu den Fahnlehen; denn der Graf war ja regelmäßig erst in dritter Hand belehnt. Sein Lehnsherr war der Herzog und der des Herzogs der deutsche König. Nur Herzogtümer, Pfalzgrafschaften, Markgrafschaften und Landgrafschaften galten stets als Fahnlehen, als Lehen, welche staatliche Hoheitsrechte und nutzbare Regalien einschlössen. § 22. Die Könifrswalil. Alle Volker legen größtes Gewicht auf die Frage: Wer hat das Recht, den obersten Lenker des Reichs, den König, zu küren ? Denn es ist ein Zeichen höchster staatlicher Potenz, an der Wahlhandlung teilzunehmen. Das heiße Ringen um Machtstellung oder "Vormachtstellung im Staate bekundet sich daher deutlich im Kampf um das Königswahlrecht. Daß das Deutsche Reich mit seiner wechselvollen Geschichte und seinen ungewissen Normen im Verfassungsleben einen günstigen Tummelplatz für Wahl- und Rangstreit darbot, wird niemand bezweifeln. 1. Noch war zu Beginn der deutschen Geschichte dem ganzen Volke ein Mitwirkungsrecht gegeben. Widukind erzählt in seinen Res gestae Saxonicae (1. I L Kap. 1,2), die Wahl Ottos I. sei erfolgt durch die fränkischen und sächsischen Völkerschaften und die Bestätigung der Wahl durch das gesamte Volk. Der Chronist nennt sie universalis electio. Abgeschwächt ist bereits die Teilnahme bei der Wahl Konrads II. Es heißt dort nur noch: fit clamor papuli. Das Schwergewicht lag bereits bei den Großen des Reichs, den optimates, proceres, excellentes oder wie immer die politischen Machthaber genannt wurden. Das Wahlrecht war übrigens in jenen Jahrhunderten wesentlich beschränkt durch die Designation: der regierende Vater bezeichnete seinen Sohn als den rechtmäßigen Nachfolger. Die Wähler fühlten keinen Anlaß, von einem Stammhause abzugehen, solange regierungsfähige Familienglieder vorhanden waren. Wer weiß es: Vielleicht spielte da alte religiöse Verehrung des Herrscherhauses mit hinein, die Vorstellung, daß das „Heil" an eine bestimmte Familie gekettet sei und von ihr dieses Heil auf Volk und Staat hinüberspiele. Aber trotz aller Anstrengungen einzelner Könige — man denke an Heinrich VI. (1196) — gelang es keiner Dynastie, die Krojie in ihrem Hause erblich zu machen. Der Wahlgedanke ist bis zur Auflösung des Reichs niemals untergegangen. 2. Die neueste Forschung hat manchen fruchtbaren Gedanken in das schwierige Problem hineingebracht und viel Dunkel aufgehellt. Die Erhebung eines Dynasten zum deutschen König setzte sich aus einer Reihe bedeutsamer Akte zusammen. Die Wahl darf nicht aus deren Zusammenhang herausgerissen werden. Die ThronSetzung (die Inthronisation), die geistliche Salbung ifnd Krönung, der Erwerb der Reichsinsignien und später das Krönungsmahl, bei dem die Inhaber der Erzämter den Herrn des Reichs bedienten, alle diese Akte. sjnd neben der Wahl wesentlich und fließen gleichsam zu einem Ganzen zusammen. Sie konnten Monate, j a Jafire auaeinander liegen. Der deutsche König erwirbt also das Reich nicht ein5*

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Wahlfürsten.

fach durch Wahl, sondern durch eine Reihe zeitlich aufeinander folgender solenner Handlungen, die in den verschiedenen Jahrhunderten a u c h , verschiedenartig bewertet wurden. D i e D o p p e l w a h l v o n 1198 ( P h i l i p p v o n S c h w a b e n u n d O t t o v o n B r a u n s c h w e i g ) b r i n g t d e n g r o ß e n E i n s c h n i t t in d a s K ö n i g s w a h l r e o h t . Bis dahin spielt das emotionale Erlebnis eine große Rolle. Volk und fürstliche Wähler wurden im Innersten ergriffen, wenn ihnen die Aufgabe gestellt war, einen neuen Herrscher zu küren. Kühles Abwägen und Handeln nach streng juristischen Formen lag ihnen fern. Darm wurde es anders. Seit 1198 schlägt d a s romanistisch-kanonistische Recht seine Wurzeln in die Thronerhebung hinein. E s führte dazu, das Ganze juristisch abzuklären und zu zergliedern, so daß fortan ein bestimmter Wählerkreis (die Kurfürsten) mit subjektiven Wahlrechten ausgeschieden wird und jeder Wahlakt seine scharf umrissene Bedeutung erhält. Der Gemeinschaftsgedanke wurde endgültig zerstört. Jede Anteilnahme des Volkes war vernichtet. I m ausgeprägten Lehnsstaat war kein R a u m mehr für das Volk. Immer mehr drängte sich die Auffassung hervor: die Wahl ist ein Rechtsgeschäft. Alle diese Dinge sind, namentlich geistesgeschichtlioh gesehen, von größter Bedeutung. Sie weisen auf den Umwandlungsprozeß hin, der sich in den nächsten Jahrhunderten abspielte. Das urtümliche, naive, rein traditionelle Leben schwand langsam dahin. Die Überlegung, die Zwecksetzung, der Wille zu rechtlicher Festmachung, die Aufspaltung des Daseins in einzelne getrennte Lebensgebiete, sie warfen ihre ersten Schatten in die Welt hinein. 3. Wenh wir uns umsehen nach den Königswählern, so ist, was die weltlichen Fürsten anbetrifft, zu betonen, daß ihr Kurrecht nur begriffen werden kann aus dem Gedanken der Territorialisierung, der immer stärker um sich gegriffen hatte. In den vier Stammesherzogtümern Franken, Sachsen, Bayern und Schwaben waren zunächst die Herzöge die organisierenden Gewalten. Auf ihrer Persönliclikeit ruhte das Schwergewicht des Stammes. An ihrem Fürstent u m hing alles. Aber je mehr wir uns dem 12. und 13. Jahrhundert nähern, u m so mehr verdinglichte sich die Herzogsgewalu, um so mehr schlugen sich die herzoglich-staatlichen Rechte auf das Territorium nieder. I n diesem Sinne m u ß man die neustens ausgesprochene Behauptung verstehen: die vier alten Stammes gruppen werden für die Königswahl unerläßlich. Die Stammesherzöge von Franken, Sachsen, Bayern und Schwaben werden zu rechtmäßigen Wählern als Vertreter ihrer Herzogtümer. Die Person tritt zurück, das Land tritt hervor. Unter den geistlichen Fürsten sind die Vorsteher der drei ältesten Erzbistümer die Nächsten an der K u r : die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln. Gleichgestellt wurde ihnen als einziger weltlicher Fürst der Pfalzgraf bei Rhein wegen seiner leitenden Stellung im königlichen Hofgericht. I n der ersten klassischen W^hlrechtsordnung im Sachsenspiegel (III 57 § 2) werden als Wähler genannt: der Erzbischof von Mainz, Trier und Köln, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg. Die siebente Kur, die dem König von Böhmen zufallen sollte, lehnte Eike von Repgau ab, „weil der Böhme kein deutscher Mann sei". Aber dieser Fürst erk ä m p f t e sich dann bald seine Stellung (endgültig 1290) und wurde als gekrönter und geweihter König an die erste Stelle der weltlichen Kurfürsten gesetzt.

Goldene Bulle.

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4. D e r b e r ü h m t e d e u t s c h r e c h t l i e h e G r u n d s a t z : d i e S t i m m e n w e r d e n n i c h t gezählt, s o n d e r n gewogen, g a l t a u c h im d e u t s c h e n K ö n i g s w a h l r e c h t . Das Ansehen der Wähler entschied. Man folgte ihrer Autorität. Man glaubte nicht an das schematiseh Zahlenmäßige, an das Mehrheitsprinzip. Möglich ist, daß sich dann im Laufe der Zeit eine Folgepflicht als Rechtspflicht ergab, wonach „ie diu minner menge der merren volgen" mußte (so später der Schwabenspiegel L. 130). Das Kurkollegium konnte zur Wahl schreiten, wenn vier wahlberechtigte Fürsten vorhanden waren. Bekanntlich wurden drei weitere zugezogen. Die Siebenzahl der Kurfürsten bedeutet nur, daß ein Kreis ganz bestimmter Fürsten das Wahlrecht besaß. Sie, nur sie durften wählen. Nicht nur die Rechtsbücher, sondern auch das Weistum von Rhense (1338) und die Goldene Bulle (1356) stehen auf dem Boden der Vierzahl. Das Quorum der Vier galt als die Mehrheit. Wenn vier Kurfürsten ihre Stimme zugunsten eines Kandidaten abgegeben hatten, so war er gewählt. Bei der Abstimmung richtete der Erzbischof von Mainz an jeden Kurfürsten die Wahlfrage und gab selbst die letzte Stimme ab. Als Siebenter hatte er demnach, wenn drei Stimmen zu drei standen, den Stichentscheid. Jeder Kurfürst konnte auch für sich selbst stimmen, konnte al^o die Wahl durch seine eigene Stimme zu eigenen Gunsten entscheiden. Die goldene Bulle, die das Wahlverfahren eingehend regelte, hat den Grundsatz der Selbstwahl bestätigt. Sie sagt, die f ü r sich selbst gegebene Stimme sei wie jede andere Wahlstimme zu bsrücksichtigen. Die Ausbildung eines kleinen Wahlkörpers für die Königswahl bedeutete einen wesentlichen Gewinn für das deutsche Reich. Sie verhinderte vor allem schwere Verzögerungen. Aber auch »Hader und Zank und der Streit um hohle Zeremonien wären wohl noch weit drastischer ausgebrochen^ hätten alle Reichsfürsten das Wahlrecht behalten. Der deutsche Reichstag spricht darin eine deutliche Sprache. § 23. Die-Entstehung der Landeshoheit. Frankreich, England und die skandinavischen Königreiche sind seit langer Zeit Einheitsstaaten. Völkerrechtlich wie staatsrechtlich treten sie als geschlossene, staatliche Körper auf. E i n e Staatgewalt, e i n e Verfassung herrscht in ihnen. Warum- ist das Deutsche Reich zu einer solchen Einheit nicht gelangt ? Warum zerfiel das Deutsche Reich Jahrhunderte lang in gesonderte Gebilde, die für sich wiederum Staaten darstellten? Das ist eine der größten verfassungsgeschichtlichen Fragen. Das ist die Frage nach der Entstehung der Landeshoheit. Man hat sich zuweilen die Antwort leicht gemacht. Man hat erklärt: das Lehnwesen erze ugte die Landeshoheit. Aber wie ungenügend die Antwort ist, zeigt gerade der Blick auf die anderen europäischen Staaten. Wie plächtig hat in ihnen djfs Leh nrecht um sich gegriffen! In Frankreich ist es zur Ausbildung des bekannten Rechtssatzes gekommen: „Nulle terre sans seigneur", einer Norm, welche in Deutschland niemals gegolten hat. Immer gab es im Deutschen Reiche neben Lehnbesitz auch allodialen, d. h. Besitz zu Landrecht. Man kann also das Lehnrecht an sich für die deutsche Zersplitterung nicht verantwortlich machen. Andere Kräfte müssen dazu gekommen sein.

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Ottonische Privilegien.

Soll der Prozeß richtig verstanden werden, so sind scharf voneinander zu trennen: die Lockerung der Gebiete vom Reiche und deren staatliche Befestigung im Innern. 1. D i e L o c k e r u n g v o m R e i c h e . Die karolingische Monarchie war in Grafschaften eingeteilt gewesen. Die Grafen verwalteten ihren Sprengel als Beamte des Königs. Sie waren einsetzbare und absetzbare Personen, verantwortlich f ü r ihre Amtshandlungen. Ihre Vollmachten galten als abgeleitet aus der königlichen Gewalt. Das Amtsgut erschien als Benefizium. Schon unter den Karolingern zeigten sich aber Ansätze, wonach die ganze Grafschaft al3 Benefizium angesehen und die Erblichkeit des Amtes angebahnt wurde (§ 14). Der König widerstrebte dieser Entwicklung nicht. I m Interesse guter Verwaltung ließ er die Grafschaft vom Vater auf den Sohn übergehen, verzichtete also auf ein freies Einsetzungsrecht. I m 10. u n d 11. J a h r h u n d e r t b e g i n n t nun der große Z e r t r ü m m e r u n g s p r o z e ß , der die alte G r a f s c h a f t s v e r f a s s u n g zu F a l l b r a c h t ? . Er hängt aufs engste zusammen init .Recht und Politik, die wir eben geschildert haben. Der deutsche König griff selbst willkürlich in den Grafschaftsverband ein und lockerte dessen Zusammenhang, indem er weite, wichtige, lebenskräftige Gebiete der Grafengewalt entzog. Er schuf k r a f t seines Exemtionsrechts die Immunitäten, deren erste Entwicklungsstufe wir schon in fränkischer Zeit verfolgen konnten (§ 13). Berühmt sind die Privilegien der Ottonen, welche namentlich die bischöflichen Städte zu eigenen Rechtskreisen mit voller Grafengewalt erhoben. Gewollt und gezwungen minderte der Herrscher das Reichsgut zugunsten der Großen und ließ in diesen Bezirken selbständige staatliche Mächte erstehen. Die Grafen ihrerseits suchten durch Kauf und Tausch ihre Hoheitsrechte und Grundherrschaften auszudehnen, wobei sie an den Grafschaftsgrenzen nicht Halt machten. Noch häufiger griffen sie ohne jeden Rechtstitel ein und schufen sich Gebiete, die ihnen zu Eigentum gehörten. Es erhoben sich im Süden und Westen die sog. allodialen Grafschaften, gleich wie es auch Eigenbistümer .gab (z. B. die vier Bistümer des Salzburger Erzbischofs). Aber vielleicht ist trotz allem der Zertrümmerungsprozeß doch nicht so weit gegangen, wie man anfangs glaubte. Denn es scheint sich mehr und mehr herauszustellen, daß viele Hundertschaftsbezirke (Centenen) noch lange erhalten blieben!. Sie stiegen zu eigenen Landgerichten auf. Auflösung der Grafschaft bedeutet noch keine Auflösuiig der Hundertschaft. Im Osten und Nordosten, wo sich die großen Marken des Reiches befanden, war die Stellung der Grafen, der Markgrafen, von Anfang an eine selbständigere gewesen. So hielt z. B. der Markgraf Gericht bei seinen eigenen Hulden (mit eigener Banngewalt). Dort die königliche Stellung zu untergraben, stieß daher auf geringen Widerstand. Die Stammesherzöge endlioh t r a t e n in der Zeit der Verwilderung, im 10. bis 12. Jahrhundert, mit erneuter Wucht hervor. Ihre politische Rolle ist b e k a n n t . VerfassungSgeschichtlich wurde von Bedeutung, daß sie eine Summe von Hoheitsrechten und Regalien dem hilfesuchenden König abrangen und eine Reihe von Grafen unter ihre Obergewalt beugten. Nur der kleinere Teil der Grafen vermochte die direkte Verbindung mit dem Reiche, die Reichsunmittelbarkeit, zu bewahren. Überall stand das Hausinteresse im Vordergrund. Stärkung des Geschlechts, des eigenen Blutes, Mehrung der Familienmacht und Glanz der Dynastie ließen

Landesherr.

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den Staats- und Reichsgedanken weit zurücktreten. Das Geschlecht wollte.herrschen, gestellt auf sich selbst, nicht gestellt auf das Reich. S o s a h s i c h d e r d e u t s c h e K ö n j g v o r e i n e r h e i l l o s e n v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n V e r w i r r u n g . Die fränkischen, amtsrechtlichen Grundlagen waren untergraben. Eine nfeue gesicherte Regierungsbasis war noch nicht geschaffen. Dem König blieb ein einziger Halt, die geistlichen Fürsten. Denn die großen Kirchen und Klöster waren k r a f t der königlichen Munt weit abhängiger vom Reichsoberhaupt und ihre Familien interessen weit geringer als die der weltlichen Dynasten. Aber nun kam der Investiturstreit und mit dessen Lösung der ungeheure Einbruch in die Königs rechte, den wir eben schilderten (§ 20, 2). Die Bischöfe waren Reichsvasallen geworden. Ein fester Anspruch auf die Regalien hatte sich zu ihren Gunsten ausgebildet. D a s W o r m s e r K o n k o r d a t b e d e u t e t e d i e e r s t e S t u f e i n d e r werdenden landesherrlichen Gewalt. Mit großartiger und großzügiger K r a f t setzten die Staufer ein und suchten von der Einheit des Reiches zu retten, was zu retten war. Viel neue Bewegung und manch fruchtbaren Gedanken brachten sie in das staatliche Leben hinein. Aber sie überspannten, wie oben beschrieben, den zentralistischen Bogen. Sie unterschätzten die unter der Asche glimmenden Gluten. Der Brand brach aus, und unter Friedrich II. ging die Königsgewalt in Flammen unter. Jene Privilegien, die der aufrührerische Sohn Heinrich (VII.) gab und die der Vater bestätigte (§ 20, 3), waren keine im Augenblick abgerungenen Wohltaten für die deutschen Fürsten. Die Privilegien stellten in der Hauptsache nur reichsrechtlich fest, was längst durch die aufstrebenden Landesherren, auf rechtmäßigem oder unrechtmäßigem Wege, erreicht worden war. Politisch sind diese Privilegien nichts anderes als die Eindämmung der königlichen Macht, welche die erworbenen Fürsten rechte zurückzuschrauben versuchte. S e i t 1232 g i b t es e i n e v o m K ö n i g a n e r k a n n t e l a n d e s h e r r l i c h e G e w a l t . Die Privilegierten sind keine Amtspersonen mehr. Sie heißen nicht mehr Grafen, comités, sie heißen Fürsten, principes oder domini terrae, Herren eines Landes, Landesherren. Und was will der Herr oder dominus ? E r will die staatliche Gewalt zu eigenem Rechte, nicht mehr im Namen des Königs ausüben. Das ist der Sinn der Landeshoheit. Fragen wir nach der Rolle, welche das Lehnrecht bei diesem Gang der Dinge spielte, so lautet die Antwort kurz: d a s L e h n r e c h t , d a s d a m a l s f a s t i n g a n z E u r o p a d a s h e r r s c h e n d e S y s t e m w a r , h a t t e s i c h i n D e u t s c h l a n d zu u n g u n s t e n d e r k ö n i g l i c h e n M a c h t v e r s c h o b e n . Nicht die Umwandlung der Ämter in Lehen war das Entscheidende, auch nicht die Erblichkeit der Lehen, k r a f t deren sie an eine bestimmte Familie gekettet wurden, ebensowenig die Befugnis der belehnten Herren, ein Lehn weiter zu verleihen und es damit der Unmittelbarkeit des Reiches zu entziehen. Gewiß haben diese Momente mitgespielt. Aber sie m u ß t e n nicht zur Vielstaaterei führen, wie England und Frankreich beweisen. Entscheidend wirkte die Rechtslage, wonach der König heimgefallene Lehen (Lehen, in denen dèt Mannesstamm ausstarb oder die dem Lehnsmann abgesprochen waren), nicht in eigener H a n d behalten durfte, sondern sie in J a h r und Tag wieder ausgeben mußte (z. B. Wiederausgabe der eingezogenen Lehen Heinriçhs des Löwen). Eine Stärkung seiner .Lage war dadurch ausgeschlossen. Das Reichsgut aber hatte sich zusehends vermindert und die Reichsaufgaben

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Hochgericht.

waren dauernd gewachsen. Der deutsche Kpnig verarmte immer mehr, währe ad der König von Frankreich immer reicher wurde. Entscheidend wirkte ferner das Verbot f ü r den König, über Fürstentümer im Reichsinteresse zu verfügen. Ohne Zustimmung des Fürsten und seiner Ministerialen war jeder Wechsel, jede Veräußerung, dem König untersagt. Lag nicht eine Felonie (Bruch der Lehnstreue) vor, so mußte der König auch den unbequemsten Vasallen, in seinem Lehn belassen. Schwer endlich wurde der König dadurch geschädigt, daß ihm das Lehnrecht den unmittelbaren Zusammenhang mit seinen Richtern zerschnitt. D i e G e r i c h t s b a r k e i t war das wichtigste der alten B e a m t e n r e c h t e . Auch s i e w u r d e z u m L e h n und wanderte vom König abwärts in andere Hände. Das S t a t u t u m von 1232 spricht den weittragendeil Satz aus: I t e m centgravii recipiant centas a domino terrae vel ab eo, qui per dominum terrae fuerit infeodatus. Die Zentgrafen wurden nicht mehr vom König, sondern vom Landesherrn oder dessen Vasallen belöhnt. Der König behielt sich nur vor, dem einzelnen Hochrichter die Gewalt zu richten, den sog. Bann, zu leihen. Aber auch hierin war der König nicht mehr frei. H a t t e der Gerichtshalter die nötigen richterlichen Eigenschaften, so durfte ihm der Königsbann nicht versagt werden. Also Leihezwang! Diese Bannleihe, in Süddeutschland sowieso geringer ausgebildet als im Norden und Osten, t r a t im 13. Jahrhundert bereits stark zurück. Verfassungsgeschichtlich fällt f ü r den Niedergang des Königtums vor allem noch in Betracht, daß das Reich sich keine verwaltende Behörde zu schaffen vermochte, wie der französische König, so daß jede auf Einheit gerichtete Wirksamkeit bürokratischer Art fehlte. 2. D i e B e f e s t i g u n g i m I n n e r n . a) Drei Momente Waren es, welche den aufstrebenden Herren die Macht verliehen, dem Reiche mit Erfolg entgegenzutreten, und gleichzeitig im Innern die Bevölkerung zu unterwerfen: der Grundbesitz in Verbindung mit reichen Regalien, die hohe Gerichtsbarkeit und eine ergebene Dienstmannschaft. Grundbesitz und Regalien gaben die wirtschaftlichen Mittel an die Hand. Die hohe Gerichtsbarkeit war das Zentralrecht, um welches sich die landesherrlichen Rechte gruppierten. Und die Dienstmannschaft, in größeren Fürstentümern Ministerialen genannt, stellte die kriegerische Gewalt dar, die der Landesherr benötigte, um sein Gebiet zu verteidigen und weiter auszubauen. Reichtum, Rechts- und Gewaltmittel mußten zusammentreffen, um den Landesherrn den Zweifrontenkrieg zu ermöglichen, die Emanzipation vom König und die Unterwerfung des Volkes. Schon in fränkischer Zeit tritt uns die Sucht der Grafen entgegen, ihren Grundbesitz zu vergrößern. I n der Kaiserzeit mehrt sich dieses Bestreben, ganz besonders in der Umgebung der Burgen und der starken Fronhöfe, welche die Herren besaßen. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts beginnen die geforsteten Dynasten, ihren Siedelungen ein fürstliches Attribut beizulegen wie Fürstenau, Fürstenberg, Fürstenstein, Fürstenwalde. Die Landesherren verlangten nach Abrundung des zerstreut liegenden Landes und nach Vermehrung der Einkünfte, sei es durch Naturalien, sei es durch Grundzinse, oder durch Kopfzinse, welche die Grundholden zu zahlen hatten. Auch die mit dem Grundbesitz in enger Berührung stehenden, wenn auch juristisch von ihm geschiedenen Regalrechte, waren das

Exekutionsgewalt.

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Ziel der Dynastien, wie Bergrechte, Forstrechte, Jagdrechte, Wasserrechte. So entstand zunächst ein gewaltiger Güterreichtum in der H a n d der Herren, und man h a t deshalb energisch die Meinung verfochten, die Landeshoheit sei aus der Grundherrschaft entstanden. Aber mit der Brille des Rechts gesehen, ist das falsch. Denn neuere und neueste Forschungen haben gezeigt, daß der Grundholdenverband und der Untertanenverband sich nicht deckten, daß die Grenzen der Landesherrschaft und die der Grundherrschaft nicht zusammenfielen und daß der größte Grundherr in einer Grafschaft nicht immer zum Landesherrn aufgestiegen ist (so z. B. im Breisgau). Die grundherrliche Theorie trägt nur insofern einen richtigen Kern in sich, als kein Dynast ohne breites grundherrliches Fundament tatsächlich h ä t t e zum Landesherrn aufsteigen können. Das k r a f t v o l l s t e , s t a a t e n b i l d c n d e R e c h t war die hohe G e r i c h t s b a r k e i t . Das Gericht über Leib und Leben, ü b e r Freiheit und Ehre, sowie über E r b und Eigen (Grundstücke) war imstande, ein loses Gebiet und einen losen Volk^körper zu einem Landesgebiet und einem Landesverbände zusammenzuschweißen. Die hohe Gerichtsbarkeit war neben der Heergewalt das bedeutsamste Recht der aufstrebenden Herren. In der deutschen Geschichte spielte iich um kein Rccht ein größerer Kampf ab als um den Besitz des Hochgerichts. Dennoch ist nicht jeder Hochrichter auch Landesherr geworden. E s gab in einem landesherrlichen Gebiete zuweilen bedeutsame hohe Gerichtsherrschaften, die immer Unterherrs'chaften (später Herrlichkeiten genannt) geblieben sind. Zur vollen Hochgerichtsbarkeit gehörte noch das Vollstreckungsrecht. Der Richter, wollte er landesherrliche Gewalt erringen, mußte mit Vollstreckungsgewalt ausgestattet sein. Nicht umsonst kämpfte z. B. der Bischof von Basel Jahrhunderte lang um das Exekutionsrecht in seinen Dörfern Schliengen,. Mauchen und Steinenstadt. Erst mit dessen Erwerb wurde er Landesherr. Und noch eins. Der Dynast, welcher Gerichtsherrschaften besaß, durfte in Streitigkeiten mit seinen Gerichtseingesessenen oder m i t anderen Gerichtsherren nicht selbst einem landesherrlichen Gerichte unterworfen sein. Landesherr, oder wie es später heißt: landesfürstliche Obrigkeit war dann einzig der ihm übergeordnete Gerichtsherr. Juristisch läßt sich daher als Regel aufstellen: Z u r L a n d e s h o h e i t f ü h r t e die H o c h g e r i c h t s b a r k e i t , v e r b u n d e n m i t der E x e k u t i o n s g e w a l t und d e m p e r s ö n l i c h e n G e r i c h t s s t a n d v o r d e n R e i c h s g e r i c h t e n in s t a a t s r e c h t l i c h e n S t r e i t i g k e i t e n . Dabei zeigen allerdings Mittelalter wie Neuzeit, daß hunderte von Streitfällen vor Dynastengerichten, s t a t t vor Reichsgerichten ausgefochten wurden. Aber dann lagen eben gewillkürte Schiedsgerichte (Austrägalgerichte) vor, denen sich die Parteien unterworfen hatten. Man h a t in jüngster Zeit größeres Gewicht gelegt auf die K r a f t der Niedergerichtsbarkeit und auf die Zwing- und Banngewalt der Gerichts- und Vogteiherren. Diese Untergewalten seien f ü r die Ausbildung der Landeshoheit viel/ bedeutsamer gewesen als das Hochgericht. Aber dieser Streit ist größtenteils ein terminologischer, ein Wortstreit. Der Begriff „Landeshoheit" wird anders gedeutet. Sicherlich haben sich vom 12. bis 14. J a h r h u n d e r t (und auch, noch später) zahlreiche Herrschaften gebildet, völlig neu und kraftvoll gebildet, die nur die niedere Gerichtsbarkeit inne hatten und ihre Bevölkerung mit Zwing und Bann beherrschten, wobei ich unter Zwing und Bann die Befehlsgewalt einer Obrigkeit

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Ministerialen.

verstelle und das Recht, die Befelile durch Bußen zu sanktionieren. Und es ist nicht zu bestreiten, daß die Herren solcher Bannbezirke das tägliche Leben der Eingesessenen oft energischer beherrschten als die Landesherren. Aber darauf kommt es juristisch nicht an. Faßt man „Landeshoheit" im gegebenen Sinne auf, so waren diese Untenherren keine domini terrae. Natürlich konnten sie sich zu Landesherren emporschwingen. Aber Hunderten von ihnen gelang es nicht. Sie blieben unter einem Landesherren oder wurden in der Folge unter einem dominus herabgedrückt. Und noch eines. Man hat erklärt, die Landeshoheit sei ein rein macht politischer Begriff. Der größere oder kleinere Dynast, der politisch geschickt und militärisch kraftvoll ein Gebiet zusammenballte und einer Gewalt unterwarf, gleichgültig, ob mit Recht oder nur mit Macht, sei als Landesherr zu bezeichnen. Das mag, historisch gesehen, annehmbar sein, und ich bin der letzte, der eine solche Dynamik in der Geschichte nicht gelten lassen wollte. Aber der Reichshistoriker darf bei diesen äußeren Erscheinungen nicht stehen bleiben. Er muß nach den treibenden, rechtlichen Kräften forschen, die ausschlaggebend waren. Sonst verzichtet er auf rechtsgeschichtliche Erkenntnisse. Und da scheint mir eben in der Regel das Hochgericht entscheidend geweseil zu sein. In der Regel. Mehr sage ich nicht. Denn es gibt, inhaltlich geschaut, kein nie und kein imm^r in der Weltgeschichte. Ohne k r i e g e r i s c h e M a c h t k e i n e L a n d e s h o h e i t . Wer sich nicht verteidigen konnte, vermochte selbst wohlerworbenen Besitz nicht zu halten. Nach brutaler Selbstbehaupturig verlangten die fehdelustigen Zeiten des 10. bis 15. Jahrhunderts. Diese Macht stellten nicht die Lehnsmannen, sondern die Dienstleute dar. Diese Dienstleute waren ritterliche Unfreie, die am Hofe des Herrn oder angesiedelt auf herrschaftlichen Gütern lebten. Sie begleiteten ihren Gewalthaber in privaten Unternehmungen, während die Lehnsleute zum Dienst nur verpflichtet waren; wenn das Reich sie aufbot. Zum Privatkrieg durfte der Lehnsmann in der Kaiserzeit nicht gezwungen werden. Kein Wunder, daß sich große und kleine aufstrebende Dynasten mit zahlreichen Dienstmannen umgaben. So heißt es im Kölner Dienstrecht aus der Mitte des 12. Jahrhunderts: die Mannen hätten dem Erzbischof ohne jede Einschränkung Treue zu leisten und gegen jedermann mit ihm zu Felde zu ziehen. D i e s e K r i e g e r , und n i c h t die L e h n s l e u t e , sind die wirksamen V e r t e i d i g e r des L a n d e s h e r r n geworden, wie neustens wieder für Bayern nachgewiesen wurde. Sie haben mit ihm das Territorium erobert und behauptet. Daher heißen sie in Österreich ministeriales terrae und nicht ministeriales ducis (1237). Daher wird im Reichsspruch von 1216 gesagt, der König dürfe über ein Fürstentum nur verfügen: volúntate et assensu prineipis praesidentis et ministerialium eiusdem prineipatus. Als Eroberer und Verteidiger hatten sie neben dem Fürsten ein Mitsprachrecht. Denn es ist ein alter Satz des mittelalterlichen Rechts, daß der Eroberer auch der rechtmäßige Beherrscher des Landes sein soll. Dante hat darüber in seinen Untersuchungen über die Monarchie das Interessanteste geschrieben (um 1310, 2. Buch, Kap. 10 und 11). b) Die Unterwerfung der Bevölkerung hat staatsrechtlich zwei Perioden durchgemacht. Zunächst wurden die Insassen, Adlige wie Bauern, zum reinen Objekt der aufstrebenden Landesgewalt. Der Landesherr verfügte über Territorium

Steuer.

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und Leute, ähnlich, wie ein Privatmann über seinen Grundbesitz. Er verkaufte, 'verschenkte, verpfändete sein Gebiet oder einzelne Gebietsteile nach Willkür und teilte es unter seine Söhne, wie das gesetzliche Erbrecht dies für Grundstücke gebot oder wie erbrechtliche Vereinbarungen dies erheischten. Er trennte Stücke seines Landes ab, wie er wollte, und überantwortete die Einwohner einem neuen Herrn, wie er es für gut fand. Daher war in jener Zeit die Vorstellung einer patria, eines Vaterstaates, eines Vaterlandes, ein leerer Begriff. Es gab kein Vaterland. Es gab nur eine Heimat, den Ort, wo das Geschlecht saß. Der werdende Landesherr brauchte Geld. Anfänglich ersuchend, nach und nach unter dem Schein dès Rechts, legte er eine Steuer auf das Land, die weithin nach ihrem Ursprung „Bede" (Bitte) genannt wurde. Auch Vogtei hieß die Steuer, da sich der Landesherr häufig zum obersten Vogt über sein Gebiet aufwarf. Zu Brücken-, Burgen, und Straßenbauten, zu Einquartierungen, zu Wachtund Spanndiensten zog er die Leute heran, wie es ihn förderlich dünkte. Befehle und Ordnungen erließ er, wie sie seinem Kopf entsprangen. D i e Z e i t v o m E n d e des 11. bis gegen E n d e des 12. J a h r h u n d e r t s war die Z e i t l a n d e s h e r r l i c h e r W i l l k ü r . Man hat daher gesagt, daß in dieser Periode eine rein privatrechtliche Staatsauffassung herrschte. Aber man hat übersehen, daß die einstigen Grafenrechte, die hohe Gerichtsbarkeit und die Heergewalt, ihres Zusammenhang mit dem König und damit mit dem Staate nie ganz verloren hatten. Die Hochgerichtsbarkeit, wiewohl zum Lehn geworden, galt immer als Staatliche, vom König abgeleitete Gewalt. Und das Reichslehnreeht ließ, wie wir oben sahen, ein Aufgebot der Vasallen nur zu, wenn der König, wenn das Reich zu Felde zogen, wenn Reichsinteressen, Gesamtinteressen vorlagen. Es hat also, m o d e r n gesprochen, n i e m a l s einen rein p r i v a t r e b h t l i c h e n A u f b a u der T e r r i t o r i a l g e w a l t gegeben.. A u c h im ersten S t a d i u m der E n t w i c k l u n g sind starke ö f f e n t l i c h r e c h t l i c h e E l e m e n t e l e b e n d i g gewesen. Gegen Ausgang des 12. Jahrhunderts setzte eine neue Bewegung ein. Die landesherrliche Willkür schwindet. Rechtsnormen, die wir heute Normen öffentlicher Natur nennen, treten hervor, und zwar nach drei Richtungen: 1. Den Fürsten wurde verboten, die Fahnlehen in ihrem Gesamtbestande zu teilen und weiter zu leihen. Im Sachsenspiegel w i r d b e r e i t s d i e U n t e i l b a r k e i t des G e r i c h t s g e b i e t e s ausgesprochen ( I I I 53). Das Volk hatte ein Recht auf den einheitlichen Fortbestand der Gerichtsbezirke. Teile der Fürst gegen den Willen der Bevölkerung, so stand ihr das Recht des Widerstandes zu. Mit bewaffneter Hand, so dürfen wir annehmen, konnte sich fortan Ritter, Bürger und Bauer gegen staatliche Zerstückelung wehren. 2. Wir wissen: Die Hochgerichtsbezirke waren Lehen, die kraft Lehnsrechts weiter geliehen werden durften. Ein Lehn konnte vom König herabwandern bis in die sechste oder siebente Hand. Je weiter sich ein solches Lehn vom König entfernte, um so größfer war die Gefahr, jeden Zusammenhang mit (dem König zu verlieren. Hier trat der zweite, wichtige .Gedanke hervor: E i n Gerichtslehn, in dem über das B l u t g e r i c h t e t wurde, d u r f t e über die d r i t t e H a n d hinaus nicht v e r l i e h e n w e r d e n . Lieh es der König einem Dynasten, etwa einem Herzog, so konnte es der Herzog nur noch einmal weitergeben. Eine fernere Belehnuiig war wider

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Wirtschaftslage.

Recht. 3. Den Besten und Größten des Landes (der Reichsspruch von 1231 sagt: meliores et maiores terrae) wurde ein Zustimmungsrecht zu allen einschneidenden Verfügungen des Landesherrn eingeräumt. Der Adel des Landes — denn in ihm sah man damals die Besten — erhielt ein Mitbestimmungsrecht in staatlichen Angelegenheiten. D e r A d e l d e s T e r r i t o r i u m s b e k a m l a n d s t ä n d i s ( c h e n C h a r a k t e r . Ohne dessen Zustimmung vermochte fortan der Landesherr keine neuen Satzungen zu geben und keine neuen Lasten, vor allem Steuer- und Heereslasten, auf das Land zu legen. Fortan nehmen die Stände an der Herrschergewalt des Landesherrn teil. Fortan ist die Ländergewalt zwischen dem dominus terrae und seinen meliores geteilt. Fortan ist die mehr privatrechtliche Gewalt des Landesherrn in eine mehr staatliche Gewalt übergeführt. J e t z t i s t d e r D u a l i s m u s d e s m i t t e l a l t e r l i c h e n T e r r i t o r i a l s t a a t e s g e b o r e n . Der alte, in Vergessenheit geratene g e n o s s e n s c h a f t l i c h e Z u g trat wiederum hervor. Die wohlbegüterten und politisch einflußreichen Bewohner des Landes wurden aus bloßen Objekten zu Mitsubjekten des werdenden Staates. Der deutsche Einzelstaat mußte durch eine Willkürherrschaft hindurch. Wie der moderne, konstitutionelle Staat nur aus der absoluten Staatsform herauswachsen konnte, ebenso mußte der deutsche Territorialstaat des Mittelalters eine Epoche selbstherrlicher Gewalt erdulden. Nur bei voller Bewegungsfreiheit der Fürsten war es möglich, aus dem Chaos des 11. und 12. Jahrhunderts herauszukommen. Den aufstrebenden Landesherren waren ungeheuere rechtliche und soziale Aufgaben gestellt. Fruchtbringend, im höchsten Grade schöpferisch, haben sie das Werk durchgeführt. Das tragische Moment lag nur darin, daß ihrer allzuviele im Spiele waren und daß diese Allzuvielen einen überstarken Vergrößerungshunger verspürten. M e h r e r e H u n d e r t l a n d e s h e r r l i c h e G e b i e t e s t r e c k t e n i h r e b e g e h r l i c h e n A r m e im R e i c h e a u s . Und so bedurfte es notwendigerweise eines Rückbildungsprozesses, der seit dem 14. Jahrhundert einsetzte. Der staatliche, wirtschaftliche und politische Schwerpunkt aber war fortan, stärker denn je, aus dem Reiche in die deutschen Territorien verlegt. In ihnen lag die Zukunft. § 24/ Das Städtewesen. Wie die lombardischen Städte den Reichtum und die Bildung Nord- und Mittelitaliens schufen, ebenso ragten die Städte im Süden, Westen und Norden Deutschlands wirtschaftlich und kulturell als leuchtende Zentren hervor. Die Rechtsgeschichte muß in erster Linie deren r e c h t l i c h e Stellung und Einstellung behandeln. Aber im Städtewesen sind Wirtschaftslage und Rechtsstand so eng miteinander verknüpft, daß zunächst ein kurzes wirtschaftliches Bild entworfen werden muß. 1. D i e W i r t s c h a f t s l a g e . Aus der karolingischen Zeit hatten sich die Grundherrschaften in das kaiserliche Mittelalter hinübergerettet. Im Mittelpunkt der Grundherrschaft stand noch i m m e r der Fronhof mit den zahlreichen • Fronhofsbeamten, und um ihn herum fand sich, als Streubesitz, das an die Bauern ausgegebene zinsende und dienende Land gelagert. Inzwischen aber war die Produktion .wesentlich gesteigert worden. Rationellere Bestellung und geringere kriegerische Verpflichtungen der Bauern

Markt.

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hatten die Wirtschaft so sehr gehoben, daß der Grundherr mit seinem Hofe, selbst bei üppiger Lebenshaltung, o f t nicht mehr imstande war, alle F r ü c h t e zu verzehren. Cäsarius von Heisterbach berichtet uns, die Höfe der Kirche lieferten eine solche Menge von Wein und Salz, daß es geboten sei, das Überflüssige (superflua) zu verkaufen. Man darf nicht vergessen: d a s M i t t e l a l t e r l e b t e n a c h d e m S y s t e m d e r B e d a r f s d e c k u n g . Man wirtschaftete, um zu leben, zum Teil reich, ja verschwenderisch zu leben. Aber stets war das letzte Ziel nicht der l^rwerb selbst (wie später), sondern die Bestreitung des täglichen und jährlichen Bedarfs. D e r b ä u e r l i c h e B e s i t z h a t t e s i c h v e r g r ö ß e r t . Durch Arbeit, Kolonisation und Ausbau war mancher Bauer zu sehr zahlreichen Hufen gelangt. Oft besaß er neben oder außerhalb des grundherrlichen Gutes Wirtschaftsland, das seinen alleinigen Interessen, in loser Abhängigkeit von einem Herrn, diente. D i e f r e i e E r b l e i h e w a r s e i t d e m 11. J a h r h u n d e r t w e s e n t l i c h a n g e w a c h s e n , und die Grundherrschaft selbst hatte viel von ihrer .alten Festigkeit ¿ingebüßt. So erzeugten viele Bauern mehr, als sie verbrauchten, und mußten daher nach Absatz suchen. Wo aber sollte der Absatz anders erfolgen, als auf dem Markte ? 2. D e r M a r k t . Grundherrlieh abhängige Bauern und wirtschaftlich freie Bauern fingen an, auf dem Markt in Massen zu verkaufen. D e r M a r k t s c h w a n g s i c h z u r g r ö ß t e n w i r t s c h a f t l i c h e n M a c h t e m p o r . Diese Macht wurde noch gehoben, als auch die grundherrlichen Handwerker die Erlaubnis erhielten, f ü r den Markt zu arbeiten und als immer mehr Rodungsland ausgenutzt wurde. Und noch mehr stieg die Bedeutung der Märkte durch die erhöhte Silbergewinnung. I m 10. Jahrhundert wurden reiche Silberadern entdeckt, so daß das notwendige Umsatzmittel, das Gold, leichter und rascher geprägt werden konnte. Die Märkte werden zu regen Handelsplätzen. Die Händler (mercatores) m a c h e n sich seßhaft. Ein besonderes, dem Handel angepaßtes Recht t u t sich auf. E i n e eigene, von der Landgemeinde verschiedene Marktgemeinde beginnt ihr genossenschaftliches Leben. S o e r h e b e n s i c h a u s z a h l r e i c h e n M ä r k t e n d e u t s c h e S t ä d t e , manchmal allrfählich, häufiger rasch, durch bewußten Gründungsakt (Gründungsstädte). M a r k t a n s i e d l u n g u n d M a r k t r e c h t s i n d b e d e u t s a m e s t ä d t e b i l d e n d e F a k t o r e n g e w o r d e n . I n einem Privileg von 1084 sagt der Bischof von Speier: er wolle aus dem Dorfe Speier eine Stadt machen (ex villa urbem facere). Daher rufe er Juden herbei und siedele sie an. „ P u t a v i milies amplificare honorem loci nostri." Diese J u d e n erhielten volle Freiheit, Gold und Silber zu wechseln, zu kaufen und zu verkaufen. Der kluge Geistliche wußte, daß sich mit Hilfe der Hebräer am schnellsten Handel entwickelte und damit eine urbs aus der villa entstehen könne. Kaufmännischer Geist sollte gezüchtet werden. Daher richtet man rasch Wechslerstätten in der Stadt ein. Münz- und Zollrechte erhält der Stadtherr. Strenges Maß und Gewicht, unvermeidliche Voraussetzungen jedes blühenden Marktwesens, werden eingeführt und erhöhen die Sicherheit des Handels. Eine eigene Gerichtsbarkeit tritt hinzu. In großen Märkten vermag der Marktherr unter dem Bann des Königs zu richten, und kein anderer Richter darf ihn darin stören. Am 4. August 990 erhält z. B. die. Äbtissin von Gandersheim f ü r ihren Markt monetam (Münze) atque teloneum (Zoll) et regium bannum (Königsbann).

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Fehde.

3. F r i e d e u n d F e h d e . Man darf die Markttheorie jedoch nicht überspannen. Nicht alle Städte sind aus Märkten hervorgegangen. Manche Städte sind aus Burgen erwachsen. So z. B. zahlreiche Städte in Belgien, von deutschen Städten etwa Werne im Norden, Marburg in Mitteldeutschland und Moudon im Waadtlande. In anderen Städten, wie in Köln, waren weder Burg noch Markt ausschlaggebend. I n Köln erscheinen als städtebildende K r ä f t e vor allem die alte römische Siedelung und das erzbischöfliche Schöffengericht. Lübeck scheint seinen Ursprung einer Unternehmergesellschaft zu danken. Aber ganz abgesehen von der Siedelung, aus welcher sich Städte historisch herausbildeten, ist ein Faktor zu wenig beachtet worden: der Friede. Um das im Stadtrecht ruhende Friedenselement würdigen zu können, muß der Friede im Zusammenhang mit Fehde und Blutrache kurz betrachtet werden. I n den wüsten Zeiten des 10., 11. und 12. Jahrhunderts hatten Fehde und Blutrache erschreckend zugenommen. Fehde konnte, gegen jedermann erhoben werden und um jeder Schädigung willen. Es lag im Belieben des Verletzten, seinen Anspruch im Wege der Klage oder der gewaltsamen Selbstliilfe, der Fehde, geltend zu machen. D i e F e h d e w a r R e c h t s e i n r i c h t u n g w i e i n f r ä n k i s c h e r Z e i t . J a , sie h a t t e an Ausdehnung sogar gewonnen. Wer sich stark fühlte, der zog lieber mit einer kriegerischen Schar aus, um sich für seinen Schaden bezahlt zu machen, als daß er sich auf einen ungewissen Prozeß vor einem ungewissen Richter einließ. Ebenso stand es mit der Rache um Blutschuld. Die Befehdung drohte die Grundlage der ganzen sozialen Ordnung zu erschüttern. Eine Schädigung rief die andere, eine Fehde die andere hervor. Weder der Ritter im Harnisch, noch der K a u f m a n n im Reisewagen, noch der Bauer am Pfluge waren sicher vor Überfall. Schwere Not bedrohte das Reich. Die Früchte des Landes lagen in mancher Gegend uneingeheimst am Boden, und ganze Geschlechter wurden vertilgt. D a s e h r i t t e n die Kirche, der K a i s e r u n d die G r o ß e n des R e i c h e s ein u n d d ä m m t e n die F e h d e d u r c h G o t t e s f r i e d e n , L a n d f r i e d e n und Reichsf r i e d e n z u r ü c k . Friedetage wurden eingesetzt (von Donnerstag abend bis Montag morgen), an denen jede Fehde ruhen mußte. Bestimmte Personen, wie Geistliche, Kaufleute und Bauern schloß man aus dem Bereich jeder Fehde aus, ebenso bestimmte örtlichkeiten, wie Kirche, Kirchhöfe, Häuser und Hofstätten. Vor förmlicher Aufsage des Friedens durfte nicht zur Fehde geschritten werden. Der Feind sollte Zeit zur Verteidigung oder zum Nachgeben gewinnen. Mit den schärfsten Strafen ging man vor gegen die Friedebrecher, d. h. gegen die Personen, die sich nicht an diese Einschränkungen hielten. Handabhauen, Tod und Ausstoßung aus der Rechtsgemeinschaft werden häufig als Sülme f ü r Friedensbruch genannt. Aber alle diese Maßnahmen blieben auf halbem Wege stecken; denn die Frieden waren stets nur f ü r wenige Jahre errichtet, galten meistens nur f ü r Teile des Reiches und mußten von den Beteiligten beschworen werden. Wer sich durch Schwur nicht band, war an den Frieden nicht gebunden. Zudem beschäftigten sie sich kaum mit der Blutrache, welche, im Unterschied zur Fehde, nicht auf die rittermäßigen Stände beschränkt blieb, sondern nach wie vor alle Bewohner umfaßte. Eine Aufsage des Friedens war bei Blutschuld nicht vorgeschrieben. W a n n und wo man seinen Feind traf, durfte man ihn überfallen und niederschlagen.

Stadtrecht.

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Und wie zähe hat gerade die Blutrache im deutschen Rechtsbewußtsein gehaftet. Noch im 16. Jahrhundert, nachdem die in Rache geübte Tötimg längst nicht mehr privilegiert war, warnen Rechtsquellen den Täter und seine Sippe vor der Familie des Getöteten. Vermochten die Gottes- und Landfrieden nur wenig gegen Fehde und Blutrache auszurichten, so hatten sie erst recht geringen Erfolg gegen die herumziehenden Brandstifter und Straßenräuber. Dieses Gesindel, zum Teil aus verarmten Adligen zusammengesetzt, stellte eine ungeheure Plage f ü r alle Menschen dar. W a r der Raub gelungen, so vermochte die Beute auf festen Burgen und in verborgenen Winkeln gar leicht gegen Häscher sichergestellt zu werden. Wer reiste, setzte stets Gut und Leben aufs Spiel. Aber auch Bauer und Handwerker, Händler und Geistlicher, Weib und Kind, kurzum, wer, nicht in fester Ummauerung saß, wußte nicht, ob er den nächsten Morgen noch im Genüsse von Eigentum und Gesundheit erlebte. F a ß t man diese trübselige Lage eingehend ins Auge, so versteht man erst die Rolle, welche die deutschen Städte zu spielen berufen waren. Für die E n t s t e h u n g der S t ä d t e ist neben dem Markt der Frieden höchst b e d e u t s a m geworden. M a r k t und Frieden waren die wichtigsten s t a d t b i l d e n d e n K r ä f t e . M a r k t r e c h t u n d F r i e d e n s r e c h t s c h u f e n die besonderen E i g e n t ü m l i c h k e i t e n des S t a d t r e c h t s . I n der Stadt herrscht ewiger Friede. Zeitliche Begrenzungen, wie auf dein Lande, gibt es nicht. Iii der Stadt steht jedermann unter Frieden, wessen Standes er auch sei. I n der Stadt ist selbstherrlicher Frieden. E r bindet, ohne jeglichen Schwur, alle Bewohner. Ich vermag keine kennzeichnenderen Worte anzuführen, als die erste Bestimmung des Straßburger Stadtrechts (um 1150): ad formam aliarum civitatum in eo honore condita est Argentina (Straßburg), u t omnis homo tarn extraneus quam indigena pacem in ea omni tempore et ab omnibus habeat. Friede für alle und ewige Zeiten! Welch ein gewaltiges, erlösendes, heilbringendes Wort, das dreieinhalbhundert Jahre vor dem ewigen Landfrieden (1495) erklang. Man h a t erklärt, der Stadtfriede sei nichts anderes, als ein ausgedehnter Marktfriede. Der Stadtfrieden sei aus dem Marktfrieden entstanden. Gewiß sind aus dem alten Marktfrieden Elemente in den neuen. Stadtfrieden hineingewandert. Aber ebenso haben der Burgfrieden und das Asylrecht der Kirchen darauf eingewirkt, besonders auch die in den großen Landfrieden steckenden Einrichtungen. D e r S t a d t f r i e d e n i s t d a s E r g e b n i s v i e l e r z u s a m m e n w i r k e n d e r K r ä f t e . In diesem Sinne ist er etwas Neues, das der Stadt neben dem Markte ihr eigenartiges Gepräge verleiht. Ein besonderes, vom König verliehenes Zeichen wird als Friedenszeichen aufgepflanzt: das Marktkreuz oder die Marktfahne. 4. D e r A n t e i l d e s K ö n i g t u m s . Die deutschen Könige haben viel, sehr viel zur Entstehung und Fortbildung der Städte beigetragen. Die großen Immunitätsprivilegien der Ottonen und a n derer Kaiser haben das Städtewesen gewaltig gefördert. Den geistlichen Fürsten worden Hochgerichtsbarkeit und eine Fülle nutzbringender Hoheitsrechte verliehen, aus denen sich städtisches Leben und städtische Verfassung entwickelte. Auch mit Marktprivilegien haben die Kaiser nicht gespart, in,denen sie einem Dynasten Wochen- und J a h r m ä r k t e zu halten erlaubten. Sahen sie doch in den

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Städtepolitik.

Städten der geistlichen Fürsten wichtige Stützpunkte der Reiehsgewalt, glaubten sie mit Immunitäts- und Marktprivilegien einen Gegenstoß gegen die weltliehen Herrn zu führen. (§ 20, 2.) Die kaiserliche Städtepolitik schlug aber fehl. Mit der Emanzipation der geistlichen Fürsten, die wir oben besprachen, stiegen die großen Städte zu selbständigen Gebieten auf, zu Machtzentren, die den Einheitsbestrebungen der S t a u f e r wenig günstig waren. Die Städte drängten, wie die Territorien des Landes, zu möglichst selbständiger staatlicher Entfaltung, wenn auch auf viel engerem Gebiet. Freilich darf dabei eins nicht vergessen werden: Haben die hervorragenden Reichs- und Freistädte dieses Ziel im ganzen erreicht, so unterstützten sie doch zu gleicher Zeit die Reichsgewalt in weitem Umfange. Sie zahlten Steuern, stellten Krieger, gewährten dem König Darlehen und hielten die Reichsidee hoch. Als das Reich in der Mitte des 13. Jahrhunderts aus den Fugen zu gehen drohte, taten die im rheinischen Bund geeinigten Städte alles, damit das Reich zu einer raschen, einhelligen Königswahl gelange lind die Reichsgüter inzwischen nicht verschleudert würden (Beschluß von 1256). Die Bedeutung der Städte in der Zeit des Interregnums kann nicht genug betont werden. Sie wurden aus „Objekton der Gesetzgebung zu Trägern der Politik und der Rfechtsbildung im Reiche". So sind die Städte trotz aller selbstherrlichen Bestrebungen doch auch Erhalter und Mehrer des Ganzen geworden. Die deutschen Herrscher haben mit ihrer Städtepolitik ungeahnten Segen über das deutsche Reich gebracht. Sie förderten darin die wunderbare Mannigfaltigkeit der Entwicklung. Denn die Sonderbildungen in den Städten sind es, welche den bunten Reichtum, im höchsten -Sinrte des Wortes, hervorgerufen haben. K r a f t der politischen Selbständigkeit, welche sich die Städte erkämpften, waren sie imstande, die im Bürgertum steckenden fruchtbaren Keime eigenartiger K u l t u r zu entfalten. Und diese Sonderkultur, von Basel bis Hamburg, von Köln bis Magdeburg, ist wertschaflEend geworden in Wirtschaft und Recht, in Kirche und Kunst, in jeder Richtung des geistigen Lebens. Der Bürger wurde zum Träger der Bildung. 5. R e i c h s - u n d L a n d s t ä d t e . Viele auf Königsgut gegründete Städte fielen der willkürlichen Veräußerung und Verpfändung des Königs anheim und gelangten auf diese Weise unter einen Landesherrn. Dagegen lehnten sie sich mit Erfolg auf und viele behaupteten fortan ihre Reichsunmittelbarkeit. S e i t d e m 13. J a h r h u n d e r t s p r i c h t m a n d a h e r v o n R e i c h s s t ä d t e n . Sie hatten dem König zu huldigen und ihn mit Kriegern und Steuern zu unterstützen. Dafür, erhielten sie eigene Satzungsgewalt (Autonomie), eine Fülle von Regalien, wie Zoll-, Juden- und Münzregal, kurzum eine den Landesherren ähnliche selbständige Stellung. F ü r zahlreiche Bischofsstädte, die sich zu Reichsstädten aufschwangen, k a m im 14. Jahrhundert der Name F r e i s t ä d t e auf. D i e m e i s t e n S t ä d t e a b e r s i n d L a n d s t ä d t e ( M e d i a t s t ä d t e ) g e b l i e b e n : sie hatten einen Territorialherrn zum Gründer und vermochten niemals Reichsunmittelbarkeit zu erlangen. I h r Recht nahmen sie am fürstlichen Hofgerieht. Eine der frühesten und hervorragendsten dieser Landstädte war die Stadt Freiburg i. Br., deren Stadtrecht mit den lapidaren Worten anliebt: Notum sit omnibus tarn futuris

Bürgertum.

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quam praosentibus, qualiter ego Cuonradus (Herzog von Zähringen) in loco mei proprii iuris scilicet Friburg forum constituí anno ab incarnatione Domini 1120, ein Musterbeispiel f ü r eine auf eigenem Grund und Boden gegründte Kaufleute stadt. Wieder andere Städte wurden ins Leben gerufen von kleinen Dynasten, die selbst niemals Landeshoheit besaßen. Man nennt sie oft Patrimonialstädte, weil diese das Schicksal hatten, wie ein Patrimonium der Willkür ihres Stadtherrn ausgeliefert zu sein. Mit diesen Land- oder Mediatstädten stand der König in keiner unmittelbaren Verbindung. Sie waren nur Teile des Reiches als Glieder eines landesherrlichen Gebietes. 6. D a s B ü r g e r t u m . t ) i e Z ü n f t e . Rein ökonomisch betrachtet, hat es in den Städten zwei Klassen von Menschen gegeben, die eine, welche aus Handel, Handwerk und daneben aus landwirtschaftlicher Arbeit sich selbst ernährte, die andere, welche auf fremde Arbeit angewiesen war. Man muß sich die deutschen Städte, auch die größten, noch recht ländlich ¡vorstellen, mit reichem Ackerland in- und außerhalb der Stadtpfähle und bedeutendem Almendbesitz. Noch 1422 wird von Weingärten, Äckern und Wiesen innerhalb des Burgbannes von Mainz gesprochen. Eine große Zahl von Bürgern vermochte sich selbst zu verpflegen. Viele Einwohner aber bezogen vom Lande her ihre Renten und verbrauchten sie in der Stadt; nämlich die Leute, welche vor allem die Handwerker und Händler beschäftigten. Zu diesen „Landrentenberechtigten", ohne welche die Städte wirtschaftlich gar nicht existieren konnten, gehörten der König, die Fürsten, die Geistlichen, die großen Lehns- und Dienstleute, kurzum das ganze Heer der Herren, die von auswärtigen Grundrenten lebten'. Nur langsam schaffte sich die Stadt durch Handel und Gewerbe die Macht, die gesamte Bevölkerung zu ernähren und damit den Bezug von Landrenten entbehrlich zu machen. Handel und Gewerbe wurden dann zu den eigentlichen kapitalbildenden Kräften der Stadt. Das städtische Kapital ist nicht aus Grundrenten hervorgegangen. Juristisch betrachtet, zeichnet sich das Bürgertum durch vier wesentliche Merkmale aus. 1. I m engsten Zusammenhang mit der Dorfgemeinde steht der Satz: B ü r g e r i s t , w e r G r u n d b e s i t z h a t i n d e r S t a d t . (Namentlich auf diese Tatsache b a u t sich die veraltete Landgemeiridetheörie adf.) Eigen war oft nur das Haus, während Grund und Boden dem Stadtherrn gehörten, so daß daran höchstens Erbleihe möglich war. Später wurde dieses Erfordernis oft gemildert. Bürger konnte dann sein, wer den Nachweis leistete, daß er Bürgergeld zahlte. 2. I m B ü r g e r t u m s t e c k t e d i e T e n d e n z n a c h s t ä n d i s c h e r F r e i h e i t . Schon der Markt kümmerte sich wenig um ständische Abstufungen. Man k a u f t e die Ware, wo sie gut und preiswert war. Auf dem Markt tritt an Stelle der Person das Objekt. Wer kaufmännisch denkt, sieht allein auf den Gegenstand. Als der Stadtfrieden hinzukam, der alle, vom kleinsten Händler bis zum größten Rentenberechtigten, gleichmäßig umfaßte, da war es nicht mehr weit zu' jenem berühmten Rechtssatz, der die städtische Entwicklung auszeichnet: S t a d t l u f t m a c h t f r e i . Freilich blieben in der Stadt die Fronhöfe, angefüllt von Freien, Halbfreien und Unfreien, noch lange Zeit bestehen. Dennoch brach sich die ständische Freiheit allmählich Bahn, weil der Bürger, zu Wohlstand gelangt, oft seine Unfreiheit F e h r , Deutsche Rechtsgeschichte.

4.*AnII.

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Bürgertum.

abkaufen konnte, und weil der in die Stadt gezogene Mensch nach J a h r und Tag frei wurde, wenn kein „nachjagender H e r r " Ansprüche gegen ihn geltend machte. Man stelle sich vor, wie dieses Privileg wirken mußte. Ein riesenhafter Zug nach diesem Zentrum der Freiheit stellte sich ein, ein Wettrennen, wie wir es erst im 19. und 20. Jahrhundert wieder erlebt haben. Die Grundherrschaften litten stark darunter und nahmen einen energischen Kampf gegen die Städte auf. Aber auch dem Grafen und anderen Gerichtsherren des Landes waren die Städte ein Dorn im Auge, ganz besonders, als es nicht ungebräuchlich wurde, das Bürgerrecht in der Stadt zu erlangen und auf dem Lande, außerhalb der Stadtgrenze, wohnen zu bleiben. D i e s e L e u t e h i e ß e n P f a h l b ü r g e r . Sie zahlten ihre Steuern an die Stadt und unterstanden mit ihrer Person der städtischen Gerichtsbarkeit. Dies reizte die geprellten Landesfürsten so sehr, daß sie in Friedrichs II. Privileg von 1232 die Norm erzwangen: „Item cives, qui phalburgere dicuntur penitus eiciantur." Aber der Streit um die Zulassung von Pfahlbürgern hat noch Jahrhunderte lang weiter getobt. 3. Dieser Zug nach ständischer Gleichheit aller Bürger war zugleich der Schlachtruf gegen die Lehnshierarchie. Die lehnrecht]ichen Abstufungen, die den Menschen bewerteten nach seinem festen Rang in der Heerschildordnung, konnten im städtischen Leben keine Aufnahme finden. D i e S t a d t h a t d i e H e e r s c h i l d o r d n u n g n i c h t ü b e r n o m m e n . Das deutsche Bürgertum hat den Kastengeist des Lehnrechts nicht mitgemacht. Das deutsche Bürgertum hat es gewagt, die Schranken der feudalen Form zu sprengen und an Stelle der Unterordnung die Idee der Nebenordriung zu setzen. Das deutsche Bürgertum h a t den genossenschaftliehen Gedanken wiederum in den deutschen Staat zurückgeführt. Freilich alles nur der Grundstimmung nach. Denn in Wirklichkeit erhoben sich in den Städten rasch die höhergestellten Ritter- und Kaufmannsfamilien über den gemeinen Bürger. S i e s c h u f e n e i n s t ä d t i s c h e s P a t r i z i a t , d a s l a n g e Z e i t i n s t ä d t i s c h e n A n g e l e g e n h e i t e n d e n A u s s c h l a g g a b . Aber dieses Patriziat bedeutete doch keinen Rückfall in die Lehnsverfassung des Landes und war oft mehr sozialer, als rechtlicher Natur. Im 14. Jahrhundert wurde es vielerorts gestürzt, um sich bald darauf wieder zu erheben. Daß die Bürger mancher S t ä d t e nach Lehnsfähigkeit drängten und sie auch erreichten, War dem tiefsten Sinne des Städtewesens zuwider. 4. Das vierte Merkmal, unter dem das Bürgertum steht, ist das der Organisation. Der moderne Gedanke der Gliederung und Zusammenfassung nach Berufen ist ein Erzeugnis der deutschen Stadt. I h m v e r d a n k e n d i e Z ü n f t e i h r e E n t s t e h u n g . Eine ganze Literatur hat sich über dieses Problem ergossen. Seit dem ] 7. Jahrhundert besitzen wir dogmengeschichtliche Erörterungen über die Zünfte, und wir sind über deren Ursprung heute noch nicht völlig aufgeklärt. V e r m u t l i c h v e r d a n k t e n d i e Z ü n f t e im ü b e r w i e g e n d e n T e i l e D e u t s c h l a n d s ihre H e r k u n f t den genossenschaftlichen E i n u n g e n der H a n d w e r k e r , wobei die Motive des Zusammenschlusses verschiedenster Art waren: gewerblicher, polizeilicher und gerichtsherrlicher Art. Auch die religiösen Motive sind nicht zu unterschätzen. Führend aber Waren überall wirtschaftliche Kräfte. Die Zunftbildung ist die erste große soziale Bewegung des Mittelalters. — N e b e n d e n Z ü n f t e n h e r g i n g e n d i e Ä m t e r (officia). Stadtherrliche und gr^ndherrliche

Zünfte.

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Beamte erzwangen einen Zusammenschluß des Handwerks, das f ü r den Markt arbeitete. Aus dem Amte brauchte keine Zunft hervorzugehen. J e stärker aber in einer solchen Berufsorganisation der genossenschaftliche Geist lebendig wurde, um so rascher gelang es, den herrschaftlichen Beamten zu verdrängen und sich auf dem Boden der zünftischen Selbstverwaltung zu stellen. Z u r Z u n f t g e h ö r t e d e r Z u n f t z w a n g , d e r i m 12. J a h r h u n d e r t s i c h g e l t e n d m a c h t e : Wer sein Handwerk ausüben wollte, mußte einer Zunft angehören. Alle Berufsgenossen mußten einer Zunft beitreten. Und da die Stadt den weisen ökonomischen Grundsatz befolgte, f ü r den Markt nicht mehr zu produzieren, als die Nachfrage es verlangte, so ließen die Zünfte nur eine festbestimmte Zahl von Meistern in jedem Berufe zu. So eng und verkejxrsfeindlich manchem heute das Zunftwesen erscheinen muß, bot es dennoch ungeheure Vorteile für das wirtschaftliche und soziale Leben. Nur mit Hilfe der Zunft konnte das Wort Wahrheit werden: „Das Handwerk ernährt seinen Mann", d. h., jeder Gewerbetreibende fand einen auskömmlichen Unterhalt f ü r sich und seine Familie, wie andererseits das Einzelinteresse am Gesamtinteresse seine Grenze fand. Vom Zunftzwang ausgeschlossen blieben die Großhändler. Der kühne, großhändlerische, spekulative Geigt war in diese Schranken nicht einzufangen. Der Organisationsgedanke führte noch zu einer zweiten Neuerung, die überaus fruchtbar auf Stadt und Staat wirkte. Aus der Gesamtorganisation der Bürger ist die Idee der juristischen Person erwachsen. D i e j u r i s t i s c h e P e r s o n i s t i n d e r S t a d t g e m e i n d e , n i c h t i n d e r L a n d g e m e i n d e e n t s t a n d e n . Die Dorfgemeinden waren gestaltet nach dem Prinzip der Genossenschaft zur gesamten Hand. Sie stellten juristische Vielheiten mit einem starken, einheitlichen Kern dar. Historisch sind auch die Städte aus Genossenschaften hervorgegangen, und viele von ihnen gelangten erst spät zur vollen Einheit der juristischen Person. Aber die Idee: über der Vielheit der Bürger eine Einheit, eben die S t a d t selbst rechtlich in Erscheinung zu bringen, diese Idee entsprang dem deutschen Bürgertum. I m 12. Jahrhundert beginnt diese Auffassung um sich zu greifen. Der Mainzer Frieden von 1235 scheidet bereits scharf „ s t a t " und „liute" (Bürger) voneinander. (Nahm die Stadt einen Geächteten auf, so sollte die Stadt f ü r sich, neben den Bürgern, für rechtlos erklärt werden. § 30.) Auf die Bildung der juristischen Person in der Stadt haben eingewirkt: Der Grundsatz der ständischen G l e i c h h e i t ; der alle Bürger umspannende F r i e d e ; die gemeinsame V e r t e i d i g u n g s p f l i c h t der Bürger; die gemeinsame K a s s e , aus der städtische Einrichtungen bezahlt wurden; die der Gemeinde als Ganzem auferlegte S t e u e r und der geistige, nachbarliche Z u s a m m e n s c h l u ß , den eine durch Mauern, Türme und Tore eingeengte Masse notwendig erfahren muß. „ D a wir alle Nachbarn (nalribure) heißen, die in dieser Stadt sind", lautet es so treffend und plastisch im Stadtrecht von Mühlhausen (zwischen 1231 und 1239). 7. S t ä d t i s c h e E i n r i c h t u n g e n . Wenn man die Frage aufwirft, in welchem Augenblick ist eine Stadt j u r i s t i s c h als entstanden anzusehen, so muß die Antwort lauten: sobald aus der Landgemeinde eine besondere Gemeinde abgespalten ist. Die Stadtgemeinde in ihrer Besonderheit als Marktgemeinde (oder als Burggemeiiide) und Friedensgemeinde ist das eigentliche Kriterium f ü r die Stadt (civitas, oppidum, urbs). Nicht Ummauerang und Befestigung sind das Entscheidende. D i e s e r G e m e i n d e s i n d z w e i E i n r i c h -

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Stadtgemeinde.

t u n g e n e i g e n t ü m l i c h : ein b e s o n d e r e s R e c h t u n d ein b e s o n d e r e s Ger i c h t . Der Markt strebte vor allem nach einem rascheren und beweglicheren Recht als das Land und nach rascheren Vollstreckungsmöglichkeiten. F ü r Handel und Verkehr genügte das schwerfällige Landrecht nicht. Der Stadtfriede rief ein eigenartiges, städtisches Straf- und Prozeßrecht hervor. Floh der Verbrecher, so hielt man sich an dessen Haus. Es wurde dem Erdboden gleichgemacht. (So im Freiburger Stadtrecht § 8.) Das Stadtgericht w a r ungleich ausgebaut, je nachdem die Stadt in den Besitz der hohen Gerichtsbarkeit gekommen war oder nicht. Die Bischofsstädte, welche diese regelmäßig erlangt hatten, setzten einen Vogt (oder einen Burggrafen als Vogt) ein, der die Gerichtsbarkeit vom Bischof zu Lehn trug und vom Kaiser den Blutbann einholen mußte. Wo der Stadt nur niedere Gerichtsbarkeit eingeräumt war, da amtete ein Schultheiß (causidicus, iudex), der in der Regel in Verbindung mit einem Schöffenkollegium Urteil sprach. In Straßburg hatte der Schultheiß sogar einen Teil der hohen Gerichtsbarkeit inne. Es ist leicht verständlich, darß die Bürger mit aller Energie versuchten, die Besetzung der richterlichen Amter an sich zu reißen. Vielerorts ist es ihnen auch gelungen, zum Teil unter heftigen Kämpfen gegen den Stadtherrn. I n der S t a d t b e g e g n e t u n s a u c h z u m e r s t e n Male der K o m p l e x v o n t e c h n i s c h e n E i n r i c h t u n g e n , d e n w i r V e r w a l t u n g n e n n e n . Drei Momente erforderten diese Verwaltung. Einmal der Unterhalt der Mauern, Grüben und Tore, deren Sorge dem Stadtkommandanten, dem Burggrafen, anvertraut war. Dann die Marktpolizei, welche R u h e und Ordnung auf dem Markte hielt und für richtiges Maß "und Gewicht Sorge trug. Drittens das gesamte Steuerwesen. Die Städte sind die Schöpfer eines geordneten Steuerwesens. Nicht Handel und Wandel allein, sondern vor allem die Ausbildung einer rationellen Steuertechnik setzten sie instand, zu den großen Wirtschaftszentren des Mittelalters und der Neuzeit aufzusteigen. Die Territorialherren des Landes sind den Städten oft spät nachgehinkt. Der Stadt ist es gelungen, neben den direkten Steuern auch indirekte einzuführen, z. B. das Ungeld, die Akzise. Sie, die Akzise, ist zur wichtigsten städtischen Steuer geworden. Wesentlich f ü r das Hervorbringen von Verwaltungsgeist und Verwaltungsgeschick war die Art, wie die Stadtherren ihre Steuer forderungen festsetzten: sie griffen nicht auf den einzelnen Bürger, sondern erhoben die Steuer von der Gemeinde als Ganzem. Den städtischen Beamten lag daher die Pflicht ob, die einzelnen Bürger zu veranlagen. A l s o b e r s t e s v e r w a l t e n d e s O r g a n e r s c h e i n t d e r S t a d t r a t . E r ist nicht überall aus gleicher Wurzel entsprungen. Überwiegend mag er als Ausschuß der Gesamtbürgerschaft (z. B. in Goslar u n d in Riga) begründet worden zu sein. Der S t a d t r a t gab den Bürgern die Waffe in die Hand, sich vom Drucke des Stadtherrn zu befreien und zu einem S e l b s t v e r w a l t u n g s k ö r p e r zu werden. Bald friedlich, bald unter gewaltsamen Anstrengungen, ist die Emanzipation vom Stadtherrn Ende des 12. und i m 13. Jahrhundert vor sich gegangen. Die städtefeindlichen Gesetze Friedrichs I I . , in denen u. a. die Absetzung der selbstherrlich eingesetzten Stadträte und B e a m t e n verlangt wurde, hatten keinen Erfolg mehr (Gesetz von 1232). Die Gefahr, die der Stadt drohte, ¿ a m nicht vom Stadtherm und nicht vom Reiche, sondern v o n der Landeshoheit. Sie h a t nachmals die Selbstverwaltung erschüttert oder gar zerstört.

Treue.

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§ 25. Die Feudalisierung der Heer- und GerichtsTerfassung. 1. D a s L e h n r e c h t . Unter Feudalisierang versteht man die Umbildung landrechtlicher Institute zu Einrichtungen des Lehnrechts. Zum 1 Verständnis sei zunächst ein kurzer Blick auf die Verhältnisse des Lehnrechts in der Kaiserzeit geworfen. D e m Lehnrecht sind drei Wesensmerkmale eigpn. 1. Alle lehnrechtlichen Fäden laufen im König zusammen. D a s L e h n s y s t e m i s t e i n s t r e n g h i e r a r c h i s c h e r B a u , m i t d e m K ö n i g als e i n z i g e r u n d h ö c h s t e r S p i t z e . Es weist, wie die katholische Kirche, fast ausschließliche herrschaftliche Momente auf. Alles ist Rangordnung und Abstufung, Einordnung und zeremoniellste Gliederung. Der Mensch fühlt sich sicher in der Zwangsjacke der Form. Einer der wenigen genossenschaftlichen Züge besteht darin, daß der Herr in Streitigkeiten mit einem Vasallen vor dem Gerichte der übrigen, eigenen Vasallen Recht nehmen muß. Daher ist im Prinzip alles Lehngut Reichsgut. Wird'ein Eigengut in den Lehnsbereich hinübergeführt, so wird es theoretisch zum Reichsgut. 2. D a s L e h n s s y s t e m ist kein bloßes R e c h t s s y s t e m . E s ist zugleich eine O r d n u n g h ö c h s t e r T r e u e . A u s Treumomenten und Rechtsmomenten setzt es sich zusammen, und diese Doppelnatur h a t es aus der alten Gefolgschaft mitgebracht. Das eigenartige dabei ist: der Treubegriff läßt sich nicht so bestimmt fassen, wie ein Rechtsbegriff. Jn der Treue sind durchaus persönliche, ich möchte sagen, gefühlsmäßige Momente maßgebend, Momente, die nur zwischen d i e s e n Personen und nur in d i e s e m A u g e n b l i c k e wirken. Dieses Treumoment gibt dem gesamten Lehnrecht etwas juristisch Schwankendes, im Einzelfall schwer Faßbares. Der Treubegriff ist außerordentlich dehnbar, während der Rechtsbegriff Geschlossenheit und Festigkeit in sich trägt. — Nach den Rechtsbüchern h a t der Mann seinem Herrn „Mannschaft" zu leisten, d. h., sich zu treuer Hilfe und zu treuem Beistand zu verpflichten. Aber es kann kein Zweifel sein: Auch der Herr ist dem Manne zur Treue verpflichtet. Das Lehnsverhältnis ist ein Verhältnis gegenseitiger Treue. 3. I m L e h n w e s e n s t e c k t d i e I d e e d e r D i e n s t l e i s t u n g f ü r d e n K ö n i g . Aller Lehnsdienst ist letzten Endes Königsdienst. Der Dienst ist persönlich zu t u n ; eine Vertretung oder eine Ablösung sind grundsätzlich ausgeschlossen. Überblicken wir aus diesem Ideenkreis heraus das Lehnrecht in seiner E n t wicklung seit der fränkischen Zeit, so ergibt sich teils eine vollständige Umkehr der Rechtsprinzipien, teils ein tiefer Eingriff in diese. — Zunächst steigern sieh die lehnrechtlichen Vorstellungen wesentlich u n d erreichen ihre Vollendung in der Zeit der Kreuzzüge. Ein religiös mystischer Zug, gegründet auf kriegerische Leidenschaft und auf höfisches Zeremoniell, geht durch die ganze europäische Welt, und dieser''Zug hebt das Treumoment im Lehnrecht hoch empor. Dem Lehnsherrn die Treue brechen, ist das Niedrigste und Verdammenswerteste, was ein Mann auf sich laden kann. Diese Heiligung der Treue hing aufs engste zusammen mit den Ritterorden, welche sich im Morgenlande gebildet hatten und von dort den europäischen Adel in ihre Netze einspannten. In diesen Ritterorden ist der Geist höchster Tugend, höchster Reinheit, höchster Treue, höchsten Herrendienstes gezüchtet und gezeitigt worden. Aber am Ende des 12. Jahrhunderts

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Waffenrecht.

ging die große religiöse Energie im Rittertum zurück, und damit verflüchtigte sieh auch das Treumoment. Einen zweiten schweren Stoß empfing das Lehnrecht durch das Absterben der monarchischen Ideen, die e s groß gemacht hatten. D e r K ö n i g g l i t t v o n s e i n e r o b e r s t e n S p i t z e h e r a b . Es bildeten sich neben dem Reichslehnrecht territoriale Lehnrechte aus, die in Wahrheit nicht mehr den König, sondern einen Dynasten als obersten Herrn anerkannten. Es kam der Rechtssatz auf, daß jeder Lehnsfähige sein Eigen zu Lehen geben könne und daß solches Lehen nicht zu Reichsgut werde, also nicht in Berührung mit dem König stehe (so Sachsenspiegel Lehnrecht 69, § 8). Das Band zwischen Lehn und Königtum wurde zerschnitten. Endlich — und das ist der bedeutendste Schritt gewesen —• t r a t e n Ende des 12. Jahrhunderts die persönlichen Dienstleistungen stark in den Hintergrund. J a , manche Dienste hatten ihre Natur als belastende Verpflichtung überhaupt verloren, so vor allem das Gerichthalten. Wenn einst der mit einem Benefizium ausgestattete fränkische,Graf Gericht hielt, so bedeutete dios beschwerlichen Königsdienst. Jetzt war das Richteramt überwiegend auf sich selbst gestellt und zu einem nutzbringenden Hoheitsrecht geworden, das man um pekuniärer Vorteile willen in eigener H a n d behielt oder weiterlieh. Die Geschichte der Kaiserzeit erweist sich demnach in ihrer letzten Epoche -Als eine Zeit gewaltiger Lockerungen im Lehnssystem. Mit dem Wandel der Ideen hatte sich das gesamte Lehnsrecht verschoben, verkehrt, zum Nachteil seiner selbst und zum Schaden der Königsgewalt. Durch Kodifizierung des geltenden Rechts versuchte man der Auflösung H a l t zu gebieten. So erließ Friedrich I. im November 1158 das berühmte Lehnsgesetz auf den ronkalischen Feldern, das größtenteils für Italien galt. Aber gerade eine der bezeichnendsten Normen hatte auch f ü r Deutschland K r a f t : Wollte ein Vasall zu einem angesagten Heereszug nicht kommen, so konnte er einen Vertreter stellen oder sich durch die halben Jahreseinkünfte des Lehns vom Dienste befreien (§ 5). Eine iein geldliche Abwägung der Dienste hatte sieh durchgesetzt. — Auch die glänzenden Zusammenfassungen des Lehnrechts durch Eike von Repgau (um 1230) und durch den Verfasser des Schwabenspiegels (um 1275) vermochten das Lehnrecht nicht auf seiner Höhe zu halten. Gegen den Aüsgang des 13. Jahrhunderts waren seine Grundlagen so tief erschüttert, daß an eine Auferstehung nicht mehr gedacht werden konnte. 2. D i e H e e r v e r f a s s u n g . a) Die größte Wirkung des Lehnrechts zeigte sich in der Ausschaltung der Bauern aus dem deutschen Heere. Wir vermochten das Zurückdrängen der bäuerlichen Bevölkerung schon im 9. und 10. Jahrhundert zu verfolgen. Zwei J a h r hunderte später beginnt sich der Bauer fast ganz aus dem Heere zu verlieren. Wo er etwa noch beigezogen wird, darf er nur zu F u ß fechten. Häufiger zieht er als bloßer Bedienter und Wagenknecht mit. E n d e d e s 11. J a h r h u n d e r t s h a t d e r B a u e r s e i n W a f f e n r e c h t i m H e e r e e i n g e b ü ß t . E r bleibt für die Bestellung des Feldes vorbehalten. Die Trennung von Nährstand und Wehrstand war vollzogen, und die uralte Vorstellung, daß kämpfen vornehmer sei als arbeiten, behielt die Oberhand. Besonders die Ritterorden schlössen sich mit der größten Energie gegen das bäuerliche Element ab. 1186 verbot der König den Bauernsöhnen, die etwa ins Heer eintreten würden, das Abzeichen des Ritters (das cingulum

Romfahrt.

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militare) anzulegen. Als Mann der Feldarbeit war der Bauer in den Waffen und im Reiterkampf nicht geübt. Das Waffenhandwerk war zu einer K u n s t geworden, an der n u r Ritterbärtige teilhaben sollten. In einzelnen Gegenden Deutschlands wurde auf den vom Dienst befreiten Bauern eine Heersteuer gelegt. (Aber diese Steuer t r i t t gegenüber den auferlegten Gerichtssteuern stark zurück.) W ä h r e n d der letzten J a h r h u n d e r t e der Kaiserzeit war der Bauer n u r n o c h z u r G e r i c h t s f o l g e v e r p f l i c h t e t . Der Richter der Grundherrschaft oder der Dorfrichter konnte die Eingesessenen k r a f t seiner Gerichtsgewalt zur Verteidigung der engsten Heimat aufbieten. Aus dem Heerdienst war ein bloßer Polizeidienst geworden. Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, Abwehr und Verfolgung von Friedensbrechern blieben hauptsächlich den Bauern auferlegt. Als Höchstes wurde etwa verlangt, daß der Bauer drei Tage und drei Nachte eine Burg belagere, wenn ein Friedensbrecher sich dorthin flüchtete. Mit dem alten Heerbann hatten solche Einrichtungen juristisch nichts mehr zu tun. Die allgemeine Wehrpflicht war in Vergessenheit geraten. Was die frankische Zeit anbahnte, h a t die Kaiserzeit vollendet. b) Bot der König zum Heeresdienst auf, so fielen drei Personengruppen in Betracht. D i e v o r n e h m s t e n undr w e r t v o l l s t e n K r i e g e r s t e l l t e n d i e L e h n s l e u t e . Wer Glied des Reichslehnsverbandes war, hatte sich am bestimmten Sammelplatz einzufinden. Der Dienst war Königsdienst, Reichsdienst. E r durfte nur geboten werden zu Reichszwecken. Dienstverweigerung zog den Verlust des Lehns nach sich. Die Flucht aus dem Heere sühnte der Lehnsmann mit Einbuße der ritterlichen Ehre und des Lehns. Desertion durfte nicht am Leben gestraft werden. Aber ein ritterliches Leben ohne Ehre war furchtbarer als der Tod. Z u r R o m f a h r t waren n u r die L e h n s l e u t e verpflichtet, deren Herr a u f g e b o t e n w u r d e . Der deutsche König wußte wohl, warum er mit gewappneter H a n d nach Rom zog zur Weihe durch den Papst. Der deutsche König durfte nicht als Bittender kommen, sondern als Fordernder. Und diesem Gedanken trug das Reichs lehnsrecht Rechnung. Schon frühe nehmen n u n aber auch Leute an der Heerfahrt teil, welche nicht im Lehnsverbande standen: d i e M i n i s t e r i a l e n , des riches dienstman, die im Gegensatz zu den Lehnsleuten ritterliche Unfreie waren, zum Reiche gehörten und im Felde von Reichsvögten kommandiert wurden. Auch die Mannschaften, welche die Städte stellten, standen außerhalb des Lehnsbereiches. Zwar gab es ein städtisches Patriziat, welches zu Pferde kämpfte und dem ritterlichen Lehnsmann gleichkam. Die große Masse der Bürger dagegen zog nicht mehr persönlich aus. Sie unterstützte den Feldzug mit der Frucht ihrer Arbeit, mit Geld, wobei die Heersteuer als Last der ganzen Stadtgemeinde auferlegt wurde. Oder die S t a d t stellte, was seit dem 12. Jahrhundert mehr und mehr üblich wurde, gedungene Truppen, die Söldner. V o n d e n S t ä d t e n a u s i s t d a s S ö l d n e ' r w e s e n i n d i e d e u t s c h e H e e r v e r f a s s u n g e i n g e f ü h r t w o r d e n . Der Söldner kämpfte regelmäßig zu Fuß. So sind es auch die Städte gewesen, welche zuerst mit dem Reiterheer gebrochen haben. Söldnerheer und Fußheer besitzen ihre Wurzeln in der Stadt. Ihnen sollte die Zukunft gehören. Viele Städte — aber auch Herren des Landes — erlangten im Laufe der Zeit dauernde Befreiung vom Heerdienst. Freilich ließ sich der König zu solcher Privilegierung nur ungern herbei.

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Gericht.

c) Die große Wandlung, die wir die Feudalisierung der Heerverfassung nennen, fällt in die staufische Zeit. Bis tief in das 12. Jahrhundert hinein herrschte die Auffassung vor, die vom König aufgebotenen geistlichen und weltlichen Fürsten leisten ihren Heerdienst als eine staatsrechtliche, nicht als eine lelmrechtliche Verpflichtung. A^it dem Vordringen des Lehnrechts im ganzen Staatswesen verschob sieh diese amtsrechtliche Grundlage. D i e H e e r p f l i c h t d e r G r o ß e n d e s R e i c h e s w u r d e a l s L e h n s p f l i c h t a u f g e f a ß t . Mit ihren Szepterlehen und ihren FahnUjhen übernahmen sie die militärischen Pflichten als eine lehnrechtliche Auflage und boten ihrerseits wiederum k r a f t Lehnrechts ihre Lehnsleute auf. Daher wurde den Fürsten ein besonderer Bann (Aufgebotsrecht) nicht verliehen. D e r K ö n i g s b a n n d e s 12. u n d 13. J a h r h u n d e r t s i s t k e i n H e e r b a n n . E r ist a u s s c h l i e ß l i c h Geifcchtsb ann. Mit dem Ausgang der Kaiserzeit sind vielerorts Lehnsleute und Ministerialen miteinander verschmolzen. Die an sich unfreien, und anfangs von den Vasallen schroff zurückgewiesenen Dienstleute, stiegen zum Range freier ritterbürtiger Leute auf und dienten im Heere wie die Lehnsmannen. Das hing zusammen m i t den Verdiensten, die sich die Ministerialen um das Territorium erworben hatten (§ 23, 2); auch damit, daß es üblich wurde, sie mit Lehen s t a t t nur mit Dienstgut auszustatten, und daß andererseits die freien Vasallen sich in Lehnsvertrigen immer mehr dazu bequemen mußten, an Privatkriegen ihrer Herren teilzunehmen. 3. D i e G e r i c h t s v e r f a s s u n g . a) Viel langsamer als im Heere rang sich die Feudalisierung im Gerichtswesen durch. J a , es ist hier überhaupt niemals zu einer so starken Durchdringung mit lehnrechtlichen Elementen gekommen wie dort. Das ist leicht verständlich, wenn wir erwägen, daß der Schwerpunkt des gesamten Lehnwesens im ritterlichen Kampf zu Pferde lag. Die ausgezeichnete Gerichtsorganisation der karolingischen Zeit h a t sich in ihren Hauptzügen bis in das 13. Jahrhundert erhalten. Wenn auch die großen Gerichtssprengel des Reiches zu Lehen geworden, wenn auch die Richter aus Beamten zu Vasallen geworden waren, so änderte dies an der inneren Gerichtsorganisation nichts Wesentliches. Selbst die Gerichtsverfassungen, die uns der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel überliefern, tragen noch bedeutsame Grundzüge des fränkischen Rechts in sich. Erst die erstarkende Landeshoheit h a t dem Gerichtswesen ihren neuen Stempel aufgeprägt. Der Theorie nach gilt noch immer d e r K ö n i g a l s Q u e l l e a l l e r G e r i c h t s b a r k e i t . Noch richtet kein Richter zu eigenem Recht. Noch legt der König, wohin er kommt, das Gericht nieder, d. h., er h a t die Befugnis, augenblicklich die Funktion des Richters zu übernehmen. Noch ist er im Besitze des E v o k a t i o n s r e c h t e s , k r a f t dessen er jede unerledigte Streitsache an sein Gericht ziehen darf. Noch besteht das i u s a p p e l l a n d i : die Untertanen können gegen ihre Gerichts- und Landesherren im Königsgericht Klage führen. Die Beklagten sind verpflichtet, dort ihr Recht zu nehmen. Die gesamte Gerichtsorganisation gilt noch als Reichssache, beherrscht vom Landrecht, nicht vom Lehnrecht. b) Dennoch setzten schon in der Kaiserzeit Verschiebungen ein, welche in wichtigen Punkten die alte Gerichtsverfassung veränderten. Die Abschließung der Stände nach lehnrechtlichen Gesichtspunkten strahlte ihre Wirkung auch in das gerichtliche Gebiet hinein. Der Adel weigerte sich, sein Recht im gleiohen

Zentgerieht.

31)

Gerieht zu empfangen, wie der Bauer. Der Wchrstand wollte vom Nährstand auch im Gerichtswegen geschieden sein. Diesen Bestrebungen mußte der Kaiser nachgeben, und in seinem Privileg von 1232 findet sich der lapidare Satz: ad centas nemo synodalis vocetur, d. h., vor das Zentgerieht (das Niedergericht) darf kein adliger Mann gerufen werden. Die Zentgerichte, die Gerichte, welche der Zentgraf (der Hunne, der Schultheiß, oder wie immer der Richter hieß) abhielt, waren zu ausschließlichen Bauerngerichten geworden. D a m i t w a r d i e S c h e i dung der Gerichte nach S t ä n d e n vollzogen. Das Adelsgericht t r e n n t e s i c h v o m B a u e r n g e r i c h t . Der Bürger unterstand ausschließlich dem Stadtgericht. Der kastenartige Abschluß der Stände h a t t e auch im Gerichtswesen gesiegt. Und was ergab sich als Folge dieser Wandlung ? Das Zentgerieht erhielt n u n das Recht, über das Blut zu richten. Die Zenten wurden zu Blutgeriehten f ü r die bäuerliche Bevölkerung. Der Bauer nahm sein Recht fortan in Sachen der causae minores et maiores ausschließlich vor dem Zentgrafen. Augenblicklich erwachte damit der Wunsch der Landesherren, die Zentgerichte in ihre Hand zu bekommen. Denn, wie wir wissen, war ja das Hochgericht der Angelpunkt der landesherrlichen Rechte. Solange der Zentrichter kein Blutrichter gewesen, bestand ein besonderes Interesse an diesen Gerichten nicht. Sie waren daher in unsäglicher Weise verhandelt und verschachert worden, und manches Gericht h a t t e den Zusammenhang mit dem Staat vollkommen eingebüßt. Jetzt wurde das anders. D e r Landesherr strebte mit aller Energie danach, diese bäuerlichen Hochgerichte an sich zu bringen. Und auch diese Tendenz fand im oft genannten Privileg von 1232 ihren Niederschlag. „Die Zentgrafen empfangen ihre Zentgerichte vom Landesherrn, oder von demjenigen, def vom Landesherrn damit belehnt wurde", heißt es dort. Zugleich erging das Verbot, die Gerichtsstätte des Zentgerichts ohne Erlaubnis des Landesherrn zu verändern. Mit einem Worte; die Z e n t g e r i c h t e w u r d e n dem Bereich der l a n d e s h e r r l i c h e n Gewalt u n t e r w o r f e n . Sie galten als Lehen, die vom Landesherrn verliehen wurden, und blieben fortan der willkürlichen Verfügung kleinerer Gewaltherren entzogen. Die Feudalisierung führte also im Bereiche des Zentgerichts zu einer Stärkung des öffentlichrechtlichen Charakters dieser Gerichte. Der Feudalisierungstrieb setzte noch in einer zweiten Richtung ein. N e b e n den Land- und den S t a d t g e r i c h t e n bildeten sich vollkommen neue G e r i c h t e a u s : d i e L e h n s g e r i c h t e . Zuständig waren diese nur f ü r eigentliche Lehnssachen, für Gegenstände ziviler wie strafrechtlicher Art, welche das Lehngut und die Verhältnisse des Landesherrn zu seinen Vasallen betrafen. Die große Masse des Volkes war von ihnen vollkommen ausgeschlossen. D a s R e i c h s i e h n s g e r i c h t h i e l t d e r K ö n i g s e l b s t m i t d e n G r o ß e n d e s R e i c h e s a b . Jeder lehnrechtlich geladene Fürst mußte innerhalb von sechs Wochen am Hofe erscheinen. Der berühmteste Prozeß ist das Verfahren gegen Heinrich den Löwen, welcher geladen war sub feodali iure, bekanntlich aber nicht erschien. D i e t e r r i t o r i a l e n L e h n s g e r i c h t e w u r d e n in den e i n z e l n e n L e h n h ö f e n bes t e l l t . Der Herr führte den Vorsitz, die Vasallen stellten das Urteilskollegium dar. Neben der Heerespflicht bildete diese Gerichtspflicht die vornehmste Aufgabe des Lehnsmannes. Von diesen Lehnsgerichten gab es einen Rechtszug an die

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Landrecht.

höheren Gerichte, zuletzt an den Lehnhof des Reiches. Denn ,,al lantrecht u n d lenrecht h a t begin an yme", d. h., a m deutschen König. Die Lehnagerichte gingen also neben den Landgerichten einher. Organisation und Rechtsgang waren vom Landrecht verschieden. U n d so ist auch in der' Streitsache gegen Heinrich d e n Löwen ein landrechtliches Verfahren neben einem lehnrechtlichen wahrzunehmen. Auf die Feudalisierung der Görichtsgewalt, des Bannes, der vom König ausging, ist bereits hingewiesen worden. Doch bildete dieser Königsbann kein rechtes Lehn. „ B a n liet m a n ane manscap", sagt der Sachsenspiegel (III 64 § 5). Wie wenig vom alten Beamtencharakter auch in dieser Bannleihe noch erhalten geblieben, zeigt der Leihezwang, dem der König im I ^ u f e der Zeit unterworfen worden war. (Vgl. § 23, 1.)

§ 26. Die Rechtskreise. Dem einheitlichen Denken und Leben des germanischen und fränkischen Menschen entsprach ein einheitliches Recht. Das Recht war eine gewaltige Macht in dem Lebensprozeß, den jeder Mensch von der Geburt bis zum Tode durchlief. U n d dieser Lebensprozeß h a t t e notwendig seinen Mittelpunkt in der H e i m a t . Alles n a h m seinen Ausgang von der H e i m ä t : Familie, Sitte, Religion, K u n s t , Sprache und somit auch das Recht. Jeder lebte nach seinem Heimatsrechte, nach dem Stammesrechte, in das er hineingeboren worden war (§ 19). Als Grundgedanke f ü r die fränkische Zeit gilt: der Mensch lebte nach dem alle Freien umspannenden Volksrecht. D i e K a i s e r e p o c h e h a t m i t d i e s e r E i n h e i t d e s R e c h t e s , g e b r o c h e n . Ständewesen, Kriegswesen, Städtewesen und Kirchenwesen h a t t e n die Anschauungen der einzelnen Volksklassen derartig differenziert, daß ein einheitliches Recht diesem Lebensgang nicht mehr entsprochen h ä t t e . Trug doch der Mensch schon nach außen, in seiner Klfeidung, in seinem ganzen Aufzug, in Wohnung und Siedelung, seinen Stand zur Schau. Sein äußeres Kleid erwies seine rechtliche und'' geistige Zugehörigkeit. 1. D a s b e d e u t s a m s t e R e c h t b i l d e t e a u c h i n d e r K a i s e r z e i t n o c h d a s L a n d r e c h t . Das Landrecht füllte den Rechtskreis aus, in den grundsätzlich jeder freie Mann hineingehörte. Das Landrecht war das aus dem Volke geborene und in dem Volk lebendige Recht, echtes Volksrecht, meist durch Gewohnheit gebildet, seltener durch Satzung festgestellt. Mit der Lockerung der alten Stammesgebiete, mit der größeren Beweglichkeit und örtlichen Verschiebung der Menschenund m i t der Schaffung neuer Rechts- und Gewaltbezirke h a t t e das Landrecht die Personalitätsgrundlage verlassen. Während der Kaiserzeit lag das Prinzip des persönlichen Rechts, des Heimatsrechts, in hartem K a m p f e mit dem Prinzip des territorialen Rechts, des Landrechts. J e m e h r w i r u n s d e m 13. J a h r h u n d e r t n ä h e r n , u m so m e h r s i e g t d a s T e r r i t o r i a l p r i n z i p . Das Recht begleitete nicht mehr den einzelnen Menschen auf seinen Pfaden, wohin er immer ging, sondern das Recht ergriff das Land selbst. Der Gedanke der Verdinglichung des Rechts, dem wir so oft begegnet sind, t r i t t in vollste Erscheinung. Dieses Landrecht u m f a ß t e alle Bewohner, sie mochten kommen, woher sie wollten. Das Heimatrecht geriet in Vergessenheit. I m Sachsenspiegel findet sich der berühmte Satz, der die Territorialisierung deutlich bekundet: I m Lande zu Sachsen empfängt

Stadtrecht.

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jeder Zugewanderte sein Erbe nach des Landes Recht (also nach sächsischem Recht) und nicht nach des Mannes Recht, mag er Bayer, Schwabe oder Pranke sein (I 30). I m Laufe des 13. Jahrhunderts verstärkte sich- diese Entwicklung. D a s R e c h t h a t t e sich . e n d g ü l t i g auf das G e b i e t n i e d e r g e s c h l a g e n . Das gemeine Volksrecht war zum Landesrecht geworden. Es bildete sich die Norm aus, die heute in der neuen Kodifikation des kanonischen Rechts so klar geformt ist: Lex non praesumitur personalis, sed territorialis, nisi aliud constet. Mit dieser Territorialisierung hängt aufs engste zusammen, daß die alten Personalrechte, die fränkischen Volksrechte, ihre Geltungskraft einbüßten. Gewiß, ihre Rechtsgedanken lebten vielfach weiter. Aber als Ganzes, als Gesetzeswerke, verschwanden sie in Deutschland im Laufe des 10. und 11. Jalirhunderts. Das Landrecht umfaßte die große Klasse der auf dem Lande in Burgen wohnenden Hochfreien (Hochadel), der Mittelfreien (niederer Adel) und der Gemeinfreien (der Bauern, soweit sie nicht unter Hofrecht, und der Bürger, soweit sie nicht unter Stadtrecht standen). 2. Die neuauftauchenden Rechte lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Die eine Gruppe schließt das Landrecht vollkommen aus. Die ganze Rechtsstellung des Menschen ändert sich, wenn er in den neuen Rechtskreis eintritt. Die andere Gruppe erfaßt den Menschen nur nach ganz bestimmten Richtungen hin, wie etwa heute der Bürger nur als K a u f m a n n nach Handelsrecht lebt und im übrigen der bürgerlichen Gesetzgebung unterstellt bleibt. a) D i e e r s t e G r u p p e . Zu ihr zählte das S t a d t r e c h t . Der Bürger stand mit seiner gesamten Persönlichkeit im städtischen Re-chtskreise, und die städtische Gesetzgebung wachte ängstlich darüber, daß sich ihre Angehörigen nicht dem Landrecht und Landrichter unterwarfen. Bei dieser Exklusivität des Stadtrechts darf nicht übersehen werden, daß es vielfach nur fortentwickeltes Landrecht darstellte. Aber bald, etwa seit dem 12. Jahrhundert, fängt das Stadtrecht an, ganz eigene Bahnen zu gehen, und diese Sonderentwicklung trug wesentlich dazu bei, Stadt und Land voneinander zu scheiden und jene scharfe Spaltung hervorzurufen, an der wir heute noch leiden. D a s gleiche Ziel wie d a s S t a d t r e c h t s t r e b t e d a s k a n o n i s c h e R e c h t a n . Seit der fränkischen Zeit arbeitete die katholische Kirche mit Feinheit und Umsicht an einem eigenen Rechtssysteme, in dem sie nicht nur römische, sondern, wie die neuere Lehre zeigt, auch germanische Rechtsgedanken verarbeitete. Mit dem Decretum Gratiani (um 1140) beginnen die großen Kodifikationen. Dieses kanonische Recht zeigte das deutliche Bestreben, die kirchlichen Einrichtungen und die Geistlichen vollkommen in seinen Bereich hineinzuziehen. Nach allen Richtungen, im Zivilrecht, im Strafrecht wie im Prozesse selbst, sollte der Diener der Kirche nur den Geboten des kanonischen Rechts unterstehen. Aber mit diesen Forderungen drang die Kurie nicht durch. Zu keiner Zeit vermochte sie die Geistlichen sowie die kirchlichen Anstalten dem weltlichen Rechte ganz zu entfremden. Immer wieder setzte der Staat von sich aus Normen, etwa über das Asylrecht der Kirchen, über den Frieden der Kirchhöfe oder über Erbrecht und Strafrecht der Geistlichen. Und die Landesherren zogen trotz aller Proteste den in ihrem Lande begüterten Klerus vor ihr weltliches, Gericht. Dauernder Kampf und Hader

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Hofrecht.

zwischen Staat und Kirche waren die Folge. Der Sachsenspiegel hatte erklärt, der Papst dürfe kein Recht setzen, womit er Land- oder Lehnrecht verletze (I 3 § 3). Weltlicher und geistlicher Rechtskreis sollten nach der Auffassung der Zeit säuberlich geschieden sein. Aber die Geschichte zeigt auf jeder Seite Eingriffe und Übergriffe die Fülle. Z u d i e s e r G r u p p e z ä h l t e n a u c h m a n c h e H o f r e c h t e . Unter Hofrechten versteht man die rechtliche Ordnung, nach der die Hintersassen einer GrundherrSchaft lebten. D a die Hintersassen mancher Herrschaft einen geschlossenen Stand bildeten, kann man diese Rechte aJs Standesrechte bezeichnen. Viele dieser leges curiae erfaßten nämlich ihre Hörigen in a l l e n Rechtsbeziehungen. Die familia, wie etwa die Gesamtheit dieser Leute genannt wurde, war des Landrechts nicht teilhaftig, wenn sie nur aus Unfreien bestand. Recht und Gericht regelte ausschließlich der Grundherr. I n diesem Sinne läßt sich das Hofrecht als Unfreienrecht bezeichnen. Andere Hofrechte dagegen Tjeschränkten sich darauf, die Hofhörigen nur in ihrer d i n g l i c h e n Beziehung zur Grundherrschaft zu ergreifen und etwa festzulegen, welche Zinse und Dienste zu leisten seien oder in welcher ' Form Hofgüter vererbt und übertragen werden dürften. Diese (dinglich gestalteten Hofrechte) berührten den Stand der Unterworfenen nicht. Unter ihnen lebten: t a m ingenui quam servi, Freie wie Knechte, wer immer grundherrliclies Gut inne hatte. In allen das Landrecht angehenden Verhältnissen richtete sich dieser Hintersasse nach Landrecht. Diese letztere Art der Hofrechte leitet daher über zur zweiten Gruppe. b) E i n R e c h t d e r z w e i t e n G r u p p e b i l d e t e d a s L e h n r e c h t , über dessen Struktur bereits gesprochen wurde. Hier ist noch zu bemerken, daß das Lehnrecht den Menschen nur als Inhaber eines Heerschildes und als mit einem feudum Belehnten ergriff, die übrige Persönlichkeit aber freiließ. So konnte z. B. jeder Vasall neben Lehnsgut (feudum) Laijdrechtsgut (allodium) besitzen und neben Lehnsverbrechen Delikte begehen, die nach Land- oder Stadtrecht gesühnt wurden. Ahnlich dem kanonischen Rechte verfolgte das Lehnrecht die Tendenz der Ausdehnung. Es suchte zu gewissen Zeiten möglichst viele Seiten des Rechtslebens zu ordnen, um den Ritterbürtigen an sich zu binden. Doch es zerfiel zu früh, um eine Macht gleich der des kanonischen Rechts entfalten zu körnen. E i n z w e i t e s R e c h t d i e s e r G r u . p p e i s t d a s D i e n s t r e c h t , d a s Min i s t e r i | a l i e n r e c h t . Die Dienstleute, deren große Rolle bei der Entstehung der Landeshoheit betont wurde, gingen überwiegend aus Unfreien hervor, welche einst am Hofe eines Herrn lebten und dort in bestimmte Ämter (ministeria) eingegliedert waren. Massenweise haben sich auch alte freie Geschlechter in die Ministerialität begeben. J e nach ihrer ^Tätigkeit sind zwei Gruppen zu unterscheiden: die Krieger und die Wirtschaftsbeamten, beide wichtig für Verteidigung und Verwaltung des gesamten Hofes und daher beide mit Dienstgut ausgestattet. I n der klassischen Zeit der Dienstrechte, im 12. Jahrhundert, gehörte jeder Ministeriale zu einem Hofamte. „Item singuli et omnes ministeriales ad certa officia curie nati et deputati sunt." „Officia 5 s u n t " heißt es im Kölner Dienstrecht von 1154. „Des rikes dienstman" bildeten einen Bestandteil des deutschen Reiches und waren von hoher Bedeutung. Das, wäs die Ministerialen dem einzelnen Dynasten

Dienstrecht.

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so kostbar machte, war nicht nur ihre unveränderliche Zugehörigkeit zum Amte, sondern vor allem ihre unbegrenzte Dienstpflicht, wie oben ausgeführt. Die Dienstrechte, die namentlich von den großen geistlichen Pürsten f ü r ihre Ministerialen gesetzt und aufgezeichnet wurden, bestimmten ursprünglich das gesamte Rechtsleben a m Hofe ihrer Herren. Noch ein Rechtsspruch von 1209 geht von diesem Grundgedanken aus. Aber seit Ende des 12. Jahrhunderts hatte sich ihre Stellung so sehr gehoben, daß sie in mancher Hinsicht den freien Rittern gleichkamen (so konnten sie z. B. freie Lehen nehmen) und daß die Dienstrechte sie nicht mehr in allen Rechtsbeziehungen zu umspannen vermochten. Im Stadtrecht vön Lüneburg (1247) erklärte der Stadtherr: „Wir haben an iiem gude (nämlich dem Gute der Dienstmaimen) nicht rechtes." Das Tecklenburgcr Dienstrecht um 1300 spricht bereits von iura legitimae libertatis des Ministerialen. Iii diesem „dienstfreien" Kreise lebte der Ministeriale nach Stadt-, Land- oder Lehnrecht. Aus diesen Dienstleuten und aus den sog. Mittelfreien ist der niedere Adel hervorgegangen, f ü r den es im 14. Jahrhundert nur noch e i n Recht, nämlich Freienrecht gab. Das Dienstrecht als Unfreienrecht verschwand.

Das Recht der Kaiserzeit stellte sich bereits als buntes Mosaik dar. Dan Bedürfnis nach Verfeinerung und damit auch nach Zergliederung machte sich geltend. Eine Reihe großer Rechtskreise stand nebeneinander und durchkreuzte sich. Selbst der exklusivste Kreis, das Stadtrecht, vermochte seine Unterworfenen nicht völlig abzuschließen. Denn besaß der Bürger z. B. außerhalb der Stadt Lehngut, so stand er f ü r dieses Gut unter Lehnrecht. H a t t e er grundherrliches Gut, so folgte er f ü r dieses Gut dem Hofrecht der Grundherrschaft. Auch die einzelnen Rechtseinrichtungen trugen eine Doppelnatur. So war z. B. der Bauer Eigentümer seines Gutes nach Hofrecht, während nach Landrecht dem Herrn das Eigentum zustand, woraus dann eine spätere romanistische Konstruktion ein doppeltes Eigentum, ein dominium utile und ein dominium directum, schuf. Die Rechtskreise des gleichen Lebensbereiches ergaben ebenfalls schwerwiegende Unterschiede. So berichtet Eike von Repgau, die Dienstrechte, die sich an den Höfen der geistlichen Herren gebildet hätten,, seien so verschiedenartig, daß er in seinem Rechtsbuche nicht darauf eingehen könne (III 42 § 2). Diese ganze D i f f e r e n z i e r u n g der R e c h t e ist der s t ä r k s t e Ausdruck f ü r d a s i n n i g e Z u s a m m e n l e b e n v o n V o l k u n d R e c h t . H a t t e n sich die Anschauungen der ständischen Kreise einmal getrennt, so mußten sich notwendig Sonderrechte ausbilden. N u r dort, wo die Rechtsordnung den Menschen wirklich durchdringt, ist Wille u n d Wunsch gegeben, das Recht den einzelnen Daseinsformen anzupassen. Der Reichtum an Recht deutet daher auf Liebe zum Recht. Aber die Mannigfaltigkeit kann sich überspannen und wird dann zum Fluch s t a t t zum Segen. Auch konnten die verschiedenen Rechtskreise schwere tragische Konflikte hervorrufen. Man denke an den Fall, daß ein Lehnsmann Bürger in einer Stadt wurde, (was häufig vorkam) und daß die Stadt mit seinem Lehnsherrn in Fehde geriet. D a n n k ä m p f t e Stadtrecht gegen Lehnsrecht, und der Mensch stand hilflos da im Streit dieser Mächte.

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Landfrieden. § 27. Das Strafrecht der Landfrieden.

Der große Thomas von Aquino soll einmal erklart haben: „Bei den Deutschen seien Räubereien jetzt noch (im 13. Jahrhundert) keine Sünde." Und so stand es in der Tat. Die Jahrhunderte der Kaiserzeit waren angefüllt von Morden, Rauben und Brennen. Die Gewalttat kleidete sich bald in das Gewand des Rechts (Fehde lind Blutrache), bald t r a t sie offen und ohne Scheu als solche hervor. Wir schilderten bereits bei Entstehung des Städtewesens die Sehnsucht des Volkes nach Sicherheit und fanden im Stadtfrieden eine der treibenden K r ä f t e f ü r die Stadtgründungen. •— Noch von anderer Seite her versuchte man dem wüsten Treiben zu begegnen. Die Kirche errichtete Gottesfrieden, "deren Ursprung in Frankreich liegt. Die Provinzialgewalten und der Kaiser schufen Landfrieden (von denen auch schon die Rede war), Friedensordnungen, welche u. a. ein ausgeprägtes Strafrecht entwickelten. Das alte Strafrccht der karolingischen Epoche, soweit es überhaupt noch lebendig war, genügte nicht mehr. Denn einerseits hatte das Fehdewesen m i t seinen Auswüchsen an Räuberei und Brandstiftung stark überhand genommen und der Krieg den niederen Adel unbändig verroht. Andererseits waren jetzt weit mehr Burgen und feste Plätze vorhanden, zu denen der Missetäter fliehen konnte. I n fränkischer Zeit gab es nur die Flucht in den Wald. I n unserer Periode t r a t offener und heimlicher Trotz zutage. Der verfolgte Räuber stellte sich kaltblütig zur Gegenwehr oder verschanzte sich hinter starken Mauern. E s stand schlimm um die Sicherheit von Mensch und Tier und Feld. Schlimmer noch ums Recht. Da setzten die Landfrieden ein. Ihr Strafrecht ging nach fünf Hauptrichtungen vor. 1. Das Fehdewesen wurde, wie bereits hervorgehoben, eingeschränkt durch Friedetage oder Friedensjahre, durch Ausschaltung von Personen und Sachen aus jedem Fehdebereich u n d durch das formello Erfordernis, dem Befehdeten den Frieden aufzusagen. Am weitesten ging das Reichsgesetz von 1235, welches Fehde nur noch erlaubte, wenn vorher Klage beim zuständigen Richter erhoben worden war. Nur wenn dem Kläger sein Recht nicht vor Gerieht zuteil wurde, durfte er „durch N o t " seinem Feinde den Frieden kündigen. Das Fehderecht war zu einem Notrecht geworden. Voraussetzung rechtmäßiger Fehde war also seit 1235 die rechtmäßige Klageerhebung. Es galt der strafrechtliche Satz: W e r unrechtmäßig zur Fehde greift und darin einen Menschen t ö t e t oder v e r w u n d e t , i s t e i n L a n d f r i e d e n s b r e c h e r . Er verliert sein Leben, oder ihn trifft eine verstümmelnde Strafe, namentlich das Abhauen der Hand. Auch hohe Geldstrafen kamen vor (60 Schillinge) und Entschädigungen, je nach dem Stande des Verletzten. Wer sie nicht zahlen kann, wird gestäupt (1152 und 1224). Angerichteter Schaden jnußte doppelt ersetzt werden. Der dem Friedbrecher zugefügte Schaden dagegen bleibt ohne Ersatz (1235). Durch die aufgerichteten Frieden war jede Schädigung in widerrechtlicher Fehde zu einer qualifizierten T a t geworden. 2. D e r ö f f e n t l i c h r e c h t l i c h e C h a r a k t e r d e r S t r a f e e r f u h r e i n e w e s e n t liche S t ä r k u n g . S c h w e r e D e l i k t e , wie R a u b , D i e b s t a h l , B r a n d s t i f t u n g , galten als Friedensbrüche, die die Gesamtheit verletzten. Grundsätzlich wurden sie mit dem Tode bestraft (1152, 1224 und Friedrichs I . Constitutio contra in-

Öffentliche Strafe.

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cendiarios von 1186). Acht- und Fehdeprinzip waren in einem heißen Ringen u m den Vorrang begriffen. Noch galt in der Hauptsache der Satz, daß die Verfolgung n u r auf Klage des Verletzten unternommen und daß die Strafe mit Zustimmimg des Klägers (und wohl auch des Richters) abgekauft werden konnte. Aber daneben finden wir eine Generalaufforderung an alle Fürsten, freien Herren und Ministerialen, die Landfriedensbrecher zu verfolgen (1179) und in der Constitutio von 1186 wird der Richter, nicht der Kläger, zur Überführung des ergriffenen Brandstifters aufgefordert. Die Landesherren verlangten die Rüge (Anzeige) aller schädlichen Sachen in ihrem Gebiete. Man hieß in Bayern diese Rüge die stille Frage, in Österreich die Landfrage. 3. F ü r den Missetäter gab es meist nur zwei Auswege: E r floh nach der T a t und versteckte sich oder er ritt auf seine feste Burg und wartete alles weitere ab. Hiergegen gingen die Landfrieden in dreifacher Weise vor. E i n m a l : D e n F l i e h e n d e n t r a f d e s K ö n i g s A c h t . Die Acht wurde hauptsächlich als prozessuales Zwangsmittel verwendet. Wer innerhalb von J a h r und Tag sich dem Richter nicht stellte und sich aus der Acht löste, der wurde friedlos (1179). Der Friedlose war ein exlex. E r durfte von jedem getötet werden. Wer ihn tötete, beging sowenig ein Delikt, als wenn er einen Wolf erschlug. Auch aus dieser Oberacht gab es noch eine Lösung, jedoch nur, wenn vorher der Kläger f ü r seinen Schaden befriedigt worden war (§ 10). Dem Richter wurde verboten, das Gewctte, das' a n ihn zu zahlen war, bei der Achtlösung zu erlassen: „durch daz die liute deste ungerner in die a h t (Acht) chomen" (1235), was deutlich auf das Moment der Abschreckung hinweist. Z w e i t e n s : Sollte der Achtspruch Erfolg haben, so m u ß t e verhütet werden, daß irgendein Mensch den Geächteten aufnahm. D a h e r s i n d d i e F r i e d e n voll v o n V e r b o t e n , d e n G e ä c h t e t e n zu speisen u n d zu h a u s e n . Wie ein gehetztes Wild mußte der Missetäter von Haus zu Haus fliehen, verhungern und erfrieren, wollte er sich nicht dem Richter stellen. D r i t t e n s : Setzte sich der Missetäter auf einer Burg fest, so h a t t e das rasch herbeigerufene Volk d i e P f l i c h t , d i e B u r g z u b e l a g e r n . Gab diese nach drei Tagen den Geächteten nicht heraus, so mußten die Großen des Landes zur Zerstörung der Burg herbeigerufen werden (um 1108). Nach dem Frieden von 1235 wurde die Stadt, die einen Geächteten wissentlieh behielt, ihrer Mfeuern beraubt. W a r sie ohne Mauern, so mußte sie der Richter niederbrennen. Setzte sich die Stadt zur Wehr, so fiel sie selbst und die gesamte Bürgerschaft in die Acht (unten § 30). 4. Aber nicht nur gegen Personenbegünstigungen, sondern auch gegen Sachbegünstigung und Hehlerei wandten sich die Frieden. E s ' m u ß t e v e r m i e d e n werden, daß R ä u b e r - und Diebesgut wirtschaftlich verwertet werden k o n n t e n . Daher setzte der Frieden von 1235 fest: Wer wissentlich geraubtes oder gestohlenes Gut k a u f t , h a t es dem Beraubten und Bestohlenen doppelt zu bezahlen. Im Rückfall wird über ihn gerichtet, wie über einen Räuber oder Dieb. 5. Endlich versuchte d e r S t a a t m i t H i l f e d e r K i r c h e d e n F r i e d e n i m L a n d e zu e r h a l t e n u n d d e n g e b r o c h e n e n F r i e d e n a m M i s s e t ä t e r zu a h n d e n . Der Bischof wurde verpflichtet, den Ächter, der sich nicht stellte, in den Bann der Kirche zu t u n und daraus nicht zu entlassen, bis daß er sich von der Acht befreit hätte. Andererseits nahm der Staat auf sich, den vom Bischof Exkommunizierten in die Acht zu erklären und darin zu halten, bis er vom Banne

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Friedensrecht.

gelöst sei (Konstitution von 1186). Geistliche und weltliche Gewalt arbeiteten zusammen am großen Friedenswerke. 6. Sicherlich hängt die Neubildung von Herzogtümern im 12. und 13. Jahrhundert mit diesem Friedensrecht zusammen; denn der Herzog war der berufene Hüter des Landfriedens. Immer deutlicher läßt sich erkennen, daß das Strafund Prozeßrecht der Landfrieden imstande war, auch die Gerichtsverfassung langsam umzugestalten. Das Zentenargericlit rückt als Blutgericht immer stärker in den Vordergrund. Es scheint, daß viele Landgerichte des späteren Mittelalters keine abgesplitterten Bruchstücke größerer Verbände darstellen, sondern aus alten Zentenargerichten organisch herausgewachsen sind.

Mit Energie rückte also die Friedensgesetzgebung dem Räuber- und Fehdewesen zu Leibe. Und sie bildete nicht nur ein Strafrecht aus, dessen feingestrickten Maschen der Täter nicht entgehen sollte, sondern auch ein ebenso durchdachtes Beweisverfahren. Es war ja in vielen Fällen äußerst schwierig aufzudecken, welche von den streitenden Parteien der Friedensbrecher und welche der in Notwehr handelnde Verteidiger war. Zudem stellten die ständischen Abstufungen dem Beweisrecht heikle Aufgaben. Ein Hauptbeweismittel, der Zweikampf, blieb später den Bauern versagt. Und innerhalb der Ritterschaft selbst war man nicht Ter« pflichtet, gegen Tieferstehende zu fechten. Wer in handhafter T a t ergriffen oder wessen Tat allgemein kundbar, notorisch war, wurde überhaupt nicht zum Beweise zugelassen. Landschädliche Leute (d. h. Leute, die Verbrechen auf dem Kerbholz hatten, denen man sog. unehrliche' Taten zur Last legte) konnten „übersiebent" werden. Das Übersieben war ein Beweis mit Eideshelfern oder mit Tatzeugen. Leistete der Ankläger mit seinen sechs Leuten den Eid, so gab es kein Leugnen und keine Reinigung mehr von Seite des ergriffenen schädlichen Mannes, selbst wenn keine Festnahme auf handhafter Tat vorlag. — Auch auf dem Wege der Z e n t r a l i s i e r u n g suchte man vorwärts zu kommen. Der Friede von 1235 setzte einen Hofrichter für das ganze Reich ein, der täglich Gericht hielt, und einen Hofgerichtsschreiber, der ein Acht- und ein Urteilsregister führte. Die „schädlichen" Leute des Landes sollte er in einem Buche vermerken. Trotz aller dieser enormen Anstrengungen wurde der Friede im Reiohe nur um ein weniges fester. Um die Acht mit ihren strengen Folgen kümmerten sich viele gar nicht, so daß sich im späteren Mittelalter das Wortspiel ausbilden konnte: „acht und aberacht macht sechzehn". Aber auch wenn man den Täter erwischte, so fehlten vielfach starke und gewillte Richter, welche die Aburteilung in die Hand nahmen. J a selbst die letzte Stufe machte noch Schwierigkeiten, die Vollstreckung. Wie manche Exekution mußte unterbleiben, wenn der Beklagte mit großem Anhang erschien. Welch deutliche Sprache reden die Frieden von 1179 und 1223, wonach Kläger und Beklagter nur mit 30 Schwertbewaffneten bei Gericht erscheinen durften. Vollstreckungsbehörden, welche den Urteilen eine sachgemäße Wirkung verliehen hätten, fehlten überall. •Gewaltig in der Idee und hochragend, einem Dome gleich, in ihren Aufgaben, beginnt die deutsche Kaiserzeit. Weltumspannende Gedanken hewegen

Vollstreckung.

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den Geist der Kaiser. Der Wille vollster Hingebung an ihre Herren erfüllte die führenden Lebensschichten. Und dennoch schließt die ganze Epoche mit Unruhe und Unordnung. Weshalb 1 Weil es den Kaisern nicht gelungen war, die mächtigen Personalverbände, die im Reiche bestanden, in Territorialverbände überzuführen und dem Reich eine territoriale Grundlage zu geben. Die Zeit war vorbei, in der man einen Staat auf die Beziehungen von Mensch zu Mensch, auf Rechte von Person zu Person aufbauen konnte. Das Land verlangte nach seinem Recht. Es setzte die mächtige neue Strömung ein: Recht und Volk sollten im Boden, im Territorium verwurzelt werden. In diesem Sinne hebt sich am Ende der Kaiserzeit ein Verwurzelungsprozeß ohnegleichen an. Ihn zu Ende zu führen, unter unsäglicher Mühe und Kraftsteigerung, war nicht mehr dem Herrn des Reiches, sondern allein den deutschen Landesherren beschieden.

IV. A b s c h n i t t .

Die Kurfürstenzeit (1250-1500). § 28. Das Reich und die Kurfürstentümer. „Vacat imperium" hieß das furchtbare Wort, das nach dem Ausgang der staufischen Herrschaft das Reich durchflog. Das Interregnum begann und damit ein Tiefstand des Rechts, wie er nie wieder erreicht wurde. Unter den größten Anstrengungen ist es den Kurfürsten gelungen, durch Rudolf von Habsburg wieder eine königliche Macht aufzurichten, eine Macht, die auf das deutsche Königtum und nicht auf das römische Kaisertum gestellt wurde. Wenn auch in der Zeit von 1273 bis zum ewigen Landfrieden von 1495 dann und wann der Ruf noch einmal wahr wurde: „Vacat imperium", so kann doch von einer kaiserlosen Zeit im Sinne des 13. Jahrhunderts nicht mehr gesprochen werden. Das Reich hatte seinen erwählten Herrn, seinen „römischen König und zu allen Zeiten Mehrer des Reiches", wie sich selbst der unbrauchbarste von allen, der König Wenzel, nannte. Und der neue Herrscher begann mit einer neuen Politik: Abkehr von jeder besonderen Einmischung in Italien. Staatsrechtlich betrachtet ist für diesen Zeitraum festzustellen: 1. D a s R e i c h w a r e i n L e h n s s t a a t . Die Hauptmasse des Reiches zerfiel in erbliche Lehen, in Herrschaftsgebiete, die vom König vergabt wurden. Auch die verliehene Gewalt, wie die Gerichts- und Heergewalt, hatte noch lehnrechtliche Natur. Man hielt zunächst am alten Lehnrecht fest und verlangte z. B. im Hermfall (wenn der König starb) die neue Mutung innerhalb J a h r und Tag. Aber im 14. Jahrhundert verloren sich bereits viele' Bindungen, und im 15. zerfielen sogar wichtige Grundlagen. So hörte die Scheidung von Fahnlehen und Szepterlehen auf, und das bedeutsame, für das Lehnwesen so wichtige Moment der persönlichen Verknüpfung von Herrn und Vassall trat völlig zurück. I m 16. JahrF e h t, Deutsche Rechtsgeschichte.

4. Aufl.

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Lehnsstaat.

hunderte schickte Gesandte, wer sein Lehen neu empfangen wollte. Die persönliche Verleihung fiel fort. Die Lehenszeremonien waren vielfach bloße Form geworden. N a c h a n d e r e r S e i t e i s t d a g e g e n e i n e S t ä r k u n g d e s L e h n s v e r b a n d e s w a h r z u n e h m e n . Aus der Kaiserzeit waren zahlreiche Gebiete als allodialo Herrschaften herübergekommen, als Territorien, die nicht als Lehen, sondetn als Eigentum des Landesherrn angesehen wurden. Ihnen gegenüber t r a t vielfach eine Feudalisierung hervor. So sind z. B. verschiedene württembergische Herrschaften in unserem Zeitabschnitt aus Allodien zu Lehen geworden. Noch mußte dem Kaiser die Lehnstreue gehalten werden. Noch führte Felonie, der Bruch der Treue, zum Verlust des Lehns. Noch ruhten die Verpflichtungen der ReichsfürBten, namentlich die Heerespflichten, der Theorie nach auf Lehnrecht. Als Lehnreich stellte Deutschland eine Einheit dar. Es war begrifflich e i n R e i c h m i t e i n e m Gebiet und e i n e m Herrscher. I n diesem Sinne besaß der König eigene, unmittelbar von Gott abgeleitete Herrschergewalt. Er war ein rex Dei gratia oder divina favente dementia. Als Lehnherr war er theoretisch die einzige Quelle, in der alle Gewalt zusammenfloß. Eine absolute Gewalt hatte er jedoch nicht. Er blieb gebunden an die Schranken des Reichsrechts, das aber kümmerlich ausgebildet war. Eine Reichslehnverfassung, nach welcher der König auf gesicherter Grundlage h ä t t e regieren können, gab es nicht. 2. Neben der staatlichen Einheit, die im Lehnrecht begrifflich enthalten war, stellte das Reich zugleich eine Vielheit dar. U n d d i e s e r V i e l h e i t s g e d a n k e w u r d e v e r k ö r p e r t i n d e m K u r f ü r s t e n t u m . Das kurfürstliche Kollegium und mit ihm der Kurverein brachten neben dem monarchischen das aristokratische Prinzip zur Geltung. Aus dem Recht der Königswahl beanspruchten die Kurfürsten das Recht der Kontrolle über den König. Dieses Kontrollrecht führte seinerseits wieder zum Absetzungsrecht. Zeigte sich der König als „insufficiens et inutilis" für das Reich, so konnte er von den Kurfürsten entthront werden (1298). Damit wurde die Amtsidee in den Vordergrund gerückt. A u c h b r a c h s i c h i m m e r d e u t l i c h e r die s t a a t s r e c h t l i c h e A u f f a s s u n g Bahn, der K ö n i g stehe m i t d e n K u r f ü r s t e n i n e i n e m V e r t r a g s v e r h ä l t n i s . Aus dieser Vertragsidee erklären sich die sog. Wahlkapitulationen, die vor der Königswahl mit dem künftigen Herrscher abgeschlossen wurden, und die sog. Willebriefe, welche die Kurfürsten in Reichssachen ausstellten (z. B. 1282), sowie auch die bekannte Zusicherung im Kapitel 13 der goldenen Bulle (1356), wonach der König alle den kurfürstlichen Freiheiten und Rechten widersprechenden Verfügungen der römischen Könige a u f h o b und versprechen mußte, keine neuen zu erlassen, die den Privilegien zuwider wären. I n d e r T a t s t e l l t e n d i e K u r f ü r s t e n i n d i e s e r P e r i o d e d a s S c h w e r g e w i c h t d e s R e i c h e s d a r . Sie waren weit mehr als bloße Kürer, als bloße Wähler. Sie trugen die Hauptlast und die Hauptverantwortung, überwachten den König und setzten ihn ab, wenn er aus einem Mehrer ein Verderber des Reiches wurde. Sie wehrten sich gegen die maßlosen Ansprüche der römischen Kurie. Sie identifizierten des Reiches Ehre und Recht mit ihren Ehren und Rechten (Rense_1338) und konnten daher mit voller Überzeugung in der goldenen Bulle genannt werden „die starken Grundfesten des Reichs und dessen unbewegliche Säulen". Sie sorgten f ü r den Frieden im Reiche, als Raub, Brand und Fehde mit neuer W u c h t einzureißen begannen (1438).

Kurfürstentümer.

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3. Nichts ist natürlicher, als daß die großen Herren, diese wahren Erhalter des Reiches, eine besondere Rechts- und Machtstellung jener Gebiete nach sich zogen, deren Landesherren sie waren. I h r e T e r r i t o r i e n , d i e K u r f ü r s t e n t ü m e r , b i l d e n die e r s t e n S t a a t e n oder s t a a t s ä h n l i c h e n Gebilde innerh a l b d e s R e i c h e s . Das grundlegende Reichsgesetz, die goldene Bulle Karls IV., erlassen auf dem Nürnberger Reichstage am 10. Januar 1356, mit einem Nachtragsgesetz vom 25. Dezember des gleichen Jahres zu Metz, beschäftigt sich fast ausschließlich mit den Kurfürsten und ihren Territorien. Die Kurfürstentümer wurden zu reichslehnbaren, unteilbaren Ländern erklärt und die Kurwürde, im Mannesstamme vererblich nach Primogeniturordnung, untrennbar mit ihnen verbunden. Eine Teilung der Kurstimmen war somit ausgeschlossen. Die staatliche Selbständigkeit wurde rechtlich und wirtschaftlich festgelegt. Rechtlich äußerte sie sieh vor allem in der Anerkennung der unbeschränkten Gerichtshoheit sowie in dem Privileg, wonach keiner ihrer Untertanen vor ein königliches oder ein anderes, auswärtiges Gericht geladen werden durfte oder dorthin appellieren konnte, den Fall der Rechtsverweigerung ausgenommen (Privilegium de non evocando et de non appellando, letzteres kam praktisch nur in Böhmen zur Durchführung). Wirtschafthch wurden den Kurfürsten die wichtigsten, "nutzbringenden Hoheitsrechte als Regal überlassen, der Judenschutz, das Berg-, Zoll- und Münzregal, so daß fortan jeder Kurfürst in seinem Lande Gold- und Silbermünzen schlagen und als gesetzüches Zahlungsmittel anerkennen konnte. Im Metzer Gesetz wurde staatsrechtlich der Höhepunkt erreicht. Der Verbrecher an der Person eines Kurfürsten galt als Majestätsverbrecher, „nam et ipsi (die Kurfürsten) pars corporis nostri (des Kaisers) sunt". Die Kurfürsten wurden gleich Majestäten geschützt. D i e P o l i t i k d e s R e i c h e s w a r in d i e s e r B e z i e h u n g d u r c h a u s r i c h t i g ; denn die Kurfürsten mit ihren Gebieten stellten nicht nur zentrifugale Kräfte dar wie die übrigen Landesherren. Neben dem Willen zur Verselbständigung betätigten sie den Willen zur Befestigung des Reiches, waren demijach auch zentripetaler Natur. J e mehr ihre Gebiete auf feste staatliche Grundlagen gestellt wurden, um so mehr stärkte der König zugleich die „Säulen des Reiches". Es bestanden die Kurfürstentümer Mainz, Köln, Trier (geistliche), das Königreich Böhmen, die Pfalzgrafschaft bei Rhein, das Herzogtum Sachsen und die Markgrafschaft Brandenburg (weltliche, 1623 trat Bayern hinzu und 1708 Braunschweig-Lüneburg), deren Inhaber lehnrechtlich betrachtet, fremde, nämlich Reichslehngewalt verwalteten, staatsrechtlich aber eigene Gewalt. Das Reich trieb daher langsam einem zusammengesetzten Staate, einem Gesamtstaate zu (im Gegensatz zum Einheitsstaate). Die goldene Bulle war das zäheste Gesetz des Deutschen Reiches. 450 Jahre stand es in Geltung. Es regelte endgültig die Königswahl. So finden sich genaue Bestimmungen über die Einberufung der Kurfürsten zum Wahltag nach Frankfurt a. M. Die Fürsten, die nicht persönlich erscheinen wollten, hatten ihre „legales nuncios cum plena et omnimoda potestate" zu senden. Wer keinen Vertreter sandte, ging des Wahlrechts verlustig. Die Bulle gab die eingehendsten Vorschriften über das gesamte Wahlverfahren und es ist heute erwiesen, daß sie, wie das alte Recht, die .Selbstwahl gestattete. So wurde z. B. Ruprecht durch Selbstwahl König. Auch erließ sie eine ausführliche Abstimmungsordnung, nämlich: 7«

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Papsttum.

Trier, Köln, Böhmen, Pfalz, Sachsen, Brandenburg, Mainz. Mainz hatte als Letztetimmende eine Vorzugsstellung. Im übrigen war das „Gleichgewicht der Kurwürden" fein abgewogen und der ganze Abstimmungsmodus bis in das Letzte hinein säuberlich geordnet. Auch das Zeremoniell, etwa die geistlichen Amtshandlungen, die Ehrendienste beim Krönungsfeste und vieles andere waren haarklein fixiert. Alles war zugespitzt auf den Gedanken, die Wahl und Einsetzung des neuen Herrschers sicher, rasch, ohne Hader und Eangstreitigkeiten zu glücklichem Ende zu führen. Die Krönung des Königs zum Deutschen Kaiser lag nach wie vor in der Hand des Papstes. Zog der Herrscher nicht nach Rom zur Krönung, so war er n u r ein erwählter, kein wirklicher Kaiser, ein imperator electus.

§ 29. Das Reich und die Kirche. 1. D e r A u f s t i e g d e s P a p s t t u m s . Gregor VII. hatte vergeblich versucht, die Kirche in ihre ureigenen Bahnen, in das spirituelle Gebiet zurückzuführen. Die in ihr geweckten Strebungen nach weltlicher Herrschaft konnten nicht wieder unterdrückt werden. Sie rang, wie der Staat, nach einer eigenen Verfassung und schaltete, um ihre hierarchischen Ansprüche möglichst ungestört durchzusetzen, das Volk der Laien aus jeder aktiven Mitgliedschaft aus. Seit 1170 galt der Satz: Ecclesia nihil dicitur nisi clerici. D i e K i r c h e w a r zu e i n e r A n s t a l t d e s k a t h o l i s c h e n K l e r u s gew o r d e n . Die Spitzen des Klerus, die Bischöfe und die Äbte, fügten sich im Laufe des 12. Jahrhunderts in den Lehnsverband ein und bewegten sich fortan in dem zwiefachen Gleise von weltlichen Vasallen und geistlichen Würdenträgern. Das Reich hatte damit endgültig eine Doppelnatur erhalten: es war zu einem weltlich und geistlich gemischten Lehnreich geworden. In dieser Struktur lag der Konfliktsgedanke bereits begraben; denn es stellte ein Reich mit zwei Herrschern dar, dem Kaiser und dem Papste. Die mittelalterliche Doktrin war sich dieses Gegensatzes voll bewußt, ging aber trotzdem auf der Bahn weiter, die schon die fränkische Zeit eingeschlagen hatte, d i e C h r i s t e n h e i t a l s e i n e E i n h e i t zu e r f a s s e n . Diese geeinigte Christenheit, in der Kreuzzugszeit noch stärker geworden, bildete die rechtliche und politische Richtschnur, nach welcher Kaiser und Papst zu laufen hatten. „Die Christenheit zu beschirmen", wie der Sachsenspiegel sagte, das Wohl der Christenheit zu fördern, war die hehre Aufgabe, die der Kaiser mit dem weltlichen Schwert (gladius ftiaterialis) und die Kirche mit dem geistlichen Schwert (gladius spiritualis) durchführen sollten. Von diesem obersten Grundgedanken aus ist das ganze Verhältnis von Staat und Kirche in dieser Epoche zu bewerten. Aber wie zufallen Zeiten das Recht auf die Macht gebaut ist (wodurch beileibe nicht gesagt werden soll, daß Recht nur Macht sei!), so überragte der mächtigere Papst allmählich den schwächeren Kaiser. Denn die Kurio war im 12. Jahrhundert durch drei Vorgänge wesentlich gehoben worden: E i n m a l durch die Niederlage Friedrich I. bei Legnano (1176), wodurch die Autorität des Kaisertums gegenüber dem Papsttum wesentlich erschüttert wurde. Mußte doch der Kaiser nichts geringeres erklären, daß er sich 25 Jahre lang im Irrtum befunden habe! Z w e i t e n s

Niedergang.

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durch die'doppelte Königswahl Ottos von Braunschweig und Philipps von Schwaben (1198), die dem Papst die tatsächliche Einmischung in die deutsche Wahl ermöglichte, so daß er sich bei Doppelwahlen das Recht der Entscheidung vorbehalten konnte. D r i t t e n s durch eine tiefe wissenschaftliche Zusammenfassung und Fundierung des gesamten kanonischen Rechts, begonnen mit dem Dekret des gelehrten Mönches Gratian (um 1140), die dem Papste wuchtige geistige Waffen an die Hand gab. • Mit dem Interregnum war endgültig der Aufstieg des Papsttums vollendet, erblickte man doch während der deutschen Königswirren im Papsttum die allein wirksame, zentrale, Frieden und Ordnung gewährende Macht. Es ist höchst interessant zu sehen, wie die Doktrin sich zu dieser Verschiebung stellte. Denn sie konnte und wollte vom Grundsatz nicht abgehen, daß Kaiser und Papst zusammen Lenker der einheitlichen Christenheit seien. Sie erklärte, unter Verwendung alter augustinischer Ideen: Gott verleiht die beiden Schwerter nicht direkt an die beiden Hüter der Christenheit (alte Auffassung), sondern reicht beide dem Papste, und der Papst gibt von sich aus das weltliche Schwert dem Kaiser weiter (neue Auffassung, die vor allem im Schwabenspiegel, um 1275, verwertet ist). Damit war theoretisch die Unterordnung des Kaisers begründet, ohne den christlichen Einheitsgedanken erschüttert zu sehen. Die Kurie, technisch gut geschult und gewohnt, die Machtverhältnisse geschickt in rechtliches Gewand zu kleiden, erklärte schließlich: der Kaiser sei ein vom Papst einsetzbarer und absetzbarer Herrscher, der sein weltliches Schwert „ad nutum ecclesiae" zu führen habe. Bei Ungehorsam gegen päpstliche Befehle könne der Kaiser entlassen und dürften die Untertanen von ihrem Treueide entbunden werden. So hieß es in der Bulle Unam sanctam (1302) Bonifaz' VIII., jenes Kirchenfürsten, welcher die päpstlichen Hoheitsansprüche „zwar nicht am besten geltend gemacht, aber am stärksten formuliert hat". 2. D e r N i e d e r g a n g d e s P a p s t t u m s . Im nämlichen Jahre 1302, in dem dieses unerhörte päpstliche Dekret der Welt zugemutet wurde, versammelte der französische König seine Stände und warf sich mit ihnen der römischen Kirche entgegen. Er ließ einen neuen Papst wählen und setzte ihn in sein eigenes Land, nach Avignon. Es begann für die Kurie jene schmachvolle Zeit, welche die Geschichte als die babylonische Gefangenschaft bezeichnet, die Zeit, in der der Kirehenfürst in völlige Abhängigkeit von Frankreich geriet. Und nun wurde dem Papsttum der größte Schlag versetzt: man wählte einen Gegenpapst. E i n e r d e r Z e n t r a l g e d a n k e n d e r g e s a m t e n H i e r a r c h i e w a r v e r n i c h t e t , d i e E i n h e i t d e s P a p s t t u m s . Fast vier Dezennien dauerte der schismatische Zustand (1378 bis 1417), der notwendigerweise den Glauben an die Autorität der Kirche und ihres Oberhauptes schwer schädigte. In Deutschland war Ludwig der Bayer das letzte Opfer der überspannten hierarchischen Gewalt geworden. Der Papst hatte ihn gebannt und verlangte seine Abdankung. Ludwig wollte auch zurücktreten, hielt sich dann aber auf dem Throne, und die Sprache in seiner Sachsenhäuser Appellation von 1324 ist bereits eine so energische, daß man eine neue Zeit gekommen sieht. Die Schrift war gerichtet gegen Johann XXII., „als einen Feind des Friedens und einen Erreger

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Konzil.

von Streit und Empörung, nicht allein, wie bekannt, in Italien, sondern auch in Alamannien". 1338 schlössen die Kurfürsten ein Bündnis zur Rense, in dem ein Weistum (genannt Licet iuris) zustande kam des Inhalts: der von ihnen, wenn auch nur von der Mehrheit, gewählte römische König bedürfe keiner Bestätigung durch den apostolischen Stuhl. Das Gesetz setzte Bich mit der Zweischwerterlehre auseinander und erklärte reichsrechtlich, die kaiserliche Gewalt stamme unmittelbar von Gott, es sei eine Lüge, daß sie vom Papst ausgehe. Daher die Folge: statim ex sola.electiöne est verus rex et imperator Romanorum. Ließ sieh zwar die kaiserliche Gewalt vom Papste nicht völlig trennen, wie wir bereits sahen, so war doch der erlösende Zustand eingetreten: d a s d e u t s c h e K ö n i g t u m w u r d e w i e d e r auf v ö l l i g e i g e n e , v o m P a p s t e u n a b h ä n g i g e G r u n d l a g e n g e s t e l l t . Die Kurie war auf ein enges Einflußgebiet zurückgewiesen. Die Kaiserkrönung wurde mehr und mehr zur bloßfen Zeremonie. N o c h d u r c h e i n e n a n d e r e n Gegner w u r d e die A u t o r i t ä t des P a p s t t u m s e r s c h ü t t e r t , d u r c h d a s K o n z i l . Mit Hilfe des Staates versuchte die Kirche das Schisma zu beseitigen. Kaiser Sigismund berief zusammen mit Johann X X I I I . ein Konzil naoh Konstanz, wo das Schisma sein Ende fand mit der Einsetzung Martins V. Aber die Streitigkeiten dauerten fort und sollten in einem neuen Konzil zu Basel (1431 bis 1443) geschlichtet werden. Das Ergebnis fiel jedoch verhängnisvoll aus. Das Konzil stellte sich dogmatisch über den Papst: concilium superat papam. Zugleich engte es das Papsttum gegenüber dem Staate wesentlich ein. Diese konziliare Bewegung konnte aber nur von kurzer Dauer sein; denn sie widereprach dem Wesen der bereits festgefügten katholischen Idee Durch das Wiener Konkordat von 1448, das unter starkem Einfluß des Kaisers Friedrich III., stand, trat der alte Zustand wieder ein: papa superat concilium 3. D i e O r d e n . Noch ist kurz zweier Erscheinungen zu gedenken, welche eine wesentliche Stärkung der Kirohe in sich bargen, der Orden und der geistlichen Gerichtsbarkeit. Der Benediktinerorden hatte seine HauptmisBion erfüllt. Er hatte Deutschland dem Christentum gewonnen und unendliche Strecken Landes kolonisiert. Bildung, Macht und Reichtum blieben ihm als Lohn. Aber er war, wie die Kirche selbst, verweltlicht und — was fast Schlimmeres bedeutete — er war der großen Masse des Volkes entfremdet. Seine Mitglieder lebten in vornehmer Abgesc hlossenheit und in .egoistischer Kontemplation inmitten ihrer stark und köstlich gebauten Klöster. Zu vielen Stiften hatte nur noch der Adel Zugang. Der Abt besorgte weltliche Geschäfte und Verlegte bisweilen sogar seinen Wohnsitz außerhalb der heiligen Stätte. Draußen harrte das Volk. Es dürstete nach Seelsorge, nach geistiger und weltlicher Pflege. Zwei neue, • bedeutungsvolle Orden wurden gestiftet. Sie sprengten die Pforten der Zelle und traten ins freie Land. Die Bettelorden der Franziskaner (1226) und der Dominikaner (1221) taten" sich auf und begannen etwa seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine umfassende seelsorgerische Tätigkeit. Sie stellten sich mit dem Gelübde der Vermögenslosigkeit sofort in scharfen Gegensatz zu den bestehenden reichen Erlöstem und üppig lebenden geistlichen Fürsten. Sie gewannen dadurch mit einem Schlage ungeahnten Einfluß auf das Volk. Z w e i f e l l o s i s t d u r o h d i e B e t t e l o r d e n d e r s p i r i t u e l l e

Orden.

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K e r n d e r K i r c h e w i e d e r g e h o b e n u n d eine e n g e r e V e r b i n d u n g v o n V o l k u n d K i r c h e g e s c h a f f e n w o r d e n . Ihrem heiligen, geistlichen Eifer und Übereifer ist leider auch die Anteilnahme an den Ketzerverfolgungen zu verdanken, die seit dem 12. .Jahrhundert gewaltig um sich gegriffen und allmählich zu furchtbaren Ausschreitungen führten. Mit dem Reiche hatten die Orden insofern keine Berührung, als sie sich ohne staatliche Einmischung mit päpstlicher Genehmigung bilden konnten. Sie schlössen sich zu Verbänden zusammen, deren Generalobere der Papst ernannte. Politisch griffen sie lebhaft ein, neben den Benediktinern vor allem die Zisterzienser. 4. D i e g e i s t l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t . Die katholische Kirche besaß auch auf dem Gebiete der * Gerichtsbarkeit den Willen zur Ausdehnung. Sie fing im 13. Jahrhundert an, eine Reihe von weltlichen Vergehen ihrem Bereiche zuzusprechen, z. B. den Meineid, die Fälschungen, den Wucher. Ja, eine verbreitete Meinung erklärte, die Kirche habe zu richten über alle Delikte, welche eine Sünde enthielten. Auch im Kreise des Zivilrechts wurden Ansprüche erhoben. Alle Ehe- und Testamentssachen riß sie an sich und griff damit tief in das sittliche und wirtschaftliche Leben der Menschen ein; wie denn das deutsche Testamentsrecht in seiner Grundlage auf das kirchliche Testament zurückgeht. Die Sachen der Armen, Witwen und Waisen erklärte sie ihrer Gerichtsbarkeit unterworfen; denn diese personae miserabiles standen unter ihrem besonderen Schutze. Und da der Eid die Anrufung Gottes enthielt, nahm sie auch alle Verträge an sich, die durch Eid bekräftigt waren. Also eine gewaltige Erweiterung, sowohl in krimineller als in ziviler Hinsicht. Fragt man, wie es möglich wurde, daß die Kirche den Staat auf diesem Gebiet so stark zurückdrängte, so lau,tet die Antwort: 1. Weil sich ein ausgezeichneter kanonischer Prozeß auszubilden begann, getragen von den Ideen des genialen Papstes Innocenz III., ein Rechtsgang mit schriftlichem Verfahren, ein feingestalteter Juristenprozeß, im Gegensatz zum volkstümlichen deutschen Prozeß. 2. Weil der geistliche Richter nicht nur Urteile fällte, sondern bemüht war, sie auoh zu vollstrecken, während hunderte von weltlichen Urteilen unvollstreckt blieben. Die Kirche bewies ihre überlegene Disziplin und machte sich ihren tiefen Einfluß auf das Gemütsleben zunutze. Ewiger Streit mit dem Staat war die Folge, besonders auch mit den Städten. Aber erst gegen Ende des Mittelalters gelang es der weltlichen Gewalt, die Kirche aus dieser überragenden Stellung zu vertreiben. § 30. Der Reichstag. Es ist ein alter Zug im deutschen Königtum, daß es Rat pflegen will mit den Großen des Reiches. Der deutsche König versammelte seine Reichsvassallen um sich, so oft er es für gut fand und zog hinzu, wen er für würdig hielt. D i e s e V e r s a m m l u n g e n h i e ß e n die Hof t a g e . Sie waren, dem Zeremoniell des Mittelalters entsprechend, auch bestimmt, Prunk und Glanz, Ansehen und Pomp des Königshauses auf alle Welt auszustrahlen. Das Reichslehnrecht reihte daher ünter die Lehnspflichten auch die Hoffahrtspflicht für die Belehnten ein. A u s d i e s e n - H o f t a g e n sind d i e R e i c h s t a g e e n t s t a n d e n . Aus Einrichtungen des königlichen Hofes sind Reichseinrichtungen geworden. Der ent-

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Reichsstandschaft.

scheidende Sehritt für diese Umwandlung lag in der Verschiebung von Recht und Pflicht der Einberufenen. Im Laufe des 12. Jahrhunderts bildete sich nämlich die Rechtslage aus, wonach der König die Verpflichtung hatte, bei wichtigen Reichsangelegenheiten seine Großen zu hören. Aus diesem Recht auf Beratung zweigte sich das Recht auf Mitbestimmung der Reichsgeschicke ab. Beides hing zusammen mit finanziellen Lasten, die der König seinen Großen auferlegte, aber auch mit Diensten, namentlich mit der Heerfahrt nach Rom. Und dabei spielte der urmenschliche Gedanke keine kleine Rolle, daß der Belastete einer Aufgabe bereitwilliger nachkommt, wenn er der Verpflichtung selbst zugestimmt hat. G e g e n E n d e d e s 12. J a h r h u n d e r t s i s t d e r K ö n i g v e r f a s s u n g s m ä ß i g an d i e Z u s t i m m u n g d e r G r o ß e n f ü r b e s t i m m t e R e i c h s a n g e l e g e n h e i t e n gebunden. Wer waren diese Großen ? Zunächst sind wir nicht imstande, eine feste Ordnung wahrzunehmen. Dies ist leicht verständlich, wenn wir an die dargestellten Verschiebungen im Reichsfürstenstand denken, und mehr noch, wenn wir uns des Satzes erinnern : die Stimmen werden nicht gezählt, sondern gewogen. J e nach der politischen Geltung hatte der König die Reichstagsmitglieder versammelt und angehört. Aber wie es so geht: alle tatsächlichen Verhältnisse drängen nach rechtlicher Organisation, wenn der Aufgabenkreis wächst. So auch hier. Um das Ende des 13. Jahrhunderts steht fest, daß die 93 geistlichen und die 13 weltlichen Lehnsfürsten Reichsstandschaft besaßen (im 14. Jahrhundert vermehrten sich letztere auf 4^). Aber alles andere war im Flusse, und wieweit die kleineren Herren, die comités und barones, bereits Sitz und Stimme besaßen, bleibt zweifelhaft. E i n n e u e s , b e d e u t s a m e s E l e m e n t t r a t in d e n R e i c h s t a g e i n m i t d e n S t ä d t e n . Die großen Geldgeber und Träger des Handels konnten auf die Dauer nicht zurückgehalten werden; wie andererseits König und Fürsten ein hohes Interesse besaßen, deren machtvolle Stimmen und Entscheidungen zu hören. Wenn man Reichstagseinladungen aus dem 14. Jahrhundert verfolgt, hat man zuweilen den Eindruck, der König wünschte von sich aus die Gegenwart der Städte mehr, als daß sich die Städte zum Reichstag vordrängten. Die großen Reichs- und Bischofsstädte erlangten in dieser Zeit die Reichsstandtschaft, wenn auch zunächst mit geringeren Befugnissen als die übrigen Glieder. Da die Städte eine auf dem Bürgertum ruhende Verfassung hatten, kam durch sie ein demokratisches Element in den Reichstag hinein. So traten langsam die drei Gruppen hervor: die Bank der Kurfürsten, die der Fürsten (zusammen mit den Grafen und freien Herren) und die der Städte. Führend blieben die Kurfürsten. Vieles in Zulassung, Beratung und Organisation stak aber im Ungewissen. Unendliche Reibereien und Streitigkeiten waren die Folge. Eine feste' Regelung ist erst im 17. Jahrhundert erreicht worden. § 31. Der Ausbau der Landeshoheit. 1N. K ö n i g u n d L a n d e s h e r r . Als nach der kaiserlosen Zeit der neugewählte Herrscher das Deutsche Reich fest in seine Hand nahm, da war eine der wichtigsten Fragen: wie sollte er sich zur Gewalt der Landesherren stellen ? Sie zu verdrängen schien unmöglich und

Reichslandvogteien.

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lag nicht in der Politik der Habsburger. Ebenso unmöglich erschien es, sie völlig in ihre Bahn gehen zu lassen; denn dies hätte zur Auflösung des Reiches führen müssen. So schlugen die Könige seit Rudolf von Habsburg einen Mittelweg ein. Sie verfolgten das Ziel, dem König zu belassen, was des Königs, und dem Landes herrn, was des Landesherrn war. Denn daß wahrend des Interregnums die Landeshoheit große Fortschritte in dem Erwerb neuer und in der Befestigung alter Rechte gemacht hatte, das sah der König wohl. Auf vier Wegen ging man vor. a) Der König versuchte, vom verschleuderten und in Vepvirrung geratenen Reichsgut zu retten, was er vermochte. D i e H a u p t m a ß n a h m e zu d i e s e m Z w e c k e s a h er in d e r E r r i c h t u n g v o n R e i c h s l a n d v o g t c i e n im S ü d e n u n d S ü d w e s t e n D e u t s c h l a n d s , namentlich auch in den Waldstätten. Ein Landvogt sollte als Reichsbeamter auf diesen wiedergewonnenen Reichsgütern walten. Doch der Erfolg dieser gut geplanten Reorganisation war gering. I m 15. Jahrhundert lösten sich die Vogtfeien auf. Einige wenige hielten sich. Die Landvogtei Oberschwaben fristete sogar ihr staatsrechtliches Dasein bis 1800. Neuste Forschungen zeigen, daß das d u n k l e G e b i l d e d e r L a n d g r a f s c h a f t e n wahrscheinlich auch auf königliche Bestrebungen zurückgeht. Eine wichtige Aufgabe der Landgrafen war: Sammlung und Schutz der Freien im Landgericht. Aber auch dieser Einrichtung gegenüber verlor der König im 14. J a h r hundert seinen Einfluß. b) Die Aufgaben des Reiches waren wesentlich erschwert durch dessen Armut. Ohne Reichsfinanzen aber blieb eine wirksame Politik den Landesherren gegenüber unmöglich. D a h e r g r i f f d e r K ö n i g z u r B e s t e u e r u n g . Die Reichsstädte wurden zu Steuern herangezogen, und das Reichskirchengut hatte in Notfällen eine außerordentliche Beihilfe zu leisten. Unter Sigismund wurden sogar allgemeine Reichssteuern erhoben. Auch hier wenig Erfolg. Die Steuern gingen nicht ein, oder man griff zur Steuerschraube, wenn es zu spät war. Nur wenn Gefahr drohte, waren die Leute finanziell zu haben, z. B. als die Hussiten an den Grenzen standen. So wurde der König immer mehr auf sein Hausgut angewiesen. Es ist bekannt, wie schon Rudolf auf Erweiterung seiner Hausmacht bedacht war, und wie er im Aar- und Zürichgau (in denen Schwyz und Unterwaiden lagen) vorging, während er z. B. das freie Reichsgebiet von Uri unangetastet ließ. Die Bestätigung der Urner Reichsfreiheit von 1274 beweist, welch wohlüberlegte Hauspolitik der kluge König trieb. c) I n Erkenntnis der hohen Bedeutung der Blutgerichtsbarkeit versuchte der König an der Bannleihe festzuhalten. Die Leihe des Gerichts enthielt ja noch nicht die Gewalt, über das Blut der Menschen wirklich zu richten, Urteile zu fällen und zu vollstrecken. I m Schwabenspiegel begegnen wir der Auffassung, daß die Kirchenvögte des Blutbannes bedürften. Seit Bonifaz VIII. war die Verleihung des Blutbannes an die geistlichen Fürsten s e l b s t möglich geworden. Beispiele zeigen, d a ß der K ö n i g auch den weltlichen L a n d e s h e r r e n g e g e n ü b e r auf d e r V e r l e i h u n g d e s B a n n e s b e s t a n d . E r gab z. B. 1334 dem Grafen von Freiburg „vollen gewalt zu richtende als ein lantgraf durch recht billichen richten sol". Schließlieh unterlag der König aber doch. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts kam der Bann außer Übung.

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Grundbesitz.

d) Der König mischte sich in das Innere der landesherrlichen Gebiete ein und versuchte die Willkür der Herren zu beschränken. Dabei faßte er sie am empfindlichsten Punkte, an den Finanzen. Der Landesherr brauchte reichliche Mittel, um einen Staat und darin eine Verwaltung einzurichten. Deshalb griff er vor allem zur Ausbeutung von Regalien, jener Nutzungsrechte, die ihrer Natur nach dem Reiche zustanden, namentlich der Zoll- und Münzrechte. Und gerade diese entriß ihm der König immer wieder. So wurden z. B. 1287 und 1301 sämtliche Zölle aufgehoben, die seit Friedrich I I . errichtet worden waren, Und noch in anderer Weise wurde der Unordnung gesteuert. D e r K ö n i g b e g a n n die U n t e r t a n e n zu s c h ü t z e n gegen den e i g e n e n L a n d e s h e r r n . Er gebot den Fürsten, die beraubten Reisendan zu entschädigen, wenn diese gegen Entgelt sicheres Geleite durchs Land erkauft hatten (1238). Oder er verbot, eine Burg zu "errichten, wenn nicht die Zustimmung des Eigentümers von Grund und Boden eingeholt worden war. Andererseits versäumte der König nicht, wohlerworbene Rechte der Landesherren zu stärken, wie etwa das Recht auf eine freigewordene Klostervogtei (1279). Aus alledem ergibt sich die Zielrichtung: der K ö n i g — meist in Verbindung mit dem Reichstag oder einzelnen Dynasten — s u c h t e i n d e n l a n d e s h e r r l i c h e n G e b i e t e n aus dem W i l l k ü r z u s t a n d einen R e c h t s z u s t a n d zu erzeugen. Der König arbeitete an der rechtlichen Ausgestaltung der Territorien lebhaft mit. Der König nahm an der Schaffung einer Landesstaatsgewalt regen Anteil. Die Territorialgewalt in den deutschon Staaten ist nicht allein auf das Landesfürstentum, sondern auch auf die Mitwirkung der königlichen Gewalt zurückzuführen. 2. L a n d e s h e r r und T e r r i t o r i u m . Die drei Grundlagen dor Landeshoheit, die uns bei ihrer Entstehung entgegentraten, fallen auch in der KurfürStenzeit schwer ins Gewicht: der Grundbesitz und die Regalien, die Hochgerichtsbarkeit und die Krieger (Dienstmannen). Sie bildeten sich weiter fort und riefen neue Kräfte herbei. a) D e r G r u n d b e s i t z . Ihn zu erweitern und zu konzentrieren, war eine Hauptaufgabe. Ohne einträgliche Hausmacht konnte kein Territorium Bestand haben. An den landesherrlichen Grundbesitz schlössen sich vornehmlich die Burgen an, Kastelle, welche nicht nur der Verteidigung des Landes, sondern auch dessen Verwaltung dienten. Vielfach wurden die Burgbezirke zu Verwaltungsbezirken. Aus dem Grundbesitz erwuchs häufig die Obermärkerschaft des Landesherrn. Wo er in einer Mark begütert war, da schwang er sich oft über die anderen Märker empor und nahm (über der Genossenschaft) eine herrschaftliche, befehlende Stellung ein. Auch Marktgründungen standen teilweise mit dem Grundbesitz in enger Berührung. Tendenz war: die reichen Erzeugnisse der Domänen sollten leicht umgesetzt und ohne Konkurrenz fremder Produkte verkauft werden. Steckte nach diesen und anderen Richtungen ein Element im Besitze, welches den Landesherrn bei der Territorialbildung förderte, so zeitigte der Grundbesitz nach anderer Richtung eine schwere Schädigung für das werdende Staatswesen. D e r G r u n d b e s i t z ließ n ä m l i c h den T e i l u n g s g e d a n k e n n i c h t e r s t e r b e n . Wiewohl die Reichsgewalt der Teilung der Gerichtsgebiete von jeher entgegenarbeitete, schritten die Landesherren stets wieder zu neuen Teilungen im Wege des Verkaufs und der Verpfändung oder des Erbganges. Gleich einem Grundstück wurde

Hochgerichtsbarkeit.

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das Territorium veräußert. Rein persönliche, etwa familiäre Gesichtspunkte, gaben den Ausschlag. 1318 wurde z. B. der Breisgau geteilt und ein Teil an Österreich verpfändet, weil der Breisgaugraf eine Aussteuer für seine Schwester brauchte! Mit einem Worte: den Impuls für die privatrechtliche Behandlung des Territoriums gab der Grundbesitz. So war es denn ein ungeheurer Fortschritt auf dem Wege des Staatsgedankens, als die goldene Bulle die kurfürstlichen Gebiete für unteilbar erklärte (oben § 28). Man k a n n g e r a d e z u d i e l a n d e s h e r r l i c h e Ges c h i c h t e in die P e r i o d e v o r u n d n a c h 1356 e i n t e i l e n . Denn manche Territorialherren ahmten das Vorbild nach und erklärten im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts die Unteilbarkeit ihrer Herrschaften. Oder es entstanden Verbote, ohne Zustimmung der Landstände das Territorium zu teilen. J e m e h r die G r u n d b e s i t z i d e e s c h w a n d , u m so m e h r t r a t d i e S t a a t s i d e e h e r v o r . Das interessante Beispiel für das Ringen zwischen dem Einheits- und dem Teilungsprinzip bietet die Dispositio Achillea von 1473 des Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg. (Einheit in der iturmark, Teilung in den fränkischen Gebieten.) Die Regalien, wie Münz-, Zoll-, Jagd-, Geleits-, Bergregal usw. waren ergiebige Einnahmequellen und wurden daher von den Landesherren eifersüchtig gehütet. Diese Rechte, über welche der König einst eine weitgehende Gewalt besaß, waren auf die Landesherren übergegangen, teils im Wege der Verleihung, teils durch gewaltsame Anmaßung, teils auf dem Wege der Gewohnheit. Vieles war ungewiß und infolgedessen Gegenstand endloser Streitigkeiten. Fest mit dem Reiche verbunden blieb das Judenschutzregal. Die neuere Forschung hat gezeigt, daß die Regalien vielfach der öffentlichen Wohlfahrt dienten. b) Die H o c h g e r i c h t s b a i ; . k e i t . Sie trug, im Gegensatz zum Grundbesitz, stets das öffentlichrechtliche Moment in sich, wie schon früher ausgeführt. Sie war der eigentliche staatsbildende Faktor auch in dieser Periode. Mit dem Wegfall der Bannleihe und mit der Erteilung von Evokationsrechten wandelte sich die Gerichtsgewalt der Landesherren in volle Gerichtshoheit um. Und diese Verschiebung hatte drei große Wirkungen. E i n m a l : d i e G e r i c h t s o r g a n i s a t i o n w u r d e — b i s auf g e r i n g e r e i c h s r e c h t l i c h e V o r s c h r i f t e n — L a n d e s s a c h e . Die alten Gerichtsstätten wurden beliebig verschoben, neue Gerichte eingesetzt, neue Gerichtstage und Gerichtstermine bestimmt. Z w e i t e n s : D a s E x e m t i o n s r e c h t w u r d e l a n d e s r e c h t l i c h . Der Dominus terrae vermochte fortan_ aus seinem Gerichtsgebiete nach eigepem Gutdünken Gerichtsbezirke auszuschalten. Er konnte Immunitäten neuen Stils erteilen. Er gebot also gerichtsherrlich über das Territorium wie früher der König. D r i t t e n s : Die G e r i c h t s h o h e i t f ü h r t e z u r S t e ü e r h o h e i t . ' D i e älteste, landesherrliche Steuer hieß die Bede. Die älteste Steuer war also eine Bittsteuer, eine Auflage, die vom geldbedürftigen Landesherrn zunächst e r b e t e n werden mußte. Sie hat ihrem Ursprung nach nichts zu-tun mit den Vogtsteuern, die der Vogt kraft seiner Muntgewalt ven den Vogteileuten erhob. Sie nahm aber schon im 13. und 14. -Jahrhundert einen Zwangscharakter an und verschmolz jedenfalls vielerorts mit den alten Vogtsteuern. Dies war um so leichter möglich, als sich der Landesherr häufig zum obersten Vogt in seiner Herrschaft aufwarf. Auch andere Einflüsse mögen bei der Steuerbildung im Spiele gewesen sein: alte Heersteuern und da und dort grundherrliche Steuern. Das Wesentliche aber ist, daß in der klassischen Zeit

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Dienstmannen.

der Staatenbildung, im 14. und 15. Jahrhundert, der Landesherr die Leute kraft seiner Gerichtsherrschaft besteuerte und in diesem Sinne kann man die landesherrliche Bede eine Gerichtssteuer nennen. Alte Vogtsteuern konnten sehr wohl neben der jüngeren Bede fortbestellen. Als der Landesherr begann, immer eigenmächtiger vorzugehen, griffen die Landstände ein und erzwangen sich ein Steuerbewilligungsrecht. Seit dieser Zeit gewann die Bede den Charakter einer öffentlichen Steuer. Ritterschaft und Kirche blieben häufig bedefrei. Der Fürst scheute sich auch nicht, um finanzieller Vorteile willen einzelne Teile seiner Gerichtsbezirke zu verkaufen oder zu verpfänden. Am besten ging es jenen Landesherren, deren Territorium blühende Städte aufwies. Mit großem technischem Geschick bauten sie dort direkte und indirekte Steuern aus und schufen Einrichtungen, die bedeutende Einkünfte brachten, wenn sie auch zuweilen für den Verkehr äußerst hinderlich waren, so z. B. das S i a p e l r e c b t , wonach „der Warenverkehr der Wirrschaft einer Stadt dienstbar gemacht werden konnte und zwar möglichst unter Ausschluß benachbarter Städte". — Es war ein großer Schritt vorwärts getan, als man anfing, ein System in die Steuerverwendung zu bringen. Der tüchtige Kanzler des Kurfürsten Albrecht Achilles (Ludwig von Eyb) hat die Anfänge eines Budgetrechtes entwickelt. Er bestimmte, daß ein Drittel der Einnahmen für die laufenden Ausgaben, ein Drittel zur Tilgung der Schulden und ein Drittel für Zeiten außerordentlicher Bedürfnisse und Not verwendet werden müßten. c) D i e K r i e g e r . Noch immer spielten die Dienstmannen eine große Rolle. Sie mußten auf jeden Befehl des Landesherrn ausziehen und gehörten zum Lande, mochten sie nun unmittelbar dem Landesherrn oder anderen Großen des Territoriums unterstellt sein. Es war eine Fälschung, als die steierischen Ministerialien erklärten, beim Aussterben des landesherrlichen Hauses sollten sie sich einen neuen Herrn wählen dürfen (1186). Aber wir sahen, im 14. Jahrhundert verschmolzen die Dienstleute mit den im Lehnsverbande stehenden Hochfreien und Mittelfreien, so- daß sich für beide der übergeordnete Begriff der Ritterschaft bildete. Diese Ritterschaft wies gegenüber ihrem Herrn oft gewaltige Widerspenstigkeit auf. Sie drückte sich vom Dienst oder sie verlangte Entschädigungen, wenn der Kriegszug länger dauerte, als ihr angenehm war. Daher griff der Landesherr häufig zu Söldnern, oder er machte seine Bauern mobil, was in der Heerverfassung näher beleuchtet wird. Hier sei nur gesagt: die V e r t e i d i g u n g des l a n d e s h e r r l i c h e n T e r r i t o r i u m s b e r u h t e in der K u r f ü r s t e n z e i t auf der R i t t e r s c h a f t , den S ö l d n e r n und, a l l e r d i n g s selten, auf den B a u e r n . Die Bürger der Städte nahmen grundsätzlich die Waffe nur zur Hand, wenn es sich um die Verteidigung ihrer eigenen Mauern handelte oder wenn belehnte Bürger kraft Lehnrechts auszogen. 3. L a n d e s h e r r und S t a a t s g e w a l t . Der Ausdruck: dominus terrae, der seit dem 13. Jahrhundert gebräuchlich wurde, ist kennzeichnend für die Rechtslage. D a s L a n d wurde zum H e r r s c h a f t s g e b i e t , auf das sich die ö f f e n t l i c h e G e w a l t n i e d e r s c h l u g . In dieser Territorialisierung lag ein gewaltiger staatsbildender Faktor. Diese öffentliche Gewalt gipfelte in der Hochgerichtsbarkeit. Die terra des Landesherrn war

Staatsgewalt.

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nicht das Gebiet, das sich mit seiner Grundherrschaft oder rrut seinem Lehnsbesitz deckte. An beides lehnte sich das „ L a n d " an (§ 23, 2). Aber die Regel war, daß diese Grenzen territorial nicht zusammenfielen, daß das „ L a n d " vielmehr so weit reichte wie der Bereich der Hochgerichtsbarkeit. Und nun ist für die juristisch bedeutsame Frage nach der Ausbildung der Staatsgewalt folgendes zu sagen: Die landesherrlichen Gebiete sind zu scheiden in solche, die staatliche Aufgaben zu erfüllen hatten oder nicht. H i e r w a r g r u n d s ä t z l i c h d i e G r ö ß e m a ß g e b e n d . Ein kleines, aus einer Anzahl von Dorfgerichten zusammengesetztes Territorium, wie etwa das der Markgrafen von Hachberg, kann nicht Staat genannt werden. Gewiß, der Markgraf war Landesherr. Aber die Interessen des Landes fielen vollkommen zusammen mit den egoistischen Wünschen und Bedürfnissen der landesherrlichen Familie. Von einem Gemeinnutzen, der über den Dynastienutzen hinausgegangen wäre, von einem Untertanenverband, der um seiner selbst willen erhalten und gefördert worden wäre, von staatlichen Gesamtinteressen, ist keine Rede. Von einer Herrschergewalt im Sinne einer Staatsgewalt kann nicht gesprochen werden. Wie anders lagen die Dinge in einem großen weltlichen Kurfürstentum oder wie etwa im Herzogtum Österreich. Die Größe des Territoriums und die Masse der Untertanen wirkten hier zweifellos staatsbildend ein. Hier konnten Staatsaufgaben erwachsen. Hier waren feste, weite Organisationen notwendig, welche zur Erhaltung und Förderung des Ganzen dienten, Einrichtungen, die durchaus nicht immer mit den Interessen des Landesherrn und seiner Familie zusammengingen. Man denke nur an die Landstände. Hier wurden für den Herrscher neben Rechten schwere obrigkeitliche Pflichten begründet. Hier waren Körper geboren, die sich mit eigenem Leben, nicht bloß mit dynastischen Interessen füllten. Hiei waren Kampf und Staatsklugheit notwendig, um das Ganze in ein Gleichgewicht der K r ä f t e zu bringen, wie etwa der Kampf gegen die Städte und den Landesadel, sowie die Entstehung der Kirchengewalt (Landeskirchentum) beweisen. Gewiß, auch hier verfolgte der Landesherr eigene Zwecke, so gut er dies vermochte. Aber deshalb dieser Art der Herrschergewalt die N a t u r einer Staatsgewalt abzusprechen, ist verfehlt. Eine Staatsgewalt im heutigen, streng juristischen Sinn gab es aber auch in diesen großen Territorien nicht. Denn wir betrachten die Staatsgewalt als eine einheitliche und unteilbare Gewalt, als ein oberstes Hoheitsrecht, das allein dem Körper Staat zukommt. Der damalige Landesherr dagegen besaß eine Herrscher gewalt auf Grund der verschiedensten Rechtstitel: Als Belehnter, als Eigentümer, als Pfandinhaber, als Bevollmächtigter. Vieles war usurpiert. Vielem fehlte jede rechtliche Unterlage. Nur in der Person der Landesherrn bildeten die Rechte eine — zufällige — Einheit. Die Zusammenfassung all dieser Hoheitsrechte zum einheitlichen Begriff der Staatsgewalt wurde erst möglich mit Hilfe des römischen Rechts und mit Hilfe der Doktrin. Denn erst das römische Recht führte eine begrifflich scharfe Scheidung von öffentlichem Recht und Privatrecht durch. Noch im 17. und 18. Jahrhundert war vieles im Flusse; Theorie und Praxis gingen gerade auf diesem Gebiete weit auseinander. Aber mit anderem Auge geschaut, näherte sich schon die landesherrlich© Gewalt des 15. und mehr noch des 16. Jahrhunderts einer Staatsgewalt. Die Fürsten

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Verwaltung.

fingen an, ihre Befugnisse den Untertanen gegenüber als ein Amt aufzufassen. Und kraft dieses Amtes verlangten sie Gehorsam von der unterstellten Bevölkerung. Der Amtsbegriff war ein einheitlicher Begriff, so gut wie der ihm entsprungene Begriff der Obrigkeit. In diesem Bereiche hat nicht das römische Recht, sondern die Reformation bahnbrechend gewirkt. Amt und Obrigkeit wurden religiös gefaßt. Sie stammten von Gott. Sie waren unantastbar, heilig in der Hand des Fürstin. Niemand hat dies plastischer gesagt als Luther selbst! „Gott will lieber leiten die Obrigkeit, so Unrecht tut, denn den Pöbel, so rechte Sache hat" (1528). 4. D i e l a n d e s h e r r l i c h e V e r w a l t u n g . Das ist das Neue, das E n t s c h e i d e n d e in der T ä t i g k e i t d e r L a n d e s v ä t e r : sie r i c h t e n eine V e r w a l t u n g ein. Neben dem Verteidigungsgedanken und neben dem Rechtsschutz nach innen und außen erhebt sich der Verwaltun^sgedanke und mit ihm die Wohlfahrtsidee. Der Landesherr verteidigt, richtet, verwaltet und schafft Nutzen. In weitem Umfange dient ihm die Stadt als Vjrbild. Jetzt mischt sich der Herr von Staats wegen in das Wohl des einzelnen Untertanen ein, um das Wohl der Gesamtheit zu heben. Jetzt treten Normen zur Forderung des Gewerbes, der Landwirtschaft und des Weinbaues auf, jetzt die ausgedehnten Ordnungen zum Schutze der Wälder, jetzt die Aufstellung ron Getreidepreisen und Ausfuhrverboten. 1417 ordnete z. B. Herzog Albrecht V. \on Österreich an, es dürften keine neuen Weingärten angelegt werden, da sonst der Wein zu billig und das Getreide für arm und reich zu teuer würde. Besondere Verwaltungsbehörden für geographisch geschlossene Bezirke treten auf, der Amtmann, der Pfleger, der Vogt. In den Städten dehnt der Rat seine Verwaltungsbefugnisse immer weiter aus. Fast überall war die Entwicklung dergestalt, daß der Verwaltungsbeamte auch Einfluß auf die Rechtsprechung bekam, so daß regierende und richterliche Gewalt in diesen Beamten zusammenflössen. Das Gefühl, daß digse Aufgaben in einem vollendeten Rechtsstaate getrennt sein müßten, war noch nicht erwacht. Die Folge war, daß der Verwaltungsbeamte meist über den Richter hinauswuchs und ihn beherrschte. Der Richter begann ein Werkzeug der Regierung zu werden. Der wichtigste Schritt wurde unternommen in der Zusammenfassung des Gebietes durch eine Zentralverwaltung. Die alte, nur auf den fürstlichen Hof zugeschnittene Organisation genügte nicht mehr. N e b e n sie t r a t die L a n d e s v e r w a l t u n g . Mit aller Kraft macht sich die Anschauung geltend, daß das Territorium kein vergrößerter Fürstenhof sei und deshalb nach eigenen Verwaltungsbehörden dränge. Für das Expeditionswesen wurde eine Kanzlei eingerichtet, für das Finanzwesen eine Kammer oder Rentei. Aber eine verfeinerte Einteilung des Ganzen fehlte noch. An die Spitze stellte sich der Landesherr selbst mit seinem „Rate", den er im ganzen frei aus Vertrauensleuten wählte. Wie enge aber Hofverwaltung und Landesverwaltung im ganzen noch zusammengingen, zeigt die lehrreiche Hofordnung Joachims I I . von Brandenburg aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Das Entstehen der Verwaltung hatte sozial und rechtlich bedeutsame Folgen. Es hob nicht nur das Staatswesen in seiner Gesamtheit empor, sondern es brachte auch den Landesherrn und seine Beamten wieder in Verbindung mit dgm Volke.

Landstände.

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D i e B r ü c k e z w i s c h e n S t a a t u n d V o l k i s t n i c h t d u r c h d i e t l e eh t s p r e c h u n g , s o n d e r n d u r c h d i e V e r w a l t u n g g e s c h l a g e n w o r d e n . F ü r Fürst und Volk brach langsam eine neue Zeit an, und es ist kennzeichnend, daß in der goldenen Bulle bestimmt wurde, die Söhne der Kurfürsten hätten außer deutsch auch lateinisch, italienisch und slavisch zu lernen, damit sie die Leute und die Leute sie besser verstünden. Denn Landes vater ist nur der, dem die Sprache seines Volkes vertraut ist. § 32. Die Landstände. 1. Die Entstehung der Landstände reicht in die Kaiserzeit zurück (§ 23). Aber bis zum Interregnum erfahren wir wenig von diesen aufstrebenden Gewalten im Territorium. Erst im 14. und 15. Jahrhundert treten sie deutlicher heraus. Die Kräfte, die sie hervorriefen, liegen im Dunkeln und sind daher sehr verschiedenartig gedeutet worden. Vermutlich waren picht in allen Gebieten die gleichen Motive im Spiele und man muß sich hüten, eine allgemeine Entstehungstheorie aufzustellen. Alles komiht zunächst auf die Frage an: herrschte im landesherrlichen Gebiete unter Adel und Geistlichkeit ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, ein Territorialbewußtsem ? Denn das ist das Neue, das Bedeutsame, daß die Landstande das ganze Land vertraten und nur aus den Eingesessenen des Landes genommen wurden. Hierin liegt der große Gegensatz zu den personenrechtlich gestalteten Lehnsverbänden. Wo etwa ein solches Territorialbewußtsein schon f r ü h erwacht war, da mögen sich die Landstände organisch aus den alten Landtagen und den Landfriedensverbänden entwickelt haben. Dies dürfte für Bayern und Pommern zutreffen. Wo dagegen der landschaftliche Geist der Vornehmen erst ausgebildet werden mußte (vermutlich der Hauptfall), d a f ü h r t e n E i n u n g e n z u r B i l d u n g J e r L a n d s t ä n d e . Die Ritterschaft für sich, oder in Vereinigung mit der Geistlichkeit des Landes, schloß sich in Verbänden zusammen. Die Einungen waren in der Hauptsache auf den freien Einungswillen der Beteiligten gegründet. Freilich mag da und dort der Landesherr einen Zwang ausgeübt haben, so daß ihm die Organisation seines Adels höchst willkommen war. Man denke a n den Fall der Besteuerung. Wie viel leichter war es für den Fürsten, mit einer Organisation zu verhandeln, als mit jedem einzelnen Ritter und Prälaten. Auch der König h a t t e vielleicht seine Hand im Spiele und wünschte ein Gegengewicht gegen die landesherrliche Willkür. S i c h e r i s t , d a ß d i e L a n d s t ä n d e s p ä t e r Z w a n g s O r g a n i s a t i o n e n w u r d e n . J e mehr wir uns dem 15. Jahrhundert nähern, u m so mehr sehen wir die freien Einungen in Zwangseinungen umgestaltet. Wer seinen Eintritt verweigerte, galt als eine ungenossenschaftliche N a t u r und erlitt rechtliche Nachteile. Überall ist die Bildung langsam vor sich gegangen, meist auf gewohnheitsrechtlichem Wege. Aber juristisch vermögen wir einen ganz bestimmten Zeitpunkt anzugeben. J u r i s t i s c h s i n d d i e L a n d s t ä n d e i n d e m A u g e n b l i c k g e b o r e n , i n d e m sie e i n Z u s t i m m u n g s r e c h t z u l a n d e s h e r r l i c h e n V e r f ü g u n g e n e r h i e l t e n . Juristisch deckt sich die Entstehung der Stände im Territorium m i t der Entstehung des Reichstages im Reiche (§30). . 2. Gliederung, Organisation und Abgrenzung der ständischen Machtbefugnisse waren lokal sehr verschieden, und es läßt sich nur mit Vorsicht ein Gesamtbild

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Zustimmungsrecht.

geben. In größeren Territorien gliederten sich die Stände in drei Bänke, die Ritterschaft, die Städte und die höhere Geistlichkeit (sogar Bischöfe). Nur selten, z. B. in Tirol, t r a t eine Bauernkurie hinzu. Grundlage der Landstandschaft waren anfangs Geburt oder Amt und die Zugehörigkeit zum Lande. Später machte sich auch in diesem Bereiche die Verdinglichung geltend. Grundlage wurde häufig der Be-' sitz einer Burg und der Grundbesitz geistlicher Genossenschaften. — Die ständischen Machtbefugnisse äußerten sich nach zwei Richtungen. E i n m a l in e i n e m Z u s t i m m u n g s r e c h t . Der Landesherr vermochte einschneidende Verfügungen im Lande und über das Land nicht mehr allein vorzunehmen. So namentlich Teilung und Abtretung des Staatsgebietes, Bestimmung über Krieg und Frieden, Auferlegung von Steuern. Letzteres machte sich im Leben der Stände ganz besonders geltend. E s i s t a l l e z e i t d a s H a u p t m o m e n t d e r s t ä n d i s c h e n B e f u g n i s s e geblieben. Z w e i t e n s b e s a ß e n die L a n d s t ä n d e d a s R e c h t des W i d e r s t a n d e s . Ihnen ward die hohe Aufgabe zuteil, das Recht gegen die Willkür des Landesherrn zu schützen. Sie erschienen als die Hüter des „alten guten Rechts". Sie waren in diesem Sinne Kontrollinstanzen. Sie stellten das „aus dem Wesen der Rechtsordnung hervorgehende Korrektiv gegen normwidrige Befehle und Gesetze dar". Zu diesem Zwecke besaßen sie als einflußreichstes Mittel ein Widerstandsrecht, wie es die Magna Charta von 1215 in England, positivrechtlich zum ersten Male, festgelegt hatte. Dieses Resistenzrecht, aus altem Volksrecht, nicht aus dem Lehnrecht herausgewachsen, durfte mancherorts mit Waffengewalt durchgefochten werden. Bis zur Tötung und Absetzung des Fürsten ging es aber wahrscheinlich in der Praxis niemals (wohl aber in der Theorie), sondern nur bis zur Lahmlegung der fürstlichen Gewalt, solange der normwidrige Befehl nicht widerrufen wurde. Einen ganz neuen Aufschwung erfuhr es später durch die Reformation, namentlich durch Calvin. Mitstimmrecht wie Widerstandsrecht gaben den Landständen eine Macht in die Hand, die sie als eine dem Fürsten ebenbürtige Staatsmacht erscheinen ließen. Die bereits genannte dualistische Auffassung des spätmittelalterlichen Staates gipfelte begrifflich darin, daß man in Fürst und Ständen Parteien erblickte, die zusammen einen Vertrag geschlossen hätten. Wie im Reiche durch die Kurfürsten drang im Territorium durch die Landstände der Vertragsgedanke ein. Fürst und Volk (Stände) garantierten sich gegenseitig ihre Machtvollkommenheiten wie zwei Kontrahenten, die sich gegenseitig einen Vertragsinhalt garantieren. Durch Geben und Nehmen, durch Leistung und Gegenleistung wurde das Einvernehmen gesichert. Daher werden Vereinbarungen zwischen Landesherrn und Ständen bisweilen ausdrücklich als Vertrag bezeichnet. So i s t v i e l n e u e s T e r r i t o r i a l r e c h t a l s V e r t r a g s r e c h t g e b o r e n w o r d e n . Aber auch Zwang und Rechtsbruch traten täglich hervor, je nachdem Landesherr oder Stände die Gewalt in Händen hatteti. Unter unendlichen Reibereien wurde auf dem Rechts- wie auf dem Unrechtsweg im Laufe der Jahrhunderte das Recht eines Territoriums durch Fürst und Stände geschaffen. 3. Ständische Sonderinteressen, innerer Streit und eine engherzige Politik ließen da und dort die Stände schon Ende des 15. Jahrhunderts zurücktreten. Die Stände verstanden es nicht, zu ernten, was sie gesät hatten. Ihre aufbauende K r a f t war verloren gegangen, ihre Ziele blieben oft rein negativ gerichtet. Sie Würden

Zunftwesen.

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dem aufstrebenden Landesherrn zur Fessel. Daher begann ein Kampf der beiden Gewalten mit Schwert und Recht. Einer mußte weichen. Aber es bedurfte eines langen Ringens, bis endlich der Fürst als Sieger hervorging. Erst das 17. Jahrhundert brachte die endgültige Niederlage der Stände im absoluten Staate. § 33. Recht und Wirtschaft in den Städten. 1. Die deutsche Städtepölitik zeigt ein ganz anderes Bild als die italienische. Jenseits der Alpen war das Ziel auf Gründung ausgedehnter Städterepubliken gerichtet. In Deutschland dagegen begnügte sich die Stadt mit einem engen Gebiet, das in der Hauptsache nur sie selbst einschloß. Stadtstaaten, wie in Italien, hat es im Deutschen Reiche niemals gegeben. Wenn Städte, wie Frankfurt, auf ein weites Stadtterritorium hindrängten, so war dies eine Ausnahme. Die größeren Städte, etwa Hamburg, Augsburg, Nürnberg, stiegen im 15. Jahrhundert nicht über 20 bis 25000 Einwohner empor; kleinere Städte nicht über 5000. Immerhin waren dies bedeutsame Unterschiede gegenüber den Dörfern, die meist über die Hunderte nicht hinauskamen. Die Masse, im Sinne der großen, ungeordneten und daher nach Ordnung verlangenden Menschenzahl, ist ein Erzeugnis der Stadt, nicht ein Erzeugnis des Landes. Und dieser große soziale Kreis, den wir in der Stadt antreffen, führte notwendig zu ganz anderen Rechtaformen als der bescheidende Lebenskreis des Dorfes. Die im engen 'Raum zusammengedrängte, wirtschaftlich vielgestaltige Masse forderte energisch nach Gliederung und Organisation. Daher wurden Maßnahmen, denen wir in der Kaiserzeit begegneten (§ 24), weiter fortgebildet. D a s Z u n f t w e s e n t r a t d u r c h v e r s t ä n d n i s v o l l e n i n n e r e n A u s b a u auf d i e H ö h e s e i n e r E n t w i c k l u n g . So ist «s z. B. ein feiner Zug gewesen, die Warenkontrolle immer stärker anzuspannen. Für' Köln ist nachgewiesen, daß die Zünfte von sich aus strenge Vorschriften erließen über die Beschaffenheit von Waren in Textil- und anderen Gewerben. Der gute Ruf der Köjner Fabrikate sollte geschützt, der Vertrieb von minderwertigem „Kaufmannsgut" unterdrückt werden. Peinlich wurde der Zunftzwang beobachtet. Gegen Widerspenstige, die ihr Gewerbe fern der Zunft ausüben wollten, lieh die Obrigkeit ihren Arm. 2. W e s e n t l i c h a n K r a f t g e w o n n e n h a t t e a u c h d e r s t ä d t i s c h e V e r w a l t u n g s g e d a n k e . Durch scharfe polizeiliche Verordnungen sollte der Friede in der Stadt aufrechterhalten, sollten Handel und Gewerbe zugunsten der Bürger geschützt, sollte das gesamte bürgerliche Leben überwacht werden. Daraus erwuchsen die immer zahlreicheren V e r b o t e ' d e s W a f f e n t r a g e n s , daraus die s t r a ß e n p o l i z e i l i c h e n B e s t i m m u n g e n (Köln um 1400: Kein Meiwch darf nach 11 Uhr nachts auf der Straße angetroffen werden), daraus die K l e i d e r und L u x u s o r d r i u n g e n (Hannover zu Beginn des 14. Jahrhunderts: Es dürfen keine goldenen und silbernen Borden an den Kleidern getragen werden), daraus die vielen L e b e n s m i t t e l t a x e n und die H ö c h s t p r e i s e für gewisse Waren. Und noch eines trat dazu: d i e S t a d t w o l l t e e i n e n O r g a n i s m u s f ü r s i c h b i l d e n . Sie wollte ein Rechts- und Wirtschaftszentrum darstellen, das sich selbst genügte. Wo sie mit dem Lande in Verbindung trat, da wollte sie das Land beherrschen. Diese Abschließungstendenz — man hat sie mit Recht als StadtF e h r , Deutsche Rechtsgesehichte.

4. Auil. •

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Bedarfsdeckung.

Wirtschaft bezeichnet — äußerte sieh u. a. im sog. G ä s t e r e c h t . Die Gäste waren die Fremden, die Eindringlinge, die Geduldeten. F ü r sie gab es ein eigenes Recht mit eigenem Gericht (Gastgericht). Anfangs den Fremden günstig, nahm das Stadtrecht immer mehr einen gästefeindlichen Zug an und plagte sie namentlich mit scharfem Vorgehen in Sachen des Personal- und Sacharrestes. Wirtschaftlich wurden die Gäste häufig dadurch eingeengt, daß man sie vom Kleinhandel ausschloß oder sie in der Verkaufszeit verkürzte. Auch genossen sie mancherorts einen geringem strafrechtlichen Schutz. Die Wirtschaftspolitik der Städte hat im ganzen ihr Ziel erreicht: d i e A u s b i l d u n g e i n e s b ü r g e r l i c h e n M i t t e l s t a n d e s . Das ist zweifellos wirtschaftlich die großartigste Errungenschaft gewesen im Gegensatz zur Entwicklung des Landes. Daher hat die deutsche Stadt, trotz intensiven Handels und Verkehrs, keine kapitalistische Wirtschaftsform aufkommen lassen. G r u n d l a g e d e s W i r t s c h a f t s l e b e n s w a r i m m e r n o c h d a s B e d a r f s d e c k u n g s p r i n z i p . Man erwarb, um zu leben, nicht, uin zu verdienen. Man kaufte, um zu verzehren, nicht, um weiterzuverkaufen. Der heimliche Kauf, der Kauf außerhalb des Marktes, war grundsätzlich verboten. Arm und reich sollten gleiche Kaufgelegenheiten haben. Daher die Forderung nach öffentlichem Verkauf, nach „Marktzwang"; denn dadurch allein waren eine obrigkeitliche Kaufkontrolle möglich, eine Überwachung der Umsatzbesteuerung und die Prüfung von rechtem Maß und Gewicht. Streng untersagt blieb der „Vorkauf" z. B. der Früchte auf dem Halm oder der Waren auf ihrer F a h r t zur Stadt. Der K e t t e n h a n d e l war geradezu ein Delikt. Doch zeigt die Geschichte, daß es nicht gelang, ihn ganz zu unterbinden und zwar gerade mit wichtigen Lebensmitteln, etwa mit Mehl und Getreide. — Begreiflicherweise dauerten Zudrang und Zuzug zur Stadt fort. Friede, die Möglichkeit raschen wirtschaftlichen Aufstiegs, Freiheit und Rechtssicherheit in Handel und Wandel, Sehnsucht nach religiöser Betätigung und nach städtischer Bildung zogen immer noch Tausende heran. Aber die Städte waren wählerisch und wogen fein ab, wen sie als Bürger aufnahmen. So erklärte etwa das Hamburger Stadtrecht von 1497: „Auch soll kein Ritter wohnen binnen diesem Weich bilde. Der R a t soll sich auch vorsehen, daß keine Eigenleute als Bürger in diese Stadt aufgenommen werden." Man strebte — kennzeichnend f ü r die freie Hansastadt — nach Festhaltung an der guten Mittelschicht. N i c h t e r l o s c h e n w a r d e r S t r e i t u m d a s P f a h l b ü r g e r t u m . Immer wieder nahmen die Städte Pfahlbürger auf, um deren Steuerfrüchte zu genießen, und immer wieder erhob das Land Einspruch. Eine scharfe Bestimmung ist im Landfrieden von 1303 enthalten: „Wer ein Bürger sein und Bürgen-echte genießen will, der*soll Sommer und Winter mit Haus und Habe (pawlich und hablich) in der Stadt sein, da er Bürger ist, oder man soll ihn nicht als Bürger anerkennen." Doch damit wurde der Zwist nicht aus der Welt geschafft. Pfahlbürger gab es während des ganzen Mittelalters, und der" Hader um diese Bastarde kam nicht zur Ruhe. . 3. Die Wahrung der genossenschaftlichen Idee machte den Städten große Sorge. Die Freiheit der Bürger drohte erstickt zu werden durch den Rat, der aus dem Patriziat der Städter erkoren wurde. Im 14. Jahrhundert war die Unzufriedenheit aufs höchste gestiegen. Die Patrizier hatten nicht nur ein Stadtregiment

Burggraf.

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ausgebildet, das dem gemeinen Bürger beinahe jede Mitwirkung an der Verwaltung entriß, sondern sie hatten auch mancherorts schlecht gewirtschaftet und die Stadt in Schulden gestürzt. Viele Eingriffe in die Gerichtsbarkeit waren vorgekommen. Nun erhoben sich die Zünfte und erzwangen sich, oft mit Waffengewalt, Anteil am Verwaltungskörper. Der alte R a t wurde gestürzt oder es wurde ihm eine Zunftvertretung an die Seite gegeben. In St. Gallen z. B. verstärkte man den R a t der Zwölf durch sechs Zunftmeister. Diese bildeten zusammen den kleinen Rat, der sich durch Heranziehung von elf weiteren Personen, den Elfern, zum großen R a t erweiterte (14. bis Ende 18. Jahrhundert). In Mainz erhoben sich im Jahre 1332 neben dem alten Rate die Zweiundzwanzig (später Neunundzwanzig), die „von der gemeinde wegen in den rad sint komen", und die gewählt wurden „usser dem hantwerk oder zonfte". An manchen Orten ging der Einfluß so weit, daß das ganze Steuerwesen in die Zünfte verlegt wurde und das Bürgerrecht nur durch die Mitgliedschaft in einer Zunft erworben werden konnte. D i e Z ü n f t e w u r d e n d u r c h diesen U m s c h w u n g politische E i n r i c h t u n g e n , die den genossens c h a f t l i c h e n G e d a n k e n n e u e r w e c k t e n u n d w e s e n t l i c h s t ä r k t e n . An anderen Orten kam es nicht so weit, z. B. in den meisten Hansastädten, in Frankf u r t und Nürnberg. Dort, in Nürnberg, schickte zwar das Handwerk acht Vertreter in den Rat, denen aber jede bedeutungsvolle Stellung .mangelte. Auch in den übrigen Städten trat im Laufe der Kurfürstenzeit das Patriziat regelmäßig wieder energischer hervor. Die alten Geschlechter und neue, reich gewordene Personen vermochten wiederum einen geschlossenen Kreis, einen ständischen Ring darzustellen, aus dem der R a t gekoren wurde. Es bildeten sich neue „ratsfähige Familien", die eine gewisse Erblichkeit des Amtes erlangten. Zu wahrer demokratischer Verfassung ist keine einzige Stadt bleibend aufgestiegen. 4. Noch andere Gefahren drohten der Freiheit der Stadt. E i n m a l d i e E i n engung von Seiten der S t a d t h e r r e n , der Vögte u n d der Burggrafen. Diese herrschaftlichen Gewalten hinderten die Stadt vor allem an der freien Entfaltung ihres Satzungsrechts, an ihrer Autonomie. Auch mischten sie sich in ihre Verwaltung ein und geboten ihr Einhalt bei der Betätigung landesherrlicher Befugnisse, welche die Stadt errungen hatte. Ein Hauptbeispiel ist der Kampf Nürnbergs mit seinem Burggrafen, ein Zwist, den schließlich der Kaiser zugunsten der Stadt entschieden hat. Auch in St. Gallen mußte der Kaiser wiederholt eingreifen, da die freiheitliche Bürgerschaft dauernd versuchte, ihrem Herrn, dem Abte, die Huldigung zu verweigern (14. Jahrhundert). I m allgemeinen blieben bei diesen Zwistigkeiten die Bürger Sieger. Sie gelangten in den vollen Besitz von Autonomie und Selbstverwaltung, größtenteils deshalb, weil Bildung, Zusammenhalt und eine kluge Steuer- und Finanzwirtschaft sie befähigte, der herrschaftlichen Gewalt erfolgreich entgegenzutreten. Z w e i t e n s k a m e n d i e L a n d s t ä d t e in K o n f l i k t m i t i h r e n T e r r i t o r i a l h e r r e n . Ein ganz notwendiger Gegensatz zwischen diesen Mächten t a t sich auf: der Landesherr drängte auf ein festgefügtes, geschlossenes Territorium hin, die Städte dagegen zielten, auf insulare Freiheit von der Landesgewalt ab. Ein Zusammenprall war unvermeidlich. Die Städte erhoben sich gegen die Landesherren. Aber fast auf der ganzen Linie war der Sieg den Herren beschieden. Mit der Niederlage der schwäbischen und rheinischen Städte bei Döffingen 1388 galt ihr Schicksal als besiegelt. Im Osten spielten sich 8*

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Hansa.

ELnzelkämpfe ab. Einer der interessantesten war die Niederwerfung Berlins unter den Kurfürsten Friedrich I I . Die Stadt hatte sich so stark gefühlt, daß sie es in einem Aufruhr von 1448 wagte, den landesherrlichen Richter zu verjagen und die Archive des Kurfürsten zu erbrechen. Sie büßte ihren Trotz mit völliger Unterwerfung unter den Kurfürsten, der ihr mühsam erworbene Rechte, vor allem die eigene Gerichtsbarkeit und die Handelsprivilegien entriß. Berlin wurde zur Landstadt wie hundert andere. Der Totentanz in der Berliner Marienkirche ist der künstlerische Ausdruck der Stimmung, welche Berlin nach 1448 beherrschte. D i e große B e w e g u n g des 14. und 15. J a h r h u n d e r t s h a t t e der F r e i h e i t der S t ä d t e in weitem U m f a n g e ein E n d e b e r e i t e t . Zu spät waren sie aus ihrer Isolierung herausgetreten. Zu spät hatten sie sich zu Einungen zusammengeschlossen. (Man denke an den schwäbischen Städtebund.) Es waren ihrer eben zu viele, und der Landesherr sah sich in seinen Herrschaftsbestrebungen zu sehr vom genossenschaftlich - demokratischen Wesen der Städte bedroht. Ein tragischer Konflikt war erwachsen. Er mußte gelöst werden. Wer nicht die Stellung einer Reichsstadt behaupten konnte, wurde von der Landeshoheit überrannt, wurde zur mcdiatisierten Landstadt. Freilich war der Einordnungsproxoß ein Prozeß von Jahrhunderten. Keine Spur davon, daß Selbstverwaltung und Autonomie der Städte überall mit einem Schlage vernichtet worden wären. Viele Städte hielten sich bis ins 17. Jahrhundert. Erst der absolute Fürst mit seinem schlagfertigen Heere und seiner geschulten Beamtenschaft ordnete die Städte vollständig dem landesherrlichen Verwaltungsorganismus ein. 5. Die großartigste Blüte städtischer Organisation nach außen finden wir im H a n s a b u n d . Seit dem frühen Mittelalter bekundeten die Kaufleute das Streben," sich in kaufmännischen Verbänden, in Gilden, zu vereinigen. Aus solchen Schutzgilden im Auslande, vor allem in London, erwuchs die Hansa. Denn im Auslande war ein genossenschaftliches, kaufmännisches Zusammenarbeiten doppelt notwendig. Im 13. Jahrhundert schwang sich der Hansabund zur bedeutsamsten handelspolitischen Macht des Nordens auf und vermittelte den Güteraustausch mit dem Reich einerseits, mit Rußland, Schweden, Dänemark und England andererseits. Unter seinem Vorort Lübeck führte er seine Mitglieder zu ungeahnter Höhe in Recht, Wirtschaft und Bildung. Auch an militärischen Siegen fehlte es ihm nicht (1370). Er zerfiel im 16. Jahrhundert, teils weil die genannten Staaten den Handel und die gewährten Handelsprivilegien selbst an sich rissen, teils weil die aufstrebende Landeshoheit diese selbständigen Zentren weiterhin nicht mehr dulden wollte. § 84. Recht und Wirtschaft auf dem Lande. 1. Der G e g e n s a t z zur S t a d t . Das Auseinandergehen von Stadt und Land, die Zweiung' von Sinnen und Handeln eines Bürgers und eines Bauern ist aus vier Gegensätzen zu erklären. Sie sind meist schon berührt, bedürfen aber hier der Zusammenfassung. a) Auf dem L a n d e h e r r s c h t e k e i n F r i e d e . Zwar war der Bauer seit dem 12. Jahrhundert aus dem Fehderecht ausgeschaltet. Aber was half das! Wurde seinem ritterlichen Herrn Fehde angesagt, so galt auch des Bauern Leib und Gut

Markt.

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als mit in den Fehdebereich hineingezogen. Schädigte man den Bauern, so schädigte man zugleich den Herrn. Und darauf war es ja abgesehen. Die zahlreichen Verbote in den Landfrieden bis 1495, den Bauern zu Hause oder am Pfluge zu überfallen, reden eine deutliche Sprache. Seit dem Aufkommen der Söldner bildeten auch die herumziehenden, herrenlosen Söldnerscharen eine schwere Last. Diese „gartenden Knechte" beraubten, brandschatzten, bestahlen den Bauern und suchten ihn, sein Weib und seine Kinder schwer heim. Wollte er sie haschen, waren sie über alle Berge oder schlugen den Verfolger tq,t. D e r Mangel des Fried e n s f ü h r t e z u m S c h u t z d u r c h d e n H e r r n . Der bedrängte und gepeinigte Bauer mußte sich in den Schutz einer Person begeben, die imstande war, ihn zu verteidigen und sicher durch das Land zu geleiten. Die Schutzidee gebar wie in fränkischer Zeit die Idee der Unterwerfung. Der Bauer erkaufte den zugesicherten Frieden mit dem Preise der Unterordnung. Nebenordnung der Menschen in der Stadt, Unterordnung auf dem Lande, das war die Grundstiromung. b) Der Bauer lebte nicht in Masse und die verbindenden Kräfte des städtischen Lebens fehlten. Höchstens gemeinsame Gefahr schmolz die Leute auf Stunden zusammen. Sonst aber gebrach es an Spannkraft zur Vereinigung. D a s L a n d k a n n t e daher keine Organisation, außer in.rein agrarischen Dingen. Als sich die Bauern wirklich einmal organisierten und zu bewaffneter Selbsthilfe griffen, da mußten sie kläglich unterhegen, wie der Bauernkrieg später bewies. Der Mangel eines Zusammenlebens in Masse gab dem Recht eine andere Färbung. Alle Beziehungen waren mehr persönlicher Art, auch die Beziehungen zum Herrn. Daher weist das bäuerliche Recht eine viel stärkere privatrechtliche Struktur auf als das Stadtrecht. c) D a s L a n d e n t b e h r t e eines M a r k t e s . Gewiß, es gab auch Landmärkte. Aber sie spielten eine verschwindende Rolle gegenüber dem Stadtmarkt; denn sie waren keine ständigen Märkte. Der Mangel an Verkauf- und Umsatzeinrichtungen ermöglichte dem Bauern keinen finanziellen Aufstieg, ähnlich dem des Bürgers. Er blieb auf die Bearbeitung der Scholle angewiesen, und diese vermochte ihn bei normaler Wirtschaft gerade zu ernähren. So hielt er sich pekuniär auf bescheidener Stufe, ohne darben zu müssen. Aber es ist verständlich, daß der Städter über ihn hinauswuchs, sich Vorteile und Privilegien erkaufen konnte und mit Verachtung auf den „armen Mann" blickte. Der Erwerbsbetrieb im kapitalistischen Sinne blieb dem Bauern auch fremd, nachdem er längst in die Städte eingezogen war. d) Auf dem L a n d e f e h l t e d i e B i l d u n g und damit die Beweglichkeit des Geistes. Ins Rechtsgebiet übersetzt, bedeutet dies: das Recht bleibt traditionalistisch gestimmt. Der Nachkomme übernimmt grundsatzlich das alte Recht; denn was Jahrhunderte gegolten hat, ist gut in seinem Verstände. Daher war das Recht starr, Neuerungen kaum zugänglich. Der Gedanke vom Recht als ewiger Satzung blieb erhalten, nachdem er in der Stadt längst erstorben war. Während die Stadt von sich aus am Recht schmiedete und wirkte, Altes abstieß und Neues formte, hielt das Dorf am überlieferten, altenf oft veralteten Rechte fest. Veränderungen kamen selten vor, wenn nicht der Herr dahinter stand. Die Weistümer, die Bauernrechte sind voll von der Vorstellung, das geltende Recht solle grundsätzlich ewigen Bestand haben. Auf dem Lande gab es überhaupt

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Freiheit.

wenig zu bildon. Das Leben floß träge und gleichmäßig über die J a h r h u n d e r t s dahin. D i e b ä u e r l i c h e S i e d l u n g i s t d a h e r a u c h n i c h t z u r j u r i s t i s c h e n P e r s o n v o r g e d r u n g e n . Die bäuerlichen Gemeinden blieben Genossenschaften, Verbände, in denen Vielheitsrecht und Einheitsrecht miteinander verschmolzen waren. Über die Auffassung, daß die Gemeinde eine Summe von Subjekten sei, verkörpert in der Gemeindeversammlung, kamen sie nicht hinaus. 2. D i e V e r h ä l t n i s s e i m A l t l a n d e . a) Im 12. Jahrhundert drang die ständische Scheidung von Ritter, Bürger und Bauer endgültig durch. Tätigkeit und Wohnsitz hatten zur Ausbildung dieser Stände geführt. Berufsstände waren herangewachsen, ohne jcdoch die alten Geburtsunterschiede ganz zu verdrängen, und bald setzte das Geburtsmoment mit frischer K r a f t wieder ein. Schon die berühmte Ständelehre des Sachsenspiegels zeigt eine Verquickung von Geburtsrecht und Berufsrecht. Hier ist nun die interessanteste Frage diese: Wie steht es mit der bäuerlichen Freiheit'! H a t es in dieser Epoche noch viele freie Bauern gegeben ? Was bedeutet überhaupt Freiheit ? Zahlreiche neuere Forschungen haben sich mit dem Freiheitsproblem befaßt und ein gemeinsames, wenn auch negatives Ergebnis gezeitigt: „Freiheit" ist ein überaus schillernder Begriff geworden in dieser Periode. Die einstige klare Scheidung der frankischen Zeit in frei und unfrei ist verloren gegangen. Stets muß man fragen: wovon war der Mann frei ? Welche Merkmale füllen den Freiheitsbegriff ? Die Dinge lagen so. Besaß etwa der Bauer die Freizügigkeit, so daß er mit seiner Familie abziehen konnte, wann er wollte, so hieß er maneheiorts „frei". H a t t e er das Recht, ohne besondere Erlaubnis des Herrn, eine Ehe zu schließen, so nannte man ihn da und dort ,.frei". Lebte er auf freiem Gute, war aber persönlich dennoch von einem Herrn abhängig, so trug er unter Umständen den Namen „frei". Und so weiter. Mit einem Worte: Will man den Begriff frei für die Bauernschaft rechtlich fassen, so bleibt nichts als der mühselige Weg der Einzeluntersuchung. I n einer ungeheuern Mannigfaltigkeit lösen sich die Standesbezeichnungen frei und unfrei auf. Die Wissenschaft zeigt eifriges Bemühen, durch Monographien die einzelnen Gebiete abzuklären. Ein Gesamtbild ist noch nicht zu gewinnen. Aber ein wichtiges Resultat kann bereits verzeichnet werden. Es e n t s t e h e n g a n z n e u e F r e i h e i t s b e g r i f f e . Die alte Freiheitsstellung des Bauern macht einer neuen Platz. J a , es läßt sich aus Mangel an Quellen nicht mit Sicherheit entscheiden, ob es noch in größerer Zahl „altfreie" Bauern gegeben hat, Geschlechter, welche ihre Freiheit aus „unvordenklicher" Zeit ableiten konnten. Es tritt jetzt der Begriff , hervor, den wir die königliche und die landesherrliche Freiheit nennen können. Leute, die unmittelbar dem König (später dem Landesherrn) unterstanden, wurden vielerorts „frei" genannt, mochten sie auch in einzelnen Rechtsbeziehungen einem Herrn zum Gehorsam verpflichtet sein, sich etwa in dinglicher Abhängigkeit von ihm befinden. E i n H a u p t k o n t i n g e n t d i e s e r F r e i e n s t e l l t e n d i e K o l o n i s a t i o n s b a u e r n d a r . Könige und Landesherren unterstützten in lebhafter Weise die Rodungstätigkeit. Wer mit Geschick und Ausdauer wüsten. Boden urbar machte, der sollte belohnt werden, belohnt durch eine höhere ständische Stellung. Man darf daher mit gutem Gewissen von der neuen Rodungsfreiheit oder von der Freiheit der Staatskolonisten sprechen.

Grundherrschaft.

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So k o m m t es, daß diese Freiheit sogar politische Vorzüge bringen konnte: in Tirol wurden die freien Bauern zu aktiver Mitwirkung im Staate berufen. A n a n d e r e n O r t e n e r k a u f t e n s i c h d i e B a u e r n i h r e F r e i h e i t . Sie waren in der glücklichen Lage, die Gewalt ihrer Herren ganz oder zuih Teil abzulösen. Da und dort haben auch Erhebungen der Bauern stattgefunden. Es gelang ihnen, die Reichsunmittelbarkeit mit Gewalt zu erlangen, wiewohl die grundherrsehaftliche Gebundenheit weiter fortbestand. Aus diesem Grunde wurden sie „frei" genannt. Das Hauptbeispiel sind die Bauern der Waldstätte, von denen die Gründung der schweizerischen Eidgenossenschaft ausging. Wie stark das freie bäuerliche Element zahlenmäßig war, läßt sich heute noch nicht sagen. Soviel ist sicher, daß es im deutschen Reiche ungleich mehr Unfreie gab als Freie. A b e r a l l e r o r t s h a t t e d e r B a u e r e i n R e e h t . W a r doch die Auffassung, daß der Unfreie bloßes Rechtsobjekt sei, schon in der fränkischen Zeit dahingeschwunden. A b e r ü b e r a l l s t a n d d e r B a u e r s t ä n d i s c h a m t i e f s t e n . Der Adel wie der Städter lehnten die Genossenschaft mit ihm ab. Man achtete den Bauern gesellschaftlich und rechtlich geringer als andere Menschen, was sich namentlich im Straf- und Eherecht, im Prozeß- und Gerichtswesen zeigte, vor allem auch in der Ausschaltung von den politischen Befugnissen. Politisch war der Bauer sozusagen tot. So bildete z. B. eine bäuerliche Kurie innerhalb der Landstände eine große Ausnahme. W e g e n d i e s e r s o z i a l e n u n d p o l i t i s c h e n T i e f s t e l l u n g , n i c h t wegen s c h l e c h t e r w i r t s c h a f t l i c h e r Lage, hieß der B a u e r d e r a r m e M a n n . Ständisch müssen wir den Bauern al30 kennzeichnen alseine Person, die von bäuerlicher Geburt war, auf dem Lande lebte, bäuerliche Arbeit trieb und sich in freier oder unfreier Rechtsstellung befinden konnte. Es ist eine ungeheuerliche Erscheinung im Rechtsleben aller Völker, daß der S t a n d jahrhundertelang am tiefsten eingeschätzt wurde, der mit seiner Hände Arbeit sich und den ganzen Staat auf der gesichertsten Grundlage ernährt. b) D i e s t r e n g e G r u n d h e r r s c h a f t w a r z e r f a l l e n . Das Aufkommen der Städte, eine gehobene Wirtschaft der Bauern, welche die Grundrente und damit die wirtschaftliche Selbständigkeit gesteigert hatte, das Emporsteigen der unteren unfreien Schichten und die zunehmende Abschließung der Territorialherrschaft mögen hauptsächlich dazu geführt haben. Das ganze Verhältnis dem Grundherrn gegenüber hatte sich im 12. und 13. Jahrhundert gelockert. Sehr viel freie Erbleihe, weniger freie Zeitleihe, waren entstanden. Die Eigenwirtschaften der Herren verkleinerten sich, so daß das Interesse an wirtschaftlichen Diensten zurückging. Hunderte von Gütern wurden zu bloßen Rentengütern. Der Grundherr begnügte sich mit festen Bezügen (Renten, Pachtgefällen) von seinem ausgeliehenen Boden. Das einstige persönliche Verhältnis zu seinen Bauern schwand vollends dahin, wo der Verdinglichungsprozeß um sich griff, wo die Abgaben mehr und mehr die Natur von Reallasten annahmen. J 3 i e Fronhofsverwaltung bestand dann im wesentlichen nur noch im Einzug der Gefälle und in der Wahrung des althergebrachten Güterbestandes. J e s t ä r k e r d e r s t ä d t i s c h e E i n f l u ß w u r d e , u m so m e h r v e r w a n d e l t e n s i c h die' N a t u r a l a b g a b e n i n G e l d z i n s e . — Anders lagen die Dinge, wo man zum System der Villikationen griff. Der Grundherr, des eigenen Wirtschaftsbetriebes müde geworden, nahm Verpachtungen im großen Stil vor, indem er ganze Stücke seines Fronhofverbandes

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Gerichtaherr.

an ritterliche Pächter ausgab, ohne die grundherrliche Verfassung aufzulösen. So'entstand die M e i e r r e c h t s v e r f a s s u n g . Sie stellte kleingrundherrschaftliche Betriebe dar, die oft nach „Meierrecht" zu fester P a c h t oder zu Teilpacht ausgegeben wurden. Doch ließ sich auch in diesen Betrieben die alte straffe grundherrliche Abhängigkeit der Hintersassen picht aufrecht halten. Häufig wurden die Meierstellen erblich, was die Landesherren aus Steuerrücksichten begünstigten. c) I n d e r K u r f ü r s t e n z e i t s e t z t e n i c h t m e h r d e r G r u n d h e r r d e m B a u e r n d e n F u ß auf d e n N a c k e n , s o n d e r n d e r G e r i c h t s h e r r . Es hatten Bich, meistens im Anschluß an Grundherrschaften oder Dörfer, kleinere und größere Gerichtsherrschaften ausgebildet, mit einem Herrn an der Spitze, der nieder^ (oder mittlere), selten auch hohe Gerichtsbarkeit inne hatte. Das Hochgericht lag regelmäßig in der Hand des Landesherrn. Der Gerichtsherr besaß aber nicht nur diese Gerichtsbarkeit. E r hatte das Recht, in dinglichen und persönlichen Angelegenheiten der Bauern Gebote und Verbote mit Bußsanktion zu erlassen, was meistens mit „Zwing und B a n n " bezeichnet wurde. K r a f t desserl konnte er auch z. B. „Bannwein" verschenken (kein anderer Wein als Herrenwein durfte getrunken werden) oder in der „Bannmühle" mahlen lassen. Auch der Fischereibann, die Flurpolizei und manche herrschaftlichen Almendrechte gingen darauf zurück. Der Herr besaß die Vogtei im Dorfe und das aus ihr fließende Besteuerungsrecht. (Siehe z. B. „Vogtsteuern" und „Vogtrecht" im habsburgischen Urbar.) Sodann handhabte er das „Herrenrecht", wonach er jeden in die Gerichtsherrschaft einziehenden Mann, der n i c h t bereits einem anderen Herrn unterworfen war, f ü r sich in Anspruch nehmen konnte. Ein solcher Fremdling ohne „nachjagenden Herrn" verfiel der Vogtei des Gerichtsherrn. Häufig stand diesem auch das Aufgebot zu: er konnte die Leute zu kleineren Heerdiensten zwingen. Und so geht es weiter! Ein unendlicher Katalog von Lasten und Pflichten! Eine der größten Fragen in diesem Entwicklungsgange war n u n : wie stellte sich diese territoriale ,Gerichtsherrschaft zu den eingewanderten Eigenleuten fremder Gerichts- und Grundherren ? Denn daran ist juristisch festzuhalten, daß Gerichtsherrschaft, Grundherrschaft und Leibeigenschaft an s i c h r e c h t l i c h n i c h t z u s a m m e n f i e l e n . Trotz aller Feinheiten und Verschiedenheiten im einzelnen kann seit dem Ende des 13. Jahrhunderts als Hauptrichtung gelten: Die gerichtliche OrtsheiTschaft trug über die fremden Eigenleute den Sieg davon. Der Territorialisierungsprozeß überwucherte die alten Abhängigkeitsverhältnisse persönlicher Art. Die Leibeigenen fremder Herren wurden grundsätzlich dem lokalen" Gerichtsherrn unterworfen, oder das fremde Herrenrecbt wurde auf ein Minimum herabgemindert. Teils auf dem Wege der Gewalt, teils' durch Unterwerfungs- und Ausgleichverträge gelangte man zu dieser Rechtslage. Die eigenen Leute und die fremden Hintersassen schmolzen unter dem Ortsherrn (vielerorts Vogt genannt) zusammen zu einer einheitlichen gerichtsherrlichen TJenossenschaft, welche in einer bald stärkeren, bald loseren persönlichen Abhängigkeit ihr Dasein lebte. Alle Insassen wurden der Vogtei, der Ortsgewalt, d e r ' Bannherrschaft oder wie immer man das Verhältnis nannte, unterworfen. S i e w u r d e n z u V o g t l e u t e n . . Hier, nicht in der.Landesherrschaft, lastete jener schwere Druck auf dem Bauern, den das Rechtssprichwort so treffend kennzeichnet:

Kolonisationsgebiet.

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L u f t m a c h t u n f r e i . Der Niederschlag des Rechts auf Grund und Boden, die Zurückdrängung der alten personenrechtlichen Bindungen ist die Haupttriebfeder gewesen f ü r die Schaffung dieser homogenen, alle umfassenden Ortsuntertänigkeit. K r a f t ihrer Zwing- und Bannrechte, k r a f t ihrer ungezügelten Gebote und Verbot« griffen die Ortsherren in das sittliche, wirtschaftliche und rechtliche Leben der Bauern ein, hinderten deren Freizügigkeit und häuften Steuern und Gebühren. Der Gegenwert war klein genug. E r bestand hauptsächlich in einigen fördernden Maßnahmen zugunsten des ganzen Dorfes, sowie in der Garantie des Schutzes zur Friedens-, vor allem aber zur Kriegszeit. Oft mußte der Herr f ü r Mühle und Schmiede sorgen, zuweilen auch f ü r Gefängnis und Galgen. Das Halten der Wuchertiere, etwa der Stiere, Hengste, Eber war seine Pflicht. U n d kam der Krieg ins Land, so mußte er erlauben, daß sich die Wehrlosen auf seine Burgen flüchteten oder sich in seinem Walde Holz schlugen, um sich zu verschanzen und zu verteidigen. Freie Bauerngemeinden, die stolz und kraftig auf sich selbst standen, fehlten nicht. Aber sie bildeten eine große Ausnahme. Der freie Bauer auf abgabenfreiem Gute war eine Forderung, die in größerem Stile erst die neueste Zeit zu verwirklichen vermochte. 3. D i e V e r h ä l t n i s s e i m K o l o n i s a t i o n s g e b i e t . I m Osten und Nordosten der Elbe beobachten wir seit dem 10. Jahrhundert eine emsige wirtschaftliche Tätigkeit. Der Wille, die slavische Bevölkerung zum Christentum zu bekehren, und die politische Einsicht, an den Grenzen des Reiches feste, staatliche Bollwerke zu errichten, hatten der großen kolonisatorischen Laufbahn den Weg geöffnet. Der Orden der Zisterzienser, dessen Regel wirtschaftliche Arbeit vorschrieb, kräftige Dynasten, wie Heinrich der Löwe und der Markgraf von Brandenburg, sowie der von den Polen herbeigerufene deutsche Orden leisteten der deutschen Kultur ihre Pionierdienste. In den neugewonnenen Gebieten setzte eine gewaltige Einwanderung ein. Hoch- und Niederdeutsche strömten herzu und drängten die eingesessene Blavische Bauernschaft zurück. Nicht mit dem Schwert, mit Glaubenseifer, mit Pflug und Hacke wurde der Hauptteil des Landes erobert. I m schärfsten Gegensatz zum Altlande gestalteten sich hier Recht ab. D e r S p i e g i e r w o l l t e m i t s e i n e m R e c h t s b u c h n i c h t n u r e i n e r e c h t liche, s o n d e r n a u c h eine s p r a c h l i c h e und politische T a t vollbringen. Sprachlich leistete er f ü r das Recht, was drei Jahrhunderte später Luther f ü r die Religion. E r schuf eine deutsche Rechtssprache, die gewaltig genug war, die lateinische allmählich zu verdrängen. Aus einem lateinischen Texte, der uns nicht erhalten ist, brachte er seinen Sachsenspiegel in deutsche Form (Urform wahrscheinlich die Quedlinburger Handschrift). E s machte ihm Mühe, und er begann die Arbeit nicht ohne Widerstreben, wie er in seiner reizvollen Vorrede selbst versichert. Die Kunst, die dem Spiegier eignete, bestand in dem geschickten Aufsuchen und im harmonischen Aufbau der Rechtsnormen. E r war ein Scholastiker, der in der Überwindung der Gegensätze, in der „Konkordierung der Diskordanzen", eine Hauptaufgabe erblickte. Von den großen Einheiten Gott, Kaiser, Volk geht er aus. Und innerhalb dieser Einheiten versucht er die vielen Widersprüche zu überbrücken. Der Wille zum Ausgleich der Gegensätze in der Rechtswelt ist der große Zug in seinem großen Buche. LTnd was war sein politisches Ziel ? Eike von Repgau erweist sich als ein glühender Verehrer der Reichseinheit. Stärkung des deutschen Königstums, Niederhalten der aufstrebenden Landes»ewalten, das war das große Streben, welches ihn beseelte. E r wollte einen deutschen Nationalstaat schaffen, wie er dem Epiker Wolfram und dem Lyriker Walther vor Augen schwebte. Die Geschichte h a t gegen ihn entschieden, und die Anfänge

Rechtsbücher.

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der Auflösung des Reiches in Staaten mußte er noch miterleben. Aber das Werk des trefflichen Mannes feierte seine Triumphe. Es wurde in verschiedene Sprachen und deutsche Mundarten übersetzt und in Bilderhandschriften künstlerisch wiedergegeben. Eike selbst h a t eine Reihe (älterer) Zusätze gemacht, während andere (jüngerer) nicht von seiner H a n d herrühren. Das Rechtsbuch wurde in vielen Gerichten gleich einein Gesetzbuch angewandt. E s stieg zum geistigen Vater des nördlichen und östlichen Rechts auf und verfehlte seinen Einfluß nicht auf das bedeutendste südliche Rechtsbuch. E s ist unser corpus iuris germanica, d a s in keines Studenten Bücherei fehlen sollte. F ü h r t es uns doch mit Meisterschaft, mit Liebe und Feingefühl in das Wesen vieler deutscher Rechtseinrichtungen ein, ist es doch — mit ganz geringen Ausnahmen — von römischem Einflüsse völlig frei. 6. D i e ü b r i g e n

Rechtsbücher.

Ungefähr gleichzeitig mit dem Sachsenspiegel oder kurz darauf ist das M ü h l h ä u s e r R e i c h s r e c h t s b u c h entstanden. Der Urtext stammt aus Mühlhausen in Thüringen. Der Verfasser ist unbekannt, war aber in der Stadt Mühlhausen beheimatet. Die Quelle ist rechtlich wie sprachlich von großer Bedeutung, r e c h t l i c h , weil der Verfasser den gut angelegten Versuch machte, seine Rechtssätze nach juristischen Gesichtspunkten zu ordnen (so mindestens im Anfang des Buches), s p r a c h l i c h , weil wir das einzige Rechtsdenkmal altmitteldeutscher Sprache vor uns haben. Der Verfasser arbeitete sehr selbständig. Eine Beeinflussung des Sachsenspiegels ist nioht anzunehmen. Auch der Verfasser des k a i s e r l i c h e n L a n d - u n d L e h n r e c h t e s , d e s s o g . S c h w a b e n s p i e g e l s , war ein unbekannter Mann, der um 1275 den „Urschwabenspiegel" zusammenstellte, der uns verloren gegangen ist. Erst spätere, verbesserte Auflagen sind auf' uns gekommen. Der Spiegier, der wahrscheinlich in Augsburg lebte, gehörte dem geistlichen Stande an und lernte den Sachsenspiegel hauptsächlich kennen durch den „ S p i e g e l d e u t s c h e r L e u t e " . Gleich Eike schied er sein Buch in ein Landrecht und Lehnrecht. Er wollte darin kaiserliches Recht, Recht f ü r das ganze Reich, darstellen, bot aber in Wirklichkeit nur süddeutsche Auffassung. E r war ein schlichter, aber getreuer Zusammensteller und Verarbeiter von Gewohnheitsrecht. Manches schrieb er einfach ab oder stutzte es für süddeutsche Verhältnisse zu. Der Versuchung, römische Rechtsgedanken aufzunehmen, vermochte er nicht zu entgehen. Auch fehlte ihm der große Schwung und das hohe Ziel eines Eike von Repgau. E r verstand es nicht, Einheit und H a r monie zu schaffen gleich einem gotischen Dome. D a s H a u p t z i e l , d a s e r v e r f o l g t e , w a r e i n e S t ä r k u n g d e r g e i s t l i c h e n G e w a l t auf K o s t e n d e s K a i s e r t u m s . E r steht vor uns als gefügiger Verfechter kurialer Ideen, dem die Kirche mehr galt als der Staat. Darum ist er auch dem Schicksal des Sachsenspiegels entgangen, der durch Gregor X I . in einer besonderen Bulle verpönt wurde: I m J a h r e 1374 verbot der Papst die Anwendung von 14 Artikeln dieses Rechtsbuches. Großer Erfolg war jedoch auch dem Schwabpnspiegel im Süden und Westen des Reiches beschieden. E r wurde mehrfach übersetzt, sogar in das Tschechische. — Der oben genannte S p i e g e l d e u t s c h e r L e u t e o d e r D e u t s c h e n s p i e g e l ist erst durch seinen neuen Herausgeber in das richtige Licht gerückt worden. Das

Prozeßbücher.

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Rechtebuch gründet sich auf eine Übersetzung des Sachsenspiegels ins Oberdeutsche, wobei aber vermutlich Übersetzer und Spiegier verschiedene Personen waren. Sein Wert besteht darin, daß es ganz gewaltig auf den Schwabenspiegel einwirkte, ja geradezu die Brücke zwischen den beiden großen Rechtsbüchern des Ostens und Westens bildet. Der Hauptzweck war, dqs Rechtsbuch Eikes für Süddeutschland brauchbar zu machen. Dazu diente ihm vor allem das Recht von Augsburg. Die Entstehung mag in die Jahre 1274—1275 gesetzt werden. Leider ist uqs nur eine Abschrift des Urtextes überliefert, die eine Fülle von Mißverständnissen aufweist. Im Gegensatz zum Sachsen- und Schwabenspiegel ist der Deutschenspiegel für das praktische Rechtsleben ohne Bedeutung gewesen. — Eine hervorragende Quelle ist das R e c h t s b u c h d e s R u p r e c h t v o n F r e i s i n g , der für das Bistum Freising ein Landrechtsbuch und 1328 ein Stadtrechtsbuch ausarbeitete, Werke, die im 15. Jahrhundert zu einem einheitlichen Rechtsbuch verschmolzen wurden. — D a s k l e i n e K a i s e r r e c h t (der Frankenspiegel) aus der Zeit Ludwigs des Bayern (20er oder 30er Jahre des 14. Jahrhunderts), hatte ebenfalls vom Schwabenspiegel gelernt, verfiel aber mehrfach in Schwätzerei und unfruchtbare Konstruktionen, weil es sich eine unmögliche "Aufgabe gestellt hatte; es wollte das Recht der ganzen Christenheit geben und- gelangte dadurch, zu einer fast lächerlichen Hervorkehrung des Kaisertums. Auf, unmittelbarem Einfluß des Sachsenspiegels • ruhte noch eine Reihe anderer Rechtsbücher, z. B. d a s G ö r l i t z e r R e c h t s b u c h aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts. Sehr lehrreich und juristisch-wertvoll sind die P r o z e ß b ü c h e r aus dem sächsischen und westfälischen Gebiete, die zum Teil den Rechtsgang des Sachsenspiegels weiter ausbauten und ergänzten. Das bedeutendste ist der R i c h t s t e i g L a n d r e c h t B , wahrscheinlich verfaßt um 1330 von dem Ritter Johann von Buch, dem Manne, der die älteste und einflußreichste Glosse zum Sachsenspiegel geschrieben hatte. Man darf sich nicht zu sehr wundprn, daß die meisten dieser Privatarbeiten gesetzliche Kraft erhielten und im Rechtsleben wie Gesetzbücher angewendet wurden. Denn der kleinste Teil enthielt spekulatives, aus dem Kopf der Verfasser entsprungenes Recht. Weitaus die Hauptmasse war überliefertes Recht, meist Gewohnheitsrecht, weniger Satzungsrecht. Die Haupttat der Spiegier bestand also darin, mit feinem Rechtsgefühl und mit solidem Takte aus der Summe der geltenden, aber oft auseinandergehenden Normen die bodenständigsten und lebensvollsten herauszusuchen und sie in fesj«, brauchbare Form zu fassen. Darin wär ihr gewaltiger Erfolg über Jahrhunderte hinaus begründet. Daß das Sachsenrecht eine so überragende Rolle spielen konnte, beweist uns, was die glänzende Formgabe eines genialen Mannes in der Rechtswelt auszurichten vermag. 7. U r k u n d e n u n d C h r o n i k e n . D a s U r k u n d e n w e s e n , mit dem Niedergang der karolingischen. Kultur versandet, beginnt im 13. Jahrhundert wieder stärker aufzuflackern. K e n n , zeichnend für die Entwicklung sind das Verschwinden der alten rechtschafienden Urkunde, der carta (es blieb nur die notitia) und das gewaltige Überhandnehmen des Siegels. Das Siegel wurde allmählich zum ausschließlichen Beglaubigungsmittel, und eine Reihe von Personen erhielt daher die Befugnis, auch fremde

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Chroniken.

Urkunden mit ihrem Siegel zu versehen. Da ein richtig geschriebenes und versiegeltes Pergament den Zufälligkeiten des Lebens und dem schwankenden Sinn der Menschen weniger als das Zeugnis von Personen ausgesetzt war, bildete sich der Rechtssatz aus „Briefe sind besser als Zeugen". — Auch in der landesherrlichen Kanzlei begann man jetzt zu schreiben, und so bieten neben den Urkunden aus der königlichen Kanzlei die Akten aus den deutschen Territorien wertvolles» Material. Man nimmt mit Recht an, daß bereits im 12. und 13. Jahrhundert an den Höfen der geistlichen und weltlichen Fürsten Notare tätig waren als Kanzleibeamte (z. B. in Köln, Trier, Halberstadt). Zum Muster dienten überwiegend die Formulare der Reichskanzlei. Aber auch die päpstliche Kanzlei übte ihren Einfluß auf das Urkundenwesen aus. Anfangs lag der Kanzleidienst bei den Geistlichen. Seit dem 15. Jahrhundert treten auch weltliche Beamte in größerer Zahl hervor. Die Juristen beginnen Einfluß zu gewinnen. Um die Abfassung von Urkunden zu erleichtern, wurden Sammlungen angelegt und Belehrungen gegeben (ars dictandi). Das „vollständigste und bedeutendste theoretisch-praktische Fonnularbuch des Mittelalters" ist d e r B a u m g a r t e n b e r g e r F o r m u l a r i u s de modo prosandi aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts. Es zerfällt in sieben Hauptteile und verzeichnet u. a. ganz genau die verschiedenen -Arten von Urkunden, die an den fürstlichen Höfen existierten. E n d l i c h sind die C h r o n i k e n und die A n n a l e n n i c h t zu vergessen. Vorsichtig benutzt und in ihrer Tendenz richtig bewertet, liefern auch sie reiche Reehtsaufschlüsse. So sind wir z. B. nur mit Hilfe der Kölner Chronik, der Pegauer Annalen und Arnolds von Lübeck imstande, den Prozeß Heinrichs des Löwen zu zergliedern und juristisch zu erfassen. Und wer die Rechtsgeschißhte der Kolonisation studieren will, muß sich in die Chronica Slavorum des Helmold vertiefen. In neuer Zeit h a t man in umfassender Weise eine weitere Gruppe von Rechtsquellen herangezogen: es i s t d i e m i t t e l a l t e r l i c h e D i c h t u n g . Sie setzt schon früh ein, etwa mit dem Hildebrandslied und dem Rolandslied, steigt dann'auf zu den großen epischen Werken der klassischen Periode und geht bis tief in die Reformationsepoche hinein, über Hans Sachs und Niklas Manuel hinaus. Sie ist wichtig und ergebnisreich f ü r die Erkenntnis der Rechtszustände, sowie der Rechtsprobleme, welche die Menschen beschäftigten. Man muß zu Ehren der Dichter sagen: in dem Augenblick, in dem sie rechtlichen Boden betreten, lassen sie die Phantasie beiseite und halten sich an die gegebenen Rechtsnormen und Rechtseinrichtungen. Das ist die überwiegende Regel. Daher dienen die Dichtungen vor allem zur Ergänzung der eigentlichen Rechtsquellen. Sie füllen in ansprechender und plastischer Weise Lücken aus. Bisweilen eilen sie über das positive Recht hinaus und lassen die neue Rechtsentwicklung ahnen. Denn die Dichter sind Seher und ahnen die Zukunft. 8. Ü b e r d i e N a t u r d e s R e c h t s . Das Hauptziel des Rechts war auch in dieser Periode die Aufrechterhaltung des Friedens. D i e R e c h t s o r d n u n g w a r i n d e r H a u p t s a c h e e i n e F r i e d e n s o r d n u n g . Darum beschäftigte sich ein großer Teil der Normen mit der Zurück-

Wohlfahrt.

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d r ä n g u n g der Selbsthilfe, sowie mit dem Ausbau und der Verfeinerung des Strafrechts und des Rechtsganges, insbesondere der Beweismittel. Als oberster Schöpfer u n d H ü t e r des Rechts wurde Gott selbst angesehen. Namentlich in den Rechtsbüchern t r a t die Vorstellung hervor, Gott sei die Quelle allen Rechtes. Gott gebe das Recht und sei für die Durchsetzung des Rechts auf Erden besorgt. Als ein F ü r s t des Friedens walte er über jeder Rechtsordnung. (Prächtig zusammengefaßt in den Vorreden zum Sachsen- und Schwabenspiegel.) Im 14. Jahrhundert begann diese Anschauung zu schwinden, und deshalb t r a t das Beweismittel der Gottesurteile immer mehr zurück. Die Verweltlichung des Rechts setzte ein. — Erreicht werden sollte der Rechtszweck durch das Zusammenarbeiten der beiden großen Gewalten von Staat und Kirche. Während des ganzen Mittelalters galt die Christenheit noch als eine Einheit. Sie in ihrem Bestand und in ihrem Frieden zu schützen, waren Kaiser und Papst berufen. Beide verfügten daher über energische Zwangsmittel, die letzten Endes in der Ausstoßung des Menschen aus dem Friedensverband des Staates wie aus dem Verband der Kirche gipfelten (weltliche Oberacht und großer Kirchenbann). Weltliches Recht und geistliches Recht steuerten also einem gemeinsamen, absoluten, unbedingten Ziele zu. Neben dem Friedenszweck b e g a n n die R e c h t s o r d n u n g des s p ä t e r e n - M i t t e l a l t e r s W o h l f a h r t s z w e c k e i n s i c h a u f z u n e h m e n . Aber nur langsam t r a t die Vorstellung hervor, das Recht habe für Gesundheit, Zufriedenheit, Wohls t a n d und blühenden Verkehr Sorge zu tragen. Die Rechtsbücher wiesen bereits auf einzelne soziale Aufgaben hin. Stärker befestigt wurde dann der Wohlfahrtsgedanke in den Städten und im landesherrlichen Gebiete. Stadtrat und Landesherr haben sich nach dieser Richtung zuerst ihrer Rechtsgenossen angenommen. W o wir in Weistümern solche Bestimmungen antreffen, waren sie eher im Interesse der Herrschaft als im Interesse der Genossenschaft gegeben. A u d i h a t das Mittelalter einen Sprung vorwärts getan in d e r s i t t l i c h e n V e r t i e f u n g d e s R e c h t s . Dies vermögen wir am deutlichsten im Strafrecht zu erkennen, wie nachher zu zeigen ist. Nicht vergessen wollen wir den Fortschritt, der in der Auffassung steckte, daß selbst der letzte Unfreie ein Rechtssubjekt sei und damit Anteil an der Rechtsordnung habe, ebenso der zugewanderte Fremde, auch der Jude. Innerhalb des Familien- und Vormundschaftsrechts verdrängte das Schutzmoment immer mehr das Gewaltmoment. Es zeugt von humanerer Gesinnung, daß dem Vater verboten wurde, seine Tochter in ein öffentliches Haus zu verschachern (Schwabenspiegel 357). Freilich erlitten die Fortschritte auch schwere Gegenstöße. Ich denke hierbei nicht an die Ausdehnung von R a u b und Gewalttat. Denn soweit sich diese nicht in Gestalt rechtmäßiger Fehde bewegten, waren sie ja rechtswidrig, contra legem. Ich erinnere vielmehr an das Vordringen pekuniärer Vorstellungen im gesamten Staatswesen, vor allem auf dem Gebiete des Heerwesens und der Gerichtsbarkeit. Es ist uns heute durchaus wesensfremd, daß Gerichte verkauft, Gerichtsbezirke mit der gesamten Bevölkerung wegen privater Zwecke verpfändet und die Einwohner um finanzieller Vorteile willen willkürlich zum Gericht gebannt werden konnten. Hierin hat erst der Landesherr Rettung gebracht. Die Trennung von öffentlichem und privatem Recht mußte" vollzogen werden. Und diese Trennung — nur in Keimen vorhanden — h a t eist die Neuzeit mit Hilfe des römischen Rechts gezeitigt.

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Peinliche Strafen.

§ 38. Das Strafrecht. 1. D i e f ü n f E n t w i c k l u n g s l i n i e n . Wie alles Recht, fiel auch das Strafrecht dieses Zeitabschnittes einer heillosen Zersplitterung anheim. Nur mit größter Vorsicht lassen sich aus dem Chaos gemeinsame Anschauungen und Einrichtungen für das ganze Reich herausschälen. Die neue Geschichte des deutschen Strafrechts im Mittelalter beweist dies mit Evidenz. Wie verschiedenartige Welten t u n sich auf, wenn wir das urdeutsche •Strafrecht des Sachsenspiegels mit dem romanisierten des Schwabenspiegels vergleichen (der den Talionsgedanken verwertet, 201b). Wie weit gehen Stadt und Land auseinander, wie weit Landfrieden und Landrecht, wie weit der Süden und der Norden, jener geradezu schwelgend in der Erfindung grausamer Verstümmelungsstrafen, dieser, z. ß . Friesland, diese Strafart kaum kennend. Und wie grandverschieden ist die Anschauung von Schuld und Strafe in Gebieten, welche das Handeln in Notwehr, ja sogar den Exzeß der Notwehr, straflos lassen und in Landschaften, welche in der Notwehr keinen Strafausschließungsgrund erblicken (z. B. einzelne holländisch-seeländische Statuten). Wohin wir sehen, tiefgreifende, grundlegende Abweichungen. E s g i b t v o r d e r K a r o l i n a (1532) k e i n d e u t s c h e s S t r a f r e c h t . E s gibt nur eine Unsumme von Strafrechten und Strafrechtchen. Das hängt zusammen mit dem ungeheuer zähen Festhalten der einzelnen Landschaften, Städte und Gemeinden an ihren althergebrachten Gewohnheiten. Strafe und Strafart bewegten das Denken unserer Vorfahren viel eindringlicher, als dies beute der Fall ist. Ich will versuchen, aus diesem Bild der Differenzierung einige Entwicklungslinien herauszustellen, die den .Anspruch auf grundsätzliche Bedeutung erheben dürfen. Es sind deren fünf. a) D i e a u s d e m f r ä n k i s c h e n F e h d e r e c h t e n t s p r u n g e n e n B u ß s a c h e n w u r d e n z u r ü c k g e d r ä n g t z u g u n s t e n d e r p e i n l i c h e n S t r a f e n . Die Todesstrafe und die peinliche, auf Verstümmelung gerichtete Strafe erfuhren gegenüber den Geldstrafen eine starke Ausdehnung. Vor allem das Strafrecht der Landfrieden h a t t e hier eingesetzt und seine, Schatten (oder mit anderen Augen gesehen: sein Licht) über das gesamte Strafrecht ergossen. Die erstarkende Staatsgewalt in Stadt und Land verlangte n^,ch solchen Maßnahmen. Ihr Motiv war dabei ein doppeltes. Sie drängte immer mehr nach straffer Aufrechterhaltung des Friedens, und stempelte damit viele Delikte aus Fehdesachen zu Achtsachen um. Sie suchte auf diesem Wege zugleich nach finanziellen Vorteilen, indem sie gegen hohe Summe die Ablösung der peinlichen Strafen auch weiterhin gestattete, wenn Kläger und Richter einverstanden waren, d. h. wenn sie Gnade übten. Das Verfahren nach Gnade war das notwendige Gegenstück zu den stark überhandnehmenden grausamen Strafarten. b) Der Gemeinfrieden h a t t e sich territorialisiert. E r schlug sich auf das Land nioder wie das Recht selbst und erscheint als Territorialfriede. Aber daneben war eine Unzahl von Sonderfrieden ausgebildet worden, so daß für die Beurteilung der Missetat als Friedensbruch der Sonderfrieden die Hauptrolle spielte. Neben den auf Zeit abgeschlossenen Gottes- und Landfrieden gab es einen dauernden Königsfrieden. Daneben tauchten Fürstenfrieden und in ausgedehntem Umfange

Friedensbruch.

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Stadtfrieden auf. Aber auch die Märkte und seltener die Dörfer standen unter Sonderfrieden, die großen Straßen und Flüsse, eine Fülle profaner und kirchlicher Einrichtungen, sowie zahlreiche Personen (Frauen, Kaufleute, Geistliche). Dazu t r a t e n die vom Richter gebotenen und von den Parteien gelobten Frieden, die Handfrieden. Kein Wunder also, daß nach der örtlichen und sachlichen Abschat tiemng dieser Frieden das Verbrechen als Fliedensbruch die verschiedenartigste Beurteilung erfuhr. Ganz allgemein ist zu sagen: D a a l s o b e r s t e s Z i e l d e r R e c h t s o r d n u n g die F r i e d e n s b e w a h r u n g erscheint, l ä ß t sich j e d e M i s s e t a t , wie in f r ä j i k i s c h e r Zeit, als F r i e d e n s b r u c h k e n n z e i c h n e n . Aber nur begrifflich! Denn faktisch h a t t e sich aus dem allgemeinen Friedensbruch ein besonderes Friedensbruchdelikt abgezweigt, so namentlich im ostfälischthüringischen Quellengebiete. In diesem Sinne bedeutet Friedensbruch nur noch das schwere, mit peinlicher Strafe zu sühnende Verbrechen. I m übrigen wurde die Missetat als ein strafbarer Eingriff in die Rechtsordnung des Gemeinwesens und in den Friedenskreis des einzelnen angesehen. Kennzeichnend dafür ist das Wort Frevel. Es besagt in seiner allgemeinsten Bedeutung, daß eine frevelhafte Verletzung der Rechtsordnung vorliegt. c) Der werdende Staat machte sich mehr und mehr zur Pflicht, die Verbrecher von Amts wegen zu verfolgen. D i e V o r s t e l l u n g , d a ß d u r c h e i n e M i s s e t a t n i c h t nur der einzelne, sondern die G e s a m t h e i t geschädigt werde, hahm dauernd zu. Vor allem in den Städten, die wir als die stärksten Friedenszentren kennen gelernt haben, t r a t die öffentliche Natur des Verbrechens und damit die öffentliche N a t u r der Strafe hervor. Entweder zwang man den Verletzten zur Klage (wie etwa nach Hamburger Recht), oder man schritt von Amts wegen ein, wenn Richter und R a t einen als schweren Verbrecher erkannten, oder wenn böser Leumund oder das „Hörensagen" einen als Missetäter bezeichneten. I m 14. und 15. Jahrhundert erhielten zahlreiche Städte ein kaiserliches Privileg, in solchen Fällen amtlich vorgehen zu dürfen. Die Zahlung an den Verletzten tritt zurück, die peinliche Strafe um so mehr hervor. Freilich hatte sich auch das Land aufgerafft. Aber die dort erstehende Rügegerichtsbarkeit (wonach jedes nicht zur Anzeige gelangte Verbrechen öffentlich angezeigt werden mußte) und die in Österreich und Bayern ausgebildete „Landfrage" zeitigten im ganzen wenig Erfolg. I m bayerischen Gebiet wurde z. B. 1518 die Rügepflicht aufgehoben. Auch die Feme vermochte, wie wir sahen, nur zeitweise die Lücke auszufüllen, ebenso die Friedensgerichte. Man darf sagen, daß die Städte auf dem Gebiet der öffentlichen Strafe am einflußreichsten gewirkt haben. Viele dort entwickelten Anschauungen sind in die späteren Reichs- und Landesgesetze übergegangen. — Neben den Städten stand ebenbürtig die Kirche. Unter Innozenz I I I . begann sie gegen verbrecherische Geistliche einzuschreiten. Durch das vierte Laterankonzil Von 1215 sind unter dem persönlichen Einfluß des großen Papstes die drei berühmten Verfahrensarten festgelegt worden, das Verfahren per accusationem, per inquisitionem und per denuntiationem. Sie haben ihren Einfluß auf das weltliche Recht nicht verfehlt. (Vgl. § 39.) d) I m m e r e n e r g i s c h e r t r a t e n d i e A n s t r e n g u n g e n d e s S t a a t e s h e r v o r , d i e S e l b s t h i l f e e i n z u d ä m m e n u n d i n r e c h t l i c h e F o r m e n zu g i e ß e n . Von der auf den Adel beschränkten Fehde wurde bereits gesprochen. Aber auch F e h r , Deutsche Rechtsgeschichte.

4. Aull

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Selbsthilfe.

der Blutrache, deren sich Ritter wie Bauer bedienten, ging der Staat zuleibe, verbot sie schlechtweg (so in den Städten) oder versuchte durch Sühnezwang, durch Ausdehnung des Asylrechts (Freistätten), durch Verbannung des Totschlägers und andere Vorkehrungen, die Magschaft des Getöteten von der Rache abzuhalten. Doch stießen die Bestrebungen auf so tief eingewurzelte Leidenschaften und abergläubische Gedankengänge, daß vielerorts bis in die Neuzeit hinein die Blutrache als Gewohnheitsrecht zum Schaden der Rechtsordnung fortlebte. W e i t e r h i n w u r d e jene S e l b s t h i l f e a u s g e b a u t , die wir die Notw e h r n e n n e n . Die lateinische Übersetzung des Landfriedens von 1235 formulierte sie scharf und gut als: in continenti ad tutelanj corporis sui vel bonorum suorum vim vi repellere. In breitestem Umfange war sie überall gestattet, und in Tausenden von Fällen k a m ' sie tatsächlich zur Anwendung. Die in Notwehr verübte Tat blieb vielerorts straflos, meist auch dann, wenn über das notwendige Maß der Abwehr hinausgegangen wurde. Zum Teil deckte sich mit dem Institut der Notwehr die h a n d h a f t e T a t , d i e H a n d h a f t o d e r H a n d t a t . Hier galt immer noch der alte Satz: Wer einen Menschen widerrechtlich schädigt, setzt sich dessen Fehde aus. Wer daher im Augenblick der Missetat (z. B. wenn er Feuer ans Haus legt oder mit dem geraubten Gut davoneilt) unter Erhebung des „Gerüftes" (der Notschrei von Seiten des Verletzten und der herbeigeeilten Leute) ergriffen wird, steht als relativ Friedloser da. Bußlos darf er getötet odör sonst unschädlich gemacht werden. Hier tauchte die alte Rachidee mit ganz besonderer Wucht immer wieder hervor und die Versuche des Staates, die Tötung in handhafter T a t allein durch den Richter zu ahnden, waren in vielen Fällen erfolglos. Die unsicheren Zeiten, die den Menschen auf die eigene K r a f t stillten, und ein noch festgefügtes, tief verankertes Familienbewußtsein, gaben der H a n d t a t juristisch die weite Ausdehnung. So heißt es im Landrecht von Steiermark (vor 1425): „Legt einer einen Brand an und wird er gefangen, so soll man ihm einen Feuerbrand auf den Hals binden oder auf den Rücken, der aus diesem Feuer genommen ist; das ist die rechte H a n d h a f t . " I m sächsischen Recht zeigte sich das Bestreben, die H a n d t a t möglichst weit zu fassen (Sachsenspiegel I I 35). Das ostfriesische Landrecht erklärt noph zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Tötung des handhaften Räubers f ü r straflos. e) D a s S t r a f r e c h t n a h m z u a n V e r f e i n e r u n g u n d V e r t i e f u n g , f r e i l i c h n u r i m g e r i n g e n M a ß e . Seit dem 13. Jahrhundert t r a t die Bewertung der T a t nach dem äußerlichen, schädigenden Erfolge immer mehr zurück. Die Handlungen schieden sich in solche, die gewollt waren, bei denen sich der Verbrecher mit Frevelmut und mit bösem Willen gegen die Rechtsordnung auflehnte und in solche, die ohne Vorbedacht, im Affekt, „uss zorn", „ u t hastigem mode" begangen wurden. Die Scheidung war im ganzen noch roh, und man muß sich hüten, unsere heutigen, scharf zugespitzten Begriffe in das mittelalterliche Strafrecht hineinzutragen. Sehr richtig ist bemerkt worden, daß im Süden Deutschlands „der Vorsatz im Sinne von Dolus schlechthin" bis zum 16. Jahrhundert nicht vorkommt, und daß der sogenannte „Vorbedacht" in der Regel nur einen Strafschärfungsgrund bildete. Grundsätzlich lässt sich sagen, daß die ungewollte Tat nicht oder milder bestraft wurde, daß aber das Mittelalter im Zweifel noch jede Tat als gewollt betrachtete. Es mehrten sich jedoch zusehends die Fälle, in

Strafarten.

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denen dem Täter gestattet wurde, den Beweis seiner Absichtslosigkeit zu erbringen. Und hier setzt nun das größte Problem des mittelalterlichen Strafrechts, j a des Strafrechts überhaupt ein, die Frage nach dem fahrlässig begangenen Verbrechen und dessen Bestrafung. Die Lösung ist um so schwieriger, als die mittelalterliche Terminologie auf diesem Gebiete äußerst verschwommen ist. Das Hauptwort „fahrlässigkeit" findet sich erst 1499 in einer römisch beeinflußten Quelle. S i c h e r s c h e i n t mir, daß das r ö m i s c h - i t a l i e n i s c h e S t r a f r e c h t einen g r o ß e n E i n f l u ß auf das Wesen der d e u t s c h e n F a h r l ä s s i g k e i t a u s ü b t e ; e b e n s o s i c h e r aber, daß das u n b e e i n f l u ß t e d e u t s c h e R e c h t den F a h r l ä s s i g k e i t s b e g r i f f k a n n t e und die F a h r l ä s s i g k e i t b e s t r a f t e . Man half sieh vielfach so, daß man typische Fälle aufstellte, in denen man ein fahrlässiges Handeln erblickte (z. B. ein Brunnen wird nicht gehörig eingefriedet) oder in denen die Absicht zum Tatbestand gehörte (z. B. beim Moid) und damit die Fahrlässigkeit ausschloß. Geht diese Typisierung auf altes Recht zurück, so zeigt sich doch darin ein Fortschritt, daß man begann, die geistige Verfassung des Täters feiner zu bewerten. Das Kind, soweit man es überhaupt bestrafte, blieb grundsätzlich von Tod und Verstümmelung verschont. Es ist eine absonderliche Verirrung, daß Nürnberg im Jahre 1320 ein königliches Privileg erhielt, wonach gemeingefährliche Bürger nebst ihren Kindern in einem Sack ertränkt werden durften. Ein großer Fortschritt war es, als man in Lübeck begann, die geistige Reifö durch den Richter zu prüfen. Ähnlich dem Kinde wurden Geisteskranke und Geistesschwache behandelt.. „Rechte Toren und sinnlose Leute dürfen nicht am Leben gestraft werden"', sagen ostfälische Rechte. Kümmerlich stand es um die Weiterentwicklung des Die Ausbildung zahlreicher Versuchsdelikte (z. B. Bestrafung Messerzückens) brachte Verwirrung statt Klärung. Verfeinernd ging Bur die Kirche vor, und was das staatliche Strafrecht es dem kanonischen Rechte.

Versuchsbegriffes. des Schwert- und auf diesem Gebiet errang, verdankte

2. D i e S t r a f a r t e n . Das Mittelalter war geradezu raffiniert in der Erfindung von Strafen. Grausamkeit und Wollust, Phantasie und Aberglauben spiegeln sich in ihnen wieder. Dio Strafen peinlicher Natur schieden sich in solche zu „Hals und Hand" oder „zu Haut und Haar". Die H a l s s t r a f e war die T o d e s s t r a f e . Sie stand grundsätzlich auf schweren gemeinen Delikten, besonders auf Verbrechen, die einen Friedensbruch einschlössen. Sie hatte infolge der zahlreichen, neu entstandenen Sonderfrieden stark an Ausdehnung gewonnen. Die Todesarten waren außerordentlich mannigfaltig und ließen den leidenschaftlichen Verirrungen und Verwilderungen des Richters wie des Klägers einen weiten Spielraum. Die Schimpflichkeit des Verbrechens oder die Person des Missetäters fielen, dabei schwer ins Gewicht. So wurden z. B . Frauen, was immer sie verbrochen hatten, nicht gehenkt: „t)er Mann kommt an den Galgen, die Frau unter dem Stein", sagt ein altes Sprichwort. Da das Strafrecht überwiegend auf dem Grundsatz der Abschreckung aufgebaut war, wurden die Todesstrafen öffentlich, vor den Augen aller vollzogen. Wie zu einem Volksfest strömte im ausgehenden Mittelalter die fieberhaft erregte 10»

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Geldstrafen.

Menge auf den Platz, wo E n t h a u p t u n g oder Verbrennung stattfanden. U m den Gerichteten wie um die Richtstätte lagerten sich unheimliche Vorstellungen aller Art. Inwieweit der Strafvollzug noch auf abergläubisch-dämonischer Grundlage ruhte, soll im nächsten Abschnitt ausgeführt werden. Die H a n d s t r a f e n f ü h r t e n ihren N a m e n von der h ä u f i g e n S t r a f a r t d e s H a n d a b h a u e n s . Sie u m f a ß t e n aber alle Arten der verstümmelnden Strafen, vom einfachen Abschneiden des Daumens oder der Lippe, bis zum Ausstechen der Augen oder dem Abhauen des Gemächtes. Auch hier haben Leidenschaft und perverse Lust ekelhafte Grausamkeit gezeitigt. Denn auch hier wurde der Strafvollzug vielfach nach dem Wunsche des siegenden Klägers gehandhabt (Anklänge aus dem Fehderecht). Fühlte sich doch mancher nur gesühnt, wenn er seinen Feind elendiglich leiden sah. Erst die Lust an der Qual gab die Befriedigung, F ü r die kleinen M i s s e t a t e n , die keine „ U n g e r i c h t e " d a r s t e l l e n , b e g n ü g t e m a n s i c h m i t d e r S t r a f e a n H a u t u n d H a a r . Der Tater wurde geprügelt und gegeißelt. Daneben ward ihm in schimpflicher Weise das H a a r geschoren und ausgerissen, oder die Backe wurde ihm durchstoßen. Nach dem Schwabenspiegel waren 40 Schläge das höchste Maß. Die Stäupung h a t ihren alten schimpflichen Charakter nie ganz verloren. Einst nur gegen Knechte angewandt, kennen die ältesten Stadtrechte die Prügelstrafe auch für freie Leute. Sie ist die typische Strafe für den traurigen Kerl, der einen kleinen Diebstahl beging. Wer bereits ehrlos war u n d eine neue T a t verübte, wurde sofort zu peinlicher Strafe verurteilt. Während hier der Abschreckungsgedanke vorherrscht, k o m m t i n d e n G e l d s t r a f e n m e h r d i e E r s i t z - u n d V e r g e l t u n g s i d e e z u m D u r c h b r u c h . Diese Strafen sollten dem Verletzten in erster Linie finanzielle Genugtuung verschaffen. Dazu dienten Wergeid und Buße. D a s W e r g e i d , in seiner alten Potenz schon seit dem 12. Jahrhundert zurücktretend, gewann immer mehr den Charakter eines reinen Ersatzgeldes. Den Hinterbliebenen mußte durch Zahlung des Wergeides der Schaden, den sie erlitten, vergolten werden. Aber die vindikatorische Natur des Wergeides verlor sich langsam. Ein Rest steckt noch im Sachsenspiegel, der sogar einen Wergelderkatalog f ü r Tiere aufstellt. (Sachsenspiegel I I 14 § 1 und I I I 12 § 2.) D i e B u ß e n , die für Körperverletzungen und andere Schädigungen, in ausgedehntem Maße auch f ü r Ehrenkränkungen an den Verletzten zu entrichten waren, hatten vielfach die N a t u r einer „Kränkungsbuße" und sollten daher versöhnlich wirken. Die B u ß e heißt vielerorts Sühne. Sie verleugnete also auch in dieser Periode ihren Ursprung nicht. Sie blieb in letzter Hinsicht Ablösung des Fehderechts. Und so ist es nicht erstaunlich, daß in den Städten der R a t wiederholt erklärte, er stehe mit seinem Gewette (dem an die öffentliche Gewalt zu zahlenden Strafgelde) zurück. Es handle sich vor allem darum, den Verletzten mit Buße zu versöhnen. Auf diesen Versöhnungsgedanken wirkte auch die friedensstiftende und friedensliebende Kirche mit aller Macht ein. Ihr war daran gelegen, Rache und Gewalttat zu verdrängen, die Gegner zu beruhigen und den Missetäter zu demütigen. Aus dieser Tendenz, die der Staat willig aufnahm, erklärten sich die Auferlegung von P i l g e r f a h r t e n (etwa nach Aachen oder nach Rom), von B u ß g ä n g e n und frommen S p e n d e n . Großen Einfluß übte das niederländische Recht aus, und so finden wir z. B. im Reineke Fuchs,

Verbannung.

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d a ß der im Zweikampf besiegte Verbrecher dem Wolfe eine Wallfahrt ins heilige L a n d angelobte. I n engster Verbindung mit diesen Bestrebungen stand auch das Strafmittel d e r V e r b a n n u n g . Wahrscheinlich aus der Acht abgeleitet, f a n d sie im Mittelalter da Anwendung, wo man einen gefährlichen, friedenstörenden Menschen aus der Gemeinschaft ausscheiden wollte, damit er nicht weiterhin schädige und nicht Objekt der rachedurstigen Genossen der verletzten Sippe werde. Daher sind es vor allem die Städte, welche häufig zur Verbannung schritten. D a h e r trifft die Verbannung zuweilen auch das unschuldige Weib und die unmündigen Kinder des Verbrechers. Von der A c h t , die bald als Zwangsmittel (wegen Ungehorsams gegen die Ladung), bald als Strafe auftrat, ist alles Wichtige bereits mitgeteilt (§ 27, 3). Sie ging einer zunehmenden Abschwächung entgegen, so daß im späteren Mittelalter auch die letzt« Stufe der Acht, die A b e r a c h t , lösbar wurde. Bis ins einzelne ausgedacht, raffiniert, schmachvoll, aber auch voll derben Humors waren die E h r e n s t r a f e n ausgestaltet. Welch köstliches Volksfest muß es gewesen sein, wenn in Saubersdorf die zankenden Weiber den Bagstein (Scheltstein) durch das Dorf tragen mußten und die D^rfjugend sie mit Eiern bewarf, die der Richter zu diesem Zwecke gekauft hatte. Die F r e i h e i t s s t r a f e n spielten noch immer eine geringe Rolle. Sie waren meist Ersatzstrafen, die eintraten, wenn der Verbrecher die auferlegte Buße nicht zahlen konnte. § 39. Der Rechtsgang. 1. Das Auseinanderfallen der Rechtsgebiete zog auch eine starke Differenzierung des Prozesses nach sich. Die einzelnen Rechtskreise, deren Entstehung und inneres Wesen wir verfolgt haben (§§ 26 und 37), riefen gesonderte Ausgestaltungen des Rechtsganges hervor. Allen v o r a n ging die K i r c h e m i t dem fein a u s g e s t a l t e t e n kanon i s c h e n V e r f a h r e n . Niemand als sie h a t es vermocht, den Prozeß tief und wissenschaftlich zu durchdringen, ja, ein eigentliches Prozeßsystem hervorzubringen (Grundlage sind die von Innozenz I I I . 1215 auf dem Laterankonzil gegebenen Normen). I m Gebiete des Zivilrechts war es namentlich das Verfahren in Sachen des Ehe- und Verlöbnisrechtes, sowie des Testaments- und Dotalrechtes, welches die Kirche im Sinne einer streitigen wie freiwilligen Gerichtsbarkeit ausbildete. Das Strafverfahren h a t t e zum Mittelpunkt ein raffiniertes Vorgehen gegen jene Elemente, welche den Bestand der Kirche am meisten bedrohten, gegen Ketzer und ungehorsame Geistliche. Welch aufgeregte Vorstellungen verbinden wir heute noch mit e i n e r dieser Verfahrensarten, mit dem Inquisitionsprozeß! Wie gewaltig h a t dieser Rechtsgang auf das kirchliche, wie später auf das weltliche Gebiet eingewirkt, das Verfahren, in dem die Klage auf Gerücht und Verleumdung hin von Amts wegen erhoben werden konnte u n d in dem die Namen des Anklägers wie der Zeugen geheim bleiben m u ß t e n ! Die ecclesia militans h a t sich auch nicht gescheut, die Folter zur Anwendung zu bringen, wenn das Geständnis, dessen sie bedurfte, anders vom Angeklagten nicht zu erzielen war. Mit einer Rücksichtslosigkeit, die nur dem Eifer einer intoleranten Wdffc eigen ist, vermochte sie mit Hilfe des Inquisitionsprozesses Leben und Lehre äußerlich intakt zu halten.

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Inquisitionsprozeß.

F ü r die Wandlung der Auffassung ist von höchster Bedeutung die Stellung der Kirche zu den Gottesurteilen (§ 18, 1). 1215 wurde ihre Anwendung verboten. Das erscheint um so auffälliger, als der Priester bei den Ordalhandlungen eine große Rolle spielte und nicht unbeträchtliche Ordalabgaben erhoben wurden. (Erst mit deren Zahlung galt die priesterliche Handlung als'vollwirksam!) Gewiß, wie überzeugend f ü r Frankreich nachgewiesen wurde, hing die Zurückdrängung der Gottesurteile mit dem Niedergang des Eigenkirchenwesens zusammen. Aber rein religiöse Momente mußten dazu treten. Der Glaube an ein unmittelbares Eingreifen der Gottheit war verschwunden. Der Rechtsgang war keine Sache Gottes mehr. D e r P r o z e ß w a r v e r w e l t l i c h t . Daß sich aber Reste dämonischer Vorstellungen bis in die Neuzeit hinein erhalten haben, ist später zu zeigen. 2. Das weltliche Recht hielt im Verfahren noch an manchen Einrichtungen der fränkischen Zeit i.ist. Freilich war im Laufe des Mittelalters die Trennung vom Strafprozeß und y Zivilprozeß durchgeführt worden, und das Urteil war jetzt mehr als eine bloße Belehrung der streitenden Parteien (§ 18). Der zunehmende Friedensgedanke im Recht und der stärker werdende Schutz des Gemeinwesens gegen Verbrecher hatten eine veränderte Auffassung von Strafklage und Zivilklage zur Folge. Auch ist in klarer Prägung gesagt worden: „Nicht die Bestrafung des säumigen Anspruchsgegners, sondern die Durchsetzung des Anspruchs selbst wurde das oberste Ziel des Verfahrens." Wer einen wegen Brandstiftung angriff, konnte nicht mehr dem nämlichen Verfahren unterworfen werden wie der, der um Aushändigung einer Erbschaft stritt. Was uns heute als selbstverständlich erscheint, h a t sich der Prozeß in langsamem Ringen erobert. Aber der Streit ums Recht blieb das ganze Mittelalter hindurch ein Kampf der Parteien, in welchem der Kläger als Angreifer, der Beklagte als Angegriffener erschien. N o c h s t a n d a l s G r u n d l a g e f e s t : N i e m a n d w i r d z u r K l a g e g e z w u n g e n . Die Verfolgung des Verbrechens ist Privatsache. Aber allerorts traten Versuche auf, die Ahndung der Missetat von der Privatwillkür unabhängig zu machen (§ 38). Auch das Verfahren gegen Abwesende war Ausdruck eines zunehmenden Verfolgungswillens von Staats wegen. Wer — schwerer Verbrechen angeklagt — entfloh, wurde nach sächsischem Recht „verfestet". Der Verfestete konnte von jedem im Gerichtsbezirk gebunden und vor Gericht geschleppt werden. Dort hatte er die schlechte Beweisstellung eines handhaften Täters. Die Strafe ging ihm ans Leben. Blieb er J a h r und Tag in der Verfestung, ohne sich zu lösen, so geriet er in des Königs Acht, dann in die Aberacht. Der Prozeß verweilte auch insofern im alten Kurse, als er die Zweiteilung von Richter und Urteilerbank beibehielt, eine Vertretung vor Gericht grundsätzlich nicht zuließ und viel länger als das kanonische Recht die Gottesurteile als Beweismittel anerkannte. Besonders der Zweikampf hielt sich. Die Klagen wurden in kampfwürdige und nicht k^irupfwürdige Sachen eingeteilt, und noch im Zwickauer R e c h t von 1348 heißt es: „Alle ritter, knechte und kaufleute sullen vechten mit dem swerte. Alle gebure sullen rechten mit dem kolben. Vechten si abir umme dube (Diebstahl), der da gesiget, der sol jenen hengen." (Der Schluß ist ein deutlicher Hinweis, daß die obsiegende Partei als eigentlicher Vollstrecker des Urteils angesehen wurde.) I m Rechtsbuch des Ruprecht von Freising (1328) ist der Zweikampf zwar ein „verbotenes Gericht", aber man sieht deutlich, daß er noch im Schwange war und es Dinge gab, „die Gott

Leumundsverfahren.

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entscheiden sollte". Auch andere Ordalien, das Tragen des heißen Eisens, das Greifen in den wallenden Kessel und das Bahrrecht (der Tote wird auf eine Bahre gelegt und der Verdächtigte küßt ihn; fängt die Wunde an zu bluten, so ist er der T a t schuldig) kommen noch vor. 3. Aufstrebend und viel neues Recht schaffend, erhob sich der städtische Rechtskreis. D i e g r o ß e n N e u e r u n g e n i m R e c h t s g a n g s i n d v o n d e n S t ä d t e n a u s g e g a n g e n . Das hängt aufs innigste mit den Kräften zusammen, die wir im Wesen der Stadt erkannten, mit der Friedensidee und dem Markte. Die Aufrechterhaltung des Stadtfriedens lag zum großen Teil in den Händen des Rates. F ü r schweizerische Städte ist gezeigt worden, daß die Scheidung der Ratsgerichtsbarkeit von der stadtherrlichen Gerichtsbarkeit vielfach durch die Stadtfriedensordnungen herbeigeführt wurde. Daraus ist auch das Zusammenfallen von R a t und Schöffenbank in vielen Städten zu erklären. Die Ratsmitglieder besaßen Schöfleneigenscliaft. U m nun über das Gesindel und das verrufene fahrende Volk in der S t a d t auf da3 schnellste Herr zu werden, bildete der R a t ein summarisches Verfahren aus. Man kann es mit Recht ein „Leumundsverfahren" nennen; denn der g u t e oder schlechte Ruf des vor Gericht gerufenen Missetäters war eigentlich entscheidend. Kennzeichnend heißt es in Nürnberg: „Wenn der Leumund schlecht sei, soll man sich überlegen, ob er so schlecht sei, daß der Gefangene besser t o t als lebendig wäre." Vermutlich ist diesem raschen, namentlich in den süddeutschen Städten aufkommenden Rechtsgang das Eindringen einer neuen Idee wesentlich zu verdanken, nämlich das Streben nach materieller Wahrheit im Prozeß. Das Gericht begnügte sich nicht mehr mit der Entgegennahme formeller Beweise, aus denen es auf den wirklichen Sachverhalt schloß. Es wollte von der materiellen Rechtslage selbst überzeugt sein. Daher wandelten sich — zunächst im Strafprozeß — die Eideshelfer in Zeugen um, also in Personen, die aus eigener Wahrnehmung aussagten. Sie mußten den fliehenden Dieb gesehen, den Schrei der J u n g f r a u gehört haben. Daher treten die Anfänge einer freien Beweiswürdigung . hervor, k r a f t deren z. B. die Personen als Schwörende naoh ihrer Zuverlässigkeit gewertet wurden. Daher war die Zahl der Zeugen nicht mehr für alle Fälle vom Gesetz voraus bestimmt. (So Ruprecht 1328.) Aber noch mehr. Man fing an, ein Moment zu verwerten, das unter dem formellen Beweisverfahren eine ganz untergeordnete Rolle gespielt hatte, das Geständnis des Angeschuldigten. J a , dieses Bekennen zur T a t rückte gegen Ende des Mittelalters derartig in den Vordergrund, daß man es zum Mittelpunkt des gesamten Beweisverfahrens erhob. I n der Radolfzeller Halsgerichtsordnung von 1506 wurden Beweisregeln nur noch f ü r das Geständ nis aufgestellt und alle Kautelen getroffen, damit die Aussage der wirklichen Rechtslage entspreche. Was aber konnte nach der Auffassung derZeit sicherer und rascher zu einem Geständnis führen, als die Anwendung der Folter ? Wer nicht freiwillig gestand, mußte dazu gezwungen werden. D e r G e s t ä n d n i s p r o z e ß — wenn dieses Wort erlaubt ist — h a t t e z u r u n m i t t e l b a r e n F o l g e d i e ' T o r t u r . Das Verfahren mittels der Folter ist alt. Es ist aus dem römischen Recht übernommen worden und fand, anfangs gegen Sklaven angewandt, nur zögernd Eingang in Deutschland. Schon der Schwabenspiegel (375 III) kennt es aber gegenüber jedermann. I n den Städten ist auch das Prinzip am energischsten zur Durchführung gelangt, das einerseits dem kanonischen Recht, andererseits der sizilischen Gesetz-

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Geständnisprozeß.

gebung Friedrich II. entstammte, d a s I n q u i s i t i o n s p r i n z i p . Es wäre zuviel gesagt, dieser neue Rechtsgang sei in der Stadt entstanden. Die Tiroler Halsgerichtsordnung von 1499 verwertete das inquisitorische Verfahren schon im weitesten Maße. Aber die Städte, vor allem dank ihres Rates, schoben es im 15. Jahrhundert weit stärker in den Vordergrund als das Land. Ich denke an Worms, an Bamberg, an Radolfzell. Das Inquisitionsverfahren ging von dem Grundgedanken aus, das Schwergewicht in den Richter zu verlegen. In e i n e r Person waren Richter, Ankläger und Verteidiger vereinigt. Nicht mehr der Verletzte, sondern der Richter selbst machte den Strafanspruch geltend. Der Verletzte sank zum bloßen Anzeiger und Zeugen,'der Angeschuldigte zum Objekt der Untersuchung herab. Eine dem deutschen Geiste durchaus fremde Anschauung, der schärfste Gegensatz zum alten Akkusationsprozeß! Die Inquisition, stand insofern dem deutschen Denken entgegen, als sie die Tendenz nach H e i m l i c h k e i t u n d S c h r i f t l i c h k e i t d e s V e r f a h r e n s in sich barg. Jetzt, wo alle Gewalt beim Richter lag, durfte nicht mehr vor den Volksgenossen unter freiem Himmel verhandelt werden. Das Gericht zog sich in die Stuben der Rathäuser zurück. Hinter verschlossenen Türen wurde geheim und geheimnisvoll geredet. Und als im 16. Jahrhundert das System der Aktenversendung mehr und mehr um sich griff, da bekam das urteilende Gericht den Täter nicht einmal mehr zu sehen. Drei Jahrhunderte ließ sich das deutsche Volk diesen Prozeß gefallen. Noch ein letzter Zug der Neuerung aus dem Stadtrechtskreis sei hervorgehoben. Der deutsche Prozeß litt an einem übertriebenen Formalismus. Es ist für uns Heutige einfach unverständlich, wenn wir hören, daß jeder Fehler im Nachsprechen der gepreßten Wortformeln, ja ein Erbleichen und Stammehi während des Vortrages den Verlust des Prozesses oder wenigstens eine Buße (Wette) an den Richter herbeiführen konnten. Die „Gefahr" im Rechtsgang, die wir -schon kennen lernten (§ 18, 3), war bis ins Groteske gesteigert worden. Daher hatte das Vorsprechertum stark überhand genommen. Erklären läßt sich diese Übertreibung der Form vor allem aus der Geldsucht der Richter. Auch hier, wie so oft, führte das pekuniäre Element im Recht zu schweren Entgleisungen. Daher zeugt es von dem freien Sinn der Städte, daß sie seit Ende des 13. Jahrhunderts begannen, d i e F o r m s t r e n g e zu m i l d e r n . Im 14. Jahrhundert hatte die neue Anschauung gesiegt. Jene berühmte und berüchtigte'Formel: „Ein Mann, ein Wort", die besagt, daß der Mensch für seine Aussage einzustehen hat, auch wenn er im Irrtum und in Befangenheit war, sie trat zurück und machte einer formloseren Verhandlungsweise Platz. 4. Auch der Lebenskreis der Bauern, das Hofrecht, zeugte manche Eigentümlichkeit im Verfahren. Es bewahrte die altertümlichen Formen mit besonderer Zähigkeit, so etwa die Gottesurteile. Die Bahrprobe wurde noch im Jahre 1641 in St. Goar angewendet. Das Gemeindezeugnis, vor Gericht abgelegt und damit zum unanfechtbaren Gerichtszeugnis aufsteigend, kam zu häufigster Verwendung. Die engnachbarlichen Verhältnisse erklären das leicht. — Der Herr der Dorfgemeinde oder des Bannbezirkes mischte sich oft segensreich ein und übte da und dort eine ausgedehnte schiedsrichterliche Tätigkeit aus. Der Mangel an ordentlicher Rechtspflege und, wie es in einem moselländischen Weistum heißt, der Wille „zu Verhütung weitrer Verbitterung, Uneinigkeit und Unkosten", mögen

Lehnsprozeß.

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dieses Eingreifen des Herrn in vielen Fällen hervorgerufen haben. Man darf annehmen, daß auf dem Lande mehr Händel gütlich aus der Welt geschafft wurden, als in der Stadt. Im ganzen lebte der Bauer nach der Prozeßordnung des Landrechts. Irgendwie bahnbrechend sind die Eigentümlichfeeiten der Hofrechte nicht geworden. 5. Dagegen vermochte das Lehnrecht einen wohlaufgebauten, eigenen, zweckmäßigen Rechtsgang zu entwickeln. Der Sachsen- wie der Schwabenspiegel und auch der Richtsteig Lehnrechts zeugen von der prozeßbildenden K r a f t der feudalen Kreise. I n der Mitte des ganzen Prozesses stand das Lehngut. Dieses zu behalten oder zu verlieren, dieses zu fordern oder es herausgeben zu müssen, war der Hauptpunkt, um den es sich drehte. Da der Herr der Mächtigere war, sah das Verfahren ängstlich darauf, daß dem abhängigen Manne sein Recht nicht verkümmert wurde. Von den vielen Eigentümlichkeiten will ich hervorheben, daß etwa im sächsischen Recht als Beweismittel nur der Eid (ohne Helfer), Zeugen und, in geringem Umfang, das Gottesurteil vorkommen. Der Zweikampf, den man hier in vollster Blüte erwartet, ist nicht gestattet. Auch der Urkundenbeweis wird abgelehnt. Dagegen werden die Eigenschaften der Zeugen bis ins einzelne festgelegt. Grundsatz ist, daß nur Ritterbürtige Zeugen sein können, sowie mit Gut Beliehene. Die enge Verbindung von Grundbesitz und Zeugnisfähigkeit ist festgehalten. Nur wenn landrechtliche Dinge in Frage kommen, greift man auf die Normen des Landrechts hinüber (vgl. etwa Sachsenspiegel Lehnreeht. 40, § 1 und Schwabenspiegel Lehnrecht § 65). Auch das besondere, im Lehnrecht ruhende Treumoment tritt im Verfahren zutage. Der um eine Sache befragte Zeuge sagt aus bei der Hulde, die er seinem Herrn getan hat, wenn er Lehnsmann des beteiligten Herrn ist. Jedes Urteil kann vor seiner Verkündigung gescholten und bis zum höchsten Lehnsherrn, bis zum König gezogen werden. So erhielt sieh gerade im Prozesse die Erinnerung an die ureigenste N a t u r des Lehens als Reichsgut und an die ureigenste Natur des Lehnsdienstes als Reichsdienst. Von einem besonderen Rechtsgang im Kreise der unfreien Ritter, der Ministeriahen, ist nichts überliefert. 6. Ich muß mir versagen, die beiden interessantesten Arten der Rechtsverfolgung näher zu beschreiben. Es sind dies im kriminellen Bereich das Verfahren auf handhafter T a t und im Grenzbereich von Kriminal- und bürgerlichem Recht die Anefangsklage. D a s H a n d h a f t v e r f a h r e n , vor allem ausgebildet im Volksgericht, hatte sich die schwierige Aufgabe gesetzt, einerseits den Rachedurst des Menschen zu bezähmen, der den Missetäter auf frischer T a t ertappte, und andererseits den Verbrecher im Prozesse so schlecht zu stellen, daß seine Überführung ein leichtes war. In genialer Form ist die Aufgabe gelöst worden. Das Verfahren gipfelte in dem Ergreifen des Missetäters mit zusammengerufenen Schreimannen und in der Verteilung der Beweisrollen. Dem unverzüglich vor den Richter Geführten war das Hauptmittel des normalen Prozesses, der Reinigungseid, veraagt. Der Verletzte mit seinen Gehilfen durfte ihn überführen, galt er doch als ein friedloser Mann, der nur noch Objekt des Verfahrens sein konnte. Als Friedensbrecher war sein Kopf verwirkt. Eine prägnante Stelle des Lüneburger Stadtrechts von 1401 sagt: Wenn ein Mann den anderen beim Diebstahl erwischt, sei es beim großen oder beim kleinen Diebstahl, und vermag er ihn dabei festzuhalten, so soll er ihn gefangen und gebunden vor das Gericht bringen und sol

Tierprozeß. ihm die gestohlene Sache auf den Rücken binden und der Kläger soll ihn selbst.siebent (mit seinen 6 Schreimannen) überführen. Der abgeurteilte Verbrecher darf sofort gerichtet werden. Er wird am Galgen oder am nächsten Baum aufgeknüpft. Im engsten Anschluß an das H a n d h a f t v e r f a h r e n entwickelte sich d a s A n e f a n g s v e r f a h r e n . (Name von 4 e m feierlichen Anfassen des entwendeten Gegenstandes.) Es hatte den doppelten Zweck, die geraubte, gestohlene oder sonstwie abhanden gekommene bewegliche Sache wieder zu gewinnen, sowie den Täter herauszufinden und zu bestrafen. Die Anefangsklage war nicht die Klage des Eigentümers .wie die römische vindicatio. Sie war vielmehr die Klage aus früherem Gewahrsam und durfte von jedem angestellt werden, dessen Verlust der Gewere offenkundig war. In diesem Sinne stellte sie eine großartige Äußerung fies deutschen Publizitätsgedankens dar und gründete sich auf die Anschauung, daß der Gewerebruch einen Friedensbruch bedeute. I n i h r s e h e n wir d i e b e d e u t s a m s t e F a h r n i s k l a g e d e s M i t t e l a l t e r s , weit in die fränkische Zeit zurückweichend als einstmaliges Selbsthilfeverfahren. In neuester Zeit sind hübsche IWallelen mit dem griechischen und römischen Recht aufgedeckt worden. 7. A u c h d e r T i e r p r o z e ß m u ß n u r a n g e d e u t e t b l e i b e n . Das Mittelalter hatte aus der Lex Dei, namentlich aus Exodus XXI., 28 und 32, Recht und Pflicht zur Bestrafung schädigender Tiere aufgenommen. Weltliches wie kirchliches Strafrecht und uralte dämonische Anschauungen von Tierzauber und Tierseele verbanden sich zu einem Strafrecht und Strafverfahren höchst eigener Art. Die Wissenschaft ist diesen geheimnisvollen Kräften noch nicht überall auf dio Spur gekommen. Vielleicht ist die Meinung richtig, daß das Tier angesehen wurde als ein mit Menschen- und Dämonenseele begabtes Wesen, - so daß der Prozeß gegen das Tier als ein Verfahren gegen diese Gewalten galt und als Gespensterprozeß, als Dämonenprozeß aufzufassen ist. Ich bin überzeugt, daß kaum ein Gegenstand uns so tief in die Psychologie von Strafe und Rechtsgang einzuführen vermag, als die Beschäftigung mit Tierstrafen und Tierprozessen im Mittelalter. Noch im Jahre 1723 fällte ein badisches Gericht den Spruch, daß eine Eselin, mit welcher ein Mainn Unzucht getrieben, getötet und in vier Teile zerhauen werden sollte. Beide, Beklagter und Eselin, seien dann mit Feuer zu Pulver und Asche zu verbrennen und solche Asche müsse in die Erde vergraben werden.

V. A b s c h n i t t .

Die Landesfürstenzeit (1500-1800). § 40. Der Einfluß von Reformation und Renaissance auf Staat und Recht. Die Aufnahme des römischen Rechts. I. Außer dem 13. Jahrhundert wirkte keine Zeit eindringlicher und tiefer auf Staat und Recht ein, als die Zeit der Glaubensspaltung und der Wiedergeburt der Antike. Das 16. Jahrhundert war das Jahrhundert der großen Wandlung. Das 16. Jahrhundert gebar die gewaltigen, umgestaltenden Ideen, Ideen, die freilich zum Teil erst im 18. Jahrhundert zum Durchbruch gelangten (§ 53). Das

Glaubensspaltung.

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16. J a h r h u n d e r t bedeutete einen Kulturbrach in dem Sinne, daß neben eine alt«, noch heute nicht erstorbene, sich eine neue Kultur zu setzen begann. U n d da das Recht nichts anderes ist als e i n Element aus dem Gesamtbereich der Kultur, so t r a t notwendig neben altes viel junges, lebensvolles, fruchtbringendes, im höchsten Grade schöpferisches Recht. 2. Die Glaubensspaltung zerriß zunächst die große Harmonie des Mittelalters. Die Christenheit, die Respublica Christiana, war keine Einheit mehr. Neben die Papstkirche traten die Lutherkirche und die reformierten Kirchen. Das Verhältnis von Staat und Kirche im Sinne der Gesamtchristenheit vermochte fortan nicht mehr vom rechtlichen Standpunkt aus erfaßt zu werden. Einzig eine politische Richtschnur blieb übrig, welche die Abgrenzung der beiden Mächte ermöglichte. — Mit der Glaubensspaltung verdoppelte sich die Raschheit des Differenzierungsprozesses im Leben. Schon im 14. und 15. Jahrhundert begannen sich die einzelnen Daseinsgebiete zu trennen, begann das Recht n e b e n die Sitte, n e b e n die Kunst, n e b e n die Religion zu treten. An die Stelle einer Gesamtwahrheit traten Teilwahrheiten. Die reformatorische Aufklärung beschleunigte das Tempo dieser Entwicklung und grenzte das Recht immer mehr als ein eigenartiges, gesondertes Lebensgebiet ab. Das eindringende römische Recht und der aufdringliche, römisch geschulte Juristenstand brachten dann innerhalb der Rechtswelt selbst große Verschiebungen. Es zweite sich vom Volksrecht ein Juristenrecht ab. Ep lösten sich öffentlichrechtliche Normen und privatrechtliche Normen voneinander los. E s bahnte sich die Scheidung an, die bis zum heutigen Tag jedes Rechtssystem eines Kulturstaates beherrscht. 3. Die Reformatoren haben f ü r ihre Kirchen die hierarchische Ordnung aufgelöst und jeden Menschen Gott gegenüber auf sich selbst gestellt. „Es ist unter den Christen kein Oberster, wenn nur Christus selber und allein. Und was kann da f ü r Obrigkeit sein, da sie alle gleich sind und einerlei Recht, Macht, Gut und Ehre haben" . . . sagt Luther. Zündend mußten dies© Gedanken auf das Recht wirken. Die Folge war, daß man begann, den einzelnen weit mehr als Persönlich keit zu werten, denn früher. Das Individuum erschien nicht mehr ausschließlich als Glied einer Familie, als Genosse einer kleinen oder großen, geistlichen oder weltlichen Gemeinschaft. Weit stärker als bisher sollte der Mensch in geistlichen wie in weltlichen Dingen ein eigenes Dasein führen. Das römische Recht mit seinem individuellen, antigenossenschaftlichen Wesen t r a t dazu und führte auf manchen Gebieten den Individualismus zu raschem Siege. J e t z t setzte die individualistische Behandlung der Persönlichkeit ein und schuf sich ihr vom öffentlichen Rechte grundsätzlich verschiedenes Privatrecht. Freilich h a t auf politischem Gebiete das fremde Recht zunächst gerade den gegenteiligen Erfolg ausgelöst. Es war mächtiger als die reformatorischen Ideen und drängte das Volk in eine immer unselbständigere Rechtslage. ,,Naeh der verabscheuungswürdigen Lehre der neuen Rechtsgelehrten soll der Fürst im Lande alles sein, das Volk aber nichts", schreibt Meister Wimpheling ums J a h r 1510. J a die Reformatoren selbst1, waren äußerst vorsichtig mit der Proklamation politischer Freiheit. So gewährte selbst Calvin nur eine „liberté bien temperée" und f ü r Luther waren Staat und Obrigkeit identische Begriffe. Der Staat erschien ihm als Regiment über die Untertanen. „Von weltlicher Obrigkeit".)

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Renaissance.

4. Reformation und Renaissance ergänzten sich im Bereiche des Staatslebens. Die eine Macht stellte das Korrektiv gegenüber der anderen dar. Die Reformation schied die Geister in zwei Hälften, in zwei Gruppen, die sich befeindeten und bekriegten und alle Dinge im Staat unter dem Gesichtspunkt des religiösen Gegensatzes behandelten. Unendlicher H a ß und unendliche Gehässigkeit traten zutage. Die Menschen hätten sich selbst zerrieben, wären sie nicht einer höheren Gewalt unterworfen worden. Diese Gewalt stellte der Landesherr dar. Die Richtung auf die Antike brachte neben Gedankengängen, die der griechischen Staatenwelt entlehnt waren, die römischrechtlichen Vorstellungen vom allmächtigen Pürsten, die in den italienischen Tyrannenstaaten bereits Verwirklichung gefunden hatten. Man entnahm dem römischen Recht den Begriff des* absoluten Staates, d. h. der Staatsform, in welcher alle Gewalt im Fürsten gipfelte, in einem Herrscher, der mit Hilfe eines bureaukratischen Verwaltungssystems den Staat regierte. Was man erstrebte, motivierte man mit dem römischen Recht. Nur ein gefestigtes Staatswesen war den zerreibenden Tendenzen der Glaubensspaltung gewachsen und das Interesse am Staate selbst wuchs gewaltig. Einzig ein solches Staatswesen vermochte das Ziel der Rechtsordnung als einer Friedensordnung zu erringen. E s ist erreicht worden, und führte schließlich zu einer Festigkeit des Staates, wie sie früher nie geahnt worden war. Der Landesherr schwang sich nicht nur zum alleinigen Inhaber der Staatsgewalt auf, sondern auch zum Inhaber der obersten Kirchengewalt. Er wurde in evangelischen Territorien der summus episcopus. Überall bestimmte er die kirchliche Zugehörigkeit seines Landes und vermochte den Andersgläubigen aus seinen Grenzen auszutreiben. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 hatte den weltlichen Reichsständen das Recht der Religionswahl verliehen. Es galt fortan die Norm: cujus regio, ejus religio. Mit diesem staatlichen und kirchlichen Zusammenschluß war die Gliederung des Deutschen Reiches in Einzelstaaten endgültig festgelegt. Reformation und Renaissance haben die Erstarkung der Territorien zu einheitlichen Staatsgebilden mit eigenem Leben in Welt und Kirche unvermeidlich gemacht. J a Reformation und Renaissance haben auf dem staatlichen Unterbau, den sie in Deutschland vorfanden, die Auflösung des Reiches in aller Stille vorbereitet. 5. Die kaiserliche Gewalt büßte durch die Reformation wesentlich von ihrer K r a f t ein. Sie h a t das Entgangene nie mehr nachzuholen vermocht. D e r entscheidende Schritt war der Übertritt der süddeutschen Reichsstädte zur evanglischen Kirche. Die Reichsstädte stellten mit ihren finanziellen Hilfsquellen die stärkste Stütze des Kaisers dar. Der schwäbische Bund gab dem Herrscher die Mittel an die Hand, die ihm keine Reichsbehörde zu gewähren vermochte. E r trat namentlich in die Lücke eines fehlenden Vollzugsorgans ein. 1533 wurde dieser Bund nicht mehr erneuert. Die Städte wandten sich vom katholischen Herrn des Reiches ab. 6. Mit dem 16. J a h r h u n d e r t bahnte sich in Deutschland auch ein neuer Wirtschaftsgeist an. Schon während des 15. Jahrhunderts stiegen große Handelshäuser auf, und die sog. Reformation Kaiser Sigmunds (aus dem Ende des Jahrhunderts) klagte über das Wesen der emporgekommenen Gesellschaften, die „ g r o ß kaufmanschatz treibent". Mehr und mehr war die Geldwirtschaft in den Mittelpunkt des Verkehrslebens getreten, ein notwendiges Ergebnis des städtischen

Rezeption.

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Handels. Geldwirtschaft aber in breitester Fülle konnte nur gedeihen, wenn die mittelalterliche Zinsschranke fortfiel. Die kanonistische Wirtschaftstheorie, welche das Zinsnehmen vom Kapital grundsätzlich untersagte und den Zwischenhandel verhindern wollte, mußte beseitigt Werden. Calvin und Luther haben den ersten großen Schritt dazu getan, indem sie das zinsbare Darlehn als Ausnahme erlaubten u n d dem Kapital freiere Bewegung gestatteten. Arbeit und Erwerbssinn wurden ethisch vertieft und sittlich gerechtfertigt. Der Geist der neuen Geldwirtschaft, zusammen mit dem neuen Geist des späteren Calvinismus (und dem daraus erwachsenden Puritanertum), schufen den Wirtschaftsgeist, den wir Kapitalismus nennen. Denn Kapitalismus bedeutet nicht die Verwendung großer oder größerer Mittel im Wirtschaftsleben. Kapitalismus bedeutet eine Wirtschaftsgesinnung, eine Geistesrichtung, welche mit dem Prinzip der Bedarfsdeckung bricht, welche auf unbegrenzte Vermehrung von Kapital gerichtet ist, welche nach Geld verlangt um des Geldes Willen. Niemand wird behaupten, dieser neue Geist habe plötzlich um sich gegriffen. Aber richtig scheint die Ansicht, daß starke Wurzeln des neuen Systems in der Reformationszeit liegen und daß die Reformatoren sowie das römische Recht das kapitalistische Streben begünstigten. 7. W a s w a r e n d i e G r ü n d e f ü r d i e A u f n a h m e d e s r ö m i s c h e n R e c h t s in D e u t s c h l a n d ? Wie ereignete sich der merkwürdige Vorgang, den wir mit dem Namen der Rezeption bezeichnen ? Denn es ist wahrhaftig merkwürdig, daß das Deutsche Reich ein fremdes Recht einließ, das mehr als zwei Jahrhunderte seine Herrschaft aufs empfindlichste behauptete. Wobei wir freilich nicht vergessen wollen, daß auch andere Länder Zeiten großer Rezeptionen durchzumachen hatten und daß schon in fränkischer Zeit römisches Recht Eingang gefunden hatte. Unter den zahlreichen Gründen, welche im Wege der Gewohnheit das römische Recht in Deutschland einführten, hebe ich die drei wichtigsten hervor, a) Das Eindringen des römischen Rechts war ein Vorgang innerhalb der Renaissance. War das Auge im 15. und 16. Jahrhundert einmal auf die Antike eingestellt, warum sollte es sich schließen, wenn einer der gewaltigsten Faktoren, wenn das Recht im Spiele stand ? Man darf dabei nicht vergessen, daß das Deutsche Reich als die Fortsetzung des römischen galt. Die biblische Vorstellung von der Sukzession der Reiche lebte in den Köpfen Aller. Auch ist bekannt, daß die Renaissance den Willen zu wissenschaftlicher Vertiefung auf allen Lebensgebieten brachte. Einer solchen Vertiefung aber waren in erster Linie die in Bologna, Paris und Pavia geschulten Theologen und Juristen fähig, die mit unbändigem Stolze auf das „barabarische" deutsche Recht herunterschauten, b) Schon das 15. J a h r hundert wandte sich einer strafferen Organisation der landesherrlichen Gebiete zu. Die Landeshoheit bedurfte eines festeren inneren Ausbaues. Nichts war dafür geeigneter, als das römische Recht mit seinem absoluten Imperium. Wir erinnern uns, wie einst die Staufer den gesamten deutschen Staat auf der Grundlage des römischen Prinzipates aufbauen wollten. Der Versuch scheiterte damals im Reiche. Drei Jahrhunderte später glückte er im Einzelstaat. Die Glaubensspaltung h a t die Sehnsucht nach staatlicher Ordnung mit Hilfe fürstlicher Autorität noch wesentlich gefördert, wie eben beschrieben. Vom Staatsrecht her, vom Landesherrn selbst, wie von seinen Richtern und Räten ist der Ansporn zur Rezeption ausgegangen, c) Freilich, auch der Stand des Privatrechts veranlaßte die Auf-

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Corpus juris.

nähme der fremden Pflanze. Man hat gesagt, das deutsche Recht hätte einen zu ausgeprägten landrechtlichen Charakter besessen, hätte zu wenig den beweglichen Besitz, Handel und Verkehr berücksichtigt. Gewiß, diese Schwäche haftete dem deutschen Recht an und die Wahrheit ist nicht zu umgehen, daß ein fein durchgebildetes Schuldrecht nur durch Juristen hervorgebracht werden kann. Die römischen Juristen waren darin Meister. Aber das deutsche Recht hätte «ich vielleicht zu einer größeren Freiheit und Beweglichkeit auch im Verkehrsrecht umformen lassen, wie dies die Stadtrechte, am deutlichsten niederländische Stadtrechte, beweisen. Ein anderes Moment wurde daher noch wichtiger: die ungeheuere Zersplitterung des deutschen Rechts und der infolge dieser Zersplitterung herrschende unsichere Zustand. Die Auflösung in die Tausende einzelner Rechtsgebiete hat yns schon beschäftigt (§ 37). Da nun die Ordnung in diesen Gebieten großenteils auf Gewohnheitsrecht ruhte, das sich oft widersprach, und schwer bewiesen werden konnte, so entstanden unendliche Streitigkeiten, zunächst schon über die Frage, welches Recht zur Anwendung gelangen sollte. Bevor man materiell in den Prozeß einzutreten vermochte, mußte festgestellt werden, kraft welchen Rechts geurteilt werden konnte. Der tüchtige Peter von Andlau hat im Jahre 1460 sehr plastisch gesagt: „Man lebt nach einem unsicheren Gewohnheitsrecht und in der ungebildeten Menge will Jeder, daß das, was ihm in seinem willkürlichen Belieben gut dünkt, in den Gerichten als verbindlich betrachtet werde." Für den Richter war dieser Zustand zum Verzweifeln.- Der Wunsch nach einem sichern, einheitlichen Recht, die Sehnsucht nach einem fest geformten Recht, hat im Bereiche des Privatrechts die Rezeption veranlaßt. Daß der höchste Gerichtshof des Reichs, das neu gegründete Reichskammergericht (1495), besonders stark an einem solchen Recht interessiert war, ist nicht verwunderlich. 8. Zur Aufnahme gelangte nicht das reine römische Juristenrecht (Institutionen und Pandekten von 533 und der Kodex von 534). Rezipiert wurde das italienischrömische Recht, das in Italien durch die Juristen Verkehrs- und handelsfreundlich umgestaltet worden war. Nur die glossierten Rechtssätze des Corpus juris Civilis fanden Anerkennung und unter den verschiedenen Glossen siegte allmählich die des Accursius. Daneben wurden eingeführt das Corpus juris Canonici (fortan auch den weltlichen Richter bindend) und das langobardische Lehnrecht (die libri feudorum). Man glaubte im 16. Jahrhundert an eine sogenannte Rezeption in complexu, d. h. es galten grundsätzlich alle glossierten Stellen des Corpus juris als aufgenommen. Stützte man sich also im Beweisverfahren auf einen römischen Rechtssatz, so brauchte dessen Geltung nicht besonders dargetan zu werden. Später änderte sich diese Auffassung vielfach. Da nämlich die Rezeption nicht durch ein Gesetz, sondern auf dem Wege der Gewohnheit erfolgt war, so gelangte man nachmals zur Überzeugung, es habe nur diejenige römische Norm Anspruch auf Rechtskraft, die im Laufe der Zeit gewohnheitsrechtlieh wirklich zur Anwendung gelangt sei. Trotzdem der Kaiser und die Landesherren, die obersten .Richter und Räte, sowie die größte Zahl der Gelehrten dem römischen Recht günstig gesinnt waren, erlangte es nur subsidiäre Bedeutung. D a s r ö m i s c h e R e c h t g a l t nur, w e n n i h m n i c h t ein d e u t s c h e r R e c h t s s a t z e n t g e g e n s t a n d . Aber praktisch bedeutete dies wenig in Gebieten, denen umfassende und festgeformte Rechts-

Kapitulationen.

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quellen deutscher Art fehlten. Zudem verschob sich das Beweisrecht völlig zuungunsten unseres einheimischen Rechts. Daher überwältigte das fremde Recht im ganzen rasch das angestammte Recht. Abgesehen etwa vom sächsischen Rechtsgebiet, das immer noch von der Kraft des Sachsenspiegels lebte, und von der Schweiz, die i das Reiphskammergericht nicht anerkannte, drang es durch alle deutschen Gaue. Begreiflich, daß neben dem kanonischen Recht dieses Juristenrecht aufs eifrigste von den Universitäten gepflegt und verhätschelt wurde. J a , einzelne Hochschulen wurden unmittelbar gegründet, um die absolutistischen Staatsideen, die das römische Recht brachte, wissenschaftlich zu befestigen. Eine solche Gründung war die märkische Landesuniversität Frankfurt a. O. (1506). — Segen wie Unheil hat das neue Recht in Deutschland gestiftet. Es gab Festigkeit und gebar neues Leben, zerstörte aber manch brauchbares deutsches Rechtsinstitut. Unerträglich war der Dünkel vieler aufgeblasener Romanisten, welche gute, alte deutsche Gewohnheiten auffaßten als „aberrationes jurisprudentiae romano Canonico germanieae". «Der Bogen war überspannt. Ein Rücklauf konnte nicht ausbleiben. Aber erst das 18. Jahrhundert fand dazu Mut und Willen. § 41. Das Reich und seilte schweren inneren Gegensätze. 1. A l l g e m e i n e s . Überblickt der Jurist das Deutsche Reich in den letzten drei Jahrhunderten, so überfällt ihn ein Mißmut. Nicht weil das Reich keine g e s c h r i e b e n e Ver-, fassung besaß, nach welcher der Kaiser hätte den Staat lenken können. Nicht weil die Fürsten mit voller Energie auf Schwächung der Reichsgewalt und auf Stärkung ihrer Landeshoheit hinarbeiteten. (Darüber im § 46.) Auch nicht weil Bruderkriege, namentlich Religionskriege, die staatliche Ordnung aufs tiefste erschütterten. Nein, der Jurist wendet sich ab, weil ihm der Zeitraum von 1500—1:800 mit erschreckender Deutlichkeit vor Augen führt, wie ein Staat zugrunde gehen muß, wenn sein Recht zur leeren Formel geworden, wenn Macht und Ohnmacht immer wieder eine Rechtsordnung stören, wenn Rechtssätze aufgestellt werden, die Zu beobachten kein Mensch gesonnen ist. An diesem Widerspruch, an dieser inneren Unwahrheit ist das Reich zerschellt. Hätte sich nicht um das Kaisertum, als altehrwürdige Einrichtung (nicht um den Kaiser als Person, sondern um ihn als Symbol), ein gewisser mystischer, hehrer, unantastbarer Glanz verbreitet, das Reich hätte nicht noch 300 Jahre sein Maskendasein führen können. Aus der Fülle der Beispiele nur zwei typische. Im Jahre 1495 setzte man, wie wir wissen, das Reichskammergericht ein. Es sollte endlich den verwilderten Zuständen ein Ende machen und durch eine geregelte Rechtsprechung Friede und Ordnung im Reiche befestigen. Aber man gab dem Gericht nicht die vorgeschriebene Richterzahl, so daß 1521 bereits über 3000 unerledigte Prozesse vorlagen. Auch schuf man keine wirksame Vollstreckungsbehörde, so daß seine Urteile wie ohnmächtige Phantome in der Luft schwebten. Oder: Die Reichsstände engten schon im Mittelalter den Kaiser durch Versprechungen ein, die er vor seiner Wahl abgeben mußte. (Wahlkapitulationen, entstanden aus Sonderverträgen zwischen Kurfürsten und Kaiser.) Als Karl V. gewählt werden sollte, faßten die Kurfürsten eine ausführ- liehe Kapitulation schriftlich ab (1519), und diese diente für die weiteren Wahlen

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Deutsches ReicÖ.

als Grundlage. Der westfälische Frieden sah eine neue Wahlkapitulation vor, weil die Kurfürsten (1612) begonnen hatten, einige Stellen der Kapitulation „zu ihrem eigenen Vorteil einzuverleiben". Es geschah aber nichts bis 7,711. Dann wurde von Fürsten und Kurfürsten eine neue Konvention vereinbart, die aber am Widerspruch des Reichsstädte-Kollegiums scheiterte. Sie war niemals Gesetz geworden und bildete trotzdem die Grundlage für alle weiteren Wahlen. Diese Kapitulationen waren eine Sache reiner Macht. Sie verpflichteten den Erwählten zu Einschränkungen, die m i t dem Fortbestand einer kräftigen Reichsgewalt unvereinbarlich waren. Kein Wunder, daß die Auflösung des Reiches im J a h r e 1806 auch ein Akt der Willkür und kein Akt des Rechts war. Die Niederlegung der Krone durch die Erklärung Franz II. vom 6. August bedeutete tatsächlich das Knde des Reiches ? während einzig ein Auflösungsbeschluß des Reichstages, sanktioniert durch den Kaiser, das Reich hätte rechtlich zerstören können. Was konnte man von einem Staat verlangen, der nach dem Ausspruch der eigenen Glieder nur noch „den leeren Schein einer erloschenen Varfassung"' darstellte! (Erklärung vom 1. August 1806.) 2. F o r t s e t z u n g . Ein zweiter, ungeheurer Mißstand war die Unbestimmtheit vieler Rechtsverhältnisse. Das Recht will seinem innersten Wesen nach eine Richtschnur sein f ü r das Handeln der Menschen. Es will objektive, bestimmte, bindende Normen geben. Ein sicheres Recht ist noch wichtiger als ein gutes Recht. Gegen diesen schwerwiegenden Satz verstieß das Reich und ließ jahrhundertelang viele Dinge im unklaren. Ein Beispiel: Man wußte bis zum Ende des Reiches nicht, ob ein Reichsstand das Recht besitze, Reichsgesetze, „die von keinen die Staats-Verfassung des Teutschen Reiches angehenden Sachen handeln, sondern nur Privatund Bürgerliche Gesetze begreiffen, in seinen Landen abzuändern 14nd ein anderes einzuführen". (Moser.) Man war sich also uneinig über eines der wichtigsten Fundamente der gesamten Reichs- und Landesgesetzgebung. Daher bestand auch volle Ungewißheit über die rechtliche Natur des Reiches selbst. War es noch ein Éehnreich? Oder war es nach rein staatsrechtlichen Gesichtspunkten zu erfassen, etwa als Monarchie, als Aristokratie oder als Republik ? War es ein Einheitsstaat oder ein Gesamtstaat? Unendlich viel Scharfsinn ist auf die Ergründung des Problems verwendet worden. Das Beste h a t darüber geschrieben Samuel von Pufendorf: Severinus de Monzambano. De Statu Imperii Germanici. 1. Ausgabe 1667, der zu der verzweifelten Auskunft gelangte, das Reich sei staatsrechtlich nicht klar zu begreifen, es stelle ein juristisches Monstrum dar. Und das ist ganz richtig. Denn das Reich kann nicht aus irgendeinem Einheitsgedanken, sondern nur aus seinen Gegensätzen verstanden werden. Und diese Gegensätze waren politischer, konfessioneller und rein rechtlicher N a t u r . Staatsrechtlich läßt sich nur sagen, daß das Reich in der Theorie bis zu seinem Ende als ein Lehnreich galt, wie dies z. B. noch die Wahlkapitulation von 1711 (Art. 11) deutlieh ausspricht. Die Fürsten waren Vasallen. Ihre Gebiete stellten Reichslehen dar. Aber das Lehnrecht war völlig verwässert. I n der Praxis betätigte sich das Reich — besonders seit 1648 — als ein aus Einzelstaaten zusammengesetzter Gesamtstaat mit energischem staatlichen Leben in den Einzelstaaten, mit wenig Saft und K r a f t im Reiche selbst. Man hat es ein Konföderationsreich

Kaiser und Reich.

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genannt, in welchem staatliche Natur nur die Territorien besessen hätten. Dooh wird diese Auffassung dem Reiche nicht gerecht. Denn es ist nicht zu vergessen, daß das Reich eine eigene Gesetzgebung besaß, an welcher der Kaiser mit einem Veto- und Sanktionsrecht beteiligt war, daß es ein sehr einflußreiches Organ hatte, das Reichskammergericht, und daß der Kaiser nach außen das Reich vert r a t , wie man einen Staat vertritt. 3. K a i s e r u n d R e i c h . Einer der bedeutsamsten Gegensätze bestand zwischen dem Kaiser und den Reichsständen. Ein Stand des Reiches war „eine Person oder Commun (d. h. eine Reichsstadt), -welche nicht nur, entweder in Ansehung ihrer Person, oder gewisser Güter, oder beeder, ohnmittelbar unter dem Kayser stehet, sondern auch auf denen Reichs-Tagen des Teutschen Reichs entweder gantz eigene Sitz und Stimme, oder doch an der Stimme entweder eines gantzen Collegki z. E. der Reichs-Grafen, oder nur auch k eines einzelnen Standes, folglich an des Reiches Regierung Theil h a t " (Moser). Zu den Reichsständen zählten also Kurfürsten, Fürsten, Prälaten, Grafen, freie Herren und Reichsstädte. Ganze Bände füllen die Klagen über die auseinandergehenden Bestrebungen im Reich. Der Kaiser war darauf bedacht, die Reste seiner Gewalt zu retten und seine Hausmacht zu stärken, die Stände dahin gerichtet, die Reichsgewalt allein in ihre Kollegien auf dem Reichstag zu verlegen und sich Organe zu verschaffen, welche ihnen die Mitregierung sicherten. Die Verschiebung der Reichsverhältnisse zugunsten der Stände läßt sich deutlich verfolgen in der verschiedenen Auslegung der bekannten Formel: „Kaiser und Reich". Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts drückte die Formel keinen Dualismns aus. „Kaiser und Reich" bedeutete das Reichsganze mit der Verkörperung des Ganzen im Kaiser. Dann aber machte sich rasch die Auffassung geltend, in dieser Wendung sei die Zweiheit im Reiche ausgedrückt, auf der einen Seite stehe der Kaiser mit seiner Gewalt, auf der anderen die Stände mit eigener Gewalt. In der Tat war es so geworden: Kaiser und Stände („Reich") t r ä t e n sich staatsrechtlich als nebengeordnete Mächte gegenüber und verzehrten mit ihren widerstrebenden Interessen jeden fruchtbaren Reichsgedanken. Streitig aber war bis zum Ende des Reichs die Frage nach der Verteilung dieser Gewalt. H a t t e der Kaiser nur die Gewalt, die ihm von Seiten der Stände eingeräumt war ? Oder besaß der Kaiser alle Gewalt außer jenen, deren er sich — namentlich durch die Wahlkapitulation — ausdrücklich begeben h a t t e ? Diese eminent politische und rechtliche Frage wurde bald im einen, bald im anderen Sinne beantwortet, je nachdem das abgegebene Gutachten auf kaiserlicher oder auf ständischer Seite stand. Eine abschließende Antwort vom Rechtsstandpunkt aus ließ sich nicht erteilen. Doch h a t die Ansicht vom Fortbestand eigener Rechte des Kaisers mehr f ü r sich. 4. D a s R e i c h s r e g i m e n t . Den größten Erfolg auf verfassungsrechtlichem Gebiete erzielten die Stände durch die E i n s e t z u n g d e s R e i c h s r e g i m e n t s , eine Frucht der Reformhewegung, die unter Kaiser Maximilian mit Nachdruck einsetzte. Es war eine Reichsbehörde ständischer Natur, welche ein Hauptstück der Reichsverwaltung, u. a. auch die auswärtige Politik, übernahm. Auf dem Augsburger Reichstag (Juli 1500) wurde das Regiment ins Leben gerufen, „Aus Notturfft der Christenheit und deß Reichs" F e h r , Deutsche Eechtsgeschichte.

i. Aufl.

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Reichsstände.

wie die Regimentsordnung sagte. Es bestand aus 26 Mitgliedern. Der König oder dessen Stellvertreter führten den V.orsitz. Aber das wohl Begonnene hatte keinen Erfolg. Der Kaiser sah sieh durch diese oligarehische Regierung seiner Hauptgewalt entkleidet und die Stände, die sie doch gewollt (vielleicht unter französischen Einflüssen!), erwiesen sich zurückhaltend und teilnahmslos. Sie wurde 1502 aufgelöst. 1521—1530 b e s t a n d e i n z w e i t e s R e g i m e n t , das aber nur in Abwesenheit des Kaisers wirksam sein sollte (§ 9 der Ordnung). Widerwillig h a t t e Karl V. nachgegeben. „ E r lasse sich nicht wie einen Unmündigen unter Kuratell stellen", ließ er die Stande wissen. Doch diese griffen zur Schraube, von der wir oben gesprochen: sie nahmen die Regimentsklausel in die Wahlkapitulation auf und bändigten auf diese Weise den Widerstrebenden. Dieses zweite Regiment, im großen und ganzen ein ständischer Regierungskörper gleich dem ersten, hatte aber wiederum keinen dauernden Erfolg. Nach der Wahl Ferdinands I. hörte das Regiment auf und ist nie wieder erstanden. 5. G r o ß e u n d k l e i n e R e i c h s s t a n d e . Mit diesen Regimentswirren haben wir bereits einen neuen, tiefen Gegensatz angeschnitten, ich meine den politischen und rechtlichen Zwiespalt, der sich zwischen großen, selbständigen, einflußreichen, unbeugsamen. Reichsständen und Landesherren einerseits und kleinen, unbedeutenden, auf fremde Hilfe angewiesenen Dynasten andererseits ergab. Nicht nur, daß sich die Landeshoheit und damit die staatliche Selbständigkeit dem Reiche gegenüber rascher in größeren Gebieten befestigte, nein, auch in ihrer Eigenschaft als Reichsstände, also innerhalb des Reichstages, traten die Großen den Kleinen gegenüber. Ein klassischer Fall ist folgender. Es war bis zur Auflösung des Reiches bestritten, ob in Steuersachen das Majoritätsprinzip gelten sollte und ob Steuerbeschlüsse auch jene Reichsstände bänden, die auf dem Reichstag nicht erschienen waren. Als sich im Jahre 1641 der Reichstag wieder versammelte — fast 30 J a h r e lang war er nicht mehr zusammengetreten — da wollte der Kaiser von ihm Geld bewilligt erhalten. Und was t a t er? E r sicherte sich eine Anzahl der größten Reichsstände, indem er sie von der künftigen Zahlung entband und ihnen noch andere Zusagen gewährte. „So waren es wesentlich n u r eine Anzahl mittlerer und kleiner Reichsstände, die den Kampf gegen das kaiserliche Ausbeutungssystem führten, die Braunschweiger voran, .Magdeburg u. a . " I m 17. Jahrhundert t r a t der Gegensatz zwischen Fürsben und Kurfürsten immer schärfer hervor. Man fand es hauptsächlich ungerecht, daß die Kurfürsten allein die Befugnis hatten, dem zu wählenden Reichsoberhaupt die Kapitulationen vorzulegen. Daher erklärten die Fürsten im J a h r e 1727, sie wollten sich den „Electoralibus" soviel als möglich gleichhalten. Die Folge aller dieser E i n z e l b e s t r e b u n g e n war ein scharf herv o r t r e t e n d e s E i n u n g s w e s e n . Die Gruppen gleicher Interessen taten sich zusammen und schlössen Verbände. Die obersten Fürsten bildeten den „Churfürstenverein" (der u. a. sich wehrte gegen die Schmälerung der kurfürstlichen Rechte durch den Kaiser), die Fürsten einten „Fürstenverein", der als einzigen idealen Zwefck vorgab, „Heil und Wohlfahrt des römischen Reiches" zu sichern (1693), der aber zu Beginn des 18. Jahrhunderts sein Programm offen ausrief: er wolle das „reichsfürstliche gesamte Beste". Innerhalb der einzelnen Gruppen machten sich Sondergruppen geltend, wie etwa der Verein der rheinischen Kur-

Katholiken und Protestanten.

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fürsten (1519) mit seinem großen Einfluß auf das Reichskammergericht, oder der Verein der evangelischen Fürsten. Wo man hinsah, ein Bild der Vielheit statt der Einheit, der Zerbröckelung, statt einer breiten gemeinsamen Aktion. Daß sich einzelne Stände nicht scheuten, sogar mit auswärtigen Mächten in Verbindung zu treten, zeigt der Rheinbund von 1658, der gegen die habsburgische Hausmacht gerichtet war und mit Frankreich ein Bündnis einging. Der zweite Rheinbund von 1806 erwies sich bekanntlich als die gefügige Maschine seines Protektors Napoleon und bedeutete bereits das Ende des Reiches. Der alte Koloß war solchem Einigungs- und Bündniswesen nicht mehr gewachsen. Auf rein politischem Gebiete bewegten sich der zunehmende Gegensatz von Preußen und Österreich. Seit dem 17. Jahrhundert wurde die Entfremdung ihrer Landesherren und ihrer Lander so stark, daß er die unheilvollste Wirkung für die Reichseinheit in sich barg, besonders als "Preußen im 18. Jahrhundert das Haupt der Bündnispolitik wurde, -r- Auch der Gegensatz zwischen Stadt und Land darf nicht übersehen werden. Vor allem die Reichsstädte verfolgten ihre eigene Politik. Sie gingen zum Teil mit dem Kaiser zusammen gegen die größeren Landesherren vor. Im schwäbischen Bund stellten sie eine außerordentlich starke Macht zugunsten Österreichs dar. Nur mit Hilfe dieses Bundes vermochte der Kaiser Württemberg zu überwältigen. J e mehr wir uns der neuesten Zeit nähern, um so mehr verblaßte aber der Einfluß der Reichsstädte. Sie wurden in eine immer isoliertere Lage gedrängt, in der sie keine Rolle mehr spielten. Ihre geringe Bedeutung im Reichstag ist nachher zu zeigen. 6. K a t h o l i k e n - u n d P r o t e s t a n t e n . Am leidenschaftlichsten gebärdet sich der Mensch in Sachen «les Glaubens. Daher konnten die Glaubenskonflikte im Reiche einzig mit der Waffe gelöst werden. 43 Gebiete, davon 28 Städte, waren bis Ende 1525 zur Reformation übergetreten. Der Reichstag zu Speyer hatte 1526 das jus reformandi den Standen zugesichert, d. h. das Recht, „alle diejenigen kirchlichen Ordnungen im Lande einzuführen, von deren Christlichkeit und Zwfeckmäßigkeit die Fürsten und Republiken sich überzeugt hätten". D a s R e i c h h a t t e auf die F e s t s e t z u n g der R e l i g i o n keinen E i n f l u ß mehr. Der L a n d e s h e r r b e s t i m m t e für sich und seine U n t e r t a n e n die k i r c h l i c h e Z u g e h ö r i g k e i t . Das Reich hatte auf konfessionelle Einwirkung verzichtet. Seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, wonach weder der Kaiser noch die Stände einen „Stand des Reiches von wegen der Augspurgischen Confession und derselbigen Lehr Religion und Glaubens halb mit der That gewaltiger Weiß (d. h. mit Krieg) überziehen sollten", hatten die Landesherren endgültig das Recht, zu bestimmen, ob die katholische oder augsburgische Religion in ihren Gebieten gelten sollte. Katholiken und Protestanten standen sich-als gleichberechtigte Religionsgesellschaften gegenüber. In den reformierten Ländern besaßen die Bischöfe fortan keine Jurisdiktion, d. h. Regierungsgewalt mehr. Der dreißigjährige Krieg, die furchtbarste Katastrophe, welche Deutschland sah (namentlich in ihren Wirkungen), schloß mit der erneuten Anerkennung des Reformationsrechts zugunsten der Landesherren. Dieses Recht wurde nicht als Ausfluß der landesherrlichen Gewalt angesehen, sondern als ein mit ihr untrennbar verbundenes Recht, das die Landstände und die Untertanen ihrem Pürsten gewährt hatten. Eine Abänderung der einmal angenommenen Religions11»

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Reichsbehörden.

Verfassung vermochten daher nur diese drei Mächte zusammen durchzusetzen (Osnabrücker Friede Art. V § 33). Neben den Katholiken war den beiden Bekenntnissen der Augsburgischen (den Lutherischen, wie den Reformierten) gleiche Anerkennung zugesichert. Freigegeben war der Glauben, die erste, große Erscheinung des Toleranzgedankens! Denn die reichsrechtlichen Bestimmungen bezogen sich nur auf die äußerlich bekundete Übung der Religio^. Der Zwang zu religiöser Betätigung war fortan wider Recht. — Der letzte tiefe Eingriff des Reiches erfolgte im Reichsdeputationshauptschluß von 1803, der fast alle reichsunmittelbaren Kirchengebiete verweltlichte und die Landesherren aufforderte, vor allem Stifte und Klöster, die in ihren Territorien lagen, zu säkularisieren. Dies sind einige Grundlagen der äußeren Geschichte. Welche Wirkung übten nun die Glaubensspaltung - und die Friedensschlüsse in Religionssachen aus ? Ich nehme eine Einwirkung nach vier Richtungen an. a) D e r r e l i g i ö s e Z w i e s p a l t b e m ä c h t i g t e s i c h n a t ü r l i c h e r w e i s e d e r R e i c h s b e h ö r d e n . Und da in den Zeiten religiöser Grundstimmung auch die letzte Frage eine konfessionelle Färbung erhalt, so suchten Katholiken wie Protestanten möglichst zahlreiche Anhänger in die Behörden hineinzubringen, und bei diesen Machenschaften spielten die Angehörigen des im Jahro 1540 approbierten Jesuitenordens keine geringe Rolle. Im 16. Jahrhundert warf man dem Reichskammergericht parteiische lutherische Gesinnung vor. Sofort schritt man zur Gegenaktion. Eine streng katholische Untersuchungsbehörde, die sogenannte Visitation, wurde eingesetzt, um in Sachen des Bekenntnisses Klarheit zu schaffen. In anderen Lebenskreisen derselbe Zwiespalt. So gab es z. B. seit 1648 zwei Reichsgenerale, einen katholischen und einen evangelischen. Auch der Reichskriegsrat, der die Aufsicht über die Heerführung im Reiche besaß, mußte gleichmäßig aus Katholiken und Protestanten bestellt werden. Also selbst in diesen höchsten Stellen, die so energisch nach Einheit und Geschlossenheit riefen, ein religiöser Dualismus! Seit dem westfälischen Frieden ist der Paritätsgedanke fast überall durchgedrungen und nicht wieder verlassen worden, b) F e r n e r k a m d i e Ü b e r z e u g u n g a u f , i n r e l i g i ö s e A n g e l e g e n h e i t e n d ü r f e der f r e m d e Religionsteil sich n i c h t einmischen. Das Majoritätsprinzip, das im übrigen während der Neuzeit fast überall festen Fuß gefaßt hatte, sollte hier nicht gelten. Das Hauptbeispiel bietet der Reichstag. In „Causis Religionis" sagt der westfälische Frieden (Art. V § 52) „sola amicabilis compositio lites dirimat". Der Reichstag ging in solchen Fällen auseinander in ein Corpus catholicorum und evangelicorum. Jede Gruppe stimmte für sich. Zu einem Reichsschluß kam es nur bei Harmonie der corpora. c) Die Stände verlangten ein Entgegenkommen des Kaisers in Sachen ihrer Religion. Zu diesem Zwecke gingen sie weit über das Maß des Erlaubten hinaus. So gewährten z. B. die protestantischen Pfälzer dem Herrscher nur die notwendige Hilfe gegen die Türken unter der Zusicherung religiöser Vorteile. M a n k a n n s a g e n : b i s E n d e des D r e i ß i g j ä h r i g e n Krieges blieb die R e i c h s p o l i t i k überwiegend r e l i g i ö s g e r i c h t e t . Es war eine Politik des do ut des, die den schweren religiösen Existenzkampf jener Jahre kennzeichnet. Dann trat das religiöse Moment mehr in den Hintergrund, d) Viel neues Recht wurde geschaffen. D i e G l a u b e n s s p a l t u n g h a t ü b e r a u s r e c h t s b i l d e n d g e w i r k t . Die bedeutsamsten Normen im Reiche enthielten der Passauer Vertrag von 1552, der Augsburger Religiöns-

Unsicherheit.

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frieden von 1555 und das Osnabrücker wie das Münsterer Friedensinstrument von 1648. Alle drei wurden zu „ewigen Reichsfundamentalgesetzen" erhöbe». Aber das erzeugte Recht wurde in Tausenden von Fällen gebrochen. Ich denke dabei nicht an den Bruch durch Krieg und unerlaubte Gewalt. Ich meine die zahllosen Rechtsbrüche, die auf dem Wege des offenen und geheimen Umgehens des Rechts, des Handelns contra legem und der Rechtsschikane vor sich gingen. Aus der Fülle des Stoffes nenne ich nur die berühmte Schrift des Corpus evangelicorum an den Kaiser von 1752, in der es heißt, der katholische Teil habe den evangelischen Glaubensgenossen „unzählige Religionsbeschwerden von einem seculo her unaufhörlich zugefügt". Und vernimmt man die Katholiken, so lauten die Klagen ebenso hart und eindringlich. Zu all dem t r a t die Unsicherheit im Rechte selbst. So wußte man über ein Jahrhundert lang nicht, ob der Landesherr k r a f t seines jus reformandi die Befugnis besitze, .den Andersgläubigen zur Auswanderung zu zwingen, oder ob dieser Zwang nur ein Akt der Willkür sei. Man setzte die so wichtige Frage unter die „dubia Cameralia' 1 , d. h. unter die zweifelhaften Staatsangelegenheiten. Bei diesem widerwärtigen Bilde, welches uns das religiöse Ringen und Hadern aufweist, darf man nicht vergessen, daß wir es mit einer tief gestimmten, glaubensh a r t e n Zeit zu tun haben. Darum war auch der Kampf um Recht und Unrecht hart, und leidenschaftlich. Und ich stehe nicht an zu sagen: es ist besser, ein Volk nimmt mit allen Mitteln den Kampf um Glauben und Kirche auf, als ein Volk ist gleichgültig gegen Glaube und Kirche. Denn ein Volk ohne Religion geht zugrunde. 7. D a s R e i c h u n d d i e V ö l k e r g e m e i n s c h a f t . E s ist keine Phrase, wenn noch die Wahlkapitulation von 1711 mit den Worten anhebt, der Kaiser solle und wolle die Christenheit in gutem getreulichen Schutz und Schirm halten. Es war das letzte Aufflackern der Idee, die Christenheit stelle ein Ganzes dar. Dieser Gedanke wurde einzig noch lebendig erhalten, wenn es sich um ein geeinigtes Vorgehen gegen den Christenfeind, die Türken, handelte. Rief man doch geradezu zu Türkenkreuzzügen auf! H a t t e doch selbst ein Machiavelli gepredigt, Europa solle seine Zwistigkeiten vergessen und sich gemeinsam gegen die Ungläubigen wenden. Rechtlich stellte aber die Christenheit kein Ganzes mehr dar. Der mittelalterliche harmonische Rechtsbau war in der Glaubensspaltung versunken. Ein anderer Rechtsgedanke begann im 16. Jahrhundert aufzuleben. Immer stärker brach die Anschauung hervor, die europäischen Staaten bildeten eine Gemeinschaft, eine . Staatengemeinschaft. Die großen Kulturstaaten stünden in einer sittlichen und rechtlichen Verbindung. Zwischen ihnen lebe ein eigen geartetes Recht, das Völkerrecht. Kein Staat könne sich ihm entziehen. Es strebe nicht eine überragende Stellung des Kaisers oder des Papstes, sondern ein Gleichgewicht der Mächte an. I n der Reformationszeit angebahnt, wurde dann vor allem durch den Dreißigjährigen Krieg diese europäische Stimmung wachgerufen, und der große Niederländer Hugo Grotius vermochte sie in einflußreichen Werken wissenschaftlich zu begründen. Die Sehnsucht nach einer übergeordneten Richtschnur hätte gesiegt. Diese neue Größe aber konnte nur weltlicher Art sein. „Selbst wenn man keinen Gott annähme, müßte man ein Völkerrecht annehmen. Dieses

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Heerwesen.

Recht sei von der Natur gegeben. Est autem jus naturale adeo immutabile u t ne a Deo quidem mutari queat", sagt Grotius. Neue staatliche Harmonie sollte das Völkerrecht in Friedenszeiten wachrufen. Einen „gerechten" Krieg mit „gerechten" Mitteln strebte man f ü r Zeiten der Uneinigkeit an. Manche gingen so weit, den Krieg als ein Gegenstück zur nationalen Justiz, als die Vollstreckung eines internationalen Urteils anzusehen. Selbst Luther hat den gerechten Krieg anerkannt, den Krieg zum Schutze eines Staates. So war ein neues Recht auf naturrechtlicher Grundlage gewonnen. Man atmete auf. Man glaubte an ein über R a u m und Zeit stehendes Völkerrecht, an eine feste Größe, nach der sich alle zu richten hatten. Auch das deutsche Kaiserreich stellte in dieser Ordnung nur ein den andern Staaten nebengeordnetes Glied dar. (Wissenschaftlich dargelegt von Emeric Cruce, Paris 1623.) Ja, seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges traten auch die deutschen Einzelstaaten als .Subjekte in der Völkergemeinschaft hervor. Im Jahre 1779 meinte die Kaiserin Katharina „Deutschland sei sowohl wegen seiner Lage, als auch wegen seiner Macht, der Mittelpunkt aller Staatsgeschäfte und aller Angelegenheiten von Europa." § 42. Die Krelsverfassung und das Heerwesen im Reiche. 1. Das Deutsche Reich wurde im Jahre 1500 in 6 Kreise eingeteilt, die nachmals hießen: der fränkische, bayerische, schwäbische, oberrheinische, westfälische und niedersächsische Kreis. Aus jedem dieser Kreise sollte ein Mitglied des Reichsregiments gewählt werden. Die Reichskreise waren zu Wahlzwecken eingerichtet worden. Sie erweisen sich von Anfang an als ein verfassungsgeschichtlich interessantes Gebilde, da man bei ihrer Schaffung weder anknüpfte an die landesherrlichen Territorien, noch irgendwie lehnrechthche Gesichtspunkte verwertete. M a n s c h u f B e z i r k e i n n e r h a l b d e s R e i c h e s , d i e auf n e u e , r e i n s t a a t s r e c h t l i c h e G r u n d l a g e g e s t e l l t w a r e n . Mit dem Heerwesen hatten sie zunächst keine Verbindung. 2. Kreise und Heerwesen des Reiches näherten sich einander immer mefit, bis sie schließlich untrennbar verschmolzen. Zunächst wurden im J a h r e 1512 die Kreise auf 10 vermehrt. Es traten hinzu der österreichische, burgundische, obersächsische und kurrheinische Kreis. Den Kreisen wurde aufgetragen, mit ihren Hauptleuten einzugreifen, falls weltliche Acht und geistlicher Bann nichts ausrichten würden gegen die Landfriedensbrecher. Auch sollten die Kreise die Urteile des Kammergerichts zum Vollzug bringen. I m J a h r e 1555 k a m d i e E x e k u t i o n s o r d n u n g zustande, die bereits einen Teil des g e s a m t e n H e e r w e s e n s i n d i e K r e i s e v e r l e g t e . In jedem Kreis wurde eine Person vornehmen Standes zum Kreisobersten erwählt, der mit seinen zugeordneten Räten eine bedeutsame militärische Macht besaß. Er konnte in Zeiten großer Not und großer Eile die Hälfte des ganzen Reiches, nämlich fünf Kreise, zu den Waffen rufen, „irf Anzug und ins Feld stellen", wie die Exekutionsordnung sagt. Ein Aufgebotsrecht ohne Mitwirkung des Kaisers und des Reichstages! Der sogenannte „ausschreibende F ü r s t " rief jeweils die Kreisstände zusammen, die den Obersten wählen und entlassen konnten. Die Kreisstände, d. h. die im Kreise sitzenden Reichsstände, hatten Truppen zu stellen, wie sie in der Reiehsmatrikel vorgesehen waren. Als

Reichskreise.

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Karl V. einen Zug nach Rom plante, wurde auf dem Wormser Reichstage das Reichsheer neu veranschlagt. D i e s i s t d i e W o r m s e r M a t r i k e l v o n 1521, w e l c h e d i e R e c h n u n g s e i n h e i t f ü r S o l d u n d T r u p p e n s t e l l u n g b i s 1806 b i l d e t e . F ü r jeden Reichsstand wurde genau festgelegt, wie viele Soldtruppen er aufzubringen habe. Eine Ablösung in Geld gab es nicht. Dies Kontingent nannte man das Simplum. Auf diese Weise kam ein Heer von 20000 Fußknechten und 4000 Reitern zusammen. Das Fußheer überstieg also die Reiter um das fünffache! Zugleich berechnete man den Sold, der für diese Truppen im Monat vom einzelnen Kontingentsherrn zu zahlen war. Alles zusammen ergab die Summe von 128000 Gulden, 12 Gulden dem Reiter, 4 Gulden dem Fußknecht. Diese Einheit hieß Römermonat. Nach ihr wurde die jeweils aufzubietende Truppenzahl bestimmt und die Kriegssteuer berechnet, aus welcher namentlich die Artillerie und die Generalität besoldet werden mußten. Der Kurfürst von Sachsen stellte z. B. 60 Mann zu Roß und 277 Mann zu Fuß, das Stift St. Gallen 6 Mann, zu Roß und 30 zu Fuß, die Reichsstadt Augsburg 25 Mann zu Roß und 150 Mann zu Fuß. Auf diese Truppenzahl in der Wormser Matrikel nahm also die Exekutionsordnung von 1555 Bezug. Die Reichseinrichtung galt als maßgebend für den Kreis. 3. Das politische Leben in den Kreisen nahm zu. Auch wirtschaftlich wurden sie von Bedeutung, indem sie die Aufsicht über das Zoll- und Münzwesen erhielten. Die Kreistage waren nichts anderes als „verkleinerte Reichstage", und manchem Grafen und Herrn, der keine Reichsstandschaft besaß, gelang es wenigstens, die Kreisstandschaft zu erwerben. Da und dort spielten die ausschreibenden Fürsten als Kreisdirektoren eine große Rolle. A b e r auf d e m G e b i e t e d e r H e e r v e r f a s sung b r a c h t e n auch die Kreise nicht den gewünschten Erfolg. 4. Nun t r a t aber ein weit schlimmerer Feind auf als der Türke. Es war der raublustige Ludwig X I V . mit seinen berüchtigten Reunionskammern. Die Westgrenze war äußeret gefährdet. So raffte sich das Reich — freilich zu langsam und zu spät — zu einer letzten Neugestaltung des Heerwesens auf, zu einer Organisation, welche die Militärverfassung in allen wichtigen Punkten in die Kreise verlegte. E s klingt tragisch, daß am gleichen Tage, an dem Straßburg entrissen wurde, der Reichstag über die Reichsdefensionalverfassung ratschlagte. D i e s e s sog. D e f e n s i o n a l e v o n 1681 z e i g t e g e g e n ü b e r d e r a l t e n O r d n u n g i n v i e r H a u p t p u n k t e n e i n e n F o r t s c h r i t t : 1. Die Reichskreise wurden als militärische Einheiten~nach ihrer geographischen Größe für die Stellung von Truppen eingeschätzt. Am meisten leistete der österreichische Kreis (2522 Reiter und 5507 Fußknechte). 2. Das Simplum wurde erhöht. Das Reichsheer zählte fortan 28000 Mann zu Fuß und 12000 Reiter (also wesentlich größere Bedeutung der Reiterei). 3. Dem einzelnen Reichsstand war es anheim gegeben, die verlangten Truppen selbst zu stellen oder sie von einem anderen Stande, gegen Geld, stellen zu lassen. 4. Es wurde eine Kreiskriegskasse eingerichtet, welche die Ausgaben des Kreises bestritt und f ü r deren Beiträge die „Römermonate" weitergalten. Daneben wurde eine Reichsoperationskasse gegründet, aus welcher z. B. die Reichsgeneralität bezahlt werden mußte. — Der Anlauf war gut. Ernstes Bestreben lag in d e r R e f o r m . Aber die Reichsstände mit eigenen Truppen, die „armierten Stände", hatten kein Interesse mehr an einem brauchbaren Reichsheere. Andererseits brachten die kleinen Stände geradezu lächerlich geringe Zahlen, Zwerg-

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Reichstag.

kontingente, auf. Im 18. Jahrhundert gab es etwa 27í¿-verschiedene Kontingente in den 10 Kreisen. In diesem bunten Truppengewirr mußte nur in e i n e m Gleichheit herrschen, ^in der Grundfarbe der Uniformen! Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts fristete die Kreisheerverfassung ihr Dasein. Besondere Bündnisse einzelner Kreise gaben ihr zuweilen eine eigenartige Bedeutung. Moser schreibt dazu, daß sich „sonderlich die gegen Frankreich zu gelegenen Craise auf eine gewisse Zeit verbunden haben, einander mit der verglichenen Anzahl an Mannschaft, Geschütz oder Geld zu Hülffe zu kommen, zu gleichem Ende auch in Friedens-Zeiten eine zur Beschützung des Vaterlands genügsame verglichene Mann- und Kriegsgeräthschafft zur Vorsorge bereit zu halten". Aber gerade an einer gehörigen Zahl von ständigen Truppen fehlte es. Der miles perpetuus, den z. B. Leibniz so dringend gefordert hatte, kam nur in den Einzelstaaten zu wirklicher Geltung. Was bedeuteten die Zahlen des Reichsheeres, wenn man bedenkt, daß der König von Preußen im Jahre 1743 seine Armee auf 142000 Mann vermehrte und Österreich 1756 eine Truppenzahl von 202279 aufzustellen versuchte. M i t d e m S i e b e n j ä h r i g e n K r i e g w a r d i e B e d e u t u n g d e r K r e i s e e r l o s c h e n . Nicht weil sie ein konstruktives, unhistorisches und damit unorganisches Glied in der Reichsverfassung darstellten, büßten sie, wie behauptet, ihr Leben ein, sondern weil ihre Rolle fast ausschließlich ins militärische Gebiet verlegt worden war. Im Heerwesen Tüchtiges zu vollbringen blieb aber nicht mehr dem Reiche, sondern einzig den deutschen Staaten vorbehalten. § 43. Der Reichstag. 1. D i e O r g a n i s a t i o n d e s R e i c h s t a g e s . Im Reichstag unseres Zeitabschnittes blieb vieles ungewiß, wiewohl der westfälische Frieden und eine Reihe von Reichsabschieden den schwankenden Zuständen ein Ende bereiten wollten. Und nicht nur in der Organisation versagte manches, sondern vor allem auch in der Geschäftsführung. Juristen und eitle Gesandte fingen an, ihren Einfluß geltend zu machen und mit spitzfindigen Einwänden den Gang der Geschäfte zu stören. So wußte man z. B. nicht einmal, ob ein Reichsstand das Recht habe, von sich aus Anträge zu stellen oder nur durch die Vermittlung des Reichsdirektoriums, welches das eigentliche geschäftsführende Organ darstellte (Inhaber der Kurfürst von Mainz). Der Reichstag war eine Vertretung der Reichsstände unter der Leitung des Kaisers. I n den beiden höheren Kollegien war überwiegend das Moment der Geburt ausschlaggebend. Der Reichstag erscheint als ein geburtsständiger Kongreß. Wer kraft Geburt in ein weltliches Kurfürstentuin sukzedierte, besaß Sitz und Stimme im obersten Kollegium, i m K u r f ü r s t e n r a t . Wer kraft Geburt Inhaber eines reichsunmittelbaren Fürstentums, einer Grafschaft oder Herrschaft war, hatte Sitz und Stimme im R e i c h s f ü r s t e n r a t . Anders bei den geistlichen Reichsständen, welche kraft Wahl und Ernennung ihr Territorium oder ihr geistliches Stift vertraten. — Bis in das 17. Jahrhundert hinein waren das Personalitäts- und das Territorialitätsmoment nicht säuberlich geschieden. Als der Kaiser es unternahm, sich einen gefügigen Fürstenrat zu schaffen, in dem er „neue Fürsten", wie etwa die Lobkowitz, kreierte,

Reichsfürstenrat.

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begegnete er lebhaftem Widerspruch. Man verlangte vom Günstling den Nachweis eines reichsfürstlichen, unmittelbaren Territoriums. Seit dem Reichsabschied von 1654 galt daher das Territorialitätsprinzip: Zur Geburt (oder Standeserhöhung) mußte fortan ein reichsständiges Gebiet, die „Real-Erfüllung", treten. Pairsschübe zu machen war in Zukunft für den Kaiser sehr erschwert. W ä h r e n d d i e K u r f ü r s t e n (deren Zahl seit 1654 im Steigen begriffen war, 1654 wird f ü r die Pfalz eine achte, 1708 f ü r Braunschweig-Lüneburg (Hannover) eine neunte Kurwürde geschaffen. Im gleichen Jahre lebte auch die böhmische K u r wieder auf) e i n e i n h e i t l i c h e s K o l l e g i u m d a r s t e l l t e n , z e r f i e l d e r R e i c h s f ü r s t e n r a t in d r e i B ä n k e , eine geistliche, eine w e l t l i c h e u n d eine Q u e r b a n k . Auf ersterer saßen die geistlichen Fürsten nebst den Erzherzogen zu Österreich und den Herzögen zu Burgund, die sich zu fein fanden, bei den Weltlichen Platz zu nehmen! Die zweite Bank nahmen die übrigen weltlichen Fürsten ein. Die Querbank bildeten der Bischof von Lübeck und der Bischof von Osnabrück, die wegen ihres evangelischen Glaubens von den katholischen Bischöfen weggewiesen wurden und sich zu gut fühlten, mit den weltlichen Fürsten auf einer Bank zu tagen. Wie ist diese Verteilung äußerst kennzeichnend für den Geist des alten Reichstages! Wer nicht Fürstenrang besaß, nämlich die Prälaten (mit geringen Ausnahmen), die Grafen und freien Herren hatten nur Kuriatstimmen inne, anfangs 3, später 6. Von den Fürsten dagegen besaß anfangs jeder e i n e Virilstimme. Hier setzte aber der oft beobachtete Verdinglichungsprozeß ein: die Virilstimmen schlugen sich später auf das reichsfürstliche Gebiet nieder. H a t t e ein Fürst deren mehrere, so war er auch im Besitz mehrerer Stimmen. B e i A u f l ö s u n g d e s R e i c h e s b e s t a n d e n 100 S t i m m e n i m R e i c h s f ü r s t e n r a t , 94 V i r i l s t i m m e n u n d 6 K u r i a t s t i m m e n , so d a ß d a s g a n z e S c h w e r g e w i c h t t a t s ä c h l i c h w i e r e c h t l i c h b e i d e n F ü r s t e n ( u n d K u r f ü r s t e n ) r u h t e . In diesem Sinne war der Reichstag bis zu seinem Ende eine Einrichtung mit starkem feudalen Einschlag. D a h e r g e w a n n e n a u c h d i e S t ä d t e , w e l c h e d a s d r i t t e K o l l e g i u m b i l d e t e n , n i e m a l s g r o ß e B e d e u t u n g . Nur widerwillig hatte man ihnen Reichsstandschaft überhaupt zugestanden. Und von den etwa 50 Reichsstädten (von denen die weitaus größte Zahl in Oberdeutschland lag) verdienten in der T a t viele die Geringschätzigkeit des Reichstages, so etwa die kleinen Markstädtchen im Süden und Westen des Reiches. Man kann nicht annehmen, daß Orte wie Isny oder Buchau besonders förderlich in die Reichspolitik eingriffen. Wieviel mehr hätten da Berlin und Leipzig ausrichten können! Aber als Mediatstädte, die einem Landesherrn unterworfen waren, blieb ihnen der Zutritt zum hohen Kollegium versagt. D i e S t ä d t e k u r i e s c h i e d s i c h i n z w e i B ä n k e , e i n e r h e i n i s c h e B a n k m i t 14 u n d e i n e s c h w ä b i s c h e B a n k m i t 37 S t i m m e n . Der geringe Einfluß der Städte äußerte sich im Geschäftsgang. Der Theorie nach war zu einem Reichsschluß Einigkeit der drei Kollegien erforderlich. Der zu beratende Gegenstand wurde nun aber zuerst den beiden höheren Kollegien vorgelegt. Waren sie einig und entschieden dann die Städte dagegen, so konnte — nach der Praxis — trotzdem ein gültiger Reichsschluß entstehen, wenn der Kaiser dem Kurfürsten, und Fürsteprat beitrat. Waren diese dagegen uneins, so wurden die Städte überhaupt nicht befragt. Somit hatte das von den Reichsstädten m ü h s a m erkämpfte (1648) votum decisivum in Wirklichkeit keine Bedeutung erlangt.

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Kaiser und Reichstag.

2. K a i s e r u n d R e i c h s t a g . Es zeigte sich, daß staatsrechtlich die Abgrenzung der kaiserlichen Rechte von der im Reichstag verkörperten ständischen Gewalt nicht klar war. Aber das Leben setzte sich über solche Konflikte hinweg, und es galt der Satz: d e r K a i s e r v e r m a g in a l l e n S a c h e n , d i e f ü r d a s R e i c h w i c h t i g s i n d , n i c h t s o h n e d e n R e i c h s t a g , d e r R e i c h s t a g n i c h t s o h n e d e n K a i s e r . Irgendein Zwang bestand für den Herrscher nicht, einem Reichsschluß seine Sanktion zu erteilen und ihn dadurch zum Gesetz, zum Reichsabschied zu erheben. Ebensowenig vermochte der Kaiser auf den Reichstag rechtlich einen Druck auszuüben. Die R e s e r v a t r e c h t e (jura reservata), die dem Kaiser noch ohne Einmischung des Reichstages zustanden, waren kümmerlich genug und nahmen stets ab. Kein Wunder, daß er sie zur Ausübung häufig anderen Personen überließ (comitiva). Und nicht einmal die Reservatrechte konnte er sich vollständig erhalten. Gerade bei den wichtigsten, wie bei der Erteilung von Münz-, und Zollrechten, durften die Kurfürsten mitsprechen. Der ganze Katalog der kaiserlichen Rechte ist bei Moser im 5. und 6. Kapitel des 3. Buches (Compendium juris publici) genau angegeben. Aber nicht nur diese Einengung des Kaisers lähmte die Gesetzgebung im Reiche. Es kam vor allem der schleppende Verhandlungsgang hinzu. D i e g r o ß e n H e r i e n e r s c h i e n e n n i c h t m e h r selbst. Sie s c h i c k t e n i h r e G e s a n d t e n m i t b e s t i m m t e n I n s t r u k t i o n e n . Traten nun irgendwo neue Gesichtspunkte hervor, so mußten in liunderten von Fällen die Gesandten persönlich oder durch Boten neue Instruktionen einholen, was wochenlang dauern konnte. Sie wurden „ad referendum" naoh Hause geschickt. So kam es, daß „es insgemein sehr langsam hergehet biß in einer Sache auf dem Reichs-Tag etwas geschlossen und in manchem J a h r nicht so viel abgethan wird, als auf denen Reichs-Tägen anderer Länder in Einem oder etlichen Tagen". (Moser.) Manchmal waren die Kongresse so schlecht besucht, daß man die Verhandlungen aussetzen mußte. Sehr häufig ließen Rang- und Zeremonienstreitigkeiten jedes fruchtbare Geschäft ersticken. Der alte Moser sagt, er wolle davon nicht reden, „weil des Zeuges allzuviel ist, und es an sich meist Kleinigkeiten seynd, obwohlen darüber offt, zum größten Schaden des Reiches, die äußerste Uneinigkeit entstehet und viel Gutes gehindert wird". So spiegelte der alte Reichstag im Grunde nichts anderes als das alt gewordene Reich wieder. Kräftige Unterstützung vermochte der Kaiser von ihm nicht mehr zu erwarten. Die überspannten, leeren Formen und den schäbigen Rest eines' hinderlichen, einst großen und großartigen mittelalterlichen Zeremoniells •war der Kaiser nicht imstande wegzubannen. E r konnte es nicht und wollte es nicht. Überragend zeigte sich die kaiserliche Gewalt nur noch nach außen. B e i m K a i s e r l a g d i e V e r t r e t u n g d e s R e i c h e s . Der, d i p l o m a t i s c h e D i e n s t r u h t e i n s e i n e r H a n d . I n diesem Bereiche ist der Kaiser, vor allem im 16. J a h r hundertj sehr selbständig aufgetreten. Das Reich erhob sich gegenüber den anderen Staaten als eine imponierende Größe, als ein Staat erster Ordnung, die Stellung des Kaisers war wichtig und eindrucksvoll f ü r ganz Europa. Auch ist nicht zu

Hofgericht.

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leugnen, daß die absolutistischen Ideen des französischen Königshauses am deutschen Kaiser nicht spurlos vorübergingen. Wiederholt machte der Herrscher Anstrengungen, die Geschicke des Reiches wieder energischer an die Hand zu nehmen. Am interessantesten sind wohl die Versuche bei der Besetzung der deutschen Reichsbistümer. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts nahm der Kaiser das alte Recht in Anspruch, Wahlkommissare zu den Wahlen der geistlichen Reichsfürsten abzuordnen. Ja, eine starke theoretische Bewegung trat sogar f ü r das Wiederaufleben des Wormser Konkordates ein. In der Praxis setzten sich diese, durch Reichsgewohnheitrrecht längst überholten Forderungen nicht durch. Aber sie sind sehr kennzeichnend für die geistigen Strömungen und die Politik, vor allem der letzton Habsburger.

§ 44. Die Reichsgerichte. 1. A l l g e m e i n e s . Aus dem Mittelalter hatte der deutsche Kaiser ein wichtiges Recht hinübergerettet. Er war oberster Richter im Reiche und Inhaber der ganzen Gerichtsgewalt, soweit sie ihm nicht durch die Reichsstände und Reichsgesetz entzogen war. Diese Auffassung blieb zwar nicht unbestritten. Aber die überwiegende Meinung t r a t dafür ein und sie erscheint mir als richtig. Aus dieser Rechtslage brachen hauptsächlich die Streitigkeiten hervor, die sich um die großen Reichsgerichte, aber auch um kleinere Gerichte, wie etwa das Rottweiler Hofgericht, entspannen. Denn dem Kaiser erschien jede Einmischung der Stande in das Gerichtswesen des Reichs als Einbruch in seine Gerichtsgewalt, in eine Gewalt, die er mit allen Mitteln festzuhalten versuchte. Aus dieser Grundstimmung sind die Machenschaften des Kaisers zu erklären, das ihm abgezwungene Reichskammergericht sich wieder zu Unterwerfen, daraus auch die Errichtung eines eigenen konkurrierenden Gerichtshofes, des Reichshofrates. Darum spricht der Herrscher von „unserm kaiserlichen Hofgericht zu Rothweil"" (Hofgerichtsordnung von 1572). Darum setzt er allein, ohne die Stände, den Hofrichter ein und läßt den Reichshofrat durch seine Räte visitieren. Darum behält er sich allein die Verleihung des Blutbannes vor. Darum läßt er von der Befugftis nicht ab, Asyle für Totschläger und andere Missetäter zu erteilen, soweit in diesen Dingen die Landeshoheit noch Lücken offen hielt. Der große, lange Kampf um das Gerichtswesen im Reiche beweist, welch gewaltige Macht die Gerichtsbarkeit noch immer darstellte. Denn mit der Gerichtsbarkeit hielt man nicht nur das Recht, sondern in breitem Umfange auch die Politik in der Hand. Es ist nicht übertrieben, wenn Graf Trautmanilsdorf im 17. Jahrhundert erklärte: „daß. Ihro Majestät sich ihrer jurisdictionis aulicae begeben sollten, das hieße recht, den Kaiser von seinem Thron gestoßen". 2. D a s R e i c h s k a m m e r g e r i c h t . a) Dieses Reichsgericht, aus dem alten königlichen Kammergericht hervorgegangen, fand seine rechtliche Regelung in verschiedenen Kammergerichtsordnungen (namentlich 1495 und 1555), im westfälischen Frieden, im jüngsten Reichsabschied von 1654 und in Wählkapitulationen. Man kann Kaiser und

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Reichskammergericht.

Ständen ernstes Bemühen und redlichen Eifer darin nicht absprechen. Auch weitsichtige Gedanken fehlten nicht, wie z. B. die Überzeugung, daß mit einer Gerichtsreform eine Prozeßreform H a n d in Hand gehen müsse. Daher enthalten die Ordnungen von 1555 und von 1654 sehr viel Prozeßrecht. E s bildete sich ein eigentlicher „Kammergerichtsprozeß" aus. Das Gericht, dem Kaiser 1495 abgenötigt, bildete irn wahren Sinne des Wortes eine Reichseinrichtung. Es war weder ein Gericht des Kaisers, noch ein Gericht der Stände, wiewohl Bestrebungen, es zum einen oder anderen zu machen, nicht fehlten. E s w a r e i n G e r i c h t d e r h ö c h s t e n E i n h e i t , d e s R e i c h e s s e l b s t , und nirgends k a m der R e i c h s g e d a n k e o f f e n s i c h t l i c h e r u n d p l a s t i s c h e r z u m A u s d r u c k . Die Versuche des Gerichts, sich in unabhängiger Stellung zu halten, sind ihm aber nicht immer geglückt. Es ist zeitweise vom Reichsregiment und von den Ständen abhängig gewesen. Es wurde zum Spielball konfessioneller Kämpfe. Und trotzdem darf staatsrechtlich sein selbständiges, auf das Reich gestelltes Fundament nicht verkannt werden. — Bei seiuer G r ü n d u n g kam es hauptsächlich auf drei Dinge an: 1. Das Gericht der kaiserliehen Willkür zu entziehen und dem Forum eine feste Ordnung zu geben. 2. Es an einen dauernden Sitz zu binden. 3. Es mit d e u t s c h e n Männern zu besetzen; denn die Klagen, daß deutsche Sachen von fremden Richtern erledigt wurden, schallten durch das ganze Land. Diese Ziele sind erreicht worden. Der Sitz wurde anfangs Frankfurt, dann Speyer, später Wetzlar. Die Urteiler durften nur genommen werden „auß dem Reich Teutscher Nacion". Hauptaufgabe war die Aufrechterhaltung von Friede und Recht, Schutz des ewigen Landfriedens, sowie Schlichtung der zahlreichen Streitigkeiten unter den Reichsständen. Auch hierin manch schöner Erfolg. Die fürstlichen Schiedsgerichte, die Austrägal-Gerichte, traten mehr und mehr zurück. Das Gericht bildete grundsätzlich die erste Instanz für die Sachen der Reichsunmittelbaren und der Reichsstädte, und die zweite Instanz, wenn das Urteil eines Austrages (Schiedsgerichts) vorlag. Ebenso war es zweite Instanz für die mittelbaren Reichsglieder gegen die Urteile der landesherrlichen Gerichte, sofern der Landesherr kein Privilegium de non appellando für seine Gerichte besaß. Peinliche Prozesse waren nicht appellabel. Erste Instanz war es auch, ohne Rücksicht auf die Person, in fiskalischen Sachen und im Streit um kaiserliche Vorrechte. Die Zuständigkeit schwankte in den einzelnen Jahrhunderten. Vieles blieb streitig. Den Kammerrichter ernannte der Kaiser. E r mußte eine „verständige" Standesperson, aber kein Jurist sein. Er war Träger der kaiserlichen Gerichtsbarkeit, der in alter Weise regelmäßig an der Urteilsfindung nicht teilnahm. Die Finder des Urteils stellten die Beisitzer (Assessores) dar, auf deren Wahl die Reichsstände den größten Einfluß besaßen. Anfangs brauchte nur die Hälfte der Urteiler der Rechte „gelehrt und gewürdigt" zu sein, d. h. nur die Hälfte mußte den juristischen Doktorgrad besitzen. F ü r das rasche Eindringen des römischen Rechts in die Hallen des Kammergerichts ist es aber kennzeichnend, daß seit 1555 alle Beisitzer, also auch die vom Adel, juristische Bildung besitzen mußten. Nur brauchte der adelige Beisitzer den Doktorgrad nicht erworben zu haben, während dies vom bürgerlichen verlangt wurde. Was die Geburt nicht gab, m u ß t e die Gelehrsamkeit ersetzen.

Dreifache Bedeutung.

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-b) Die v e r f a s s u n g s g e s c h i e h t l i c h e B e d e u t u n g des R e i c h s k a m m e r g e r i c h t s i s t e i n e d r e i f a c h e . E i n m a l : Das Gericht stellte die stärkste Potenz im Reiche dar. Sofern der Reichskörper überhaupt noch K r a f t und Leben entfaltete, so waren diese hauptsächlich dem Kammergericht zu verdanken. Es ist kein Zufall,-daß der Friede von Osnabrück, der die schweizerische Eidgenossens c h a f t endgültig als selbständig erklärte, auf die Beschwerden hinweist, welche Basel und andere Kantone gegen das Reichskammergericht erhoben hatten (Art. VI). Von diesem Gericht unter allen Umstanden frei zu sein, galt als wichtigste Errungenschaft. Z w e i t e n s : Der Einfluß des Gerichts auf die Einrichtungen in den landesherrlichen Gebieten war ganz überragend. Manche Territorien ahmten die Reichskammergerichtsordnungen bis auf wenige Änderungen einfach nach. Manch landesherrliches Gericht war ein verkleinertes Reichskammergericht. D r i t t e n s : Das Reichskammergericht schlug eine Brücke zu wichtigen Grund-' lagen der heutigen Gerichtsverfassung. Seine Verfassung atmete alten und zugleich neuzeitlichen Geist. Von neuen Ideen will ich hervorheben: D i e U n a b h ä n g i g k e i t d e s G e r i c h t s von der Regierung, freilich noch ohne Garantie f ü r die Unabsetzbarkeit der Richter. Die Mischung von g e l e h r t e n u n d v o n V o l k s r i c h t e r n , die später allerdings dem rein gelehrten Richter Platz machte. Das Prinzip der S t ä n d i g k e i t d e s G e r i c h t s , das schon 1235 für das Reichshofgericht ausgesprochen, aber nicht gehalten worden war. Das B e r u f s r i c l i t e r t u m ; denn die Assessoren durften keine anderen Sachen treiben. D i e T e i l n a h m e d e s K a m m e r r i c h t e r s a n d e r U r t e i l s f i n d u n g , freilich nur im Falle der Stimmengleichheit der Urteilsfinder. c) Zeitweise blühte das Gericht in hohem Maße, zeitweise war es lahmgelegt, zeitweise stand es ganz stille. Schließlich sank es mit dem Reich dahin und hinterließ die stattliche Erbschaft von etwa 50000 unerledigten Rechtshändeln. Zum großen Teil sind es finanzielle Gründe, die eine fruchtbare Tätigkeit verhinderten. Der von den Ständen zu zahlende feste Jahresbeitrag, der Kammerzieler (zu entrichten in bestimmten Terminen [Zielen]), lief allzu spärlich ein, so daß die notwendige Zahl von Beisitzern nicht zusammengestellt werden konnte. Auch wirkten prozessuale Momente mit, vor allem das Rechtsmittel der Revision. Legte die unterliegende Partei beim Gericht Revision ein, so blieb die Vollziehung des Urteils vorerst suspendiert. Nun wurde das Forum mit Revisionsgesuchen geradezu überschwemmt, bis der Reichstag Mitte des 17. Jahrhunderts eine ersprießlichere Prozeßordnung gab. Endlich ließ die konkurrierende Gerichtsbarkeit des Kaisers, die in seinem Reichshofrat gipfelte, das Gericht nicht recht zur Ruhe kommen. Unbestimmte Kompetenzabgrenzungen und endloses Rivalisieren zeichnen das Verhältnis dieser beiden Reichsgerichte aus. 3. D e r R e i c h s h o f r a t . Der R e i c h s h o f r a t war ein dem s t ä n d i s c h e n E i n f l u ß entzogenes, a l l e i n v o m K a i s e r a b h ä n g i g e s F o r u m . Aber er war kein Privatgericht des Herrschers, wiewohl er in der Praxis oft als solches erschien. E r w a r e i n G e r i c h t d e s R e i c h e s , a u f d a s d i e R e i c h s g e s e t z g e b u n g E i n f l u ß h a t t e . Gerade die wichtigste Norm jedoch, die Reichshofratsordnung von 1654, erließ der Kaiser, ohne die Zustimmung des Reichstages abzuwarten. Er gab die Ordnung in überstürzter Weise, „da er sich die geschwinde vorbrechende gefährliche Laufte u n d

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Karl V.

Zeiten zu Gemüth führte". Seit der Glaubensspaltung hatten die Stände vor allem darauf gedrungen, das evangelische Element im Reichshofrat zur Geltung zu bringen. Und ganz mit Recht; denn dieses Gericht, ein willfähriges«,Organ des Kaisers, inspiriert von-durchtriebenen Jesuitenkopfen, war der schlimmste Feind der evangelischen Sache. Nach dem westfälischen Frieden sollte das Gericht paritätisch besetzt sein. Darüber ging aber der Kaiser einfach hinweg und bestimmte, daß nur 6 evangelische Räte sein dürften. Von den 18 Beisitzern waren demnach zwei Drittel katholisch. V o m S t a n d p u n k t d e s J u r i s t e n a u s d a r f d i e Ges c h i c h t e d e s R e i c h s h o f r a t e s k e i n e r ü h m l i c h e g e n a n n t w e r d e n . Die Herren Räte standen im Geruch großer Bestechlichkeit, was man mit dem geringen Gehalt, den sie bekamen, zu entschuldigen versuchte. Auch fanden die persönlichen Wünsche des Kaisers hier leicht Berücksichtigung, da dieses Gericht den Grundsatz der festen Malstatt nicht kannte. Es begleitete den Herrn des Reiches, wie einst das mittelalterliche Hofgericht. A b e r es a r b e i t e t e im g a n z e n s c h n e l l e r , a l s d a s R e i c h s k a m m e r g e r i c h t . Und das war ein großer Vorzug. 4. D i e E x e k u t i o n e n . " Schon im Mittelalter vermochten wir festzustellen, wie schlecht es mit der Vollziehung der Gerichtsurteile stand. In der Landesfürstenzeit war vieles besser geworden. Aber die ganzen Jahrhunderte hindurch traten immer wieder Klagen in dieser Richtung auf, Beschwerden, welche die Autorität des Gerichtsorganismua schwer erschütterten. Gegen unmittelbare Reichsglieder sollte durch den Kriegsobersten mit Hilfe der kreisausschreibenden Fürsten vollstreckt werden. Gegen Mediatisierte hatte der Landesherr die Vollstreckung anzuordnen. Gerade auf dem Exekutionsgebiete herrschte aber reichlich Streit zwischen Kaiser und Ständen. „Beede seynd schon einigemahle hart an einander gekommen, aber noch allemahl jeder auf seiner Meynung verblieben", sagt Johann Jakob Moser. Im Streiten blieb das Reich wenigstens hart und konsequent. *

§ 45. Politische und wirtschaftliche Verhältnisse im 16. Jahrhundert. • 1. Karl V., der kluge, eifrige, einseitige Katholik, hatte politisch Sein Auge auf ein doppeltes Ziel eingestellt. E r s t r e b t e in e r s t e r L i n i e n a c h S t ä r k u n g u n d E r w e i t e r u n g d e r h a b s b u r g i s c h e n H ä u s m a c h t . Sein Landbesitz hatte sich gewaltig vergrößert. Die burgundische Erbschaft machte ihn zum reichsten deutschen Dynasten. 1526 waren ihm Böhmen, Mähren und Schlesien zugefallen. Aber er mußte seine Rechte kampflich wahren, und dies braeftte ihn in heiße Gegnerschaft zu Frankreich. Da er einen Ausgang zum Mittelmeer suchte, geriet er mit der mächtigen Republik Venedig in Zwist. Im Reiche selbst sollte sein österreichischer Staat fester, zusammenhängender werden. Daher verfolgte Karl eine ' rücksichtslose Arrondierungspolitik, der eine Zeitlang Württemberg zum Opfer fiel. Seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde der territoriale Gegensatz zwischen dem österreichischen Landesfürsten (und zugleich Kaiser) einerseits und allen übrigen Fürsten andererseits tief und schwerwiegend. Er ist bis zum Ende des Reiches geblieben. Die Ausdehnungspläne Österreichs wirkten auf ganz Deutschland ein. Wie energisch mußte sich zunächst Bayern wehren! Der Hunger nach territorialer Festigung und nach Vergrößerung des Gebietes

Handel und Gewerbe.

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machte Schule. ABein im geschlossenen Land und im gefestigten Staat erblickte m a n das Heil der Dynastie. Der Grundsatz Machiavellis erfaßte das Denken, wonach kein Land gedeihen kann, däs nicht unter die Herrschaft e i n e r Republik oder e i n e s Fürsten gelangt. I n z w e i t e r L i n i e s u c h t e K a r l V. d e n i n i h m l e b e n d i g e n G r u n d s a t z d u r c h z u f e c h t e n : e i n R e i c h m i t e i n e r K i r c h e . Die dadurch notwendigen Auseinandersetzungen sind bekannt.* Wegen dieser konfessionellen Politik strebte der Kaiser darnach, ein fast absolutistisches Regiment im Reich aufzurichten, eine Macht, welche dem Selbständigkeitswillen der Stände, ihrer „Libertät", wie man später sagte, ein Dorn im Auge war. Der Kaiser stand nach der Schlacht bei Muhlberg (1547) auf der Hohe, wie Friedrich I. nach der Niederwerfung Heinrichs des Löwen, hat man mit Recht behauptet. Freilich unterlag später der Herrscher und 1555 mußte er die augsburgische Konfession reichsrechtlich anerkennen. Aber ein berechtigtes Mißtrauen blieb, und die Stände fühlten sich niemals in völliger Sicherheit. ( S o d r ä n g t e n z w e i M o m e n t e d i e F ü r s t e n zu s t a a t l i c h e r A b S c h l i e ß u n g d e m R c i c h e g e g e n ü b e r , e i n t e r r i t o r i a l e s u n d e i n k o n f e s s i o n e l l e s . Was in der Zukunft geschah, gruppierte sich um diese Kräfte. Stets waren beide im Spiele, wenn auch bis zur ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die religiöse Stimmung überwog. 2. Deutsehland war wirtschaftlich in einer Lage, die man fast eine Krise nennen kann. Die Verlegung der Handelswege, die im 16. Jahrhundert vor sich ging, schädigte die blühenden süddeutschen Städte erheblich. Nürnberg und Augsburg litten schwer. Tausende von -Arbeitern, welche Warentransporte besorgt hatten, fanden sich brotlos. Der Handel Hollands und Frankreichs überflügelte den deutsehen. Die Hansa starb ab. England und die nordischen Staaten ermannten sich und schoben den deutschen Kaufmann beiseite. Niederdeutschland wurde weniger betroffen. Die große Getreideproduktion, die Fülle der Wasserstraßen und Kanäle bei einer weniger dichten Bevölkerung garantierten eine gewisse wirtschaftliehe Selbständigkeit, eine Abschließung, welche dazu beitrug, das norddeutsche Gebiet am Geschick des Reiches geringer zu interessieren. In Oberdeutschland und Westdeutschland dagegen genügten wedern die damalige Landwirtschaft noch Handel und Gewerbe, um die stark angewachsene Bevölkerung zu ernáhíen. Was blieb da übrig, bevor man zu kolonialen Unternehmungen griff ? Für weite Bevölkerungsschichten nichts als das Kriegshandwerk. Inländischer und auslandischer Solddienst waren angetan, die mangelnden Erträgnisse friedlicher Arbeit zu ersetzen. Tausende von Söldnern wurden gedungen und unter allen Umständen mußten die erworbenen Soldaten beschäftigt werden. Der größte Teil rekrutierte sich aus der Schweiz, aus Bayern, Tirol, Schwaben und dem Elsaß. So paradox es klingt! Krieg und Belagerung waren zu notwendigen Einnahmequellen geworden. Daß diese Wirtschaftslage bei der Ausbildung der deutschen Staaten und des europäischen Absolutismus schwer ins Gewicht fiel, bedarf keines Beweises. Das Reich stand der wirtschaftlichen Gefahr nicht tatenlos gegenü b e r . Es verbot 1597 die Einfuhr englischer Waren, später die der französischen. Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatte es sich aufgelehnt gegen die unsauberen Handelsunternehmungen, welche mit Waren spekulierten. Es untersagte solche

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Reichsritterschaft.

„schädliche Handthierung" und ordnete bei Zuwiderhandeln die Güterkonfiskation an (Reichstag von 1512). Auch versuchte der Kaiser wiederholt, die Werbungen deutscher Soldaten für das Ausland zu verhindern. Vor allem seine Offiziere wollte er nicht in fremden Diensten sehen. 1548 Heß'er deutsche Hauptleute enthaupten, weil sie ohne Erlaubnis in den Dienst des Königs von Frankreich getreten waren. Aber all diese Anstrengungen fruchteten wenig. Es fehlten dem Reich die Mittel zur Durchführung seiner Gebote. Das Kriegshandwerk hatte den Söldner zum vaterlandslosen Gesellen gemacht. § 46. Das Landesfürstentum und seine Gewalt. 1. Aus den Wirrnissen des 16. Jahrhunderts ist Deutschland gerettet worden durch das Landesfürstentum. Was das politische Interregnum des 13. Jahrhunderts vorbereitet |jatte, mußte sich im politischen und konfessionellen „Interregnum" der Reformationszeit vollenden. Die großen Stande des Reiches waren die Kurfürsten und die mit Landeshoheit ausgestatteten Fürsten, die fortan den Sauerteig des Deutschen Reiches bildeten. Die kleineren Dynasten, Grafen und Herren, wiewohl teilweise mit Sitz und Stimme im Reichstag beteiligt (also Reichsstände), vermochten in die Geschicke Deutschlands nicht mehr einflußreich einzugreifen. Viele zählten zwar zum hohen Adel und fühlten sich wichtig und stark. Und sie schlössen Einungen unter sich, um desto stärker zu erscheinen. Aber sie vollbrachten trotzdem nichts mehr; denn ihre K r a f t war durch die mächtigen Landesherren gebrochen. Auch die Auflehnung des kleinen Adels im südlichen und südwestlichen Deutschland verdrängte die Landesfürsten nicht aus ihrer tonangebenden Rolle. Der Adel erreichte nur dort in größerer Masse seine Reichsunmittelbarkeit. E r verdichtete sich zur stolzen R e i c h s r i t t e r s c h a f t , die es als bitteres Unrecht empfand, im Reichstag nicht mit Sitz und Stimme zugelassen zu werden. (Darum haben die Reichsritter auch nicht zum hohen Adel gezählt.) Ebensowenig gelang es den Reichsstädten, die verlorene Bedeutung wieder einzunehmen. Noch waren sie wichtige Wirtschaftszentren. Aber ihre territoriale Basis blieb zu schmal, um im großen wirken zu können, und der frische, kühne, auf sich selbst gestellte Bürgergeist wich immer mehr einem Obrigkeitsgeist, einem Geist des Gehorsams. An diesem Rückgang vermochte auch der Reichtum der Städte, z. B. d e r gewaltige Geschütz- und Munitionsvorrat, den sie besaßen, nichts zu ändern. Selbst unter den Landesfürsten (deren es am Ende des Reiches 94 gab) versanken mehr als Dreiviertel im großen Gang der Gesehichte. Sie förderten sich und ihr Land nur wenig. Sie bildeten überhaupt keinen Staat im -politischen Sinne, weil sie keine Staatszwecke verfolgten. Diese Zwergfürstentümer frönten bis an ihr Ende engen dynastischen Interessen. Sie erschienen im Auge ihrer Herren nur als vergrößerte Familiengüter. Von ihnen galt, was Friedrich der Große im Antimaehiavell gesagt h a t : „Jeder will bis auf den letzten Sproß einer apanagierten Linie herunter ein Ludwig XIV. im kleinen sein. Er will sein eigenes Versailles bauen, seine eigenen Maitressen küssen und seine Maison du Roi unterhalten, obgleich man im Nachbild das Vorbild nur im Mikroskop erkennen kann". E r nannte sie mit Recht „Zaunkönige, die ihr Ländchen mit dem unsinnigen Aufwand, den sie treiben, zugrunde richten". Sie waren die Schädlinge am Reichskörper und am Volks-

Landesfürsten.

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körper, die Träger des widerwärtigen, hohlen Zeremoniells. Am bedenklichsten war die Zersplitterung im Südwesten des Reiches, wo ein buntes Gewirr x0n reichsritterschaftlichen Gebieten, Reichsstädten, Reichsabteien, größeren Fürstentümern und, kleinsten Herrschaften durcheinander wogte. Nach wenigen Meilen stand man am Schlagbaum, entrichtete den Zoll und mußte ein anderes Geleit nehmen. Das Burggrafentum Rheineck z. B. bestand im 18. Jahrhundert aus einem Schloß, einigen Höfen und Mühlen, etwa einem Dutzend Untertanen und einem Juden. Und f ü r den großzügigen Geist, der in der Herrschaft Wittgenstein herrschte, mag erwähnt sein, daß jeder Untertan im Jahre 20 Sperlingsköpfe zu liefern hatte bei einer Geldstrafe. Die Sperlinge blieben aus, und die Strafgelder wandelten sich in eine eigentliche Steuer u m ! 2. So r u h t e d a s f r u c h t b a r e s t a a t l i c h e L e b e n in D e u t s c h l a n d s e i t d e m 16. J a h r h u n d e r t i m S c h ö ß e w e n i g e r L a n d e s f ü r s t e n . Gegen Ende des Reiches nahm die Zahl der wirklich einflußreichen Stände noch mehr ab, je mehr Preußen und Österreich Wuchsen. Selbst kräftigen Staaten, wie Baden k Bayern, Hannover und Sachsen kam, eine europäische Bedeutung nicht zu. Die Verleihung neuer Kurwürden waren zum Teil nur noch dekorativer Natur. I m Reich selbst hatten die Kurfürsten die überragende Stellung, die sie in der vorigen Epoche eingenommen, eingebüßt. Ein das Kurfürstentum stärkendes Reichsgesetz, wie es die goldene Bulle eins1| darstellte, wäre in unserem Zeitabschnitt unmöglich gewesen. Die geistlichen Fürsten, die Kurfürsten (Mainz, Trier, Köln) wie einfache Reichsfürsten (etwa Würzburg, Regensburg, Bamberg) hatten es überaus schwer, staatlich kräftig auszuholen. Dort fehlte das treibende, dynastische Interesse der weltlichen Gebietsherren. Dort fehlte die Tradition eines bestimmten Fürstenhauses. Kapitelswahl und päpstliche Einsetzung geboten jeweils über den freigewordenen Stuhl. Dort erhob sich regelmäßig ein konservativer Feind staatlicher Neuerung und staatlicher Konzentration: d a s D o m k a p i t e l . Dieses schnürte die geistlichen Herren durch egoistische Kapitulationen ein, durch ähnliche Versprechen, wie sie die Kurfürsten dem Kaiser abnötigten. J a , es riß bisweilen einen Teil der Staatsgewalt an sich. In Speyer schworen z. B. alle Hof- und Staatsbeamten dem,Bischof wie dem Kapitel den Eid der Treue. I n d i e s e n g e i s t l i c h e n T e r r i t o r i f e l l w a r so r e c h t d e r S i t z k o n s e r v a t i v e r L e b e n s a u f f a s s u n g . Das Kind besaß die nämliche Grundstimmung wie seine große Mutter, die katholische Kirche. Eine mächtige, an die alte Tradition gekettete Aristokratie beherrschte meist das Ganze. Konnte man von einem Domkapitel große,Fortschritte erwarten, wenn jeder Domherr 16 untadelige Ahnen nachzuweisen hatte T So in Mainz und in Trier. 3. I m 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t , b i s z u m S c h l u ß d e s D r e i ß i g j ä h r i g e n Krieges, war die ,verfassungsrechtliche Stellung der L a n d e s f ü r s t e n u n g e w i ß . Kein Reichsgesetz umschrieb die Grenzen ihrer Befugnisse, weder nach innen, noch nach außen. Kein Mensch wußte, wo das Recht aufhörte, und die Willkür begann. In der Rriegszeit hatte sich erst recht alles verschoben. Die brutale, auf die Soldateska gestützte Macht entschied regelmäßig über Sein und Nichtsein. Diesem Zustande machte der westfälische Friede ein Ende. E r und der nachfolgende jüngste Reichsabschied von 1654 haben die grundlegenden Normen F e h r , Deutsche Rechtsgeschichte. 4. Aull.

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Territorialrecht.

bis 1806 geschaffen. Drei staatsrechtliche Bestimmungen von höchster Bedeutung sind zu nennen, a) F ü r das Staatsrecht der Territorien war eine wichtige Frage •— nach innen gesehen die wichtigste Frage — ob die Summe von Rechtèn, Gerechtigkeiten und Regalien aller Art, die der Landesherr in seiner H a n d vereinigte, als E i n z e l r e c h t e durch den Frieden bestätigt oder ob diese Hoheitsrechte alle zu e i n e r S t a a t s g e w a l t zusammengefaßt und diese Gewalt ihnen garantiert werden sollte. Der Art. 8, 1 des Osnabrücker Friedens schlug einen Mittelweg ein. Noch hielt man der Substanz nach die einzelnen Rechte auseinander. Aber ihrer Ausübung nach schmolz man alle zusammen zu einem exercitium liberum iuris territorialis tam in ecclesiasticis quam politicis. D a s w a r d e r e n t s c h e i d e n d e S c h r i t t . V o n j e t z t a b g a b es ein e i n h e i t l i c h e s T e r r i t o r i a l r e c h t . E r s t von da ab konnte ein einheitlicher Begriff „Landeshoheit" ausgebildet werden. In ihm steckte die ganze Gewaltübung auf weltlichem und kirchlichem Gebiet. Der französische Entwurf hatte sogar von einem droit de souveraineté gesprochen. Die Schaffung einer, auch dem inneren W e s e n nach einheitlichen Staatsgewalt war aber erst der neuesten Zeit vorbehalten. Erst mit dem völligen Absterben lehnrechtlicher Anschauungen war diese Möglichkeit gegeben. Noch der große Publizist Moser spricht (1742) von der „Landeshoheit (superioritas territorialis) überhaupt, wie auch von einzelnen Stücken derselben". Unendlicher Streit bestand bis zum Ende des Reiches über den Umfang der Gewalt. Wie weit vermochte sie ein Landesfürst auszudehnen, ohne in die Rechte des Kaisers und des Reiches einzugreifen ? Aus dem westfälischen Frieden (Instrumentum paois Osn. 5 § 30) leiteten die Fürsten, den Begriff der „Libertät" ab, d. h. einer reichsfreien Herrschaftsgewalt, in welche der Kaiser nicht eingreifen dürfe. Verfassungsrechtliche Frenzen gab es nicht und so suchten die Landesherren, unterstützt durch ihre scharfsinnigen Juristen, diese Libertät dauernd zu ihren Gunsten zu erweitern, b) D a s z w e i t e , b e d e u t s a m e R e c h t w a r d a s B ü n d n i s r e c h t . Auch in diesem. Punkte erweist sich der westfälische Friede (Art. 8, 2) nur feststellender, nicht schöpferischer Natur. Denn längst hatten sich die Fürsten mit inländischen wie mit auswärtigen Mächten in Bündnissen verknüpft. Sogar Gesandschaften waren in fremden Staaten gehalten worden. Seit 1648 wurde das Bündnis- und damit das Gesandtschaftsrecht reichsrechtlich anerkannt. Frankreich und' Schweden, die Mächte, welche das Friedensinstrument so stark beeinflußten, drängten energisch nach Anerkennung dieser Hoheitsrechte zugunsten der Reichsstände. Das bedeutete einen Schritt weiter zur Lockerung der Reichsgewalt, die ihnen willkommen war. Die Staaten wurden zu selbständigen Subjekten des völkerrechtlichen Verkehrs. Fast wie ein Hohn gegen das heilige römische Reich klingt es, daß bestimmt wurde, Bündnisse gegen Kaiser und Reich, gegen den Landfrieden und westfälischen Frieden dürften nicht geschlossen werden, c) D e r d r i t t e , f ü r d a s e i n z e l s t a a t l i c h e L e b e n so w i c h t i g e P u n k t w u r d e a u f d e m R e i c h s t a g z u R e g e n s b u r g f e s t g e l e g t (1654). I m § 180 des jüngsten Reichsabschiedes, der dort getätigt wurde, gab man den Ständen eine wirksame Waffe in die Hand. Nur mit Hilfe militärischer Gewalt vermochten die Landesfürsten ihre Landeshoheit zu befestigen und zu erhalten. Das wußte jeder im Reiche. Das Geld dazu m u ß t e aber oft mühsam den ständischen Vertretungen abgerungen werden. Wir kennen ja das Schachern um Steuerbewilligungen schon aus der letzten Epoche. Diesem

Absolutismus.

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Zustand sollte reichsrechtlich ein Ende bereitet werden. D a s G e s e t z l e g t e den U n t e r t a n e n der R e i c h s s t ä n d e eine U n t e r s t ü t z u n g s p f l i c h t auf. Der Landesfürst vermochte fortan Subsidien von seinem Volke einzufordern, wenn er Geld brauchte für die „nöthigen Vestungen, Plätze und Guarnisonen". Was jeweils als „nöthig" erschien, bestimmte der Herr. Gewiß, die Landstände ließen sich deshalb nicht völlig ausschalten. Sie pochten nach wie vor auf ihre Befugnisse in Steuersachen. Aber der Landesherr stand jetzt auf dem Boden des geschriebenen Rechts, auf das er sich stützte, wenn es zum Streit kam. Dieses Besteuerungsrecht von 1654 hat wesentlich dazu beigetragen, die Kraft der Landstände zu schwächen und dem Landesfürsten die Einführung eines stehenden Heeres zu ermöglichen. Die Staatswissenschaft des 18. Jahrhunderts hat sich vergeblich bemüht, all die brennenden staatsrechtlichen Fragen zu lösen. Sie hat mit tauglichen Mitteln an einem untauglichen Objekt gearbeitet. So stritt sie in der Studierstube über das Problem hin und her, ob ein Reichsstand von sich aus einen Angriffskrieg führen dürfe, während draußen der österreichische Erbfolgekrieg tobte und Friedrich der Große seine unsterblichen Siege errang. Es ging, wie immer in der Weltgeschichte: die Macht kümmerte sich nicht um die Theorie. § 47. Die Ausbildung des absoluten Staates. 1. D e r A b s o l u t i s m u s a l s e u r o p ä i s c h e E r s c h e i n u n g . Mit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts begannen die drei größten europäischen Mächte ein kräftiges-Königtum zu entfalten. In England gelang es Heinrich VII., die Häuser Läncester und York zu vereinigen. In Spanien traten die beiden gewaltigsten Reiche Castilien und Aragonien zu einem bedeutsamen Staatskörper zusammen. In Frankreich schufen sich Karl VII. und Ludwig X L mit Hi]fe einer stehenden Armee eine zukunftsreiche Königsherrschaft. Karl des Kühnen umfassende Herrscherpläne fanden am Widerstand der Schweizer ihr Ende. Der Geist Europas war beherrscht von der Politik der Zusammenfassung nach innen und der Vergrößerung nach außen. Aus Einzelherrschaften sollten Staatsgebiete geschaffen, aus kleinen Territorien große Ländermassen erzeugt werden. Das Auge war gerichtet auf den Flächenstaat. Feine Berechnung und zugleich der Blick ins Maßlose kamen zusammen. Dieses Ziel zu erreichen war nur möglich mit Hilfe eines starken Königtums und eines starken Heeres. Alle'staatliche Gewalt mußte sich mehr und mehr auf einen Punkt konzentrieren, und dieser Punkt konnte in einer Zeit, in der das Volk politisch lahmgelegt war, nur der Fürst sein. Dem Fürsten selbst kam es zustatten, daß die Epoche von 1500 bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts wesentlich unter religiösen Stimmungen stand. Diese hatten eine doppelte Wirkung. Die Bevölkerung verlangte vor allem, ihren kirchlichen Glauben respektiert zu sehen und darin geschützt zu werden. Eine Zeit schwerster religiöser Unduldsamkeit brach an. Mit Recht hat man auch die K,ultur des Protestantismus eine Zwangskultur genannt. Dynastische Pläne und territoriale Politik interessierten das Volk weit weniger. So sah es ruhig zu, wie der Fürst des Landes mit fremdem Kriegsvolk seine ehrgeizigen Ziele verfolgte. Es murrte kaum, wenn man es dazu um Steuern anging. Die religiöse Richtung ward bemüht, um das 12*

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Absolutismus.

Königtum auf einen eigenen, Vom Papste losgelösten Boden zu stellen. Dies geschah nicht nur in protestantischen Gebieten mit Hilfe der von Luther gepredigten göttlich-weltlichen Obrigkeit. Auch das katholische Frankreich verlangte nach dieser Stütze. Richelieu h a t das französische Königtum als göttliche Einrichtung proklamiert und das Königtum von „Gottes Gnaden',' theologisch verteidigt. So w u c h s d a s a b s o l u t e F ü r s t e n t u m i n E u r o p a a u s z w e i W u r z e l n h e r a u s , aus der Wurzel der militärischen Macht und der religiösen F u n d i e r u n g s e i n e s W e s e n s . Beide K r ä f t e waren im Spiele, beide gleich schöpferisch und bedeutsam. In diesem Sinne gebar auch den deutschen Absolutismus seine europäische Mutter. Daß er schließlich in Deutschland doch eine eigene Prägung erfuhr, hängt mit besonderen geschichtlichen Einwirkungen zusammen. 2. D i e Ü b e r g a n g s z e i t . ' Die absolute Staatsform h a t sich in Deutschland langsam herausgebildet. I m großen und ganzen tritt sie erst seit der Mitte des 17. Jahrhunderts bestimmt und bestimmend hervor. Der Dreißigjährige Krieg mit seinen Diktaturen und seinen Heeresmassen förderte pire Entstehung wesentlich. D i e Ü b e r g a n g s z e i t , die etwa a n d e r t h a l b J a h r h u n d e r t e umfaßt, war h a u p t s ä c h l i c h erf ü l l t v o m K a m p f d e r L a n d e s h e r r e n g e g e n i h r e S t ä n d e . Die landständische Verfassung fristete in manchen Territorien ein zähes Leben, und es ist für das Gesamtbild unrichtig zu behaupten, die Stände hätten schon im 16. J a h r h u n d e r t ihre Bedeutung für das staatliche Leben eingebüßt gehabt. I m Gegenteil. I m 16. Jahrhundert blühte vielerorts das ständische Leben wieder auf. Das Bestreben des Fürsten, die Staatsgewalt in seine alleinige Hand zu bringen, rief den Gegendruck des ständischen Körpers hervor. Der Kampf des Markgrafen von Brandenburg gegen seine Stände ist bekannt. I m kurkölnischen Herzogtüm Westfalen gelangte die innere Organisation der Stände (bestehend aus Ritterschaft und Städten) erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zum Abschluß. Auch in Jülich, Berg, ¡Kleve, Mark war ihr Einfluß überragend. I n Baden bildeten sich eigentliche Stände erst in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts aus eigener Machtvollkommenheit, und griffen lebhaft ein in die Geschicke der Fürstentümer Baden-Baden und Baden-Durlach. I n den mecklenburgischen Gebieten fiel es dem reich begüterten Adel nicht ein, von seinen ständischen Privilegien abzulassen. Dort gingen die Stände so weit, am gemeinsamen Landtag (Einigung von 1523) festzuhalten, nachdem schon die Teilung der Lande in die Linie Schwerin und Güstrow vollzogen war. I m Herzogtum Württemberg t r a t die Macht der Städte hervor. Dort gelangte im 16. Jahrhundert das bürgerliche Element zu so hervorragender Stellung, daß die Regierung zeitweise mehr in seiner als in des Herzogs H a n d lag. Die Stände unternahmen es sogar, einen R a t für den unmündigen Herzog einzusetzen, einen R a t , der die gesamten Geschäfte führte (1498—1503). Das tüchtige, bodenständige, politisch begabte Bürgertum ließ sich dort niemals ganz verdrängen. Der absolute Staat h a t in Württemberg nie recht Boden gefaßt. Selbst im antiständischan Österreich wurde die Macht der Kurien erst unter Leopold I.' gebrochen. Dem Hofkanzler Johann Paul Hocher verdankten sie vor allem ihren Niedergang. Durch kluge innere Organisation hatten sich die Stände gefestigt, vor allem durch die Schaffung stehender Ausschüsse, die bisweilen neben den fürstlichen

Staatsdualismus.

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B e a m t e n eine Nebepregierung bildeten. U m mit den Juristen des Landesherrn konkurrieren zu können, stellten sie Rechtskonsulenten, Syndici, an. I n Braunschweig waren diese bisweilen so tüchtig, daß sie vom Herzog in das Ministerium oder Hofgericht berufen wurden. Überall gipfelten die Befugnisse der Stände i m Rechte der Steuerbewilligung. Man kann dessen Bedeutung nicht hoch genug anschlagen. Denn der Landesherr vermochte ohne finanzielle Hilfe des Landes die beiden Fundamente, auf die er alles stützte, nicht zu halten: das Heer und die Beamtenschaft. Mancherorts gingen die Stände so weit, ein Kontrollrecht über die Einrichtungen auszuüben, die sie bewilligt hatten (z. B. über die geworbenen Söldner). J a , bisweilen nahmen sie die gesamte Steuerverwaltung in ihre H a n d und übten dadurch den größten Druck auf die Landesverwaltung aus. Eigenes Vermögen mit eigener Kasse Btätkte ihre Stellung. I s t es -da nicht verständlich, daß die deutschen Fürsten mit Wucht und Energie auf die Beseitigung dieses lästigen Machtfaktors hinarbeiteten ? Standen ihnen doch die Stände gerade in jenen Landesherrschaften am schärfsten entgegen, in denen mühsam aus einzelnen Teilgebieten ein Gesamtstaat geboren werden mußte. Man denke an Baden, aber viel mehr noch an Österreich und an Brandenburg-Preußen. Auch auf sozialem Gebiete trugen die Stände eher zur Zerplitterung als zu Einigung bei. Ihre Ritterkurie schied sich als landständischer Adel von der Ritterschaft, die keine Vertretung hatte. Auch die Prälaten und Städte zweiten sich nach dieser Richtung. U n d das große Volk? Es stand fern von jeder Anteilnahme am politischen Leben, m i t verkümmertem politischen Sinne. Es spürte kaum die großen Ereignisse die das Land bewegten. Die Stände selbst fühlten- sich immer weniger als eine Gesamtvertretung des Landes. Sie gefielen sich in der Rolle von Verbänden, die ihre eigenen Interessen gegen die der Landesherren ausspielten. I m 17. J a h r h u n d e r t begann daher der Gegenstoß der Landesherren gegen ihre S t ä n d e i m m e r e r f o l g r e i c h e r z u w e r d e n . Während des großen Krieges wurden die ständischen Versammlungen oft viele J a h r e hindurch nicht zusammengerufen. Die Wahlkapitulatjonen von 1653 und 1658 waren durchaus ständefeindlich. Dem Reichshofrat wurde untersagt, Klagen von Landständen gegen ihre Landes'herren anzunehmen, und der Kaiser mußte den Landständen verbieten, die Landesfürsten in ihrer Steuerverwendung zu beeinträchtigen. In den meisten Territorien war es mit der ständischen Macht zu Ende. Der Weg wurde frei zu der Auffassung, die Staatsgewalt ruhe ungeteilt in der H a n d des Fürsten, die Stände seien nur noch privilegierte Korporationen. D a m i t h a t t e d e r S t a a t s d u a l i s m u s s e i n E n d e e r r e i c h t . Den! Wesen nach war alle Gewalt im Landesherrn konzentriert. Nur in der Ausübung der Gewalt wurde er durch ständische Vorrechte beschränkt. Ein kleiner Schritt war noch zu tun, diese Vorrechte zu beschneiden und endlich ganz zu beseitigen. Mit den Ständen schwand der letzte Rest des genossenschaftlichen Elements im Staate dahin. Das herrschaftliche Staatsprinzip feierte seine Triumphe, I n seinem politischen Testament von 1667 gab Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg bereits die Mahnung, eine wohlgeordnete Finanzwirtschaft solle dazu führen, die Hilfe der Landtage möglichst selten anzurufen. „Denn je mehr Landtage ihr haltet, je mehr Autorität euch benommen wirdj weil die S t ä n d e allzeit was suchen, so der Herrschaft an ihrer Hoheit nachtheilig i s t " .

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Kirchenhoheit. 3. Z e r s p l i t t e r u n g u n d Z u s a m m e n f a s s u n g . a) Auf k i r c h l i c h e m

Gebiet.

Die Ausbildung der absoluten Staatsform war verfassungsgeschichtlich eine Notwendigkeit. Nur durch diesen K i t t konnten die auseinanderstrebenden Kräfte zusammengehalten werden. D e r a b s o l u t e S t a a t i s t n i c h t s a n d e r e s als die g e s u n d e R e a k t i o n gegen einen A u f l ö s u n g s p r o z e ß . N e b e n d e n s t ä n d i s c h e n G e w a l t e n w a r e n es i n e r s t e r L i n i e d i e r e l i g i ö s e n G e g e n s ä t z e , w e l c h e ü b e r w u n d e n w e r d e n m u ß t e n . Da die hierarchische Disziplin der Kirche für Tausende gebrochen war, mußte eine stattliche Disziplin an ihre Stelle treten. Der Grundsatz, daß der Landesherr die Religion seiner Untertanen bestimmen könne, genügte nicht (§ 40, 4). Denn in größeren, namentlich in zusammengesetzten Territorien mit verschiedenen Bekenntnissen, war dessen Durchführung unmöglich. Daher nahm der Landesherr die oberste Leitung der Kirche selbst in die Hand. Der Fürst sorgte für die Erhaltung der reinen Lehre. Der Fürst überwachte die Geistlichkeit in Leben und Amtsübung. Der Fürst legte sich in weitem Umfang das Recht bei, Priester und Pfarrer einzusetzen. Der Fürst privilegierte die Kirchen und griff zugleich mit seiner Steuergewalt in die Vorrechte des Kirchengutes ein. K u r z u m , d e r F ü r s t s c h u f s i c h e i n e K i r c h e n h o h e i t , e i n e o b e r s t e G e w a l t a l s A u s f l u ß s e i n e r S t a a t s g e w a l t . Die Religion wurde in den Dienst der Politik gestellt. Man machte aus ihr ein „instrumentum regni". In protestantischen Gebieten riß der Fürst die Rolle eines obersten Bischofs, eines summus episcopus an sich und setzte eigene Kirchenbehörden ein. Es entstand die Konsistorialverfassung, deren Wurzeln ziemlich weit zurückreichen, und die in Nord- und Mitteldeutschland einen anderen Ursprung hat, als in den süddeutschen Gebieten. Vorbildlich war zum Teil das württembergische Konsistorium, das von Anfang an als landesherrliche Kirchenbehörde auftrat. Mit diesem „Instrument" regierte der Landesherr in Wirklichkeit die Kirche und drückte sie vielerorts zu einer gefügigen Anstalt im Staate herunter. Die Kirche hatte die sorgende Tätigkeit ihrer Landesherren teuer zu bezahlen. —- Die katholische Kirchenverfassung ließ eine solch intensive Bevormundung eines Laien nicht zu, und für ein landesherrliches Summepiskopat war dort kein Platz. Aber auch in diesem Bereiche wußte sich die absolute Fürstengewalt Geltung zu verschaffen kraft ihrer Kirchenhoheit. Oft war die tatsächliche Einmischung ebenso stark wie gegenüber der evangelischen Kirche. Wie schwer wird es uns heute, zu verstehen, daß z. B. der evangelische Markgraf von Baden dekretierte, in Karlsruhe hätten die Katholiken Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse durch evangelische Geistliche vornehmen zu lassen. (Zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts.) Am weitesten ging in seiner Kirchenhoheit Joseph II. Überzeugt davon, daß die meisten Klöster f ü r Bürger und Staat verderblich seien, schritt er zu ihrer Aufhebung. I m J a h r e 1786 hatten von 2163 Klöstern nicht weniger als 738 zu leben aufgehört. I n die Gottesdienstordnung, in Prozessionen und Bittgänge wagte es der Landesfürst sich einzumischen. Er bestimmte die Zahl der Kerzen, die auf den Altären brennen durften. So fühlte auch die katholische Kirche den schweren Druck des absoluten Staates. Aber dabei ist nicht zu vergessen: an ihm wuchs sie neu empor, mit seiner Hilfe allein wurde die Gegenreformation möglich, und ohne die absolute Staatsform

Verwaltungssystem.

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wären die Grenzen zwischen Staat und Kirche nie und nimmer so reinlich gezogen worden, wie wir sie später im' 19. Jahrhundert antreffen. b) Auf d e m G e b i e t e d e r V e r w a l t u n g . Schon im 16. Jahrhundert begann im deutschen Territorialstaat eine bessere Ordnung der Dinge. A n S t e l l e d e r z u f ä l l i g g e w a c h s e n e n B e h ö r d e n tTat e i n p l a n m ä ß i g g e s c h a f f e n e s V e r w a l t u n g s s y s t e m . Vor allem eins t a t n o t : die Zusammenfassung der Faden in Organisationen, welche das ganze Land umspannten. Das 16. Jahrhundert schuf kräftige Zentrajorgane und gliederte diese in einzelne Abteilungen. Dabei dienten städtische Einrichtungen vielfach als Vorbild; denn im Gebiet der Verwaltung war die Stadt dem Lande vorangeeilt. F ü r manche Institutionen hielt man sich an das tonangebende Land, an Frankreich. Maximilian hat an den französisch-burgundischen Verwaltungsapparat angeknüpft. Durch ihn sind institutionell und gedanklich die fremden Organisationen nach Österreich gewandert. Österreich selbst übte? großen Einfluß auf die übrigen Territorien aus. Die Entwicklung im einzelnen war sehr verschieden Im allgemeinen kristallisierten sich in größeren Gebieten vier Kollegialbehörden heraus. An der Spitze stand der Fürst mit seinen Räten, um die L ' a n d e s a n g e l e g e n h e i t e n , vor allem die Fragen der hohen Politik zu ordnen (Hofrat, fürstlicher R a t , Geheimrat). Doch zeigt der absolute Staat hierin eine typische Wandlung. Der Fürst schied später aus dem Kollegium aus und erteilte Befehle aus seinem Kabinett. (So z. B. in Preußen um 1700.) Jede kollegiale Bindung lehnte er ab. — Ferner t r a t eine Behörde für die F i n a n z s a c h e n hervor (die Hof- oder Rechenlcammer), für die J u s t i z s a c h e n (das Hof- oder Kammergericht) und für die K i r c h e n s a c h e n (die bereits genannten Konsistorien). Nicht die Schaffung dieser Behörden, sondern die Besetzung dieser Kollegien zog die größten Schwierigkeiten nach sich. Denn hier stieß der Fürst auf den heftigsten Widerspruch des Adels und der Stände. Welch eine Summe von Energie mußte der Landesherr aufwenden, um Beamte nach seinem Beheben zu berufen, etwa landfremde J u risten oder bürgerliche Personen an Stelle von Adeligen. Auch der paritätische Ausgleich war Gegenstand ewigen Haders. Schließlich siegte der Fürst. Ein ganz neuer Begriff des Amtes t r a t nach und nach hervor, indem jede Beziehung zur privatrechtlichen Auffassung aufgegeben wurde. Keine Spur mehr von einem nutzbaren Recht des Apitsträgers. Keine Spur mehr von Vererblichkeit des Amtes. Die lehnrechtliche Idee, der- Zusammenhang von Amt und Besitz, von Amt und Ständegruppe, von Amt und Familie wurde vollkommen durchschnitten. D a s A m t e r h o b s i c h zu e i n e m K o m p l e x v o n R e c h t e n u n d P f l i c h t e n i m ö f f e n t l i c h e n I n t e r e s s e . Und öffentliche Interessen deckten sich meist mit dynastischen Interessen. Nach willkürlich einsetzbaren und absetzbaren Beamten strebte der absolute Staat. Die Ordnung der Z e n t r a l v e r w a l t u n g , meist d u r c h g e f ü h r t von g u t g e b i l d e t e n J u r i s t e n , w i r k t e auf d i e u n t e r e V e r w a l t u n g e i n . Vor allem war es auch hier der Gedanke der Planmäßigkeit, der wohltätig ausstrahlte. So f ü h r t e Preußen im 18. Jahrhundert f ü r das gesamte platte Land die Kreisverfassung durch, mit den beiden Organen des Landrates und des Kreistages, und die' Geschichte des Landrates beweist uns, wie der ständische Einfluß dauernd

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Gerichtswesen.

zurückgedrängt und die Beamteneigenschaft immer deutlicher in den Vordergrund gerückt wurde. Auf Schulung, Charakter und Treue der Beamten kam jetzt alles an. Sie in der Beamtenschaft zu züchten und zu entfalten, war eine der wichtigsten Aufgaben der Landesherren. Nicht allein der Organisation, vielmehr noch der tatkräftigen, uneigennützigen Hingabe des einzelnen an sein Amt verdankten Preußen und andere Länder ihren staatlichen Aufschwung. c) Auf d e m G e b i e t e d e s G e r i c h t s w e s e n s . Noch immer spielte die Gerichtsbarkeit eine hervorragende Rolle. Die Gerichtshoheit des Landesherrn war eines der .wichtigsten Elemente der jLandeslioheit. Daher versuchten die Fürsten, ein straffes Netz von wohlgeordneten Gerichten über ihr Land zu spinnen und durch eine feste Gerichtsorganisation das Ganze als oberste Leiter in der Hand zu halten. Bei diesen Zentralisationsbestrfebungen stießen sie indessen auf die alten Gerichte in Stadt und Land. Aber dieser Gegner vermochte einen bedeutsameren Widerstand nicht mehr entgegenzusetzen. Zwar behielten viele Städte ihre eigenen Stadtgerichte, jedoch nur als Träger einer fremden, eben der landesherrlichen Jurisdiktion und vielfach nur als I n haber der Zivil- und der niederen Strafgerichtsbarkeit. Wo eine Stadt den Blutbann ausüben durfte, mußte er vom Staate verliehen werden, in Bayern z. B. vom Hofratspräsidenten. Auf dem Lande ging das Bestreben dahin, die Gerichte an die neue Landeseinteilung, an die Amter, Pflegen, Vogteien, Distrikte, oder wie man diese Unterbezirke nannte, anzugliedern. Diese Amtsgerichte fanden sich fast durchwegs nur im Besitze der niederen Gerichtsbarkeit und umfaßten nur die bäuerliche Bevölkerung. Das Malefiz- oder Blutgericht h a t t e der Landesherr meistens in seine Gewalt gebracht. Der absolute Staat bewahrte in der Hauptsache die ständischen Abstufungen im Gerichtswesen. Adel und Bürger hielten sich von den bäuerlichen Gerichten fern. Aber der Staat h a t insofern woldtätig auch auf die rechtsuchenden unteren Schichten eingewirkt, als der Landesherr darauf bedacht war, einen g e r e g e l t e n I n s t a n z e n z u g einzurichten. D a s g e r i c h t l i c h e S c h w e r g e w i c h t des l a n d e s h e r r l i c h e n S t a a t e s l a g i m f ü r s t l i c h e n H o f g e r i c h t . Dort konzentrierten sich alle Fäden. Dort walteten gelehrte Juristen und sorgten für ein rasches Eindringen des römischen Redits. Dort lebte man nach der straffen Ordnung, welche das Reichskammergericht f ü r das Reich ins Leben gerufen hatte. (§ 44, 2.) Ähnlich wie im Reiche, erwuchs hier dem Gericht eine konkurrierende Behörde im Hofrat oder im Geheimen R a t . Verwaltung und Gerichtsbarkeit schmolzen zusammen. J a , m a n k a n n sagen, die G e r i c h t s b a r k e i t geriet in f a s t völlige A b h ä n g i g k e i t v o n d e r R e g i e r u n g . U n d damit ist das eigentliche Problem des ganzen Gerichtswesens j n der Zeit des absoluten Staates berührt. Denn das war die große Frage, die der Lösung harrte: Wie weit darf der Landesherr den Lauf eines Prozesses stören ? Wie weit müssen „in den Gerichtshöfen die Gesetze sprechen und der Souverän schweigen?" (So Friedrich der Große im J a h r e 1752.) Man soll nicht vergessen, daß der absolute Staat eine Fülle ganz neuer Aufgaben zu erledigen h a t t e und daß eine gedeihliche Entwicklung nur ermöglicht wurde, wenn Maximen der Rechtsprechung und Maximen der Verwaltung H a n d in Hand gingen. Ich erinnere an die neu auftauchenden Verwaltungsbehörden in Steuer-, Zoll-, Polizei-

Heerwesen.

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u n d Militärsachen, denen notwendigerweise eine gewisse Gerichtsbarkeit bürgerlicher und krimineller A r t eingeräumt werden mußte. Welch ein staatlicher Wirrwarr wäre entstanden, h ä t t e n diese Behörden nicht Wünsche und Prinzipien der Regierung beachtet! E i n e p a r t e i i s c h e , d. h. e i n e r e g i e r u n g s f r e u n d l i c h e R e c h t s p r e c h u n g w u r d e z u r N o t w e n d i g k e i t ! Neue, werdende Staatsformen bedürfen dieser Einhext. Freilich jetzt begann das große Ringen von Justiz und Verwaltung, und wer sich in diesen Kampf vertiefen will, der lese die Bestrebungen u m die Beseitigung der Kammerjustiz in Brandenburg-Preußen nach. I m allgemeinen lief etye Entwicklung so, daß die Unterordnung der Gerichte unter den H errscherwillen während des dynastischen Absolutismus ihren Höhepunkt erreicht«. Erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts begann die Einsicht zu dämmern, Justiz und politische Verwaltung müßten getrennt werden, „damit sowohl Publica als Judicialia künftighin mehrer befördert würden", wie ein Schreiben der Kaiserin Maria Theresia von 1749 lautete. In Preußen wurde der aufklärende Grundsatz durch das Ressort-Reglement des Königs von 1749 verkündet. Aber wie schwer es wurTte, in der Praxis die Gebiete reinlich zu scheiden, alle Prozesse ausnahmslos richterlichen Behörden zuzuweisen und die Richter unabhängig v o m Fürstenwillen walten zu lassen, zeigen aufs deutlichste die Verhältnisse in Preußen wie in Österreich. Erreicht wurde das Ziel erst im 19. Jahrhundert. Denn erst dieses Jahrhundert erstrebte unter allen Umständen einen Schutz des Rechts, selbst auf die Gefahr hin, daß im Einzelfalle die Interessen des Staates eine Schädigung erleiden könnten. E r s t d a s 19. J a h r h u n d e r t i s t d a h e r z u m v o l l e n Rechtsstaat aufgestiegen. Die Lehnsgerichte erhielten in unserer Epoche den Todesstoß. I n den badischen Markgrafschaften tagte z. B. seit 1674 kein solches Gericht mehr. d) Auf d e m G e b i e t e d e s H e e r w e s e n s . Auch im militärischen Bereiche fanden die Fürsten an allen Ecken und Enden Zersplitterung und Unordnung vor. N o c h r a g t e n l e t z t e W u r z e l n d e r f e u d a l e n H e e r v e r f a s s u n g i n d i e N e u z e i l h i n e i n . So hatten z. B. biB 1717 in der Mark Brandenburg die Besitzer von Lehnsgütern Lehnepferde zu /stellen. (Dann erfolgte die Ablösung in Geld, die Lehnpferdgelder.) N o c h w a r e n v e r einzelt Vorstellungen von einer allgemeinen W e h r p f l i c h t der U n t e r t a n e n l e b e n d i g . Auf diese bauten sich die sog. D e f e n s i o n s w e r k e auf. Darunter verstand man Einrichtungen, die mittels allgemeiner Aufgebote der waffenfähigen Bevölkerung die Verdrängung des Söldnerwesens zum Ziele hatten. Die schneidigste Organisation erfuhr das kursächsische Defensionswerk in den Jahren 1613 bis 1709. Doch zeigt uns das Scheitern dieses gut unternommenen Anlaufes die große Verwirrung der Zeit: man drängte nach Staatspflichten, nach allgemeinen Untertanenpflichten, f ü r die i» der Masse noch kein Wille u n d kein Gefühl vorhanden waren. — Ein unbeschreiblicher Mißstand steckte auch in der Rolle, welche die Kapitäne, Obersten und Generale spielten. Sie führten ein Doppelleben. Sie stellten einerseits kriegstüchtige, militärisch gebildete Offiziere d a r und andererseits eigennützige, spekulative Finanzmänner, die ungeheure Vermögen zusammenbrachten. Man denke an Wallenstein! S i e w a r e n S o l d a t e n u n d U n t e r n e h m e r z u g l e i c j i . Sie mußten durch Kriegskommissarien kontrolliert werden, Leute, die u. a. darauf sahen, daß den Truppen der Sold richtig ausbezahlt

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Preußen.

wurde (17. Jahrhundert). Auch das Verhältnis von Landes-'und R e i c h s t r u p p e n lag im argen. Angeworbene Truppen wußten bisweilen nicht, ob sie dem Kaiser oder dem Landesherm gehorchen sollten. Und diese „unklare Doppelstellung war eine willkommene Veranlassung, Niemandem zu gehorchen, auf eigene Faust das Land zu mißhandeln". Es wird erzählt, daß unter dem großen Kurfürsten ein Oberst von Rochow gedroht habe,. Spandau in die Luft zu sprengen, als er einen Befehl erhielt, der ihm nicht paßte. Auf unsicherem Boden ruhten schließlich die Mittel, welche die großen m i l i t ä r i s c h e n K o s t e n decken sollten. Alle Arten der direkten und indirekten Besteuerung wurden angewendet. Der geschilderte Kampf gegen die Landstände hatte großenteils seine Ursache darin, daß sie nicht genügende Subsidien für Truppen- und Geschützbedarf bewilligten. In diese Unebenheiten brachte erst das absolute Landesfürstentum Sicherheit und Ordnung. Mit unermeßlicher Energie' nahm es sich der Neugestaltung des Heerwesens an. Und diese Energie entsprach der Erfolg.. Die Heerverfassurtg, wie sie in wichtigen Grundzügen bis 1918 erhalten geblieben, war die Frucht dieser Bestrebungen. D a ß P r e u ß e n h i e r i n v o r b i l d l i c h wurde, i s t a l l g e m e i n b e k a n n t . Daß aber Preußen deshalb dem Schicksal nicht entgehen konnte, ein Militär- und Beamtenstaat zu werden, ist leicht einzusehen. Wie der erste fränkische Staat unter Chlodwig ein auf Befehl und Gehorsam aufgebauter Staat war, ebenso hat Preußen die militärische Gewalt lange Zeit an die Spitze des gesamten Staatswesens gestellt. Andere Staaten ahmten das Beispiel nach, aber meist unvollkommen, weil von anderen Grundlagen ausgehend und von anderer Mentalität der Fürsten und Untertanen getragen. In der Hauptsache handelte es sich um eine Neuordnung nach drei Richtungen. 1. Die wechselnden Heere genügten nicht mehr. Nicht nur Krieg und rasche Kriegsbereitschaft, nicht nur die Schwierigkeit der Truppenwerbungen und die riesigen Gefahren bei Entlassung der Söldner drängten nach den stehenden Heeren. Treibendes Motiv war vor allem die Einreihung der Armee in den Staatsorganismus. Die Führer mußten aus ihrer privaten Rechtsstellung und aus ihrem spekulativen Unternehmertum herausgehoben und zu besoldeten Staatsdienern gemacht werden. Auch die Verpflegung und Ausstattung der Armee sollten nicht länger eine private Sache sein. Dies waren geradezu Lebensfragen für den Landesherrn. Preußen hat sich im Jahre 1653 den brandenburgischen Ständen gegenüber das stehende Heer gesichert, und allmählich baute der große Kurfürst das Heer in den Staatsorganismus hinein. Andere Territorien folgten nach. 2. Die weitere große Aufgabe war die Schaffung der allgemeinen Wehrpflicht. In den Defensionswerken konnten wir derartige Versuche' bereits verfolgen. J a , wir erinnern uns der Bestrebungen, die noch früher, schon im 15. Jahrhundert, auftauchten. Aber erst im 18. Jahrhundert wp,r die Zeit gekommen. Die Vorbedingungen hatten bis dahin gefehlt: die organisatorische Gliederung des Staates in brauchbare Aushebungsbezirke (eine technische Vorbedingung) und die Grundstimmung des Volkes (eine geistige Vorbedingung). Denn nur ein Volk ist berufen für den Heerdienst, das an eine führende Autorität glaubt und in dem ein nationales Bewußtsein lebt. Alle anderen notwendigen Zutaten erstehen aus diesem Fundament. In Preußen war man im Jahre 1733 so weit. Das berühmte Kantonreglement vom 15. September erklärte, daß alle Einwohner des Landes für die

Offiziersstand.

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Waffen geboien seien. Jedoch waren so viele Möglichkeiten der Befreiung vom Heeresdienst gegeben, daß von einer allgemeinen Wehrpflicht im heutigen Sinne nicht gesprochen werden kann. Doch nun tat sich eine gewaltige Unstimmigkeit auf. Der Heerdienst war aufs neue eine Bürgerpflicht geworden. Diesem Untertanendienst entsprachen aber nieht gleichwertige Untertanenrechte. Die große Masse war und blieb politisch unmündig. Der absolute Staat sah die Gefahr nicht ein, in die ihn solche Disharmonie brachte, und er hatte nicht den Willen, die Stellung des Bürgers zu verbessern. Erst die Revolution und die Befreiungskriege haben einen Ausgleich angebahnt. 3. Eine dritte große Aufgabe war zu lösen. Del Adel mußte mit dem neuen Heer- und Wehrsystem in geeignete Verbindung gebracht werden. Denn eine stehende Armee, so gut wie das Königtum selbst, hat seine letzte Spitze im Adel. In diesem Sinne sind Königtum, Adel und Heer untrennbar verknüpft. Alle Staaten mit stehenden Heeren vermochten im Laufe der Zeit den Adel militärisch einzugliedern und haben sieh und die Adelskaste damit außerordentlich gestärkt. In Preußen wurde diese Politik erst seit Friedrich Wilhelm planmäßig verfolgt, und man scheute vor Zwangsmaßregeln nicht zurück; denn ein Teil des preußischen Adels war den Hohenzollern damals noch nicht hold gesinnt. Als wichtigste Aufgabe erschien die soziale Hebung des ganzen Offizierstandes. Er, der zum großen Erzieher der Nation berufen war, sollte der vornehmste Stand im Staate werden. Daher ließ ilm der Landesherr aufsteigen in die Lage eines sozial und rechtlich bevorzugten Ehrenstandes. In den Kadettenhäusern sah man die Pflanzschule für die technische und moralische Ausbildung der Offiziere. Der König von Preußen befahl, die jungen Adligen zwischen 12 und 18 Jahren zu verzeichnen und bestimmte, wer von ihnen ins Kadettenhaus zu Berlin einzutreten habe. Immer mehr brach sich durch dieses System der uralte germanische Gedanke wiederum frische Bahn: Der Heerdienst wurde zum Ehrdienst.

Ich darf hier nicht verfolgen, welch eine gewaltige Wirkung die stehenden Heere auf das ganze Denken der Menschen ausgeübt haben. Überlegen wir uns: die große, gleichförmig geordnete Masse; der Blick für die rein zahlenmäßige Natur von Einrichtungen; das Zweckmäßige aller Verrichtungen bis ins einzelne hinein; die Scheidung von „leitenden und ausführenden Organen"; die Zusammenfassung aller Stände zu geschlossenen militärischen Körpern; ein neues, fein verästeltes System der Untes- und Überordnung; ein in vielen Richtungen gleiches Recht für alle; eine Disziplin, getragen von der Idee des Zwanges, aber auch der Freiheit (Vaterland, Nationalstaat). Diese Kräfte und ihrer noch viele haben auf Land und Volk tief und nachhaltig eingewirkt. Sie halfen mit, den modernen Staat und das moderne Wirtschaftssystem zu erschaffen. e) Auf dem G e b i e t e des W i r t s c h a f t s l e b e n s . Die deutschen Landesfürsten fühlten es wohl, daß mit der äußerlichen Abrundung und der inneren Befestigung ihrer Territorien die Arbeit nicht getan war. Der staatlichen Zusammenfassung mußte eine wirtschaftliche Konzentration entsprechen. Die Staatseinheit sollte auch eine Wirtschaftseinheit bilden. Die

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Wirtschaftspolitik.

Landesherren nahmen daher in großzügiger Weise das Wirtschaftsleben ihrer Länder in die Hand, der eine mit Glück, der andere mit wenig Erfolg, der eine mit stärkerer, der andere mit loserer Beeinflussung des Verkehrs. Seit dem 16. J a h r hundert können wir ein planmäßiges Vorgehen, eine eigentliche Wirtschaftspolitik beobachten. Die einzelnen Wirtschaftszentren des Landes sollten verbunden, durch neue Organisationen Handel und Produktion gehoben werden. S t ä r k u n g der W i r t s c h a f t im T e r r i t o r i u m u n d G e b u n d e n h e i t des V e r k e h r s w a r e n d i e l e i t e n d e n M o t i v e . Dieser Geist des Merkantilismus — anfangs freier, seit Ausgang des 17. Jahrhunderts straffer gestaltet — erfüllte ganz Europa, und die mit dem spätem Calvinismus in enger Berührung stehenden kapitalistischen Bestrebungen unterstützten den Gang der Dinge. Selten h a t eine Zeit so eifrig versucht, das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Freiheit und Gebundenheit einzuhalten, als das 16. bis 18. Jahrhundert. Die Wirtschaftspolitik des absoluten Staates h a t t e mit die schwierigste Aufgabe zu lösen, die es überhaupt gab: den Gegensatz von Stadt und Land zu überbrücken oder gar zu vertilgen. Wir beobachteten ja im deutschen Mittelalter das schrittweise Auseinanderfallen dieser beiden Lebensgebiete. Sollte das Territorium zur Einheit werden, so mußten die Städte ihre überragende Stellung aufgeben. Die Landesfürsten griffen mit glücklicher Hand ein und erreichten — auf zwei Wegen —- im ganzen ihr Ziel. Sie beraubten die Städte ihrer Selbstverwaltung und Autonomie und damit ihrer Unabhängigkeit. Oft griffen sie mit Waffengewalt ein. Der interessanteste Fall ist der Kampf des Bischofs Christoph Bernhard von Münster gegen seine Stadt Münster. Er endete mit der völligen Unterwerfung der Stadt im Jahre 1661. Der Erzbischof von Köln überrumpelte im J a h r 1582 seine Stadt Bonn, besetzte sie gegen den Willen des Rates mit Söldnern und entriß ihr die letzte Selbständigkeit, so daß man ilm als den „Satelliten des Vulkans und den Vater alles Übels" bezeichnete. Erfurt, Magdeburg und anderen Städten ging es ähnlich. Das erschütterndste Beispiel ist die Unterdrückung der zehn Reichsstädte im Elsaß dur-ch den König von Frankreich (1673). Die städtische Selbstregierung ging verloren. Die Landesobrigkeit unterwarf sich die Stadtobrigkeit. 'Die Bürger wurden aus Stadtuntertanein zu Staatsuntertanen. Eines der wichtigsten städtischen Rechte, das Stapelrecht, übte z. B. seit dem 18. Jahrhundert der Landesherr selbst aus. Andererseits wurden f ü r die Stadt hinderliche Zölle beseitigt, so daß sich namentlich der Verkehr mit dem platten Lande freier gestaltete. Das Land wurde ein starker Abnehmer der Stadt. Der zweite Weg, den die X*andesfürsten einschlugen, war der Weg d e r N e u g r ü n d u n g e n . Mit sicherem Takte schritten sie zur Erstellung neuer Handelszentren, indem sie zerfallene Städte neu schufen (so Mannheim 1652) und an alte Freistädte neue Landesstädte angliederten (so F ü r t h bei Nürnberg und Altona bei Hamburg). Gerade die Gründung von Mannheim zeigt den weiten Blick des Landesvaters Karl Ludwig. Sein Plan war, eine „große Handelsmetropole _zu begründen, als Zentrum'des oberrheinischen Handels, als dominierenden rheinischen Hafenplatz, als Verbindungsglied zwischen den' oberdeutschen Landen und Holland". Glänzend haben sich seine Absichten bewährt, und trefflich baben die der Stadt eingeräumten Freiheiten, vor allem die aus Holland entlehnte Gewerbefreiheit gewirkt.

Zunftwesen.

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Die Landesherren übertrugen die Ideen des städtischen Z u n f t w e s e n s auf ihre Territorien. Keine Spur davon, daß sie dessen Fesseln beseitigt hätten. (Einzig dastehend Mannheim!) Im Gegenteil, sie griffen die in der Zunft ruhenden organisatorischen und gewerbepolitischen Tendenzen mit Freude auf, riefen da und dort L a n d e s z ü n f t e ins Leben (Württemberg) und gaben den gewerblichen Verbänden die Natur "von Polizeianstalten, welche der Landesregierung dienen und nützen sollten. In Bonn wurde zu Ende des 17. Jahrhunderts der Versuch gemacht, jeden Bürger zu zwingen, einer Zunft beizuschwören, um damit eine besonders straffe Organisation zu erzielen. Die Stadt widerstand jedoch diesem, von der Landesregierung lebhaft unterstützten Plane. — Einengung, Verknöcherung, engherzigster Zunftgeist waren die Folge all dieser Bestrebungen. Welch eine Gesinnung sprach aus dem preußischen Landrecht, daä am Ende des 18. Jahrhunderts jedem Handwerksmeister nur zwei Gesellen und «inen Lehrling gestattete und ihn an die Obrigkeit verwies, so er seine Arbeitskräfte vermehren wollte. Dferart war die genossenschaftliche Idee der Zunftverfassung „verstaatlicht". Aber im allgemeinen kann man nicht sagen, die Gewerbepolitik der absoluten Herrscher sei verfehlt gewesen. Das von Frankreich übernommene merkantilistische System wurde meist in kluger Weise den deutschen Verhältnissen angepaßt (z. B. von Friedrich dem Großen), und die Großindustrie erfuhr in vielen Fällen einen weitgehenden Schutz gegenüber den Knebelungen der Zunft. Auch der Zwischenhandel — die Seele jedes eigentlichen Handels — hob sich stetig, besonders seit dem 18. Jahrhundert. Bei allen Maßnahmen der Fürsten, die wir mit kritischem Auge prüfen, ist eben nie zu vergessen, daß das zündende Wort „Autarkie" aSes beherrschte. Die Selbstversorgung, das Sichselbstbegnügen, das wirtschaftliche und staatliche Eigenleben waren Trumpf. Daher die engherzige Zollpolitik und die geradezu grotesken Zollkriege. Daher die vielen' Ausfuhrverbote (etwa für Getreide und Vieh). Daher die Kleiderordnungen, in denen es hieß, Bürger und Landmann spllen sich aus einheimischen Stoßen kleiden. Nicht so sehr der Wunsch, sich in das Privatleben der Menschen einzumischen, als der Wille, den Flächenstaat in sich und für. sich abzuschließen, bildete das treibende Motiv. In diesem Sinne bezeichnet man die landesfürstliche Epoche sehr richtig als die Zeit der Territorialwirtschaft. I n sehr langsamem T e m p o n a h m s i c h d e r a b s o l u t e F ü r s t der B a u e r n a n . Von der Verwirrung in den Gerichtsabgaben und Leiheverhältnissen kann sich nur der Kundigste eine Vorstellung verschaffen. Die Reformationszeit hatte mit Hilfe de» römischen Rechts die Stellung der Bauern verschlechtert. Mittels bewußt umgedeuteter römisch-rechtlicher Konstruktionen waren die Eigentumsverhältnisse zu ihren Ungunsten verschoben worden. (Umdeutung zur Emphyteuse ) Der mißglückte Bauernaufstand im Süden und Südwesten drückte ihre Lage noch stärker. Die Zünfte verboten den Eintritt bäuerlicher Leute, die Städte untersagten den Zuzug. Die Gerichts-, Grund- und Leibherren saßen dem Bauern steif im Nacken und quälten ihn mit Steuern und Jagdfronden. Kaum hatte sich seine Lage, etwas gebessert, setzte der Dreißigjährige Krieg «in. Was der deutsche Landmann damals litt, weiß jeder aus der Geschichte. Schlimm war für ihn, daß nach dem Kriege Krisen aller Art einsetzten. So sank z. B. der Getreidepreis so wesentlich herunter, daß der Mittelpreis für Roggen und Weizen

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Reformen.

fast nur noch die Hälfte dessen betrug, was er vor 1618 ausgemacht hatte. Sprechender können die Mißstände nicht geschildert werden als mit den Worten: „ I n unserm gemeinen Elend und Trauern h a t allein noch das Gesind Mut und Freud; wir müssen.sie lassen Meister sein, wir müssen ihnen fast den Seckel zu dem Gelde geben, ihnen voll auftragen und selber Mangel leiden". (Flugschrift aus dem Schwarzwald von 1653.)J3ie Arbeitslöhne waren ins ungeheure gewachsen. Die Meister selbst waren verschuldet und verlottert. Daher kamen auch die Grundherren nicht mehr zu ihrem Gelde. Sie wandten Recht, List und Zwang an. Der Bauer wurde ärmer und abhängiger. Da setzte der Landesherr ein, gestützt durch die wissenschaftliche Theorie der Physiokraten. Es ist eine der Großtaten des absoluten Staates, daß er die bäuerliche Bevölkerung zu schützen begann, bevor es zu spät war. Mag das Motiv menschliche Fürsorge und landesväterliche Einsicht oder mag es mehr wirtschaftlicher (der König als „guter Wirt"), namentlich steuerrechtlicher, später auch militärischer Natur gewesen sein, die Tatsache des energischen Bauemschutzes steht da wie ein Felsblock. Zwar wurden die Grundherrschaft des Südens und Westens und die Gutsherrschaft des Nordens und Ostens durch die Fürsten n i c h t aufgehoben. Sie erhielten sich bis nach der Revolution. Aber die Abgaben wurden gemildert, das Erbrecht an den Gütern neu befestigt, die persönliche Abhängigkeit vom Herrn gelockert. Die westdeutsche Leibeigenschaft bedeutete im Grunde nur noch eine mehr oder weniger drückende Steuerpflicht. F ü r die preußischen Domänen und für Pommern beseitigte der König im J a h r e 1719 die Leibeigenschaft. Eine Reihe von weiteren Edikten schützte den Bauern gegen Ausbeutung, n a m e n t lich auch gegen die „Bauernlegung", d. h. das willkürliche Austreiben vom H o f e durch den Gutsherrn. (Wichtig später das Edikt vom 9. Oktober 1807.) Bekanntlich h a t dann Joseph II. durch sein P a t e n t vom 1. November 1781 der Leibeigenschaft in den deutsch-slavischen Erbländern ein Ende gemacht, zur „Verbesserung von Landeskultur und Industrie", sowie aus „Vernunft und Menschenliebe". Der Erlaß gewährte dem Bauern freilich keine völlige Freiheit. Gehorsam urjd Unterwürfigkeit gegen die Grundobrigkeit blieben bestehen. — Durch eine Reihe von Reformen, namentlich durch Beschränkung der grundherrlichen Justiz, durch eine gesetzliche Regelung der Abgaben (Urbarialpatent) und durch weise Verfügungen auf dem Gebiete der Bodenkultur, hoben sich Recht, Wirtschaft, Ansehen und Moral de^ Landmannes. Eine neue Epoche war angebrochen. Aber erst getrieben durch die Revolution folgte der große Teil der anderen Staaten nach. Erst die europäische Umwälzung brachte allmählich die Norm zum Durchb r a c h : der freie Bauer auf freiem Gut in freier Wirtschaft.

Die gewaltige Arbeit, die der deutsche Landesherr im übrigen noch leistete zur Hebung seiner eigenen Wirtschaft, namentlich der Domänen und der Manufakturen (der Gemahl Maria Theresias wurde als der größte Fabrikant seiner Zeit bezeichnet), kann ich hier nicht beschreiben. Juristisch am interessantesten sind darin die am Ende des 17. Jahrhunderts auftretenden gemischt-staatlichen Wirtschaftsbetriebe. Auch die Flotten- und Kolonialunternehmungen des großen Kurfürsten, sowie die Schaffung von Landeskreditinstitituten (preußische Land-

Religiöse Interessen.

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Schäften) und die Gründungen von Staatsbanken vermag ich hier nicht darzustellen. Ebensowenig die für das Wirtschaftsleben so notwendigen Errungenschaften im Straßenbau und in Postverbindungen. Ganz besonders auch das dauernd verfeinerte und verbesserte Steuersystem, in das Adel und Kirche mit einbezogen wurden. Überall reiches Leben, wo große Fürsten dahinter standen. Überall die Schaffung von Kraftzentren in Wirtschaft und Staat. Je mehr wir uns dem Ende des Reiches nähern, um so mehr versuchte der Handel die nationalen Schranken zu sprengen und um fio kräftiger setzte die kapitalistische Wirtschaftsverfassung ein. Internationales W7esen und kapitalistische Elemente haben dann im 19. und 20. Jahrhundert das Wirtschaftsleben von Grund auf verändert. Die Autarkie hörte auf. Weltmarkt und Weltwirtschaft traten in Erscheinung. § 48. Der Geist des absoluten Staates. Die absolute Staatsform ist 1500 bis 1806 von verschiedenem Geiste erfüllt. Wie konnte es anders sein, wenn wir bedenken, daß diese Epoche wie keine andere vom Willen einzelner Persönlichkeiten, vom Willen des Herrschers und seiner Umgebung abhing. Der Fürst überragt und lenkt die Masse. Der Fürst ist Befreier und Despot zugleich. Zum Fürsten sieht alles auf, freiwillig oder gezwungen. Der Fürst ist Autorität. Der Fürst ist Führer, ist Feldherr, ist Gesetzgeber, Der Fürst ist der lebendige Staatswille. Er besitzt die Kunst des Befehlens. Menschen aber sind wandelbar. Daher zeigen die Jahrhunderte mit dem Wandel des Fürstengeistes einen Wandel des Staatsgeistes, und drei Richtungen lassen sich juristisch unterscheiden. I n d e r e r s t e n E p o c h e , 1500 b i s 1650, i s t d a s S t a a t s l e b e n u m r e l i g i ö s e I n t e r e s s e n g r u p p i e r t . Der Versuch, einem einzigén Glauben die universale Herrschaft zu sichern, war gescheitert. Protestanten standen ebenbürtig neben Katholiken. Die Kirche warf sich dem Staat in den Arm. Freudig, ja begierig nahm er sie auf. Die Sorge für eine rechte Kirche und für einen guten Glauben wurde die oberste Aufgabe der Landesfürsten. Die Leidenschaft in Reformation und Gegenreformation, die Kämpfe Und Kriege, die Stellung der geistlichen Fürstentümer, die Kirchenhoheit der Landesherren, die zahlreichen Kirchenordnungen und fürstlichen Testamente, das Verhältnis von Fürst und Jesuiten, von Fürst und Adel, alles deutet auf die religiöse Struktur des Staates hin. V i e l e » w a s „ W o h l f a h r t " h i e ß , w a r i m G r u n d e r e l i g i ö s bestimmet. Das aber erschien als das neue, so tief einschneidende: der Landesherr fühlte einen heiligen Beruf in sich, das staatliche und religiöse Leben seiner Untertanen zu ordnen und zu lenken. Juristische Mittel dazu gab ihm die „Polizei". (Daher auch die Bezeichnung dieser Staatsform als Polizeistaat.) Das jus politiae in diesem Sinne war in Frankreich ausgebildet worden und von dort aus in Europa eingedrungen. Es enthielt den Grundsatz: das Leben der Untertanen müsse und dürfe vom Landesherrn so geordnet werden, daß ein guter Staatszustand daraus hervorgehe. Den Entscheid, was gut sei, und die Grenzen für die Erzwingung dieses Guten gab der Fürst. An Stelle des katholischen Kodex war ein ungeschriebener weltlicher Kodex getreten. Deim es existierten weder eine Verfassung noch ein Verwaltungsrecht, nach denen hätte regiert werden können. Ganz richtig h a t

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Landesherrliche Gewalt.

man gesagt: die Normen, nach denen die Beamten die Verwaltung zu führen hatten, waren Dienstanweisungen, keine Rechtsvorschriften. Zwar wurde der Mensch nicht vollständig landesherrlicher Willkür ausgeliefert; denn neben die „Polizeisachen" traten die „Justizsachen", und in wohlbegründete Rechte vermochte die Regierung grundsätzlich nicht einzugreifen. Wurde ein solches Recht verletzt, etwa Eigentum oder Freiheit, so entschieden die Gerichte im Rechtswege. J a , das Reichsrecht ging soweit, jedem Untertanen ein Klagerecht gegen seinen Landesherrn beim Reichskammergericht und Reichshofrat einzuräumen. Aber wie lagen die Dinge praktisch ? Die Landesherren ließen sich ein Privilegium de non appellando gebjsn (dann konnte von keinem landesherrlichen Gericht an ein Reichsgericht appelliert werden) oder ein Privilegium de non evocando (kein Untertan durfte dann vor ein auswärtiges Gericht geladen werden). Wo sie solche Vergünstigungen Jucht erhielten, unterdrückten sie oft mit Gewalt jede Berufung. Vielen Leuten war ein Prozeß der Kosten wegen unmöglich. Auch im eigenen Lande stand es wenig günstig f ü r den Rechtsuchenden. In Polizeisachen gewährte man überhaupt keine Appellation, und eine Klage in Justizsachen erschien nicht als aüssichtsreich, weil die Gerichte von der Regierung abhängig waren. Bisweilen"hat der Fürst das Berufungsrecht einfach untersagt, wie z. B. in späteren Gerichtsordnungen der K u r m a r k den Landesgerichten verboten wurde, Klagen gegen den Landesherrn und seine Behörden anzunehmen. Noch zeigte sich aber der absolute Polizeistaat in dieser Periode nicht als voll ausgebildet; denn die Landstände beschränkten die Fürstengewalt. Ich erinnere an früher (§ 47, 2) Vorgetragenes und beispielsweise noch an den Rezeß von 1541, der den brandenburgischen Ständen eine ausgesprochene Mitregierung sicherte. Man k a n n daher die Zeit bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts nennen: den ständisch b e s c h r ä n k t e n und religiös g e s t i m m t e n Absolutismus. Doch ist, wenn wir dem Geist der Dinge nachgehen, nicht zu vergessen, daß diese Einengung vom Fürsten weniger drückend empfunden wurde, als später die Beschränkung durch die Masse, das Volk. Sah man in den Landständen doch stets ein aristokratisches Prinzip vertreten, war doch der Adel dem Landesherrn viel geistesverwandter, als später der parlamentarische Landtag. D i e z w e i t e E p o c h e d e s A b s o l u t i s m u s r e i c h t v o n 1650 b i s 1750. S i e v o l l z o g d e n g r o ß e n U m s c h w u n g i n d i e W e l t l i c h k e i t . Die religiöse Stimmung als oberster Leitstern verblaßte. Die Richtung auf den Staat, auf das tägliche irdische Wohl, stellte sich in den Vordergrund. Wie kennzeichnend sind die Worte des kursächsischen Privilegs von 1661: der regierende Chur- und Landesfürst habe jeden Stand und Untertanen in seinem Wesen, Wohlstand und N a h rungen zu schützen und zu handhaben. (Erledigung der Landesgebrechen § 118.) Nachdem die Kirchen voll anerkannt fraren, t r a t die Sorge um Ausbau und Festigung des Staates hervor. Der Staat als weltliche Individualität, verkörpert im Fürsten, nahm alles Leben in Auspruch. Dynastische Größe, dynastischer Reichtum, dynastischer Glanz wurden erstrebt. Natürlich deckte sich dieses Ziel in Tausenden von Fällen mit der Wohlfahrt des Ganzen. Aber wo die Ziele auseinandergingen, mußten Volk und Staat zurücktreten. Die Landesteilungen, dem Volksinteresse durchaus zuwider, und die Kabinettskriege sind sprechende Beweise. Man lese •einmal die Kriegsursachen nach, welche die Fehde zwischen Gotha und Meiningen

Dynastie.

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hervorriefen, jenen Streit zwisphen der Frau Landjägermeisterin von Gleichen und der Frau von Pfaffenrath! (1746). Auch die Art der Reichtumsbeschaffungen und der Heereswerbungen standen oft im schroffsten Widerspru