Deutsche »Leitkulturen« von der Weimarer Klassik bis zur Gegenwart [1 ed.] 9783412200114, 9783412511517

165 63 27MB

German Pages [305] Year 2018

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Deutsche »Leitkulturen« von der Weimarer Klassik bis zur Gegenwart [1 ed.]
 9783412200114, 9783412511517

Citation preview

 Jost Hermand

DEUTSCHE »LEITKULTUREN« VON DER WEIMARER ­K LASSIK BIS ZUR GEGENWART

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN  |  2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildungen: Links: Germania, Gemälde von Gerhard von Kügelgen (1815)/akg-images. Rechts: DER SPIEGEL 5/2008. http://www.spiegel.de/spiegel/

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Matthias Stangel, Rommerskirchen Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Michael Rauscher, Wien

ISBN 978-3-412-20011-4

Inhalt Vorwort. Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen  7 Der in den frühen siebziger Jahren entfachte Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit  29 Politästhetische Stilcharakterisierungen im Hinblick auf die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts  43 Gesteigerter Sensualismus. Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen  67 Moderne, Avantgarde, Sezession. Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg  89 Realistisch oder abstrakt. Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts   109 »Nichts bleibt so, wie es war!« Expressionismus als Revolution  145 Neue Sachlichkeit. Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?  165 Kulturelle Verblendungssyndrome. Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite im Dritten Reich  189 Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen der frühen Bundesrepublik  209 Das große U und das kleine E. Zur Medienkultur des Neoliberalismus  235 Nachwort. Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur  259 Anmerkungen  273 Abbildungsverzeichnis  291 Register  293

5

6

Vorwort. Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen I Außer der grobschlächtigen Einteilung in Moderne und Postmoderne er­­ freuen sich andere Epochenbezeichnungen in den gegenwärtigen kultur­ wissenschaftlichen Diskursen keiner besonders hohen Wertschätzung mehr. Selbst von früher hochgeschätzten Leitkulturen und den sie unterstützenden Kunst-Ismen oder gegen sie opponierenden Avantgarden ist heute kaum noch die Rede. Viele sehen in Etiketten wie Weimarer Klassik, Romantik, Biedermeier, Impressionismus oder Neue Sachlichkeit nur noch Hilfskon­ struktionen oder Als-Ob-Begriffe, ohne die man zwar bei gewissen Kunst­ büchern oder akademischen Periodenkursen leider nicht auskommt, denen man aber keinen konkreten Aussagewert mehr zuerkennt. Demzufolge gibt es zahlreiche Literatur-, Kunst­und Musikwissenschaftler, die sie entweder völlig vermeiden oder durch Anführungsstriche sowie den Zusatz »die soge­ nannte« Weimarer Klassik oder »das sogenannte« Biedermeier zu ironisie­ ren versuchen. Daher sind viele dieser Begriffe, die früher einmal ein hohes Ansehen genossen, weitgehend auf die Ebene des Feuilletonistischen oder Touristischen abgesunken und werden bloß noch von Antiquitätenhändlern, Stadtführern, Ausstellungs- und Konzertkritikern oder von jenen Autoren gebraucht, deren kulturgeschichtliche Handbücher und Stilfibeln für ein größeres Publikum gedacht sind. Lediglich Reisebegleiter von Studiosusoder Dr. Tigges Touren nach Italien, Frankreich oder Spanien glauben heute noch, alles Entscheidende gesagt zu haben, wenn sie bei der Besichtigung alter Kirchen erklären, dass dieses Fenster noch gotisch sei, dieses Grabmal bereits Renaissance-Züge aufweise und jener Altar zu den Prachtbeispielen des Barock gehöre.

7

Vorwort

Aufgrund dieses fahrlässigen Umgangs mit derartigen Epochenbezeich­ nun­gen machen es sich selbst Kulturwissenschaftler strengerer Observanz manchmal etwas leichter und lassen bei der Aufeinanderfolge ­bestimmter Stil- oder Ismen-Etiketten jede an einer kohärenten Logik orientierte Syste­ matik vermissen. So folgten etwa in einer Darstellung der deutschen Kultur von 1871 bis 1933 auf einen Band mit dem polithistorischen Titel Gründerzeit plötzlich Bände mit künstlerischen Stilbezeichnungen wie Naturalismus, Impressionismus, Stilkunst um 1900, Expressionismus und darauf ein sowohl sozioökonomisch als auch kunstwissenschaftlich orientierter Band zur Kultur der Weimarer Republik.1 Und keiner der vielen Rezensenten dieser Bände nahm Anstoß an dieser recht buntscheckigen Reihenfolge polithistorischer, stilgeschichtlicher und sozioökonomischer Titelgebungen, worin sich die allgemeine Unsicherheit auf diesem Gebiet äußert. Diese unstimmige Plu­ ralität sollte nicht nur innerhalb der vergleichenden Kulturgeschichte, son­ dern auch innerhalb der kunstwissenschaftlichen Einzeldisziplinen endlich zugunsten einer strikteren Systematisierung überwunden werden.2 Aller­ dings stellen sich dabei eine Reihe von Fragen, die nicht leicht zu beant­ worten sind. Schließlich genügt es unter dem Gesichtspunkt einer kultur­ wissenschaftlichen Betrachtungsweise weder, diese Ära rein historisch, also als eine Aufeinanderfolge vom Wilhelminischen Kaiserreich zur Weimarer Republik zu periodisieren und den künstlerischen Bewegungen keine mit­ bestimmende Rolle zuzugestehen, noch die künstlerischen Bewegungen die­ ses Zeitraums einfach in einer nahtlosen Folge von neorenaissancistischem Monumentalismus, Naturalismus, Impressionismus, Stilkunst um 1900, Expressionismus und Neuer Sachlichkeit darzustellen und das geschichtli­ che Element völlig außer Betracht zu lassen. Sinnvoll wäre ein solches Periodisierungsbemühen nur, wenn es diese beiden Ebenen, nämlich die jeweils herrschende Leitkultur und die mit ihr übereinstimmenden bzw. sich gegen sie auflehnenden künstlerischen Grup­ pierungen innerhalb der einzelnen Epochen in einen dialektischen Bezug zueinander setzte. Denn nur dann würde man sowohl den historischen und sozioökonomischen als auch den ästhetischen Komponenten tatsächlich 8

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

gerecht. Allein wer so vorginge, könnte zu Periodisierungskonzepten vor­ dringen, durch die weder das ästhetische noch das historische Moment ungebührlich verabsolutiert und damit ins Eindimensionale fetischisiert würde. Was also auf diesem Sektor endlich auf der Tagesordnung stehen sollte, wären neue Weisen der Vermittlung zwischen diesen beiden Ebenen. Nur dann käme man zu Epochenkriterien, aus denen ersichtlich würde, dass selbst Kunst stets in einem Bezugsfeld steht, in dem sie nicht nur als determinierter, sondern auch als determinierender Faktor fungiert. Bevor jedoch Vermittlungsversuche solcher Art ins Auge gefasst werden können, soll es im Folgenden erst einmal – in aller gebotenen Kürze – sowohl um die rein historisch orientierten als auch die rein kunstautonomen Periodi­ sierungsbemühungen gehen.

II Versuche, die geradezu unübersehbare Fülle der verschiedenen Epochen­ strukturen allein historischen Periodisierungsprinzipien zu unterwerfen, bedienen sich meist folgender Kriterien  : menschheitlicher, nationaler, ge­ schlechtsspezifischer, klassenbezogener, minderheitsorientierter, ideenge­ schichtlicher sowie zivilisations-, institutions-­und alltagsgeschichtlicher. Bei den menschheitsgeschichtlichen Gliederungsversuchen überwiegen dabei entweder großräumige Dreischrittschemata wie Einteilungen in Altertum, Mittelalter und Neuzeit oder hegelianische Periodisierungen in mythologi­ sche, ästhetische, religiöse und aufgeklärt-kritische Zeitalter. Die nationalge­ schichtlichen Gliederungsbemühungen orientieren sich dagegen ausschließ­ lich an den jeweiligen Höhe- und Tiefpunkten bestimmter Dynastien oder Völker. Im Rahmen geschlechtsspezifischer oder klassenorientierter Darstel­ lungen folgen – vor allem im Hinblick auf Frauen, Bauern oder Arbeiter – nach Phasen jahrhunderte- oder jahrtausendelanger Unterdrückung stets solche einer allmählichen Bewusstwerdung der eigenen Bedeutsamkeit und schließlich Phasen des Durchbruchs zu persönlicher Selbstverwirklichung. Ähnliches gilt für alle Periodisierungsversuche, die sich mit der Geschichte gesellschaftlicher Minderheiten, ob nun von Behinderten, Homosexuellen 9

Vorwort

oder sogenannten Fremdrassigen beschäftigen. Bei ideengeschichtlichen Periodisierungsversuchen, welche die Geschichte positiver Leitbilder, etwa der Idee der Freiheit, herausstellen wollen, folgen auf Phasen eines ersten Aufdämmerns stets solche des Zu-Sich-Selbst-Kommens und schließlich des Triumphes über alle entgegengesetzten Konzepte, das heißt im Fall der Frei­ heit über die Mechanismen der totalitären Unterdrückung der sogenannten Menschenrechte. Bei zivilisations-, institutions- und alltagsgeschichtlichen Periodisierungsbestrebungen geht es dagegen meist um die Aufeinanderfolge bestimmter Produktionsweisen oder gesellschaftlicher Organisationsformen, also um die Ablösung des Jäger- und Sammlerdaseins durch den natural­ wirtschaftlichen Feudalismus, des Feudalismus durch den Merkantilismus, des Merkantilismus durch den Kapitalismus sowie den damit verbunde­ nen Folgeerscheinungen im Bereich des Technologischen, Institutionellen, Staatlichen, Ethischen und Mentalitätsbedingten. Um es auf den Punkt zu bringen  : Innerhalb fast aller hier aufgeführten Epochenstrukturen überwiegen im Hinblick auf die vorgenommenen Periodi­ sierungen entweder spiralförmige oder strikt lineare Fortschrittskonzepte, die nur das als positiv bewerten, was zur Ausbreitung oder zum möglichen Sieg der von ihnen befürworteten Leitideen beigetragen hat. Alle diese Sehwei­ sen verleihen daher denjenigen, die sich ideologisch mit ihnen identifizieren, einen unübersehbaren Elan. Das gilt besonders für jene menschheitsgeschicht­ lichen, geschlechtsspezifischen, klassenbezogenen, minderheitsorientierten oder ideengeschichtlichen Periodisierungsbemühungen, deren Vertreter und Vertreterinnen bei überblickshaften Darstellungen ihrer Zielvorstellungen auf noch unbedeutsame Früh- oder Anfangsphasen stets Phasen des Konflikts, des offenen Kampfes und schließlich der siegreichen Durchsetzung ihrer eige­ nen weltanschaulichen Konzepte folgen lassen. In diesen Bereichen dominie­ ren deshalb stets Gliederungsansätze, mit denen sich ihre Proponenten und Proponentinnen Mut zu machen versuchen, indem sie im Rückblick auf die Geschichte alles, was ihren eigenen Zielen entgegengestanden hat, als reaktio­ när bezeichnen und nur das als positiv bewerten, worin sich eine Ahnenfolge von Vorläufern der eigenen ideologischen Leitideen manifestiert. Bei ihnen 10

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

steht demzufolge alles im Zeichen der historischen Schubkraft der jeweils ins Auge gefassten sozialpolitischen Fortschrittskonzepte. Kein Zweifel, solche Versuche sollten von allen nur halbwegs liberal einge­ stellten Menschen lebhaft begrüßt werden. Denn wer will schon utopielos in eine unsichere Zukunft oder gar den Untergang treiben, statt sich an irgend­ welche »Per aspera ad astra«-Konzepte zu klammern  ? Im Rahmen derartiger Überlegungen bleibt jedoch eine Frage vorerst unbeantwortet, nämlich wel­ che Aufgabe eigentlich den verschiedenen Künsten im Rahmen solcher Seh­ weisen zufällt. Meist nur eine rein illustrative, wie man leider zugeben muss. Denn was diese Sehweisen an der Kunst akzentuieren, ist vornehmlich ihr historischer Dokumentationscharakter im Rahmen bestimmter Ideologien, Leitkulturen oder Fortschrittskonzepte, wobei sie häufig der Literatur – als der entscheidenden Trägerin neuer Ideen und Leitvorstellungen – den Vor­ rang geben, während sie die Musik und Malerei oft ungebührlich vernach­ lässigen, weil sie angeblich nicht den gleichen progressiven Drang aufwei­ sen. Im Rahmen der deutschen Geschichte der letzten dreihundert Jahre hat man dementsprechend innerhalb solcher Sehweisen stets jene Perioden in den Vordergrund gerückt und positiv bewertet, in denen sich der gesell­ schaftskritische und zugleich vorwärtsweisende Elan bestimmter literarischer Gruppen, Strömungen und Bewegungen mit tendenziös »realistischen« Dar­ stellungsmitteln gegen den bewusst harmonisierenden Idealismus der von den herrschenden Ständen favorisierten Leitkulturen aufzulehnen versuchte. Als fortschrittlich und damit in ihrem Sinne relevant haben darum die Ver­ treter und Vertreterinnen derartiger Sehweisen im Rahmen ihrer Periodisie­ rungsversuche vor allem rebellische Bewegungen wie die Aufklärung, den Sturm und Drang, den Jakobinismus, das Junge Deutschland, den Vormärz, den Naturalismus, den Expressionismus, die Achtundsechziger Bewegung und die künstlerischen Bemühungen der »Neuen sozialen Bewegungen« als bedeutsam herausgestellt, während sie konservativen Bewegungen wie dem Rokoko, der Empfindsamkeit, der Romantik, dem Biedermeier, dem Poetischen Realismus, der Heimatkunst sowie der Abstraktionskunst der sogenannten Moderne keinen so hohen Wert zuerkannten. Denn wer ein 11

Vorwort

klares politisches, klassenbezogenes, geschlechtsspezifisches, minderheits­ orientiertes oder ideengeschichtliches Telos hat, muss auch auf dem Sektor der Periodisierung, ja vielleicht gerade auf ihm, besonders deutlich wer­ tende Akzente setzen, um nicht in pseudo-objektivierende, historistische oder positivistische Konzepte zurückzufallen. Das notwendige Ergebnis derartiger Periodisierungsbemühungen ist daher zwar ein begrüßenswertes Ernstnehmen bestimmter vorwärtsweisen­ der künstlerischer Werke innerhalb der Dialektik historischer Prozesse, aber zugleich eine deutliche Nivellierung dieser Werke auf die Ebene illustrativer Objekte, um so vornehmlich die eigene ideologische Zielrichtung als wichtig herauszustreichen. Im Rahmen solcher Sehweisen verlieren demnach die Werke der Kunst häufig ihren ideologischen Eigenwert, das heißt sie erschei­ nen lediglich als determinierte, aber nicht als determinierende. Schließlich bevorzugen die Vertreter und Vertreterinnen dieser Richtungen in ihren periodisierenden Einteilungskriterien fast durchweg polithistorische, sozio­ ökonomische oder gruppenspezifische Oberbegriffe, statt in solchen Fällen auch ästhetische Kriterien zu berücksichtigen. Die meisten ihrer Studien, vor allem wenn sie ins Überblickshafte tendieren, tragen daher eher Titel wie Der Prozeß der Zivilisation, Die Kunst der frühbürgerlichen Revolution, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830–1870, Die Kunst der neuen Klasse, Literatur am Vorabend der proletarischen Revolution oder Die zweite Welle des Feminismus in der Bundesrepublik Deutschland, während sie kunstspezifischen Stilbezeichnungen wie Barock, Klassizismus, Biedermeier oder Jugendstil von vornherein aus dem Wege gehen.

III So viel zu den historischen Periodisierungsversuchen, die lange Zeit vor­ wiegend literaturzentriert waren und sich erst seit kurzem auch interdiszip­ linären Gesichtspunkten zu öffnen beginnen. Im Bereich der sogenannten kunstautonomen Periodisierungsbestrebungen steht hingegen meist die bildende Kunst als begriffskonstituierendes Agens im Mittelpunkt. Dafür lassen sich mehrere Gründe anführen, von denen die folgenden wohl die 12

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

wichtigsten sind  : Erstens weil die bildenden Künste, vor allem in ihren angewandten Spielarten, also den Bereichen Architektur, Innenausstattung und Design, nur in Zeiten wirtschaftlicher Boomperioden, in denen genug Investitionskapital zur Verfügung steht, wirklich florieren und zugleich vom affirmativen Grundzug der herrschenden Konjunkturgesinnung ideo­logisch mitbestimmt werden, während sich Literatur, die keiner übermäßigen finan­ ziellen Zuwendung bedarf, selbst in Zeiten äußerster Armut und Unter­ drückung höchst lebhaft zu Wort melden kann. Zweitens weil sich bild­ künstlerische Gestaltungsweisen, selbst im Bereich des Malerischen und Graphischen, wesentlich leichter ins »Autonome« formalisieren oder abs­ trahieren lassen als literarische. Während Worte – von Grenzfällen wie der dadaistischen Lautpoesie oder der konkreten Poesie einmal abgesehen – stets an den Alltagsgebrauch gebunden bleiben, weshalb der vielberedete Unterschied zwischen der Normalsprache und der poetischen Sprache an sich unbedeutend ist, lassen sich visuelle Darstellungsmittel, also Linien und Farben, auch rein abstrakt, das heißt jenseits aller inhaltlichen Bedeu­ tungszusammenhänge verwenden und ohne Weiteres ins Nichtgegenständ­ liche, Formalistische bzw. Autonome verabsolutieren. Die These, dass Kunst lediglich Kunst ist, also aus einem spezifisch kunstimmanenten Prozess her­ vorgeht, der mit den Phänomenen unserer Alltagswelt nicht das Geringste zu tun hat, konnte daher nur im Bereich der bildenden Künste entstehen, während bei allen literaturzentrierten Betrachtungsweisen von Kunst die Nähe zur gesellschaftlichen »Realität« stets wesentlich größer ist, weshalb sich auf diesem Sektor Bestrebungen ins Kunstautonome – bei näherem Zusehen – meist als Entlehnungen oder Übernahmen aus dem Bereich der bildenden Künste erweisen. Das lässt sich nirgends deutlicher zeigen als anhand der ästhetischen The­ oriebildungen in der Zeit um 1900, in der sich der entscheidende Durch­ bruch zu den verschiedenen, als kunstautonom aufgefassten Darstellungs­ weisen der folgenden Jahrzehnte vollzog. Bezeichnenderweise handelt es sich bei dieser Epoche, also der Zeit zwischen 1892/93 und 1914, um die Zeit einer langanhaltenden wirtschaftlichen Hochkonjunktur, in der 13

Vorwort

Deutschland – nach den Vereinigten Staaten – zur zweitstärksten Industrie­ macht der Welt aufstieg. Diese ökonomische Saturierung führte dazu, dass in diesen Jahren sowohl der rebellische Elan der Sozialdemokraten als auch der avantgardistische Eifer der Naturalisten merklich in den Hintergrund traten. Und so kam es in dieser Ära nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell zu einer von fast niemandem in Frage gestellten Konjunkturgesinnung, die sich ästhetisch in einer Fülle wohlstandsbetonter Kunst-Ismen wie Impres­ sionismus, Neoimpressionismus, Symbolismus, Sezessionismus und Deko­ rativismus manifestierte. Im Zuge des hochkonjunkturellen Aufschwungs entwickelte sich deshalb in diesen Jahren – als Fronde gegen die von den neureichen Wohlstandsbürgern als geschmacklos empfundene wilhelmini­ sche Leitkultur – ein ästhetisierendes »Stilwollen«, das vor allem innerhalb der angewandten Künste als die Hauptaufgabe der Kunst schlechthin emp­ funden wurde. Alles sollte plötzlich deutlich erkennbare Stilmerkmale oder modische Schnörkel aufweisen, also in seiner Formgebung betont sezessio­ nistisch wirken. Das trifft vor allem auf den Jugendstil zu, den wichtigsten künstlerischen Ausdruck dieser wirtschaftlichen Konjunktur, der all seinen Produkten, und zwar von Gemälden, Plastiken und Graphiken bis hin zu Sofakissen, Türklinken und Teelöffeln den gleichen Stilwillen aufzuprägen versuchte. Doch auch im Bereich anderer Kunst-Ismen dieser Jahre kam es zu ähnlichen Tendenzen. So sprach man nicht nur von lasziv ausschweifen­ den Jugendstil-Betten, sondern auch von düster-symbolistisch ausgestatte­ ten Wohnzimmern, impressionistisch-aufgehellten Krawatten, stilkünstle­ rischen Villen sowie Landhäusern im Sinne der Heimatkunst. Fast die gleichen Bestrebungen lassen sich in der ästhetischen Theorie dieser Jahre beobachten, die sich nicht nur bemühte, die Stile der eigenen Zeit, sondern die Stile aller Zeiten in eine nahtlose Folge von Kunst-Ismen einzuordnen, denen ein rein formales, kunstautonomes, aus den Formgeset­ zen und Materialbedingungen der jeweiligen Künste abgeleitetes Stilwollen zugrunde liege, ja sogar behauptete, dass sich alle stilistischen Wandlungen allein aus dem »inneren Verlauf« der Künste erklären ließen. Als besonders folgenreich für solche kunstautonomen Periodisierungsversuche erwiesen 14

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

sich die von Heinrich Wölfflin herausgearbeiteten ästhetischen Wahrneh­ mungsformen,3 die schnell zu einer Unterteilung des historischen Ablaufs der künstlerischen Entwicklung nach bestimmten, in der formalen Gestal­ tung nachweisbaren »Stilen« und »Ismen« führten. Zugegeben, schon vorher war von klassischen, romantischen oder realistischen Darstellungsformen die Rede gewesen. Aber unter solchen Stilhaltungen hatten die Kunsttheo­ retiker bis spät ins 19. Jahrhundert weitgehend normative, wenn nicht gar qualitätsbestimmende Merkmale verstanden, während sie jetzt im Sinne des Stilwollens um 1900 sogar unter leitkulturellen Kunst-Ismen wie Romanik, Gotik, Manierismus, Barock, Rokoko, Klassizismus, Romantik, Bieder­ meier, Realismus, Naturalismus, Impressionismus oder Jugendstil immer stärker kunstautonome Wahrnehmungsformen eines bestimmten Zeitalters verstanden und sie in eine Reihenfolge einordneten, der fast ausschließlich formale Kriterien zugrunde lagen. Innerhalb solcher Sequenzen arrangier­ ten die Stilkundler nach 1900 darum die einzelnen Stile entweder so, dass sie sich in einem wellenförmigen Hin und Her wiederholten oder sich in zyklische Abläufe von archaisch zu klassisch und schließlich zu manieris­ tisch einfügten, wodurch sich das gesamte Feld der Kunstgeschichte, auf dem bisher eher die großen Einzelnen und ihre Schulen dominiert hatten, zusehends in eine lückenlose, wenn nicht gar gesetzmäßige Folge verschie­ dener Stilhaltungen verwandelte. Diese vorwiegend formalistisch ausgerichteten Periodisierungsbestrebun­ gen erwiesen sich als so effektiv, dass sie nicht nur die verschiedenen Kunst­ strömungen zwischen 1890 und 1920, also vom Naturalismus zum Expres­ sionismus, als Ismen definiert wurden, sondern sich auch die Literaturhisto­ riker im Zuge der von Oskar Walzel propagierten »wechselseitigen Erhellung der Künste«4 bei ihren Periodisierungsversuchen mehr und mehr der von den zeitgenössischen Kunsthistorikern bereitgestellten Ismen bedienten und von manieristischer, rokokohafter, biedermeierlicher und impressio­ nistischer Literatur sprachen. Und zwar geschah das sowohl auf der Ebene der formalen Stilanalyse, auf der man kunsttheoretische Grundbegriffe wie »malerisch« und »linear« auf literaturtheoretische Begriffe wie »offene Form« 15

Vorwort

und »geschlossene Form« übertrug, als auch auf der Ebene der sogenannten geistesgeschichtlichen Wesenserhellungen. Für Letzteres sprechen alle Peri­ odisierungsversuche, welche die stilistischen Manifestationen bestimmter Zeitalter auf irgendeinen imaginären gotischen, barocken oder romantischen Menschentyp zurückzuführen versuchten, jedoch – trotz ihrer angeblichen Erweiterung ins Psychologisch-Essentielle im Sinne Ernst Kretschmers, Edu­ ard Wechßlers oder Oswald Spenglers – dennoch im Bereich rein kunstau­ tonomer Kriterien blieben. So viel zu den kunstautonomen Periodisierungsversuchen, zu denen sich in den folgenden Jahrzehnten – vor allem während hochkonjunktureller Affirmationsperioden – selbstverständlich auch andere kunsttheoretische Legitimationsstrategien gesellten, die sich gegen jedwede Indienstnahme der Kunst von Seiten gesellschaftskritischer Bewegungen und deren inhalt­ lichen Relevanzansprüchen an die Kunst zu sperren versuchten. Heinrich Wölfflin und seine Anhänger gaben dazu nur erste Anstöße, die später von den verschiedenen, unter der Flagge des Formalismus segelnden Schulen, wie den Werkimmanenzlern, den New Critics sowie manchen strukturalisti­ schen und poststrukturalistischen Gruppen – je nach ideologischer Zielset­ zung – entweder ausgebaut, verfeinert oder verändert wurden, während von irgendwelchen zeitgeschichtlich bedingten Epochenstrukturen oder Leitkul­ turen innerhalb derartiger Forschungsrichtungen kaum noch die Rede war.

IV Aufs Große und Ganze gesehen, lässt sich demnach im Hinblick auf die Peri­odisierungskonzepte der eher historisch-orientierten sowie der eher for­malästhetisch-orientierten Richtungen folgende erste Summe ziehen  : Sozio­ökonomische, klassenbezogene, geschlechtsspezifische, minderheits­ orientierte und ideengeschichtliche Periodisierungsbemühungen standen im Laufe des 20. Jahrhunderts vornehmlich in Zeiten des Konflikts, politischer Umbrüche oder ökonomischer Krisen im Vordergrund, als man auch die Kunst, meist von Seiten der Literatur, für bestimmte rebellische Bewegun­ gen, Ideen oder Veränderungskonzepte zu engagieren suchte, das heißt sich 16

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

bemühte, ihr – in Kritik und Utopie – eine gesellschaftspolitische Relevanz zu verleihen. Kunstautonome Periodisierungsversuche dominierten dagegen stets dann, wenn es aufgrund wirtschaftlicher Konjunkturbedingungen auf politischer und sozialer Ebene zu sogenannten Stabilisierungsperioden kam, in denen die aufmüpfigen Tendenzen der voraufgegangenen Krisenzeiten durch Status quo-bejahende Leitkulturen in den Hintergrund gedrängt wurden. Rein vordergründig gesehen, manifestierte sich das in Deutsch­ land meist in Kunsttheorien, die sich eher an den finanziell anspruchsvollen Investitionskünsten, also Architektur, Design, Innenausausstattung, Oper, Theater und Ballett, orientierten, als von den nicht so aufwendigen Litera­ tur­formen, wie Gedichten, Dramen und Romanen, auszugehen. Dafür spricht die Präponderanz der Architektur, der Regiekünste und des Designs in Hochkonjunkturperioden wie der Jahrhundertwende, der ­sogenannten Stabilisierungsphase der Weimarer Republik zwischen 1923 und 1929, der erhardschen »Wirtschaftswunder«-Periode von 1955 bis 1967 und der kohlschen Hochkonjunkturphase nach der sogenannten Wende von 1982. Schließlich stand in diesen vier Perioden sowohl in der gesellschaftlichen Realität als auch in der kulturellen Theoriebildung vor allem die Tendenz ins geschmackvoll Formalisierte im Vordergrund, das durch seine eingän­ gige Formgebung vornehmlich ins Kommerziell-Absetzbare zielte, das heißt kaum noch gesellschaftlich progressive Bezüge aufwies, sondern ständig zwischen irrelevanten Moden des Vor und Nach, des Post und Neo hin­ und herpendelte und damit eine Bewegung vortäuschte, der lediglich die »ewige Wiederkehr des Neuen« zugrunde lag, wie Walter Benjamin das Wesen kommerzieller Kunstmoden zu charakterisieren versuchte.5

V Allerdings waren diese beiden Richtungen nicht die einzigen, die sich im 20. Jahrhundert, wie wir wissen, um neue Periodisierungskonzepte bemüh­ ten. Im Gegensatz zu diesen zwei Sehweisen von Kunst, von denen die eine mehr von der zivilisatorisch-gesellschaftlichen Basis und die andere mehr von den ästhetischen Stiltendenzen bestimmter Leitkulturen ausging, 17

Vorwort

haben sich zu gleicher Zeit kunsttheoretische Schulen entwickelt, die diese beiden Ebenen in ein höchst beziehungsreiches, vielfältig durchbrochenes bzw. dialektisch miteinander verbundenes Verhältnis zu setzen versuchten. Leider herrschte bei solchen Versuchen bisher alles andere als Einigkeit. So gibt es auf diesem Gebiet immer noch Kulturhistoriker, die auf vulgärma­ terialistische Weise nicht davor zurückschrecken, alle höheren Formen des Bewusstseins, also auch die der Kunst, schlichtweg aus dem materiellen Sein abzuleiten. Aber es gibt auch andere, die selbst in den Manifestationen des geistigen Überbaus historische Schubkräfte sehen, welche durchaus auf die Basis zurückwirken können. Ja, es melden sich seit neuem sogar Vertreter einer vergleichenden Kulturgeschichte zu Wort, die sich bemühen, ihre materialistischen Ableitungsmodelle mit einer Fülle institutionsgeschicht­ licher, sozialpsychologischer, kulturanthropologischer, systemtheoretischer, mentalitätsgeschichtlicher und dekonstruktivistischer Aspekte anzureichern, wodurch der Versuch, im Hinblick auf bestimmte Epochenstrukturen wei­ terhin am schlichten Modell von Basis und Überbau festzuhalten, immer komplizierter geworden ist. Selbst im Rahmen weitgehend historisch orientierter kulturgeschichtli­ cher Betrachtungsweisen wird es demzufolge zusehends schwieriger, noch mit relativ stringenten Periodisierungsbegriffen aufzuwarten. Doch nicht allein die methodische Differenzierung und Aufsplitterung in immer wei­ tere Einzel- und Unterdiskurse, auch die geradezu explosionsartige Erwei­ terung unseres historischen Wissens macht es nicht gerade leicht, im Rah­ men weitausgreifender Überblicksdarstellungen noch klare Periodisierun­ gen gewisser Leitkulturen sowie der mit ihnen übereinstimmenden bzw. sich gegen sie auflehnenden Stilhaltungen vorzunehmen. Aufgrund dieser Entwicklung ist es schließlich dazu gekommen, dass immer mehr Kunst-, Musik-, Literatur- und Kulturwissenschaftler einfach darauf verzichtet haben, sich noch an sogenannte totalisierende Betrachtungsweisen heranzu­ wagen, die ein geradezu faustisches Einzel- und Gesamtwissen sowie zugleich ein aufs Höchste gesteigertes methodisches Bewusstsein voraussetzen wür­ den. Das Ergebnis dieser Resignation ist jene wissenschaftstheoretische 18

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

Inkommensurabilität, die sich immer stärker in eine Fülle verschiedenster Diskurse aufzulösen droht, die manchmal untereinander kaum noch Bezie­ hungspunkte aufweisen, sich voneinander abzukapseln versuchen oder sich in offenem Antagonismus feindlich gegenüberstehen. Und zwar beruft sich dieser Verzicht auf ein angeblich obsolet gewordenes Konzept einer sinn­ vollen Aufeinanderfolge historischer Vorgänge gern auf jenen französi­schen Poststrukturalismus, der im Zeichen partiell verstandener Posthistoire- oder Postmoderne-Konzepte jeden fortschrittsbetonten Zugriff auf Geschicht­ liches von vornherein als problematisch, wenn nicht gar als »totalitär« ver­ dächtigt und für diesen Totalitarismus vor allem in festgefügten Systemen philosophierende »Meisterdenker« wie Kant, Hegel oder Marx verantwort­ lich macht. Im Rahmen solcher Sehweisen werden daher historische Periodisierungs­ versuche, vor allem wenn sie auf Entwicklungskonzepten beruhen, die sich an klar erkennbaren klassenbezogenen oder ideengeschichtlichen Fort­ schrittskonzepten orientieren, zusehends als hinfällig empfunden. Hinter solchen Betrachtungsweisen wittern die Vertreter dieser Richtungen sofort einen ungebührlich systematisierenden und damit totalitär vereinfachen­ den Zugriff auf jene höchst widersprüchliche Fülle geschichtlicher Phäno­ mene, denen nicht ein klar erkennbares Grund- oder Leitprinzip, wie sie behaupten, sondern stets ein kaum zu entwirrendes Konglomerat mehre­ rer Prozesse zugrunde liege. Wenn also in diesem Lager überhaupt noch Periodisierungskriterien verwendet werden, dann nur innerhalb einzelner Diskursformationen, das heißt rein geschlechtsspezifischer, minderheits­ orientierter oder ästhetischer Entwicklungsverläufe, die nicht mehr in den Gesamtverlauf der Geschichte eingebettet werden. So gibt es zwar seit den achtziger Jahren zeitverhaftete Periodisierungen im Rahmen des Feminis­ mus, wo manchmal von der ersten, zweiten und dritten Welle der Frauen­ bewegung die Rede ist, sowie Stilbestimmungen innerhalb bildkünstleri­ scher Diskurse, die von einer zeitlich genau bestimmten Aufeinanderfolge von Pop Art, Fotorealismus, Minimalismus und Individueller Mythologie ausgehen, aber bei solchen Periodisierungen auf irgendwelche politischen, 19

Vorwort

sozialen oder ökonomischen Voraussetzungen weitgehend verzichten. Je nach ideologischer Orientierung oder akademischer Spezialisierung haben in diesen Bereichen viele Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen nur noch ihren eigenen Diskurs im Auge und unterliegen damit leicht der Gefahr der Abspaltung ins Partielle oder gar Fachspezifische, indem sie das Objekt ihres Erkenntnisinteresses – unter Nichtbeachtung aller anderen Diskurse – als den einzig relevanten Beitrag zur Kultur einer bestimmten Epoche hinstellen, wodurch das Interesse am Gesamtverlauf der Geschichte im Rahmen solcher Diskursanalysen allzu oft in den Hintergrund tritt. Der einzige Periodisierungsversuch innerhalb dieser Sehweisen, der ein beachtliches Aufsehen erregte, war, wie gesagt, der in Moderne und Post­ moderne. Im Vergleich zu historisch orientierten Periodisierungskonzepten steht jedoch hinter ihm, jedenfalls in der Praxis vieler seiner Befürworter, oft weniger ein Denken in deutlich voneinander abgesetzten Epochen, Leitkul­ turen oder Kunst-Ismen als der Versuch, allen älteren Geschichtsvorstellun­ gen und ihren kulturwissenschaftlichen Stilbestimmungen ein pluralistisch orientiertes Konzept der Unmöglichkeit jeglicher historischen Periodisie­ rungsversuche entgegenzustellen. Dieser Versuch wird meist als Aufbruch in irgendeine »neue Offenheit« herausgestrichen, läuft aber häufig auf eine konsequente Liquidierung aller anderen sich als fortschrittlich gebenden Interpretationsansätze hinaus, die im Rahmen der verbreiteten Posthistoire-­ Stimmungen gern als von den Zeitläuften überholt hingestellt werden. Was in diesem Bereich als neuer Anfang gilt, erscheint jedoch manchen eher kritisch eingestellten Kulturhistorikern lediglich als das Ende eines wis­ senschaftlichen Totalitätsanspruchs, ohne den sich auch das Einzelne, aus größeren Zusammenhängen Herausgerissene, nicht wirklich erkennen lässt.

VI Entgegen der Abschaffung aller Totalitätsansprüche innerhalb der ­Kulturund Geisteswissenschaften, die ihre positiven, aber auch ihre problema­ti­ schen Aspekte hat, sollte man deshalb im Hinblick auf die hier zur Debatte stehenden Periodisierungsbemühungen bestimmter Leitkulturen oder 20

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

Stil­formationen lieber versuchen, die Geschichte der Kunst weiterhin in ein sinnvolles Verhältnis zu der ihr zugrunde liegenden Gesellschaftsforma­ tionen zu setzen, und zwar auf eine Weise, die es vermeidet, damit von vorn­ herein der Tyrannei des Totalitären zu verfallen. Dass ein solcher Versuch – angesichts der steigenden methodischen Differenzierung und Erweiterung unserer Faktenkenntnisse – höchst problematisch ist, lässt sich leider nicht leugnen. Aber was bliebe sonst zu tun, falls man überhaupt noch bereit ist, Kunst und Kultur wirklich ernst zu nehmen, das heißt sie in die vielfältigen historischen Prozesse einzubeziehen und ihre Geschichte im Hinblick auf diese Prozesse zu periodisieren  ? Eine Kunst, die nur aus Kunst entsteht, ist letztlich keine Kunst, so wie eine Geschichte, die ohne Kultur auszukom­ men versucht, es letztlich nicht wert ist, Geschichte oder gar Universal­ geschichte genannt zu werden. Doch wie lassen sich diese beiden Aspekte miteinander in Beziehung set­ zen, ohne dabei dem einen oder dem anderen eine ungebührliche Dominanz zu geben  ? Im Hinblick auf bestimmte Periodisierungsfragen, die sich in diesen Zusammenhängen als zentral erweisen, ginge das nur, wenn man im Sinne der unumgänglichen Totalität, wofür Hegel die Formel »Das Wahre ist das Ganze« prägte, selbst das Inkongruenteste, nämlich das Oben und Unten, das Ästhetische und das Materielle, das Hochkulturelle und das Alltägliche als sich wechselseitig bedingende Elemente in einem dialektisch fortschreitenden Prozess zu deuten versucht, innerhalb dessen nicht nur Übereinstimmungen in Form von Analogien und Homologien, sondern auch Gegensätze in Form von Konfrontationen und Ungleichzeitigkeiten eine wichtige Rolle spielen. Um eine solche Dialektik der allgemeinen Kulturbewegung herauszuar­ beiten, bedarf es allerdings wesentlich komplizierterer Periodisierungsversu­ che, als sie sich in den gängigen Kulturgeschichten finden, die ihr Material weiterhin vornehmlich nach rein soziopolitischen oder rein ästhetischen Großabschnitten gliedern. Es würde sich demnach empfehlen, von solchen einsträngigen Einteilungsschemata endgültig Abschied zu nehmen und in den Kulturwissenschaften Periodisierungskriterien zu verwenden, die 21

Vorwort

beiden Ebenen die gebührende Gerechtigkeit widerfahren lassen. Schließlich sollte im Rahmen einer Geschichtsbetrachtung, die auf dem dialektischen Gegen-, In- und Nebeneinander von Sein und Bewusstsein beruht, auch die Kultur vornehmlich im Bereich jener »relativen Autonomie« betrachtet werden, wo sie neben anderen geistigen und ideologischen Manifestationen als bedingt-bedingende und somit sowohl widerspiegelnde als auch eingrei­ fende Kultur einsichtig würde. Rein praktisch gesehen, ließe sich das nur durch die Einführung eines Periodisierungsverfahrens bewerkstelligen, das nicht nur auf einem, sondern auf zwei Koordinaten- oder Bezugssystemen beruht, nämlich einem realge­ schichtlichen, das sich an den Zäsuren der politischen, sozioökonomischen und gesellschaftlichen Wandlungen orientiert, und einem eher ästhetischen oder stilgeschichtlichen, das im Sinne der unleugbaren Form-Inhalt-Dia­ lektik die leitkulturellen Gestaltwerdungen innerhalb der verschiedenen Kulturbewegungen eines bestimmten Zeitraums herauszuarbeiten sucht. Nur durch eine solche Entscheidung würde man sich im Bereich des Kul­ turgeschichtlichen endlich sowohl vom einseitigen Primat des sozioöko­ nomischen Realgeschehens als auch vom ebenso einseitigen Primat des Kunstautonomen befreien und wesentlich klarer erkennen, welche Funk­ tion der Kunst im Rahmen ideologischer Entscheidungsprozesse eigent­ lich zukommt und welcher geistige Rang ihr durch die Anerkennung einer relativen Autonomie zwischen diesen beiden Ebenen letztendlich gebührt.

VII Greifen wir zur Illustration dieser These, um aus dem Theoretischen end­ lich ins Empirische überzugehen, die Jahre zwischen 1815 und 1848 h­ eraus, die zeitweise sowohl auf literaturwissenschaftlicher als auch auf kulturhis­ torischer Ebene ein Streitobjekt ersten Ranges waren, da sich in ihr viele jener politischen, sozioökonomischen und ästhetischen Entwicklungen anbahnten, die sich als höchst folgenreich erwiesen. Schließlich kam es in dieser Epoche – trotz massiver Versuche der herrschenden Dynastien, an der »gottgewollten« Sozialordnung und zugleich Leitkultur des Ancien 22

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

régime festzuhalten – in Deutschland zum ersten Durchbruch der Indus­ trialisierung, zur merklichen Vermehrung kleinbürgerlicher und proletari­ scher Schichten, zu politischen Parteiungen, zur ersten Avantgardisierung von Literatur und Wissenschaft und damit zur politischen Polarisierung in rechts und links, für die es im Heiligen Römischen Reich zuvor nur recht bescheidene Ansätze gegeben hatte. Aufgrund der hierin zum Ausdruck kommenden inneren Gegensätze ist es selbst der kunstautonomen Spielart der Kulturgeschichtsschreibung, die im Hinblick auf andere Epochen sonst so schnell mit griffigen Ismen und Stilen zur Hand war, bisher nicht gelungen, einen kultursynthetischen Gesamtbe­ griff für die verschiedenen Künste dieses Zeitraums zu finden. Davor gibt es für viele an solchen Fragen Interessierte die Romantik und danach den Realismus. Aber für die Zeit dazwischen herrscht nach wie vor eine seltsame Unsicherheit. Anstatt irgendwelche interdisziplinären Herangehensweisen zu entwickeln, um diesem Dilemma endlich abzuhelfen, hat sich die kunstau­ tonome Richtung bisher weitgehend auf die Erforschung der Einzelkünste dieser drei Jahrzehnte beschränkt und dabei Kriterien wie »übergangshaft« oder »biedermeierlich« in den Vordergrund gerückt. Eher von historischen Konzepten ausgehende Kulturwissenschaftler haben dagegen im Hinblick auf den Zeitraum von 1815 und 1848 meist den Begriff »Vormärz« verwandt und vor allem die gesellschaftskritischen Elemente der Kunst dieser Ära herausge­ strichen.6 Da jedoch in dieser Epoche trotz aller Wandlungsprozesse – rein quantitativ gesehen – vor allem das Konservative überwog, würde sich für sie als historische Gesamtbezeichnung eher ein Begriff wie »metternichsche Restaurationsperiode« empfehlen. Ein solcher Terminus scheint mir ange­ sichts der von oben her erzwungenen Haupttendenzen dieser Ära wesentlich gemäßer. Schließlich konnten sich in ihr die liberal-rebellischen und später offen zum Umsturz aufrufenden Kräfte nur in relativ kurzen Episoden Aus­ druck verschaffen, weshalb die Revolution der Jahre 1848/49 trotz bester Absichten an der noch immer überstarken Reaktion scheiterte. So viel zu dem ersten Koordinaten- und Bezugssystem. Bei dem zweiten Koordinatensystem, das auch den verschiedenen, wegen der Gespanntheit 23

Vorwort

der politischen Situation sich antagonistisch gegenüberstehenden kultu­ rellen und ästhetischen Strömungen Rechnung zu tragen versucht, müsste man dagegen wesentlich differenzierter verfahren. Hier hätten selbst als allgemeine Epochenbezeichnungen abgelehnte Begriffe wie »Biedermeier« und »Vormärz« durchaus ihren Platz. So könnte man die Jahre zwischen 1815 und 1819 als die Jahre der burschenschaftlichen Umtriebe, die Jahre 1819 bis 1830 als die Zeit der durch die Karlsbader Beschlüsse erzwungenen ersten biedermeierlichen Beruhigungsphase, in der die konservativen Kräfte die Oberhand hatten, die Jahre von 1830 bis 1835 als die durch die Pariser Julirevolution ausgelöste frühliberale Turbulenzphase, die Jahre von 1835 bis 1840 als die durch das Bundestagsverbot der jungdeutschen Bewegung erzwungene zweite biedermeierliche Beruhigungsphase und schließlich die Jahre von 1840 bis 1848 als die eigentliche Zeit des Vormärz charakterisie­ ren, in der sich die lange unterdrückte Unzufriedenheit gewisser Bevölke­ rungsschichten mit den herrschenden Zuständen endlich Luft zu machen versuchte und somit zur Achtundvierziger Revolution überleitete.7 Nur vor diesem Hintergrund wäre es überhaupt sinnvoll, genauer auf die verschiedenen kulturellen Strömungen innerhalb dieser Ära einzugehen. Im Rahmen der hier aufgezeigten Spannungen und Konflikte wurden nämlich auch den Künstlern dieses Zeitraums ständig Entscheidungen abverlangt, die sich nur bei einer höchst exakten Kenntnis der politischen, sozialen und ideo­ logischen Voraussetzungen dieser Epoche wirklich verstehen und würdigen lassen. Allerdings betrafen diese Spannungen und Konflikte nicht alle Künst­ ler in gleichem Maße. So waren etwa die Komponisten, falls sie sich nicht auf die Vertonung liberal gesinnter oder deutschnationaler Texte einließen, sondern sich auf die übliche Kirchen- und Instrumentalmusik beschränkten, davon nur am Rande betroffen. Etwas stärker sahen sich die Maler dem res­ taurativen Druck ausgesetzt, sofern sie sich im Rahmen der Historien- oder Genremalerei an Themen heranwagten, die ideologische Rückschlüsse auf den Gehalt ihrer Bilder erlaubten, und sich nicht mit den üblichen Porträts oder Landschaften begnügten. Doch am stärksten wurden mit diesen Konflikten selbstverständlich die Schriftsteller konfrontiert, die geradezu in jedem ihrer 24

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

Werke Farbe bekennen mussten – ob nun in einem freiheitlich-burschen­ schaftlichen, konservativ-biedermeierlichen, resignierend-weltschmerzleri­ schen, aufmüpfig-jungdeutschen oder revolutionär-vormärzlichen Sinn. Schon dieser höchst pauschale Überblick lässt erkennen, dass sich der Druck der metternichschen Restauration und der gegen ihn aufbegehrende Liberalismus auf die drei Hauptkünste nicht unbedingt gleich stark, son­ dern – je nach gesellschaftlicher Funktionsweise – recht ungleichmäßig aus­ wirken musste. Und so ist im Hinblick auf diese Ära, selbst wenn man die subtilsten interdisziplinären Methoden anwenden würde, kein durchgehen­ der Gesamtstil oder gar eine allumfassende Leitkultur zu erwarten. Was in ihr dominiert, ist auf den ersten Blick ein höchst verwirrender Stilpluralismus, der mit den unterschiedlichen gesellschaftlichen Indienstnahmen der drei verschiedenen Kunstarten zusammenhängt. In die Öffentlichkeit ragende Gattungen weisen in diesem Zeitraum ganz andere Form-Inhalt-Spannun­ gen, das heißt einen wesentlich komplexeren, in das ideologische Bewusst­ sein der Zeit eingreifenden Charakter auf als die noch aus handwerklichen Gebrauchstraditionen stammenden Künste. Dementsprechend haben zwar Musik und Malerei dieser Ära weiterhin einen unleugbaren Charme, in dem ein älteres ästhetisches Wohlgefälligkeitsideal nachwirkt, erheben sich jedoch nur in ihren »durchdachteren« Leistungen auf die geistige Höhe ihrer Zeit, während in Teilen der gleichzeitigen Literatur der Charme der älte­ ren »Kunstperiode« bereits zu schwinden beginnt und durch ein kritisch-­ reflektierendes Stilideal abgelöst wird. Doch dieser Verlust war zugleich ihr Gewinn, da die jungdeutsche und vormärzliche Literatur durch diesen Funktionswandel all das, was sie an künstlerischer Formvollendung einbüßte, an ideologischer Bewusstheit hinzugewann, indem sie sich zusehends mit der durch die einsetzende Verstädterung und Industrialisierung herbeige­ führten Spannung zwischen den reaktionären Mächten des Ancien régime und den sich dagegen auflehnenden bürgerlich-liberalen Gruppierungen auseinanderzusetzen bemühte. Kulturgeschichtlich gesehen war also diese Ära, was hier nur angedeutet werden kann, künstlerisch ebenso gespalten wie sie politisch gespalten war. 25

Vorwort

Und diese inneren Widersprüche sollte man bei stilgeschichtlichen Ein­ ordnungsversuchen dieser Epoche weder irgendwelchen weltanschaulichen noch irgendwelchen ästhetischen Einheitswerten zum Opfer bringen. In diesem Zeitraum, der sich im Bezugssystem des Politischen höchst eindeu­ tig als »metternichsche Restaurationsepoche« definieren lässt, geben sich also im Bezugssystem des Ästhetischen mindestens vier oder fünf verschie­ dene Strömungen zu erkennen, die entweder in einem affirmativen oder kritischen Sinn auf die herrschenden Restaurationsverhältnisse reagierten. Während in vielen älteren Großperioden – im Rahmen autoritär gelenk­ ter Herrschaftssysteme – solche Aufspaltungen noch eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, brach sich in den Jahren zwischen 1815 und 1848 zusehends ein auf ökonomischen und sozialen Wandlungen beruhendes Konfliktbewusstsein Bahn, das Begriffen wie Liberalität und Avantgarde auf der einen und Reaktion und Restauration auf der anderen Seite erstmals eine ganz andere Konkretheit und damit Schärfe verlieh. Demzufolge hing der Rang bestimmter Künstler in diesem Zeitraum immer stärker davon ab, wie sie sich – im Rahmen der von oben angestrebten konservativen Leitkultur – zu den anstehenden Konflikten verhielten bzw. welchen ideo­ logischen und ästhetischen Standort sie dabei bezogen. Und damit wurde in dieser Ära selbst der Akt, einem bestimmten Inhalt eine bestimmte ästhetische Form zu geben, zu einer Entscheidung, die sich – vor allem in der Literatur – innerhalb eines Spannungsfelds von Restauration und Fortschritt abspielte, das von jedem Schriftsteller eine einzelpersönliche Stellungnahme verlangte.

VIII Kommen wir zu Folgerungen. Bei Periodisierungskonzepten, die ausschließ­ lich vom Primat des Politischen oder Sozialen ausgehen, wird Kunst häufig zur bloßen Handlangerin bestimmter Geschichts- oder Gesellschaftspro­ zesse degradiert, während sie innerhalb kunstautonomer Periodisierungsbe­ strebungen, die sich von allen zeitgeschichtlichen Rückbezügen freizuma­ chen versuchen, oft so weit ins Formale abstrahiert wird, dass von ihr bloße 26

Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen

Ismen- oder Stil-Schemata übrigbleiben. Lediglich bei Periodisierungsver­ suchen, welche ihr im Rahmen zweier Koordinaten­oder Bezugssysteme eine relative Autonomie zubilligen, gesteht man ihr jenen geistigen Rang zu, der ihr an sich seit alters her gebührt und durch den sie weiterhin ein zentrales Interesse auf sich ziehen könnte. Wer also nicht gewillt ist, sich mit der fortschreitenden Marginalisierung von Kunst im Rahmen rein his­ torisierender oder rein kunstautonomer Diskurse abzufinden, wird solchen Periodisierungskonzepten den Vorzug geben müssen. Denn nur dann, wenn man ihr einen bedingt­-bedingenden Charakter zugesteht, erhebt man sie auf die Ebene jener Phänomene, auf der die zentralen kulturpolitischen Entscheidungen stattfinden. Wer das nicht tut und sie ihrer sozialverant­ wortlichen Funktion beraubt, spaltet sie notwendig ins Unerhebliche ab. Und zwar tun das nicht nur diejenigen, die sie zum »Dienstmädchen der Geschichte« erniedrigen, sondern paradoxerweise auch jene, die ihr einen autonomen Charakter zugestehen, der jedoch außerhalb aller wirklichen Lebensbezüge liegt und daher für eine in die gesellschaftliche Wirklichkeit eingreifende Kunstbetrachtung weitgehend irrelevant bleibt. Hüten wir uns also, Kunst weiterhin in politisch unverbindliche Begriffs­ systeme, ob nun in rein historische, rein ästhetische oder andere Pauschaldis­ kurse wie angebliche Generationsabfolgen, nichtssagende Zeitabschnitte wie die Siebziger Jahre, kommerzielle Modewellen, ästhetisierende Ismen-Eti­ ketten oder grobflächige Raster wie Modernismus bzw. Postmodernismus, einzuordnen, das heißt, sie entweder ins Abgelebte zu historisieren oder ins falsche Autonome zu erheben. Ihre konkrete Größe entfaltet Kunst schließ­ lich nur dann, wenn sie sich – im Rahmen der geschichtlichen Dialektik ihrer Zeit – den von ihr erkannten gesellschaftlichen Widersprüchen inner­ halb der jeweils mit herrschaftsbetontem Anspruch auftretenden Leitkultu­ ren auf ihre Weise, nämlich mit den zur Überwindung dieser Widersprüche dienlichen ästhetischen Mitteln zu stellen versucht und dabei avantgardis­ tische Haltungen entwickelt, die auch uns Mut geben könnten, durch das Postulat einer wahrhaft demokratischen Leitkultur an der Überwindung der Widersprüche unserer eigenen Zeit mitzuwirken. 27

Der in den frühen siebziger Jahren entfachte Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit Das höchst kontroverse Buch Die Klassik-Legende, um das es im ­Folgenden gehen soll, erschien 1971 beim Athenäum-Verlag in Frankfurt am Main. Seine Beiträge wurden im Oktober 1970 auf dem Second Wisconsin Work­ shop in Madison als Tagungsreferate gehalten und verursachten schon dort lebhafte Diskussionen.1 Welch erregte Debatte die dort angeschnittenen Probleme allerdings in der Folgezeit in den USA, der Bundesrepublik und der DDR auslösen würde, konnten Reinhold Grimm und ich – die Veran­ stalter dieser Konferenz sowie die Herausgeber des anschließenden Sam­ melbandes – im Herbst 1970 noch nicht vorhersehen. Als linksliberale Literaturwissenschaftler wollten wir damals keineswegs als klassikfeindli­ che Enfants terribles oder gar tempeleinreißende Radikalinskis auftreten, sondern lediglich etwas frischen Wind in die relativ ereignislos vor sich hindümpelnde US -amerikanische Germanistik bringen, die sich immer noch im Gefolge des New Criticism und der Close Reading-Konzepte der fünfziger und sechziger Jahre aus allen ideologischen Entscheidungsfragen heraushielt.2 Dass wir bei diesem Versuch ausgerechnet die Weimarer Klassik und ihre ins Verkultende tendierende Rezeption aufs Korn nahmen, wirkte auf viele der älteren Germanisten in den USA – darunter Heinz Politzer, Henry H. H. Remak und Oskar Seidlin – wie ein rebellischer Paukenschlag, auf den sie höchst ungnädig reagierten. Wie fast immer hatte auch dieser inzwischen längst historisch gewordene Akt seine Vorgeschichte, ohne den er nicht ganz verständlich ist. Schließlich hatten Grimm und ich 1969 beim Suhrkamp Verlag einen umfangreichen Sammelband unter dem Titel Deutsche Revolutionsdramen herausgebracht, der ganz auf der Linie der damals von Siegfried Unseld durch viele Publika­ tionen beförderten Ideologie der westdeutschen Studentenbewegung lag, zu 29

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

deren literarischen Haupthelden vor allem Revolutionäre wie Georg Büch­ ner, Bertolt Brecht und Peter Weiss gehörten. Und auch die im gleichen Jahr von Gisela Bahr, Reinhold Grimm, John Fuegi, Ulrich Weisstein und mir initiierte Gründung der Internationalen Brecht-Gesellschaft tendierte in diese Richtung. Aber all das wurde von den älteren US-amerikanischen Germanisten als nicht so kontrovers empfunden wie eine Kritik an der Leit­ kultur der Weimarer Klassik, durch die sie ihr ins Ästhetische verdünntes »humanistisches« Selbstverständnis in Frage gestellt sahen. Hierauf reagierten sie deshalb wesentlich allergischer, zumal sie derartige Tendenzen bereits in meinen kurz zuvor erschienenen Publikationen mit äußerster Missbilligung wahrgenommen hatten. Dazu gehörte erst einmal meine 1966 erschienene Reclam-Anthologie Das Junge Deutschland, die eine provokante Sektion von »Anti-Goetheana« enthielt.3 1968 war darauf im Zuge meiner systematischen Aufarbeitung anderer politisch aufmüpfiger Bewegungen – nach dem Sam­ melband Der deutsche Vormärz – meine zweibändige Insel-Anthologie deut­ scher Spätaufklärer und Jakobiner unter dem Titel Von deutscher Republik. 1775–1795 erschienen, deren Vorworte ich ein Jahr später in meinem Buch Von Mainz nach Weimar. 1793–1919 zu einem längeren Aufsatz unter dem Titel In Tyrannos ausarbeitete,4 der sich eindeutig zu den anti-weimarisch gesinnten Rebellen unter den deutschen Sympathisanten der Französischen Revolution bekannte.5 Daher wurde ich bereits im Sommer 1970 auf dem IVG -Kongress in Princeton, wo ich einen Vortrag über Stänker und Weismacher. Zur Dialektik eines Affekts hielt,6 von der englischen Germanistin Elizabeth Wilkinson öffentlich als »Klassikfeind« beschimpft. Das von Grimm und mir im Herbst 1970 verfasste Vorwort zu dem Band Die Klassik-Legende, mit dem wir bewusst auf Franz Mehrings Bloßstellung der wilhelminischen Germanistik zurückgriffen, erwies sich deshalb als höchst brisant. Allerdings wollten wir damit im Gegensatz zu Mehring, dem es ledig­ lich um die falsche Legendenbildung um Lessing, aber nicht um eine Kritik an Lessing selber gegangen war, neben der späteren Mythisierung Goethes und Schillers auch ihre sogenannten klassischen Werke mit einem kritischen, das heißt »trennenden« Blick unter die Lupe zu nehmen, um neben dem 30

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

Positiven ihrer aufklärerisch-humanistischen Gesinnung nicht das Negative ihrer ablehnenden Haltung zur Französischen Revolution und ihrer Ausflüchte in den Raum der ästhetischen Autonomie zu unterschlagen. Und darin lag das eigentlich Provozierende. Besonders das, was von mir mit dem sozialhistorisch verstandenen Begriff »Weimarer Hofklassik« umschrieben wurde,7 fassten viele der älteren Klassik-Verehrer als eine an Ludwig Börne angelehnte Entlarvung Goethes als opportunistischen »Fürstendiener« auf. Doch nicht nur die damals immer weiter aufklaffende Spaltung in Goethe-Verehrer und Goethe-Kritiker führte zu solchen Urteilen. Auch die durch die US-amerikanische und west­ deutsche Studentenbewegung zwischen 1968 und 1973/74 bewirkte Wen­ dung ins »Linke«, die gerade in der Germanistik besonders spürbar wurde, sowie die nach 1971 in der DDR stattfindende ideologische Polarisierung im Zuge des Machtwechsels von Walter Ulbricht zu Erich Honecker, durch die es auch dort zu vielen politästhetischen Umorientierungen im Hinblick auf das »kulturelle Erbe« der goethezeitlichen Leitkultur kam, taten ein Übriges, solchen Kontroversen eine besonders scharfe Note zu geben. Was demzufolge im Westen – aufgrund dieser besonderen Konstellation – an dem Band Die Klassik-Legende gelobt oder angegriffen wurde, war daher nicht unbedingt das Gegenteil von dem, was man im Osten an ihm lobte oder angriff. So strich etwa in der Bundesrepublik ein linksliberaler Litera­ turkritiker wie Franz Schonauer 1972 in seinen Rezensionen dieses Bandes vor allem den Mut heraus, mit dem seine Beiträger versucht hätten, die »traditionelle Germanistik von ihrem ideologischen Gerümpel zu befreien«. Besonders erfrischend fand er die These, den Bereich des »Klassischen« end­ lich auf jene »Hofklassik« der Jahre zwischen 1795 und 1805 zu verengen und damit historisch und sozialgeschichtlich zu präzisieren. Was er lobte, waren deshalb vor allem die Aufsätze von Max L. Baeumer und Klaus L. Berghahn, in denen sich die meiste Kritik an der herkömmlichen Klassik-Vorstellung finde. Dagegen fand Schonauer die abschätzige Behandlung der marxisti­ schen Goethe-Verehrung in dem Aufsatz Die regressive Universalpoesie. Zum Klassikbild der marxistischen Literaturkritik von Franz Mehring bis zu den »Weimarer Beiträgen« von Walter Hinderer recht oberflächlich, der sich zwar 31

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

gegen »Literaturfunktionäre vom Schlage eines Abusch, Girnus, Thalheim usw.« wende, aber nicht konkret genug auf die »kulturpolitische Situation« eingehe, »die für den Unfug der Klassikrezeption in der DDR verantwort­ lich sei«.8 Und solchen Thesen stimmten zu diesem Zeitpunkt, in dem die Studentenbewegung ihren Höhepunkt erlebte, sicher viele jener westdeut­ schen Linksliberalen zu, die sich zwar als gesellschaftskritisch empfanden, aber keine besondere Sympathie für die Kulturpolitik der DDR hegten. Welch ein Unmut sich unter den Klassik-Verehrern der DDR nach dem Erscheinen der Klassik-Legende verbreitete, bekam ich zum ersten Mal im Oktober 1972 auf dem Düsseldorfer Heine-Kongress zu spüren, wo ich in meinem Vortrag Heines »Ideen« im »Buch Le Grand«, wie schon in meinem Aufsatz Werthers Harzreise von 1969, nochmals ausführlich auf die Kritik des jungen Heine an dem alten Goethe einging.9 In der anschließenden Diskussion, in der junge Liberale wie Lothar Bornscheuer und Helmut Müs­ sener für mich Partei ergriffen, während ältere Wissenschaftler aus der DDR, Israel und der BRD wie Karl-Heinz Hahn, Ernst Simon, Werner Kraft, Dolf Sternberger und Benno von Wiese die von mir vorgetragene Goethe-Kri­ tik des jungen Heine als »unwichtig« oder »böswillig erfunden« hinstell­ ten, stießen dann die Meinungen recht hart aufeinander.10 Am schärfsten trat dabei Karl-Heinz Hahn gegen meine Ausführungen auf und erklärte empört, dass er in Weimar selbst die Kritik eines streitbaren Humanisten wie Heine an Goethe nicht dulden dürfe. Darauf bemerkte Benno von Wiese in seiner zynisch-jovialen Art, dass er – falls alle Menschen in der DDR so eingestellt seien wie Karl-Heinz Hahn – gern ein Bürger der DDR werden würde. Angesichts der Schärfe solcher Kontroversen, bei denen sogar an Ausfällen wie »Hallo, junger Mann  !« und »Sie alter Knacker  !« nicht gespart wurde, sagte schließlich der brave Moderator Eberhard Galley verzweifelt, dass die »Unterscheidung in bürgerliche und fortschrittliche Auffassungen eine sinnvolle Diskussion verhindere« und brach damit die Debatte ab.11 Für die westdeutschen Zeitungen war diese Diskussion natürlich ein gefundenes Fressen. So nannte mich etwa Rudolf Walter Leonhardt am 31. Oktober 1972 in der Zeit einen »jungen deutschen Sozialisten aus 32

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

Amerika«, der wegen seiner »einseitigen Polemik« gegen Goethe von KarlHeinz Hahn und Hans Kaufmann, den »beiden Sozialisten aus der DDR«, wieder auf den »Teppich zurückgeholt worden sei«. Goethe-Verehrer wie Golo Mann, Ernst Simon und vor allem Friedrich Sengle, deren Ausführun­ gen einen wohltuenden »Gegenpol zu den marxistischen Interpretationen« gebildet hätten, lobte er dagegen über den grünen Klee.12 Ich hatte zwar schon vorher gewusst, auf welch vermintes Feld ich mich mit dem Begriff »Klassik-Legende« und der Kritik des jungen Heine an dem alten Goethe begeben würde. Aber auf dieser Tagung, auf der ich mich zwar mit Hans Kaufmann blendend verstand, der – im Gegensatz zu Leonhards Behauptun­ gen – in seinen Diskussionsbeiträgen nicht mich, sondern Friedrich Sengle angriff, während ich von Karl-Heinz Hahn unmissverständlich geschnitten wurde, wurde mir das immer bewusster. Dennoch ahnte ich zu diesem Zeit­ punkt noch nicht, wie sehr ich im folgenden Jahr in der DDR zu einem Brennpunkt kulturideologischer Auseinandersetzungen werden sollte, die sich zwar – oberflächlich gesehen – mit meinen Publikationen beschäftig­ ten, aber eigentlich darin nur einen willkommenen Anlass für eine interne Auseinandersetzung über die Rolle des kulturellen Erbes der Goethe-Zeit für die zukünftige DDR sahen. Schließlich geriet nach dem Rücktritt Walter Ulbrichts die bisherige »Vollstrecker«-These, nämlich dass man in der DDR daran gehe, im humanistischen Geiste der Weimarer Leitkultur den dritten Teil von Goethes Faust zu verwirklichen, um endlich mit »freiem Volk auf freiem Grund« zu stehen,13 allmählich in die Problemzone weitreichender und zum Teil hin- und herschwankender Diskussionen. Die erste dieser Publikationen erschien Anfang 1973 in der Zeitschrift Sinn und Form und zwar in jenem kulturideologisch gewichtigen Heft, das sich auch in anderen Aufsätzen, wie den Beiträgen Brecht und die Probleme der deutschen Klassik von Werner Mittenzwei und dem Heiner Müller-Ver­ riss Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß von Wolfgang Harich, mit Problemen des »kulturellen Erbes« auseinandersetzte. Er trug den Titel Von Sieben, die auszogen, die Klassik zu erlegen und stammte von Helmut Holtz­ hauer, dem damaligen Direktor der Weimarer Nationalen Forschungs- und 33

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

Gedenkstätten sowie amtierenden Präsidenten der Goethe-Gesellschaft.14 Der Grundtenor dieses Aufsatzes lief, wie schon der Titel andeutete, auf eine forcierte Witzigkeit hinaus. Wie in dem Märchen von den »Sieben Schwaben« wurden in ihm die sieben Madisonians als tollpatschige, ja gera­ dezu »lächerliche Kleinbürger« hingestellt, die sich bei ihrem Versuch, die hehre deutsche Klassik zu erlegen, grenzenlos »blamiert« hätten.15 Ja, selbst Brechts Klassik-Kritik wertete Holtzhauer als »kleinbürgerlich-radikal« ab. Am schärfsten zog er jedoch, wie zu erwarten, gegen Hinderers Aufsatz Vom Klassikbild der marxistischen Literaturkritik vom Leder, dem er wegen seines »blindwütigen Antikommunismus« einen verblendeten »Subjektivis­ mus« vorwarf.16 Die Aufsätze von Max L. Baeumer, Klaus L. Berghahn und Walther Sokel beurteilte er dagegen etwas milder. Am Schluss rang sich Holtzhauer sogar zu einigen wohlwollenden Zugeständnissen durch. So bescheinigte er »vorzüglich« mir, zumal ich einige Jahre zuvor beim Ostberliner Akademie-Verlag die Bände Naturalismus, Impressionismus und Stilkunst um 1900 herausgebracht hatte, höchst gnädiglich, dass ich mich von den »heiligen Kühen der Literaturwissenschaft« keineswegs einschüch­ tern lasse und obendrein schon »manchem literarischen Phänomen neue Seiten abgewonnen« habe.17 Er begrüßte sogar Teile der »amerikanischen Germanistik« mit einer großzügigen Geste als »Partner im Kampfe« gegen die »Irrwege einer allzugläubigen [westdeutschen] Germanistik und allge­ meinen Kulturpolitik«. Allerdings dürfe sie sich dann, wie er schrieb, nicht wieder so »blind« verhalten wie in dem Buch über die »Klassik-Legende«.18 Dass Helmut Holtzhauer zu diesem Zeitpunkt mit seiner geradezu pie­ tätvollen Haltung der goethezeitlichen Leitkultur gegenüber innerhalb der DDR bereits leicht »veraltete« Anschauungen vertrat,19 geht aus einer kur­ zen redaktionellen Notiz im gleichen Heft von Sinn und Form hervor, in der sich – wohl aus der Feder von Wilhelm Girnus, dem verantwortlichen Herausgeber dieses Blatts – die Bemerkung fand, dass es im »Verhalten zu unserer literarischen Vergangenheit keinen Stillstand geben« dürfe. »Beson­ ders heftig umstritten«, hieß es hier, »erscheint dabei die deutsche Literatur um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.« Man beachte, wie bewusst 34

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

damit das Wort »Klassik« umgangen wurde. Und darauf folgten die – für die damalige Kulturideologie der DDR – geradezu revolutionären Sätze  : Dieses Problem nimmt in den Köpfen einiger Theoretiker, vornehmlich inner­ halb der westdeutschen ›Linken‹, die Gestalt einer ungewöhnlich zugespitzten Frage an  : Kann denn eine der bürgerlichen Epoche entsprungene und verhaf­ tete Dichtung für die revolutionäre Arbeiterbewegung und die sozialistische Gesellschaft noch eine ästhetische ›Ansteckungskraft‹ entwickeln  ? Kann sie in unserer heutigen Welt – Atomdrohung, Automatisierung, Elektronik, Vietnam usw. – revolutionärem Handeln wirksame Impulse erteilen  ? Fragen, die trotz ihres offenbar vordergründigen Charakters verständlich erscheinen und von der revolutionären Ungeduld der Jugend leidenschaftlich aufgenommen werden.20

Mit diesen Sätzen wurde von Girnus, der sich in den fünfziger und frühen sechziger Jahren in Fragen dieser Art wesentlich »ulbrichtscher« verhalten hatte,21 ein völlig neuer, auf die aktuelle Situation bezogener Standpunkt bezogen, der sich nicht mehr mit der hergebrachten »Vollstrecker«-These begnügte, die zwar von einem tiefen Respekt vor den beiden großen wei­ marer Autoren zeuge, aber zugleich einen willkommenen Anlass geboten habe, den allzu brennenden Fragen der Gegenwart durch die Berufung auf eine ins »Klassische« erstarrte Vergangenheit aus dem Wege zu gehen. Doch damit war die »Erbe«-Debatte, die durch den Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker eine neue Ausrichtung bekommen hatte, noch keines­ wegs abgeschlossen. Bereits im vierten Heft von Sinn und Form des gleichen Jahres erschien Hans-Heinrich Reuters die weiterhin vorbildliche Bedeutung der humanistischen Leitkultur der Goethe-Zeit herausstreichender Aufsatz Die deutsche Klassik und das Problem Brecht – Zwanzig Sätze der Entgegnung auf Werner Mittenzwei, dem ein Jahr später ein Brecht gegen Reuter ver­ teidigender Aufsatz von Lothar Ehrlich sowie der zwischen diesen beiden Positionen vermittelnde Beitrag Sozialismus und deutsche Klassik von Hans Dietrich Dahnke folgten.22 Kurz darauf äußerte sich auch Wilhelm Girnus in derselben Zeitschrift noch einmal zu den gleichen Problemen, wobei 35

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

er wiederum das Wort »Klassik« im Titel ausließ und lieber von »unserem Verhältnis zur literarischen Vergangenheit« sprach.23 Allerdings war damit die vieldiskutierte Auseinandersetzung mit dem »Literarischen Erbe« keineswegs abgeschlossen und führte immer wieder zu neuen Fehden und Konfrontationen, bei denen es weiterhin um die leit­ bildliche Bedeutsamkeit der »Weimarer Klassik« für das kulturelle Selbst­ verständnis der Literaturgesellschaft in der DDR ging. Im Hinblick auf den Band Die Klassik-Legende war dabei vor allem der umfangreiche Aufsatz Erben oder Enterben  ? Jost Hermand und das Problem der realistischen Aneignung des klassischen bürgerlichen Literaturerbes von Rudolf Dau von Bedeu­ tung, der 1973 im Juli-Heft der Zeitschrift Weimarer Beiträge erschien.24 Unter Berufung auf Anatoli Wassiljewitsch Lunatscharski, den ersten Volks­ kommissar für das Bildungswesen in der Sowjetunion, wurden hier noch einmal all jene verdammt, die sich durch eine »progressive Destruktion« des »Alten« als Repräsentanten einer »extremen ›Modernität‹« aufzuspielen versuchten.25 Und dazu zählte Dau vor allem mich und meine angeblichen »Schüler«, die sich als Vertreter der »historisch überfälligen Bourgeoisie« noch einmal »jung gebärdeten«, indem sie mit den Postulaten einer »abs­ trakt-republikanischen Idealität« gegen das »Klassische Erbe« aufbegehrten.26 Zwar gab auch er zu, dass er in solchen Tendenzen durchaus das »Unbeha­ gen gegenüber den verstaubten konservativen oder elitären modernistischen Konzepten« der »bürgerlichen Erberezeption« verspüre. Ja, Dau betonte sogar wie Holtzhauer, dass hierin durchaus »Bündnispotenzen« für einen gemeinsamen Kampf gegen den »Imperialismus« steckten. Aber er bestand zugleich auf einer scharfen »ideologischen Klärung und Abgrenzung«, da nun einmal die »objektive Funktion solcher linksbürgerlichen Ideologien« oft darauf hinausliefe, im Rahmen eines pluralistisch gegliederten Gesamt­ systems von »Anpassungsideologien« mögliche oppositionelle Bestrebungen im eigenen Lager zu neutralisieren, um somit »geschickter ›ostpolitisch‹ operieren zu können«. Deshalb bestand Dau darauf, den »Fehdehandschuh, den Hermand und seine Schüler der sozialistischen Klassikaneignung wie der klassischen Literatur hingeworfen haben«, aufzunehmen, das heißt sich 36

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

mit dieser »gezielten, eindeutig antisozialistischen Provokation« auseinan­ derzusetzen und dabei »unser eigenes Verhältnis zum klassisch-humanisti­ schen Erbe kritisch zu überdenken«.27 Das las sich auf den ersten Blick wie eine an die redaktionelle Notiz in Sinn und Form erinnernde Revision der bisher allzu blauäugig, wenn nicht gar massiv gehandhabten »Vollstrecker«-These. Doch letztlich lief Daus Argu­ mentation dann doch darauf hinaus, den »sozialliberalen Gesundbetern am Krankenbett des Imperialismus« entschieden Paroli zu bieten, wie er schrieb, und die »mit dem Schweiß und oft auch mit dem Blut vieler Generatio­ nen bezahlten Schönheiten und Kampfeswerte der deutschen Klassik« nicht widerstandslos dem »Klassengegner zu überlassen«.28 Und zwar wies Dau zur Bekräftigung seiner Thesen hierbei vor allem auf meine übertriebene Hochschätzung der deutschen Jakobiner hin, der eine »forciert kritische Distanz« gegen »alles ›Klassische‹ und angeblich ›Affirmative‹« zugrunde liege, die er irrigerweise auf Einflüsse von Seiten der »spätbürgerlich-sozio­ logischen« Anschauungen der Frankfurter Schule zurückführte.29 Ja, auch an anderen polemischen Spitzen fehlte es keineswegs. So sah Dau in mei­ ner – wie er es nannte – »transzendentalen« Verklärung des »Republikani­ schen an sich« lediglich die »einfache Umkehrung des konservativ-humanis­ tischen oder offen reaktionären Mythos von einem besonderen ›deutschen Geist‹«, der »aus unerklärbaren germanischen Tiefen auf uns gekommen sei«. Noch empörter war er selbstverständlich über Begriffe wie »Hofklassik« oder »Ästhetizismus« im Hinblick auf manche Werke Goethes und Schillers, als hätte es nie die marxistische Charakterisierung der Weimarer Klassik als einer Erhebung aus der »platten« in die »überschwängliche Misere« gegeben. Mit anderen Worten  : Die Weimarer Klassik war für ihn nach wie vor der abso­ lute ideologische und künstlerische Höhepunkt der gesamten bürgerlichen Literatur, weshalb er sich in seinem Schlussabschnitt entschieden dagegen verwehrte, den jungen streitbaren Humanisten Heine dem alten affirmativen Goethe gegenüberzustellen, wie ich das in meinem Aufsatz Werthers Harzreise getan habe. Überhaupt wurde er gegen Ende seines Aufsatzes allmählich immer aggressiver. Dafür spricht, dass Dau sein Verdikt gegen den Band Die 37

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

Klassik-Legende mit der Behauptung schloss, dass die in diesem Buch geübte »pseudoradikale Gebärde der Klassik-Vernichtung« letztlich eine »indirekte Systemapologetik der imperialistischen Gesellschaft« sei.30 Um diesen Aufsatz mit seinen eindeutig diffamierenden Tendenzen nicht unwidersprochen zu lassen, ließ Dieter Schiller schon Anfang 1974, das heißt im Januar-Heft der Weimarer Beiträge nochmals eine längere Rezension der Klassik-Legende einrücken, die zwar ebenfalls nicht unkritisch ausfiel, aber doch ein ganz anderes politisches und intellektuelles Niveau aufwies.31 In ihr wurde nicht nur das in meinem Buch Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft von 1968 ausgesprochene »Bekenntnis zur Notwendigkeit neuer Fortschrittspostulate«, sondern auch der in dem Aufsatz In Tyrannos von 1969 herausgestrichene politische Radikalismus der deutschen Jakobiner durchaus positiv bewertet. Mit diesen Publikationen, wie er schrieb, »ist Hermand immerhin wieder angelangt beim Grundgedan­ ken des Heinrich Mann der endzwanziger Jahre – was das politische Konzept angeht.« »Die dreißiger Jahre«, fuhr Schiller fort, »könnten also noch vor ihm liegen, man soll da optimistisch sein, wie Exempel lehren.«32 Auch dass in dem Buch Die Klassik-Legende eine Reihe »bürgerlicher Literatur­legenden« zerstört würden, wurde als erfreulich verzeichnet. Was jedoch fehle, hieß es weiter, sei eine analysierende Kritik der »wirklichen« Verhältnisse, das heißt eine Kritik, die von den gesellschaftspolitischen Verhältnissen der damaligen Zeit ausgehe und auch die »Klassenkämpfe und die mit ihnen verbundenen Wandlungen« einbeziehe. Anschließend stieß sich allerdings auch Schiller an dem Begriff »Weimarer Hofklassik«, der vor allem dazu diene, die »Legende vom kulturkonservativen Klassik-Bild des Marxismus« zu untermauern.33 Doch Schiller benutzte dieses Argument nicht nur in diffamierender Absicht. Schließlich war er kein zäh am Alten hängender Dogmatiker wie Holtzhauer oder Dau. Im Gegenteil, er war wie Mittenzwei davon überzeugt, dass die oft beschworenen Ideen des bürgerlichen Humanismus in »der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus« allmählich ihre Gültigkeit verlören. Daher schloss er seine Rezension weder mit einer billigen Diffa­ mierung noch mit einer klaren Abgrenzung von den Hauptthesen dieses 38

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

Bandes, sondern erklärte im Hinblick auf Klaus L. Berg­hahns Kritik an der »normativen Kulturfunktion der deutschen Klassik«, dass auf dieser Basis durchaus eine »Verständigung« möglich sein könnte, »wenn auch nicht heute oder morgen«, wie er vorsichtigerweise hinzufügte.34 Und mit dieser Haltung begnügten sich schließlich die meisten DDR-­ Germanisten, deren Fragestellungen – nach dem Machtantritt Erich Hone­ ckers – im Laufe der siebziger Jahre ohnehin andere wurden. Statt sich wei­ terhin wie in der Ulbricht-Ära zentral mit dem Funktionswert der Weimarer Klassik für die Herausbildung einer sozialistischen Leitkultur auseinander­ zusetzen, rückten jetzt eher Gegenwartsprobleme, Subjektivitätsfragen, Die Neuen Leiden des jungen W., die Neueinschätzung der romantischen Lite­ ratur und Ähnliches in den Vordergrund. Was daraufhin an Klassik-Kon­ troversen erfolgte, waren an sich nur noch Nachspiele. Daher hörten auch die Polemiken gegen den Band Die Klassik-Legende nach diesem Zeitpunkt allmählich auf. Lediglich Rudolf Dau konnte es nicht lassen, 1976 in einem Aufsatz unter dem Titel Klassenkampf und kulturelles Erbe. Zu einigen neueren Tendenzen in der Klassik-Rezeption in der Literaturwissenschaft der BRD, der wiederum in den Weimarer Beiträgen erschien, noch einmal auf die »heroischen Illusionen« meiner »kleinbürgerlichen Kritik an der deutschen Klassik« hinzuweisen und sich abermals entschieden von ihr abzusetzen.35 Dagegen ließen in Westdeutschland auch in der Folgezeit die Attacken gegen die in diesem Buch vertretenen Thesen keineswegs nach. Und zwar beteiligten sich daran Vertreter der verschiedensten Lager. So wurde mir etwa 1976 in der unter dem Einfluss der DKP stehenden Deutschen Volkszeitung im Gefolge Rudolf Daus vorgeworfen, dass ich einen »idealistischen Ahisto­ rismus« befürworte, das heißt Literatur nicht aus ihren »historisch-klassen­ mäßigen Wurzeln« erkläre und mich damit indirekt mit den »großbürgerlich-­ liberalen Positionen« eines Marcel Reich-Ranicki identifiziere. Und wo ich einmal avanciertere Standpunkte vertrete, seien diese lediglich die eines »hei­ matlosen Radikaldemokraten« oder »verspäteten jakobinischen Republika­ ners«, aber nicht die eines wahren Linken.36 Doch das war noch relativ gnä­ dig. Wesentlich schärfer sprangen die Rechten mit mir um. So warf mir der 39

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

Freiburger Germanist Gerhard Kaiser im selben Jahr vor, eine Reihe von Autoren des späten 18. Jahrhunderts – darunter Adolf Franz von Knigge, Friedrich Christian Laukhard, Johann Heinrich Voß und Wilhelm Ludwig Wekhrlin – wie der Jakobinerforscher Walter Grab zu »Republikanern« erklärt zu haben, auf welche diese Bezeichnung entweder gar nicht oder nur mit gro­ ßen Abstrichen zutreffe, um damit indirekt Goethe und Schiller am Zeuge zu flicken.37 Ja, Manfred Lauffs wurde in seinem Aufsatz Poesie, Politik und ein Professor, der 1981 in der Deutschen Vierteljahrsschrift erschien,38 noch wesent­ lich aggressiver. Er erklärte mit der gleichen konservativen Grundhaltung, dass ich mich in meiner Hochschätzung der deutschen Jakobiner und der damit verbundenen »Klassikdenunziation« als ein verblendeter Radikalinski bloßgestellt habe, der keinen Respekt vor den hochbedeutenden Leistungen Goethes und Schillers aufbringen könne.39 Bei all dem fühlte sich Lauffs lediglich an den öden »Seminar-Marxismus« der kleingläubigen Achtund­ sechziger erinnert.40 Und manche dieser Urteile wirkten auch später nach. So beschimpfte mich noch am 23. Mai 2002 ein Rezensent der Frankfurter Rundschau – nach meinem in Weimar gehaltenen Vortrag über die ideologisch wechselvolle Geschichte der Goethe-Gesellschaft – als einen »Goethe-Geg­ ner«, ja als ein »Raubein«, dem offenbar nichts heilig sei.41 Kommen wir zu Folgerungen. Welche ideologischen Erkenntnisse lassen sich aus dieser Kontroverse ableiten  ? Bei der überragenden Bedeutung, wel­ che die Leitkultur der Weimarer Klassik seit alters her im deutschen Geis­ tesleben eingenommen hat, ist jede Äußerung über sie von vornherein ein Politikum. Goethe und Schiller sind nun einmal keine bürgerlichen Autoren wie Eduard Mörike, Adalbert Stifter oder Rainer Maria Rilke, deren politi­ sche Anschauungen man notfalls als nebensächlich bezeichnen könnte. Im Gegensatz zu allen Nur-Dichtern, ideologischen Leisetretern oder Ästheten haben sie sich wie andere bedeutende bürgerliche A ­ utoren vom Schlage eines Thomas oder Heinrich Mann nicht gescheut, auch zu den zentralen politi­ schen und sozialen Fragen ihrer Zeit Stellung zu beziehen. Dass diese Stel­ lungnahmen – unter dem Einfluss des Weimarer Hofes und der ihnen ver­ liehenen Adelsdiplome – nicht im Sinne ihrer radikaldemokratischen oder 40

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

gar jakobinisch gesinnten Zeitgenossen ausfielen, ist allgemein bekannt. Sie wichen – im Rahmen einer nicht aufgegebenen aufklärerischen Grundhal­ tung – eher ins »Humanistische«, »Allgemein-Menschliche« oder »Mensch­ heitliche« aus. Und an dieser Haltung haben sich viele der späteren Kont­ roversen um die inhaltlichen Positionen ihrer Werke entzündet. Während sich aufmüpfige Bewegungen vornehmlich für vorweimarische Werke wie Prometheus, Götz von Berlichingen, Die Räuber und Kabale und Liebe interes­ sierten, haben eher auf Repräsentation bedachte Epochen und Bewegungen lieber die Werke der zwei Weimarer Klassiker zwischen 1795 und 1805 in den Vordergrund gerückt. Im Hinblick auf die DDR hatte diese Polarisierung in vorweimarische und weimarische Werke folgende Konsequenzen  : Hier gab es in den frühen siebziger Jahren – einmal etwas vereinfacht gesprochen – Goethe- und Schil­ ler-Freunde, deren Hochschätzung vor allem den aufmüpfigen Frühwerken der Sturm-und-Drang-Ära dieser beiden Autoren galt und die von dort her eine Linie über Büchner zu Brecht zu ziehen versuchten  ; aber hier gab es zugleich Goethe- und Schiller-Freunde, die eher das Humanistisch-Vorbild­ liche in den »klassischen« Werken »unserer beiden großen Weimarer Klas­ siker« herausstellten und sich bemühten, diese Haltung auch in die DDR zu »verretten«, wie sich Brecht gern ausdrückte. Ja, hier gab es sogar solche, die alles in den Werken Goethes und Schillers als gleichermaßen bedeutend empfanden und damit jedmögliche Kritik an diesen beiden Klassikern von vornherein abblockten. Ein Buch wie Die Klassik-Legende, das im Jahr des Umbruchs von Ul­bricht zu Honecker erschien, musste daher notwendigerweise – wie alle Erbe-Debatten dieser Jahre, in denen im Lichte neuer Erfahrungshorizonte das Festklammern am Alten immer stärker in Frage gestellt wurde – eine DDR -interne Kontroverse auslösen. Während die von Walter Ulbricht, Johannes R. Becher und Georg Lukács herkommenden Kulturverantwort­ lichen darin einen bösen Verstoß gegen ihre Erbe-Konzeptionen sahen, wurde dieses Buch untergründig von all jenen, die endlich diese einen­ gende Beschränkung – ob nun im Sinne einer sogenannten Liberalisierung 41

Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit

oder einer Wendung zu wahrhaft sozialistischen Konzepten – überwinden wollten, als ein erwünschter Befreiungsakt begrüßt. DDR-Literaturwissen­ schaftler, die sich von dieser Wende lediglich einen dem Westen angegli­ chenen Meinungspluralismus erhofften, erschienen mir damals unwichtig. Mich interessierten eher jene, die in den frühen siebziger Jahren, als auch in Westdeutschland eine ideologische Aufbruchsstimmung herrschte, durch ihre vertieftere Kenntnisnahme der jakobinischen Tendenzen des späten 18. Jahrhunderts plötzlich eine dialektisierende Optik auf die Weimarer Klassik entwickelten, welche sie nicht mit Respektlosigkeit gleichsetzten, die ihnen jedoch die Augen für die politische Miserabilität Deutschlands gegen Ende des 18. Jahrhunderts öffnete, in dem es aufgrund der vielfältig zersplitterten und wirtschaftlich unterentwickelten Verhältnisse nicht zu jenen revolutionären Aufschwüngen kam, die damals in Frankreich erfolg­ ten. Zugegeben, es gab in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts auch im Heiligen Römischen Reich vereinzelte, nicht genug zu rühmende jako­ binische Auflehnungsversuche und Geisteshaltungen, aber die allgemeine politische und sozioökonomische Situation war so desolat, dass selbst die »Besten« unter den Dichtern dieser Ära, zu denen an prominenter Stelle Goethe und Schiller gehören, keine tatsächlich »eingreifenden« Wirkungs­ chancen sahen. Ob man das, was sie trotz dieser beschränkten Ausgangs­ position dennoch schufen, als »Klassisches Erbe« bezeichnen sollte, ist den­ noch höchst zweifelhaft. Mir erschiene es sinnvoller, wie ich das später in meinen Büchern Pro und Contra Goethe. Dichterische und germanistische Stellungnahmen zu seinen Werken (2005) sowie Grüne Klassik. Goethes Naturverständnis in Kunst und Wissenschaft (2016) herauszuarbeiten suchte, im Sinne der bereits erwähnten dialektisierenden Optik in Zukunft in ihren Werken schärfer als zuvor zwischen dem zu unterscheiden, was auch heute noch relevant ist, und dem, worin sich nur der Ausdruck einer ideologischen Verlegenheit manifestiert.42 Ich glaube, damit käme man der historischen Wahrheit wesentlich näher als bei einer fraglosen Überschätzung ihres soge­ nannten klassischen Humanismus und einer sich daraus ergebenden, ja zum Teil bis heute als gültig angesehenen Leitkultur.43 42

Politästhetische Stilcharakterisierungen im Hinblick auf die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts I Während sich in Deutschland mit dem Begriff »19. Jahrhundert« bis 1871 ein relativ fortschrittliches Geschichtskonzept verbunden hatte, wurde nach der Gründung des Zweiten Kaiserreichs derselbe Begriff – vor allem im natio­nalistischen Lager – nur noch in einem retrospektiven Sinne gebraucht. Wohl das markanteste Beispiel dafür ist Heinrich von Treitschkes Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert (1879 ff.), in der selbst die Weimarer Klassik und die Befreiungskriege weitgehend als Vorbereitungsphasen der bismarck­ schen Reichsgründung hingestellt wurden. In der Kunstgeschichtsschrei­ bung entsprach dem ein Buch wie Hermann Riegels Die Geschichte des Wiederauflebens der deutschen Kunst zu Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte der allgemeinen Wiedergeburt des deutschen Volkes (1875). Hier wie dort herrschte letztlich das Schema »Aufbruch und Vollendung« vor, das in der endlich erreichten Reichsgründung den Höhepunkt der neueren deutschen Geschichts­und Kulturentwicklung sah. Doch zu solchen nationalistischen, ja chauvinistischen Proklamationen gesellten sich in denselben Jahren auch einige bürgerlich-liberale Stimmen wie die von Anton Springer, Adolf Rosenberg und Adolf Dohme,1 die trotz ihrer eindeutig nationalen Grundgesinnung bei der Betrachtung der deut­ schen Malerei des 19. Jahrhunderts – im Sinne der beliebten Knackfuß-­ Monographien – eher die persönliche Eigenart der einzelnen Maler in den Vordergrund rückten. Wohl am weitesten ging dabei Friedrich Pecht in sei­ nem vierbändigen Werk Deutsche Künstler im 19. Jahrhundert (1877 ff.), das lediglich aus einer Reihe von Kurzmonographien bestand, die vornehmlich jenen Historien- oder Genremalern gewidmet waren, welche »man« damals, weil sie etwas thematisch »Bedeutsames« anzubieten hatten, als die Größten 43

Politästhetische Stilcharakterisierungen

empfand – also Andreas Achenbach, Arnold Böcklin, Peter von Cornelius, Franz von Defregger, Anselm Feuerbach, Wilhelm Kaulbach, Ludwig Knaus, Franz von Lenbach, Hans Makart und Anton von Werner. Versuche, die Werke der dargestellten Künstler in irgendeiner Weise zu klassifizieren oder gar zu periodisieren, waren in diesen Jahren noch selten. Entweder wurde der gesamte Verlauf der deutschen Malerei im 19. Jahr­ hundert unter der Perspektive der erwähnten nationalen Vorläuferschaft betrachtet oder das Ganze einfach in eine unzusammenhängende Reihe von Malerporträts aufgelöst. Das wirkte auf den ersten Blick wie ein eklatanter Gegensatz. Doch sowohl in dem übersteigerten Nationalismus als auch dem geheimen Geniekult, der meist auf eine untergründige Identifizierung mit dem als »titanisch« empfundenen Bismarck hinauslief, machte sich bei genauerem Zusehen durchaus »Gründerzeitliches« bemerkbar.2 Daher nimmt es nicht wunder, dass sich an dieser Doppelperspektive auch in der unmittelbaren Folgezeit wenig änderte. Eine wirklich neue Sicht auf die Malerei des 19. Jahrhunderts entwickelte sich erst im Zuge jener Stil- und Modernekonzepte um 1900, als der gründerzeitliche Nationalismus und Historismus in gewissen Zirkeln der bürgerlich-liberalen Intelligenz allmäh­ lich einem stärkeren Internationalismus und zugleich ästhetischen Autono­ mievorstellungen zu weichen begann, die mit Begriffen wie Impressionis­ mus, Jugendstil oder Modern Style umschrieben wurden. Bei manchen ging diese Fronde gegen den offiziellen Siegesallee-, Reichstags-­und Anton von Werner-Stil, den Germanenkult eines Felix Dahn und die Historiendramen Ernst von Wildenbruchs, das heißt die hohenzollernhörige Leitkultur sogar soweit, dass sie die avancierteren Kunstströmungen des »Erzfeinds« Frank­ reich zum maßgeblichen Vorbild einer großbürgerlich-connaisseurhaften Geschmacksbildung erhoben und es dabei nicht an scharfen Ausfällen gegen die parvenühafte Protzeneitelkeit der deutschen Gründerzeit fehlen ließen. Einer der ersten Kunstschriftsteller dieser Richtung war Richard Muther, der bereits 1894 in seiner Geschichte der Malerei, die 1908 in zweiter Auf­ lage erschien, den französischen Impressionismus als Inbegriff modernis­ tisch-progressivistischer Sehweisen, kurzum  : als eine Kunst für »Kenner« 44

Politästhetische Stilcharakterisierungen

mit »ästhetisch geschultem Auge« hinstellte.3 Im Gegensatz zum offiziel­ len Geschmack der Hohenzollern und der bisherigen »Literarisierung« der Malerei im Sinne kirchlicher oder höfischer Repräsentation bekannte sich Muther in diesem Buch zu einem bürgerlichen Subjektivismus, dessen höchste Werte ästhetische Autonomie, künstlerisches Talent, bloße Augen­ freude und modisches Nouveauté-Wesen waren. Mit gewissen Abstrichen gilt das auch für Julius Meier-Graefes Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst, die 1904 in erster Auflage erschien. Auch hier wurde nur das posi­ tiv akzentuiert, was Meier-Graefe als Vertreter einer in der französischen Malerei um 1900 kulminierenden »Moderne« empfand – und das waren im Bereich der deutschen Malerei vor allem Maler wie Anselm Feuerbach und Wilhelm Leibl, weil sie in Paris studiert hatten, sowie Max Lieber­ mann und sein Kreis, weil sie sich offen zum Impressionismus bekannten. Wie scharf gerade Meier-Graefe für eine konsequente »Entliterarisierung« der deutschen Malerei eintrat, beweist wohl am besten sein Buch Der Fall Böcklin (1905), das sich wie ein Manifest gegen die in der Gründerzeit kanonisierten Genre-­und Historienmaler liest, die auch im Rahmen der symbolistischen und neuidealistisch-monumentalisierenden Strömungen um 1900 noch stark weiterwirkten. Dass bei einer derart aktualisierenden Sicht, welche die historische Entwicklung nur zur ästhetischen Legitimation ihres großbürgerlichen »Moderne«-Bewusstseins heranzog, irgendwelche genaueren Periodisierungsfragen – wie schon bei den Nationalisten – wie­ derum zu kurz kamen, versteht sich fast von selbst. Das gleiche gilt für die berühmte »Jahrhundertausstellung« deutscher Malerei, die 1906 von Alfred Lichtwark und Hugo von Tschudi in Berlin zusammengestellt wurde und welche sich – im Gegensatz zur wilhelmini­ schen Hofästhetik und ihrer Bevorzugung der Historienmalerei – vornehm­ lich als eine Demonstration bürgerlich-intimer Kunst verstand. Was hier ausgestellt wurde, waren vor allem jene »Stillen im Lande«, die sich wie Cas­ par David Friedrich und Philipp Otto Runge, die Biedermeiermaler sowie die Stimmungsrealisten der fünfziger Jahre als Vorläufer der bürgerlich-im­ pressionistischen Kunst vom späten 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts 45

Politästhetische Stilcharakterisierungen

ausspielen ließen. Auf eine durchgehende Periodisierung wurde allerdings auch bei dieser Gelegenheit verzichtet.4 Wofür sich Lichtwark und Tschudi interessierten, war eher die Fülle spezifisch »regionaler« Aspekte, um so einen klaren Gegenakzent zu den hohenzollernhörigen Hegemoniebestrebungen der von Berlin ausgehenden wilhelminischen Leitkultur zu setzen. Doch damit bezogen sie letztlich eine relativ defensive, weil retrospektive Position. Die von der ökonomischen und kulturellen Konjunkturgesinnung der Jahrhundertwende beflügelten akademischen Kunsthistoriker vertraten dagegen wesentlich anspruchsvollere und zum Teil auch deutschbewusstere Konzepte. Im Gegensatz zu den vom französischen Impressionismus her­ kommenden »Moderne«-Schwärmern wie Muther und Meier-Graefe stütz­ ten sich diese Kreise meist auf das um 1900 allgemein diskutierte Konzept eines »Neuen Stils«, hinter dem sich wesentlich höher geartete Vorstellun­ gen verbargen. In ihren Reihen begnügte man sich nicht mit irgendwelchen großbürgerlichen L’art pour l’art-Prinzipien, die notwendig elitär bleiben mussten, sondern bemühte sich – auf eher mittelständischer Basis – um eine an neuklassischen Idealen orientierte Kunst. Und was hätte sich dazu besser geeignet als ein ins Monumentalisierende übergehendes Stilverlangen, um das man sich nicht nur in den »heroischen« Epochen der Vergangen­ heit bemüht habe, sondern dem sie auch im sogenannten Kunstwollen der Gegenwart zum Durchbruch verhelfen wollten  ? Das beweisen unter anderem folgende Darstellungen der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, die in diesem Zeitraum erschienen  : So ließen etwa Cornelius Gurlitt in seiner Deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts (1899), Friedrich Haack in seiner Kunst des 19. Jahrhunderts (1905) und Berthold Daun in seiner Kunst des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart (1909) auf Klassizismus, Romantik, Historienmalerei und Realismus als letzte Phase jeweils eine »Kunst aus Eigenem«, einen »Neuidealismus«, einen »Neuen Stil« folgen, um sich – im Gegensatz zum bisherigen »Historismus« – zu einer »selbständigen künstlerischen Tätigkeit« zu bekennen.5 Und zwar zogen sie dafür als Beweisstücke meist die Werke Max Klingers sowie anderer »Stil­ künstler« dieser Ära heran, die ihnen in ihrem großspurigen »Realidealismus« 46

Politästhetische Stilcharakterisierungen

als Glanzleistungen der deutschen Kunstentwicklung des späten 19. Jahr­ hunderts erschienen.

II Eine der wenigen Darstellungen dieser Art, die über das rein Journalistische oder Bekennerhafte zu einem vertiefteren Geschichtsbewusstsein vorzu­ dringen versuchte, war Richard Hamanns Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert (1914), der 1906 sein dreibändiger Führer durch die Jahrhundertausstellung voraufgegangen war. Obwohl sich Hamann sowohl von Muthers und Meier-Graefes Schreibweise als auch vom »Stil«-Begriff der GurlittHaack-Daun-Gruppe anregen ließ, vermied er in seiner eigenen Darstel­ lung jede überspitzte Einseitigkeit. Er frondierte zwar ebenso offen gegen die höfisch-wilhelminische Leitkultur und bekannte sich gleichfalls zu einer spezifisch »bürgerlichen« Kunst, ließ sich aber weder in das Lager einer for­ malistisch leerlaufenden »Moderne« à la Muther und Meier-Graefe noch in das Lager eines überspannten klingerisierenden Neuidealismus à la Gurlitt, Haack und Daun ziehen. Was ihn davor bewahrte, war ein Geschichtskon­ zept, das eindeutig von Hegel stammte und bei allem direkten Engagement nie die größeren dialektischen Bezüge vergaß. Dementsprechend sah Hamann in dem Gegeneinander von Hof- und Bürgerkunst keine bloße Geschmacksfrage, sondern einen in wesentlich tieferen gesellschaftlichen Grundkonzeptionen verankerten Gegensatz. Im Sinne dieser Jahre bevorzugte auch er dabei selbstverständlich das »Bür­ gerliche«, dessen Grundgesinnung er mit Vokabeln wie freiheitlich, sub­ jektiv, intim oder verinnerlicht umschrieb, während er bei der höfischen Kunst vor allem die repräsentationsbewussten, monumentalisierenden und damit reaktionären Elemente hervorhob. Während jedoch Muther und Meier-Graefe in den bürgerlichen Künstlern des späten 18. und 19. Jahr­ hunderts hauptsächlich Vorläufer des Impressionismus, Gurlitt, Haack und Daun in denselben Künstlern vornehmlich Vorläufer des Neuidealismus um 1900 gesehen und damit alles auf den gegenwärtigen »Höhepunkt« bezo­ gen hatten, blickte Hamann auf alle diese Künstler bereits als historisch 47

Politästhetische Stilcharakterisierungen

gewordene Figuren zurück. Für ihn – wie für die Veranstalter der Jahr­ hundertausstellung – lag der Höhepunkt der bürgerlichen Kunst nicht um 1900, sondern bereits in den Jahrzehnten zwischen 1770 und 1890, als sich diese Malerei in drei Wellen (Aufklärung und Romantik, Biedermeier und Stimmungsrealismus der fünfziger Jahre, Naturalismus und Impressionis­ mus) gegen die höfisch-aristokratischen Stile (Klassizismus, Restaurations­ malerei, Gründerzeit, Neuidealismus um 1900) durchzusetzen versuchte, jedoch immer wieder unterlag. Hamann schrieb daher keinen Fall Böcklin wie Meier-Graefe, der 1905 noch immer dem Impressionismus zum Siege zu verhelfen suchte, sondern gab 1907 sein Buch Impressionismus in Leben und Kunst heraus, in dem diese Stilrichtung bereits zu Grabe getragen wird. Er sah also in diesem »Ismus« nicht den absoluten Höhepunkt, sondern bereits eine deutliche Altersphase der bürgerlichen Kunst, ja verglich sie à la Hegel – oder auch Dilthey – mit dem Altersstil einzelner Künstler (Rembrandt, Goethe, Beet­ hoven) oder auch ganzer Kulturabläufe (Spätantike, Manierismus, Rokoko). In diesem Buch herrschte also nicht mehr der bürgerliche Optimismus, es endlich erreicht zu haben, sondern bereits die Haltung des Abstandneh­ mens von einem Stil, der in seiner totalen Zweckfreiheit, seiner bewussten Formlosigkeit, seiner witzigen Launenhaftigkeit und seinem verfeinerten Ästhetizismus bereits an jenen Fin de siècle-Stil grenze, in dem dieses Bür­ gertum offen mit dem Greisenhaften kokettiere und sich schließlich selbst entmündigt habe. Auf Grund dieser Position trat Hamann der deutschen Malerei des späten 18. und 19. Jahrhunderts nicht mehr mit einem im Aktuellen verankerten Legitimationsbedürfnis entgegen, sondern betrachtete sie bereits als ein zwar durchaus imponierendes »Erbe«, das es jedoch zu historisieren und zu periodisieren gelte – um so aus der Haltung der geschichtlichen Distanz eine Basis für eine wirklich neue, das heißt jenseits des Bürgertums liegende Leitkultur zu finden. Hamann gebrauchte daher bei seinen Gliederungsver­ suchen nicht nur die üblichen vier Klischees (Klassik, Romantik, Realismus und Moderne), die sich in einem geistesgeschichtlichen Sinne nur allzu 48

Politästhetische Stilcharakterisierungen

leicht ins Überhistorische ausweiten ließen, sondern bemühte sich um eine höchst sorgfältige Gliederung nach ästhetischen, gesamtkulturellen, ja zum Teil sogar schon sozioökonomischen Gesichtspunkten. Dabei führte er im Einzelnen außer den bereits erwähnten Stilbezeichnungen auch Begriffe wie Salonidealismus, proletarische Milieuschilderung, Heimatkunst, Symbolis­ mus, Jugendstil und archaischer Dekorativismus in die kunstgeschichtliche Periodisierung ein. Im Gegensatz zur »Einseitigkeit der Jahrhundertausstel­ lung«, wie es im Vorwort hieß, wollte Hamann damit nicht nur das ästhe­ tische Wechselspiel von bürgerlichen und aristokratischen Stilhaltungen akzentuieren, sondern eher den »historischen Zusammenhang« des Ganzen herauszuarbeiten.6 Auf Manifestationen einer »intimen malerischen Kunst«, in denen das Lebensgefühl des Bürgertums zum Ausdruck komme, folg­ ten nach seiner Meinung immer wieder »personifizierende Vorstellungen einer höfischen und aristokratisch-gesellschaftlichen Monumentalkunst«, in denen dieses bürgerliche Lebensgefühl wieder zurückgedrängt worden sei.7 Das Ganze schloss deshalb weder mit einem Loblied auf den Impressionis­ mus noch auf Max Klinger, sondern mit einem Bekenntnis zu jener Sach­ lichkeit in Architektur und Kunstgewerbe, wie sie damals vom Deutschen Werkbund vertreten wurde. Bei aller Sympathie für den »modernen, indivi­ dualistisch und bürgerlich empfindenden Menschen«, die Hamann durch­ aus zugab, hieß es demzufolge am Schluss höchst lapidar  : »Nicht rückwärts sehen, sondern Bahn frei«, und zwar »Bahn frei« für eine neue »konstruk­ tive Gesinnung«, die von der »Superiorität rein konstruktiver Künste« wie »Architektur und Dekoration« über die »freie Kunst der Malerei« ausgehe, um somit einer auf gewerblicher Qualität und gesellschaftlichem Verant­ wortungsbewusstsein beruhenden Sachkultur die Wege zu ebnen.9 In diesem Sinne ist auch Hamanns »Stil«-Begriff zu verstehen, mit dem er sich bereits in diesen Jahren höchst intensiv auseinandersetzte. So hieß schon das erste Kapitel seines Impressionismus-Buchs von 1907 »Das Wesen des Stils«, und auch das letzte Kapitel seiner kleinen Ästhetik von 1911 trägt noch einmal diese Überschrift. Unter Stil wurde hier weder ein Schulzusammen­ hang noch ein voluntaristisches »Kunstwollen«, das heißt überhaupt nichts 49

Politästhetische Stilcharakterisierungen

primär Ästhetisches verstanden. Stil war für Hamann weder eine modische Welle noch die willkürliche Schöpfung eines Einzelnen, wie für die meisten anderen Stiltheoretiker dieser Jahre, sondern ein geradezu gesetzliches, his­ torisch unwiederholbares Phänomen. Im Gegensatz zu Heinrich Wölfflin, der sein Stilkonzept aus rein formalen Anschauungsweisen (wie offen und geschlossen, linear und malerisch usw.) abzuleiten versuchte, bemühte sich Hamann, stets die Gesamtheit von Kultur, Wirtschaft, Lebensgefühl und gesellschaftlicher Schichtung im Auge zu behalten, um auf diese Weise Stil­ begriffe herauszupräparieren, in denen sich eine systematisch ablaufende Kulturgesetzlichkeit manifestiert. Zugegeben, hierbei blieb vieles hegelia­ nisch, diltheyisch, idealistisch – aber damit wurden zugleich erste Positionen einer sozialhistorisch verfahrenden Stilgeschichte erkennbar, die es vorher nicht einmal in Ansätzen gegeben hatte. So gliederte Hamann schon 1914 weder bloß nach »Talenten«, bloß nach abstrakten »Anschauungsformen«, ­ apiteln bloß nach pseudoprogressiven »Ismen«, sondern ging – wie in den K über die Restaurationsepoche oder die Gründerzeit – durchaus auf größere Zusammenhänge politischer, gesellschaftlicher und ökonomischer Art ein. Die Malerei des 19. Jahrhunderts war ihm nicht nur Kunst, nicht nur Augen­ freude, nicht nur ästhetisches Dokument, sondern zugleich Baustein einer Systematik von Kultur, der ein deutlich erkennbares dialektisch vorwärts­ weisendes Moment zugrunde liege. Kurzum, er bemühte sich um Denken, das nicht nur am Gestern und Heute, sondern auch am Morgen interes­ siert war, ja aus diesem Morgen bereits seine Perspektive auf das Gestern und Heute abzuleiten versuchte, um so einer – wenn auch noch abstrakt bleibenden – die bisherigen Klassengrenzen überwindenden Leitkultur die Wege zu ebnen, die bereits ins Unbürgerliche ziele.

III Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Novemberrevolution, des Expressionismus und der Anfänge der Weimarer Republik mussten die meis­ ten derartiger Gesichtspunkte zwangsläufig obsolet werden. Aber wurden sie es wirklich  ? Sicher nicht im Bereich jener akademischen Kunstgeschichte, 50

Politästhetische Stilcharakterisierungen

die zwar ihre Hohenzollernhörigkeit aufgab und sich rein vordergründig auf den von der Neuen Sachlichkeit propagierten »Boden der Tatsachen« stellte, aber sonst – wenn sie sich überhaupt mit »moderner« Kunst auseinander­ setzte – weitgehend ins Psychologische, Formalistische oder Abstrakt-Geis­ tesgeschichtliche auswich, ja sogar gewisse rassenkundliche Gesichtspunkte nicht verschmähte.10 Für die psychologisch-phänomenologische Richtung sei in diesem Zusammenhang auf das Buch Die Malerei im 19. Jahrhundert (1919) von Max Deri verwiesen, in dem die Hauptströmungen dieses Zeitraums in Klassizismus, Romantik, objektiven und subjektiven Natura­ lismus eingeteilt werden, zwischen die sich jenes »klassizistisch-romantische Zwischenspiel« geschoben habe, das Hamanns »Gründerzeit« entspricht.11 Doch diese entwicklungsgeschichtliche Darstellung wurde von Deri immer wieder ins Phänomenologische ausgeweitet, wodurch er nur allzu oft bei blo­ ßen Gedankenkonstruktionen à la Wilhelm Worringer oder Oswald Speng­ ler landete. Eine eher formalistische Perspektive bevorzugte dagegen Karl Scheffler im dritten Band seiner Geschichte der europäischen Malerei (1927), welcher der Zeit »Vom Klassizismus bis zum Impressionismus« gewidmet ist und auch Stilbegriffe wie Klassizismus, Romantik, Biedermeier, Realis­ mus und Impressionismus verwandte, jedoch den Hauptakzent auf eine Entwicklung legte, die von der »strengen Form« über die »sich öffnende Form« zur »offenen Form« und schließlich zu einer »neuen Strenge« geführt habe. Doch selbst daraus ergab sich kein wirkliches Gliederungsprinzip, da ein vom Impressionismus herkommender Subjektivist wie Scheffler letzt­ lich immer wieder das »individuelle Talent« in den Vordergrund rückte.12 Doch als die einflussreichste Richtung erwies sich in diesen Jahren zwei­ fellos die geistesgeschichtliche Betrachtungsweise. Als Dokumentationen dieser Methode bieten sich dafür gleich drei Beispiele auf unserem Gebiet an  : So konstatierte Hans Hildebrandt in seinem Buch Die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts (1924) trotz mancher Ausgriffe ins Literarische, Philosophi­ sche und Gesamtkulturelle in der Entwicklung der Malerei im 19. Jahrhun­ dert vornehmlich einen höchst abstrakten Wandel von einem »naturhaften Schaffen« zu einem Sieg des »Tektonischen«, wodurch er – im Gegensatz 51

Politästhetische Stilcharakterisierungen

zu Hamann – bei einem Wechsel abstrakter Erlebnisformen stehen blieb, denen jede soziologische Fundierung fehlt. Während jedoch Hildebrandt dabei wenigstens teilweise ins Kulturgeschichtliche ausgriff, ging Emil Wald­ mann in seiner Kunst des Realismus und des Impressionismus (1927) fast aus­ schließlich von der geistesgeschichtlichen Polarität »Gedankenkunst versus Wirklichkeitskunst« aus. Selbst Begriffe wie klassizistisch, romantisch, rea­ listisch oder impressionistisch haben bei ihm keinen epochenbezeichnenden Charakter mehr, sondern gehen so stark ins Ideen- oder Seelengeschichtliche über, dass sie jede historische Besonderheit einbüßen. Das gleiche gilt für das Buch Die Kunst des Klassizismus und der Romantik (1925) von Gustav Pauli, in dem die Begriffe Klassizismus und Romantik im Sinne Wölfflins lediglich als »polar entgegengesetzte Richtungen des Kunsttriebes überhaupt« und damit als »überhistorisch« charakterisiert werden.13 Ja, was noch bedenklicher ist, das Romantische strich Pauli dabei à la Eduard Wechßler als Ausdruck des »germanischen Geblüts« oder des »Nordrassischen« heraus,12 während er das Klassizistische als etwas Romanisches und damit Undeutsch-Minderwertiges hinstellte – wodurch dieses Buch bereits in den Bereich jener protofaschisti­ schen Romantik-Forschung tendierte, wie sie damals selbst ein bedeutender Literaturwissenschaftler wie Julius Petersen vertrat. Einer der wenigen, der sich in den mittzwanziger Jahren im Hinblick auf die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts nicht auf die Schleichwege ins Formalistische, Geistig-Verblasene oder gar Rassistische verlocken ließ, war wiederum Richard Hamann. Das beweist unter anderem die Neuauflage seiner Deutschen Malerei im 19. Jahrhundert, die 1925 unter dem Titel Die deutsche Malerei vom Rokoko bis zum Expressionismus in stark bearbeiteter und erweiterter Form neu erschien. An diesem Buch waren die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der Novemberrevolution und des Expressionismus nicht spurlos vorübergegangen. Dennoch blieb Hamanns Wertschätzung der künstlerischen Leistungen des progressiven Bürgertums weiterhin unge­ brochen. Demzufolge wurden in diesem Band einerseits der Naturbezug, die Stimmungshaftigkeit, die Mitmenschlichkeit, die Selbsthingabe, ja All­ sympathie dieser Malerei fast noch schärfer akzentuiert als zuvor, jedoch 52

Politästhetische Stilcharakterisierungen

andererseits das durch den Werkbund, das Bauhaus, den deutschen Expres­ sionismus und den russischen Konstruktivismus entstandene »Produktions­ ethos« als eine qualitativ höhere Entwicklungsstufe hingestellt. Dem ent­ sprach, dass die Malerei des späten 18. und 19. Jahrhunderts in diesem Buch in noch kleinere, noch präzisere Strömungen (insgesamt 22) eingeteilt und zugleich historisiert wurde, um sie damit endgültig ad acta zu legen. Und dem entsprach außerdem, dass am Schluss das Bekenntnis zu den neuen sachlichen, unbürgerlichen Tendenzen noch klarer ausfiel als zuvor, wenn auch in diesem Abschnitt zugleich eine tiefe Erbitterung über das Scheitern der Revolution von 1918/19 und den Sieg jener Stabilisierungskräfte nicht zu übersehen ist, die sich nach 1923 ebenfalls auf eine »Neue Sachlichkeit« beriefen, darunter jedoch weniger etwas Progressives als etwas zutiefst Prag­ matisches verstanden.15 Die gleiche Tendenz, wenn auch noch klarer gefasst, äußerte sich in den entsprechenden Abschnitten von Hamanns Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart, die Ende 1932 auf den Markt kam. Anstatt »auf den Krücken der Vergangenheit in die Zukunft« zu schreiten, wie es bereits im Vorwort hieß,16 wurden hier wiederum alle bisherigen Stile als Stile der Vergangenheit charakterisiert, um so endlich die Ära einer nachbürgerlich-industriellen »Sach- und Produktionskultur« einzuleiten, in der Hamann die Hauptaufgabe der unmittelbaren Zukunft sah.17 Im Sinne dieser Zielsetzung richtete er dabei seinen Blick vor allem auf die Weimarer Republik und die frühe Sowjetunion, und zwar in enger Fühlungnahme mit den Vertretern der linken Materialästhetik, des Konstruktivismus, des Funktionalismus und des Bauhauses, die damals ihr eigentliches Telos in der konsequenten Hinwendung zu einer klassenübergreifenden Gemeinnütz­ lichkeit, unentfremdeter Arbeit und künstlerischer Materialbeherrschung sahen. Demzufolge wandte er sich entschieden gegen jene Partei des Gewe­ senen oder Ewig-Vorgestrigen, die ihr einziges Heil in einem verklemmten Nationalismus erblicke. Diese Tendenzen wurden bei Erscheinen des Buchs von völkisch gesinnten Kreisen natürlich sofort als »Kulturbolschewismus« angegriffen und Hamann dementsprechend gemaßregelt. 53

Politästhetische Stilcharakterisierungen

Was sich danach in der Kunstgeschichtsschreibung durchsetzte, war eine nationalisierte Geistesgeschichte, die sich zwar schon im späten 19. Jahrhun­ dert herausgebildet hatte, aber erst jetzt ihre offizielle Sanktionierung erhielt. Während der Kleinbürger Adolf Hitler eher Genre- und Salonmaler wie Franz von Defregger, Eduard Grützner und Hans Makart schätzte,18 stri­ chen die Ordinarien dieser Zeit vor allem die Größen der Romantik und Gründerzeit als lobenswert heraus. Die üblichen Kunstgeschichten zwischen 1933 und 1945 begnügten sich daher im Hinblick auf die Periodisierung der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts weitgehend mit verschwommenen Deutschheits- oder Romantik-Konzepten, ohne detailliert auf spezifisch »historische« Stilrichtungen oder die ihnen zugrunde liegenden Leitkulturen einzugehen. Ja, vielen Nazifaschisten erschien diese Malerei plötzlich nicht mehr als etwas Vergangenes, sondern unmittelbar Gegenwärtiges, wenn nicht gar als verpflichtendes Vorbild für die eigenen Maler. Noch das beste Buch aus diesem Umkreis war Hermann Beenkens Das 19. Jahrhundert in der deutschen Kunst (1944), das zwar ebenfalls auf jede Periodisierung ver­ zichtete, aber in seinen ideengeschichtlichen Analysen ein gewisses Bemühen um »Objektivität« an den Tag legte. Doch leider kam auch hier am Schluss der braune Pferdefuß zum Vorschein, indem Beenken gegen den steigenden Subjektivismus und die damit zusammenhängende Unverbindlichkeit der Kunst des 19. Jahrhunderts schließlich jene ins Nationalistische pervertier­ ten Gemeinschaftsvorstellungen beschwor, wie sie damals in den offiziellen Propagandaerklärungen des Dritten Reichs kursierten.

IV Nach dem 8. Mai 1945 schlug das Pendel, wie zu erwarten, erst einmal in die andere Richtung aus. Statt einer Meinung herrschten jetzt wieder viele Meinungen, die sich mehrheitlich zu einem demokratischen Pluralismus bekannten. Das galt am stärksten für die Westzonen und Westberlin, wo sich jedoch nach Ausbruch des Kalten Kriegs schon um 1947/48 innerhalb dieser Stimmenvielfalt allmählich eine Grundstimme durchzusetzen begann, nämlich die Frontstellung gegen den Sozialismus und damit eine scharfe 54

Politästhetische Stilcharakterisierungen

kulturpolitische Absage an alle Formen des »Realismus« in der Kunst. In der kunstgeschichtlichen Forschung Westdeutschlands herrschte deshalb in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren erst einmal ein Klima, das für eine nüchterne Einschätzung der malerischen Leistungen des 19. Jahr­ hunderts nicht besonders günstig war. Zugegeben, es gab Ausnahmen wie Paul Ortwin Raves Deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts (1949), ein Buch, das sich auf eine nichtssagende Malergeschichte beschränkte und so in sei­ ner Konzeptlosigkeit nur die Probe aufs Exempel lieferte. Wer sich sonst in diesen Jahren mit der deutschen Kunst der letzten 150 Jahre beschäftigte, neigte entweder zu bewusst religiös-restaurativen oder nichtssagend-inno­ vationistischen Anschauungen, wobei die letzteren im Zuge des wirtschaft­ lichen Wiederaufbaus allmählich den Sieg davontrugen. Kurz nach dem Krieg hatte im Westen die Gunst der Stunde erst ­einmal jenen gehört, die wie die Nazis der sogenannten Ismen-Kunst mit einer Pau­ schalverdammung entgegentraten, nur dass sie bei der Suche nach Gegen­ strategien nicht in die nationalistische, sondern in die religiöse Klamot­ tenkiste griffen. Wohl am wirkungsmächtigsten wurde diese Richtung von Hans Sedlmayr vertreten, dessen Buch Verlust der Mitte (1947) in seiner Beschwörung des Katastrophenzustands in den »modernen« Künsten seit der Französischen Revolution fast an Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes (1918–1922) erinnerte. Noch stärker als Beenken verurteilte Sedlmayr in der Kunst des 19. Jahrhunderts vor allem das »maßlos Subjektive«, das »Unechte«, »Unsinnige« und »Gefährdete«, was schließlich zu einer fort­ schreitenden Fragmentierung und Autonomisierung geführt habe, deren Ergebnis ein totales »Stilchaos« gewesen sei, gegen das es nur ein Heilmittel, nämlich die konsequente Rückkehr zu Gott und dem von ihm gewollten Menschenbild gebe.19 Dass dieses Buch eine breite Resonanz hatte, war bei der allgemeinen De-Profundis-Stimmung der ersten Nachkriegsjahre nicht weiter verwun­ derlich. Als jedoch die westdeutsche Wirtschaft in den frühen fünfziger Jahren wieder auf Hochtouren zu laufen begann, musste Sedlmayrs Verlust der Mitte schnell obsolet werden. An seine Stelle traten um 1955 Bücher wie 55

Politästhetische Stilcharakterisierungen

die Malerei im 20. Jahrhundert von Werner Haftmann, in denen die Vorstel­ lungen jener »Moderne« restauriert wurden, die schon um 1900 und dann verstärkt in den zwanziger Jahren eine Fortschrittlichkeit ohne Fortschritt, das heißt ein rein formalistisches Innovationskonzept anvisiert hatten, das sich als perfekte Legitimationsideologie des auf ständige Neuerungen ange­ wiesenen marktwirtschaftlichen Systems missbrauchen ließ. Selbst ehemals progressive Avantgarde-Vorstellungen wie die des Bauhauses wurden dabei zu Waffen im Kalten Krieg umgefälscht, indem man sie einfach in den Dienst der herrschenden Anti-Totalitarismus-Ideologie stellte.20 Was sich deshalb nach 1950 in der Malerei der BRD und Westberlins durchzusetzen begann, war eine »Moderne der Abstraktion«, die für den »altmodischen« Realismus des 19. Jahrhunderts wie auch den der sozialistischen Länder nur noch ein mokantes Lächeln übrig hatte. Eine neue Offenheit in Sachen »Realismus« und damit auch in Sachen »19. Jahrhundert« entwickelte sich in der BRD erst im Laufe der sechziger Jahre, als sich im Gefolge sozialer und ökonomischer Krisensymptome eine gewisse Polarisierung innerhalb der akademischen Intelligenz bemerkbar machte. Erst jetzt kam es zu jenem »Pluralismus«, der bisher an sich nur als Postulat existiert hatte. Und so wurde auch die deutsche Malerei des 19. Jahr­ hunderts wieder aus dem Status eines Mauerblümchens befreit und ihr der Rang eines ideologischen und methodologischen Streitobjekts zugestanden. Ziehen wir dafür einige Beispiele heran. Noch der älteren geistesgeschichtli­ chen Betrachtungsweise verhaftet blieb hierbei ein Buch wie Die Kunst des 19. Jahrhunderts (1966) von Rudolf Zeitler, der – unter Ablehnung aller sozi­ algeschichtlichen oder stiltypologischen Gesichtspunkte – die gesamte Kunst dieses Saeculums in die abstrakte Polarität von Monismus und Dualismus einzuordnen versuchte, das heißt auf jede Periodisierung verzichtete und sich mit einer Serie von Einzelinterpretationen begnügte. Ebenso geistesge­ schichtlich orientiert wirkte das Buch Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts (1960) von Werner Hofmann, das sich ausdrücklich auf Beenken berief 21 und sich in einer Reihe ideengeschichtlicher Kapitel vor allem mit der Zerrissenheit, Zwiespältigkeit, Mehrdeutigkeit und dem 56

Politästhetische Stilcharakterisierungen

extremen Subjektivismus innerhalb der Kunst dieses Jahrhunderts ausein­ andersetzte, dabei jedoch – im Gegensatz zu Beenken und Sedlmayr – auf irgendwelche Gegenideologien verzichtete und die aufgeworfenen Probleme einfach unbeantwortet ließ. Dennoch sollte man die Wirkung des hofmannschen Buches auf die bundesrepublikanische Kunstgeschichtsschreibung wie auf das Ausstellungs­ wesen der sechziger Jahre nicht unterschätzen. Während die Modernetheo­ retiker der fünfziger Jahre sogar den bedeutenderen Künstlern des 19. Jahr­ hunderts nur eine gewisse Vorläuferrolle zugestanden hatten, wurde durch die hofmannsche Ausweitung ins Kultur- und Ideengeschichtliche wieder ein Sinn für »historische Handschrift« und schließlich auch für sozialge­ schichtliche Aspekte innerhalb der verschiedenen Richtungen dieser Kunst wach. Selbstverständlich gab es sogar in diesen Jahren, wie gehabt, einige Ausstellungen und Bücher zur Malerei der Romantik, des Biedermeier oder des Impressionismus, aber Furore machten lediglich jene Ausstellungen, die sich seit der Supershow »Le salon imaginaire«, welche 1968 in Westberlin zu sehen war, auch der Kunst der Gründerzeit bzw. der sogenannten Salonma­ lerei der darauffolgenden wilhelminischen Ära widmeten, wobei sich neben einem spezifisch historischen Interesse auch eine unleugbare Nostalgie nach der »guten, alten Zeit« bemerkbar machte.22 Dasselbe gilt für das neu auf­ flackernde Interesse am Jugendstil, der in denselben Jahren wegen seiner einseitigen Betonung bestimmter erotischer, elitärer und snobistischer Ele­ mente gern mit den High Camp-Tendenzen in der Gegenwartskunst dieser Jahre gleichgesetzt wurde.23 Doch während die Rechtsliberalen und Konservativen wieder die Kunst des wilhelminischen Großbürgertums aus den Archiven und Magazinen hervorkramten, begannen sich die Linksliberalen, die Vertreter der Studen­ tenbewegung und der APO in den folgenden Jahren eher für die gesell­ schaftskritischen Strömungen innerhalb der Malerei des 19. Jahrhunderts zu interessieren. Das beweist unter anderem die eindrucksvolle Ausstel­ lung »Kunst der bürgerlichen Revolution von 1830 bis 1848/49«, die 1972 in Westberlin von der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst arrangiert 57

Politästhetische Stilcharakterisierungen

wurde, an die sich schnell Ausstellungen zu proletarischen Milieuschilde­ rungen in der Malerei der achtziger und neunziger Jahre des 19. Jahrhun­ derts anschlossen. Durch derartige Aktivitäten entstand in der BRD und Westberlin wieder ein sozialgeschichtliches Interesse am 19. Jahrhundert, das zwar in manchem etwas anachronistisch wirkte, indem es die Konfrontationen von damals als gesellschaftlich relevante Konfrontationen von heute ausgab, das jedoch – vor allem durch die Ausflüge ins Kulturgeschichtliche – das Bild dieses Jahrhunderts beträchtlich bereicherte. Was allerdings ausblieb, war – über Affirmation und Kritik hinaus – die Möglichkeit einer dialektischen Aneig­ nung im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Kulturpolitik, die immer wieder an der ideologischen Klippe des sogenannten Pluralismus scheiterte. Selbst radikale Thesen oder Gegenthesen mussten in einem solchen System, da sie von vornherein auf das akademische Ghetto beschränkt blieben, not­ wendig im Unverbindlichen versanden. Auch dass die BRD in den gleichen Jahren die im westlichen Ausland noch immer völlig unbekannte deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts durch Bücher und Ausstellungen bekannt zu machen versuchte,24 änderte daran wenig, da man hierbei weitgehend im Bereich ästhetischer Geschmacksfragen blieb.

V Wie verhielt sich eigentlich in diesen Jahren die Kunstgeschichtsschreibung in der DDR der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts gegenüber  ? Auch hier standen die verschiedenen Stilrichtungen dieses Saeculums lange Zeit im Schatten jener Auseinandersetzungen, die der Kunst des 20. Jahrhun­ derts galten, um neben und unterhalb der bürgerlichen Traditionslinie die bislang unbekannte oder verschüttete sozialistische Traditionslinie heraus­ zuarbeiten. Und als man sich dann auch dem 19. Jahrhundert zuwandte, waren es erst einmal die Realismus-Probleme und nicht irgendwelche bür­ gerlichen »Ismen«, denen das Hauptinteresse galt. So unterschied etwa Vera Ruthenberg in ihrem Beitrag zu dem Katalog der Ausstellung »Deutsche Kunst im 19./20. Jahrhundert« (1966) im Hinblick auf die Malerei des 58

Politästhetische Stilcharakterisierungen

19. Jahrhunderts lediglich zwischen einer »idealisierenden Richtung« und einer »Neigung zum Realismus«,25 obwohl sie außerdem auch herkömmli­ che Gruppenbezeichnungen wie Romantiker, Biedermeier und Deutschrö­ mer nicht verschmähte. Auch Willi Geismeier, Günter Meißner und Ursula Reyher gingen in ihren Beiträgen zum gleichen Katalog kaum auf Periodi­ sierungsfragen ein. Es gab zwar auch in der DDR immer wieder Ausstellun­ gen, die sich gewisser Stilbezeichnungen wie Romantik, Impressionismus oder Stilkunst um 1900 bedienen, aber im Großen und Ganzen ging das Interesse an solchen Periodenbezeichnungen in der Kunstgeschichte dieses Staates allmählich zurück. Auch in dieser Hinsicht versuchten die maßgeb­ lichen Vertreter auf diesem Gebiet, sich von ihrer bürgerlichen Herkunft mehr und mehr zu lösen und neigten eher zu polithistorischen und sozio­ ökonomischen Etikettierungen der einzelnen Perioden. Eine der wenigen Ausnahmen in dieser Hinsicht bildete die fünfbändige Reihe Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus (1959–1975) von Richard Hamann und mir, die trotz ihrer kultur- und sozialgeschichtlichen Orientierung an den überlieferten »Ismen« festzuhal­ ten versuchte. Diese Reihe ging auf eine Idee Hamanns aus den frühen fünf­ ziger Jahren zurück, als er sich an der Marburger Philipps-Universität und der Ostberliner Humboldt-Universität bemühte, seine bereits in dem Buch Impressionismus in Leben und Kunst (1907) erprobte kulturwissenschaftli­ che Methode auch auf die angrenzenden Jahrzehnte auszudehnen. Da ihm diese Ära noch weithin als erlebte Gegenwart erschien und eine Fülle von Assoziationen in ihm weckte, die sich sonst bei der Betrachtung älterer Kulturabläufe nicht ohne Weiteres einstellen, glaubte Hamann, auf diesem Gebiet die Grenzen des Faches Kunstgeschichte ruhig einmal überschrei­ ten zu können. Schließlich hatte er in seinem Leben viele dieser »Ismen« selber miterlebt  : so das soziale Engagement des Naturalismus, die ästhe­ tische Sensibilität des Impressionismus, den kulturphilosophischen Hang der Stilkunstära wie auch die utopischen Hoffnungen des Expressionismus auf eine neue Gesellschaftsordnung. Trotzdem schwebte ihm dabei, wie im zweiten Band seiner Geschichte der Kunst von 1955, auch im Hinblick auf 59

Politästhetische Stilcharakterisierungen

diese Reihe eine synthetische Betrachtungsweise vor, die »nicht alles, son­ dern ein Ganzes« bieten sollte.26 Allerdings stellten sich diesmal die methodologischen Fragen doch etwas anders. Während Hamann in seinem Impressionismus-Buch noch weit­­gehend hegelianisch-kulturmorphologisch verfahren war und in seiner Geschichte der Kunst die politischen und sozioökonomischen Fragen ledig­ lich stichwortartig abgehandelt hatte, versuchte er jetzt mit mir von ideen­ geschichtlichen Einheitskomplexen auszugehen, in denen sich das jeweils »Neue« und damit »Stilbestimmende« einer bestimmten künstlerischen Bewegung zu erkennen gebe. Statt sich hierbei mit der herkömmlichen »wechselseitigen Erhellung der Künste« à la Oskar Walzel zu begnügen,27 griff allerdings der jüngere der beiden Autoren im Laufe der Arbeit immer stärker ins Sozialgeschichtliche aus. Dementsprechend wird in diesen fünf Bänden – einmal etwas vergröbernd gesprochen – die Kunst der Gründer­ zeit vornehmlich im Rahmen der sie umgebenden Parvenükultur betrachtet, während der Naturalismus als eine Kunst von mit dem Proletariat sympa­ thisierenden kleinbürgerlichen Intellektuellen, der Impressionismus als ein spezifisch großbürgerlich-modernistischer Stil, die Stilkunst um 1900 als der ästhetische Ausdruck des ins Höhergeartete strebenden Mittelstands und der Expressionismus als eine objektiv revolutionäre, aber subjektiv anarchistisch-liberale Bewegung charakterisiert werden. Die Gefahr, die sich bei einer solchen Sehweise zwangsläufig einstellt, besteht darin, das jeweils Stilbestimmende ins Stiltypologische zu verabso­ lutieren und so nicht nur die Arbeits- und Alltagskultur, sondern auch die sogenannte Zweite Kultur sowie alle nicht in solche Konzepte passenden Außenseiter einfach wegzulassen. Was durch dieses Absehen erreicht wird, ist zwar ein säuberliches Nacheinander bestimmter Stile oder Ismen, das im Sinne einer stringenten Kunstentwicklung durchaus überzeugt und eine größere Klarheit schafft, jedoch der verwirrenden Fülle der Fakten und Probleme nicht ganz gerecht wird. Es wurde daher in der DDR an diesen Bänden – neben manchem Lob – auch einige Kritik laut, die gerade an die­ sem Aspekt Anstoß nahm.28 Überhaupt setzten sich die anspruchsvolleren 60

Politästhetische Stilcharakterisierungen

Kunst-, Musik- und Literaturhistoriker dieses Staats von den bisher geliebten »Ismen« im Laufe der sechziger Jahre zusehends ab und ließen solche Stilbe­ zeichnungen – wie im Westen – lediglich auf der Ebene des Populärwissen­ schaftlichen gelten. Sie wurden zwar weiterhin als Buch-, Ausstellungs- oder Seminartitel, aber kaum noch als ernstzunehmende Gliederungsprinzipien größerer historischer Darstellungen verwandt.

VI Bedenken wir einmal, welche Folgen für die ­Kunstgeschichtsbetrachtung entstünden, wenn man auf solche Begriffe völlig verzichten und nur noch nach polithistorischen oder sozioökonomischen Gesichtspunkten g­ liedern würde. Wie man weiß, waren solche Versuche schon in der älteren bürger­ lichen Literatur- und Kunstwissenschaft recht beliebt. So spricht etwa die Mittelalterforschung seit über 150 Jahren höchst unbefangen von einer Kunst der Karolinger-, Ottonen-, Salier- und Stauferzeit. Doch auch das 19. Jahrhundert wird von manchen Kulturwissenschaftlern zum Teil wei­ terhin streng historisch eingeteilt, das heißt so, wie sich dieses enorm geschichtsbewusst eingestellte Jahrhundert selbst verstanden hat. In ihrer Sicht reihen sich in der Kunst dieses Jahrhunderts nicht Klassizismus, Romantik, Biedermeier, Realismus, Renaissancismus, Naturalismus, Impres­ sionismus, Symbolismus und Jugendstil aneinander, sondern auf das Zeit­ alter der Befreiungskriege folgt die metternichsche Restaurationsepoche, auf die metternichsche Restaurationsepoche der Vormärz, auf den Vormärz die Achtundvierziger Revolution, auf die Achtundvierziger Revolution der Nachmärz, auf den Nachmärz die Gründerzeit sowie auf die Gründerzeit das Wilhelminische Zeitalter.29 Ja, manche materialistisch eingestellten Kulturhistoriker gingen sogar noch einen Schritt weiter und gliederten nur noch nach sozioökonomi­ schen Großepochen, das heißt sahen in der Zeit von 1789 und 1871 auch in Kunst und Literatur vorwiegend die Widerspiegelung des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, auf welche dann die verschiedenen Etap­ pen des Imperialismus gefolgt wären, bis mit dem Jahr 1917, dem Jahr der 61

Politästhetische Stilcharakterisierungen

Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die Phase des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus eingesetzt habe. So unterteilte etwa die große Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, die seit Anfang der sechziger Jahre in der DDR erschien, nur noch nach solchen gesamtgesellschaftlichen Markierungspunkten. Der Barock-Begriff tauchte zum Beispiel in dieser Reihe überhaupt nicht auf – und auch in den Bänden 9 und 10, die sich mit der Zeit von 1885 bis 1945 beschäftigten, wurden Dinge wie Impressionismus oder Jugendstil, ja selbst Expressionismus oder Neue Sachlichkeit lediglich als Nebensächlichkeiten behandelt. Zugegeben, damit erreichten die jeweiligen Autoren eine wesentlich überzeugendere Stringenz. Doch vielleicht sollte man bei solchen sozioökonomischen Ein­ teilungsversuchen nicht allzu rigoristisch verfahren und auch einige ästheti­ sche Stil- und Gruppenbezeichnungen ins Spiel bringen. Denn im Rahmen einer breiteren kulturgeschichtlichen Sehweise, die außer der materiellen Basis auch die Künste mit einbezieht, ja selbst im Rahmen einer reinen Kunstgeschichte wären solche Begriffe durchaus am Platze, um bestimmte Untergliederungen vorzunehmen. Es würde sich deshalb empfehlen, sich auch oder gerade innerhalb dialek­ tisch-materialistischer Forschungsrichtungen weiterhin um eine Erkenntnis stilistischer Gruppenphänomene zu bemühen. Was man dabei allerdings vermeiden sollte, wäre die idealistische Hypostasierung bestimmter Stilbe­ griffe zu kulturgeschichtlichen Epochenbezeichnungen. Stilbegriffe sind letztlich nur Designationen gewisser ästhetischer Gruppenphänomene, aber keine wirklichen Epochenkonstituenten. So gibt es zwar eine »Gründer­ zeit«, aber kein »Naturalistisches Zeitalter«,30 eine »Kunst der Weimarer Republik«, aber kein »Expressionistisches Jahrzehnt«.31 Es ist nicht nur inkongruent, sondern geradezu unsinnig, solche Begriffe, die aus höchst verschiedenen Bereichen stammen, auf der gleichen epochengliedernden Bestimmungsebene zu verwenden. In diesem Punkt haben die Vertreter strikt sozioökonomischer Einteilungsprinzipien völlig recht. Und doch hat auch Kunst ihre eigene Wirkungsmächtigkeit, ihre eigenen Formen, ihre eigene Produktivität, ja sogar ihre eigene Dialektik. Sie ist zwar nicht 62

Politästhetische Stilcharakterisierungen

»autark«, wie Bertolt Brecht an einer Stelle schreibt, aber doch in einem gewissen Sinne »autonom«.32 So wäre es durchaus sinnvoll, im Hinblick auf das späte 19. Jahrhundert von »Gründerzeit« und »Wilhelminischem Zeitalter« zu sprechen – und Charakterisierungen wie Renaissancismus, Naturalismus, Salonidealismus, Impressionismus oder Stilkunst um 1900 nur als ästhetische Subformationen zu verwenden. Deshalb wird man in Zukunft selbst bei Darstellungen der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts nicht umhin können, bei irgendwelchen kunstoder kulturgeschichtlichen Epochengliederungen stets auf zwei verschiede­ nen Ebenen zu operieren  : auf der Ebene des Politökonomischen, wo es um die Veränderungen in der materiellen Basis, und auf der Ebene des Ästheti­ schen, wo es um die relative Autonomie der künstlerischen Phänomene im geistigen Überbau der jeweiligen Gesellschaft geht. Schließlich lassen sich Basis und Überbau – falls man nicht ständig in die gleichen bürgerlich-ide­ alistischen oder vulgärmarxistischen Machinationen zurückfallen will, die entweder auf eine totale Trennung oder eine totale Identifikation dieser bei­ den Ebenen hinauslaufen – nur im Rahmen zweier aufeinander bezogener Koordinatensysteme darstellen. Beide haben zwar einen unleugbaren Bezug aufeinander, aber beide führen zugleich ein ebenso unleugbares Eigenleben. Im Hinblick auf die Kunst hat man das oft mit dem scheinbaren Paradox der »Relativen Autonomie« umschrieben. Aus diesem Grunde sollten, wie gesagt, »Gründerzeit« und »Naturalismus« nicht einfach als zwei aufeinan­ derfolgende Epochen beschrieben werden. Man könnte eher sagen, dass die renaissancistische und die naturalistische Kunst der siebziger und acht­ ziger Jahre des 19. Jahrhunderts zwei miteinander dialektisch verschränkte Bewegungen im Rahmen der gleichen Epoche, nämlich der Gründerzeit, waren. Erst dann würde man beiden Koordinatensystemen wirklich gerecht. Doch nicht nur das. Damit hätte man zugleich ein Kriterium gewon­ nen, das über das Moment der historischen Erkenntnis hinausweist und uns eine gewisse Wertung erlaubt. Denn wichtig am Ästhetischen ist doch letztlich nur das, was sich im Rahmen der »Dialektik der Kulturbewe­ gung« nach vorn entscheidet, das heißt sich im progressiven Sinne »epochal« 63

Politästhetische Stilcharakterisierungen

verhält. Wie will man sonst jene starre Konfrontation von Historismus und Existentialismus überwinden, für die alles entweder bloße Gewesenheit oder bloße Ewigkeit ist und damit den dialektischen Zug der Geschichte gleicher­maßen verfehlt  ? Gerade die Epochenforschung ist daher nichts rein Akademisches, sondern etwas, das ohne ein zielgerichtetes Erkenntnisinte­ resse und somit ohne ein ideologisches Telos überhaupt nicht auskommen kann. Welchen Sinn hätte sie, wenn sie nicht im Strom der Ereignisse das jeweils Fortschrittliche akzentuierte, das sich gegen den autoritären Druck der Vergangenheit aufzulehnen versucht  ? Im Hinblick auf die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts stellt uns das vor Aufgaben, die im Vergleich zur Jahrhundertwende oder den zwanziger Jahren nicht kleiner, sondern eher größer geworden sind. Ein Richard Hamann konnte in diesen beiden Epochen noch aus dem Gefühl einer bürgerlichen Zeitgenossenschaft heraus urteilen, indem er bis 1914 – in Fronde gegen die aristokratisch orientierte wilhelminische Leitkultur – die bürgerliche Malerei des 19. Jahrhunderts als etwas halbwegs Positives und dann, im Zeitalter der Weimarer Republik, dieselbe Malerei in Übereinstimmung mit dem linksradikalen Konstruk­ tivismus dieser Jahre als etwa Überlebtes hinstellte. Doch wie stehen wir eigentlich zu dieser Frage, bei der es um eine grundsätzliche Entscheidung im Hinblick auf die bürgerliche Kunst der Vergangenheit geht  ? Wie bei allen wirklich zentralen Problemen bekommt die Antwort auf diese Frage nur dann einen Sinn, wenn sie nicht nur von kunstimmanenten Gesichts­ punkten ausgeht, sondern zugleich die situative Funktionalisierung unse­ res eigenen Tuns im Rahmen jener Gesellschaftssysteme ins Auge fasst, in denen wir nun einmal leben. Und daraus ergibt sich folgende Situation. Im Hinblick auf die polithisto­ rische oder sozioökonomische Gliederung der Malerei des 19. Jahrhunderts werden sich historistisch orientierte Wissenschaftler sicher schnell einigen können – nicht jedoch in ihrer qualitativen Einschätzung der verschiedenen ästhetischen Strömungen innerhalb der sogenannten Dialektik der Kulturbe­ wegung. Bei den Status quo-Vertretern wird sich in diesem Punkte – in Über­ einstimmung mit den herkömmlichen »Erbe«-Theorien – wahrscheinlich 64

Politästhetische Stilcharakterisierungen

eine stärkere Integrationsstrategie durchsetzen, die in der bürgerlichen Kunst der Vergangenheit zwar etwas Überlebtes, aber durchaus Schätzenswertes sieht. All jene, denen es eher um eine Konfrontationsstrategie geht, wer­ den dagegen notwendigerweise anders urteilen müssen.33 Sie werden sich weiterhin das heraussuchen müssen, was ihnen – trotz aller Widersprüch­ lichkeiten, die mit diesem Erbe verbunden sind – einen progressiven Elan verleiht, das heißt sie davor bewahrt, in die Fänge eines nichtengagierten Konformismus oder Defätismus zu geraten. Denn für diese Fortschrittlich­ keit gibt es für derart Orientierte selbst in der Malerei des 19. Jahrhunderts durchaus achtenswerte Dokumente34, ob nun die nationaldemokratisch gesinnten Bilder von Caspar David Friedrich, die vom rebellischen Elan des Vormärz beflügelten Darstellungen von Julius Hübner, Karl Friedrich Lessing und Emanuel Leutze, das krass »realistisch« gemalte Eisenwalzwerk von Adolph Menzel sowie die proletarischen Milieuschilderungen von Hans Baluschek, Friedrich Kallmorgen, Käthe Kollwitz, Gotthardt Kuehl und Max Liebermann.35

65

Gesteigerter Sensualismus. Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

I Innerhalb der neueren europäischen und nordamerikanischen Malerei gibt es wohl kaum eine Richtung, die sich einer so allgemeinen Beliebtheit erfreut, wie die des Impressionismus. Seine lichtüberglänzten Bilder einer flanierenden bürgerlichen Freizeitgesellschaft gelten weithin als der ästhe­ tisch perfekte Schein eines schönen Lebens, das sich inmitten gepflegter Parks, einladender Strandpromenaden, blühender Landschaften, eleganter Trabrennbahnen, vornehmer Cafés, lauschiger Theaterlogen und reizvoller Damenboudoirs abspielt. Vor ihnen brechen deshalb die meisten Museums­ besucher gern in die allbekannten »Ah«- und »Oh«-Entzückungen aus. Selbst unter vielen Museumskuratoren und Kunsthistorikern, die sich mit impres­ sionistischer Malerei beschäftigen, ist jede kritisch-analytische Diskussion über diese Richtung weitgehend verstummt. Auch sie tragen seit Jahrzehn­ ten zu dieser allgemeinen Begeisterungswelle bei, indem sie solche Bilder in ihren Museen an besonders günstigen Stellen aufhängen oder anpreisende Vorworte zu reich ausgestatteten Bildbänden über den Impressionismus und seine Maler schreiben. Demzufolge sind die bekannteren Gemälde dieser Richtung auf der Kunstbörse inzwischen zu Objekten geworden, die nur noch in Millionenhöhe gehandelt werden. Dass auch der Impressionismus einmal zu kämpfen hatte, um sich durch­ zusetzen, ist nur noch den historisch Bewussteren vertraut. Wer in den Kunstzeitschriften des späten 19. Jahrhunderts blättert oder geschichtlich fundierte Darstellungen des Impressionismus liest, wird erstaunt sein, welch erbitterte Gegenreaktionen diese Stilrichtung in ihrer eigenen Zeit hervor­ rief. Selbst in Frankreich, dem Ursprungsland des Impressionismus, löste sie einen Skandal nach dem anderen aus. Von den Jurys der offiziellen Kunstaus­ stellungen wurden hier impressionistisch gemalte Bilder jahrzehntelang 67

Gesteigerter Sensualismus

als dilettantisch, hingeschmiert, aktualistisch, das heißt als direkt aus dem Leben gegriffene Skizzen oder belanglose Momentaneindrücke abgelehnt. All dies galt den leitkulturellen Salonrichtern dieser Ära, deren Geschmack am herkömmlichen Akademiestil orientiert war, als nicht seriös und damit nicht künstlerisch genug. Dementsprechend konnten die Impressionisten lange Zeit fast keins ihrer Werke verkaufen und hatten erst Erfolg, als die gehobene Bourgeoisie den bisherigen Salongeschmack, der noch in aristo­ kratischen Kunstvorstellungen verankert war, angesichts der fortschreiten­ den Industrialisierung sowie der durch sie in Gang gesetzten Wohlstands­ steigerung und Innovationssucht allmählich als obsolet empfand. Ähnliche Probleme gab es in jenen Ländern, die seit Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts den Impressionismus als neuen Pariser »Ismus« auch in ihren Kunstbetrieb einzuschleusen versuchten. Mit besonderer Schärfe wurden diese Auseinandersetzungen in Deutschland ausgetragen, das 1870/71 Frankreich militärisch besiegt hatte und dessen Führungs­ schichten in diesem Land noch immer den »Erzfeind« Nummer Eins des Deutschen Reiches sahen. Einer der Hauptvertreter dieser antifranzösi­ schen Richtung war Kaiser Wilhelm  II ., der seit seinem Regierungsan­ tritt im Jahr 1888 keine Gelegenheit versäumte, die deutschen Künstler zu einer betont reichsverbundenen Haltung aufzurufen, und alle, die von dieser Linie abwichen, als Vaterlandsverräter bezeichnete. Und das waren in seinen Augen zum einen die »Rinnsteinkünstler« des Naturalismus, wie er sich ausdrückte, zum anderen die impressionistisch orientierten Sezessi­ onisten, denen er mit der Parole drohte  : »Bei mir werden die Freilichtma­ ler ein hartes Leben haben  ; ich werde sie unter meiner Rute halten  !«1 Als daher Hugo von Tschudi, der Leiter der Berliner Nationalgalerie, in den späten neunziger Jahren die ersten Bilder französischer Impressionisten für die Berliner Museen erwarb,2 fiel er beim Kaiser in Ungnade und musste später demissionieren. Doch nicht nur der Kaiser, dessen Vorstellung einer ­gründerzeitlichen Leitkultur einen eindeutig aristokratisch-imperialistischen Charakter hatte, auch die Vertreter der sogenannten Völkischen Opposition, die unter 68

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

Abb. 1 Max Liebermann  : Papageienallee (1902)

mit­telständischer Perspektive eher neoromantische oder heimatkünstleri­ sche Tendenzen unterstützten, bezogen in diesen Jahren eine betont anti­ impressionistische Position. Sie verwarfen diese Richtung nicht nur als »welsch«, sondern auch als versnobt-großbürgerlich, jüdisch oder interna­ tionalistisch und unterstützten eher Maler wie Hans Thoma, die »Los von 69

Gesteigerter Sensualismus

Berlin«-Bewegung sowie die neuen Künstlerkolonien auf dem Lande, um so dem wiedererstandenen Reich eine auf spezifisch deutschen Werten beru­ hende Kunst zur Seite stellen zu können. Dafür sprechen viele der sich auf Paul de Lagarde oder Julius Langbehn berufenden Kunstprogramme um 1900, ja selbst noch Pamphlete wie Die Herabsetzung der deutschen Kunst durch die Parteigänger des Impressionismus von Theodor Alt sowie Ein Protest deutscher Künstler von Carl Vinnen, die beide 1911 herauskamen.3 Solche offenen Diffamierungen jedweder Form modernistischer Kunst­ bemühungen als »französelnd«, »jüdelnd« oder »vaterlandsvergessen« fanden jedoch im Deutschland der Jahrhundertwende nicht nur gründerzeitlich oder völkisch gesinnte Parteigänger, sondern stießen auch auf entschiedene Widersacher. Besonders engagiert äußerten sich in dieser Hinsicht »frei­ sinnig« eingestellte Kritiker wie Julius Elias, Julius Meier­-Graefe, Richard Muther, Max Osborn, Hans Rosenhagen, Karl Scheffler und Fritz Stahl, die sich zum Teil um das 1903 gegründete Impressionistenblatt Kunst und Künstler scharten und den kaiserlichen Geschmacksvorstellungen ein betont großbürgerliches Selbstbewusstsein entgegensetzten. Für diese Kritiker war Paris weniger das neue Babylon einer lasterhaften Décadence als vielmehr das neue Mekka einer bürgerlich-arrivierten Lebensart, die sich im Impressionis­ mus den ihr entsprechenden ästhetischen Ausdruck geschaffen habe. Dem­ zufolge mokierte sich etwa Meier-Graefe 1907 in seinem Buch Impressio­ nisten über jene deutschnationalen Philister, welche die »großen Franzosen« lediglich als Exponenten eines »rücksichtslosen Modernismus« angriffen und blind für die Größe und Bedeutsamkeit dieser Kunst seien.4 Scheff­ ler gab dagegen 1911 durchaus zu, dass der Impressionismus das Produkt eines »entgötterten Wirklichkeitssinnes« sei, betonte jedoch anschließend, um ihn gegen seine neoromantischen und nationalistischen Gegner zu ver­ teidigen, dass auch dieser Malerei, wie jeder großen Kunst, ein »sittliches Verantwortungsgefühl« zugrunde liege, das ihr die nötige »Tiefe« verleihe.5 Neben solchen bewusst polemisch auftretenden Kunstkritikern melde­ ten sich zudem im gleichen Zeitraum auch einige Historiker, Psychologen und Kunsthistoriker zu Wort, die dem Phänomen Impressionismus eher 70

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

mit dem analytisch-kühlen Blick von Wissenschaftlern gegenübertraten. Ihnen ging es nicht in erster Linie um Verwerfung oder Lobpreisung dieser Kunstrichtung, also weder um Bekenntnisse zu einer mit dem Anspruch des Autoritären auftretenden nationalen Leitkultur noch zu einem auf groß­ bürgerlich-ästhetisierenden Prämissen beruhenden Sezessionismus, der den Freiraum »Kunst« gegen alle ideologischen Bevormundungen in Schutz zu nehmen versuche, sondern um eine historische, psychologische oder kultur­ soziologische Einordnung des Impressionismus in den Gesamtverlauf der neueren Geschichtsentwicklung. Besonders folgenreich in dieser Hinsicht war die Charakterisierung des Impressionismus als einer Form der gesteigerten »Reizsamkeit«, wie sie Karl Lamprecht 1902 im ersten der zwei Ergänzungsbände zu seiner großangeleg­ ten Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert vornahm.6 Und zwar führte er diese Reizsamkeit, das heißt impressionistische Beschleunigung aller Lebens­ aktionen, vor allem auf den Strukturwandel innerhalb der kapitalistischen Unternehmersphäre zurück, wo der ständige Wechsel der Impressionen ein normales Haftenbleiben der jeweiligen Eindrücke geradezu unmöglich mache. Der tägliche Konkurrenzkampf, das Auf und Ab der Krisen sowie die Schnelligkeit des Verkehrs, lesen wir bei ihm, hätten das Empfindungs­ leben des gehobenen Bürgertums so intensiviert, dass sich jede Form der Aneignung zugleich als ein Prozess der Entleerung äußere. Daher definierte Lamprecht den Impressionismus als ein unablässiges Verzehrtwerden von der eigenen Betriebsamkeit, was sich nicht nur im Geschäftsleben, sondern auch in den Erscheinungsformen der bildenden Kunst, der nachwagnerischen Musik und der schöngeistigen Literatur der neunziger Jahre nachweisen lasse. Zu ähnlichen Ergebnissen kam Willy Hellpach in seinem Buch Nervosität und Kultur (1902), worin der Lebensstil der damaligen Unternehmerklasse ebenfalls als eine geradezu »endlose Beschäftigung« charakterisiert wird, um so eine Erklärung für die innere »Unruhe« im Seelenleben der jüngsten Vergangenheit zu finden.7 Noch weiter holte Richard Hamann 1907 in seinem Buch Impressionismus in Leben und Kunst aus, in dem er die impressionistische Epoche als 71

Gesteigerter Sensualismus

etwas bereits Abgeschlossenes darstellte. In höchst materialreichen Kapiteln wurden hier aus allen Bereichen der Kunst der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts jene Beispiele für eine Wesensbestimmung des Impressio­ nismus herangezogen, die wegen der sinnlichen Unmittelbarkeit ihrer Wahr­ nehmungsweise, ihrer Flüchtigkeit, ihrer Verfeinerung, ihres Nuancenkults, ihrer Andeutungstechnik sowie ihrer erotischen Pikanterie ins betont Anti­ sentimentale und damit Entromantisierende tendierten. Ja, diese Kriterien stellte Hamann anschließend – im Sinne einer weitgespannten Kulturmor­ phologie diltheyscher Prägung – über das bloß Impressionistische hinaus als Stilmerkmale vieler kultureller Spätstile innerhalb der abendländischen Kunstentwicklung hin, was er sowohl durch Analogien zu Epochen wie dem Hellenismus, dem Manierismus und dem Rokoko als auch den Spätwerken eines Tizian, Rembrandt, Goethe und Beethoven zu untermauern versuchte. Wie schon Lamprecht ging es ihm dabei weder um »Billigung oder Mißbilli­ gung« des Impressionismus, sondern um »Klärung«, um »Aufklärung«.8 Sein wissenschaftliches Telos war eine »philosophische und zugleich historische Betrachtung« dieses Phänomens, also eine Sehweise, die den Impressionis­ ten selbst sicher sehr »fern gelegen« habe.9 Mit diesem Buch war eine kulturwissenschaftliche Methode erarbeitet worden, mit deren Hilfe in den nächsten Jahren, in denen die »wechselsei­ tige Erhellung der Künste« ohnehin ihren ersten Höhepunkt erlebte,10 auch andere Kulturgebiete nach impressionistischen Stilmerkmalen durchforscht werden konnten. Doch kaum war diese Ausweitung des Impressionismus zu einem umfassenden Epochenbegriff, ja fast einer neuen Leitkultur vollzogen worden, als diese Bezeichnung und der mit ihr verbundene Stil von den um 1910 in mehreren Ländern auftauchenden Avantgardebewegungen einer scharfen Kritik unterzogen wurden. Ob nun die Futuristen in Italien oder die Fauves und die Kubisten in Frankreich  : Überall versuchten sich zu die­ sem Zeitpunkt Bewegungen durchzusetzen, die allen angeblich rein ästheti­ sierenden Strömungen des Fin de siècle – wie dem Impressionismus – den Kampf ansagten. Am markantesten wurde dieser Gegensatz zwischen moder­ nistisch-elitären Sezessionisten und revolutionär-gesinnten Avantgardisten 72

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

in Deutschland empfunden, wo sich die Vertreter des Radikal-­Neuen in bewusster Frontstellung zu den Impressionisten als Expressionisten bezeich­ neten, um so den Hauptakzent ihrer eigenen Bemühungen auf den betont explosiven Charakter ihrer Inhalte und Stiltendenzen zu legen. Besonders deutlich drückte sich diese Feindseligkeit in der Schrift Das Ende des Impressionismus (1916) von Max Picard aus. In ihr wurde der Expressionismus als das Nonplusultra der gesamten neueren Kunst herausgestrichen, mit dem sich etwas so Flaches, Belangloses, Nichtiges wie der Impressionismus über­ haupt nicht vergleichen lasse. Die Impressionisten, erklärte Picard, hätten in ihrer Kunst weder nach »Inhalt« noch nach »Sinn« gefragt – und seien dadurch einer Gesinnungslosigkeit verfallen, die sich in ihrer Malerei in einer zwar glänzenden, aber »seelenlosen Oberflächlichkeit äußere.«11 Erst als die verschiedenen Avantgardebewegungen der westlichen Län­ der – nach dem Ersten Weltkrieg und den darauf folgenden Regierungsum­ wälzungen – gegen Mitte der zwanziger Jahre im Zuge der sogenannten rela­ tiven Stabilisierung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihre revolutionäre Sprengkraft verloren, schlug für den Impres­ sionismus erneut eine günstige Stunde. Nach diesem Zeitpunkt wurden im Rahmen des sich wieder etablierenden bürgerlichen Kunstmarkts Bewegun­ gen wie der Futurismus, Kubismus, Expressionismus oder Dadaismus, die das »Ende aller Ismen« sein wollten, nicht mehr als die einzig relevanten Kunstströmungen der unmittelbaren Vergangenheit betrachtet, sondern wie alle Stilhaltungen vor ihnen ohne die geringsten Skrupel in das allge­ meine, vornehmlich modischen Impulsen gehorchende »Ismen«-Karussell eingeordnet. Und so bekam auch der Impressionismus allmählich seinen festen Platz innerhalb der Geschichte der neueren Kunst, und zwar als die erste und nicht unbedingt unattraktivste Bewegung der vielen »Ismen«Künste, in der eher das Ästhetisch-Innovative als das Avantgardistische den Ausschlag gegeben habe. Vieles von dem, was in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren über den Impressionismus erschien, hatte daher eine wesentlich freundlichere Note als kurz zuvor. Das belegt bereits das Büchlein Impressionismus und 73

Gesteigerter Sensualismus

Expressionismus (1919) von Franz Landsberger, das bis 1922 in sechs Aufla­ gen herauskam und in dem der Impressionismus ausdrücklich gegen den Alleinvertretungsanspruch des Expressionismus in Sachen »moderner Kunst« verteidigt wurde. Statt diese Richtung lediglich abzuurteilen oder lächer­ lich zu machen, wie das in jüngster Vergangenheit häufig geschehen sei, vertrat Landsberger in ihm eine Perspektive, die vor allem von entwick­ lungsgeschichtlichen Gesichtspunkten ausging. Im Gegensatz zu Richard Hamann sah er allerdings im Impressionismus – im Zuge einer wesentlich positiveren Bewertung der Malerei der letzen 40 Jahre im Allgemeinen – keinen »Spätstil«, also keine Manifestation des Fin de siècle mehr, sondern den ästhetischen Ausdruck einer Aufbruchsstimmung, der auch der Kunst der zwanziger Jahre noch wichtige Impulse vermitteln könne. Im Gefolge solcher Schriften wurden in der Folgezeit am Impressionis­ mus vor allem zwei Kriterien als besonders positiv herausgestrichen  : erstens, dass er auf ideologischer Ebene den Hauptakzent auf eine bürgerliche Auffas­ sung von Freiheit und Subjektivität gelegt habe  ; zweitens, dass er im Bereich des Ästhetischen einen damit korrespondierenden wesentlich freizügigeren Umgang mit stilistischen Ausdrucksmitteln befördert habe. In ihm befreie sich die bildende Kunst, wie häufig zu lesen ist, erstmals von allen akademi­ schen Erwartungen, thematischen Verpflichtungen sowie konventionellen Malkonzepten und konzentriere sich endlich auf ihr eigenes Metier  : das Malerische, das heißt den kunstautonomen Umgang mit Fläche und Farbe. Dementsprechend charakterisierte Emil Waldmann den Impressionismus 1927 in der damals als repräsentativ geltenden Propyläen-Kunstgeschichte vornehmlich als eine sonnenerfüllte »Freilichtmalerei«, deren ästhetisches Grundprinzip »die unmittelbare Sinnlichkeit« gewesen sei.12 Und auch die Untersuchungen zum literarischen Impressionismus, wie die Arbeiten von Kurt Brösel und Luise Thon, versuchten zu diesem Zeitpunkt an gewissen Erscheinungen der Wortkunst um 1900 vor allem die Tendenz ins Sensua­ listisch-Intensivierte herauszuarbeiten.13 Die einzigen Missklänge, die sich in diesen immer größer werdenden Chor der Zustimmung mischten, kamen in den späten zwanziger und 74

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

dreißiger Jahren aus dem deutsch-völkischen Lager. So charakterisierte Hermann Pongs 1929 den Impressionismus als den Stil einer dekadent »überreifen« Epoche, die ins Bindungslose und damit Unverantwortliche tendiert habe.14 Oskar Walzel griff 1930 mit ähnlicher Akzentsetzung den Impressionismus als eine Bewegung an, für welche die »Angst vor der Ver­ antwortung« und ein »Mangel an höherem Fühlen« bezeichnend seien.15 Noch kritischer äußerte sich Hans Naumann über den Impressionismus, dem er 1933 in völkisch gesinnter Perspektive jedes tiefere »Gefühl«, jede »Religiosität« und jeden »Gemeinschaftssinn« absprach.16 Doch nicht alle Kulturwissenschaftler gingen in dem darauf folgenden Dritten Reich mit dem Impressionismus so scharf ins Gericht. Schließlich sahen die Nazi­ faschisten die eigentliche Verkörperung des »Entarteten« in der jüngsten Kunst vor allem im angeblich »jüdisch« oder »kulturbolschewistisch« ver­ seuchten Expressionismus, während sie den Impressionismus nie offiziell aus der deutschen Kunst zu verbannen suchten. Das gilt besonders für die deutsche Malerei dieser Richtung. Lediglich ein »jüdischer« Impressionist wie Max Liebermann konnte in den Darstellungen der deutschen Kunst nach 1933 nicht mehr erwähnt werden. Die impressionistischen Bilder von Malern wie Lovis Corinth, Max Slevogt, Fritz von Uhde und Heinrich von Zügel erfreuten sich dagegen, wie das Buch Deutsche Maler der Gegenwart (1937) von Bruno Kroll belegt, weiterhin einer großen Beliebtheit, ja wurden als Beispiele einer »Malform« gepriesen, der vor allem in ihren Landschaftsdarstellungen künstlerische Leistungen von größter Schönheit gelungen seien.17

II Als sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der internationale Kunstbe­ trieb wieder langsam erholte, erlebte der Impressionismus in den Ländern des Westens – im Zuge einer allgemeinen Abwendung von allen Formen politisch gelenkter Kunst – wohl seine ungetrübteste Zustimmung und zugleich größte Breitenwirkung. Jetzt, als selbst die völkische Kritik an diesem Phänomen endgültig verstummte, herrschte im Hinblick auf diese 75

Gesteigerter Sensualismus

Malart nur noch der Ton allgemeiner Zustimmung, der sich häufig bis zur Verklärung, Panegyrik, ja Apotheose dieser Richtung steigerte. Den größ­ ten Tribut zollte man dabei der französischen Malerei des Impressionismus, während von den nichtfranzösischen Varianten dieser Malerei, geschweige denn ihren literarischen oder musikalischen Analogieerscheinungen kaum noch die Rede war. Das begann bereits mit John Rewalds großangelegter History of lmpressionism (1946), in welcher das Phänomen »Impressionis­ mus« lediglich anhand der französischen Malerei dieser Stilrichtung erläu­ tert wurde. Das gleiche gilt für Bücher wie French Painting in the Time of the Impressionists (1951) von Raymond Cogniat, Die großen französischen Impressionisten (1952) von Fritz Novotny, The Impressionists and their World (1953) von Basil Taylor und Die Impressionisten in Frankreich (1955) von G. F. Hartlaub, in denen die Malerei des französischen Impressionismus – wie bereits gegen Mitte der zwanziger Jahre – wegen ihrer Hinwendung zu Farbe, Licht und gesteigerter Sinnlichkeit als der Beginn jener »Moderne« heraus­ gestrichen wurde, in der sich der entscheidende Durchbruch zur Befreiung des bürgerlichen Individuums in der Kunst vollzogen habe. In Übereinstimmung mit der Ideologie des nonkonformistischen Kon­ formismus dieser Jahre lässt sich dabei allerdings – in deutlicher Absetzung von der »totalitaristischen« Kunstpolitik der dreißiger Jahre – ein noch bewussterer Rückzug ins Ästhetizistische und Subjektivistische beobachten als in der Zeit um 1925. Wohl den objektivsten Ausdruck gab Hartlaub dieser neuen Sehweise, indem er schrieb  : Bei den Impressionisten, die meist aus dem gehobenen Bürgerstande hervorge­ gangen waren, herrschte im Gegensatz zu Courbet, der nach seinem Programm die Kunst diktatorisch in den Dienst einer neuen Gesellschaftsordnung stellen wollte, eine beträchtliche Uninteressiertheit gegenüber aller politischen, sozialen, kirchlichen und erst recht religiösen oder metaphysischen Problematik – eine Indifferenz, wie sie nur der Liberalismus in seiner republikanischen Staatsform auf die Dauer Künstlerindividuen gestattet.18

76

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

Cogniat erklärte dagegen, wenn auch mit gleicher Akzentsetzung, geradezu enthusiastisch, dass das Wesen des Impressionismus vor allem in seiner gesellschaftlichen Absichtslosigkeit, seinem Rückzug in den Elfenbeinturm der Isolation, seiner Abwendung von allen sozialen Protestbewegungen und seinen betont bürgerlichen Freiheitskonzepten bestanden habe. Durch den Impressionismus, behauptete er, sei endlich das letzte Band zwischen Kunst und Gesellschaft zerrissen worden – und das künstlerische Schaffen zu einer »specialized occupation« von Malern geworden, »who held themselves apart from the life of the nation«.19 An dieser freiheitlich-kunstautonomen Sicht änderte sich auch in den sechziger und siebziger Jahren wenig. Ob nun in Büchern wie Impressionism (1961) von Lawrence und Elizabeth Hanson, Realismus und Impressionismus in Deutschland (1964) von Siegfried Wichmann, Maler des Impressionismus aus der Nationalgalerie Berlin (1967) von Peter Krieger, Impressionism (1967) von Jacques Lassaigne, Deutsche Impressionisten (1971) von Hans Platte, American Impressionism (1974) von Richard J. Boyle oder Impressionism  : Its Masters, its Precursors, and its Influence in Britain (1974) von John House, um aus der Fülle der Literatur wenigstens einige Beispiele heraus­ zugreifen, überall begegnen wir bereits vertrauten Themen  : der Ablehnung irgendwelcher von soziokulturellen Direktiven ausgehenden Leitkulturen, der Beschränkung auf die interpersönlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Malern und ihren Händlern, der Betonung ihrer bürgerlichen Freiheitsliebe, der Herausarbeitung spezifisch sensualistischer Stilkriterien, der stilgeschichtlichen Ableitung aus der Freilichtmalerei des 19. Jahrhun­ derts sowie der kunstimmanenten Abgrenzung des Impressionismus von flankierenden Bewegungen wie dem Naturalismus, Symbolismus, Neoim­ pressionismus, Jugendstil oder der Wiener Sezession. Was im Rahmen die­ ser Forschungsrichtung über die ältere Impressionismus-Forschung hinaus­ wies, waren lediglich Teilaspekte wie eine stärkere Internationalisierung, die auch den außerfranzösischen Varianten dieser Stilrichtung die erforderliche Gerechtigkeit widerfahren ließ, sowie eine detailliertere Aufarbeitung der

77

Gesteigerter Sensualismus

Abb. 2 Philipp Klein  : Morgentoilette (1906)

Biographien der einzelnen Künstler und eine subtilere stilgeschichtliche Analyse der einzelnen Phasen dieser Bewegung. Eine andere Sehweise vertraten in diesem Zeitraum lediglich einige Untersuchungen, die auch auf die kultursoziologischen ­Voraussetzungen dieser Stilrichtung eingingen, das heißt aus dem Bereich der biographischen Einzelfakten und kunstimmanenten Stilelemente in politische, ökonomi­ sche und gesellschaftliche Gesamtzusammenhänge vorzustoßen versuchten. Einer der wichtigsten Pioniere dieser Richtung war Arnold Hauser, der 1953 eine zweibändige Sozialgeschichte der Kunst und Literatur herausbrachte, in welcher dem Impressionismus, als der letzten großen internationalen 78

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

Kulturbewegung, ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Den Ursprung dieses Phä­ nomens sah Hauser, wie schon Karl Lamprecht und Richard Hamann, in der rapiden Industrialisierung und Verstädterung im Laufe des späten 19. Jahr­ hunderts, die zu einer »ungeheuren Expansion der sinnlichen Wahrneh­ mungen« und damit fortschreitenden »Dynamisierung des Lebens­gefühls« beigetragen hätten.20 Das Ergebnis dieser Entwicklung sei, wie er schrieb, eine »Herrschaft des Moments über Dauer und Bestand« gewesen.21 Anstatt sich jedoch wie Lamprecht und Hamann mit solchen kulturpsychologischen, kulturmorphologischen oder mentalitätsgeschichtlichen Allgemeinheiten zu begnügen, ging Hauser zugleich auf den inneren Widerspruch dieser Bewegung ein, indem er sie einerseits als ästhetisches Spiegelbild des »freien Spiels der Kräfte« im Rahmen der kapitalistischen Produktionsbedingun­ gen, andererseits als großbürgerliche »Oppositionskunst« interpretierte, die mit ihren sinnlich raffinierten Bildern und Romanen den erstarrten Kunst­ formen des kleinbürgerlichen Realismus entgegengetreten sei.22 Und zwar stellte er das vor allem an der französischen und englischen Kunst des spä­ ten 19. Jahrhunderts dar, in der dieser Stil – aufgrund der avancierteren sozioökonomischen Grundvoraussetzungen – seine überzeugendste Ver­ wirklichung erfahren habe. Die zweite Studie dieser Art, die sich allerdings fast ausschließlich auf die deutsche Situation beschränkte, war das Buch Impressionismus von Richard Hamann und mir, das 1960 als dritter Band ihres Werks Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus erschien. Im Gegensatz zu dem von Hamann 1907 veröffentlichten Impressionismus-Buch wurden hier die kulturmorphologischen Aspekte, also die Charakterisierung des Impressionismus als eines periodisch wiederkeh­ renden Spätstils, bewusst ausgeschaltet und dafür – wesentlich stärker als bisher – die kultursoziologischen Voraussetzungen dieser Bewegung herausgearbeitet. Anstatt das Phänomen »Impressionismus« durch einige stilistische und thematische Analogien vorschnell ins Idealtypologische zu stilisieren, konzentrierte sich dieses Buch höchst konkret auf die zwischen 1890 und 1900 in Deutschland herrschende kulturhistorische Situation 79

Gesteigerter Sensualismus

des Neben- und Ineinanders von wilhelminischem Imperialismus, ökono­ mischer Hochkonjunktur, gesteigerter Lebenserwartung und ästhetischer Verfeinerung, um somit nachzuweisen, dass sich im Impressionismus als Kunst- und Lebensstil sowohl die bewusste Fronde einer kleinen Schicht bürgerlicher Intellektueller und Künstler gegen die hohenzollernhörige Leitkultur der Akademien, Hoftheater und offiziellen Ausstellungen als auch eine geradezu parasitäre Erscheinungsform der neuen wirtschaftli­ chen Opulenz zu erkennen gebe.23 Mit noch größerer Entschiedenheit ging Manfred Diersch in seiner Stu­ die Empiriokritizismus und Impressionismus. Über die Beziehungen zwischen Philosophie, Ästhetik und Literatur um 1900 in Wien (1973) auf die sozioöko­ nomischen Grundvoraussetzungen des österreichischen Impressionismus ein, nämlich auf den Übergang zum Monopolkapitalismus, die Krise des bürgerlichen Liberalismus, die fortschreitende Verdinglichung aller zwi­ schenmenschlichen Beziehungen, die geistige Desorientiertheit der bürger­ lichen Intellektuellen sowie die prekäre Rolle modernistischer Kunst-Ismen zwischen Neuigkeitsanspruch und Kommerzialisierung. Und auch einige an kultursoziologischen Fragen interessierte US -amerikanische Kunsthis­ toriker und Museumsdirektoren ließen in den siebziger und achtziger Jah­ ren nicht davon ab, im Hinblick auf die impressionistische Malerei neben ihren Stilcharakteristika zugleich auf die klassenspezifischen Aspekte dieser Kunst hinzuweisen. Unter den Kunsthistorikern war es vor allem Timothy J. Clark, der 1985 in seinem Buch The Painting of Modern Life. Paris in the Art of Manet and his Followers der scheinbar allbekannten impressionistischen Malerei in Frankreich eine neue Perspektive abgewann, indem er weniger die biographischen und stilistischen Zusammenhänge als die allgemeine Lebens­ situation der Pariser Bourgeoisie des späten 19. Jahrhunderts in den Vor­ dergrund seiner Untersuchung rückte. Von besonderem Interesse ist dabei alles, was er über die »Hausmannisierung« von Paris unter Napoleon  III. schrieb. Statt darin nur eine »Verschönerung« zu sehen, stellte er zugleich die Schattenseiten dieses sogenannten Modernisierungsschubs heraus, der einer Vertreibung des Proletariats aus dem Stadtinnern gleichkam und die 80

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

Entfaltung jenes Vergnügungsbetriebs begünstigte, durch den Paris zur tou­ ristischen Hauptattraktion Europas wurde. Und all dies sah er auch auf den Bildern der französischen Impressionisten widergespiegelt, die – vor dem Hintergrund der nicht unproblematischen »Hausmannisierung« – vor allem den diskreten Charme und die Vergnügungssucht der bürgerlichen Ober­ klasse dargestellt hätten. Trotz dieser Identifizierung der Impressionisten mit den Interessen der Herrschenden vermied es jedoch Clark, im Hinblick auf diesen Prozess schlichtweg von »class« oder »ideology« zu sprechen.24 Was ihn vornehmlich interessierte, war der widersprüchliche »modernism« die­ ser Kunstrichtung, der einerseits mit der Weltanschauung der avancierteren Teile der wohlverdienenden Bourgeoisie sympathisierte, andererseits seine künstlerische Originalität innerhalb des allgemeinen Nouveauté-Wesens durch einen betont bohemienhaften, ja brüsken Gegensatz zum Lebensstil des gehobenen Bürgertums zum Ausdruck zu bringen versuchte. Von ähnlicher Interessantheit im Rahmen der danach erschienenen Impressionismus-Studien, die sich bemühten, auch den kulturhistorischen Hintergrund dieser Stilrichtung in ihre Forschungen einzubeziehen, ist das Buch Impressionism. Art, Leisure, and Parisian Society, das Robert L. Herbert 1988 herausbrachte. Weit über Clark hinaus, der sich im Wesentlichen auf Edouard Manet beschränkte, wurde hier ein weitläufiges Panorama des Pari­ ser Lebens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entworfen und zugleich die Gesamtheit aller französischen Impressionisten herangezogen, um den Lesern ein möglichst detailliertes Bild der damaligen Gesellschaftsverhält­ nisse und der in ihr wirkenden Künstler zu geben. Was Herberts Buch dem von Clark voraushatte, war die schlichte Tatsache, dass es geradezu alle Sze­ nen und Motive der Pariser Impressionisten – ob nun die dargestellten The­ ater, Opernhäuser, Ballettbühnen, Cafés, Vergnügungsetablissements, Parks, Gärten, Rennbahnen, Seinedörfer und Badeorte – in ihrem historischen Bezug zu den damals existierenden Gebäuden und Szenerien zu veranschau­ lichen suchte. Dagegen blieb es in der theoretischen Durchdringung des ausgebreiteten Materials zum Teil hinter Clark zurück. So wurden etwa bei der ideologischen Einschätzung der von Herbert behandelten Malergruppen 81

Gesteigerter Sensualismus

Abb. 3 Lovis Corinth  : Am Frisiertisch (1911)

nicht die grundsätzlichen Widersprüche ihrer Kunst herausgearbeitet, son­ dern diese Künstler recht eindimensional als bürgerliche »Flaneurs« oder »Boulevardiers« charakterisiert, deren Grundeinstellung zur Gesellschaft die der »politischen Indifferenz« gewesen sei.25 Ja, Herbert gab sogar offen zu, dass sein Buch letztlich keine »objektive Geschichtsdarstellung« sei, 82

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

sondern auf den bewusst apolitischen »Vorurteilen seiner eigenen Gene­ ration« beruhe.26 Es sei seine Absicht gewesen, beteuerte er am Schluss emphatisch, den Impressionismus angesichts der verheerenden Folgen der Verstädterung, Industrialisierung und der beiden Weltkriege als die letzte goldene Ära in der Geschichte der Malerei hinzustellen. Seine »leisure-time subjects« und »brilliantly colored surfaces« gehörten bis heute, heißt es bei ihm, zu den eindrucksvollsten Manifestationen einer »desirable history«.27 Anders und doch ähnlich urteilte die westdeutsche Impressionismus-For­ schung in den späten siebziger und achtziger Jahren. Während die Kunst der letzten Jahrhundertwende im Zuge des politischen Relevanzanspruchs sowie der utopisch­-revolutionären Hoffnungen der Achtundsechziger Bewe­ gung für eine Weile in den Hintergrund getreten war, wurde sie in dem Moment wieder stärker beachtet, als sich die kunstwissenschaftliche For­ schung erneut modernistisch-elitären Subjektivitätsproblemen zuwandte. Studien zur Jahrhundertwende, vor allem zur gesteigerten Ichhaftigkeit, Sensibilität, Erotik und zugleich zum dekorativen, wenn nicht gar »post­ modernen« Charakter der Kunst um 1900, nahmen deshalb nach der allge­ meinen »Tendenzwende« zwischen 1975 und 1980 schnell zu. Davon profi­ tierten vor allem der Jugendstil und die Wiener Sezession, in deren Werken die erotischen und zugleich dekorativen Elemente eine höchst verfeinerte Synthese eingegangen waren. Diese beiden Richtungen kultursoziologisch zu problematisieren oder gar zu kritisieren, wurde daher unter den neuen Jahrhundertwende-Spezialisten fast als Sakrileg angesehen. Etwas anders verhielt sich dagegen die westdeutsche Kunstgeschichte dem Impressionis­ mus gegenüber. Da er noch zu viele »realistische« Elemente enthielt, ero­ tisch wesentlich karger war und zudem kein dekoratives Design entwickelt hat, welches sich als »postmodernes« Zitat verwenden ließ, fehlte es dieser Richtung in den Augen der damaligen ichversessenen Ästheten anfänglich an dem nötigen Snob-Appeal. Doch im Laufe der achtziger Jahre stieg auch der deutsche Impressionis­ mus, wie die impressionistische Malerei im Allgemeinen, aufgrund seiner koloristischen Effekte wieder zum Leitbild eines neuen Ästhetizismus auf. 83

Gesteigerter Sensualismus

Und damit wurden Maler wie Lovis Corinth, Max Liebermann und Max Slevogt wegen ihrer sonnenüberglänzten Landschaften und farbsprühenden Bildern der bürgerlichen Freizeitgesellschaft am deutschen Malereihimmel erneut zu Sternen erster Klasse. Eine Ausstellung impressionistischer Male­ rei unter dem Titel Landschaft im Licht, die 1990 in Köln und Zürich zu sehen war, erwies sich deshalb als einhelliger Publikumserfolg. Hier konnten sich alle wieder dem ungestörten Genuss einer heiter gestimmten, licht­ überglänzten Malerei hingeben, die keinerlei Probleme aufwarf, ja von allen dunklen Seiten des Lebens bewusst absah. Ein ähnlicher Tenor herrscht in dem Buch Impressionismus. Die Entdeckung der Freizeit (1993) von Peter H. Feist, das in seiner Bild- und Textauswahl ebenfalls das Strahlende, Konflikt­ lose bevorzugte und wie das Impressionismus-Buch von Robert L. Herbert mit der Zuversicht schloss, dass die Vision »eines friedlichen, harmonischen Daseins der Menschen«, wie sie sich auf diesen Bildern äußere, nach wie vor zu »Hoffnungen« Anlass gebe.28 Und auch in Büchern wie In den Gärten des Impressionismus (2004) von Claire A. Willsdon, Malerei des Impressionismus (2006) von Inge F. Walther sowie Der deutsche Impressionismus (2009) von Jutta Hülsewig-Johnen blieb es bis heute bei einer eindeutig positiven Sicht dieser Stilrichtung. Solche nostalgischen Gefühle sind nur allzu verständlich. Wer wäre schon menschlich so abgestumpft, beim Anblick impressionistischer Bilder – ob nun städtischer Freizeitmotive oder lichterfüllter, blühender Sommerland­ schaften – nicht von Gefühlen der Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt überwältigt zu werden  ? Und auch rein malerisch offerieren diese Bil­ der in ihrer farbigen Delikatesse – im Gegensatz zu den meisten Gemäl­ den der darauffolgenden Perioden – so viele Augenfreuden, dass sich auf­ merksame Beobachter und Beobachterinnen an solchen Bildern gar nicht satt genug sehen können. Daher sind die Werke der großen Künstler des Impressionismus, selbst der deutschen unter ihnen, bis heute Hauptattrak­ tionen vieler Museen und Ausstellungen geblieben, mit denen nur wenige Werke des 20. Jahrhunderts an Popularität konkurrieren können. Gegen den ästhetischen Status dieser Kunst anschreiben zu wollen, wäre deshalb ein 84

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

törichtes, wenn nicht sinnloses Unterfangen. Aber ist die auf ihnen darge­ stellte Welt wirklich so golden, wirklich so utopisch, wirklich die kaum zu überbietende Form einer »desirable history«, wie es bei Robert L. Herbert heißt  ? Dies bleibt – zumindest für soziologisch interessierte Kulturhistori­ ker – weiterhin die Frage.

III Um darauf eine sinnvolle Antwort geben zu können, kommt man nicht umhin, noch einmal die leidige Widersprüchlichkeit dieser Malerei ins Auge zu fassen. Denn schließlich ist nichts zeitlos, nicht einmal die Darstellung einer angeblich konfliktlosen schönen Welt. Alles ist zugleich Ausdruck der eigenen Zeit und damit eine kleine, vergängliche Welle im Strom der Geschichte – selbst die Kunst des Impressionismus, obwohl sie sich noch am ehesten bemühte, den Fluss der Dinge anzuhalten und ihm Momente bleibender Schönheit abzugewinnen. Aus diesem Grunde sehen sich gesell­ schaftskritisch orientierte Kunsthistoriker gezwungen, sogar angesichts die­ ser Malerei, die – rein oberflächlich betrachtet – an den kritischen Geist keine allzu großen Ansprüche zu stellen scheint, auf die vielgeschmähten Basis-Überbau-Relationen einzugehen. Letztlich ist auch der Impressio­ nismus, wie aus den Büchern von Timothy J. Clark und Manfred Diersch deutlich hervorgeht, nicht nur schöne Oberfläche, sondern zugleich Aus­ druck wesentlich tieferer Wandlungsprozesse, in denen sich die politischen, sozioökonomischen und kulturellen Veränderungen des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts mit wünschenswerter Genauigkeit widerspiegeln. Daher zwingt er alle, welche Kunst nicht nur bewusstlos genießen oder konsumie­ ren, notwendigerweise zu einer Optik, bei der sie nicht umhin kommen, stets beide Seiten des Impressionismus – nämlich seine Verliebtheit in den schönen Schein und seine betonte Unengagiertheit – im Auge zu behalten. Über die Verliebtheit in den schönen Schein brauchen wohl keine gro­ ßen Worte mehr verloren zu werden. Wer sich vornehmlich an persönlicher Handschrift, farbiger Delikatesse und sprühenden Lichtreflexen erfreuen will, dem bietet selbst die deutsche impressionistische Malerei mehr als 85

Gesteigerter Sensualismus

genug. Vor allem die Gartenszenen eines Fritz von Uhde, die Wannsee-, Zoo- und Alsterbilder von Max Liebermann, die Boheme-Szenen Leo von Königs, die Opernbilder und pfälzischen Landschaften von Max Slevogt, die Straßenbilder von Lesser Ury, die Interieurs von Heinrich Hübner, Gott­ hardt Kühl und Philipp Klein sowie die Blumenstilleben, Boudoirszenen und Aktdarstellungen von Lovis Corinth strahlen ein Lebensgefühl aus, mit dem man sofort Dinge wie Sensibilität, Pikanterie, Artistik, Lebensgenuss, Augenschmaus, Freizeitvergnügen und Ähnliches assoziiert. Hier reiht sich eine sensualistische Attraktion an die andere, in die sich zwar auch Gefühle menschlicher Entfremdung einschleichen, was vor allem in den etwas starr aneinander vorbeiblickenden Gesichtern zum Ausdruck kommt, die jede tiefere Zuneigung vermissen lassen, die aber dennoch zu jenen Szenen gehören, in denen der oft beschworene »Schein des schönen Lebens« seine ästhetisch wohl anziehendste Verwirklichung erfahren hat. Dies wäre die eine Seite der impressionistischen Malerei. Doch je länger man ihre Bilder betrachtet, desto deutlicher kommt auch ihre andere Seite zum Vorschein, nämlich all das, was auf diesen Bildern nicht dargestellt wird. Schließlich beruht der Impressionismus, trotz mancher »realistischen« Ele­ mente, letzten Endes auf einem bewussten »Absehen« von allem Dunklen, Unsozialen, Hässlichen in der damaligen Gesellschaft – also dem, was der Naturalismus oder Zolaismus, wie er sich hauptsächlich in der Literatur dieser Epoche äußerte, mit skrupelloser Direktheit ans Licht gezogen hat. Zugegeben, auch einige Impressionisten verstanden sich als Rebellen, vor allem in ihrer schroffen Wendung gegen den herrschenden Akademiestil, aber doch bloß als Geschmacksrebellen, die – im Sinne des bürgerlichen Liberalismus – in der wünschenswerten »Freiheit« vornehmlich eine Erwei­ terung ihrer eigenen Nonchalance und Privilegiertheit erblickten, während sie die Probleme der unterprivilegierten Schichten der Bevölkerung bewusst übersahen. Als klassenorientierter Kulturhistoriker oder Kultursoziologe kommt man daher nicht umhin, den Impressionismus als den Stil von künstlerischen Außenseitern jener Gesellschaftsschichten des späten 19. Jahrhunderts zu 86

Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen

Abb. 4 Heinrich Hübner  : Gartenszene (um 1905)

charakterisieren, die – im Gegensatz zu den noch weithin aristokratischen Kunstformen der akademischen Salonmalerei oder des gründerzeitlichen Renaissancismus – einen betont eigenwilligen Stil favorisierten und diesen aus dem Lebensgefühl des neureichen Bürgertums abzuleiten versuchten, das sich nach Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten einer betont fleißi­ gen und sparsamen Gesinnung – im Zuge der durch die Industrialisierung ermöglichten ökonomischen Bereicherung – endlich auch Gefühlen des Freizügigen und Schwelgerischen hingeben wollte. Im Rahmen einer solchen Betrachtungsweise ist also der Impressionismus keine wirkliche Avantgarde,29 sondern lediglich eine sezessionistische Kunstrebellion, das heißt der ästhe­ tische Ausdruck einer wirtschaftlichen Konjukturgesinnung, durch welche die bisherigen gesellschaftlichen Führungsschichten allmählich an Einfluss verloren und sich ein neureiches Bürgertum in den Vordergrund schob, das nicht mehr parvenühaft mit dem älteren Adel konkurrieren wollte, sondern sich bemühte, sein eigenes Lebensgefühl, und zwar in möglichst ungehemm­ ter Form zur Schau zu stellen. Wenn man den Impressionismus so sieht, lässt er sich nicht allein auf den Malstil einer in Paris zwischen 1865 und 1890 arbeitenden Künstlergruppe reduzieren, sondern ist eine ästhetische Stilformation, die sich in allen ähn­ lich gearteten Gesellschaften des späten 19. Jahrhunderts beobachten lässt, 87

Gesteigerter Sensualismus

in denen eine aufsteigende, sich bereichernde bürgerliche Klasse gegen den Führungsanspruch der bisherigen Herrschaftsträger auftrat, ihre Rebellion jedoch nicht politisch, sondern ästhetisch – als Geschmacksrebellion – zu artikulieren versuchte. Statt die Gesellschaft im Verbund mit den unteren Klassen von Grund auf ändern zu wollen, was damals manchen sozialde­ mokratisch orientierten Naturalisten als ideologisches Telos vorschwebte, drückten die Impressionisten, bei weitgehend »unpolitischer« Grundein­ stellung, lediglich ihre eigene Lebensfreude und ihren Unmut gegen die kulturelle Erstarrtheit der bestehenden Verhältnisse aus, und zwar nicht nur in der Malerei, sondern auch in der Musik und Literatur, was viele Kunst­ historiker bei der Behandlung dieser ins Großbürgerliche tendierenden Leitkultur nur allzu leicht vergessen. Jede weitere Diskussion über den Impressionismus ist darum nur dann sinnvoll, wenn man die Kunst dieser Richtung endlich stärker als bisher mit der nötigen dialektisierenden Optik betrachten würde. Sie ist zweifellos der Ausdruck einer deutlich begrenzten Klassenperspektive und trägt dem­ entsprechend die »Narben« ihrer eigenen Zeit, wie Walter Benjamin sagen würde, aber sie hat zugleich jenen ästhetischen Mehrwert, der in mancher Hinsicht über sie selbst hinausweist. Und im Hinblick auf diesen »Vorschein« ließe sich selbst der Impressionismus, dessen Bilder auf den ersten Blick reichlich kulinarisch, wenn nicht gar parasitär wirken, in eine Re-Vision unserer gesamtgesellschaftlichen Zielvorstellungen einbeziehen – vor allem dann, wenn wir seine Garten- und Landschaftsdarstellungen ins Auge fas­ sen, die nicht nur wegen des Charmes ihrer sonnenerfüllten Pleinairmalerei bedeutsam sind, sondern uns zugleich mit dem durch die Überbevölkerung und die Überindustrialisierung herbeigeführten Zerfall unserer eigenen Umwelt oder besser Mitwelt konfrontieren. So gesehen, sollten die ästhe­ tisch verklärten ländlichen Motive des Impressionismus vor allem ökolo­ gisch bewusste Betrachter und Betrachterinnen mit einem gerechten Zorn erfüllen und zu einer verstärkten Naturbewahrung auffordern.30

88

Moderne, Avantgarde, Sezession. Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg I Als ich im Jahr 2001 aufgefordert wurde, einen Vortrag über die ­»Berliner Moderne« zu halten, fragte ich mich erst einmal, was damit eigentlich gemeint sei  : die Zeit von 1885 bis zum Ersten Weltkrieg, die Ära der Wei­ marer Republik oder gar die sogenannte Nachwendezeit, in welcher manche den Beginn der »Berliner Republik« sehen  ? Und ich bekam zur Antwort, dass man heutzutage – in Anlehnung an die 1997 von Jürgen Schutte und Peter Sprengel herausgegebene Reclam-Anthologie Die Berliner Moderne – darunter vornehmlich den Zeitraum von 1885 bis 1914 verstehe.1 Darin scheint sich auf den ersten Blick ein höchst begrüßenswertes, weil epochen­ geschichtlich orientiertes Denken zu äußern. Doch dieser Eindruck ist leider in mehrfacher Hinsicht trügerisch. Denn was versteht man letztlich unter dem blässlichen, durch wahllosen Gebrauch reichlich abgenutzten Schlag­ wort »Moderne«  ? Ist nicht dieser Terminus so unspezifisch, dass er zum Allerweltsbegriff vieler großräumiger Entwicklungsstränge oder kulturwis­ senschaftlicher Felder geworden ist, die bis weit in die Vergangenheit zurück­ reichen  ?2 So sehen manche den Beginn dieser vielbeschworenen »Moderne« bereits in der Renaissance oder dem Humanismus des 16. Jahrhunderts, andere in jener Aufklärung, die 1789 in der Französischen Revolution kul­ minierte, wieder andere im Beginn der Industrialisierung und Verstädte­rung des 19. Jahrhunderts. Es gibt sogar solche, die ihn allein auf die Kunst­ ent­wicklung einschränken wollen und dementsprechend vom »Streit der Antikenschwärmer und der Modernebefürworter« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, vom »Aufbruch in die ästhetische Moderne um 1900« oder von der auf diesen Entwicklungsabschnitt folgenden »Klassischen Moderne« von 1910 bis 1930 sprechen, die in englischsprachigen Ländern zum Teil 89

Moderne, Avantgarde, Sezession

als »High Modernism« apostrophiert wird. Und wem selbst diese Begriffs­ inflationen nicht genügen, sei an flächendeckende Begriffe wie »Moderne Architektur«, »Moderne Musik« oder »Modern Dance« erinnert, mit denen fast alles bezeichnet wird, was in diesen drei Kunstgattungen zwischen 1900 und 1970/80 entstanden ist.3 Ja, um nicht hinter den Kulturwissenschaft­ lern oder -wissenschaftlerinnen zurückzustehen, haben manche Historiker und Historikerinnen selbst den deutschen Nazifaschismus als »Reactionary Modernism« sowie die Bemühungen Nikita Chruschtschows, mit denen er eine antistalinistische »Tauwetter«-Phase einzuleiten versuchte, als eine »Modernisierung« der Parteilinie der KPdSU charakterisiert. Demzufolge ist ein kulturgeschichtliches wie auch kulturpolitisches Eti­ kettenchaos entstanden, das jede historische Substanzialität verloren hat. Statt – angesichts dieser Situation – die Verwendung dieses inzwischen ins Nichtssagende verkommenen Begriffs endlich aufzugeben, wird er vor allem im Bereich der Fürsprecher und Fürsprecherinnen der »­ Postmoderne«, die angeblich so viel Wert auf einen genau differenzierenden Diskurspluralis­ mus legen, weiterhin mit journalistischer Wonne ins Ahistorische und damit Unspezifische pauschalisiert. Manche sprechen in diesem Umkreis sogar von einer »Postmodernen Moderne«, einer »Neomoderne« oder einem noch immer der Abbildlichkeit verpflichteten »Modernism in spite of Moder­ nism«, wie eine Ausstellung »realistischer« Kunst im New Yorker Museum of Modern Art hieß, um damit sogar die Werke der sogenannten Nicht­ moderne in die »Moderne« einzubeziehen und so der Gefahr zu entgehen, sich auf irgendwelche begriffsgeschichtlichen Klarstellungen innerhalb die­ ses bewusst verunklärten terminologischen Wirrwarrs einlassen zu müssen. Bezeichnenderweise überwiegen bei solchen »postmodernen« Pauschalur­ teilen im Hinblick auf die »Moderne« meist die negativen Charakteristika, woran sich von vornherein die ideologiekritische Zielrichtung dieser Seh­ weise ablesen lässt. »Modern« bedeutet in diesem Umfeld meist teleologisch, das heißt entwicklungsgeschichtlich orientiert, utopistisch, überindividu­ ell, instrumentalisierend, totalitaristisch, konsumverachtend, anspruchs­ voll, E-kulturell, wenn nicht gar betont elitär. Und solchen Charakteristika 90

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

setzten manche Kulturtheoretiker und -theoretikerinnen nach dem Ein­ bruch der »Postmoderne« sowie dem Gerede vom »Ende der Geschichte« gern neue Leitadjektive wie antiutopistisch, augenblickshaft, subjektivistisch, emotionsgeladen, konsumbezogen, U-kulturell, wenn nicht gar populis­ tisch entgegen, die eine angebliche Wendung ins »Demokratische« andeu­ ten sollen, aber meist nur den absatzfördernden Slogans der herrschenden Konsumgüterkonzerne entsprechen. Wer sich aus dem Sumpf dieser allgemeinen Begriffsverwirrung befreien will, sollte wenigstens im Hinblick auf den hier zur Debatte stehenden Zeitraum zwischen 1885 und 1920 bei ästhetischen oder kulturpolitischen Fragestellungen auf den Begriff »Moderne« entweder ganz verzichten oder wesentlich klarer zwischen den verschiedenen Spielarten dieser a­ ngeblichen Moderne unterscheiden und sich stattdessen um ideologisch und stilge­ schichtlich klarer herausgearbeitete Begriffsbestimmungen bemühen. Dabei brauchte man nicht unbedingt zu den älteren, meist formalästhetisch gefärb­ ten Stil- und Ismenketten zurückzukehren, sondern könnte durchaus in kulturwissenschaftlicher oder diskursanalytischer Weise verfahren – und bei der begriffsgeschichtlichen Charakterisierung der verschiedenen »Moder­ nismen« oder »Modernisierungsschübe« neben ihrer künstlerischen Form­ gebung auch auf ihre ideologischen Intentionen sowie ihre sozioökonomi­ schen Voraussetzungen eingehen, in denen sie sich zu entfalten suchten.

II Und zwar sollte man bei solchen Versuchen diese sogenannten Modernisie­ rungsschübe ruhig etwas schärfer als bisher auf ihre fortschrittlichen oder reaktionären Inhalte überprüfen, um so zwischen im besten Sinne »avant­ gardistischen« und lediglich »sezessionistischen« Leistungen unterscheiden zu können. Allerdings sähe man sich auch bei Bemühungen dieser Art sofort mit neuen Komplikationen konfrontiert, die zum Teil mit den eklatanten Bedeutungsverschiebungen dieser Begriffe in den letzten Jahrzehnten zusam­ menhängen. Das trifft vor allem auf den Begriff »Avantgarde« zu, der heute bei weitem nicht mehr so eindeutig ist, wie er einmal war. Bekanntermaßen 91

Moderne, Avantgarde, Sezession

hat er in den letzten 50 Jahren viel von seiner politischen wie auch ästheti­ schen Sprengkraft verloren. Dennoch wird er ab und zu noch immer als ein relativ klar umrissener Kampfbegriff ins Feld geführt, mit dem manche Vertreter und Vertreterinnen der verschiedensten ideologischen Lager auf Positionen eines zwar Kämpferisch-Ersehnten, aber »Noch nicht«-Erreich­ ten hinweisen wollen. Doch selbst bei solchen Reduktionen ins scheinbar Eindeutige lassen sich zumindest zwei voneinander abweichende Avantgar­ de-Konzepte unterscheiden, die keineswegs auf einen Nenner zu bringen sind. Bei der hier gebotenen Kürze, die keine allzu differenzierten Analysen erlaubt, sei zu diesen Avantgarde-Vorstellungen, welche sich im Laufe der letzten 190 Jahre – also seit der Zeit der saint-simonistischen Erstdefinition dieses Begriffs in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts – herausgebil­ det haben, wenigstens Folgendes gesagt. Da wäre erst einmal jener umfassende Avantgarde-Begriff, der sich auf die intellektuelle »Vorhut« revolutionärer Massenbewegungen bezieht und diesen Anspruch sowohl politisch als auch sozioökonomisch, philosophischtheo­retisch, ästhetisch, ja manchmal sogar naturwissenschaftlich-technisch zu rechtfertigen versucht.4 Im Rahmen einer allgemeinen Dialektik der gesellschaftlichen Verhältnisse wird in diesem Umkreis das Avantgardistische stets als das noch unterdrückte, aber zur Führung drängende Begehren der auf die Durchsetzung einer anderen, besseren Gesellschaftsordnung pochen­ den Bevölkerungsschichten definiert, dem besonders mutige Politiker, The­ oretiker und Künstler den ersten, in die Zukunft weisenden Ausdruck zu verleihen suchen. Solche Avantgarden, die eine grundsätzliche Umwälzung der gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse anstreben, treten daher stets mit dem Anspruch des Kämpferischen, ja Revolutionären auf. Sie sind nicht partikular, sondern umfassend orientiert – und leiten ihren auf Verände­ rung pochenden Anspruch vor allem aus der inneren Korrespondenz aller vorwärtsweisenden Elemente auf der Ebene der politischen, sozioökonomi­ schen, philosophischen und ästhetischen Theoriebildungen ab. Sie wollen nicht nur einen bestimmten Teilbereich, sondern sämtliche Bereiche des staatlichen Lebens im Hinblick auf eine konkret oder auch nur utopisch 92

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

anvisierte neue Welt umgestalten. Daher stoßen sie stets auf den energischen Widerspruch, ja die militante Gegenwehr der zu ihrer Zeit dominierenden Gesellschaftsschichten, die solchen Avantgarde-Bewegungen entweder mit Verboten, Verhaftungen, Vertreibungen, ja sogar Hinrichtungen entgegen­ treten. Und wenn ihren Gegnern das nicht nötig erscheint, versuchen sie solchen Bewegungen zumindest mit dem Postulat der Erhaltung des Status quo oder irgendwelchen regressiven Gesellschaftsideologien, die sie häufig mit Rückgriffen auf eine romantisch verklärte Vergangenheit zu verbrämen suchen, den ideologischen Wind aus den Segeln zu nehmen. Und da wären zweitens jene eingeengten Avantgarde-Vorstellungen, die keine gesamtgesellschaftliche Veränderung ins Auge fassen, sondern sich mit der Durchsetzung bestimmter Innovationen im Bereich des Ästhetischen oder Technologischen, wie auch neuerdings innerhalb der elektronischen Medien, zufrieden geben. Ihre Befürworter und Befürworterinnen treten nicht als »Revolutionäre«, sondern lediglich als »Neuerer« auf, die sich weder in einem politischen noch in einem kulturellen Widerspruch zu den herr­ schenden Gesellschaftsschichten empfinden, sondern weitgehend affirmativ eingestellt sind und sich damit begnügen, die jeweils bestehende Sozial- und Wirtschaftsordnung mit als aktuell oder zeitgemäß ausgegebenen Model­ len im Bereich der Architektur, des Designs, aber auch der Formgebung in anderen Bereichen der künstlerischen und industriellen Produktion voran­ zubringen. Während bei der ersten Art von Avantgarde meist die politischen und literarischen Werke im Vordergrund stehen, sind es dagegen bei der zweiten Spielart solcher Avantgarden vor allem visuelle oder technologische Manifestationen, die als besonders progressionsbetont ausgegeben werden. Sozioökonomisch gesehen, lässt sich diese Unterteilung in zwei verschie­ dene Avantgarde-Vorstellungen auf folgende Ursachen zurückführen. Die erste Form der Avantgarde entwickelt sich fast immer in Zeiten ökono­ mischer Depressionen, in denen gewisse Intellektuellengruppen mit den notleidenden unteren Bevölkerungsschichten zu sympathisieren beginnen und gesellschaftswissenschaftliche Theorien oder auch ästhetische Modelle entwerfen, die zu einer Veränderung der schlechten Realität der bestehenden 93

Moderne, Avantgarde, Sezession

Wirtschafts- und Sozialordnung ins Positivere beitragen sollen. Und auch das spätere Interesse an solchen Avantgarde-Bewegungen entsteht zumeist in Perioden ähnlich gearteter sozioökonomischer Voraussetzungen, in denen es erneut zu Gegenentwürfen zu der jeweils als bedrückend empfundenen Wirtschafts- und Sozialordnung kommt. Die zweite Form der Avantgarde entwickelt sich dagegen häufig in Zeiten ökonomischer Hochkonjunkturen, in denen sich das Hauptinteresse vieler Künstler und Intellektueller aus dem Bereich des Politischen zusehends in den Bereich des Ästhetischen verlagert und damit dem herrschenden Status quo direkt oder indirekt in die Hände spielt. Solche Avantgarden beschrän­ ken sich demzufolge meist auf einen Stil- oder Ismenwechsel im Bereich des künstlerischen Gestaltungswillens, wo in ökonomischen Boomperioden weniger das Revolutionäre als jenes »Brandneue« gefragt ist, was sich im Rahmen der wirtschaftlichen Überproduktion als besonders willkommenes Agens der Konsumanheizung verwenden lässt. Die Produkte dieser Art von Avantgarde sind daher nicht gegen die herrschende Marktsituation gerichtet, sondern verstehen sich eher als ästhetische Trendsetter innerhalb der jeweils profitträchtigsten Industrieprodukte. Und wer in diesem Bereich wirklich einmal gegen den Strich aufzutreten versucht, wird von den Drahtziehern des marktwirtschaftlichen Systems und den mit ihm liierten Kritikern meist so schnell vereinnahmt oder kooptiert, dass das rebellische Element seiner Werke kaum oder überhaupt nicht zum Tragen kommt.5 Die eine Avantgarde ist daher – jedenfalls in ihren besten Werken, in denen sie sich dem Prinzip des »eingreifenden Denkens« verschreibt – zutiefst politisch, die andere meist zutiefst unpolitisch, mit anderen Wor­ ten  : Sie bleibt eine Designerkunst, die durch ihre ästhetischen Innovationen eher zur Belebung der jeweiligen Markverhältnisse als zur Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen beiträgt. Dies wären erst einmal – in gebote­ ner Kürze – einige Bemerkungen zu den beiden Extremformen jener häu­ fig als spezifisch »avantgardistisch« ausgegebenen Bewegungen innerhalb der Kunst von 1871 bis 1923, also von der Gründerzeit bis zum Ende des Expressionismus. Allerdings wird dabei – jedenfalls auf Seiten sich als 94

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

postmodern oder posthistorisch ausgebender Kulturwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen – bei Begriffsbestimmungen auf diesem Gebiet das Adjektiv »avantgardistisch« gern durch Adjektive wie »neu«, »modern« oder »modernistisch« ersetzt, um es aus dem Progressionsbetonten ins ideologisch Unverbindliche abzuschwächen. Und so bleibt in diesem Umkreis oft nur die »Neuheit« als letzter Wertbegriff übrig.

III Doch nun – nach diesen typologisch verkürzten und daher zwangsläufig problematischen Erwägungen zu den Begriffskonstrukten »Moderne« und »Avantgarde« – zur konkreten Situation der verschiedenen Kunstströmun­ gen der Jahre um 1900. Im Hinblick auf diesen Zeitraum lassen sich im Rah­ men der gegen die in weiten Bereichen vorherrschende ­wilhelminische Leit­ kultur opponierenden Kunst-Ismen dieser Ära – zu denen unter a­ nderem der Naturalismus, der Impressionismus, der Neoimpressionismus, der Symbolis­ mus, der Jugendstil, die Heimatkunst, die Neuromantik, die Neuklassik und der Expressionismus gehören – an sich nur zwei Bewegungen ausmachen, auf die der erstere Begriff einer Avantgarde noch am ehesten zutrifft. Und das wären der Naturalismus zwischen 1885 und 1895 und der Expressio­ nismus zwischen 1910 und 1923. Vor allem der Naturalismus erfüllt fast alle Qualifikationen, die für die sogenannte umfassende Avantgarde gelten. Den meisten Werken seiner Ver­ treter und Vertreterinnen lag ein deutlich erkennbares gesellschaftskritisches Engagement zugrunde, das nicht nur auf eine Privilegienerweiterung der ohnehin schon begünstigten bürgerlichen Ober- und Mittelschichten hin­ drängte, sondern auch die Interessen der durch die wirtschaftliche Misere zwischen 1875 und 1895 in Not geratenen unteren Bevölkerungsschich­ ten ins Auge fasste. Dabei machten die besten Vertreter und Vertreterinnen dieser Bewegung selbst aus ihrer Sympathie mit der von den herrschenden Klassen gefürchteten und daher lange Zeit verbotenen Sozialdemokratie kein Hehl. Wie viele Mitglieder der auf ihrem linken Flügel noch durch­ aus rebellisch gesinnten SPD empfanden derart gesinnte Künstler und 95

Moderne, Avantgarde, Sezession

Künstlerinnen die damaligen Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse als brutale Klassenherrschaft und damit »untergangsreif«, was im Reichs­ tag der frühen neunziger Jahre die berühmt-berüchtigte »Umsturzdebatte« auslöste.6 In ihren theoretischen Schriften, sofern diese vor 1890, also vor der Aufhebung der 1878 erlassenen Sozialistengesetze, überhaupt erschei­ nen konnten, bekannten sich deshalb nicht nur viele sozialdemokratische Politiker, sondern auch die mit ihnen sympathisierenden naturalistischen Künstler und Künstlerinnen immer wieder zu einem revolutionär gesinnten Marxismus, einem naturwissenschaftlichen Materialismus im Sinne Ernst Haeckels, der als progressiv geltenden Milieutheorie eines Hippolyte Taine, dem gesellschaftskritischen Positivismus Auguste Comtes sowie der atheis­ tischen Vererbungslehre von Charles Darwin, mit anderen Worten  : zu all jenen Konzepten, die sie in ihrem Ankampf gegen den gründerzeitlichen Chauvinismus und die neureiche Protzeneitelkeit der herrschenden Ober­ schichten als ideologisch »fortschrittlich« empfanden. Ja, selbst im Hinblick auf die Entwicklung neuer ästhetischer Techniken bemühten sie sich mit den damaligen naturwissenschaftlichen Erfindungen Schritt zu halten, indem sie die Errungenschaften der Fotographie sowie der 1887 von Emil Berliner erfundenen Schallplatte in Form fotographischer oder phonographischer Wiedergabemittel auch in ihren künstlerischen Darstellungsformen anzu­ wenden versuchten.7 Daher war die naturalistische Kunst in ihren besten Leistungen durchaus Ausdruck einer »umfassenden« Avantgarde, indem sie sich nicht nur politisch, wie der Gründung von Volksbühnen und den Abdrucken gesellschaftskritischer Romane in sozialdemokratischen Arbei­ terblättern, sondern auch philosophisch und naturwissenschaftlich von den als rebellisch geltenden Anschauungen der SPD anregen ließ. Dass der Naturalismus – trotz einiger künstlerisch überragender Leis­ tungen wie der Dramen Gerhart Hauptmanns sowie der bildkünstlerischen Darstellungen von Max Liebermann und Käthe Kollwitz – dennoch eine kurzlebige Episode blieb, hat er mit vielen, wenn nicht mit allen von den gesellschaftlichen Oberschichten unterdrückten Avantgarde-Bewegungen gemeinsam. Allerdings kamen in seinem Fall noch zwei weitere Faktoren 96

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

Abb. 5 Käthe Kollwitz  : Weberaufstand, Blatt 5 (1897)

hinzu, die zu einer besonders schnellen Abschwächung dieser Revolte führ­ ten  : erstens die Aufhebung der Sozialistengesetze im Jahr 1890, durch die viele der jungen bürgerlichen Rebellen die Lust verloren, weiterhin mit einer legal gewordenen Partei wie der SPD zu sympathisieren, und zweitens der 1892/93 einsetzende ökonomische Aufschwung,8 der selbst viele Führer der Sozialdemokraten dazu verführte, von ihren revolutionären Idealen Abschied zu nehmen und sich zu einem revisionistischen Evolutionismus bernsteinscher Couleur zu bekennen. 97

Moderne, Avantgarde, Sezession

Einen etwas anderen, aber doch ähnlichen Verlauf nahm die expressio­ nistische, das heißt die andere ins »Umfassende« tendierende Avantgarde innerhalb des Zweiten Kaiserreichs. Auch ihr Progressionsbewusstsein äußerte sich auf fast allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Als politi­ sche Avantgarde sympathisierte sie zu Anfang mit fast allen gegen die satte Bürgerlichkeit der wilhelminischen Ära gerichteten Bewegungen, entwi­ ckelte im Ersten Weltkrieg starke pazifistische Tendenzen und nahm nach Kriegsende die Form eines tataktivistischen Novembrismus an, der mit vielen links der SPD stehenden politischen Gruppierungen, ob nun den Unabhängigen Sozialdemokraten, den Spartakisten, den Anarchisten oder den Kommunisten, sympathisierte, ja sich ihnen, wie im Fall der Münch­ ner Räterepublik, sogar unter Einsatz ihres eigenen Lebens anschloss. The­ oretisch passte dazu ein Avantgardismus, der sich vielfach in die Bereiche des Messianismus, Kommunionismus oder Utopismus verstieg und sich hiervon – nach den mörderischen Gas- und Trommelfeuerschlachten des Ersten Weltkriegs – eine Totalumwälzung der bestehenden Gesellschaftsver­ hältnisse erhoffte. Ästhetisch gesehen, stellte der Expressionismus fast alle durch die neue Großstadtkultur entwickelten Medien, vor allem den Film, die Reklame, die Zeitungsschlagzeile oder das Knallbunte des Varietés, in seinen Dienst, um dadurch seinen Manifestationen auch auf künstlerischer Ebene einen möglichst agitatorischen, schockierenden, ja schreihaften Cha­ rakter zu verleihen, mit dem er jene Menschheitsdämmerung, jenen Jüngsten Tag oder jenen Umsturz und Aufbau, wie drei seiner wichtigsten Sammelpu­ blikationen hießen, herbeizuführen hoffte, in denen im Zusammenbruch des alten Gesellschaftssystems zugleich der Silberstreif einer neuen Welt aufleuchten würde. Doch auch die »Revolution« des Expressionismus war relativ kurz­lebig.9 Und zwar scheiterte sie aus ähnlichen Gründen wie die Revolte des Natu­ ralismus. Politisch gab ihr die SPD keinerlei Rückhalt. Im Gegenteil, sie unterdrückte mit Hilfe der Reichswehr und rechtsradikaler Freikorpsver­ bände alle links von ihr stehenden revolutionär gesinnten Parteien und Bewegungen und bekannte sich unter der Führung Friedrich Eberts nach 98

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

kurzen novembristischen Aufwallungen erneut zu einem revisionistischen Evolutionismus bernsteinscher Prägung. Obendrein setzte nach der von 1919 bis 1923 währenden ersten Turbulenzphase der Weimarer Republik, in der es nicht nur zu mehreren linken und rechten Putschversuchen kam, sondern auch eine davongaloppierende Hyperinflation herrschte, aufgrund der Währungsreform vom November 1923 sowie der Kreditzahlungen im Rahmen des amerikanischen Dawes-Plans schließlich eine Periode der »rela­ tiven Stabilisierung« und dann der ökonomischen Hochkonjunktur ein, durch die Deutschland, wie schon vor dem Ersten Weltkrieg, in der Rang­ liste der führenden Industrienationen der Welt – nach den USA – wieder auf den zweiten Platz aufrückte. Und damit siegten gegen Mitte der zwanziger Jahre zwangsläufig jene Vernunftrepublikaner, die sich auf den inzwischen sprichwörtlich gewordenen »Boden der Tatsachen« stellten und in ihren neusachlichen Programmschriften mit selbstgefälliger Attitüde den »Tod des Expressionismus« verkündeten.10

IV Gut, das sind die beiden ins »Umfassende« tendierenden Avantgarden inner­ halb des Zweiten Kaiserreichs und der beginnenden Weimarer Republik. Doch wie lassen sich all jene Bewegungen – wie der Impressionismus, der Neoimpressionismus, der Symbolismus, der Jugendstil, die Heimatkunst, die Neuromantik oder die Neuklassik – stichwortartig charakterisieren, die sich in den 20 Jahren zwischen 1894 und 1914 entwickelten und zum Teil mit ästhetischer Verbissenheit um die jeweils größten Marktanteile miteinander rangen  ? Auch sie werden von vielen Kulturwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen gern als Teil jener »Avantgarde« oder »klassischen Moderne« hingestellt, welche in diesem Zeitraum ebenfalls gegen die wilhel­ minische Leitkultur aufgetreten seien. Doch eine solche Sicht erscheint mir allzu eindimensional. Schließlich handelte es sich bei den eben genannten Strömungen zwar um klar erkennbare künstlerische Strömungen mit all den dafür typischen unterschiedlichen Stilcharakteristika, aber nicht um ins »Umfassende« tendierende Avantgarden wie beim Naturalismus oder 99

Moderne, Avantgarde, Sezession

Expressionismus. Ja, unter kulturpolitischer Perspektive betrachtet, schei­ den mehrere dieser Bewegungen für eine Charakterisierung innerhalb pau­ schalisierender Rubriken wie »Avantgarde« oder »Klassische Moderne«, und zwar gleichviel welcher Art, ohnehin von vornherein aus. Vor allem die Heimatkunst, aber auch die Neuromantik und die Neuklas­ sik hatten eher einen rückblickend-nostalgischen als jenen in die Zukunft weisenden Charakter, der nun einmal zum Wesen aller wahrhaft avantgar­ distischen Bewegungen gehört, die sich als Vorhut der auf gesellschaftli­ che Veränderung drängenden Impulse auszuzeichnen versuchen. Genauer betrachtet, lassen sich diese drei Richtungen letztlich nur als Reaktionen auf die fortschreitende Industrialisierung und Verstädterung des Zweiten Kai­ serreichs sowie seiner teils großbürgerlich-parvenühaften, teils wilhelminisch auftrumpfenden Vordergründigkeit charakterisieren, denen sie mit bäuer­ lich-völkischen, neureligiös-romantischen oder klassisch-humanistischen Konzepten einer Kunst des Beharrenden, welche die traditionellen Werte der älteren deutschen Kunst befürwortete, entgegenzutreten versuchten – allerdings ohne hierbei von der Hoffnung getragen zu werden, damit eine Gesamtumwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung oder zumindest eine neue Leitkultur herbeizuführen. Wegen ihrer Bevorzugung restau­ rativer, ja bis weit in die Vergangenheit zurückreichender Ideologiekom­ plexe blieben diese drei Strömungen weitgehend den bildungsbürgerlichen Kunsttraditionen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts verpflich­ tet, das heißt führten lediglich zur Entstehung elitärer Dichterbünde wie dem Paul Ernst- oder Stefan George-Kreis,11 neureligiöser Sekten wie der Anthroposophischen Gesellschaft unter Rudolf Steiner oder sich aufs Land zurückziehender Künstlerkolonien wie in Dachau, Willingshausen und Worpswede.12 Jedenfalls kam es in diesem Umkreis nicht zu Bemühungen, mit revolutionärer Absicht auch in die politischen oder gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit um 1900 einzugreifen. Etwas anders stellt sich dagegen die Frage nach dem Vorwärtsweisen­ den, wenn man die Werke der impressionistischen, neoimpressionistischen oder symbolistischen Kunstströmungen nach avantgardistischen Elementen 100

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

Abb. 6 Fritz von Uhde  : An der Veranda (1902)

durchmustert. Schließlich verstanden sich viele Vertreter und Vertreterinnen dieser drei Richtungen im Gegensatz zu den hohenzollernhörigen Kunst­ kritikern, welche weitgehend eine klassizistisch-historistische Leitkultur aufrechtzuerhalten suchten und daher diese Strömungen lediglich als Aus­ druck einer französisch-modernistischen Überfremdung empfanden und 101

Moderne, Avantgarde, Sezession

dementsprechend verurteilten, durchaus als Repräsentanten und Repräsen­ tantinnen einer gegen den höfischen Geschmack gerichteten ästhetischen Fronde. Allerdings fühlten sie sich dabei – im Gegensatz zu den Naturalis­ ten der späten achtziger und frühen neunziger Jahre – nicht als Fürsprecher oder Fürsprecherinnen einer numerisch bedeutsamen Klasse wie der des Proletariats, sondern eher als Vertreter oder Vertreterinnen eines ästhetisch avancierten Bewusstseins, das – aufgrund der Auswirkungen der ökonomi­ schen Hochkonjunktur seit 1892/93 – lediglich von einer kleinen Clique modernistisch orientierter Kunstkenner und Kunstfreunde geteilt wurde, die sowohl für den offiziellen Klassizismus der wilhelminischen Hofkreise als auch den Naturalismus der mit der Sozialdemokratie sympathisierenden Künstler und Künstlerinnen nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Die Hauptsprecher und -sprecherinnen dieser drei Richtungen bezeich­ neten sich daher in ihren programmatischen Verlautbarungen, falls sie sol­ che überhaupt abgaben, nie als »revolutionär«, sondern nur als »neu« oder »modern«, um so vornehmlich ihre ästhetische Überlegenheit gegenüber den als »banausisch« hingestellten Hofkreisen und den mit ihnen Sympa­ thisierenden herauszustreichen. Ja, nicht einmal ihre Vorliebe für die fran­ zösische Kunst, also die Kunst der sogenannten Erzfeinde des Deutschen Reichs, wie sie von den wilhelminisch gesinnten Chauvinisten gebrandmarkt wurde, empfanden sie als »politisch«. Sie wollten sich lediglich durch einen verfeinerten, der »modernen« Situation angepassten Geschmack auszeich­ nen. Und dazu passte nun einmal der französische Impressionismus mit all seinen Tendenzen ins Großstädtische und zugleich Modernistisch-Luxurie­ rende wesentlich besser als jener von den Hohenzollern propagierte Histo­ rismus oder Klassizismus, dem das Ideal einer der Ewigkeit verpflichteten Monumentalität zugrunde lag. Im Sinne solcher ästhetisierenden, die »hel­ len« Seiten des Lebens betonenden Anschauungen wollten die Impressio­ nisten in ihren Werken vor allem den Eindruck des Modischen, Eleganten, Raffinierten erwecken – und schlossen sich daher von allem ab, was sie als niedrig, geschmacklos oder gar vulgär empfanden. Und das war neben dem historistisch-klassizistischen Bombast der wilhelminischen Leitkultur auch 102

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

der ins »Niedere« tendierende Naturalismus, den sie als eine Kunst betrach­ teten, die erst da anfängt, »wo die Seife aufhört«.13 Während im Bereich der Heimatkunst, der Neuromantik und der Neuklas­ sik um 1900 als gesellschaftliches Gruppenprinzip meist der Dichterbund, die neureligiöse Sekte oder die Künstlerkolonie vorherrschte, schlossen sich die Impressionisten, besonders die Maler unter ihnen, seit der Mitte der neunziger Jahre lieber zu sogenannten Sezessionen zusammen.14 Ohne ein ideologiegefärbtes Programm zu entwickeln, unterstützten diese Sezessio­ nen – im Gegensatz zu den traditionalistisch-gesinnten bürgerlichen Kunst­ vereinen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – vornehmlich alle ins Unkonventionelle, Ästhetisierende und somit Elitäre tendierenden Strömun­ gen innerhalb der zeitgenössischen Kunst, wobei ihnen, wie gesagt, der wirt­ schaftliche Aufschwung seit der Mitte der neunziger Jahre einen merklichen Rückenwind verlieh. Genauer besehen, waren also auch sie keine sich als »avantgardistisch« verstehenden Gruppenbildungen, sondern recht lockere Vereinigungen, die sich als ästhetische Enklaven, als Schutzzonen eines ver­ feinerten Geschmacks, wenn nicht gar als »paradis artificiels« innerhalb der als bombastisch abgelehnten wilhelminischen oder als niedrig empfundenen naturalistischen Kunstströmungen verstanden. Da dieser Sezessionismus den künstlerischen Sensibilisierungsbedürfnissen der neureichen Bourgeoisie auf eine höchst einschmeichelnde Weise entgegenkam und sich obendrein aller als »politisch« geltenden Stellungnahmen enthielt, erfreute er sich innerhalb der kunstinteressierten und zugleich zahlungskräftigen Schichten des Zwei­ ten Kaiserreichs schnell einer großen Beliebtheit, ja wurde von einem Groß­ teil der sich als »modern« verstehenden Kunstkritiker und Galeristen – wie Bruno Cassirer, Julius Meier-Graefe, Richard Muther und Karl Scheffler – als die einzig nennenswerte Kunst dieser Ära ausgegeben. Was als Sezessio­ nismus, wenn nicht gar als ästhetische Fronde angefangen hatte, verflachte demzufolge schon kurz nach 1900 zu einem wohlintegrierten Bestandteil der herrschenden Kunstszene, während der offizielle oder pseudooffizielle Stil des Wilhelminismus sowie der mit der Arbeiterklasse sympathisierende Naturalismus in diesen Kreisen kaum noch Beachtung fanden. 103

Moderne, Avantgarde, Sezession

Abb. 7 Henry van de Velde  : Herrenzimmer auf der Ausstellung der Münchener Sezession (1899)

V Als letzte bedeutsame Richtung innerhalb der »stilkünstlerischen« Strömun­ gen um 1900,15 die es noch auf ihren »avantgardistischen« Charakter zu überprüfen gilt, bleibt demnach nur der sich im Rahmen der internatio­ nalen Art nouveau-Bewegung entwickelnde deutsche Jugendstil übrig. Auf den ersten Blick scheint er die einzige Bewegung innerhalb des allgemei­ nen Ismen-Karussells der Zeit zwischen 1895 und 1910 zu sein, die ins »Umfassende« tendierte, sich also bemühte, in alle Bereiche der ästhetischen Formbestrebungen einzugreifen. Demzufolge gebrauchen viele Kulturwis­ senschaftler und -wissenschaftlerinnen noch heute Begriffe wie Jugend­ stil-Malerei, Jugendstil-Architektur, Jugendstil-Musik, Jugendstil-Litera­ tur, Jugendstil-Tanz, Jugendstil-Theater, Jugendstil-Schmuck und vor allem Jugendstil-Design, um auf die Vielfalt der durch diese Richtung beeinfluss­ ten Künste hinzuweisen. All dies scheint demzufolge auf eine relativ breite 104

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

Kulturbewegung hinzudeuten, die sich eine Neu- oder zumindest Umge­ staltung des gesamten menschlichen Environments zur Aufgabe setzte.16 Und daran ist als wohlgemeinte Absicht bei manchen ihrer Vertreter und Vertreterinnen auch kaum zu zweifeln. Problematisch bleibt nur, ob sich diese Bemühungen im Falle des Jugendstils tatsächlich als »Avantgarde« einer neuen Leitkultur charakterisieren lassen. Schließlich verstand sich der Jugendstil, wie auch die sich im gleichen Zeitpunkt entwickelnde Lebensreformbewegung, in seinen Hauptschrif­ ten nicht als Revolution, sondern – soziokulturell gesehen – lediglich als innerbürgerliche Revolte. Und daher erfüllt auch der Jugendstil keine der für eine »umfassende« Avantgarde gültigen Charakteristika. Er strebte weder eine politische oder geistige Umgestaltung der Gesamtgesellschaft an, noch stützte er sich auf die neuesten technischen Errungenschaften dieser Epo­ che. Im Gegenteil, er beschränkte sich in seiner Produktionsweise meist auf kunsthandwerklich arbeitende Werkstättenbetriebe, in denen nicht das für die Mehrheit der Bevölkerung fabrikmäßig hergestellte Serienprodukt, sondern das kostbare Einzelstück, das erlesene »Bijou«, im Vordergrund stand. Und so geriet er durch seine Sucht nach dem Kostbaren und Unge­ wöhnlichen oft in den Bereich des Dekorativ-Verschnörkelten und damit Manierierten. Seine sogenannten Hauptleistungen finden sich daher fast alle im Bereich einer elegant-stilisierten Villenkultur, in der sich die neureiche Bourgeoisie um 1900 genauso wohlfühlte wie in den Kunstausstellungen der impressionistisch-symbolistisch orientierten Sezessionisten, auf deren Bildern meist der »Schein des schönen Lebens« in Form sinnlich-einladen­ der Tritonen, Nymphen, Najaden oder Undinen, wenn nicht gar erotisch aufreizender Salome-Figuren dominierte.17 Da also der Jugendstil weniger mit inhaltlichen als mit formalen Innova­ tionen aufzuwarten hatte, ließ er sich wesentlich leichter ins Modische koop­ tieren als eine rebellische Richtung wie der Naturalismus. Und aufgrund dieses »modischen« Charakters blieb er, wenn auch aus anderen Gründen, ebenfalls eine kurzlebige Episode von wenigen Jahren. Ihn brauchte man allerdings nicht zu unterdrücken  ; er erschöpfte sich im Ismen-Karussell um 105

Moderne, Avantgarde, Sezession

1900 von selbst, als wegen der auf Hochtouren laufenden wirtschaftlichen Konjunktur den bürgerlichen Kunstfreunden von den marktbestimmenden Medien im Laufe weniger Jahre ein »Stil«, eine »Wende«, ein »Ismus« nach dem anderen offeriert wurde. Daher lässt sich sogar auf ihn, obwohl er sich in fast allen Künsten auszubreiten versuchte, nur das Etikett einer ins For­ malästhetische beschränkten Avantgarde anwenden. Allerdings sollte man selbst im Hinblick auf den Jugendstil auf eine solche Bezeichnung lieber von vornherein verzichten und ihn – wie den Impressionismus – lediglich als eine innerbürgerliche Sezession charakterisieren, die zwar zum Teil mit dem Anspruch des Avantgardistischen auftrat, aber dieses Bemühen meist auf das Postulat einer künstlerischen »Stilwende« oder eines utopischen »Ver sacrum« beschränkte.18 Nur da, wo sich der Jugendstil mit den Tendenzen der damaligen Lebensreform-Bewegung verband, nahm er einen gewissen »Vorschein«-Charakter an. Aber sogar dieser »Vorschein« blieb fast immer ein innerbürgerlicher und griff nicht ins Gesamtgesellschaftliche und damit in einem politischen oder sozialen Sinne »Umfassende« aus. Deshalb würde es sich empfehlen, den Begriff »Avantgarde« in Zukunft im Hinblick auf die künstlerischen Strömungen der Jahre zwischen 1885 und 1925 lieber außer Acht zu lassen, statt jede damals angestrebte for­ male Innovation, jedes ästhetische »Herumneuern«, wie es Bertolt Brecht einmal so schön formuliert hat,19 sofort mit dem Anstrich des »Revolutio­ nären« zu versehen. Ansonsten würde man sich unfreiwillig in den Bereich jener Reklame-Texter begeben, die sich bis heute nicht scheuen, von einem »avantgardistischen« Automodell oder einer »revolutionären« Zahnpasta zu sprechen, um damit dem Tauschwert der von ihnen angepriesenen Pro­ dukte eine betont neumodische Verbrämung zu geben. Das soll zwar eine geistreiche Innovationslust demonstrieren, deren Hauptfunktion jedoch vornehmlich darin besteht, eventuelle Kunden oder Kundinnen in einen profitsteigernden Kaufrausch zu versetzen und zugleich die Konzepte einer wahrhaften »Avantgarde« oder gar wahrhaften »Revolution« ins Lächerliche zu ziehen. Aber dazu sollten uns diese beiden Begriffe letztlich zu schade sein. Für solche Bemühungen reichen auch Begriffe wie »Mode« oder »New 106

Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg

Look« aus, deren sich jene Public-Relations-Agenturen bedienen, hinter denen keinerlei ideologischen Verbindlichkeiten stehen.

VI Was bleibt, ist also nur noch die Frage, wie sich diese von gesamtgesell­ schaftlichen Gesichtspunkten ausgehenden Überlegungen auf die Berliner Situation innerhalb der verschiedenen Künste in dem Zeitraum von 1885 bis 1914 anwenden lassen. Um es gleich vorauszuschicken  : In dieser Stadt hat es alle der eben aufgezählten und zugleich kurz charakterisierten Rich­ tungen durchaus gegeben, da Berlin seit 1871 als schnell anwachsende Reichshauptstadt auf viele junge Intellektuelle eine geradezu unwidersteh­ liche Anziehungskraft ausübte. Hier gab es selbst für unbekannte Künstler und Künstlerinnen noch am ehesten etwas zu verdienen, hier gab es die größten kunstinteressierten Bevölkerungsschichten, hier gab es die meisten literarischen Vereinigungen, die angesehensten Theater und die wichtigsten Kunstgalerien, hier gab es bekannte Künstlerkolonien, wie die in Fried­ richshagen, Woltersdorf und Schlachtensee, und hier gab es zugleich die größten sozialen Gegensätze zwischen der Großbourgeoisie in Berlin-West und den Arbeitervierteln in Berlin-Nord und Berlin-Ost sowie vielbeach­ tete politische Veranstaltungen, auf denen die maßgeblichen Vertreter und Vertreterinnen der großen Parteien zu ihren Anhängern sprachen. Ja, hier gab es überhaupt alles, was sowohl von den luxurierenden Oberschichten als auch von den jungen, noch um ihre Existenz kämpfenden Künstlern und Künstlerinnen – ob nun in einem sensualistischen oder sozialen Sinne – als »erregend« empfunden werden konnte. Aufgrund dieser, hier viel zu knapp angedeuteten Voraussetzungen brei­ teten sich innerhalb dieses Zeitraums in einer Stadt wie Berlin auf der einen Seite sich an das wohlverdienende Bürgertum wendende Galerie- und Sezes­ sionskünste sowie auf der anderen Seite gegen solche Kunstformen opponie­ rende avantgardistische Bewegungen aus. Diese setzten sich zum Teil, wie im Naturalismus, energisch mit den Forderungen der in der SPD organisierten Arbeiterklasse auseinander oder sympathisierten, wie im Expressionismus, 107

Moderne, Avantgarde, Sezession

nachdem die SPD ihren rebellischen Charakter zugunsten revisionistischer Konzepte aufgegeben hatte, mit den pazifistisch eingestellten Gruppen der Weltkriegszeit und dann den linkssektiererischen Novembristen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Alle diese Phänomene und Tendenzen, um zur anfänglichen Fragestel­ lung zurückzukehren, unter dem Begriff »Die Berliner Moderne« oder einer Folge in Berlin stattgefundener »Modernisierungsschübe« zusammenzufas­ sen, erscheint mir daher zu vordergründig. Auf diese Weise werden nämlich die tieferen politischen, sozialen und künstlerischen Gegensätze dieses Zeit­ raums entweder zugunsten einer allzu optimistisch wirkenden Sicht über­ deckt oder in ein kulturelles »Feld« eingeordnet, wo sie als relativ gleichgear­ tete Phänomene im Rahmen einer deskriptiven Übersicht erscheinen, ohne noch etwas über ihren ideologischen Stellenwert auszusagen. Eine derartige Sehweise erweckt zwar den Anschein einer größeren akademischen Objek­ tivität, lässt uns aber vergessen, dass dieser kulturwissenschaftlich anvisierte Bezugsrahmen zugleich ein politisches Schlachtfeld ersten Ranges war, auf dem selbst ästhetische Parteiungen noch zu Zensureingriffen, Verboten, wenn nicht gar Prozessen oder Haftstrafen führen konnten. Bleiben wir deshalb bei der Betrachtung der künstlerischen Leistungen dieses Zeitraums ruhig bei einer dialektisierenden Optik, die sich weniger für das Neben- oder Nacheinander als für das Gegeneinander der ins Auge gefassten Phänomene interessiert. Denn schließlich leitet sich der Wert aller Kunst stets daraus ab, wo sie sich im Konfliktfeld der jeweils herrschenden Leitkultur engagiert hat  : ob auf der Seite der zu Unrecht Herrschenden oder der zu Unrecht Unterdrückten. Und dies sollte auch im Hinblick auf den hier behandelten Zeitraum geschehen, der uns, wenn wir es recht bedenken, wissenschaftlich vor die ähnlichen Entscheidungen stellt, mit denen sich die damaligen Künstler und Künstlerinnen konfrontiert sahen.20

108

Realistisch oder abstrakt. Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts I Um 1955 wäre auf einer Gemäldeausstellung in Moskau oder Ostberlin das einzige nichtgegenständliche Bild entweder als spezifisch »westlich«, das heißt »formalistisch« attackiert – oder von vornherein gar nicht ausgestellt worden. Und umgekehrt wäre im gleichen Jahr auf einer Gemäldeausstellung in New York oder Westberlin das einzige gesellschaftskritisch-realistische Bild entweder als »hoffnungslos veraltet«, »unkünstlerisch« oder gar »östlich« angeprangert – oder von vornherein gar nicht ausgestellt worden. So eindeu­ tig waren in den mittfünfziger Jahren die ideologischen Fronten und die sich daraus ergebenden künstlerischen Leitvorstellungen in all jenen Ländern, die damals zum sogenannten Ostblock oder zum NATO-Pakt gehörten. Auf der einen Seite der vom Westen als »Eiserner Vorhang« bezeichneten Grenze wurden kollektive Parteilichkeit und Realismus verlangt, auf der anderen richteten die mehr oder minder geheimen Drahtzieher der Kunst­ szene das Postulat eines durch nichts eingeschränkten Subjektivismus auf, der sich am reinsten in einer von allen Objekten der äußeren Wirklichkeit abgelösten Nichtgegenständlichkeit manifestiere – woran sich denn auch viele bildende Künstler so brav wie möglich gehalten haben. Obwohl – hüben wie drüben – auch in der Literatur und Musik auf diese Gegensätze großer Wert gelegt wurde, kamen die damit verbundenen Konfrontationen in diesen beiden Künsten nicht so krass zum Ausdruck wie in der Malerei. Schließlich ließen sich Worte, die auch im Alltag benutzt werden, nicht so weit »formalisieren« wie Farben und Linien, während in der Musik, vor allem in ihren instrumentalen Ausdrucksformen, ohnehin eine nur selten bezweifelte Nichtmimetik und damit eine von vielen Kriti­ kern unbeanstandete Abstraktheit vorzuherrschen scheint. In der Malerei 109

Realistisch oder abstrakt

wurde dagegen in diesen Jahren die Forderung »realistisch oder abstrakt« zur entscheidenden ideologischen Gewissensfrage. In ihr äußerten sich deshalb die politischen Gegensätze zwischen Ost und West wesentlich plakativer und gaben demzufolge Anlass zu Kontroversen, die in ihrer Schärfe weit über das hinausgingen, was man in diesen beiden »Lagern« an der Literatur oder Musik der anderen Seite auszusetzen hatte.1 Um dafür wenigstens ein Beispiel anzuführen, sei an jene erste docu­ menta-Ausstellung erinnert, die 1955 in Kassel stattfand. Sie war von ihren »westlichen« Planern, unter denen ein »Kalter Krieger« wie Werner Haft­ mann sowie die Gesellschaft für abendländische Kunst eine maßgebliche Rolle spielten, von vornherein als eine Supershow sogenannter modernis­ tischer Malerei gegen jenen Sozialistischen Realismus jenseits des Eisernen Vorhangs angelegt, der wenige Kilometer östlich von Kassel niedergegan­ gen sei und hinter dem es, den bundesrepublikanischen Feuilletonartikeln zufolge, kein »freiheitliches« Kunstwollen mehr gebe. Haftmann stellte daher in seiner Einleitungsrede ein hinter ihm hängendes nichtgegenständliches Bild als gelungenen Ausdruck der »westlichen Freiheit« hin, während er ein Porträt von Pablo Picasso, auf dem man noch, wenn auch in grotesk verzerrter Form, die Nase und die Augen erkennen konnte, als »realistisch« bezeichnete und die in ihm zum Ausdruck kommende fatale Objektnähe darauf zurückführte, dass dieser Maler eben ein Mitglied der französischen Kommunistischen Partei sei.2 Wie wir wissen, wurde im gleichen Jahr Ber­ tolt Brecht in Ostberlin von einem ideologischen Hardliner wie Alfred Kurella vorgehalten, auf seinen Plakaten für das Berliner Ensemble graphi­ sche Motive von Picasso verwendet zu haben, der zwar löblicherweise ein Mitglied der KPF sei, aber dessen Kunst zu viele »formalistische« Elemente aufweise,3 um sie als »realistisch« im Sinne von Käthe Kollwitz oder Hans Grundig bezeichnen zu können. So verquer und doch so plakativ verliefen damals die Fronten anlässlich solcher Kontroversen. Wie es zu dieser Situation kam, ist allen mit den kulturpolitischen Spannun­ gen dieser Ära vertrauten Kunstinteressenten seit langem bekannt. In der einen Haltung kam eine direkte Lenkung von Seiten der SED, in der anderen eine 110

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

indirekte Lenkung von Seiten jener kapitalkräftigen Meinungsträgerschicht zum Ausdruck, die sich zwar im Hintergrund hielt, aber als ebenso effektiv erwies. Während sich also in der »Soffjetzone«, wie dieser Staat damals in der ehemaligen Bundesrepublik meist herablassend hieß, in der Malerei weitge­ hend ein Sozialistischer Realismus sowjetischer Prägung ausbreitete, setzte sich im Westen durch die Machinationen der CIA, der Ford Foundation und des Kulturkreises im Bundesverband der (west)deutschen Industrie im Bereich der visuellen Künste jener Trend zur totalen Gegenstandslosigkeit durch, wel­ chem – aus ideologischen und finanziellen Gründen – nur wenige Maler wider­ stehen konnten.4 Demzufolge liefen beide dieser Tendenzen weitgehend auf einen ähnlich gearteten Konformismus hinaus, der sich fast ausschließlich an die durch den Kalten Krieg vorgegebenen ideologischen Direktiven der beiden politischen Supermächte dieser Ära – den USA und der UdSSR – hielt. In der Folgezeit galten demnach alle »abstrakten« Bilder bei den Kulturtheoretikern der DDR als »dekadent« und alle »realistischen« Darstellungen bei den auf die angeblich »freiheitsbetonte« Nichtgegenständlichkeit eingeschworenen westlichen Kunstkritikern als minderwertige, ja verächtliche Formen einer totalitaristisch ausgerichteten »Art dirigé«. Ja, letzterer Begriff wurde meist in diffamierender Absicht sowohl für die nazifaschistische als auch die sozialisti­ sche Kunst angewandt, um so den negativen Aspekt solcher Darstellungsfor­ men so krass wie möglich herauszustreichen.5

II Wie ganz anders hatten die meisten Kunstkritiker den Gegensatz zwischen sogenannter realistischer und sogenannter abstrakter bzw. nichtgegenständ­ licher Kunst vor den ideologischen Konfrontationen des Kalten Krieges aufgefasst  ! Einige dieser Auseinanderentwicklungen sollen im Folgenden in einem kurzen Rückblick auf die Haupttendenzen innerhalb der bildenden Kunst zwischen 1900 und 1947/48, also vor der politischen Konfrontation der USA und der UdSSR, wenigstens andeutungsweise skizziert werden. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatte es in der europäischen Male­ rei – einmal höchst vereinfacht gesehen – an sich nur den »Realismus« 111

Realistisch oder abstrakt

gegeben. Ja, selbst »modernistische« Strömungen, wie der Naturalismus, der Impressionismus, der Neoimpressionismus, die Fin de siècle-Kunst und der Jugendstil, hatten sich trotz geänderter Malweisen nie völlig von der Darstellung der vorgegebenen Wirklichkeit abgelöst. Ihre Sujets, mochten es Menschen, Tiere, Pflanzen, Landschaften, Straßenzüge oder einzelne Gebäude sein, mochten sie in verschwommener, farbig intensivierter, sym­ bolistisch überhöhter oder linear stilisierter Form erscheinen, mochten sie realexistierend oder erfunden sein  : Stets war auf den Bildern dieser Rich­ tungen selbst für ästhetisch ungeübte Augen der ihnen zugrunde liegende Wirklichkeitsbezug klar oder zumindest relativ klar erkennbar geblieben. Und für kunstkritisch vorgebildete Geister – gleichviel welcher weltan­ schaulichen Provenienz – war es sogar möglich gewesen, charakteristische Unterschiede zwischen den ideologischen Grundtendenzen, ob nun den naturalistisch-objektivierenden, den impressionistisch-luxurierenden oder den jugendstilhaft-ästhetisierenden, festzustellen.6 Erst als sich nach 1910 innerhalb dieser sich als »modernistisch« verste­ hender Richtungen ein Avantgardismus entwickelte, der sich – wenigstens in formaler Hinsicht – als »revolutionär« empfand und sich in Kunst-Ismen, wie dem Abstraktionismus, Futurismus, Kubismus oder Vortizismus, in seinen Sujets zusehends von der Welt der vorgegebenen Wirklichkeit abzu­ lösen versuchte, das heißt ins Formalistisch-Imaginierte überging, wurde es allmählich immer schwerer, sich klare Vorstellungen von den ideologi­ schen Zielrichtungen dieser verschiedenen künstlerischen Strömungen zu machen. Doch letztlich blieben auch im Rahmen dieser Kunst-Ismen viele Bilder weitgehend objektverhaftet und damit »realistisch«. Aber es fehlte plötzlich der gesellschaftskritische Objektivismus des Naturalismus, die augenbeglückende Eleganz des Impressionismus oder der kunstgewerbli­ che Reiz des Jugendstils, die in der ersten Welle dieses Modernismus den Ton angegeben hatten. Stattdessen lösten sich die Farben und Linien so weit von den dargestellten Sujets ab, bis sie schließlich zum reinen Selbst­ zweck wurden und sich in ihnen, wie auf den Bildern des frühen Wassily Kandinsky, ein ins Zweckentbundene ausschweifender Gestaltungswille 112

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

manifestierte, der offenbar nur noch an der Wiedergabe abstrakter Form­ gebilde interessiert war. Welchen Schock solche Bilder in der damaligen Kunstwelt auslösten, ist heute – nach vielen Jahrzehnten nichtgegenständlicher Kunstbemühun­ gen – kaum noch vorstellbar und lässt sich daher schwer nachvollziehen. Mit Gemälden dieser Art wurde eine jahrhundertealte europäische Maltra­ dition durchbrochen, die – ob nun in dieser oder jener Form – auf dem seit der Antike propagierten Prinzip der Mimesis beruht hatte. Mochten die älteren Malweisen auch noch so verschieden gewesen sein, ihr Grund­ substrat war stets die Welt der vorgegebenen Realia gewesen. Dass einige Malergruppen oder auch einzelne Künstler um 1910 mit dieser Tradition radikal brachen, musste – obwohl diesem Bruch keine spezifisch politi­ schen Tendenzen zugrunde lagen – auf jene bürgerlichen Meinungsträger dieser Ära, die sich als die maßgeblichen Repräsentanten der wilhelmini­ schen Leitkultur aufspielten, zwangsläufig »revolutionär« wirken. Und als Gegenreaktion darauf empfanden sich manche dieser Maler, so konserva­ tiv sie zum Teil in sozialer oder kultureller Hinsicht dachten, plötzlich als selbsternannte Wegbereiter einer neuen Kunst, der eine völlig andersge­ artete Weltanschauung zugrunde liege, selbst wenn sie dafür keine gesell­ schaftskritischen Postulate aufzustellen vermochten. Demzufolge bildete dieser Antirealismus eine, wie man damals gesagt hätte, bürgerlich-anti­ bürgerliche Revolte, die weitgehend im Bereich der bekannten »machtge­ schützten Innerlichkeit« blieb. So legte etwa Kandinsky in seiner Schrift Über das Geistige in der Kunst von 1911, welche anfangs in Deutschland als eins der Hauptmanifeste dieser Richtung galt, den Nachdruck fast aus­ schließlich auf das allen Gegenständen der realen Welt überlegene Spiritu­ elle, ohne daraus eine besondere, in die Gesellschaft eingreifende Tendenz abzuleiten.7 In ihr gingen Geist und Form eine Symbiose ein, die auf alle politideologischen Voraussetzungen verzichtete und in den Bereich jener Überwirklichkeit auswich, in dem offenbar nur das »Künstlerische an sich« den einzig entscheidenden Ausschlag gibt.

113

Realistisch oder abstrakt

III Eine durchgehende Politisierung erfuhr dieser malerische Modernismus erst durch die Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg sowie die 1917 in Russland stattfindende Oktoberrevolution, auf die 1918 die deutsche Novemberrevo­ lution folgte. Und zwar spielte dabei anfangs die spätere Konfrontation zwischen »realistisch« und »abstrakt« noch keine zentrale Rolle. Als »revo­ lutionär« gaben sich damals sowohl jene Maler und Graphiker aus, die auf ihren Bildern in geradezu naturalistischer Krassheit den Krieg, die kapitalis­ tischen Ausbeutungspraktiken, ja den korrupten Zustand der Gesamtge­ sellschaft schlechthin anprangerten, als auch jene, die auf ihren Bildern in abstrakt-futuristischer Formgebung Konstruktionsmodelle einer utopisch erhofften Welt entwarfen, in denen nichts mehr an die bisherige Realität erinnern sollte und die daher zusehends ins Ungegenständliche, weil noch nicht konkret Fassbare tendierten.8 Für die krass realistische Darstellungsweise wären die satirischen Gemälde sowie die Graphikzyklen Das Gesicht der herrschenden Klasse (1921) und Abrechnung folgt (1923) von George Grosz wohl die besten Beispiele, der sich in diesen Jahren mit der gleichen Verve als Kommunist ausgab wie El Lissitzky oder Kasimir Malewitsch, die als Sowjetkünstler bei ihren Werken auf jeden Realitätsbezug verzichteten und sich auf rein formale Gestaltungs­ mittel beschränkten. Mit anderen Worten  : »Realistisch« oder »abstrakt« waren demnach innerhalb des Linksavantgardismus dieser Jahre noch keine gravierenden Gegensätze, welche sich wechselseitig ausschlossen, sondern konnten sowohl in ihrer gegenständlichen als auch nichtgegenständlichen Formgebung als Ausdruck des gleichen revolutionären Geistes auftreten. Ein gutes Beispiel dafür wäre der Berliner Dadaisten-Klub, dessen Mitglieder fast alle der KPD angehörten und die sowohl die realistischen Satiren eines George Grosz als auch die abstrakten Raumgebilde eines Wladimir Tatlin als gleichermaßen linksrevolutionär empfanden. Doch diese enge Symbiose, die sich auch in den Montagebildern von Raoul Hausmann, John Heartfield und Hannah Höch äußerte, sollte nicht lange währen. Schon in den Jahren 1922/23, als in weiten Bereichen der 114

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

Abb. 8 Raoul Hausmann  : Tatlin at home (1920)

bürgerlich-liberalen Kunstkritik – nach dem Abflauen der linksrevolutio­ nären Tendenzen – sowohl vom »Tod des Expressionismus« als auch vom »Ende des Dadaismus« die Rede war, gingen in der bildenden Kunst die als rebellisch oder gar revolutionär empfundenen Tendenzen wieder stark zurück. Ja, als im Jahr 1923 die Periode der »relativen Stabilisierung« des 115

Realistisch oder abstrakt

politischen und sozioökonomischen Gefüges der Weimarer Republik ein­ setzte, drängte sich in der Malerei jene Richtung in den Vordergrund, für die sich relativ schnell die Bezeichnung »Neue Sachlichkeit« einbürgerte und welche von der Malerei auch auf die Literatur und die Musik übergriff. Was in den folgenden Jahren darunter verstanden wurde, war eine ideolo­ gisch ernüchterte Leitkultur, die auf irgendwelche gesellschaftsverändern­ den oder gar utopisch-revolutionären Absichten weitgehend verzichtete und sich selbstgefällig auf den »Boden der gegebenen Tatsachen« stellte, wie es damals hieß.9 In der Malerei äußerte sich dieser neue Prosperitätszustand, der dazu führte, dass Deutschland im Gefolge sogenannter technologischer Moder­ nisierungsschübe im Jahr 1929 wieder den zweiten Platz in der Weltrang­ liste der führenden Industrienationen einnehmen konnte, in einer unüber­ sehbaren Hinwendung zu einer neuen Wirklichkeitsbezogenheit, welche sich von älteren Formen des Realismus im 19. Jahrhundert lediglich in ihrer halb fotographisch-peniblen, halb altmeisterlich-exakten Lasurtech­ nik unterschied, die den erneut beliebten Landschaften, Porträts, Gen­ reszenen, Stillleben und Industriebildern einen zwar höchst prägnanten, aber keineswegs aufrührerischen Ausdruck verlieh. Allerdings lässt sich dabei innerhalb dieser Richtung ein eher konservativer Flügel à la Georg Schrimpf sowie ein eher veristischer Flügel à la Otto Dix unterscheiden, in dem sich auch kritische Züge bemerkbar machten.10 Die abstrahierende oder gegenstandslose Malweise, die einmal Anfang der zwanziger Jahre als revolutionär gegolten hatte, verschwand dagegen fast völlig oder existierte nur noch in randständiger Form weiter, wie etwa in der konstruktivisti­ schen Malerei des Bauhauses. Eine politische Polarisierung trat in der Malerei, wie auch in den ande­ ren Künsten, erst wieder nach 1929 ein, als durch den Beginn der Welt­ wirtschaftskrise die Zeit der relativen Stabilisierung plötzlich von einer sozio­ökonomischen Turbulenzphase abgelöst wurde, in der nicht mehr die auf innenpolitische Beruhigung drängenden Vernunftrepublikaner, son­ dern die Ideologen der verschiedenen, politisch immer weiter auseinander 116

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

driftenden Parteien den Ton angaben. Im rechten Lager, wo sich der von Alfred Rosenberg angeführte Kampfbund für deutsche Kultur durchzu­ setzen versuchte, führte das im Hinblick auf die bildende Kunst zu einer Aufwertung alles Traditionsbetonten, das heißt – neben einer Lobpreisung der Malerei der Dürer-Zeit und der deutschen Romantik à la Caspar David Friedrich – zu einer modellartigen Verklärung der einstmals so beliebten Genre- und Heimatkunstmalerei des späten 19. Jahrhunderts. In diesem Umkreis war deshalb plötzlich wieder viel von Franz von Defregger und Hans Thoma die Rede. Im kommunistischen Lager distanzierte man sich dagegen zusehends vom linksorientierten Avantgardismus der Jahre zwi­ schen 1917 und 1921/22 und setzte sich für eine Agitpropmalerei im Sinne der auch in der Sowjetunion favorisierten realistisch-veristischen Tenden­ zen ein. Dafür sprechen vor allem die sich von allen dadaistischen Skurri­ litäten freihaltenden, das heißt tagespolitisch orientierten Fotomontagen John Heartfields sowie die Bilder jener Malergruppe innerhalb der KPD, die sich 1928 zur Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutsch­ lands (ARBKD oder kurz ASSO genannt) zusammenschloss und der unter anderem Maler wie Otto Griebel, Hans Grundig, Otto Nagel sowie Curt Querner angehörten. Während die präfaschistischen Kulturtheoretiker als ­Rezeptionsgemeinde eher das Bildungsbürgertum ins Auge fassten, herrschte innerhalb der ASSO – im Sinne der von der KPD ausgehenden Einheitsfrontparolen – eher die Bevorzugung proletarischer Themen vor. Von irgendwelchen »mo­der­nistischen« oder »neusachlichen« Tendenzen war daher in beiden die­ ser Richtungen keine Rede mehr.11 Was in ihnen zählte, war in erster Linie das Bekennerhafte und nicht irgendwelche auf das spezifisch »Künstlerische« eingeschränkte Tendenzen. Und das war im Rahmen des rechten Lagers vor allem das Bäuerlich-Kleinstädtische, Heimatverbundene, Art­bewusste oder auch Militante, während bei den Linken eher das Herrschaftsgebaren der gesellschaftlichen Oberschicht und die sich dagegen auflehnende Solidarität des Proletariats im Vordergrund standen.

117

Realistisch oder abstrakt

Abb. 9 Curt Querner  : Demonstration (1930)

IV Wie auf allen anderen Gebieten änderte sich diese Situation in D ­ eutschland nach dem 30. Januar 1933 auch in der Malerei geradezu über Nacht. Nach­ dem Adolf Hitler von der Junkerkaste und den Großindustriellen sowie den von ihnen massenmedial manipulierten mittelständischen Wählerschichten 118

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

im Rahmen einer Koalition von NSDAP und DNVP die Macht übergeben wurde, mussten alle mit der KPD sympathisierenden oder ihr als Mitglie­ der angehörenden Künstler entweder ins Ausland fliehen oder im Bereich der Inneren Emigration untertauchen. Einige arbeiteten zwar innerhalb Deutschlands noch im Verborgenen weiter, konnten sich aber mit ihren Werken nicht mehr in der Öffentlichkeit zu ihren früheren Idealen beken­ nen. Und zwar galt das nicht nur für die bisherigen Mitglieder der ASSO, sondern auch für linkskritische Einzelgängerinnen wie Käthe Kollwitz, für Repräsentanten des veristischen Flügels der Neuen Sachlichkeit wie Otto Dix oder den als Gestalter eines »slawischen Untermenschentums« ange­ griffenen Ernst Barlach.12 Doch um nicht weiter auf die kulturpolitischen Bestrebungen der KPD hinzuweisen und damit indirekt Reklame für diese Partei zu machen, rich­ teten sich die Hauptangriffe der Nazifaschisten im Bereich der Malerei nach 1933 vornehmlich gegen die von ihnen als »undeutsch« hingestellten Juden oder die als ebenso »undeutsch« abgekanzelten Expressionisten. Da in der Malerei die Anzahl derjenigen Juden, die sich wie Ludwig Meidner den »modernistischen« Tendenzen angeschlossen hatten, relativ klein war, blieben also auf diesem Gebiet vor allem die Expressionisten als die Haupt­ gegner der braunen Machthaber übrig, und das selbst dann, wenn sie wie Emil Nolde Mitglieder der NSDAP waren. Auch sie konnten ihre Bilder in den folgenden Jahren nicht mehr ausstellen. Ja, sogar ihre bereits von Museen angekauften Werke wurden der Öffentlichkeit entzogen, das heißt magaziniert, vernichtet oder in der Schweiz auf Auktionen zu Billigpreisen verschleudert. Dennoch trafen derartige Maßnahmen diese Künstler nicht so hart wie ihre Kollegen in der Literatur oder Musik. Während diese, falls sie antifaschistisch eingestellt waren, nach 1933 in Deutschland überhaupt nichts mehr publizieren oder aufführen konnten, hatten selbst manche »verfemten« Maler und Bildhauer im Dritten Reich weiterhin die Chance, ihre Werke an private Sammler zu verkaufen und sich somit einen halbwegs ausreichenden Lebensunterhalt zu verschaffen.

119

Realistisch oder abstrakt

Wie bekannt, erreichte diese Diffamierungswelle ihren Höhepunkt, als im Jahr 1937 jene Ausstellung unter dem Titel »Entartete Kunst« lief, auf der vor allem Bilder deutscher Expressionisten gezeigt wurden, die Hitler als Künst­ ler vom »Stamme Kubi« lächerlich zu machen versuchte.13 Alles, was hier unter Schlagwörtern wie »undeutsch«, »kulturbolschewistisch«, »jü­disch«, »verniggert« oder »dirnenhaft-obszön« zu sehen war, sollte den Besuchern und Besucherinnen demonstrieren, dass in der korrupten »System­zeit«, wie die Weimarer Republik jetzt allgemein hieß, auf allen Kulturgebieten – und damit auch in der Malerei – eine Tendenz zur Bastardisierung der artbe­ tonten deutschen Kunst ins »Untermenschliche« vorgeherrscht habe, der erst die NSDAP entgegengetreten sei. Und da die dafür Verantwortlichen unter der Führung Adolf Zieglers, Hitlers Lieblingsmaler, für diese Ausstel­ lung bewusst die abschreckendsten Beispiele des deutschen Expressionismus sowie andere als »gewissen-, charakter- und instinktlos« hingestellte Bilder, wie es im offiziellen Führer dieser Revue des Schreckens hieß, ausgesucht hatten, empfand sich die Mehrheit der bildungsbürgerlichen Besucher und Besucherinnen, die schon in den frühen zwanziger Jahren derartige Bil­ der empört abgelehnt hatte, in ihren ästhetischen und gesamtkulturellen Geschmackspräferenzen durchaus bestätigt. Mit dieser angeblichen »Mons­ tershow« verstärkte also der Nazifaschismus lediglich die Abscheu dieser Kreise vor allem »Niedrigen«, »Hässlichen« und »Negroid-­Sexualisierten«, die sie schon vor 1933 an den Tag gelegt hatten. Was die sogenannten bürgerlichen Kunstfreunde – in der Weimarer Repu­ blik wie auch im Dritten Reich – in der Malerei bevorzugten, waren keine modernistischen, sondern weitgehend jene altmeisterlich gemalten realisti­ schen Bilder, welche auch Hitlers und Rosenbergs Geschmack entsprachen. Und in dieser Einstellung fühlten sich diese Schichten durch jene »Erste Große Deutsche Kunstausstellung«, die im gleichen Jahr unter nazifaschisti­ scher Regie im Münchner Haus der Kunst stattfand, vollauf bestätigt. Hier herrschten wie in den voraufgegangenen wilhelminischen Salonausstellun­ gen fast ausschließlich jene Landschaften, bäuerlichen Szenen, Porträts, Tier­ bilder und Stillleben vor, die es auch in vielen Rahmengeschäften zu sehen 120

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

Abb. 10 Aus dem »Führer durch die Ausstellung Entartete Kunst« (1937)

gab. Dies war ein »Realismus« auf dem Niveau jener Kunst, die Theodor W. Adorno später in den fünfziger Jahren als geheuchelten Ausdruck einer »heilen Welt« lächerlich zu machen versuchte.14 Zugegeben, es gab auf die­ ser Ausstellung auch einige Führerbilder und Porträts anderer Nazigrößen 121

Realistisch oder abstrakt

Abb. 11 Adolf Ziegler  : Junges Mädchen (1937)

zu sehen, dagegen war fast alles, was von der unproblematischen Schön­ heit einer geradezu zeitlosen Welt – ob nun das Großstädtische, Indust­ rielle, Technologische, Kriegerische oder Rassistische – ablenken konnte, weitgehend ausgeklammert worden.15 Hier sollte man jene Augenweide, jene Freude am Idyllischen, Harmonischen oder Veredelnden haben, die 122

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

ein Grundbedürfnis all jener Menschen ist, die vornehmlich nach ­schönen Schlaf- oder Wohnzimmerbildern Ausschau halten. Demzufolge verkauf­ ten sich diese Gemälde, wie etwa die aalglatten Aktbilder von Oskar Mar­ tin Amorbach, Bernhard Müller, Ivo Saliger, Raffael Schuster-Woldan und Adolf Ziegler, wesentlich besser als jene »modernistischen« Bilder der frühen zwanziger Jahre, die wegen ihrer provozierenden Art eher als Ausstellungs­ stücke in Museen gelandet waren. Die gleiche Erfahrung hatten schon viele Maler der Neuen Sachlichkeit gemacht, deren Porträts, Landschaften und Stillleben sich erheblich leich­ ter absetzen ließen als irgendwelche wilden, aggressiven, ins Gesellschafts­ kritische tendierenden Werke. Dagegen war es den ASSO-Malern kaum gelungen, ihre Bilder verkaufen zu können. An wen  ? Etwa an die Arbeiter  ? Die hatten dafür weder das nötige Geld noch das Bedürfnis gehabt, sich zu Hause mit Darstellungen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Misere umgeben zu wollen. Überhaupt stellt sich im Hinblick auf diese Vorgänge die Frage nach der politästhetischen Funktion von Malerei schlechthin. Während sich Literatur und Musik – wenigstens in der Theorie – von vornherein an alle Menschen wenden, gibt es im Hinblick auf die Rezeption von Malerei stets die Aufspaltung in Sammler und Museen, also in eine private und eine öffentliche Interessentenschicht. Was auf dieser Ebene ins Museum gehört, gehört nicht unbedingt ins Wohnzimmer. Bilder von George Grosz und John Heartfield sind von vornherein Öffentlichkeitswerke, die im Bereich des Privaten, das heißt über dem Sofa oder im Schlafzimmer, nur eine recht reduzierte Wirkung entfalten können, während noch so gut gemalte Babyporträts oder Röhrende Hirsche nicht in Museen aufgehängt werden sollten. Um also irgendwelche ins Gesellschaftliche übergreifende Debatten zu vermeiden, beschränkten sich die Nazifaschisten in der Malerei vorwie­ gend auf den Bereich des Privaten und stellten die für die Öffentlichkeit bestimmten Bilder des Expressionismus als aggressiv-gefärbte Provokatio­ nen hin, die es in diesem Bereich auszumerzen gelte. Dort, wo sie sich mit ihren eigenen Bildern an die Öffentlichkeit wandten, bevorzugten sie 123

Realistisch oder abstrakt

deshalb – neben einigen parteiamtlichen Darstellungen – als neue maleri­ sche Leitvorstellungen mehrheitlich das bewusst Beschönigende oder Ver­ edelnde.

V In der internationalen Kunstkritik kamen derartige Taktiken in den dreißi­ ger Jahren relativ gut an. Schließlich war der »Modernismus« damals auch in vielen anderen Ländern auf dem Rückzug. Ob nun in Frankreich, Eng­ land, den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, überall wurde damals wieder »realistisch« gemalt. Sogar das in der Malerei des Dritten Reichs beliebte Motiv der »Pflügenden Bauern« tauchte in diesem Zeitraum auch jenseits der deutschen Grenzen ständig auf. Selbst in der UdSSR, wo in den frühen zwanziger Jahren, wie gesagt, ein linksorientierter Modernis­ mus tonangebend gewesen war, der in seinen exponiertesten Ausprägun­ gen auch eine gegenstandslose Malweise nicht verschmäht hatte, kam es in diesem Zeitraum zu solchen Regressionen ins Glatt- oder Platt-Realis­ tische. Wie bekannt, führte das im Jahr 1937 zur sogenannten Expressio­ nismus-Debatte, die vor allem in der Moskauer Zeitschrift Das Wort aus­ getragen wurde.16 Allerdings wurde dabei – im Gegensatz zu den Nazifa­ schisten – am Expressionismus nicht das »Untermenschliche«, »Negroide« und »Obszöne« heraus­gestellt, sondern à la Georg Lukács eher seine auf ideologische Abwege führende USPD-Gesinnung angeprangert. Und so blieb der bereits auf dem Allunionskongress von 1934 abgelehnte »Moder­ nismus« auch hier auf der Strecke. Doch das Jahr 1937 war für die Malerei auch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Da die Kulturfunktionäre der NSDAP die modernistische Male­ rei in ihrer Münchner Ausstellung »Entartete Kunst« in Bausch und Bogen verdammt hatten, kam es – um ein Beispiel herauszugreifen – zu diesem Zeitpunkt in den USA von Seiten einiger trotzkistisch eingestellter Maler zu dem Versuch, sich in Ablehnung der nazifaschistischen wie auch der sta­ linistischen Kunsttheorien erneut um eine Wiederbelebung der nichtgegen­ ständlichen Malerei zu bemühen. Während die sogenannten breiten Massen 124

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

von der stalinistisch eingestellten KPdUSA mit einer betont »realistischen« Malerei umworben wurden, zog man sich in diesem Lager aus antifaschis­ tischen Gründen plötzlich in eine linkskritische Haltung zurück, die – wie die frühe Sowjetkunst – wieder durch ihre weitgehende Abstraktheit oder gar Gegenstandslosigkeit provozieren wollte. Und dadurch entfachten die Vertreter dieser Richtung eine Reihe kunsttheoretischer Debatten, die auch im Hinblick auf Pablo Picassos futuristisch schockierendes Guernica-Bild, das 1937 als ein politisches Schaustück auf der Pariser Weltausstellung zu sehen war, eine zentrale Rolle spielen sollten.17 Während alle undogma­ tischen Linken über die zeitpolitische Bedeutsamkeit dieses Bildes einer Meinung waren, hegten die strengen Stalinisten durchaus Bedenken, ob ein so konkretes Thema, wie die Zerstörung einer baskischen Stadt durch die Bombenflugzeuge der nazifaschistischen Legion Condor, mit betont modernistisch-abstrahierenden Stilmitteln darzustellen sei. Doch solche Debatten waren nur von kurzer Dauer, da der Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 allen kunsttheoretischen Ausein­ andersetzungen erst einmal ein Ende bereitete. Jetzt standen plötzlich ganz andere Fragen im Vordergrund als jene, wie »realistisch« oder »abstrakt« ein Bild zu sein habe, das sich wegen seiner politischen Tendenz an eine brei­ tere Öffentlichkeit wende. Wenn jetzt noch »politisch« gemalt wurde, dann meist im Sinne jener militärischen Ziele, welche sich die verschiedenen der in diesen Krieg verstrickten Länder setzten. Ansonsten schwiegen alle höher gearteten Musen erst einmal.

VI Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs und der Aufteilung Deutsch­ lands in vier Besatzungszonen sah die Situation innerhalb des Galeriebetriebs und des Ausstellungswesens in diesen Breiten recht diffus aus. Bei genauerem Zusehen lassen sich jedoch – bei allem Pluralismus der Stile und Motive, der als eine wohltuende Befreiung aus der kurz zuvor angestrebten Gleich­ schaltung ins Militante oder Schönfärberische angesehen wurde – in den unmittelbar darauf folgenden Jahren etwa drei Richtungen unterscheiden  : 125

Realistisch oder abstrakt

eine prononciert-antifaschistische, eine kunstimmanent-gegenstandslose und eine eklektisch-halbmodernistische.18 Die gesellschaftskritisch-linke Richtung, die sich in ihren Themen – ob nun lamentierend, anklagend oder satirisch – mit den politischen Ver­ fehlungen der unmittelbaren Vergangenheit auseinander setzte, war sicher die kleinste (etwa vier bis fünf Prozent). Da die Nazifaschisten alle Orga­ nisationen linksgerichteter Künstler zerschlagen hatten, fanden die über­ lebenden Maler der ASSO oder andere linksgerichtete Künstler wie Karl Hubbuch, Hanns Kralik und Otto Pankok nach 1945 lediglich in der Zeit­ schrift Bildende Kunst, den Satireblättern Ulenspiegel, Wespennest und Simpl sowie im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands einen gewissen Rückhalt. Doch auf allen anderen Ebenen blieben die »Engagier­ ten« eher am Rande. Vor allem in den drei Westzonen gab es keine größe­ ren Ausstellungen antifaschistischer Kunst, keine offizielle Unterstützung für ein Widerstandsmuseum oder ähnliche Bestrebungen. Dass diese Rich­ tung überhaupt »Spuren« hinterlassen hat, verdankt sie weitgehend ihrer archäologischen Wiederentdeckung im Zuge der politischen Polarisierung der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Ebenso bescheiden wirkten anfangs alle Ansätze zu einer gegenstands­ losen Malerei (etwa fünf bis acht Prozent). Diese Richtung war nicht nur durch die Nazifaschisten liquidiert worden, sondern befand sich, wie gesagt, bereits seit Mitte der zwanziger Jahre im Rückgang. Die meisten Betrachter empfanden solche Bilder kurz nach 1945 als ausgesprochen »unzeitgemäß«, das heißt als Produkte aus der Ära jener modernistischen Kunst-Ismen zwi­ schen 1910 und den frühen zwanziger Jahren, die sich inzwischen überlebt hätten. Ihre Produkte wurden zwar nach Kriegsende sofort in allen vier Besatzungszonen gezeigt, um ihre Verfemung im Dritten Reich wieder gut­ zumachen, riefen aber keine echte Begeisterung hervor. Erst im Zuge des 1947/48 einsetzenden Kalten Kriegs und der damit verbundenen Westinte­ grierung der US-amerikanischen, britischen und französischen Besatzungs­ zonen fanden auch die Vertreter der gegenstandslosen Malerei wieder Ver­ teidiger, die von den westalliierten Kulturoffizieren – mit finanzieller und 126

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

Abb. 12 Otto Pankok  : Von Auschwitz zurück (1948)

propagandistischer Unterstützung ihrer Regierungen – gegen den Sozialis­ tischen Realismus der Sowjetunion ausgespielt wurden. Während sich in der sowjetischen Besatzungszone nach diesem Zeitpunkt die gegen eine nichtmimetische Kunst gerichteten Antiformalismus-Direktiven Andrej Shda­nows durchzusetzen begannen, hieß es 1948 – unter Berufung auf die »Neueste Stimmung im Westen« – in der westdeutschen Zeitschrift Das Kunstwerk, die schnell zum Sprachrohr der abstrakten, wenn nicht gegen­ standslosen Kunst wurde, geradezu apodiktisch  : »Das Zeitalter der Mimesis 127

Realistisch oder abstrakt

ist vorüber  ; überall setzt sich das abstrakte Kunstwollen durch.«19 Und zwar berief man sich dabei vor allem auf die große Abstraktenschau »Salon des Réalités Nouvelles«, die 1947 in Paris zu sehen war, die Wanderausstellung »Französische abstrakte Malerei«, die 1948 in München, Stuttgart, Düssel­ dorf, Hannover und Frankfurt gezeigt wurde, sowie die Werke des Abstract Expressionism eines Willem de Kooning, Robert Motherwell und Jackson Pollock, welche 1948 unter dem Titel »Gegenstandslose Kunst in Amerika« ebenfalls auf einer Wanderausstellung in mehreren westdeutschen Städten ausgestellt wurden. Auf westdeutscher Seite zog man dabei als Repräsentanten dieser Rich­ tung vor allem Maler wie Willi Baumeister, Georg Meistermann und Fritz Winter heran, deren abstrakte Bilder mit ihren Balken, Kreisen und Stri­ chen bald in vielen Kunstzeitschriften zu sehen waren. Obwohl anfangs noch von christlicher Seite her, etwa in Publikationen wie Hans Sedlmayrs Buch Verlust der Mitte (1948) und Wilhelm Hausensteins Was bedeutet die moderne Kunst  ? (1949), oder auch von Seiten älterer Realisten wie Otto Dix und Carl Hofer gegen diesen Einbruch des Gegenstandslosen protestiert wurde, erwies sich dieser Trend, der mit einer gewaltigen Werbekampagne einherging, schließlich doch als der effektivere, da er sich auf jene Parolen einer subjektiven Freiheitlichkeit stützen konnte, die durch eine allzu enge Bindung des Realismus an totalitäre Regime, wie dem Dritten Reich oder der Sowjetunion, wie es hieß, notwendig verloren gehen würde. Die Mehrheit der westdeutschen Maler (etwa 85 Prozent) bevorzugte jedoch bis 1949 erst einmal eine Darstellungsweise, die sich am besten als »Halbmoderne« charakterisieren lässt. Anstatt sich wie die antifaschistischen Realisten konkret mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinanderzu­ setzen oder wie die Gegenstandslosen einfach von ihr abzusehen, taucht das Thematische im Rahmen dieser Richtung allerdings meist nur als eine zwar angedeutete, aber weitgehend ins Unverständliche verrätselte Chiffre auf. Selbst der Nazifaschismus, der Zweite Weltkrieg und der Untergang Deutschlands erscheinen auf ihren Bildern fast ausschließlich als unbegrif­ fener Schock, als Teufelswerk, als Naturkatastrophe, als Weltuntergang oder 128

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

Apokalypse, das heißt als Einbrüche irgendwelcher dunklen, bösartigen, irrationalen Mächte. Ja, diese Stimmung des Schreckens wurde zum Teil mit Evokationen universaler Ängste verbunden, wie der Furcht vor der Allgewalt einer roboterartigen Technik, der steigenden Vermassung der Menschheit, der verheerenden Auswirkung der Atombombe oder der unvermeidlichen Gefahr eines Dritten Weltkriegs. Es ist die Größe und zugleich das Elend dieser Halbmoderne, dass sie sich solchen Gefahren zwar stellte, diese jedoch nicht konkret anging, sondern in ihren Appellen an Humanität, Frieden oder religiöse Zuversicht zu tief empfundenen, aber ideologisch unklaren Meta­ phern griff. Indem sie ihre Hoffnung allein auf Vorstellungen wie Erlösung, Geist, Kultur oder Bewusstsein setzte, landete sie dadurch – angesichts der Totalkatastrophe Deutschlands – zwangsläufig bei Realabstraktionen oder Mystifikationen, die sich zumeist im Umkreis heilsgeschichtlicher Chiffren bewegte. Besonders häufig war in diesem Bereich die Parallelisierung der Erfahrungen unter dem Nazifaschismus mit der christlichen Passionsge­ schichte. Dafür sprechen die vielen Verspottungen, Kreuztragungen, Passio­ nen oder Pietà-Darstellungen, oft in Form anspruchsvoller Triptychen, die in diesen Jahren entstanden. So hat allein Otto Dix zwischen 1946 und 1950 etwa 40 Bilder aus dem Leben Jesu gemalt. Bei Carl Hofer herrschte in dieser Zeit das Magisch-Verfremdete, bei Franz Radziwill das Apokalyp­ tische vor. Andere, wie Hans Meyboden, Werner Scholz oder Max Pfeiffer-­ Watenphul, bevorzugten einen Stil des »Expressiven Realismus«, der in seiner abstrahierenden Art meist zu zeitlosen Existenzallegorien neigte. Um 1948/49 wirkte also die deutsche Kunstszene noch relativ bunt. Obwohl die prononcierten Antifaschisten immer stärker in den ­Hintergrund traten, waren zu diesem Zeitpunkt – neben dem allmählich stärker werden­ den Trend zur Gegenstandslosigkeit – noch alle Spielarten der sogenann­ ten Halbmoderne recht aktiv. Überhaupt herrschte in dieser Zeit noch ein Nebeneinander der Formen, Stile und Motive, das in seinem Pluralismus als Zeichen der »Freiheit« ausgegeben wurde. So waren etwa auf der Aus­ stellung »Deutsche Malerei und Plastik der Gegenwart«, die 1949 in Köln stattfand und auf der nur Werke lebender Künstler gezeigt wurden, neben 129

Realistisch oder abstrakt

Abb. 13 Otto Dix  : Ecce Homo II (1949)

Gegenstandslosen wie Willi Baumeister, Ernst Wilhelm Nay und Fritz Winter auch Realisten und Vertreter der Halbmoderne wie Max Beckmann, Otto Dix, Erich Heckel, Carl Hofer und Max Pechstein vertreten. Bei der »2. Deut­ schen Kunstausstellung« in Dresden, die im gleichen Jahr stattfand, kamen von 753 ausgestellten Werken noch immer 360, ob nun gegenständliche oder 130

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

ungegenständliche, halbmoderne oder neoexpressionistische, idyllische oder anklagende, aus Westberlin oder den drei westlichen Besatzungszonen.20

VII Ein Umschwung in dieser Hinsicht setzte erst im Jahr 1950 ein. Nach der Spaltung Deutschlands, dem Beginn des Koreakrieges, den ökonomischen Auswirkungen des Marshall-Plans und der von Konrad Adenauer befürwor­ teten »Politik der Stärke« kam es in der westdeutschen Bundesrepublik – trotz aller Bekenntnisse zu Freiheit und Individuation – zu einer unüber­ sehbaren Vereinheitlichung auf ideologischem und kulturellem Gebiet. Im Bereich der Malerei führte das zu einer auffälligen Zurückdrängung des bis­ herigen Stilpluralismus und einer fortschreitenden Standardisierung eines Stils der mehr oder minder totalen Gegenstandslosigkeit. Da diese Verein­ heitlichung weitgehend im Zeichen des Kalten Kriegs geschah, begann sie in ihren kulturpolitischen Verlautbarungen meist mit einer systematischen Abwertung aller hinter dem »Eisernen Vorhang« vertretenen kunsttheore­ tischen Programme. Im Hinblick auf die bildenden Künste meinte man damit vor allem jenen Sozialistischen Realismus, der in den frühen fünf­ ziger Jahren in der DDR von den Kulturfunktionären der SED als die für alle Maler maßgebliche Stilhaltung hingestellte wurde, in der – wie in der Literatur – vor allem Themen vorherrschen sollten, die sich für den Aufbau des Sozialismus in diesem Staat einsetzen würden. Und viele der dortigen Maler, ob nun Veteranen und Veteraninnen der älteren Arbeiterbewegung wie Hermann Bruse, Lea Grundig, Otto Nagel und Curt Querner, aber auch eine Reihe jüngerer Maler wie Walter Dötsch, Willi Sitte, Volker Stelzmann, Werner Tübke und Walter Womacka, kamen dieser Forderung durchaus nach, indem sie entweder unermüdlich schuftende Aktivisten oder Helden der Arbeit, wie sie offiziell hießen, darstellten, die vor keiner noch so hohen Normenanforderung zurückschreckten oder sich im Gefolge des Bitterfelder Wegs um einen verstärkten Kontakt zur Intelligenz bemühten. Ja, manche malten sogar Arbeiter, die selber zu lesen, schreiben oder malen anfingen, das 131

Realistisch oder abstrakt

Abb. 14 Volker Stelzmann  : Schweißer (1971)

heißt als bildungsbeflissene Werktätige endlich den von Johannes R. Becher vorgezeichneten Weg zu der »einen großen, gebildeten Nation« einzuschla­ gen versuchten, um den noch immer bestehenden Gegensatz zwischen dem Bürgertum und der Arbeiterklasse zu überwinden. Angesichts dieser als »totalitaristisch« abgewerteten staatlichen E ­ ingriffe in ein lediglich von subjektiven Impulsen ausgehendes künstlerisches Schaffen, 132

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

glaubte sich daher die Mehrheit der westdeutschen Kunstkritiker nach 1950 durchaus berechtigt, jede Form des Realismus einfach als Zeichen der Unfrei­ heit, das heißt als willenloses Abpinseln der vorgegebenen Realität oder als sozialistische Schönfärberei abstempeln zu können. Durch solche Konzepte, erklärten sie immer wieder, erniedrige sich der Maler zum bloßen Fotogra­ phen oder parteipolitischen Propagandisten ohne jede künstlerische Integri­ tät. Statt sich zum Schöpfer eigener, gegenstandsloser Welten aufzuschwin­ gen, werde er in solchen Regimen zwangsläufig zum Komplizen einer ideolo­ gieverseuchten Leitkultur, die auch dem »Freien Westen« gefährlich werden könne und daher mit allen Mitteln ad absurdum geführt werden müsse. Neben der Kunst des Sozialistischen Realismus wurde deshalb in West­ deutschland in den frühen fünfziger Jahren auch jene antifaschistisch-ge­ sellschaftskritische Richtung der unmittelbaren Nachkriegszeit angegriffen, obwohl diese bereits durch den 1947/48 einsetzenden Kalten Krieg kaum noch reale Wirkungsmöglichkeiten hatte. Wie die Arbeiterdarstellungen der DDR-Malerei galt jetzt auch diese Form des Realismus als Ausdruck einer subalternen Massenbezogenheit und damit Neigung zum Totalitaris­ tischen. Eine solche Unkunst könne sich heute nur noch in der »Ost­ zone« halten, hieß es 1955 im Kunstwerk, wo man wie im Dritten Reich alle »schöpferischen Kräfte« unbarmherzig unterdrücke.21 Während in den frühen zwanziger Jahren selbst in der Sowjetunion noch eine gegenstands­ lose »Avantgarde« vorgeherrscht habe, sei in allen Ländern des Ostblocks, wie man jetzt infamerweise erklärte, heute allein das Muffige, Verklemmte, Ressentimentgeladene, Kleinbürgerlich-Wirklichkeitsbezogene und damit Intolerante tonangebend geworden. Aber nicht nur die westlichen und östlichen »Realisten«, auch die Anhän­ ger der sogenannten Halbmoderne hatten nach 1950 wegen ihres Wirk­ lichkeitsbezugs oder des Appellcharakters ihrer Bilder einen schweren Stand. Eine Trauerarbeit à la Carl Hofer erschien den Nutznießern des westdeutschen »Wirtschaftswunders« zusehends peinlicher. Sie ­wollten die nazi­faschistische Vergangenheit möglichst schnell verdrängen und stell­ ten darum sogar existentialistische oder humanistische Warnbilder von 133

Realistisch oder abstrakt

vornherein als linksverdächtig hin. Im Rahmen einer angeblich subjektori­ entierten Markt- und Konsumgesellschaft fanden sie nur noch das Konzept der absoluten Ideologielosigkeit als zeitgemäß. Selbst die Vertreter der Halb­ moderne wurden dementsprechend entweder bewusst übersehen, lächer­ lich gemacht oder in einzelnen Fällen, wie von Seiten Will Grohmanns und Werner Haftmanns, sogar massiv angegriffen.22 Welche Folgen solche Angriffe haben konnten, mussten Otto Dix und Max Pechstein schon 1953 erfahren, als man ihre Werke bei größeren Ausstellungen einfach ablehnte und dafür Gemälde gegenstandsloser Maler favorisierte.

VIII Die offizielle bzw. offiziöse Propaganda dieser gegenstandsfreien Malerei ging meist von einer geschickt taktierenden Uminterpretation des Begriffs »Avantgarde« aus. Während sich Teile der älteren Avantgarde selbst in ihrer ästhetischen Formgebung noch durchaus politisch oder zumindest gesell­ schaftskritisch verstanden hatten, wurde jetzt sogar die Avantgarde zwischen 1910 und 1923 in eine reine Kunstrevolte umgedeutet, der es vornehmlich um formale Innovationen gegangen sei. Auf diese Weise brachte man es fertig, selbst den progressionsbetonten Konstruktivismus der frühen zwan­ ziger Jahre als eine »Moderne« auszugeben, die überhaupt keinen politi­ schen, geschweige denn rebellischen Charakter besessen habe, ja verstand es sogar, diese Kunst – mittels einiger ideologischer Verrenkungen – in eine entscheidende Vorform des neuen Abstraktionismus umzufunktionieren. Manche zogen dabei alle nur denkbaren Register, um diesen restaurierten, aber seines rebellischen Charakters entkleideten Modernismus als »die« Moderne schlechthin hinzustellen, indem man ihn sowohl gegen die in der DDR herrschenden Kunsttheorien als auch gegen die konservative Kritik eines Hans Sedlmayr ausspielte,23 die beide – wenn auch mit verschiedener Akzentsetzung – noch immer die »Inhaltslosigkeit« dieser Kunst bedauerten und demzufolge leitkulturell obsolet geworden seien. Als die wichtigsten Topoi innerhalb der Legitimationsstrategien derartiger Ablehnungstheorien tauchten hierbei meist folgende Kriterien auf  : Da wären 134

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

erst einmal die formal-ästhetischen Rechtfertigungen. In dieser Kunst, hört man, habe sich der Künstler endlich vom Gegenstand befreit, verfahre also nicht mehr zwanghaft abbildlich, sondern kreativ-frei. Hier komme also die Malerei endlich zu sich selbst, indem sie alle Bindungen an ältere Sujets oder genrehafte Motive abstreife und nur noch ihr eigenes Material oder den freien Umgang mit diesem Material thematisiere. In dieser Art des Schaffens sei demnach jeder sein eigener Schöpfer, wodurch sich das Schimpfwort »For­ malist« geradezu in einen Ehrentitel verwandelte, mit dem man die eigene Materialbesessenheit herauszustreichen versuchte. So erklärte etwa Werner Schmalenbach bei der Eröffnung einer Hann-Trier-Ausstellung in Hanno­ ver höchst unverblümt  : »Es geht um das Bild, um das gemachte Bild. Das ist die Realität, und sie hat, zumindest für diesen Künstler, mehr Gewicht als die der Kriegs-­oder sonstigen Erlebnisse«.24 Ebenso entschieden schrieb Werner Luft  : »Nicht Sinn-, sondern Formzusammenhänge bestimmen heute die Qualität eines Kunstwerks«.25 Ja, Arnold Gehlen behauptete Ende der fünfziger Jahre, dass ihm westdeutsche Jugendliche angesichts »abstrakter« Bilder versichert hätten, hierin sähen sie den Ausdruck wahrer »Freiheit«.26 Der Begriff »Freiheit« machte in diesem Umkreis überhaupt eine unge­ wöhnliche Inflation durch. In allem fühlten sich diese Gruppen plötzlich »frei«  : im Verzicht auf einen fassbaren Gegenstand sowie im Umgang mit Farbe, Linie, Form, Fläche und Raum. Indem sie sich von allen bisherigen Gesinnungen, Programmen, Theorien oder Ideologien befreiten, glaubten sie sich auch vom »schmutzigen« Geschäft der Politik befreien zu können. Worte wie »Gesinnungskünstler« oder »Moralist« wurden daher von vielen westdeutschen Kunstkritikern nur noch negativ benutzt. Als positiv stellten sie dagegen die Materialkünstler, Macher und Formbeherrscher hin. Nicht mehr im »Was«, sondern im »Wie« sahen sie plötzlich das eigentlich Kreative. Als besonders »zeitgemäß« wurde dabei die Wendung ins Kinetische oder Konstrukthafte angesehen. Dementsprechend war in einigen Programmen dieser Richtung ständig von der Schönheit der technischen Form, von geo­ metrischen Mustern oder durchmathematisierten Flächen die Rede, als habe man es mit Reißbrettzeichnungen eines Ingenieurbüros zu tun. 135

Realistisch oder abstrakt

Auf einer etwas höheren Ebene wurde dagegen eher die subjektiv-idealis­ tische Komponente dieser Gegenstandslosigkeit herausgestrichen. Neben Begriffen wie Geometrisierung oder Technisierung tauchten daher in diesem Umkreis ebenso oft Worte wie Intellektualisierung, Konzeptualisierung oder Spiritualisierung auf. Statt einfach nachzuschaffen, wollte man endlich den geheimen Formgesetzen der Materie nachgehen, wenn nicht gar kosmische Urregeln aufschlüsseln oder mystische Verzückungen erleben. Während Hans Sedlmayr noch glaubte, die halbabstrakte oder gegenstandslose Kunst aus religiösen Gründen ablehnen zu müssen, stellten manche der Abstrak­ ten gerade die Leere oder Unbestimmtheit dieser Bilder als willkommenen Anlass zur Meditation hin. So knüpfte schon Willi Baumeister in seinem Buch Das Unbekannte in der Kunst (1947) unter Berufung auf Mystiker wie Meister Eckhart an jenen Zeichencharakter auf den Bildern Wassily Kan­ dinskys oder Piet Mondrians an, durch den aus dem »Sehen« das »Schauen«, aus der Kunst die Vision werde.27 Noch einen Schritt weiter ging F. A. Winter, der in seiner manifestartigen Verteidigung der abstrakten Malerei, welche 1949 in der Zeitschrift Neues Abendland erschien, die gegenstandslose Malerei als eine Kunst des »inneren, geistigen Auges« und damit höchste Form der christlich-religiösen Kunst schlechthin bezeichnete, während er der gegenständlichen Malerei, die das »Göttliche« notwendig in die »vermenschlichende Verkleinerung« herab­ ziehe, nur einen minderen Rang zuerkannte.28 Selbst hohe Würdenträger der katholischen Kirche wie Monsignore Otto Maurer, der Prediger am Wiener Stephansdom, schlossen daher bereits Mitte der fünfziger Jahre ihren Frieden mit der gegenstandslosen Kunst und setzten sich aktiv für den Einbezug mystisch-zeichenhafter Werke – wie der Glasfenster Georg Meistermanns – beim Bau neuer Kirchen ein.29 In Frankfurt gab es kurze Zeit später eine Ausstellung unter dem Titel »Kirche und abstrakte Malerei« zu sehen, wo gerade den gegenstandslosen Werken, als den Ausdrucksträgern wahrer Tiefe, die Fähigkeit zugesprochen wurde, einen Lichtstrahl ins »Dunkel unserer Existenz« zu werfen.30 Auch Wieland Schmied und Karl Lüthi bekannten sich damals als gläubige Christen zu einer abstrakten »Gegenwartsmalerei«,31 136

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

Abb. 15 Willi Baumeister  : Rote Landschaft (1948)

das heißt wandten sich gegen den inzwischen obsolet gewordenen Sedlmayr und reihten sich in die Folge jener Stimmen von Wilhelm Worringer bis zu Werner Haftmann ein, die dem Prinzip der Abstraktion immer stärker den Charakter der »Eigentlichkeit« verliehen und schließlich die total schwarze Leinwand zum höchsten Meditationsobjekt erhoben. Um dieser Anschauungsweise eine ebenso würdige Tradition zu geben wie der Tradition der realistischen Malerei, wurde in den fünfziger Jah­ ren zugleich allerorten nach Vorläufern jenes Antirealismus geforscht, mit denen man der vielbeschworenen Abstraktion den Anschein des historisch 137

Realistisch oder abstrakt

Legitimierten zu geben versuchte. Viele griffen dabei auf die »Ära der Ismen« zwischen 1910 und 1923 zurück und stellten diese Zeit als die Periode der großen »Kunstrevolte«, das heißt der endgültigen Verselbständigung der künstlerischen Darstellungsformen, hin. Es gab sogar Apologeten, die noch weiter zurückgriffen, ob nun wie die Jugendstil-Forscher bis zur »Stil­ wende um 1900«32 oder wie Gustav René Hocke bis zum Manierismus,33 und schon an den Werken dieser Epochen vornehmlich das Abstrahierende oder die ins Gegenstandslose drängenden Tendenzen hervorhoben. Wohl am einflussreichsten erwies sich hierbei Werner Haftmanns Buch Malerei im 20. Jahrhundert (1954), in dem er – im Gegensatz zu den von ihm unab­ lässig gefeierten »Großen Abstrakten« – alle parteipolitisch-orientierten, aber auch realistisch-gesellschaftskritischen Strömungen zwischen 1900 und 1950 als beiläufige Episoden einer minderwertigen »Art dirigé« verwarf.34 Konsequenterweise habe sich deshalb die »Große Abstrakte«, wie Haftmann damals schrieb, in allen nichttotalitär regierten Ländern bereits seit vielen Jahrzehnten als die alleingültige »Weltkunst« etabliert.35 Und zwar wurde bei solchen Legitimationsstrategien stets das Elitäre, Eso­ terische, Hermetische dieser modernistischen, weil antirealistischen ,,Welt­ kunst« betont. Durch ihre Wendung zum Elitären, hieß es immer wieder, entziehe sich die abstrakte Kunst allen möglichen Indienstnahmen und demonstriere eine durch nichts eingeengte Subjektivität. Statt wie unter dem Nazifaschismus oder Stalinismus als Ausdrucksform einer allgemeinver­ ständlichen Leitkultur aufzutreten, versuche sie in ihrer Rätselhaftigkeit, ja Unverständlichkeit stets auf etwas Höheres oder Tieferes hinzuweisen. Schon Willi Baumeister betonte deshalb 1947, dass alle wahren Künstler zwangs­ läufig »Isolierte« seien, die mit anderen »Isolierten« zu kommunizieren ver­ suchten.36 1949 hieß es bei Paul Ortwin Rave im gleichen Tenor  : »Was der einzelne Künstler schafft, das spricht – bestenfalls – zum Einzelnen«.37 Der Nazi-­Slogan »Die Kunst dem Volke« sei daher – nach Rave – der größte Verrat am Wesen der Kunst gewesen. Als ebenso verfehlt empfand es Werner Haftmann, sich den »Sehgewohnheiten der Masse« anzupassen, ja überhaupt eine »mittlere Linie« als »verbindliches Maß« hinzustellen.38 Auch für ihn 138

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

Abb. 16 A. Paul Weber  : Die Exklusiven (1957)

war Kunst nur das, was aus den »verschwiegenen Zonen des Menschen als Einzelnem« stammt.39 Jede »freiheitlich-schöpferische Handlung, als eine direkte Verhandlung des Subjekts mit seiner Wirklichkeit«, erfolge, wie er erklärte, in »Einsamkeit und außerhalb jeder Gemeinschaft und Kamerad­ schaft«.40 Ähnliche Zweifel am Postulat der »Allgemeinverständlich­keit« 139

Realistisch oder abstrakt

hegte Franz Roh.41 Mit gleicher Tendenz sprach sich Hermann Beenken 1950 im Monat gegen den Versuch aus, mit Wandgemälden an die Öffent­ lichkeit zu treten, und setzte sich für eine Malerei ein, die sich ausschließ­ lich an Kenner und Sammler wende.42 Bei Will Grohman hieß es, dass heute nicht mehr die Gruppe, sondern nur noch der große Einzelne zähle, der für »Wenige« schaffe und von noch Wenigeren verstanden werde.43 Ja, Bruno E. Werner entblödete sich nicht, eine Ehrenrettung für den Snobismus zu schreiben, um den Radius der Kunst von vornherein auf die Elite der Sezessionisten einzuschränken.44 Die Kunst, die diesen Programmen entsprach, war jene gegenstandslose Malerei, die inzwischen unter Bezeichnungen wie Non-Representational Art, Abstract Expressionism, Art informel, Tachismus, Action Painting, Drip Art, Automatismus, Fleckenmalerei, Neokonstruktivismus oder Monochrome Malerei in die kunstgeschichtlichen Handbücher eingegangen ist. Man hat dabei viel Aufhebens um die einzelnen Varianten gemacht. Doch letztlich ging es, ob nun bei Willi Baumeister, Georg Meistermann, Ernst Wilhelm Nay, Hans Platschek, Hann Trier, Heinz Trökes, Theodor Werner, Fritz Win­ ter und vielen anderen, immer wieder um die gleiche Ungegenständlichkeit, die sich im Sinne der benjaminschen »ewigen Wiederkehr des Neuen« ledig­ lich verschieden einzukleiden versuchte.45 Aufs Große und Ganze gesehen, handelte es sich bei dieser Richtung um eine Malerei, die anfänglich mehr zum Geometrisierend-Konstruktivistischen neigte und dann ab 1955 stärker ins Fleckenhafte überging. Aber, wie gesagt, letztlich wäre es müßig, hinter den vieldiskutierten Stilphasen dieser Malerei eine logische Notwendigkeit aufspüren zu wollen. Ob nun gemalt, gekratzt, gespachtelt, gespritzt oder geschmiert – das meiste lief stets auf das Gleiche hinaus  : Eine Gegenstands­ losigkeit, die ebenso hintergründig wie oberflächlich wirkt und daher gern mit Oxymora wie »geometrisierender Dynamismus« oder »materialverhaf­ teter Existentialismus« umschrieben worden ist.

140

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

IX Allerdings sollten jene, die im Hinblick auf diese gegenstandslose Malerei nach wie vor vom herrschenden »Stil« der fünfziger Jahre sprechen, stets bedenken, dass dies lediglich das künstlerische Leitbild der oberen ein bis zwei Prozent der westdeutschen Bevölkerung war. Doch dieser Prozentsatz genügte, um ihm in den führenden Organen und Organisationen der frühen Bundesrepublik eine dominante Rolle zu sichern, ja als »der« Stil schlechthin anerkannt zu werden, der zum In-Stil und damit zum leitkulturellen Maß­ stab der sogenannten Meinungsträgerschichten wurde. Und solange sich die führenden In-Groups dieser Gesellschaft als stabil erwiesen, erwies sich auch dieser Stil als stabil. Innerhalb eines Staats wie der frühen BRD, dem es gelang, sich politisch, ökonomisch und sozial gegen alle oppositionellen Elemente abzuschirmen, hatte darum eine »realistische« Malerei – trotz aller lauthals verkündeten »Freiheits«-Parolen – nur eine geringe Chance, ihren Widerspruch anzumelden oder gar als neue Stilformation aufzutreten. Und obendrein  : Welchen Zielsetzungen hätten sich solche Künstler eigentlich verschreiben sollen  ? Lebten sie nicht in einem Staat, den Ludwig Erhard, der »Mister Wirtschaftswunder«, zu diesem Zeitpunkt als ein »ökonomisches Rahmengebilde« ohne ideologischen Überbau definierte, innerhalb dessen dem »persönlichen Bereicherungsdrang des Einzelnen so wenige Schran­ ken wie nur möglich entgegengesetzt werden« sollten  ?47 Wie konnte man also in einem System, das keinerlei überindividuelle Ideale besaß, von den Künstlern irgendwelche gesamtgesellschaftlichen Motivationen erwarten  ? Bis es daher in dieser Beziehung zu Änderungen kam, mussten noch einige Jahre ins Land gehen, die mit Fakten wie der neuen Attraktivität der SPD unter Willy Brandt, dem Rücktritt Konrad Adenauers, den ers­ ten wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie der ideologischen Polarisierung der Intellektuellen nur angedeutet werden können. Erst durch diese Ent­ wicklung wurde es möglich, dass sich in der bildenden Kunst neben dem weiterbestehenden In-Stil der Abstraktion, der auch in neuerlichen Rich­ tungen wie Op-Art, Minimal Art und Kinetische Kunst tonangebend blieb, selbst in der Bundesrepublik ein neuer »Realismus« in Form von Pop-Art, 141

Realistisch oder abstrakt

Fotorealismus und schließlich sogar einer gesellschaftskritisch engagierten Malerei verbreitete. Im Gegensatz zu Pop-Art und Fotorealismus, die beide auf US-amerikanische Vorbilder der Kennedy-Ära zurückgingen, kam es dadurch innerhalb jener bildenden Kunst, die vor allem vom linken Flü­ gel der damaligen Achtundsechziger Bewegung unterstützt wurde, auch in Westdeutschland wieder zu einem gewissen Avantgardismus. Als Leitbilder fungierten hierbei die auch in diesem Staat neuentdeckten Fotomontagen John Heartfields, die Graphiken von Käthe Kollwitz sowie die Malerei der DDR, welche vor allem durch die 1968 gegründete DKP befördert wurden, die sich in der von Richard Hiepe herausgegebenen Zeitschrift tendenzen ein wirkungsvolles Verbreitungsorgan verschaffte.46 Damit gab es für die Dauer weniger Jahre selbst in der bildenden Kunst der ehemaligen Bundesrepublik wieder einen Stilpluralismus, in dem sich nicht nur ästhetisch, sondern auch ideologisch höchst verschiedene Zielset­ zungen abzeichneten. Doch schon nach den mittsiebziger Jahren schwächten sich diese Unterschiede wieder ab und wurden von einer neuen ideologi­ schen Unverbindlichkeit abgelöst, in welcher der eben noch als politisch empfundene Gegensatz zwischen »realistisch« und »abstrakt« keine gravie­ rende Rolle mehr spielte. Gut, es gab auch in der Folgezeit, auf die hier nicht mehr näher eingegangen werden soll, sogar in der BRD noch einige Durchbrüche ins Engagierte. Aber sie blieben vereinzelt und wurden nicht mehr von bestimmten Bewegungen getragen. Selbst die Aufmerksamkeit, die man zeitweilig DDR-Malern wie Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke schenkte, blieb für die westdeutsche Kunstkritik ein relativ einflussloses Randphänomen. Ja, im Zuge der sich nach 1980 erneut verstärkenden Wendung gegen das Östliche nahm man in den Werken dieser Maler nur noch das wahr, worin man ein verstecktes oder offenes Ungenü­ gen mit den Doktrinen des Sozialistischen Realismus zu erblicken glaubte. Einen Schlusspunkt erlebten alle diese Entwicklungen im Jahr 1989, als es – nach dem Zusammenbruch der DDR – zu einem vorläufigen Stillstand der auch in der Malerei zu verfolgenden Konfrontationen östlicher und west­ licher Anschauungen kam. Seitdem lässt sich in der neuen Bundesrepublik 142

Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts

Abb. 17 Gerdt Marian Siewert  : Zufällige Begegnung von Staublunge und Aktienpaket in einer Filiale der Deutschen Bank (1972)

eine ständige Zunahme einer sich in postmodernen Installationen, Videound Neonrepräsentationen, Computer-Graphiken, Landart-Gebil­den sowie anderen Objektart-Produkten manifestierenden Kunst oder bewuss­ ten Un-Kunst beobachten, die zwar auch auf die in ihr zum Ausdruck kommenden ideologischen Tendenzen im Rahmen der immer mächtigen anschwellenden Leitkultur des massenmedial operierenden Neoliberalismus untersucht werden müsste, aber Fragen aufwirft, welche sich jedoch mit den Problemstellungen der ihr voraufgegangenen Malerei, die weitgehend im Zeichen des Kalten Kriegs standen, kaum noch vergleichen lassen.47 143

»Nichts bleibt so, wie es war!« Expressionismus als Revolution

I In den Dreck gezogen, als »entartet« bezeichnet und zugleich überschwäng­ lich gelobt, ja bis in den Himmel gehoben  : So schwankte das Bild des Expressionismus jahrzehntelang zwischen den ideologischen Fronten. Seit den frühen zwanziger Jahren gibt es wohl kaum eine politische oder künstle­ rische Strömung, die sich nicht in vehementer Weise mit diesem Phänomen auseinandergesetzt hat. Denn eine solche Eruption politischer, ästhetischer und emotionaler Kräfte, die ziellos nach allen Seiten auszubrechen schien, ließ sich einfach nicht übersehen. Hier waren sie alle betroffen  : ob nun die Rechten oder die Linken, die Engagierten oder die Nichtengagierten. Und so konnte es kommen, dass ein und dieselbe Bewegung als prokommunistisch oder präfaschistisch, als reiner Kunstausdruck oder bloßer Politikabklatsch, als bürgerlich-idealistisch oder bolschewistisch-aktivistisch, als soziologisch bedingtes Massenphänomen oder Ausdruck jenseitig verzückter Einzelner verdammt oder hochgejubelt wurde – je nachdem welcher Ideologie man sich selber verschworen hatte. Doch so hanebüchen manche dieser Urteile auch klingen mögen, erstaunlicherweise treffen sie alle auf irgendeine Weise zu. Der Expressionismus war nun einmal ein höchst komplexes Phänomen, das in seinen leitkulturellen Vorstellungen sowohl künstlerisch als auch welt­ anschaulich schwer auf einen Nenner zu bringen ist. Wild zwischen den extremsten Gegensätzen hin- und herflackernd, hier im rein Subjektiven, dort im rein Kollektiven, hier im rein Geistigen, dort im rein Triebhaften untertauchend und dann mit jauchzend verzückter Simultangebärde alle diese Polaritäten in eins zusammenraffend, steigerte er sich immer wieder in jenen Universalrausch hinein, der gerade in seiner Verschwommenheit so unverkennbar »expressionistisch« wirkt.

145

»Nichts bleibt so, wie es war!«

Abgestoßen von dieser »unwissenschaftlichen« Tendenz zu grenzenloser Vermischung, haben daher viele Expressionismus-Forscher versucht, die ideologisch schillernden Produkte dieser Bewegung auf eine Komponente festzunageln und den Expressionismus mit wechselnder Akzentsetzung als Ausdruck deutsch-gotischen Jenseitsdranges, avantgardistischer Formex­ perimente, bohemienhafter Hilflosigkeit, nietzscheanischer Lebensverkul­ tung, utopischer Paradieseshoffnungen oder linkspolitischer Radikalität zu interpretieren, um nicht mit jener zum Topos gewordenen Stange im Nebel herumzufuchteln oder fahrlässig »ins Allgemeine zu wabern«, wie sich Gottfried Benn gern ausdrückte.1 Doch jeder Versuch, den Expressionismus auf ein säuberlich umgrenztes Sonderphänomen zu reduzieren, hat stets dahin geführt, wohin solche Untersuchungen notwendig führen müssen  : ins Spezialistische und damit Undialektische, das über dem ästhetisch oder weltanschaulich Partikularen das im hegelianischen oder gesellschaftswis­ senschaftlichen Sinne »Ganze« aus dem Auge verliert. Erst in den letzten Jahrzehnten ist dieser »Streit um den ­Expressionismus«, der vor allem zwischen 1933 und 1945 höchst erbitterte Formen angenom­ men hatte, einer weltanschaulich unverbindlicheren Hochschätzung dieses Phänomens gewichen, das man nun wie ein ehr- oder auch merkwürdiges Relikt aus »alten Zeiten« in aller Seelenruhe strukturalistisch auseinander­ klaubt, wieder zusammensetzt, auf thematische Einflüsse hin untersucht, genretheoretisch klassifiziert, biographistisch durchleuchtet – oder was es sonst noch an wissenschaftlich objektivierenden Bemühungen gibt. Kein Zweifel, dass wir aufgrund dieser Forschungen heute über den Expressio­ nismus wesentlich mehr »wissen« als früher. Jeder, der sich die Mühe machen sollte, die ins Unendliche angeschwollene Sekundärliteratur über den Expressionismus wirklich durchzuackern, wird das bestätigen. Und das ist schließlich auch ein Ergebnis. Doch der Elan, die Aggressivität, die revolutionäre Streitlust, die sich anno dazumal an diesem Phänomen ent­ zündeten, scheinen endgültig dahin zu sein. Auch auf diesem Sektor domi­ niert gegenwärtig ein zwar opulentes, aber unverbindliches Wissensangebot,

146

Expressionismus als Revolution

Abb. 18 Ludwig Meidner  : Titelblatt (1919)

während man die Frage nach der politischen oder weltanschaulichen Ziel­ richtung dieser Bewegung einfach links liegen lässt. Aber was ist daran so verwerflich, mögen manche an dieser Stelle einwen­ den  ? Ist es nicht die Aufgabe der Wissenschaft, das im Tageskampf Verzerrte und Ungeklärte auf eine »höhere« Ebene zu heben, das heißt, es solange zu entzerren und zu klären, bis es sich schließlich mit »interesselosem Wohlge­ fallen« betrachten lässt  ? Manche sind da anderer Meinung. Für sie bedeutet »Wissenschaftlichkeit« – einmal etwas pauschalisierend gesprochen – keine falsche Objektivierung, Neutralisierung oder gar Kastrierung, sondern eine aktive Auseinandersetzung mit bestimmten ideologischen Debatten, um von 147

»Nichts bleibt so, wie es war!«

der bloßen Theorie endlich wieder in die gesellschaftliche Praxis zurückwir­ ken zu können – mag auch der Wirkungsraum derartiger Aktivitäten noch so begrenzt sein. Doch auch für alle anderen Forscher müsste gerade der Expressionismus, dem ähnliche Absichten zugrunde lagen, noch immer ein höchst irritierendes Phänomen sein, und nicht etwas, über das man getrost zur Tagesordnung übergehen sollte. Kunstwissenschaftliche Betriebsamkeit in allen Ehren  ! Aber was machen diese Pseudoobjektivisten eigentlich, nach­ dem sie alle Fakten, Strukturen, Motive und ästhetischen Zusammenhänge, die sie »aufhellen« wollten, wirklich aufgehellt haben  ? Gut, sie könnten immer mehr dritt-, viert- oder fünftrangige Vertreter dieser Richtung in die Expressionismus-Forschung einbeziehen. Doch schließlich ist auch das einmal zu Ende. Und was macht man dann  ? Entgegen solchen Tendenzen wäre es vielleicht nicht unangebracht, die Frage nach dem spezifisch »Expressionistischen« ruhig etwas konkreter, das heißt sozialbezogener zu stellen, da sich nur so eine genauere Bestimmung des historischen Stellenwerts dieser Bewegung und zugleich der Interkorres­ pondenz ihrer verschiedenen ästhetischen Ausdrucksformen erreichen lässt. Ideologische Einseitigkeiten oder immanente Werkinterpretationen helfen hier ebenso wenig weiter wie bloß an der Literatur, bloß an der Malerei oder bloß an der Musik ausgerichtete Sehweisen. Denn bei einer so rebellischen Bewegung wie dem Expressionismus liegt nun einmal der leitkulturelle Wert des Ganzen – wie schon im Sturm und Drang, bei den Jungdeutschen, im Vormärz oder im Naturalismus – weniger im ästhetisch Bleibenden als im Bereich des entwicklungsgeschichtlich Bedeutsamen. Betrachten wir daher den Expressionismus ruhig so, wie er sich selber verstand  : als Revolution, als Aufbruch, als Wandlung oder Erhebung – alles Worte, in denen der Wille zu einer grundsätzlichen Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck kommt. Denn was auch immer die einzelnen Expressionisten unterscheidet  : Der Hang zum Extremen, Aufrührerischen, Radikalen, ja Weltumstürzlerischen ist fast allen gemeinsam. An dieser These lässt sich schwerlich rütteln. Was man bezweifeln könnte, ist lediglich die politische Konkretheit der expressionistischen Revolution. 148

Expressionismus als Revolution

Wer allerdings solche Fragen stellt, kann sich nicht allein mit einer kul­ turwissenschaftlich objektivierenden Sehweise begnügen, sondern muss auch sich selbst in den dialektischen Prozess von Fortschritt und Reaktion einbeziehen, der nun einmal alles Geschichtliche durchzieht und daher auch sämtlichen historisch orientierten Wissenschaften ihre Zielrichtung vorschreibt. Betreiben wir deshalb die Expressionismus-Forschung, die es mit einem hochexplosiven Forschungsgegenstand zu tun hat, durchaus als eine »Veränderungs-Wissenschaft an der Front des Geschehens, in der Aktu­ alität der jeweiligen Entscheidung, in der Tendenz-Beherrschung auf die Zukunft hin«, wie Ernst Bloch in seinem noch immer stark vom Expressi­ onismus herkommenden Opus magnum Prinzip Hoffnung (1955) das Ziel einer jeden konkret betriebenen Wissenschaftlichkeit umschrieben hat.2 Nun, das sind nicht nur hohle Deklamationen. Dafür gibt es bereits einige vielversprechende Ansätze, die aufhorchen und hoffen lassen. So sind etwa in der germanistischen Expressionismus-Forschung der Acht­ undsechziger-Zeit auch die gesellschaftlichen und politischen Aspekte der expressionistischen Literatur häufig diskutiert worden.3 Ihre Vertreter fragten wieder nach einem gesellschaftspolitischen Erkenntnisziel, wenn auch meist in spezialistischer Verengung auf ihren »eigentlichen« For­ schungsgegenstand  : den literarischen Expressionismus. Auf dem Gebiet der Musik- und Kunstgeschichte sieht dagegen die Lage wesentlich trüber aus. Vor allem in der Musikwissenschaft hat man lange Zeit in diesem Zusammenhang alle Ausflüge ins Gesellschaftliche und Politische geflis­ sentlich vermieden und sich lediglich mit gewissen modernistischen Ten­ denzen des frühen Schönberg-Kreises beschäftigt, diese jedoch selten als spezifisch »expressionistisch« charakterisiert. Im Fach Kunstgeschichte, die sich wesentlich intensiver mit diesem Phänomen auseinandergesetzt hat, wird dagegen der Expressionismus meist in größere, gesamteuropä­ ische Zusammenhänge gerückt. Allerdings ist man dabei häufig bei der Aufdeckung rein formaler Ähnlichkeiten stehengeblieben, die zwar viel über die äußere Erscheinungsform, aber wenig über die innere Zielrich­ tung dieser Bewegung aussagen. 149

»Nichts bleibt so, wie es war!«

Demzufolge herrscht auf vielen Gebieten der Expressionismus-­Forschung weiterhin das alte Dilemma. Wofür man sich interessiert, ist eher das im formalen oder stilistischen Sinne Partikulare als der ideologische oder ge­ sellschaftspolitische Gesamtimpuls. Eine solche Beschränkung auf je eine Kunst – ob nun die Literatur, die Musik oder die Malerei – muss jedoch bei der Ungleichartigkeit der Qualität und der weltanschaulichen Zielsetzungen notwendig zu falschen Verklärungen oder ebenso falschen Verdammungen führen. So wäre es sinnlos, die expressionistische Malerei wegen der Leistun­ gen eines Franz Marc in den Himmel zu heben und die expressionistische Literatur wegen der Gedichte eines Franz Werfel als sentimentale Verzü­ ckung, metaphysischen Schmus oder kindisches Geschrei abzutun. Was an dieser Bewegung wirklich beunruhigend, aufrüttelnd oder gar richtungs­ weisend ist, wird sich rein ästhetisch ohnehin nicht erschließen ­lassen. Der Expressionismus war nun einmal – wie alle progressionsbetonten Strömun­ gen – nicht nur Kunst, sondern zugleich weltanschauliches Fanal. Und dieses Fanal wird nur dem aufleuchten, der sich mit der Gesamtheit aller expressi­ onistischen Tendenzen konfrontiert, anstatt sich von v­ ornherein auf einen speziellen und damit notwendig irrelevanten Einzelaspekt zu beschränken. Denn nur bei einer solchen Überschau treten jene entwicklungsgeschicht­ lichen Momente hervor, die der Betrachtung von Kunst überhaupt erst ein sinnvolles Telos geben. Was im Hinblick auf den Expressionismus, und zwar im Sinne einer tiefer gehenden Auseinandersetzung, für welche die Vergangenheit ein wahrhaft lebendiges »Erbe« ist und die mit diesem Erbgut kulturpolitisch operieren will, erforderlich ist, wäre demnach ein wesentlich aktiverer Vorstoß ins Ideologische, ja meinetwegen Parteiische, um ihn so vor der Gefahr einer musealen Einsar­gung zu retten und den Expressio­ nismus wieder zum Mittelpunkt einer echten Debatte zu machen, die um Themen wie Modernismus, Avantgarde, Utopismus, Umsturz und damit Weltveränderung kreist. Nur so würde man seinem zutiefst »revolutionären« Charakter wirklich gerecht. Alles andere sind letztlich rein akademische Fra­ gestellungen, die wir den Status quo-Verehrern überlassen sollten. Und zwar müsste man bei einer solchen Diskussion, aus der sich im Idealfall eine neue 150

Expressionismus als Revolution

»Expressionismus-Debatte« entwickeln könnte, vor allem jene Gesichts­ punkte im Auge behalten, die von der revolutionären Grund­substanz dieser Bewegung ausgehen, über die man sich immer noch nicht im Klaren ist und die solange unklar bleiben wird, bis sich die Expressionismus-Forschung entschließen würde, eine im Sinne Ernst Blochs am Leitbild einer besseren Zukunft orientierte Veränderungswissenschaft zu werden.

II Beginnen wir – scheinbar ganz harmlos – mit einigen formalästhetischen Fragestellungen. Was war in dieser Bewegung eigentlich stilbildend  : die Literatur, die Musik oder die bildende Kunst  ? Wer hat das revolutionäre Formenarsenal bereitgestellt, das sich in ästhetisch-ideologischen Erschei­ nungsformen wie Travestie, Wendung zur Öffentlichkeit, aggressiver Defor­ mierung, utopischer Vision und Ähnlichem äußert  ? Lässt sich bereits an solchen Formkriterien eine politische Stoßrichtung ablesen, ohne die jede »Revolution«, um dieses inhaltsträchtige Wort noch einmal zu strapazieren, von vornherein sinnlos wäre  ? Ich glaube schon. Eine der instruktivsten Einführungen in diese Fragestellung liefert die sogenannte Brecht-LukácsDebatte,4 die sich weitgehend um das expressionistische »Erbe« drehte. Lukács – von der Leitkultur der Weimarer Klassik herkommend – bezog dabei folgende Position  : Was sich im Expressionismus als Formauflösung, Fragmentierung, Travestie oder ideologische Überspanntheit äußert, war für ihn von vornherein ein Symptom spätbürgerlicher Dekadenz, forma­ listischer Entleerung, ja Zerstörung humanistischer Substanz – wenn nicht Schlimmeres. Er ging dabei vorwiegend von den literarischen Wortorgien dieser Stilrichtung aus und selbst die untersuchte er vornehmlich im Hin­ blick auf ihre weltanschauliche Depravierung, ohne sich für die funktio­ nale Bedeutung dieser Gestaltungsweisen zu interessieren. Während seine Sicht die ins Ideologiekritische tendierende Betrachtungsweise eines litera­ turinteressierten Philosophen und Parteiideologen verrät, ging Brecht als Künstler und Theoretiker gesamtästhetischer Tendenzen, den gerade das Fragmentierte, Typisierende, Apparathafte, Konstruktivistische an dieser 151

»Nichts bleibt so, wie es war!«

Bewegung faszinierte, eher auf das expressionistische Formenarsenal ein. Er sah selbst im sogenannten »Schlechten-Neuen« der expressionistischen Stil­ gebung Manifestationen progressionsbetonter Verfahrensweisen, die man nicht von vornherein disqualifizieren solle. Gerade sein künstlerisches Ver­ hältnis zum Expressionismus ermöglichte ihm daher, das im formalen Sinne »Fortschrittliche« am Expressionismus aufzuspüren  : nämlich das Nichtein­ fühlsame und damit im weitesten Sinne »Verfremdende«, worin sich eine spezifisch unbürgerliche, unpsychologische und damit kritisch-funktionelle Ästhetik anzubahnen beginne. Während Lukács lediglich ideologiekritisch verdammte, da er sich in erster Linie mit dem politischen und ästhetischen »Linksradikalismus« der Novembristen und USPD-Anhänger auseinander­ setzte, wollte Brecht eher verarbeiten, aufheben oder umfunktionieren. Er hatte daher ein wesentlich produktiveres Verhältnis zu diesem »Erbe«, das für ihn – selbst in den dreißiger Jahren – noch lange nicht zu Ende schien. All das bleibt weiterhin zu bedenken  ! Wer sich dagegen Lukács anschließt, kann im Hinblick auf den Expressionismus lediglich »lernen«, dass es bes­ ser wäre, diese merkwürdig verkrampfte Bewegung weitgehend rechts lie­ gen zu lassen. All das leitet bereits zur Frage nach der gesellschaftspolitischen Relevanz dieses leitkulturellen »Erbes« über, die sich nicht nur mit formalästhetischen Kriterien beantworten lässt. Dafür müssen auch die inhaltlichen Gesichts­ punkte des Expressionismus herangezogen werden, bei deren Beurteilun­ gen die verschiedenen Standpunkte noch weiter voneinander abweichen als auf dem Sektor der formbetonten oder strukturalistischen Analysen dieser Bewegung und des von ihr entwickelten künstlerischen Stils. Beginnen wir hierbei abermals mit einer scheinbar schlichten und doch hochgegriffenen Frage  : Was waren eigentlich die ideologischen Zielsetzungen der expressio­ nistischen »Revolution«, die bereits 1910 als Revolte gegen das wilhelmini­ sche Establishment und die von ihm favorisierte nationalistische Leitkultur begann, dann im Ersten Weltkrieg weitgehend unterdrückt wurde und ihren eigentlichen Höhepunkt erst im Gefolge der Novemberrevolution von 1918 erlebte.5 Ich glaube, auch diese Frage lässt sich besser vor dem Hintergrund 152

Expressionismus als Revolution

Abb. 19 Ernst Ludwig Kirchner  : Triumph der Liebe (1909)

eines interdisziplinären Interesses am Expressionismus beantworten als mit Hilfe rein partikularer Sehweisen. Denn es ist sehr die Frage, auf welchem Sektor der Expressionismus seine radikalsten Tendenzen entwickelte  : in der Literatur, der Malerei, der Musik, der Architektur, dem Theater, dem Film oder wo auch immer  ? In welcher dieser verschiedenen »Künste« war der Expressionismus letztendlich am progressivsten  ? Diese Frage ist in letzter Zeit selten gestellt worden, da es kaum noch jemandem um eine wirkliche Aktivierung und damit Verwertung dieses Erbes geht. Die meisten sind in der bloßen Verwissenschaftlichung dieses Phänomens steckengeblieben und haben damit dem Expressionismus und uns einen Bärendienst erwiesen. Doch werden wir endlich konkreter. Wenn nicht alles täuscht, lassen sich innerhalb der revolutionären Zielsetzungen des Expressionismus zwei Haupttendenzen unterscheiden  : die subjektiven Intentionen, die oft reich­ lich sentimental sind und sich vornehmlich in emotionalen Zielsetzungen wie »Natur, Erotik und leuchtendes Ich« manifestieren, und die objektiven Gestaltungsformen, die oft wesentlich rationaler sind und eher in Richtung »Wesen, Sache und Konstruktion« tendieren, denen ein Ethos der Pro­ duktivität zugrunde liegt, das bereits auf eine im ästhetischen Vorschein 153

»Nichts bleibt so, wie es war!«

antizipierte und dem Wohle der Gesamtgesellschaft dienliche Leistungs­ kultur vorausweist.6 Doch diese beiden Haupttendenzen lassen sich, wie gesagt, nur dann erkennen und begrifflich herauspräparieren, wenn man alle Erscheinungsformen des Expressionismus ins Auge fasst und sich nicht von der einen oder der anderen ästhetischen Ausdrucksform dieser Bewe­ gung im Hinblick auf die Erkenntnis größerer Zusammenhänge blenden lässt. Die subjektive Intention, wie sie vor allem in den Themen der expres­ sionistischen Literatur und Malerei vorherrscht, ist die konventionellere, die weitgehend auf ältere bürgerlich-liberalistische Ideologien und Kultur­ konzepte zurückgeht. Sie läuft meist auf eine steigende Intensivierung des allgemeinen »Lebensgefühls« und damit eine merkliche Aufwertung des Naturhaften, Ungebrochenen und Unmittelbaren hinaus. Wie in den Tagen Jean-Jacques Rousseaus, der Romantik und der Lebensreform um 1900 wollten viele Vertreter dieser Richtung wieder in »organischer« Ursprüng­ lichkeit leben, um sich auf diese Weise jenen neuzeitlichen Gesellschafts­ konventionen zu entziehen, in denen der Mensch – nach Meinung dieser Kreise – zu einer mechanisch operierenden »Ich-Leiche« abgerichtet werde. Die romantisch-utopistischen Antikapitalisten unter den Expressionisten verklärten dementsprechend mit geradezu atemberaubender Verve alle soge­ nannten »Ur-Situationen«, die noch nicht vom Makel der »Entfremdung« gezeichnet seien. Natur war deshalb für sie in erster Linie das freie Land, der grüne Siedelboden, die Wildnis, die Südsee, das heißt das im weitesten Sinne Antizivilisatorische. Erotik war für sie das Animalische, das Bordell­ hafte, das Inzestuöse, die wildeste Trieberfüllung, die sich in leidenschafts­ triefenden Blutnächten auszuleben versucht. Und das leuchtende Ich war für sie der Bohemien, das Genie, der Übermensch, der Weltboxer, der im Simultanrausch seiner Gefühle das entbebteste Besterntsein und zugleich einen nicht enden wollenden Orgasmus erfährt. Trotz der darin zum Ausdruck kommenden rebellischen Emphase waren alle diese Phänomene letztlich nur Steigerungsformen jenes subjektbezoge­ nen Liberalismus, der aufs Engste mit der Entstehung der »bürgerlichen« 154

Expressionismus als Revolution

Ideologie zusammenhängt. All das ist, wie gesagt, Rousseauismus, Sturm und Drang, Romantik – aber keine antibürgerliche Revolution. Ideolo­ giekritisch gesehen, steckt hinter der angeblich innigen Naturverbunden­ heit, erotischen Raserei und gesteigerten Selbstrealisierung dieser Art von Expressionismus, die manchen selbst heute noch als »revolutionär« erscheint, lediglich eine konsequente Weiterentwicklung jener bürgerlich-marktwirt­ schaftlichen Ideologie, deren soziale Grundlage nun einmal der Kampf aller gegen alle und damit das Sich-durchsetzen des Stärksten ist. Hierin zeigt sich lediglich das wahre Gesicht des Kapitalismus. Denn die zentrale Triebkraft dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsform, nachdem sie sich ihrer feuda­ listischen bzw. frühbürgerlichen Masken entledigt hatte, war und ist nun einmal die Gier nach Macht, Genuss und Ich-Entfesselung. Überall dort, wo also der Expressionismus die Form eines radikalen Ich-Kults annimmt, reiht er sich lediglich in die verschiedenen Spielarten einer endlich zu sich selbst gekommenen bürgerlichen Leitkultur ein, die sich nicht mehr hinter einer religiösen, nationalistischen oder auch »demokratischen« Fassade zu verstecken sucht, das heißt ihren Willen nach ungehemmtem Sich-ausleben weder ästhetisch noch moralisch übertüncht, sondern in aller Nacktheit prä­ sentiert. »Noch immer hatten mit aller Welt sie gleiche Begriffe, die sie nur mit vollen Backen bis zum Platzen aufgeblasen hatten«, schrieb daher Carl Sternheim einmal zutiefst erbittert über viele Werke dieser Richtung,7 deren Protagonisten sich, wie der »Sohn« von Walter Hasenclever, der »Kassierer« von Georg Kaiser, der »Timur« von Kasimir Edschmid oder der »Einsame« von Hanns Johst, vor allem »ausrasen« wollen. So gesehen, entpuppt sich die »neue Menschlichkeit«, die diese Rich­ tung des Expressionismus verkündet, in vielen Fällen lediglich als eine gesteigerte Form der alten Menschlichkeit. Romantik, Südsee, das Glück des Naturmenschen, ungezügelter Sex, leuchtendes Ich  : All das sind keine besonders originellen Konzepte. Aber steckt nicht hinter dieser radikalen Expressivität dennoch ein tieferer Sinn, in dem sich das spezifisch »Neu­ artige« verbirgt  ? Was wird denn in den Werken dieser Bewegung wirk­ lich ­dargestellt, wenn man die vordergründige Frontstellung gegen einige 155

»Nichts bleibt so, wie es war!«

Abb. 20 Rudolf Belling  : Kopf (1923)

Formen der bisherigen »Bürgerlichkeit« einmal unberücksichtigt lässt  ? Ist dieses neue Ich-Gefühl wirklich so »natürlich«, das heißt so subjektiv, so persönlich, so einmalig, wie es sich aufspielt  ? Oder wird nicht dieses Ich durch die vielen Steigerungen, Travestierungen, Typisierungen und Defor­ mierungen im Sinne Gottfried Benns weitgehend »zersprengt«,8 entper­ sönlicht, denaturiert, ja geradezu entmenscht  ? Wie steht es denn mit den 156

Expressionismus als Revolution

objektiv erzielten Darstellungsformen des Expressionismus, wenn man seine subjektiven Intentionen einmal unberücksichtigt lässt  ? Ergibt sich nicht dann ein ganz anderes Bild  ? Bei genauerem Zusehen ist nämlich das Leitbild dieser Revolution in den meisten ihrer künstlerischen Ausprägungen gar nicht das unverwechselbare Individuum des bürgerlichen Liberalismus mit seiner »höchstpersönlichen Note«, sondern eher ein ins Urmenschliche stilisiertes Wesen, das zum Teil so stark ins Kollektive, Essentielle oder Unbewusste reduziert wird, dass von ihm nur eine Idee, ein Typ, ein Begriff übrigbleiben. Neben der Sehn­ sucht nach Natur, Erotik und leuchtendem Ich finden sich daher in der Kunst dieser Bewegung ebenso starke Gegenkräfte, die mehr in Richtung Begrifflichkeit und Konstruktivismus tendieren  : nämlich Entselbstung, Ent­ äußerung, Entpersonalisierung ins Phänomenologische, Wesenhafte, Numi­ nose, Typologische, Denaturierte, Abstrakte, Unorganische, Widernatür­ liche, Unpsychologische, Eigenlogische, Maskenhafte, Konstruktivistische, Atonale, Durchmathematisierte, Sinnbildliche, Objektivierte, Produkthafte. Dadurch verwandeln sich die in vielen Werken des Expressionismus eksta­ tisch beschworenen menschlichen Personifikationen häufig in wandelnde Begriffe, rollenhafte Denkspieler, erdachte Menschheitsvertretungen oder Begriffsverkörperungen – und zwar ganz gleich ob nun in den sprachlichen, darstellenden, musikalischen oder bildlichen Ausdrucksformen der expres­ sionistischen Kunst. Das zwar weitgehend unbegriffene, aber letztlich entscheidende Telos der expressionistischen Kunstrevolution war daher nicht das Bemühen, der ver­ sachlichten Welt der modernen Industrie eine Welt der »natürlichen« Frei­ heit entgegenzusetzen, wie das von Seiten der germanistischen, aber auch kulturwissenschaftlichen Expressionismus-Forschung oft behauptet wurde. Man könnte eher umgekehrt sagen, dass die eigentliche, allerdings meist ver­ deckte Zielvorstellung dieser Bewegung darin bestand, allem Organischen eine Sphäre des produzierenden Geistes entgegenzustellen, die sich eindeu­ tig auf eine unbürgerliche Sachkultur hinbewegt. Obwohl seine Vertreter zumeist vordergründig für die Natur eintraten, wurde gerade die in vielen 157

»Nichts bleibt so, wie es war!«

expressionistischen Manifesten so leidenschaftlich beschworene Natur in der tatsächlichen Schilderung und Gestaltung oft so weit denaturiert, dass sie kaum wiederzuerkennen ist. An diesem Phänomen ändern auch die zahlreichen »Oh Mensch«-Bekenntnisse zum Unmittelbaren, Organischen, Seelischen, Mystischen, Religiösen oder mitleidsvoll Humanitären nichts, mit denen sich gewisse Radikal-Expressionisten in diesen Jahren Gehör zu verschaffen suchten. Das sind Begleiterscheinungen fast aller Revolutionen, die in ihrer Sehnsucht nach Freiheit zur Metapher der »Entfesselung des Natürlichen« aus den frustrierenden Umklammerungen der als bedrückend empfundenen Leitkultur der herrschenden Meinungsträgerschichten grei­ fen. Mögen daher manche Literaten und Maler dieser Bewegung in ihren Werken noch so ursprungsnah, noch so weltallergeben, noch so religiös-in­ brünstig daherkommen und von neuen rousseauistisch-erträumten Paradie­ sen schwärmen – in Wirklichkeit war gerade der Expressionismus eines der folgerichtigsten Glieder innerhalb all jener Kunst-Ismen dieser Ära, die aus dem Bereich des Organischen immer stärker zu einer Versachlichung frühe­ rer Formen des Natürlichen drängten. Trotz ihrer lautstarken oder farben­ prächtigen Berufungen auf das Archaische, das Glück der Naturvölker oder den »gotischen Menschen« tendierte diese Bewegung letztlich nicht zum Neo-Primitiven, sondern eher zum Produkthaften und Konstruktivistischen. Bisher hat man meist das Gegenteil behauptet, indem die Germanisten und Kunsthistoriker die konstruktivistisch-versachlichenden Tendenzen innerhalb der Kunst dieses Zeitraums fast ausschließlich der im Zeit­alter der Weimarer Republik propagierten Neuen Sachlichkeit zugeordnet haben. Als das spezifisch Expressionistische galt dagegen lange Zeit allein das Wilde, Ungezügelte, Irrationale, Naturverbundene, Seelische. Doch hat eine so klare Trennung überhaupt einen Sinn  ? Warum sollten manche Werke der Kunst der mittleren Weimarer Republik, vor allem im Bereich des Bauhauses, des Werkbunds, des Piscator-Theaters, der Kölner Progressiven oder auch der sogenannten »Neuen Musik« so viel anders sein als jene aktivistisch gesinnten Werke, die ihnen unmittelbar vorausgegangen waren  ? Musste nicht der Expressionismus auch in diesen Jahren noch immer eine nicht zu 158

Expressionismus als Revolution

übersehende Aktivkraft sein – vor allem in jenen Künsten, die während der Weltkriegsära und der Zeit der Hyperinflationen vor 1923 weitgehend am Boden lagen, nämlich im Film, der Architektur, dem Theater, ja selbst in manchen sprachlichen, bildkünstlerischen und musikalischen Ausdrucks­ formen  ? Ich fürchte, man hat sich in diesem Punkt viel zu stark an die hämischen Programme jener Literaten gehalten, die den Expressionismus – im Sinne eines modischen Tapetenwechsels – schon im Jahr 1923 für »tot« erklärten. Doch was haben wir mit einem Literatentum zu schaffen, das sich jeweils am letzten Schrei orientiert  ? Darin kommt meist nur die Gesinnung von Leuten zum Ausdruck, die schon vorher nur halbherzig bei der Sache waren. Halten wir uns deshalb nicht bei Journalisten oder wankelmütigen Mitläufern auf, die sich anschließend für die Leitkultur der Neuen Sach­ lichkeit stark zu machen versuchten. Für die Filmemacher, die Architekten, die Regisseure, die linken Verleger hörte der Expressionismus keineswegs mit dem inzwischen legendär gewordenen Jahr 1923 auf. Erst danach – als sich die finanzielle Lage wieder zu verbessern begann – konnten viele von ihnen das, wovon sie bisher nur geträumt hatten, endlich in Werke umsetzen. Gerade in diesem Punkt könnte demzufolge eine interdisziplinäre Sehweise manche der bisherigen Fehleinschätzungen der expressionistischen Bewe­ gung sinnvoll korrigieren. Und zwar braucht man hierbei gar nicht auf die konstruktivistisch-ver­ sachlichten Tendenzen der mittzwanziger Jahre vorwegzugreifen. Diesen »anderen« Expressionismus gibt es bei den Verantwortungsbewussteren innerhalb dieser Bewegung, ja selbst bei manchen vordergründig ins Wilde ausschweifenden Radikalexpressionisten von Anfang an, wenn auch mehr in den architekturbezogenen und bildenden Künsten als in der Literatur und Musik dieser Ära. So hört man schon kurz nach 1910 Stimmen, die den Vorgang der Entpsychologisierung des bürgerlichen Ich durchaus positiv beurteilten und in der Bewertung des Schöpferisch-Produktiven und Sach­ hingegebenen eher die Aufhebung älterer Gemüts- und Rangvorstellungen als einen negativ enthumanisierenden Zug hervorhoben. Denn nur durch einen Verzicht auf sentimentale Reproduktionen oder Widerspiegelungen 159

»Nichts bleibt so, wie es war!«

natürlicher Gegebenheiten, behaupteten diese Kreise, in denen neben Wal­ ter Gropius und Bruno Taut auch Richard Hamann, Adolf Loos, Wassili Luckhardt, Erich Mendelssohn, Walter Rathenau, Fritz Schumacher und Heinrich Tessenow tonangebend waren, glaubte diese Gruppe eine Tatge­ sinnung zu befördern, in der nicht das, was man ist, sondern das, was man schafft, von der Gesellschaft als alleingültiger Maßstab für eine Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände angesehen wird. Und derartige Theorien wirken wesentlich überzeugender als irgendwelche »leidenschaftlichst« vor­ getragenen Südsee- oder Ich-Kult-Ideale. In einer Gesellschaftsordnung, wie man sie in diesem Umkreis anvisierte, sollten Begriffe wie Leben und Produzieren keine Antinomie, sondern eine untrennbare Synthese bilden und damit der Leistungsbeitrag des Einzelnen zu einer kommunitaristischen Sachkultur das entscheidende Regulativ des gesellschaftlichen Zusammen­ lebens werden. Ihre Schlagworte waren daher hauptsächlich Begriffe wie »Ethos der Produktivität« oder »Arbeit als Dienst am Ganzen«, die zwar immer noch reichlich abstrakt klangen, aber doch der von den »guten Bür­ gern« allgemein verachteten »Arbeit« wieder einen geistigen Selbstwert zu geben versuchten. In Kreisen dieser Art sprach man demnach nicht von einem hemmungslo­ sen Auslebeverlangen, sondern vornehmlich von Werkbund-Idealen, Bau­ haus-Konzepten, ja selbst einer freien Assoziation der freien Produzen­ ten – und leistete damit auf seine Weise einen Vorgriff auf das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft. Doch völlig abwesend waren solche Haltungen auch bei anderen Expressionisten keineswegs. Man hat sie bisher – auf­ grund partikularistischer Sehweisen – nur noch nicht genügend heraus­ gestellt. Auch die schönbergsche Musik, auch die Werke von Autoren wie Carl Sternheim, Ernst Toller, ja selbst Gottfried Benn enthalten konstruk­ tivistisch-futuristische Elemente. Sogar manche Dichter und Komponisten schwärmten nicht nur von der Südsee, sondern auch vom »Satzbau« oder einer »Zwölftontechnik« – und legten damit mehr oder minder unbewusste Bekenntnisse zum Produktionsbetonten ab. Allerdings wäre es ebenso ein­ seitig, neben dem bisher vorwiegend herausgestellten Expressionismus des 160

Expressionismus als Revolution

Abb. 21 Lyonel Feininger  : Die Kathedrale des ­Sozialismus (1919)

Gefühls und der Leidenschaft nun plötzlich allein den »anderen« Expressio­ nismus, den Expressionismus des Konstruktiven, herauszustreichen. Die Kunst dieser Richtung war nun einmal weitgehend eine Simultankunst, bei der die subjektiven Intentionen und die objektiven Errungenschaften oft nur schwer auseinanderzuhalten sind. Schließlich redeten sogar manche Bau­ häusler nicht nur von technischen Produktionsstätten, sondern auch von 161

»Nichts bleibt so, wie es war!«

der »Kathedrale des Sozialismus«, was an die mittelalterlichen Bauhütten erinnern sollte. Sogar ihnen war manchmal gar nicht bewusst, worin denn das wahre Ziel ihrer revolutionären Absichten eigentlich bestand. Nicht die einzelne künstlerische Leistung ist daher bei dieser Bewegung entscheidend, sondern die ideologische Zielrichtung des Ganzen, die zum Teil weit über das bloß Ästhetische hinauszielte. Eine wirklich relevante Erbe-Diskussion dürfte daher im Hinblick auf die leitkulturellen Vorstel­ lungen des Expressionismus nicht allein von formalen, tagespolitischen oder motivorientierten Gesichtspunkten ausgehen, sondern müsste – um wieder auf den Anfang unserer Ausführungen zurückzukehren – stets den uni­ versalgeschichtlichen Fanalcharakter dieser Bewegung in den Mittelpunkt stellen. Und der äußerte sich vor allem in jener Gesinnung, die in ihren progressivsten Manifestierungen durchaus in Richtung Leistung, Produk­ tivität, Schöpferkraft und Klassenlosigkeit tendierte. Ihr zum Teil verdeck­ ter Hauptimpuls war eine positive Versachlichung, die alle feudalistischen oder bürgerlichen Rangvorstellungen über den Haufen zu werfen trachtete. Die ästhetische und gesellschaftliche Bedeutung der expressionistischen Kunstbemühungen liegt also vor allem darin, dass sie den Kampf gegen die rein liberalistische Auffassung von »Natur« und »Menschlichkeit« um ein beachtliches Stück weiter zu bringen versuchten und damit ideologisch an die Grenze dessen stießen, was sich am ehesten mit dem Begriff »positive Leistungsgesellschaft« umschreiben lässt.

III So gesehen, ist der Expressionismus alles andere als »tot«. Im Gegenteil, seine weltanschauliche Erfüllung steht in vielen Punkten noch aus. Denn ein solches Ziel war im Rahmen der Weimarer Republik, die trotz verän­ derter ökonomischer und sozialer Grundvoraussetzungen unverdrossen an den Konzepten des bürgerlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts festzu­ halten versuchte, nicht zu erreichen. Hier war für eine Vergeistigung des Technischen und damit eine ästhetisch befriedigende Durchgestaltung der sogenannten Sachwerte, wie sie den Theoretikern des Werkbundes 162

Expressionismus als Revolution

und des Bauhauses vorschwebte, einfach kein Raum. Für den Aufbau neuer Lebensformen, die auf dem Ethos der schöpferischen Produktivität beruhen sollten und jeden Schaffenden mit dem Gefühl einer sinnvollen Mitgestaltung seiner näheren und weiteren Umgebung beglücken wür­ den, fanden sich in diesem Staate weder die politischen Voraussetzungen noch die ökonomischen Mittel. Hier wurde einfach kapitalistisch weiter­ gewurstelt und damit die Chance einer wahrhaft progressiven Leitkultur wieder einmal versäumt. In diesem Sinne war der Expressionismus um 1930 dann doch wirk­ lich »tot«. Und er war es auch nach 1945, obwohl man ihm – vor allem in Westdeutschland – wieder auf die Beine zu helfen suchte. Doch die Leute, die das taten, waren leider vorwiegend ideologisch unengagierte Akademi­ ker. Und revolutionäre Bewegungen lassen sich nun einmal nicht durch randständige Wissenschaftler neu beleben. Hierzu bedarf es ganz anderer gesellschaftlicher Kräfte oder zumindest einer sinnvollen Kulturpolitik, der ein verantwortungsbewusstes Verhältnis zu den fortschrittlichen Strömun­ gen der Vergangenheit zugrunde liegt. Doch von solchen Tendenzen war in diesen Jahren nicht viel zu spüren. Was in ihnen dominierte, war wiede­ rum der persönliche Durchsetzungsdrang. Und damit wurde die Beschäfti­ gung mit ins Kommunitaristische zielenden Bewegungen der Vergangenheit in der ehemaligen BRD weitgehend ins Subjektivistische oder Formalis­ tische umgebogen und damit verflacht. Lassen wir uns als Germanisten oder Kunsthistoriker von solchen Tendenzen nicht einfach überrumpeln, selbst nicht im Hinblick auf die Beschäftigung mit dem Expressionismus. Denn was wäre eine Kulturwissenschaft ohne ein geschichtliches Bewusstsein, eine interdisziplinäre Betrachtung ohne eine materialistische Zielsetzung, eine Methode ohne ein Telos  ? Schließlich sollte das Ziel unserer Bemühungen weiterhin eine leistungsbetonte Sozialkultur sein, in der nicht die rück­ sichtslose Selbstrealisierung, sondern die menschliche Erfüllung in einem sinnvollen und zugleich qualitätsbetonten Beitrag zur Gesamtgesellschaft als im besten Sinne progressionsbetont angesehen würde.9

163

Neue Sachlichkeit. Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

I Künstlerische Leitvorstellungen, die in Deutschland sowohl im Bereich der älteren stilanalytischen Untersuchungen als auch in der Geistesgeschichte einmal im Zentrum der kulturhistorischen Forschung standen, sind in den letzten Jahrzehnten weitgehend ins Triviale unverbindlicher Etikettierungen herabgesunken. Vor allem die älteren, höchst spezifischen und kleinteiligen Stilformationen und Kunst-Ismen der letzten 150 Jahre, also Naturalismus, Impressionismus, Symbolismus, Jugendstil, Expressionismus, Dadaismus, Neue Sachlichkeit, Proletkult, Tachismus, Pop Art und Minimalismus, die oft nicht mehr als fünf oder zehn Jahre umspannten, werden heutzutage meist durch recht weiträumige Begriffe wie Vormoderne, Moderne oder Nachmoderne ersetzt, mit denen viele Gesellschaftswissenschaftler sowie vom Poststrukturalismus beeinflusste Forscher wesentlich komplexere, aber auch unklarere »Felder« abzustecken versuchen und neben formalästheti­ schen und inhaltsbezogenen auch philosophische, soziale, kommunikations­ theoretische, semiotische, geschlechtsspezifische sowie institutions-, men­ talitäts- und alltagsgeschichtliche Gesichtspunkte ins Spiel bringen. Ein solches Bemühen wurde zwar bereits um 1900 von Karl Lamprecht prak­ tiziert,1 ist aber, nachdem es lange Zeit eine relativ unbeachtete Richtung innerhalb der kulturgeschichtlichen Forschung blieb, erst seit den späten siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts zu einer dominanten Strömung angeschwollen. Wer daher heute – im Rahmen kulturgeschichtlicher oder kulturanthropologischer Untersuchungen – vom »Stil« einer bestimmten Periode spricht, meint damit selten allein jenen Stil, der von den damaligen Kritikern als der für ihre Zeit repräsentative ästhetische Ausdruck in den klassischen Hochkulturformen, das heißt der sogenannten seriösen Litera­ tur, Malerei und Musik oder auch angewandten Künsten wie Architektur, 165

Neue Sachlichkeit

Kunstgewerbe und Design empfunden wurde, sondern auch jenen Aus­ druck, den dieser Stil in der Politik, dem Wirtschaftsleben, der Ideologie, den neuen Medien, ja im allgemeinen Lebensgefühl der betreffenden Epo­ che angenommen hat. Doch um endlich in medias res zu gehen  : Wie lässt sich ein Stil wie die »Neue Sachlichkeit« in derartige Entwicklungsprozesse und die durch sie ausgelösten kulturwissenschaftlichen Spekulationen einbeziehen  ? Was haben eigentlich die Zeitgenossen sowie die späteren Kunsthistoriker, Lite­ raturwissenschaftler und Kulturgeschichtler unter dieser Bezeichnung ver­ standen, die wesentlich unspezifischer ist als die meisten der ihr voraufgegan­ genen Kunst-Ismen  ? Zu Anfang verwandte man in der Weimarer Republik Bezeichnungen wie »neusachlich« oder »sachlich« neben Adjektiven wie »pragmatisch«, »realistisch« oder »nüchtern« fast ausschließlich im Bereich der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ideologiebildungen, in denen nach 1923 im Rahmen des bürgerlichen Liberalismus gern von der Absicht die Rede war, nach den utopisch-messianischen Übersteigerungen der durch den Schock des Ersten Weltkriegs ausgelösten Hoffnungen auf eine radikale Umgestaltung der bestehenden Gesellschaft endlich wieder »sachlich« zu werden und sich auf den »Boden der Tatsachen« zu stellen.2 Danach griff die Vokabel »sachlich« auch auf den Bereich des a­ llgemeinen Lebensgefühls über, wo sie ebenfalls eine Ernüchterung, aber zugleich eine positive Abwendung von den neuromantischen und spätwilhelminischen Gefühlsüberspannthei­ ten der Vorkriegsära ausdrücken sollte. Und schließlich gebrauchten auch einige Kunsthistoriker diesen Begriff, um damit die nachexpressionisti­ sche Tendenz ins Abbildrealistische, Veristische oder Dingfetischistische der zeitgenössischen Malerei zu umschreiben. Ja, in den mittzwanziger Jahren reihte man sogar im Bereich der Literatur jene Werke, die zum Abbildrea­ listischen, Dokumentarischen oder Faktographischen neigten, in die »Neue Sachlichkeit« ein. Weniger Anklang fand dagegen dieser Begriff auf dem Gebiet der Architektur, des Designs und der Musik, wo in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre eher unspezifische Stilbezeichnungen wie »neu« oder »modern« vorherrschten. 166

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

Das wirkt auf Anhieb nicht besonders konkret, weder in materieller noch in theoretischer Hinsicht. Und doch, so unbestimmt die Bezeichnung »Neue Sachlichkeit« auch ist, was sie mit vielen Schlagwörtern teilt, die mit der Vorsilbe »neu«, »spät« oder »nach« beginnen, so hat sie als i­ deologiegefärbter Terminus dennoch ihren Sinn. Sie ist offen genug, um auf allen Ebenen des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens gebraucht zu werden, und enthält zugleich mit dem Begriff »Sachlichkeit« ein für diese Zeit zentrales Stichwort, das sich inzwischen weitgehend eingebürgert hat und daher nicht leicht durch ein anderes zu ersetzen wäre. Andere Begriffe, wie Verismus oder Magischer Realismus,3 die im Hinblick auf die Malerei dieser Jahre einige Zeit mit ihm konkurrierten, sind viel zu kunstspezifisch, um das umschreiben zu können, worauf sich der Begriff »Neue Sachlich­ keit« bezieht. Halten wir daher erst einmal als heuristischem Prinzip an ihm fest und beginnen wir mit der Frage, was man damals unter Begriffen wie »neu« und »sachlich« tatsächlich verstanden hat, die ja auf den ersten Blick einen leisen Widerspruch zu enthalten scheinen, nämlich die Diskrepanz zwischen dem optimistischen Charakter des Wortes »neu« und dem eher gedämpften, ernüchternden Charakter des Wortes »sachlich«. Doch in die­ ser Widersprüchlichkeit liegt – meiner Meinung nach – gerade das Spezifi­ sche dieses Phänomens, das sich als eine nachrevolutionäre, aber dennoch in die Zukunft weisende Haltung verstand, die sich in ihrer Zuversicht auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse vornehmlich auf einen antiutopischen Pragmatismus zu stützen suchte. So gesehen, ist die »Neue Sachlichkeit« erst einmal eine ideologische Hal­ tung, die allem Idealistischen, Hohen, Überspannten und damit auch den bürgerlichen Kunst-Ismen eine Absage zu erteilen scheint und sich in erster Linie als eine neue Weltanschauung versteht, welche sich auf die politische, gesellschaftliche und ökonomische Realität der neugeschaffenen Weimarer Republik bezieht. Fast alle ihrer Exponenten befürworteten demnach eine Gesinnung, die den Wert eines Staates nicht mehr allein in seinen höchsten geistigen und kulturellen Leistungen sah, sondern eine Gesellschaftsordnung ins Auge fasste, in der vornehmlich das Nützliche und Brauchbare in einem 167

Neue Sachlichkeit

demokratisch-pragmatischen Sinn im Vordergrund stehen sollte. Statt wei­ terhin mit hohen idealistischen Erwartungen an das Leben heranzugehen und dann, wegen der Unerfüllbarkeit dieser Erwartungen, das Gefühl des Nichtgelebten oder des im gesellschaftlichen Abseits verbrachten Lebens mit wissenschaftlichen oder künstlerischen Leistungen zu kompensieren, wie es in weiten Bereichen der bürgerlichen Intelligenz des wilhelminischen Kaiserreichs üblich gewesen war, traten sie für ein Leben mit geringeren Erwartungen, ein lässliches, mittleres Leben ein, das sich mit der Unerfüll­ barkeit allzu hochgespannter Erwartungen sowie den durch den Abbau der älteren nationalen, religiösen und kulturellen Werte eingetretenen Verhält­ nissen so gut wie möglich abzufinden versuchte. Dieser Punkt wurde, wie gesagt, im Verlauf der Weimarer Republik etwa im Jahr 1923, also mit dem Abflauen der rechten und linken Putschversuche, den großzügigen US-Krediten im Rahmen des Dawes-Plans und der soge­ nannten relativen Stabilisierung der Wirtschaft durch eine einschneidende Währungsreform erreicht.4 Was in der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit nach diesem Zeitpunkt im Vordergrund stand, war ein allgemeiner Prag­ matismus, der alle politischen Neuordnungskonzepte als unerfüllbar hin­ stellte und darauf vertraute, dass sich eine Wende zum Besseren nach der Kriegs- und Nachkriegsmisere nur durch eine möglichst rasche Ankurbelung der Export- und Gebrauchsgüterindustrie, das heißt durch die Einführung des Taylorismus und anderer Rationalisierungsmaßnahmen durchführen lasse. Und das trat auch ein, so dass Deutschland im Jahr 1929 – nach den USA – wieder den zweiten Platz in der Weitrangliste der führenden Industrienationen einnehmen konnte, den es im Jahr 1913 schon einmal innegehabt hatte. Allerdings führte dies zugleich dazu, dass die Weimarer Republik ein Staatsgebilde wurde, dessen Regierungen zwischen 1923 und 1929 ihre demokratischen Hoffnungen allein auf die Akzelerierung der wirtschaftlichen Expansionsrate setzten. Was den Vertretern der Neuen Sachlichkeit auf dieser Ebene v­ orschwebte, war also ein bewusst profit- und konsumorientiertes Gegenkon­zept zu den utopischen Hoffnungen vieler Expressionisten und zugleich den 168

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

revo­lutionären Forderungen der auf eine Umwandlung Deutschlands in eine sozialistische Räterepublik drängenden Kommunisten. Und die Ver­ wirklichung dieses Konzepts versprachen sich die damals herrschenden Rechts-der-Mitte-Koalitionen vor allem von der Einführung neuer Tech­ nologien in den industriellen Produktionsweisen und damit einer Verklei­ nerung des weiterhin als aufsässig eingeschätzten Proletariats zugunsten einer Ausweitung der in Verwaltung und Dienstleistung tätigen Ange­ stelltenschichten, kurz  : einer zunehmenden Verbürgerlichung der Arbei­ terklasse. Man hat das »Fordismus« oder »Weißen Sozialismus« genannt.5 Man könnte diesen sozioökonomischen Prozess auch als einen neuen Ent­ wicklungsschub innerhalb der immer rapider werdenden Industrialisierung bezeichnen, der sich die Einführung der Demokratie von einer steigenden Kommerzialisierung aller Lebensbereiche erhoffte, an deren Ende eine auf Massenproduktion beruhende »Wirtschaftsdemokratie« stehen sollte, die auf alle älteren feudalistischen und bürgerlichen Wertvorstellungen wie Rang, Vornehmheit und Standesbewusstsein, aber auch auf eine von den breiten Massen der Bevölkerung abgehobene Bildung und Kultur ver­ zichten würde. So betrachtet, war die Neue Sachlichkeit erst einmal ein eminent politi­ sches und sozioökonomisches Leitkonzept, das sich als Ausdruck der fort­ schreitenden Industrialisierung und Vergroßstädterung Deutschlands ver­ stand. Statt weiterhin auf einem bürgerlichen Stellvertretungsanspruch zu bestehen, das heißt die besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten als die eigentlichen Herren im Lande anzuerkennen, erstrebte sie durchaus eine Demokratie, aber eine Demokratie ohne klar definierte Ideale, das heißt eine negative Demokratie, die trotz des neu eingeführten allgemeinen Wahl­ rechts nicht auf eine wirkliche Teilhabe der breiten Massen an Politik und Wirtschaft drängte. Trotz der Berufung auf »Weimar« vertrat sie keinen goethezeitlichen Humanismus, keinen auf Solidarität beruhenden Gemein­ schaftssinn, sondern lediglich einen genau kalkulierenden Geschäftsgeist, dem als soziales Regulativ allein ein konkurrenzbetontes Profitstreben zugrunde lag, das mit betonter Sachlichkeit als der wichtigste, alle anderen 169

Neue Sachlichkeit

Abb. 22 Carl Hofer  : Nachtlokal (1927)

Wertvorstellungen niederreißende Motor auf dem Weg zur einer möglichen Demokratisierung der Gesamtgesellschaft hingestellt wurde. Aufgrund dieser Haltung definierten sich die Vertreter der Neuen Sach­ lichkeit – im Gegensatz zu fast allen politischen und kulturellen Bewegun­ gen der Vorkriegsära – nicht mehr als Sprecher einer bestimmten Klasse, sondern als Repräsentanten einer sozialliberalen »Wirtschaftsdemokratie«, in der jedem Menschen, der über Fleiß, Intelligenz und das nötige Durch­ setzungsvermögen verfügte, die gleiche Aufstiegschance ermöglicht werde. 170

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

Wenn im Rahmen dieser Ideologie überhaupt noch konkrete soziologische Kriterien auftauchten, bezogen sie sich weitgehend auf jene klein- und mittelbürgerliche Schicht der Angestellten, die sich damals zwischen den Bauern und dem Proletariat auf der einen sowie der Aristokratie und dem finanziell besser gestellten Bürgertum auf der anderen Seite als neue, immer größer werdende Klasse ausbreitete. Und zwar wurde sie von den Anhän­ gern betont marktwirtschaftlicher Gesichtspunkte nicht nur wegen ihrer numerischen Stärke, sondern auch wegen ihrer angeblich betont »moder­ neren« Lebensweise als Wegbereiterin einer zu erreichenden oder bereits erreichten mittelständischen Gesellschaft hingestellt, in welcher die niede­ ren Arbeiten mehr und mehr durch Automation oder Auslagerung in die Länder der Dritten Welt zurückgehen würden. Diese Gruppen erkannten also sehr wohl, dass es demokratische Verhältnisse nur in einer sogenannten Wohlstandsgesellschaft, kurzum  : einer Sozialordnung mit vollen Schaufens­ tern geben könne, während Notdurft- oder Armutsgesellschaften stets der Gefahr ausgesetzt seien, in Diktaturen auszuarten.

II Die trotzdem vorhandenen Gegensätze innerhalb der sich allmählich de­mo­ kratisierenden Gesellschaft wurden demzufolge von den Wortführern der Neuen Sachlichkeit weniger auf soziale und bildungsmäßige Unterschiede als in betont entideologisierter Manier auf biologisch bedingte Unter­ schiede zurückgeführt. Wenn man sich dabei nicht auf die Angestellten berief, waren es meist die Vertreter der sogenannten Nachkriegsgeneration, die wegen ihrer angeblichen Sachlichkeit als die Hauptrepräsentanten des neuen »demokratischen« Zeitgeists hingestellt wurden. Es gab deshalb in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre immer wieder Versuche, die Cha­ rakteristika einer jeden Generation, die man wegen ihrer über den Klas­ sen schwebenden gesellschaftlichen Unbestimmtheit nicht mehr aus klar erkennbaren politischen und sozioökonomischen Voraussetzungen abzulei­ ten brauche, wie es hieß, auf höchst diffuse Mentalitätsstrukturen zurück­ zuführen, das heißt der Vorkriegsgeneration ein »bürgerlich-romantisches« 171

Neue Sachlichkeit

und der Nachkriegsgeneration ein »nüchtern-konkurrentistisches« Verhält­ nis zum Leben zuzuschreiben. Genau besehen, lief dieses Denken schon damals auf das Konzept einer bereits nivellierten Mittelstandsgesellschaft hinaus, in der sich die einzelnen Bevölkerungsschichten nur noch durch ihre Generationszugehörigkeit und die sich daraus ergebenden Lebensstilfor­ men, mit anderen Worten  : der immer geringeren Verpflichtung gegenüber irgendwelchen Traditionen und der mit ihnen verbundenen Kultur- und Moralvorstellungen unterscheiden sollten. Der zentrale Ort der Neuen Sachlichkeit war daher nicht mehr das Land oder die kleine Stadt, wie noch in weiten Bereichen der neuromantischen und heimatkünstlerischen Bewegungen der Jahrhundertwende, sondern einzig und allein die »Große Stadt« mit ihrer bereits erreichten Atomisie­ rung und Anonymisierung der Gesellschaft und der daraus resultierenden Nivellierung und Standardisierung der bisher üblichen Umgangsformen. In ihr sah man jenen Lebensbereich, wo die älteren Gemeinschaftsrituale und die mit ihnen korrespondierenden Wertvorstellungen jeden übergeordneten Sinn verloren hätten und sich das tatsächliche Leben in der vom sogenann­ ten Job streng separierten Welt der anonymen Freizeit abspiele, in der sich jeder Mensch in immer ungehemmteren Formen denselben Vergnügungen hingeben könne. Zudem galt die »Große Stadt« als der Ort, wo bereits der höchste Grad an Industrialisierung und Technisierung erreicht sei, also die weitestgehende Mobilität und ein dementsprechendes Lebenstempo herr­ sche, wodurch dem Einzelnen gar nicht bewusst werde, welches gefühls­ mäßige Vakuum sich hinter der hektischen Betriebsamkeit eines solchen Lebens auftue. Nicht in Berlin oder Städten wie Frankfurt, Leipzig, Köln und Hamburg zu leben, galt daher im Rahmen solcher Vorstellungen als ausgesprochen »unsachlich«. Der Hauptakzent der meisten Ideologiekonzepte, welche die Vertreter der Neuen Sachlichkeit für diesen neuen Lebensstil entwickelten, lag dem­ zufolge weniger auf den neuen Arbeitsbedingungen, die in vielen Fällen als auswechselbare Jobsituationen, wenn nicht gar notwendige Übel hingestellt wurden, aus denen sich wegen ihrer nichtteilhabenden Anonymität keine 172

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

soziale Identitätsstiftung ergebe, sondern auf den neuen Freizeitmöglich­ keiten, welche die »Große Stadt« ihren Bewohnern und Bewohnerinnen zu bieten habe. Als die wichtigsten solcher Erlebnisbereiche wurden dabei in den mittzwanziger Jahren als Formen einer neuen Leitkultur vor allem jene Vergnügungen hingestellt, welche die sich rasch ausbreitende Unterhal­ tungsindustrie anzubieten habe. Und darunter verstanden die Exponenten der Neuen Sachlichkeit vor allem den Spaß an Sportereignissen wie Fuß­ ball, Boxen, Radrennen und Autorallyes, die Freude an neuen technischen Errungenschaften wie Automobilen, Rundfunk, Film und Schallplatten, den Besuch von Nachtlokalen mit Jazzbands und tanzenden Girls, den reizvoll unterhaltsamen Charakter von Reklamen, Schaufenstern oder Gimmicks im Bereich der Gebrauchsgüter, das Gefühl des ständigen Informiertseins durch Zeitungen und illustrierte Magazine sowie die wesentlich freiere Befriedi­ gung sexueller Bedürfnisse in Form der Homosexuellen- und Lesbenszene, der offenen Zweierbeziehungen sowie unverbindlicher »Verhältnisse«. In all diesen Betätigungen sollten sich die an ihnen teilnehmenden Men­ schen ein Lebensgefühl aneignen, das nicht mehr auf Wertvorstellungen wie Nächstenliebe, mühsam angeeigneter Bildung, geistiger Kritikfähigkeit, hoher Kultur oder kameradschaftlicher Solidarität beruhte, also Werten, die im Zuge der erstrebten Verfreiheitlichung des Lebens weitgehend als obso­ let galten, sondern das im Zeichen von Neugier, Abwechslung, Mobilität, Entfrustrierung und Triebabfuhr steht und diese Bedürfnisse im Rahmen einer auf dem Prinzip von Angebot und Nachfrage beruhenden Freizeit- und Vergnügungsindustrie befriedigt. Um dabei eventuell entstehende Konkur­ renzgefühle nicht zu privaten oder gesellschaftlichen Konflikten ausarten zu lassen, wurde bei all diesen Vergnügungen – wie im Sport – stets das Prinzip des »Fair Play« zum Hauptregulativ aller zwischenmenschlichen Beziehun­ gen erhoben. Sogar im Bereich der Liebe sollte in Zukunft nicht mehr die seelische Bindung, sondern nur noch eine sachliche, mit sportlicher Fair­ ness ausgeübte Erotik den Ausschlag geben. Statt sich wie Goethes Werther aus unerwiderter Liebe zu einem bereits verlobten Mädchen das Leben zu nehmen, hieß es in den einschlägigen Schriften dieser Bewegung, »sportele« 173

Neue Sachlichkeit

man jetzt mit den Freundinnen anderer Männer »Sex« und gebrauche dabei Kondome, um allen unliebsamen Nebenwirkungen aus dem Wege zu gehen. Viele dieser Programme – wie die Forderung nach der Abschaffung des die Homosexualität kriminalisierenden Paragraphen 175, der erleichterten Ehescheidung, der Beseitigung des Abtreibungsparagraphen, der Entkrimi­ nalisierung von Ehebruch und Prostitution sowie der vielfach angestrebten Gleichstellung von Frauen in Beruf, Politik, Bildung und Sport – hatten durchaus einen Zug ins »Demokratisierende«. Aber sie standen zugleich im Zeichen einer Dialektik des Fortschritts, bei der trotz aller Gewinne auch die Verluste nicht zu übersehen sind, indem sie diese Demokratisierungs­ tendenzen häufig genug mit einer Diffamierung vieler älteren seelischen und kulturellen Werte verbanden, die gern als Ausdruck bürgerlicher Frus­ trierung oder Feigheit hingestellt wurden. Diese Privatisierung des Lebens ins Anonyme führte zwangsläufig zu einer Tendenz ins Freiverfügbare aller menschlichen Beziehungen, durch welche die Befriedigung emotionaler, erotischer und kultureller Bedürfnisse immer stärker in den Bereich der kommerzialisierten Vergnügungsindustrie geriet. Schließlich wurden von den verschiedenen Branchen dieser Industrie Dinge angeboten, die man schon damals als die Ware Sport, die Ware Liebe oder die Ware Kultur bezeichnete und vornehmlich wegen ihres ablenkenden, vergnüglich zer­ streuenden Charakters schätzte. Doch es war nicht nur der auf ihren bloßen Tauschwert reduzierte Cha­ rakter vieler Lebensformen, der die nach 1923 verkündete Leitkultur der Neuen Sachlichkeit zum Teil problematisch machte, es war auch ihre nie einzulösende Demokratisierungsabsicht, welche im Rahmen eines auf gesell­ schaftlich hergestellten, aber privat angeeigneten Produkten beruhenden Wirtschaftssystems stets einen geheuchelten Charakter behält. Zugegeben, viele der von den Vertretern der Neuen Sachlichkeit propagierten Neue­ rungen konnten auch von den breiten Massen genutzt werden. Anderes blieb dagegen weiterhin ein Privileg der sich von der Mehrheit der Bevöl­ kerung aufgrund von Besitz und Bildung absondernden Oberen Zehntau­ send – ganz zu schweigen von jenem unteren Drittel der Bevölkerung, das 174

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

Abb. 23 Aus einem Modeheft des Lettehauses (1929)

auch in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre weiterhin unter Ausbeu­ tung, Armut und gesellschaftlicher Diffamierung zu leiden hatte. Wenn man also von einer Lebensform oder gar Leitkultur der Neuen Sachlichkeit spricht, sollte man daher nicht vergessen, dass zwar die billigeren Formen der neuen Medien wie die Abendblätter der Zeitungen, die kleinen Kinos, die Sportveranstaltungen, die Reklamen sowie die Massenverkehrsmittel allen Menschen zu Verfügung standen, es jedoch viele Teilbereiche innerhalb der Kultur der Neuen Sachlichkeit gab, die weiterhin jener gesellschaftlichen Elite vorbehalten blieben, die etwa vier bis fünf Prozent der Bevölkerung, 175

Neue Sachlichkeit

das heißt vor allem die Schichten mit Abitur- oder Mittelschulbildung sowie die aus vermögenden Kaufmannsfamilien Stammenden umfasste. Für diese Kreise bedeutete Neue Sachlichkeit nicht allein die ständige Verfügbar­ keit der neuen Massenverkehrsmittel oder die Freude an Boulevardblättern, Kintoppfilmen oder Fußballspielen, sondern zugleich der Gebrauch des Telefons und Telegraphs, die Freude am eigenen Auto, die Mitgliedschaft in einem vornehmen Tennisklub, die neuen Formen der Mode sowie die Vorzüge des »Neuen Wohnens«, also an all dem, was für die kleinen Ange­ stellten und Angestelltinnen wegen des hohen Kostenaufwands weiterhin unerschwinglich blieb.6

III Die gleiche Beobachtung lässt sich im Hinblick auf das Kulturverhalten des von den Vertretern der Neuen Sachlichkeit bereits als homogenisierte Mittelstandsgesellschaft hingestellten Klassenstaats der Weimarer Repub­ lik machen. Ja, hier kommt der widersprüchliche Charakter der von ihnen propagierten Konzepte vielleicht noch deutlicher zum Vorschein. So gab es auf der einen Seite »Sachlizisten«, wie sie sich selber nannten, die aus Abneigung gegen die bürgerliche Kultur die klassischen Formen der früheren Künste, also die seriöse Literatur, Malerei und Musik, völlig verwarfen und nur noch die auf die neue Großstadtmentalität zugeschnittenen Phänomene wie Architektur, Innenausstattung, Gebrauchsgüter, Modeattribute sowie andere Formen des neuen Designs als Ausdruck einer wahrhaft modernen, auf den älteren bürgerlichen Persönlichkeitskult verzichtenden Leitkultur verstanden. Demzufolge charakterisierte Adolf Behne, einer der wichtigs­ ten Repräsentanten dieser Bewegung, 1929 in dem Band Das neue Berlin die elegant aufgemachten Modezeitschriften, das Happy-End-Lächeln auf den Werbeplakaten sowie die Schaufenster der großen Warenhäuser als die überzeugendsten Manifestationen der Neuen Sachlichkeit, durch die ein ganz neuer »Typ Mensch« im Werden sei, der auf eine ihn lediglich für seine Frustrierung entschädigende höher geartete Kunst getrost verzichten könne. Am wohlsten, schrieb er weiter, fühle er sich im Menschengewimmel der 176

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

großen Kaufstraßen, da hier alle von derselben Schaulust und Konsum­ mentalität ergriffen würden, in denen der Zeitgeist der neusachlichen Groß­ stadtkultur seine reinste Ausprägung erlebe.7 Auf der anderen Seite waren jedoch viele Vertreter der Neuen Sachlich­ keit noch bildungsbürgerlich genug eingestellt, auch den anspruchsvollen Genres der älteren Kunstbemühungen weiterhin eine gewisse Rolle inner­ halb dieser vornehmlich auf Unterhaltungs- und Informationsbedürfnissen beruhenden Sachkultur zuzugestehen und ihnen im Rahmen des neuen, den Tendenzen ins Massenmediale angepassten ästhetischen Supermarkts eine sorgfältig separierte Sonderabteilung einzuräumen. Schließlich war die sogenannte seriöse Kunst seit dem 18. Jahrhundert zu einer Institution geworden, welche zwar nur von einer kleinen, aber gutbezahlenden Schicht getragen wurde, deren Vertreter jedoch nicht gesinnt waren, ihren bishe­ rigen kulturellen Stellvertretungs- oder gar Führungsanspruch umgehend irgendwelchen nivellierenden Demokratisierungstendenzen zum Opfer zu bringen. Und das machten sich eine Reihe von Verlegern, Galeriebesitzern und Konzertmanagern durchaus zu Nutze, welche trotz aller immer stärker ins Eindimensionale abrutschenden Tendenzen der angeblich demokrati­ schen Vergnügungsindustrie sehr wohl erkannten, dass im Rahmen der besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten, die sich nicht ohne Weiteres der Mentalität der neuen Angestelltenklasse fügen wollten, auch mit den älteren Hochformen der Literatur, Malerei und Musik, falls man sie dem neusachlichen Zeitgeist geschickt anpassen würde, noch durchaus lukrative Geschäfte zu machen waren. Und so entstand selbst innerhalb der sogenannten höheren Künste um 1923/24 eine leitkulturelle Strömung, die sich aus Anpassung an die in Politik, Wirtschaft, Ideologie und Alltagsleben herrschenden Tendenzen ebenfalls als Neue Sachlichkeit ausgab, obwohl es gerade das Ziel dieser aus der Ernüchterung der Nachkriegsära entstandenen Richtung gewesen war, allen ins Idealistische und damit auch Hochkulturelle ausgreifenden Erwartungen der älteren, frustriert und daher utopisch gesinnten bürger­ lichen Intelligenz endgültig den Garaus zu machen. Was demnach in den 177

Neue Sachlichkeit

anspruchsvollen Künsten als Neue Sachlichkeit angepriesen wurde, beruhte zwangsläufig auf einem eklatanten Widerspruch. Schließlich hätte eine Gesellschaft, wie die der Weimarer Republik, deren poltische und wirt­ schaftliche Führungskreise zwischen 1923 und 1929 Demokratisierung weitgehend mit Kommerzialisierung gleichsetzten und sich hierbei gern auf das Vorbild der Vereinigten Staaten beriefen, eigentlich keine höhere Kultur dulden dürfen. Müsste nicht eine solche Gesellschaft, welche im Hinblick auf die USA nicht nur den dort praktizierten Fordismus und Taylorismus, sondern auch die dort bereits erreichte Massenmedienkultur mit ihrer Schmelztiegelideologie als besonders »demokratisch« empfand, auf alle Ausflüge ins Hochkulturelle grundsätzlich verzichten und den sich aus dem marktwirtschaftlichen Wechselspiel von Angebot und Nachfrage ergebenden kleinsten Nenner als den einzigen Maßstab in allen kulturel­ len Fragen akzeptieren  ? Dass sie dennoch auch die prestigeverheißenden Genres der Hochkultur nicht verschmähte, deutet darauf hin, dass sie als Übergangsphase zu einer Gesellschaft der vollentwickelten kapitalistischen Marktwirtschaft noch nicht ganz zu sich selbst gekommen und daher noch nicht gesinnt war, im Bereich der Kultur entweder nur dem Trend ins Ein­ dimensionale einer nivellierten Massengesellschaft nachzugeben oder sich auf eine wahrhaft demokratische Weise entschließen würde, im Bereich der Künste »den kleinen Kreis der Kenner zu dem großen Kreis der Kenner« zu erweitern, wie es später Bertolt Brecht forderte. Da sich jedoch solche Vor­ gänge nicht über Nacht abspielen, sondern stets einen längeren Zeitraum erfordern, blieb also die Neue Sachlichkeit nicht nur auf politischem, son­ dern auch auf kulturellem Gebiet ein Zwittergebilde, das einen besonders guten Einblick in die notwendigen Widersprüche einer nur mit kommer­ ziellen Mitteln angestrebten Demokratisierung erlaubt. Aufgrund dieser Situation wurde sogar aus der Neuen Sachlichkeit, die eigentlich allen Kunst-Ismen ein Ende bereiten wollte, schließlich unter anderem auch ein Kunst-Ismus, der von den Kennern der Kunstszene selbst in den höheren Künsten als neuer Stil geschätzt wurde. Dazu – in gebotener Kürze – einige Bemerkungen über die Folgen, die sich daraus 178

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

für die malerische, musikalische und literarische Formenwelt der sich als »neusachlich« verstehenden Kunst der mittzwanziger Jahre und der mit ihr verbundenen Wertvorstellungen ergaben. Schließlich existierte die »Institution Kunst« auch in diesem Zeitraum weiter und war keineswegs, wie manchmal behauptet wurde, den betont antibürgerlichen Attacken von sich als revolutionär verstehenden Avantgarde-Bewegungen wie dem Dadaismus oder Konstruktivismus zum Opfer gefallen. Und das, obwohl der Dadaismus jeden hochkulturellen Anspruch auf eine grausam-groteske Weise als lächerliches Unterfangen frustrierter bürgerlicher Ästheten ange­ prangert und der Konstruktivismus in Form der am Weimarer Bauhaus praktizierten Methoden die angewandten Künste an die Stelle der soge­ nannten freien Künste gesetzt hatte. Ja, selbst die neusachliche Wendung ins Massenmediale und der daraus resultierende Abbau hochkultureller Formansprüche hatte die »Institution Kunst« – aus den bereits beschriebe­ nen Gründen – nicht wirklich in Frage stellen können. Und so darf man im Rahmen eines Essays zur Neuen Sachlichkeit auch die Hochkultur nicht ganz aus dem Auge verlieren.

IV Beginnen wir mit den bildenden Künsten, die im Rahmen wirtschaftlicher Konjunkturzeiten oft eine besonders wichtige Rolle spielen.8 Schließlich steht in solchen Perioden stets genügend Investitionskapital zur Verfügung, ohne das Bereiche wie Architektur, Innenausstattung oder Design notwen­ dig brachliegen würden. Außerdem bemühen sich die von den einschlä­ gigen Firmen angestellten Designer in Boomzeiten dieser Art besonders intensiv, die wieder mit mehr Geld ausgestatteten Konsumenten und Kon­ sumentinnen durch einen beschleunigten Modewechsel zum Kauf von als »brandneu« angebotenen Gebrauchsgütern anzureizen. In solchen Jahren ist deshalb zwangsläufig viel von »Modernität« und »Design« die Rede, um damit selbst den einfachsten Dingen des täglichen Umgangs – wie schon den Gebrauchsartikeln des Jugendstils in der ökonomischen Konjunkturpe­ riode um 1900 – den Anschein des Avancierten zu geben und so alle älteren 179

Neue Sachlichkeit

Gebrauchsgüter in den Bereich des Altmodischen und damit Obsoleten zu verweisen. Das lässt sich selbst an der Entwicklung des Bauhauses verfol­ gen, das sich 1919 noch unter den »Roten Stern des Sozialismus« gestellt hatte und in den Jahren nach 1923 einen Kompromiss nach dem anderen mit der sich als neusachlich verstehenden Designer-Kultur der mittzwan­ ziger Jahre schloss. Ja, nach diesem Zeltpunkt beschäftigten sich fast alle wichtigen Desig­ ner einerseits mit dem Entwurf neuer Gebrauchsgüter sowie neuer Wohn-, Schlaf- und Küchenensembles, was schließlich zur neusachlichen Idee der »Wohnmaschine« führte, andererseits mit der Reklame für diese neuen Gebrauchsgüter in Form neusachlicher Werbemethoden einherging, die auch eine neue Schriftgestaltung sowie den Gebrauch neusachlicher Fotos oder Fotomontagen in sich einschlossen. Heimatkünstlerisch oder auch expressionistisch gemalte Bilder hätten in solchen Räumen, die wie die Designerbüros von Architekten oder Ingeni­ euren aussahen, überhaupt keine Funktion gehabt. In ihnen herrschte ein neusachliches Formbewusstsein, das an sich gar keines Schmucks bedurfte und einen Sinn für Design ausstrahlen sollte, dem vielleicht nur die abs­ trakten Bilder eines Wassily Kandinsky oder Piet Mondrian entsprochen hätten. Doch nicht alle an Kunst und Design interessierten Bürger woll­ ten in solchen betont puristischen Wohnmaschinen leben. Sie richteten sich demzufolge lediglich halbsachlich ein, das heißt verzichteten auf die kühle Strenge der im Bauhaus-Stil entworfenen Wohnungen zugunsten einer nicht ganz so strikten, nur auf Schwarz-Weiß-Töne reduzierten Ausstattung und schlossen sogar im Hinblick auf ihren Wandschmuck durchaus Zuge­ ständnisse an das Traditionelle. Und diese Funktion erfüllten jene Ölbil­ der, die seit 1923/24 als Ausdruck einer neusachlichen Malerei angepriesen wurden, geradezu haargenau. Sie hatten in ihrem Objektivismus einerseits eine betont nachrevolutionäre Note, wiesen jedoch andererseits eine Mal­ weise auf, durch die sie in ihrer glasklaren, atmosphärelosen, stilllebenhaf­ ten Art wie typisierte Fotografien aussahen und so, wie die Bilder von Carl Grossberg, Alexander Kanoldt, Anton Räderscheidt, Christian Schad und 180

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

Abb. 24 Walter Gropius  : Typenmöbel (1927)

Eberhard Viegener, durchaus an jener das Nüchterne und Technische beto­ nenden Modernität der Neuen Sachlichkeit partizipierten. Ähnliches gilt für die Musik dieser Richtung, in der die Anpassung an den neuen »Zeitgeist« ebenfalls eine große Rolle spielte. Ja, in diesem Bereich erwiesenen sich die durch die Neue Sachlichkeit in Gang gekom­ menen Veränderungen in mancher Hinsicht nicht minder einschneidend als im Bereich der bildenden Künste. Schließlich war es durch die Erfin­ dung der Schallplatte und des Rundfunks in den zwanziger Jahren erstmals möglich geworden, das bürgerliche Monopol des für die breiten Massen 181

Neue Sachlichkeit

Abb. 25 Eberhard Viegener  : Stillleben (1927)

unerschwinglichen Konzert­und Opernbetriebs zu durchbrechen. Gerade auf diesem Gebiet hätte man daher den »kleinen Kreis der Kenner« durch­ aus in den »großen Kreis der Kenner« erweitern können. Dafür fehlten aber sowohl die Bildungsvoraussetzungen der bisher Unterprivilegierten als auch das Interesse der herrschenden Schichten, ihr Bildungsmonopol auf die­ sem Gebiet zugunsten der breiten Massen aufzugeben. Also überließ man diesen Bereich weitgehend dem marktwirtschaftlichen Prinzip von Ange­ bot und Nachfrage, was im Rahmen der auf Entspannung eingestellten 182

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

Kultur-, Freizeit- und Vergnügungsindustrie zu einem gewaltigen Zuwachs an anspruchsloser Gebrauchsmusik in Form von Schlagern, billigen Ope­ retten sowie Revue-, Film- und Jazzkompositionen führte, deren beschwin­ gende Tanzrhythmen oder nachsingbare Melodien lediglich der Ablenkung und Zerstreuung dienten. Es gab in den mittzwanziger Jahren Musikkritiker, die diese Tendenz ins Kommerzialisierte und Technisierte ohne ideologische Hemmungen als eine befreiende Erweiterung ins Demokratische begrüßten. Und damit hatten sie in mancher Hinsicht sicher Recht. Schließlich wurde es damals selbst inner­ halb der älteren Besitz- und Bildungsbourgeoisie durchaus »fashionable«, auch Shimmy oder Charleston zu tanzen, sich an den gängigen Schlagern zu erfreuen sowie Operetten- und Revuetheater zu frequentieren. Doch daneben favorisierten Teile der gleichen Schichten, ob nun aus Informati­ onsbedürfnis, ästhetischer Neugier oder gesellschaftlichen Prestigegründen, auch gewisse Formen einer seriösen Musik, die sich in Form und Inhalt der Neuen Sachlichkeit anzupassen versuchte. Um 1925 verstand man darun­ ter vor allem den durchmathematisierten Stil der von Arnold Schönberg entwickelten Zwölftonmusik sowie jene symphonischen Programmwerke und Zeitopern à la Paul Hindemith, Ernst Krenek und Kurt Weill, die sich durch eine Bevorzugung geräuschhafter, technisch-motorischer oder an Jazz anklingender Motive auszuzeichnen bemühten. Allerdings gelang es den Werken dieser Richtung kaum, über einen relativ kleinen Kreis von ­Kennern hinauszudringen. Trotz ihrer Tendenz, sich dem allgemeinen Trend ins Demokratische wenigstens thematisch anzupassen, blieb diese Musik – prozentual gesehen – weitgehend das, was man später als Nachtprogrammoder Musikfestmusik bezeichnet hat. Ja, manche sprachen im Hinblick auf den forciert modernistischen Charakter vieler Werke dieser Richtung bereits von Cliquen- oder Klüngelmusik, um auf die gesellschaftliche Randstän­ digkeit einer so elitären Sachlichkeit hinzuweisen. Als wesentlich relevanter für die Tendenz ins Demokratische erwiesen sich dagegen Teile der Literatur der Neuen Sachlichkeit. Während sich in den bildenden Künsten – von der kleinen Gruppe objektivistisch eingestellter 183

Neue Sachlichkeit

Abb. 26 Paul Hindemiths Oper »Neues vom Tage« im Darmstädter Theater (1929)

Maler einmal abgesehen – das Designerhafte gegen den individuellen Per­ sönlichkeitsausdruck durchsetzte und in der Musik der gleichen Richtung weitgehend das Populäre über das Elitäre siegte, bildete sich in gewissen Bereichen der Literatur dieser Jahre tatsächlich eine »mittlere Linie« heraus, deren Vertreter sich, wie Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig, mit gesell­ schaftsbezogener Aufklärungsabsicht sowohl von einem elitären Ästhetizis­ mus als auch einer bloßen Trivialität distanzierten. Zugegeben, auch auf diesem Gebiet traten ältere Hochkulturformen wie die Tragödie, das Epos 184

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

und das Gedichtwerk, die noch um 1900 eine große Rolle gespielt hatten, zusehends in den Hintergrund, während als neusachlich empfundene Gen­ res wie die Reportage, die Short Story, das Drehbuch oder der Kabaretts­ ketch einen immer größeren Raum einnahmen. Aber dafür setzten sich in den Kriegs-, Großstadt-, Büro- und Industrieromanen von Erich Maria Remarque, Alfred Döblin, Irmgard Keun und Erik Reger auch Formen durch, die durchaus innovativ, ja anspruchsvoll und doch massenbezogen waren und dementsprechend ein relativ breites Publikum erreichten. Etwas schwerer hatten es dagegen im Bereich des Theaters die sogenannten Zeit­ stücke oder die Werke des frühen Epischen Theaters, denen es trotz ihrer auf den herrschenden Zeitgeist zugeschnittenen Thematik, der Zuhilfenahme neusachlicher Musikformen sowie eines eingedeutschten Jazz oder auch der Verwendung filmischer Projektionen kaum gelang, einem breiteren Publi­ kum etwas von ihrer demokratisierenden Absicht zu vermitteln. Dazu war das Theater, schon wegen seiner hohen Eintrittspreise, noch immer eine zu elitäre Institution. Während neusachliche Filme, wie Symphonie einer Großstadt, Menschen am Sonntag oder Metropolis, in den gleichen Jahren einen relativ großen Zulauf hatten, blieb also in diesen Bereich – trotz bester Absichten neusachlicher oder auch linksliberaler Autoren – im Hin­ blick auf die Gesamtgesellschaft vieles ebenso randständig wie im Bereich der Musikfestmusik oder Kunstgaleriekunst.

V Und damit stößt man auf eine Problematik, die auf den Grundwiderspruch ­ eitkultur der Neuen Sachlichkeit, welche den Anspruch erhob, eine neue L zu sein, schlechthin verweist. Wenn man, wie diese Richtung, seine Demo­ kratisierungshoffnungen allein auf die industrielle Produktionssteigerung setzt und hofft, dass sich durch den damit herbeigeführten Wohlstand zwangsläufig eine Verfreiheitlichung der Gesamtgesellschaft ergeben wird, das heißt eine »Politik der vollen Schaufenster« betreibt, hat man zwar die breiten Massen – solange man sie an dieser Wohlstandssteigerung betei­ ligt – durchaus auf seiner Seite, ja kann sich sogar auf die als unumstößlich 185

Neue Sachlichkeit

geltende Maxime stützen, dass es bisher noch nie eine Demokratie ohne einen gesteigerten Wohlstand gegeben habe, muss aber zugleich folgende Einbußen in Kauf nehmen, die in Krisenzeiten, also beim Rückgang der ökonomischen Zuwachsrate, katastrophale Folgen haben können. Wie bei allen solchen Prozessen lassen sich auch hier die lebensgeschichtlichen und kulturellen Auswirkungen nur schwer von den politischen und sozioöko­ nomischen Ursachen trennen. Doch um der ideologischen Klarheit willen sei es dennoch versucht. Beginnen wir mit den politischen und sozioökonomischen Faktoren. Ein Demokratiekonzept wie das der Neuen Sachlichkeit, das keine anderen Zielvorstellungen besaß als die des gesteigerten Profitstrebens, des konkur­ rentistischen Aufsteigerverlangens, des gesellschaftlichen Prestiges und der verbrauchsbetonten Vergnügungssucht, also letztlich nur negative Werte oder besser Unwerte aufwies, appellierte zwar an das eminent starke Grati­ fikationsbedürfnis, wenn nicht gar den infantilen Narzissmus innerhalb der Menschennatur, die es in mehr oder minder starker Form zu allen Zeiten gegeben hat, ließ aber alle höheren Bedürfnisse des Menschen notwendig unbefriedigt. Darum traten zwar gegen Mitte der zwanziger Jahre viele der älteren Wertvorstellungen nationaler, religiöser und klassenbewusster Art sowie der mit ihnen verbundenen negativen Aspekte des Hierarchischen, Autoritären und Patriarchalischen zusehends in den Hintergrund, wurden aber nicht durch neue Wertvorstellungen einer »freien, gleichen und brü­ derlichen« Teilhabe, also des unmittelbaren Mitbesitzes und der Mitbestim­ mung in Wirtschaft und Politik, ersetzt. Nur wenn ein solcher Umschwung eingetreten wäre, hätten sich wahrhaft demokratische Wertvorstellungen wie soziales Verantwortungsbewusstsein, menschliche Solidarität und Rück­ sicht auf die natürlichen Grundlagen des Lebens durchsetzen können, was sich im Rahmen neusachlicher Vorstellungen, also der Beibehaltung der früheren Besitzverhältnisse und der mit ihnen verbundenen Konkurrenz-, Macht- und Prestigebedürfnisse nie verwirklichen lässt. Ähnliches gilt für die angeblichen Demokratisierungsabsichten der Neuen Sachlichkeit im Bereich der von ihr propagierten Leitkultur. Indem 186

Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis?

sie auch hier fast alles dem marktwirtschaftlichen Prinzip von Angebot und Nachfrage auslieferte, versuchte sie zwar den Kulturbetrieb der älteren Bildungsbourgeoisie auf ein Minimum einzuschränken, etablierte aber an seiner Stelle lediglich einen ästhetischen Supermarkt, in dem zwangsläufig die Tendenz ins Nivellierte einer kulturellen Massenproduktion tonange­ bend wurde. Damit versetzte sie zwar dem Stellvertretungs- oder gar Füh­ rungsanspruch der mittel- bis großbürgerlichen Schichten einen argen Stoß, übertrug jedoch den Herren der neuen Medien, also des Rundfunks, der Zeitungen, der Wochenendmagazine, des Films und der Schallplattenin­ dustrie, ein Kulturmonopol, das einen geradezu unbegrenzten Wirkungs­ radius hatte. Durch diese Medien und die in ihnen herrschende Tendenz zum »Social engineering« wurde es nämlich möglich, selbst jene Bevölke­ rungsschichten, die bisher kaum am Kulturbetrieb teilgehabt hatten, bis zu drei Stunden täglich mit ihren Meinungen zu berieseln und damit in ihrem Sinne zu beeinflussen. Zugestandenermaßen hatte das auch demo­ kratisierende Wirkungen, führte jedoch andererseits zu einer immer stär­ keren Homogenisierung der Gesamtbevölkerung und machte dadurch die breiten Massen – aufgrund der allgemeinen Standardisierung und der damit verbundenen Werteverluste – dafür anfällig, sich in Zeiten ökonomischer Krisen Parteien anzuschließen, welche nicht nur an ihre materiellen, son­ dern auch an ihre ideellen und emotionalen Bedürfnisse appellierten, die in der Demokratie der Neuen Sachlichkeit notwendig zu kurz gekommen waren. Und so hatten die Nazifaschisten nach 1929, also dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, ein leichtes Spiel. Mit ihrer ins Nationale, Kulturbe­ tonte und Idealistische tendierenden Propaganda sprachen sie all jene an, deren Sinnhunger in der nüchternen, materialistischen, ja widerspruchs­ voll zynischen Welt der Neuen Sachlichkeit leer ausgegangen war. Und so erfüllte sich am 30. Januar 1933 ein echtes Bedürfnis im Falschen, wie Theodor W. Adorno sagen würde. So gesehen, ist das Phänomen der Neuen Sachlichkeit noch immer ein instruktives Lehrstück, das wegen der relativ unveränderten Struktur der meisten westlichen Demokratien weiterhin eine paradigmatische Bedeutung 187

Neue Sachlichkeit

hat. Schließlich weist es nach wie vor auf die Forderung nach einer wahren Volksherrschaft hin, die bis heute uneingelöst ist. Wer also ein wahrer Demo­ krat sein will, sollte nicht nur auf das Positive an der Neuen Sachlichkeit hinweisen, sondern auch jene negativen Aspekte an ihr hervorkehren, in denen sich ihr Bemühen um die Aufrechterhaltung eines auf Besitz, Macht und bewusster Kontrolle der breiten Massen angelegten Systems zu erken­ nen gibt, dessen zutiefst undemokratischer Charakter sich auch mit noch so progressiv klingenden Phrasen wie der einer bereits erreichten »sozialen Marktwirtschaft« nicht überspielen lässt.9

188

Kulturelle Verblendungssyndrome. Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite im Dritten Reich I Im Gefolge der Totalitarismustheoreme der unmittelbaren Nachkriegszeit ist das NS -Regime häufig als ein brutaler Unterdrückungsmechanismus beschrieben worden, der nicht den geringsten Widerspruch duldete und dem sich die Mehrheit des Volkes höchst widerwillig unterworfen habe. Eine solche Sehweise ist zwar psychologisch durchaus verständlich (schließ­ lich wollte es nach 1945 »niemand gewesen sein«), steht jedoch in krassem Widerspruch zu der unübersehbaren Zustimmung, mit der große Teile der deutschen Bevölkerung, ja selbst die Mehrheit der sogenannten Kultur­ träger am 30. Januar 1933 die Machtübergabe an Adolf Hitler und seine Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei begrüßt haben. Den Sieg des deutschen Faschismus nachträglich als eine von oben erzwungene »Gleich­ schaltung« hinzustellen, ist darum eine bewusste Geschichtsklitterung, mit der sich jene nationalkonservativen bürgerlichen Mittelschichten, die zwi­ schen 1929 und 1933 – im Endkampf um die politische Macht zwischen KPD und NSDAP – in hellen Scharen zu den Nazis übergelaufen waren, nach 1945 ein von allen Schuldfragen entlastetes Gewissen zu verschaffen suchten. Schließlich hatten sich gerade diese Kreise schon in der ökonomi­ schen Turbulenzphase der späten zwanziger Jahre entweder aus politischer Überzeugung der NSDAP angeschlossen oder sich in die Bereiche einer edelkonservativen Inneren Emigration zurückgezogen, wo sie sich nach 1933 einer von den Parteiorganen des Dritten Reichs durchaus geduldeten Pflege der altehrwürdigen Kulturtraditionen der deutschen Geschichte hingaben. Nach der Niederringung des NS -Regimes durch die Rote Armee und dann auch die US -Amerikaner versuchten sich diese Schichten aus der ideologischen Schlinge zu ziehen, indem sie den Nazifaschismus – diesen 189

Kulturelle Verblendungssyndrome.

»Terror der Halbgebildeten«, wie sie ihn jetzt nannten – als ein Herrschafts­ system hinstellten, das ihnen von vornherein höchst suspekt erschienen sei und dem sie sich durch einen Rückzug in die »heil’gen Hallen« der christlichen oder abendländisch-humanistischen Leitkulturen entzogen hätten. Und so erschien der Nazifaschismus innerhalb dieser Perspektive, vor allem in den drei westlichen Besatzungszonen und der im Zuge des Kalten Krieges 1949 gegründeten Bundesrepublik, fast nur noch als ein spezifisch »unbürgerliches« System, das sich gegen die Freiheit des Einzel­ nen gewandt habe und daher ebenso nachdrücklich abzulehnen sei wie der Kommunismus, dessen Hauptintention ebenfalls die Unterdrückung des bürgerlichen Individuums zugunsten staatlicher Zwangsmechanismen sei, wofür nach Beginn des Kalten Kriegs erst auf die Sowjetische Besatzungs­ zone und dann die Deutsche Demokratische Republik hingewiesen wurde. Wer im Dritten Reich nicht direkt an der Macht beteiligt war, konnte sich also im Zuge solcher Entlastungsstrategien im westlichen Restterritorium des ehemaligen Großdeutschen Reichs mit gutem Gewissen als Nicht-Nazi, ja sogar als Anti-Faschist ausgeben. Schließlich war im Gefolge derarti­ ger Anschauungen nicht mehr die Gesinnung das Entscheidende, son­ dern allein die unmittelbare Beteiligung an den ausführenden staatlichen Organen. Demzufolge fühlten sich viele der früheren NS -Sympathisanten oder gar Parteimitglieder, die anfänglich durchaus an Hitler geglaubt hat­ ten oder ihm geistig nachgelaufen waren, nach 1945 oder spätestens nach 1948/49, als in den drei Westzonen die große Amnestie einsetzte, von allen Schuldkomplexen befreit. Wer sich einmal die Mühe macht, die Zeitungen und Zeitschriften der Zeit um 1933/34, aber auch der Jahre danach, zu studieren, dem werden die bürgerlichen Intellektuellen, die mehrheitlich im Dritten Reich verblie­ ben und nicht ins Exil gegangen waren, von vornherein höchst suspekt erscheinen. Wohin man auch blickt, strotzt es hier nur so von gläubiger Zustimmung, euphorischer Begeisterung oder gar pseudoreligiöser Auferste­ hungssehnsucht. Nicht nur Teile der sogenannten Halbgebildeten sowie der weiterhin als »niedrig« empfundenen Arbeiterschichten steigerten sich in 190

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

Abb. 27 Udo Wendel  : Die Kunstzeitschrift (1939)

diesen Bejahungsrausch hinein, sondern auch jene bürgerlichen Intellektuel­ len, die vorher so stolz auf ihre reservatio mentalis waren und es später, wie gesagt, nicht gewesen sein wollten. Es liegt mir fern, solche Menschen von vornherein einer ans Kriminelle grenzenden Gesinnung zu bezichti­ gen, aber schließlich haben sie sich durch ihre naive Blindheit oder ihren 191

Kulturelle Verblendungssyndrome.

offenkundigen Bildungshochmut an den folgenden Ereignissen durchaus mitschuldig gemacht. Doch lassen wir diesen Problemkomplex erst einmal beiseite und fragen wir uns, wie es eigentlich im Jahr 1933 zu dieser weit verbreiteten Zustim­ mungswelle kommen konnte, in die selbst ernst zu nehmende, ja weltbe­ rühmte Intellektuelle, Professoren und Künstler eingestimmt haben. Wie war es nur möglich, dass der führende Germanist der Weimarer Republik, der Berliner Ordinarius Julius Petersen, an dessen wissenschaftlicher Quali­ tät nicht zu rütteln ist, im Jahr 1934 in seinem Buch Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich die Sätze publizieren ließ  : »Nun ist das Morgen zum Heute geworden. Weltuntergangsstimmung hat sich in Aufbruch verwandelt. Das neue Reich ist gepflanzt. Der ersehnte und geweissagte Führer ist erschie­ nen.«1 Und wie konnte es kommen, dass selbst ein Philosoph wie Martin Heidegger, in dem noch heutzutage viele einen der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts sehen, am 3. November 1933 vor Freiburger Studenten erklärte  : »Nicht Lehrsätze und ›Ideen‹ seien die Regeln eures Seins  ; der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.«2 Und solchen illustren Stimmen ließen sich viele andere anfügen, die damals in der Heraufkunft des neuen Reichs den entscheiden­ den Wendepunkt in der neueren deutschen Geschichte erblickten. Wie gesagt, geht es mir dabei weniger um persönliche Schuldzuweisungen als um die Frage, wie viel Erbitterung über die Zeit davor musste sich bei solchen hochgebildeten Menschen angestaut haben, dass sie den Macht­ antritt Hitlers als »befreiend«, wenn nicht gar »beglückend« empfanden und in ihren Schriften oder politischen Absichtserklärungen immer wieder darauf zurückkamen, das neue Reich als die endgültige Erfüllung all ihrer geheimen oder offen geäußerten Wünsche hinzustellen. Ideologiegeschicht­ lich gesehen, hing das zumeist mit dem weitverbreiteten Unbehagen dieser Schichten an der Weimarer Republik zusammen, deren modernistische Leitkultur ihnen gar nicht so positiv erschienen war, wie sie heute von bür­ gerlich-liberalen Intellektuellen gern hingestellt wird. Für die nationalge­ stimmte Bildungselite war die Kultur dieser Ära nicht in erster Linie jene 192

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

Aufsehen erregende Folge von Phänomenen wie Expressionismus, Dadais­ mus, Merz-Kunst, Bauhaus, Zwölftonmusik, Konstruktivismus, Epischem Theater, Piscator-Bühne, Jazz-Musik, politischem Kabarett, ersten Radioex­ perimenten, linksliberalen Zeitstücken, neusachlicher Malerei, Zeitschriften wie der Weltbühne, Großstadtromanen wie Berlin Alexanderplatz, Filmen wie Metropolis oder Symphonie einer Großstadt, Zeitopern wie Jonny spielt auf sowie anderen spezifisch modernistischen Innovationen gewesen, welche die Kulturwissenschaftler in aller Welt bis heute in Atem halten und die häufig als die bedeutendsten Leistungen der deutschen Kultur des 20. Jahrhun­ derts herausgestrichen werden. Die zuvor erwähnten Schichten hatten in der Weimarer Kultur etwas ganz anderes, nämlich eine weitgehend negativ gesehene Periode der Technikverkultung, der Vergroßstädterung, der Ame­ rikanisierung, der »Verjudung«, ja der allgemeinen Ausländerei gesehen, die dazu geführt habe, dass die deutsche Kultur, welche wegen ihrer Selbstbe­ wusstheit und Größe vor dem Ersten Weltkrieg einmal Weltgeltung besessen habe, zur Prostituierten eines internationalen Zeitgeschmacks herabgesun­ ken sei, die keinen Stolz auf ihre edle Herkunft mehr an den Tag lege und sich mit jedem einlasse, der sie mit dem nötigen vulgären Charme umbuhle.3 Dass sich solche Affekte gegen den allgemeinen Verlust an anspruchs­ heischender Kultur meist nationalistisch entluden und damit den völkisch gesinnten Gruppen und später den Nazifaschisten zugutekamen, hing weit­ gehend mit der politischen, ökonomischen und sozialen Verblendung dieser Schichten zusammen. Für sie war Kultur noch immer etwas Hochgemutes, Klassisches, das sich weit über die sogenannten Niederungen des Lebens erhebe, ja von diesen völlig unabhängig sei. Mit dem kulturellen Stellvertre­ tungsanspruch der älteren Besitz- und Bildungsbourgeoisie versuchten sie daher schon in der Weimarer Republik, als sich der Einbruch der Massen­ medien in die Kultur immer deutlicher abzuzeichnen begann, weiterhin am Ideal einer national gesinnten Leitkultur festzuhalten. Sie traten demzufolge so hartnäckig wie möglich, jener Tendenz ins »Materialistische« entgegen, welche der älteren Kultur zusehends den Boden entziehe. Und zwar machten diese Schichten dafür vor allem das sich immer ungehemmter entfaltende 193

Kulturelle Verblendungssyndrome.

marktwirtschaftliche Konkurrenz- und Profitsystem des aus Frankreich, England und den USA importierten »undeutschen« Geschäftsgeists verant­ wortlich, der dem angestammten deutschen Kulturbewusstsein diametral zuwiderlaufe. Wie schon in den Anfangsmonaten des Ersten Weltkriegs4 beschworen deshalb die rechtsstehenden Intellektuellen der Weimarer Re­ publik – und sie waren durchaus in der Mehrheit – immer wieder das Bild der deutschen Kulturhöhe, ja der Überlegenheit des deutschen Geistes über alle in den »Niederungen« der Zivilisation versumpfenden kapitalistischen Demokratien des Westens,5 in denen allein der an Genuss und Profit inte­ ressierte Zivilisations- und Konsummob den Ton angebe, während Men­ schen edlerer Gesittung, die noch an den Idealen einer moralisch höher gearteten Kultur festzuhalten versuchten, in diesen Ländern zusehends an Bedeutung verlören. Um dieser Entwicklung, die auch auf Deutschland überzugreifen drohe, das in den Jahren von 1923 bis 1929 im Zuge eines von den USA unterstütz­ ten wirtschaftlichen Booms, wie gesagt, erneut zur zweitstärksten Indust­ riemacht der Welt aufgestiegen war, Paroli zu bieten, bot deshalb die natio­ nalkonservative Bourgeoisie der Weimarer Republik geradezu alles auf, um wenigstens die Spitzenleistungen der deutschen Kultur vor diesem Trend ins Niedere, Trivialisierte und Massenhafte zu bewahren und sie weiterhin als ein Sanktuarium des unverfälschten deutschen Geistes zu erhalten.6 Statt wie in den USA auch den Bereich der Kultur dem marktwirtschaftlichen Prinzip von Angebot und Nachfrage und damit dem kleinsten gemeinsamen Nen­ ner zu unterwerfen, verlangten diese Schichten weiterhin eine nicht nach­ lassende staatliche Unterstützung aller höher gearteten Kultureinrichtun­ gen, ob nun der Theater, Opernhäuser, Symphonieorchester, Bibliotheken, Museen sowie anderer staatlicher und kommunaler Kultureinrichtungen. In den älteren Künsten lediglich etwas Privates zu sehen, erschien ihnen noch zu egoistisch, zu unverbindlich. Für sie war Kunst, wie gesagt, weiter­hin etwas Maßstabsetzendes, Vorbildliches, die gesamte Nation Ansprechen­ des. Daher wandten sie sich in aller Entschiedenheit sowohl gegen die immer krasser werdende Aufspaltung der kulturellen Bereiche in eine Fülle 194

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

verschiedener Teilkulturen als auch gegen die privatkapitalistische Verwirt­ schaftung der verschiedenen Kulturgüter. Statt im Rahmen eines pluralis­ tisch aufgeteilten ästhetischen Supermarkts die breite Masse der Bevölkerung mit bewusst trivialisierten Kulturprodukten abzuspeisen und den finanziell bessergestellten Schichten in der Delikatessenecke einige modernistische Luxuserzeugnisse anzubieten, verlangten sie mit nationalpädagogischem Ehrgeiz, die bisherige Hochkultur als ein wichtiges, wenn nicht gar als das wichtigste Vehikel bei der Erziehung der breiten Massen zu der seit langem ersehnten einen, großen, gebildeten deutschen Nation einzusetzen. Die einzigen Parteien, bei denen sie mit solchen Zielen Anklang fan­ den, waren in den späten zwanziger Jahren die rechts der Mitte stehenden, kurz  : die Deutschnationale Volkspartei und dann die Nationalsozialisti­ sche Deutsche Arbeiterpartei. Während die Sozialdemokraten ihren Anhän­ gern und Anhängerinnen auf kulturellem Gebiet lediglich ein wahlloses Konglomerat sogenannter klassischer und volkstümlicher Kunst anboten, die Kommunisten eine sowjetisch wirkende Agitprop-Kunst bevorzugten und die Deutsche Demokratische Partei den Sektor Kultur weitgehend ins Subjektivistische entideologisierte, maßen die rechten Parteien – in ihrem Bemühen, die besitz- und bildungsbürgerlichen Schichten für sich zu gewin­ nen – der deutschnationalen Kultur von Anfang an eine große Bedeutung zu. Nicht nur im Umkreis des Hugenberg­-Konzerns finden sich derartige Ergebenheitsadressen an die »Träger wahrer deutscher Kultur«, auch die prä­ faschistische Propaganda, unterstützt von Alfred Rosenbergs Kampfbund für deutsche Kultur, beschwor immer wieder die völkische, ja volksvereini­ gende Kraft der großen deutschen Literatur, Musik und Malerei, die den artbewussten Bürgern dieses Landes in Zeiten nationaler Erniedrigung den Glauben an die innere Stärke der deutschen Nation und ihrer kulturmissi­ onarischen Sendung zurückgegeben habe. Gerade in den Schriften der frühen Nazifaschisten wurde daher das, was sie als Kunst empfanden, als eine so hehre Angelegenheit hingestellt, dass es eine unverzeihliche Schande wäre, sie weiterhin den Profitmachern des privatkapitalistischen Aneignungsmarktes auszuliefern. Die hohe, 195

Kulturelle Verblendungssyndrome.

an­spruchsvolle Kunst, hieß es dort unentwegt, dürfe keine Reiche-Leute-­ Kunst, keine Cliquen­-Kunst, keine Connaisseur-Kunst, keine Sybariten-­ Kunst sein, sondern müsse sich an alle Menschen wenden.7 Solange sie lediglich eine Angelegenheit der finanziell bessergestellten Schichten sei, ver­ kümmere sie notwendig zu einer auf das Nouveauté-Karussell eingerasteten Ismen­-Kunst, das heißt werde lediglich wegen ihres modischen Sensations­ werts geschätzt und deshalb ständig inhaltsloser, abstrakter, unverbindlicher. Und somit sei sie für die breiten Massen nicht nur unerschwinglich, son­ dern zugleich belanglos geworden. Denn wo der Kunst keine gesamtgesell­ schaftlichen, mit anderen Worten  : keine großen nationalen Aufgaben mehr gestellt würden, ziehe sie sich zwangsläufig ins Cliquenhafte der kleinen Galerien, exklusiven Musica-Nova-Konzerte und versnobten literarischen Zirkel zurück, in denen ein preziöser Entre-nous-Gestus herrsche, mit dem sich eine gesellschaftliche Out-Group als gesellschaftliche In-Group aus­ zugeben versuche. Dementsprechend setzten die nationalkonservativen Bildungsschichten der späten Weimarer Republik auch in der Kunst ihre Hoffnung immer stärker auf ein neues, drittes Reich, in dem eine einheitliche, alle Menschen erfassende und emporhebende Leitkultur herrschen solle. Und dies sei, wie sie folgerten, nur in einem deutschnationalen Staat möglich, in dem es keine Klassenbarrieren mehr geben werde und sich die gesamte Bevölkerung zu einer »echten Volksgemeinschaft« zusammenschlösse. Was sie wollten, war demnach eine »Befreiung« der Kunst aus den Fesseln der kommerziellen Überfremdung, um ihr endlich wieder jene Würde einer gesamtgesellschaft­ lichen Verbindlichkeit zurückzuerstatten, welche sich nur aus einem verant­ wortungsbewussten Schaffen für das Volksganze ergebe. »Denn nur das ist wahre Kunst«, erklärte einer der führenden Nazifaschisten, »was auch der einfache Mann des Volkes begreift und verstehen kann.«8

II Als am 30. Januar 1933 die politische Macht und damit auch die Kulturho­ heit Adolf Hitler und seiner Partei übergeben wurde, war deshalb der breite 196

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

nationalkonservative Flügel der deutschen Bildungsbourgeoisie gar nicht so unzufrieden. Mit diesem Akt schien in den Augen dieser Menschen eine Ära anzubrechen, in welcher endlich die »Künstler«, also ein Maler wie Adolf Hitler, ein Kulturtheoretiker wie Alfred Rosenberg sowie ein Romancier wie Joseph Goebbels, ans Ruder kämen,9 von denen sich diese Gruppen eine Befreiung aus den erstickenden Umklammerungen der sogenannten roten, goldenen und grauen Internationale und damit eine entschiedene Aufwer­ tung aller spezifisch deutschen Kunstanschauungen versprachen. Sie hatten darum nichts dagegen, dass die Nationalsozialisten nach der vollzogenen Machtübergabe sofort darangingen, alle »artfremden« Elemente innerhalb des bestehenden Kulturbetriebs auszumerzen und stattdessen das seit der Romantik der frühen 19. Jahrhundert als spezifisch »deutsch« Empfundene in der Kunst zu akzentuieren. Zu diesem Zwecke richtete die NSDAP für alle Kunstarten sogenannte Reichskulturkammern ein, welche sämtliche künstlerischen Aktivitäten im neuen Reich zu überwachen hatten und dafür sorgen sollten, dass in Zukunft nur noch jene Kunst den gebührenden Vor­ rang erhielt, die sich in den Dienst einer nationalbewussten Leitkultur stellen würde. Was dadurch auf die Abschussliste der NS-Kulturzensoren geriet, war vor allem dreierlei  : 1. das betont Modernistisch-Elitäre, Konstruk­tivistische, Abstrakte, Dadaistische, Expressionistische und Zwölftönerische, 2. das sogenannte Nicht-Germanische, also das Negroide und Jüdische, sowie 3. alles Linke, Kommunistische oder Kulturbolschewistische. Einige dieser Klassifizierungen riefen bei eher liberaleren Vertretern und Vertreterinnen des bürgerlichen Rechtskonservativismus anfangs einen gewissen Unmut hervor, vor allem dann, wenn sie im Hinblick auf das Modernistische oder Jüdische allzu »banausisch« angewandt wurden. Ja, diesen Unmut teilte selbst ein Mann wie Joseph Goebbels, der anfangs eine relativ positive Meinung von einer Reihe deutscher Expressionisten hatte, die er gern von dem allgemeinen Verdammungsurteil dieser Rich­ tung ausgenommen hätte. Aber letztlich war die Mehrheit des deutschen Besitz- und Bildungsbürgertums mit den nazifaschistischen Kunstdoktri­ nen durchaus einverstanden. Schließlich hatte sie bereits in der Weimarer 197

Kulturelle Verblendungssyndrome.

Republik – unter anderem im Gefolge des Kunstwart oder der Schriften Paul Schultze-Naumburgs – alles angeblich Niedere, Abwegige, Modernis­ tisch-Überspannte oder an »Schmutz und Schund« Grenzende in der Kunst weitgehend abgelehnt und nur jenes Höhere, Klassische, Wohlgestaltete, kurz  : Edle in der deutschen Kunsttradition herausgestrichen, das noch nicht vom Makel der Klassenaufspaltung, Kommerzialisierung, Nivellie­ rung, Vermassung oder gar pornographischen Verhunzung gezeichnet sei. Und darum stellte sich ein Großteil dieser Schichten nach 1933 mit bestem Gewissen in den Dienst jener staatlichen Organe, die in manifestartigen Erklärungen für eine durchgreifende »Säuberung« der deutschen Kultur von allen niederen, ergo  : undeutschen Elementen eintraten. Im Bereich der Musik äußerte sich dieses Bemühen am nachdrücklichs­ ten in folgenden Tendenzen  : Einerseits kam es auf diesem Gebiet zu einer massiven Förderung alles Deutsch-Volkstümlichen, was sich vor allem bei gemeinschaftsstiftenden Festen, Aufmärschen, Wanderungen, Lagersitua­ tionen, Jugendfeiern und ähnlichen Anlässen einsetzen ließ. Aber auch die hohe deutsche Musik, ob nun barocken, klassischen oder romantischen Ursprungs, erfuhr staatlicherseits eine verstärkte Förderung, ja wurde sogar auf dem Lande und in Fabrikhallen aufgeführt, um so das ganze deutsche Volk und nicht nur die finanziell bessergestellten Kreise an diesem großen Kulturerbe teilhaben zu lassen und es mit einem neuen Stolz auf die Leis­ tungen seiner Vorfahren zu erfüllen. Selbst die weltberühmten Berliner Phil­ harmoniker unter Wilhelm Furtwängler stellten sich in der Dienst dieser Aufgabe und gaben in allen deutschen Städten begeistert aufgenommene Beethoven-Konzerte. Ja, Winifred Wagner bekannte sich rückhaltlos zu Hitler und lud ihren geliebten »Wolfi« immer wieder zu den Bayreuther Festspielwochen ein. Nicht mehr gespielt wurde dagegen jene Musik, welche diesen Kreisen bereits in den zwanziger Jahren als »entartet« erschienen war  : also alles Unbeseelt-Technizistische, Verjazzt-Amerikanisierte, Jüdische sowie jenes Tendenziös-Agitprophafte, das sich nicht für einen deutschen, sondern für einen internationalen Sozialismus eingesetzt hatte. 198

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

Abb. 28 Wilhelm Furtwängler dirigiert Beethoven im Saalbau zu Essen (1939)

Fast die gleichen Postulate wurden im Bereich der bildenden Künste auf­ gestellt. Auch hier galt in der Folgezeit alles innerhalb der Geschichte der deutschen Kunst als bedeutend oder zumindest akzeptabel, was vor dem in der Weimarer Republik zum Durchbruch gekommenen Unbeseelt-Techni­ zistischen, Expressionistischen, Jüdischen oder Kommunistischen, das heißt Anti-Nationalen im weitesten Sinne des Wortes entstanden war. Auch auf diesem Gebiet bemühte sich deshalb die NSDAP , solchen »verderb­ lichen« Tendenzen mit neuen volkspädagogischen Zielen entgegenzutreten, indem sie die Großwerke der deutschen Malerei von Albrecht Dürer, Lucas Cranach und Matthias Grünewald bis hin zu Adolph Menzel, Wilhelm Leibl und Hans Thoma den sogenannten breiten Massen des deutschen Volkes durch allgemein erschwingliche Kunstdrucke zugänglich zu machen ver­ suchte, um sie damit gegen die Produkte der bisherigen Kitschindustrie zu 199

Kulturelle Verblendungssyndrome.

Abb. 29 Rudolf Schlichter  : Ernst Jünger (1937)

immunisieren. Und auch auf den »Großen Deutschen Kunstaustellungen«, die ab 1937 im Münchener Haus der Deutschen Kunst veranstaltet wurden, gab es fast ausschließlich bewusst Bedeutsames oder Aufgeschöntes, ob nun markig wirkende Führergestalten und heroisch blickende Arbeiter der Faust

200

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

sowie altdeutsche Städtebilder, blühende Landschaften oder wohlgefällige Aktdarstellungen zu sehen. Ähnliches versuchten die Nazifaschisten auf dem Gebiet der Literatur, um auch hier ihre Ziele so schnell wie möglich durchzusetzen. Den Auftakt dazu bildeten die am 10. Mai 1933 von der NSDAP und der Deutschen Stu­ dentenschaft inszenierten Bücherverbrennungen, denen vor allem Werke jüdischer und kommunistischer Autoren und Autorinnen zum Opfer fie­ len.10 Danach wurden alle öffentlichen Bibliotheken von solchen Büchern gesäubert und zugleich nur solchen Schriftstellern und Schriftstellerinnen eine Publikationserlaubnis zugestanden, die sich entweder an die von der Partei vorgezeichneten ideologischen Parameter hielten, sich wie Hans Carossa, Manfred Hausmann, Ina Seidel, Frank Thiess und viele andere auf die herkömmlichen Lesebedürfnisse der gehobenen Mittelschichten ein­ stellten oder sich wie Ernst Jünger in seinem Roman Auf dem Marmorklippen (1939) zu einer edelkonservativen Inneren Emigration bekannten. Soviel – höchst skizzenhaft – zu den drei wichtigsten Kunstgattungen dieser Ära. Da hierüber bereits unzählige Bücher erschienen sind, kann man es bei einigen Andeutungen belassen. Was dagegen auf diesem Gebiet wesentlich seltener in den Vordergrund gerückt wurde, ist das Verhalten jener kulturbewussten Besitz- und Bildungsbourgeoisie, die sich damals mehrheitlich für diesen Kurs eingesetzt hatte und die es nach 1945 »nicht gewesen sein wollte«. Dementsprechend hat man in den Publikationen zur NS-Kulturpolitik seit Hildegard Brenner und Joseph Wulf immer wieder die unzähligen Parteiverordnungen, Zensurerlasse und Säuberungsaktio­ nen in den Vordergrund gerückt, um so das Unfreiheitliche, Diktatorische, Totalitaristische der Nazi-Herrschaft herauszustellen, ist aber selten oder nie darauf eingegangen, welch breite Zustimmung diese Verordnungen in den Anfangsjahren des Dritten Reichs in den Reihen seiner nur allzu willigen Anhänger und Mitläufer gefunden haben. Um dabei nicht in allzu weit gespannte Pauschalisierungen zu verfallen, die sich bei solchen knappen Überblicken ohnehin einstellen, sei wenigs­ tens kurz von jenen Spielarten dieser nationalkonservativen Gesinnung die 201

Kulturelle Verblendungssyndrome.

Rede, welche schon im Verlauf der Weimarer Republik aus dem Wilhelmi­ nisch-Monarchistischen immer stärker ins Protofaschistische übergingen, was vor allem für die Universitätselite der Jahre zwischen 1919 und 1933 gilt.11 Wie bei all solchen Gruppen gab es auch hier mehrere Untergrup­ pen, die sich – idealtypologisch gesehen – in drei Kategorien einordnen las­ sen  : 1. die wahrhaft Gläubigen, die 1933 tatsächlich hofften, dass mit dem Machtantritt der Nazifaschisten die höhere deutsche Kultur endlich ein alle Volksgenossen erhebendes und veredelndes Gemeingut werde, 2. die aristo­ kratisch Distanzierten, die zwar auch von der weltmissionarischen Größe der deutschen Kunst überzeugt waren, aber die von der NSDAP prakti­ zierten Taktiken für zu plump, halbgebildet oder kleinbürgerlich hielten, sowie 3. all jene Mitläufer, Opportunisten und Wendehälse, die sich bei jedem Regierungswechsel mit besonders übertriebenem Gesinnungseifer in den Vordergrund zu drängen versuchen. Lassen wir die Wendehälse oder »Märzgefallenen«, wie man damals sagte, einmal beiseite, und konzentrieren wir uns abschließend vorwiegend auf jene Gruppe des nationalkonservativen Geistes, die von dem Flügel der wahrhaft Überzeugten bis zum Flügel der aristokratisch Distanzierten reicht, welche man später in der Kategorie der Inneren Emigration untergebracht hat.12 Was der Gesinnung dieser Schicht, welche die ins »Höhere« zielen­ den Tendenzen der braunen oder angebräunten Kulturpolitik maßgeblich unterstützt und befördert hatte, ideologisch zugrunde lag, war vor allem Folgendes. Sie hoffte, jedenfalls vor 1933 und auch noch in den Anfängen des Dritten Reichs, dass die NSDAP tatsächlich einen zutiefst »nationalso­ zialistischen« Kurs einschlagen würde, um so einen neuen Gemeinschafts­ geist herbeizuführen und zugleich der von dieser Schicht so verehrten älte­ ren deutschen Leitkultur wieder zu einem maßstabsetzenden Einfluss zu verhelfen. Obwohl ökonomisch und sozial zur privilegierten Oberklasse gehörend, war diese Schicht in ihrer Grundgesinnung noch immer in einem idealistischen Sinne antikapitalistisch eingestellt, das heißt sie lehnte sowohl das modernistisch-elitäre Gehabe der neureichen Parvenüschichten als auch die als »Vermassung« empfundenen Demokratisierungstendenzen innerhalb 202

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

Abb. 30 Besucher auf der Ausstellung »Entartete Kunst« in München (1937)

der kommerziellen Kulturindustrie ab, die während der Weimarer Republik erstmals einen beträchtlichen Einfluss auszuüben begannen. Aus diesem Grund stimmten diese Kreise, zu denen vor allem viele der höheren Beam­ ten, Universitätsprofessoren, Oberschullehrer, Richter, Pfarrer und Ärzte gehörten, mehrheitlich mit fast allen ideologischen Absichtserklärungen der führenden Kulturfunktionären des Dritten Reichs und der von ihnen ver­ anstalteten Diffamierungskampagnen gegen die Kunst der Weimarer »Sys­ temzeit«, wie die Ausstellung »Entartete Kunst« (1937) sowie der Tagung »Entartete Musik« (1938), durchaus überein, welche sie in dem Gefühl bestärkten, weiterhin mit kulturellem Stellvertretungsanspruch als diejenige Bevölkerungsgruppe aufzutreten, welcher der geistige Führungsanspruch in einem neuen Reich deutscher Gesinnung zustehe.

203

Kulturelle Verblendungssyndrome.

Diesen Schichten erschien nicht die liberale »Verfreiheitlichung« als der höchste Wert, in der sie lediglich eine Gefährdung des deutschen Geistes und der hohen Kultur durch eine nicht aufzuhaltende Kommerzialisierung sahen. Sie erkannten sehr wohl, dass das marktwirtschaftliche Prinzip von Angebot und Nachfrage nur das »Niedere« befördern und damit zu einer Herabwürdigung aller höheren Werte führen würde. Ihr Anspruch auf Füh­ rung, auf Zensur, auf Nationalpädagogik hatte daher bei ihren besseren Vertretern zweifellos eine sozialbetonte Note. Manchen unter ihnen ging es – inmitten der sich immer weiter ausbreitenden Massenmedien – tatsäch­ lich darum, dem Besseren, Höheren, Edleren zum Siege zu verhelfen und damit den Deutschen endlich den Weg zu der einen, großen, gebildeten, kulturbewussten Nation zu ebnen. In diesem Punkt waren die Gutgläubigen unter den frühen Nazifaschisten durchaus nationalgesinnte Sozialisten, die in den höher gearteten Kunstprogrammen der NSDAP eine echte Utopie, nämlich die Sehnsucht nach einer allmählich zu sich selbst kommenden nationalen Leitkultur erblickten. Allerdings sahen sich gerade diese Hoffnungs- und Vertrauensvollen bereits nach wenigen Monaten oder Jahren getäuscht. Schließlich schaffte die NSDAP die sogenannten Massenmedien nach ihrem Machtantritt keineswegs ab, sondern ließ sie als Muntermacher zur Volksbelustigung durchaus weiterbestehen, ja weitete sie sogar aus, um die »breiten Massen«, wie sich Joseph Goebbels ausdrückte, stets bei »guter Laune« zu halten. Zugegeben, die nazifaschistischen Kulturfunktionäre förderten auch die anspruchsvolleren Künste, sehr energisch sogar, aber letztlich blieb die bis­ herige Spaltung in eine kommerzialisierte U­-Kunst und eine anspruchsvolle E-Kunst auch im Dritten Reich weitgehend erhalten. Und das musste die Idealisten innerhalb der Bildungselite, die sich von diesem Staat ein Reich der hohen, ja der höchsten Kultur und nicht ein ständiges Anwachsen der Schlager- und Filmkomödienproduktion versprochen hatten, zutiefst erbit­ tern. Was sie sich erhofft hatten, war eine an ältere Vorbildern orientierte nationale Leitkultur, in der ausschließlich das Höhergeartete den Ton ange­ ben würde. Doch dieser Traum erwies sich als ein leerer Wahn. Nicht die 204

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

von der bisherigen Bildungselite angestrebte nationale Kunst setzte sich als maßgebliche Leitkultur durch, sondern ein geschickt kalkuliertes Nebenei­ nander klassisch-romantischer, betont nazifaschistischer und vornehmlich massenmedialer Kulturkonzepte, mit denen die NS-Kulturfunktionäre allen Schichten der weiterhin in verschiedene Klassen gespaltenen deutschen Bevölkerung das ihnen Gemäße, wie es hieß, zu bieten versuchten. Und das gelang ihnen auch, zumal sie im Laufe der Jahre – im Gefolge von Joseph Goebbels – die Tendenz ins Unterhaltsame ständig verstärkten, um sich das Wohlwollen der »breiten Massen« zu erhalten.13 Vor allem als im Verlauf des Zweiten Weltkriegs die Stimmung in Deutschland zusehends mulmi­ ger wurde, förderte die NSDAP immer stärker eine ablenkende, sentimen­ tal-verkitschte oder zum Klamauk tendierende Unterhaltungskunst, durch welche der von den NS-Fanatikern herausgestellte »heroische« Charakter dieses Krieges fast eine makabre Note bekam.

III Doch zu diesem Zeitpunkt waren der geistidealistische Elan aus der Frühzeit des Dritten Reichs und der mit ihm verbundene Zukunftsglauben ohnehin verpufft. Was einmal den Anschein des Kulturbewussten, Gemeinschafts­ stiftenden, ja Sozialistischen erweckt hatte, war längst hinter einer brutalen Vernichtungs- und Welteroberungspolitik zurückgetreten, die alles nur noch zu ihren Zwecken instrumentalisierte. Und damit enthüllte sich, wie gesagt, der kulturelle Stellvertretungsanspruch der bürgerlichen Mittelschichten als ein hoffnungsloses Verblendungssyndrom. Schließlich ging es im Verlauf der dreißiger Jahre immer weniger um echte Gemeinschaft, echte Volks­ genossenschaft, echte kulturelle Verbundenheit, denen das Prinzip einer nationalen Solidarität zugrunde gelegen hätte. Was in diesem Bereich mehr und mehr den Ausschlag gab, war ein sozialdarwinistisches Führerprinzip, demzufolge nur die Stärkeren, die mit dem nötigen Durchsetzungsvermö­ gen ausgestatteten Menschen nach oben kamen, während die seelenvollen, kulturbetonten Menschen in einem solchen Reich notwendig den Kürze­ ren zogen oder als Staffagefiguren missbraucht wurden, mit denen sich der 205

Kulturelle Verblendungssyndrome.

NS-Staat selbst auf dem Gebiet der höher gearteten Künste den Anschein des Überlegenen und damit zur Weltherrschaft Berufenen zu geben versuchte. Und damit erwies sich das Dritte Reich für alle tatsächlichen »Kulturmen­ schen« als eine üble Falle, in die sie gutgläubig hineinstolperten und später große Mühe hatten, sich wieder aus ihr zu befreien oder in den Bereich der Inneren Emigration auszuweichen. Doch beklagen wir nicht nur die sich daraus ergebenden persönlichen Schicksale, deren Ursachen politische Naivität oder Unwissenheit waren. Wesentlich schlimmer an diesem Vor­ gang ist, dass dadurch vielen Vertretern und Vertreterinnen einer bürger­ lichen Hochkultur in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg der Mut genommen wurde, das Problem einer wahrhaft sozialbezogenen Leitkultur neu zu durchdenken und eventuell sogar in die Praxis umzusetzen. Die meisten von ihnen empfanden sich nach 1945 als »gebrannte Kinder« eines Regimes, das sie in ihrer Kulturgläubigkeit aufs Übelste missbraucht hatte, und zogen sich daher mehrheitlich in einen ideologischen Nonkonformis­ mus zurück, der auch im Bereich der Künste jedes Engagement für einen gesellschaftsverpflichteten Praxisbezug entschieden von sich wies. Selbst die hochgespannten Kulturerwartungen der in den fünfziger Jahren von den Meinungsträgerschichten in der BRD angestrebten Restaurierung der »Moderne« sowie die Kulturrevolte der westdeutschen Achtundsechziger haben daran später nicht viel geändert. Als Sieger auf all diesen Gebieten setzte sich im Rahmen der damaligen Wirtschaftswunderwelt das markt­ wirtschaftliche Prinzip von Angebot und Nachfrage durch, gegen das sich alle diese Wiederbelebungen oder Revolten als machtlos erwiesen. Und so blieb für die sogenannte anspruchsvolle E-Kultur letztlich nur ein kleiner Teilbereich im Rahmen jenes ästhetischen Supermarkts übrig, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung fast ausschließlich bei den ins Unterhalt­ same, Sensationelle oder Brutale kommerzialisierten Massenmedienpro­ dukten bediente. Es gab damals Kulturtheoretiker, die dies als einen Zuwachs an Moderni­ tät und Demokratie begrüßten. Aber es meldeten sich auch Kritiker zu Wort, die darin lediglich einen bedauerlichen kulturellen Niveauverlust sahen. Ich 206

Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite

glaube, beide dieser Reaktionen waren – genauer betrachtet – unsinnig, weil entwicklungsverhindernd. Denn was wirklich auf der Tagesordnung stehen sollte, um einer wahrhaft demokratischen Kultur die Wege zu ebnen, wäre weder eine E- noch eine U-Kunst, sondern eine sich zwischen diesen beiden Bereichen entfaltende A- oder Allgemeinkunst, die sich bemühen würde, mit sozialem Engagement und zugleich auf höchstem ästhetischem Niveau zu allen sich als gleichrangig empfindenden Staatsbürgern und Staatsbür­ gerinnen zu sprechen. Doch das ist ein »weites Feld«, das hier noch nicht weiter beackert werden soll.13

207

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen der frühen Bundesrepublik I Auch im deutschen Musikleben gab es nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes im Mai 1945 keine »Stunde Null«.1 All jene, die auf einen radikalen Neubeginn gehofft hatten, wurden schnell eines Schlechteren belehrt. Statt jener revolutionären Unruhe, die nach dem Ende des E ­ rsten Weltkriegs selbst die Künste erfasst hatte, verbreitete sich jetzt eine Lethar­ gie, ja Apathie, die vornehmlich jenen Schichten zugute kam, die an einer Aufrechterhaltung des Status quo interessiert waren. Zugegeben, spezifisch völkische oder gar nazifaschistische E- und U-Musikwerke traten erst einmal eine Zeitlang in den Hintergrund oder verschwanden völlig in der Versen­ kung. Doch ansonsten lief – besonders in den westlichen Besatzungszonen – alles wie gehabt  : In der E-Musik dominierte weiterhin die barock-klassisch-­ romantische Tradition, und zwar unter Einschluss aller religiösen Werke dieses Erbes, während im Bereich der U-Musik jene Linie fortgesetzt wurde, die von den Operetten eines Franz Lehar, Leo Blech und Robert Stolz bis zu einem Schlager wie den legendären Caprifischern von Ralph Maria Siegel und Gerhard Winkler reichte, der bereits 1943 entstanden war, jedoch erst 1946 zum größten Hit des Jahres wurde.2 Ja, diese beiden musikalischen Teilkulturen, für die man später die Begriffe E und U prägte, wurden damals noch gar nicht als sich wechselseitig ausschließende Gegensätze aufgefasst, sondern erschienen vielen Menschen – wie auf der Ebene der nazifaschis­ tischen Wunschkonzerte – noch durchaus komplementär. Wesentlich schwieriger hatte es dagegen in der unmittelbaren Nachkriegs­ zeit jene bewusst modernistische E-Musik, die von den Nazis entweder in den Hintergrund gedrängt oder gar als »entartet« diffamiert worden war. Um einer solchen Musik wieder eine gesamtgesellschaftliche Funktion zu 209

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

verleihen, hätte es nach 1945 irgendwelche soziopolitischen oder leitkul­ turellen Neuordnungskonzepte geben müssen. Doch solche Konzepte blieben – trotz der anerkennenswerten Bemühungen des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands – weitgehend aus. Die Gruppe der entschiedenen Antifaschisten, die dazu noch am ehesten fähig gewesen wäre, war einfach zu klein und wurde im Zuge des einsetzenden Kalten Krie­ ges nach 1947/48 ohnehin in den Hintergrund gedrängt. Selbst der linke Flügel der Sozialdemokraten unter Kurt Schumacher und Viktor Agartz verzichtete von Anfang an auf eine eigene Kulturpolitik. Und auch die völ­ kisch Gesinnten, die im Dritten Reich nur allzu weit nach vorn geprescht waren, hielten mit ihren Anschauungen erst einmal hinterm Berg. Es gab deshalb in den ersten Jahren nach 1945 kaum Konzepte für eine neue E-­Mu­ sik mit gesamtgesellschaftlichem Anspruch oder gesamtgesellschaftlicher Funktion. Die Trägerschicht dieser Musik blieb in diesen Breiten weiterhin jene kulturinteressierte und kulturfördernde Oberklasse, welche sich schon seit mindestens 150 Jahren als diejenige Bevölkerungsgruppe empfand, der in allen kulturellen Belangen ein eindeutiger Führungsanspruch zustehe. Was diese Kreise aufgrund ihrer herkömmlichen sozialen und ästheti­ schen Konditionierung unter E-Musik verstanden, war in erster Linie, wie gesagt, die barock-klassisch-romantische Tradition, gewisse Werke der Jahr­ hundertwende von Richard Strauss, Max Reger und vielleicht auch Gustav Mahler sowie die sich an diese Komponisten anschließende »Halbmoderne«. Es nimmt daher kein Wunder, dass diese Schicht nach 1945 innerhalb der herkömmlichen Symphoniekonzerte zwei Richtungen besonders scharf ablehnte  : 1. alle »engagierte« Musik vor allem rechter, aber nach dem 1947/48 einsetzenden Kalten Krieg auch linker Observanz sowie 2. alle »formalis­ tisch überspitzte« Musik, worunter sie vor allem die Zwölftonmusik Arnold Schönbergs und seines Kreises verstand, welche ihr nach den emotional auf­ wühlenden Erlebnissen im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg in den ersten Nachkriegsjahren als zu kalt, zu distanziert, zu ausgeklügelt erschien. Falls sich diese Schicht überhaupt auf modernistische E-Musik ein­ ließ, was selten genug geschah, dann wollte sie eine Musik, die sich von 210

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

allen Extremen fernhält und nicht den Bereich jener »Mitte« verlässt, der damals auch auf politischem und ideologischem Gebiet häufig beschworen wurde. Was sie im Rahmen der »hohen Kultur« und damit auch innerhalb der anspruchsvollen E-Musik bevorzugte, waren vornehmlich Beseeltes, Aufwüh­lendes, Religiöses, Melodisches, Tröstendes, Pathetisches, Heilen­ des, Tiefes, kurzum  : all jene noch immer als Inbegriff der großen deutschen Musiktradition geltenden Werke.3 Schließlich war gerade diese Hörerschicht auf die hehre »Frau Musica« besonders stolz. Mit ihr rechtfertigte sie den Anspruch, Vertreter einer hochbedeutenden Kulturnation zu sein – und wehrte damit nach 1945 jene Kollektivschuldthese im Sinne Henry Morgen­ thaus und Robert Vansittarts ab, nach der die Deutschen zu allen Zeiten einen »schlechten«, weil aggressiven Charakter besessen hätten. Was also diese Kreise innerhalb der modernistischen E-Musik noch am ehesten akzeptierten, war jene Musik, die sowohl handwerklich gekonnt, inhaltlich bedeutsam, ja vielleicht sogar religiös auftrat und zugleich den Hauptprinzipien der Tonalität treu geblieben war. Und diesen Anspruch erfüllte damals am besten ein Komponist wie Paul Hindemith, dessen Name daher in den nach 1945 neu gegründeten Musik- und Kulturzeitschriften geradezu auf Schritt und Tritt begegnet.4 Vor allem seine Oper Mathis der Maler wurde von ihnen als die »erste große künstlerische Kundgebung eines ›besseren‹ Deutschlands nach 1945« empfunden, wie Heinrich Strobel im Januar 1947 in Melos schrieb,5 da sie alle diese Erwartungen voll befriedige. Von den jüngeren Komponisten, deren Geburtsdaten in die Zeitspanne zwischen 1907 und 1926 fielen und die sich in ihren Werken sowohl an Hindemith als auch an anderen Vertretern der gemäßigten Moderne wie Igor Strawinsky, Darius Milhaud oder Arthur Honegger orientierten, waren es vor allem Boris Blacher, Johann Nepomuk David, Werner Egk, Wolf­ gang Fortner, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze, Rolf Lieber­ mann, Carl Orff, Ernst Pepping und Hermann Reutter, die sich bei den an modernistischer E-Musik Interessierten einer gewissen Beliebtheit erfreuten. Besonders anerkannt waren anfänglich jene Werke, die ins Expressiv-Ge­ fühlsgeladene, Religiöse oder Musikantische tendierten, das heißt an jene 211

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Traditionen anknüpften, die auch unter dem Faschismus nicht ganz ver­ boten, ja zum Teil sogar höchst erwünscht waren. Fast alle diese Kompo­ nisten gehörten zu jener Gruppe, die im Jahre 1933 Deutschland nicht zu verlassen brauchte und sich daher, von einem im Dritten Reich verfemten Antifaschis­ten wie Karl Amadeus Hartmann einmal abgesehen, einen gewis­ sen Grad an Bekanntheit bewahrt hatte. Was jedoch über die moderierte Klangwelt dieser Halbmoderne hinaus­ ging, wurde auch in den oft als besonders »offen« hingestellten Nachkriegs­ jahren weitgehend abgelehnt. Und das waren vor allem Komponisten, die schon in den zwanziger Jahren, wie Hanns Eisler, zu einer größeren politi­ schen Radikalität oder, wie Arnold Schönberg, Alban Berg, und Anton Webern, zu einer größeren formalen Radikalität tendiert hatten. So gab es damals selbst in der an sich allem Neuen durchaus aufgeschlossenen Zeitschrift Melos Stimmen, welche der Zwölftonmusik eine »unmäßige Langeweile« vorwarfen und grundsätzlich bezweifelten, ob in einer so sektiererischen Richtung überhaupt ein Keim zu »einer neuen und ent­ wicklungsfähigen Kunst« stecke.6 Demzufolge wurden die Aufforderun­ gen H. H. Stuckenschmidts, Schönberg nicht länger als einen »fischböcki­ gen Außenseiter« zu behandeln,7 sowie die verschiedenen Bekenntnisse zu Schönberg aus der Feder Siegfried Rufers und Theodor W. Adornos anfangs kaum wahrgenommen. Überhaupt hielt sich in diesen Jahren eine tiefe Abneigung gegen alles radikal Andersartige, was Heinz Pringsheim 1947 zu dem verzweifelten Ausruf veranlasste  : »Alles was aus dem Rahmen des Hergebrachten heraustritt und wirklich neuartig ist, wird von 99,3/4 Pro­ zent der Zeitgenossen als ungehörig und ›verrückt‹ empfunden.«8 Daran änderten auch einige für die »Neue Musik« eintretende Dirigenten, wie Ferenc Fricsay und Hans Rosbaud, die seit Oktober 1945 von Karl Ama­ deus Hartmann in München veranstalteten Musica viva-Konzerte, die Dar­ bietung »avantgardistischer Werke« durch verschiedene Rundfunkanstalten, der Einsatz einer Zeitschrift wie Melos oder die seit 1946 in Kranichstein bei Darmstadt stattfindenden Ferienkurse für »Neue Musik« sowie die Donau­ eschinger Musiktage relativ wenig. 212

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Die Abneigung gegen eine radikal modernistische E-Musik, die bereits in den zwanziger Jahren eingesetzt hatte,9 blieb also auch in diesen Jahren weiter bestehen. Dissonante, atonale oder betont formalistische Komposi­ tionen war nun einmal keine Musik, welche die ältere Bildungsbourgeoi­ sie, die auf Melodik, gefühlsmäßigen Tiefgang, Religiosität oder zumindest erkennbare Humanität bestand, als »höhere Musik« empfand. All das emp­ fanden sie weiterhin als jene Musik, von der Hanns Eisler bereits in den späten zwanziger Jahren geschrieben hatte, dass sie eigentlich (fast) niemand hören wolle.10 Doch um 1930 hatten sich Männer wie Eisler und Adorno im Hinblick auf die als avantgardistisch geltende E-Musik à la Schönberg noch immer hochgespannten Illusionen hingegeben  : Adorno behauptete damals, dass in Zukunft selbst der Arbeiterklasse Schönbergs Musik wie Öl in die Ohren eingehen werde, während Eisler in jenen Jahren ebenso hoff­ nungsfroh verkündet hatte, dass man später das durch Schönberg bereitge­ stellte musikalische Material einmal so weit umfunktionieren werde, dass sich daraus eine ganz neue, sozialistische Musikkultur entwickeln lasse.11 Diese Zukunft war jetzt angebrochen – und es zeigten sich keinerlei Anzei­ chen, dass Adorno oder Eisler recht behalten würden. Was sich deshalb zwischen 1945 und 1949 in den drei Westzonen eta­ blierte, war ein E-Musik-Betrieb, in dem sich, wie gesagt, im Bereich der modernistisch klingenden Gegenwartsmusik jene »Halbmoderne« als füh­ rende Stilformation durchsetzte, deren Werke zwar von dem herkömmli­ chen Konzertpublikum ohne allzu großes Murren wie ein offizielles Pflicht­ pensum absolviert wurden, die aber selten auf wirkliche Gegenliebe stießen. Das lag sicher weniger an diesem Publikum, dem von den Wortführern die­ ser Richtung häufig mangelnde Aufgeschlossenheit für das Neue vorgewor­ fen wurde, als an der betreffenden Musik selbst. Indem sich diese Musik zum größten Teil in geräuschhaften, ja ins Unverständliche verfremdeten Formen darbot, musste sie geradezu zwangsläufig auf Unverständnis stoßen. Werke, die lediglich auf ihren Materialcharakter pochten und mit formalistischen Innovationen aufwarteten, interessierten damals lediglich die sogenann­ ten Kenner, mit anderen Worten  : die für musikalische Werkstattprobleme 213

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Aufgeschlossenen, aber nicht eine breitere Hörerschicht. Wo diese Musik dagegen im Bereich des Gefühlshaften, Humanen, Religiösen, Pazifistischen blieb, brachte man ihr durchaus Wohlwollen entgegen. Es war deshalb nicht so sehr die Unfähigkeit dieses Publikums als die elitäre Absicht der Komponisten und der sie unterstützenden Kritiker, die nach 1945 schnell zu einer fortschreitenden Spaltung in schroff voneinander abgeschlossene musikalische Teilkulturen führte und somit eine mögliche Relevanz der modernistischen E-Musik verhinderte.12 Da ihre Proponen­ ten fast alle Brücken ins Gesamtgesellschaftliche abbrachen, das heißt nicht mehr eine Musik für die Vielen, sondern eine Musik für die Wenigen ins Auge fassten, begaben sie sich immer stärker ins gesellschaftliche Abseits, ja entwickelten sogar einen besonderen Stolz darauf, von den Allermeisten nicht verstanden zu werden. So unterschied etwa H. H. Stuckenschmidt schon 1947 im ersten Jahrgang der Zeitschrift Stimmen unter dem Titel Was ist bürgerliche Musik  ? scharf zwischen einer »populären Musik, die sich in ihren Mitteln nach dem Bedarf der Massen richtet«, und einer »weniger populären«, die sich an einen »nicht allzu großen Kreis gleichgestimmter, geistig fortgeschrittener Menschen« wenden solle.13 Kein Zweifel, dieser Abkehr von der »Masse« lagen anfangs noch deut­ lich antifaschistische Affekte zugrunde. Das Bewusstsein, sich nach 1945 nicht mehr ideologisch festlegen zu müssen, sondern wieder zu jenen Intel­ lektuellen zu gehören, die »zwischen allen Stühlen« sitzen dürfen, hatte für viele Kritiker und Komponisten etwas Faszinierendes. Doch es verführte sie zugleich zu grotesken Alternativen. So schrieb etwa Günter Kehr 1948 in Melos unter der bewusst aufreizenden Überschrift Intellektuelle Arroganz  : »Lieber ein dekadenter Intellektueller als ein gefährlicher Kraftprotz sein, der ›gesunden‹ Hordenmentalität ergeben.«14 Und auch Heinrich Strobel wandte sich im gleichen Blatt gegen all jene, die sich noch immer nach »unserem ›herrlichen‹ Volkskonzert« zurücksehnten.15 Anstatt sich ernsthaft mit dem nazifaschistischen Anspruch einer wahren Volkstümlichkeit ausei­ nanderzusetzen, in dem schließlich ein »depravierter Sozialismus« steckte, wie Bertolt Brecht höchst einsichtsvoll geschrieben hatte,16 knüpften diese 214

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Kreise einfach an den halb pluralistischen, halb snobistisch-elitären E-MusikBetrieb der späten zwanziger Jahre an, das heißt sie entwickelten überhaupt kein neues Konzept dafür, wie man selbst der anspruchsvolleren Musik wie­ der eine gesamtgesellschaftliche und damit leitkulturelle Note geben könne. Schließlich war das Publikum, welches viele der führenden Musikkritiker nach 1945 ins Auge fassten, weiterhin jene ältere Bildungsbourgeoisie, die sich seit langem als die maßgebliche Trägerschicht dieser Musik empfunden hatte, sich jedoch durch den Verlust ihres jüdischen Anteils, ihrer Korrum­ pierung durch den Nazifaschismus oder auch ihres Rückzugs in die soge­ nannte Innere Emigration allmählich aufzulösen begann – und sich lieber an Großwerken der musikalischen Tradition oder an Kompositionen einer relativ melodiös klingenden Halbmoderne erbaute, als sich mit irritierenden und sie emotional unbefriedigt lassenden Experimenten abzugeben. Aller­ dings hatten viele Vertreter dieser Hörerschicht nicht mehr jenes ungebro­ chene Selbstbewusstsein, in sich selbst immer noch die Hauptrepräsentanten einer »Hohen Kunst für Jedermann« zu sehen. Demzufolge erreichte die eher formalistisch orientierte Richtung des musikalischen Modernismus, die sich im Zuge der Abkehr vom Nazifaschismus und des beginnenden Kalten Kriegs mit seinen verschiedenen Totalitarismustheoremen jeder inhaltlichen Verpflichtung entzog und daher immer inhaltloser, esoterischer, formalisti­ scher wurde, in der unmittelbaren Nachkriegszeit nur eine höchst marginale Schicht von Musikinteressierten.

II Eine Änderung dieser Verhältnisse trat erst mit der Gründung der Bundes­ republik im Herbst 1949 ein. Nach diesem Zeitpunkt kam es plötzlich zu einer seltsamen Verkehrung der bisherigen Fronten innerhalb jenes E-Mu­ sik-Betriebs, der sich neben der Pflege des barock-klassisch-romantischen Erbes auch der Gegenwartsmusik annahm. Um es gleich vorwegzuneh­ men  : Jene Halbmoderne, die sich aufgrund ihrer Tonalität, ihrer Melodik sowie ihrer humanistischen oder religiösen Inhaltlichkeit wenigstens einer gewissen Beliebtheit erfreut hatte, war in der Adenauer-Ära plötzlich »out«, 215

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

während jene eher atonale, dodekaphonische, abstrakte Musik eines Arnold Schönberg und seiner Schule plötzlich als »in« galt. Wie konnte es eigentlich zu diesem Umschwung kommen  ? Wer waren die Organisatoren oder auch Hörerschichten, die einen solchen Wandlungsprozess begünstigten  ? Wel­ che Kreise versprachen sich einen ideologischen Nutzen davon  ? Und was für Folgen hatte das Ganze für die höchst prekäre Situation jener moder­ nistischen E-Musik, die manche Musikliebhaber vor 1950 bereits auf die Aussterbeliste gesetzt hatten  ? Beginnen wir mit den ideologischen Aspekten. Auf diesem Gebiet for­ mierte sich um 1950 eine deutliche Frontstellung zwischen jenen Musik­ kritikern, Journalisten und Komponisten der Altbourgeoisie, welche auf dem Gebiet der E-Musik noch immer an ihrem älteren Führungsanspruch festzuhalten versuchte und daher ihren traditionsverpflichteten Geschmack zum Vorbild für alle Schichten der deutschen Bevölkerung erhob, sowie jenen Musikkritikern, Journalisten und Komponisten des »liberalen« Flügels der Bourgeoisie, der diesen Anspruch mehr und mehr aufzugeben begann und sich ins elitäre Abseits begab. Und diese Konfrontation führte zwangs­ läufig zu einem unversöhnlichen Nebeneinander postfaschistisch-nationaler Musikkonzepte auf der einen und liberalistisch-elitärer Musikkonzepte auf der anderen Seite, wodurch die anspruchsvolle E-Musik ihre zuvor bean­ spruchte Allgemeinverbindlichkeit zusehends einbüßte. Den auf die Gesamtheit der Nation bezogenen Standpunkt, der jede elitäre Absonderung als Verrat am älteren Gemeinschaftsdenken empfand, vertraten hierbei vor allem folgende Gruppen und Einzelautoren  : Da wären erst einmal die Beiträger der Bärenreiter-Zeitschrift Musica, die zwar inner­ halb der neueren E-Musik die jugendbewegte, musikantische oder religiöse Halbmoderne eines Paul Hindemith oder Hugo Distler durchaus unterstütz­ ten, sich aber in aller Schärfe gegen die »Revolution in Permanenz« jener »Zwölftontechniker« wandten, denen es in erster Linie um das »Konstruk­ tive«, aber nicht um die »nationalen« oder »religiösen« Belange einer mit höchsten Ansprüchen auftretenden Musikausübung gehe.17 Was sie diesem Trend entgegensetzen, war die Idee einer »musischen Bildung«,18 die sich im 216

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Gefolge der bündischen Singe- und Instrumentalbewegung an den gemein­ schaftsstiftenden Charakter der älteren oder gemäßigt modernen Haus-, Kirchen-, Jugend-, Schul- und Volksmusik halten solle. Autoren wie Georg Götsch, Fred Hamel, Hermann Keller, Walther Krüger, Andreas Liess und Wilhelm Maler verwarfen daher in Musica nicht nur den ins »Formalistische« degenerierten Charakter innerhalb der sogenannten Neuen Musik, sondern auch jede Form einer trivialisierten Unterhaltungsmusik, worunter sie vor allem die immer mächtiger anschwellende U-Musik in den elektronisch gesteuerten Massenmedien verstanden, die nur noch einen Zerstreuungs-, aber keinen Sammlungseffekt mehr habe. Was sich in den kapitalistisch kommerzialisierten Massenmedien abspiele, sei nicht die immer dringender werdende Rückbesinnung auf wahrhaft Geistiges oder Seelisches, sondern die Einebnung aller Musik im Rahmen eines musikalischen Supermarkts oder einer »akustischen Gemischtwarenhandlung«, wie Fred Hamel 1957 schrieb, wodurch selbst die höchste Musik zur bloßen »Geräuschkulisse« degradiert werde.19 Um dieser Entwicklung effektiv entgegenzutreten, for­ derte darum Hamel in der musikalischen Praxis eine konsequente Rückkehr zu den »drei lauteren Quellen des abendländischen Kulturerbes«, nämlich »dem Folkloristischen, dem Humanen und dem Sakralen«.20 Eine noch schärfere Position in diesem Zweifrontenkrieg gegen die Esoterik der for­ malistisch orientierten E-Musik auf der einen und die kommerzialisierte Massenmusik auf der anderen Seite bezogen Alois Melichar in Musik in der Zwangsjacke (1958) und Schönberg und Folgen (1960), Hans Schnoor in Harmonie und Chaos. Musik der Gegenwart (1962) sowie Walter Abend­ roth in Selbstmord der Musik  ? Zur Theorie und Phraseologie des modernen Schaffens (1963), die selbst zur massiven Rückgriffen auf faschistisches oder faschisiertes Gedankengut nicht zurückschreckten, um ihren gemeinschafts­ betonten Musikkonzepten die nötige Provokation zu geben. Die Gegenseite berief sich hingegen bei ihren Konzepten einer pluralis­ tisch offenen Gesellschaft auf jene Totalitarismustheorien, die Karl R. Pop­ per 1945 in seinem Buch The Open Society and its Enemies vertreten hatte, und stellte alle Forderungen nach einer gesamtgesellschaftlichen Relevanz 217

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

von Musik als nazifaschistisch oder kommunistisch hin – je nachdem, in welchen Diskussionszusammenhang solche Argumente gerade passten. Ihr Hauptkriterium war darum nicht die gesamtgesellschaftliche Funktion einer angeblich neuen E-Musik, sondern ihre durch den allerseits verkün­ deten Pluralismus ermöglichte Sonderexistenz in irgendeiner Nische des allgemeinen Kulturbetriebs. Diese Richtung hatte deshalb gegen die Idee eines musikalischen Supermarkts nichts einzuwenden. Im Gegenteil, unter Verzicht auf eine neue Leitkultur begrüßte sie eine solche musikalische Gemischtwarenhandlung, solange diese auch eine Abteilung besaß, wo sich die ihrem sezessionistischen Gourmetgeschmack entsprechenden avant­ gardistisch aufgeputzten Abnormitäten befanden. Sie bedauerten daher alle Kunstfreunde, die in totalitären Regimen ihre ästhetische Neigung dem Geschmack der Niedersten anpassen müssten, und priesen sich selbst glücklich, in einer Welt der »westlichen Freiheit« leben zu dürfen, wo es den feindsinnigen Künstlernaturen durchaus freistehe, sich in aller Offenheit über den schlechten oder auch nur zurückgebliebenen Geschmack jener Spießer, Philister und Banausen lustig zu machen, über die sich bereits die Romantiker weidlich mokiert hätten. Dieser Gruppe konnte es demzufolge in der modernistischen E-Musik gar nicht elitär, esoterisch, formalistisch, experimentell, hermetisch genug zugehen. Je unverständlicher, hieß es in diesen Kreisen, desto besser. Schließlich war es gerade der intellektu­ elle Anspruch, selbst das Unverständliche verstehen zu können, mit dem diese Gruppe ihren ästhetischen und gesellschaftlichen Sonderstatus zu behaupten suchte. Und zwar wandte sich hierbei ihre Polemik gegen irgendwelche gemein­ schaftsverpflichteten Relevanzansprüche sowohl gegen äußere als auch gegen innere Feinde. So griff etwa Theodor W. Adorno, der in den fünfziger Jah­ ren schnell zu einem der Hauptsprecher dieser Richtung wurde, einerseits 1953 in seinem Aufsatz Gegängelte Musik die Enge der Musikpolitik hinter dem »Eisernen Vorhang« an, was ähnlichen vom Kalten Krieg angeheizten Ausfällen gegen die sowjetische Musikpolitik dieser Jahre in der Zeitschrift Melos entspricht,21 und wandte sich andererseits 1956 in seinem Aufsatz 218

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Abb. 31 Theodor W. Adorno (um 1955)

Kritik am Musikanten gegen jene jugendbewegten Musica- und Bärenreiter-­ Tendenzen, die ihm genauso »entfremdet« erschienen wie die kommerziali­ sierte »Spontaneität« des Jazz oder ähnlicher U-Musik-Produkte. Was er und andere Vertreter dieser Richtung als bedeutsam gelten ließen, waren lediglich solche Werke, deren Wertschätzung einen besonders elitären Geschmack voraussetze. Alles andere erschien Adorno zusehends als »Provinz«,22 worin letztlich ein spätbürgerlicher Drang nach Bevorzugung, wenn nicht gar Privi­legierung des von den breiten Massen stets »Verkannten« zum Ausdruck kommt. Gerade er verteidigte daher den »anonymen Markt der bürgerlichen Zeit«, wie es in seinem Aufsatz Gegängelte Musik heißt, gern als die einzige der persönlichen Freiheit dienliche Marktsituation, die dem Künstler genug 219

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Raum lasse, um von der gängigen Norm »abzuweichen«, ja begrüßte diese Abweichung geradezu als ein »Signal der Genialität«.23 Für Volk, Nation, Masse oder Kollektiv – gleichviel ob im guten oder schlechten Sinne – hatten daher die Vertreter dieser Richtung nicht viel übrig. Ihnen ging es nicht um die Belange der Anderen, sondern nur um die eigenen Belange. Sie fühlten sich als eine Vorhut jener Kenner, die den »Normalhörern« stets um mehrere Nasenlängen voraus seien. Was man in den liberal-pluralistischen Zeitschriften und Rezensionen der fünfziger Jahre liest, ist darum immer wieder das Lob jener Musik, die sich bewusst gegen den allgemeinen Massengeschmack stemme und damit ihren Beitrag im Kampf gegen das »Totalitäre« leiste. Dies sei die »musica reservata« für die Wenigen, wie es 1955 auf der letzten Seite von Hans Renners Geschichte der Musik heißt. In Melos wurde sie als die »Musik für die ›happy few‹« hinge­ stellt, die nur der Kunst »dienen« wollen.24 H. H. Stuckenschmidt schrieb 1955, dass alle große Musik immer »esoterisch«, ja »nutzlos« gewesen sei und darum in den legendären »elfenbeinernen Turm« gehöre.25 Er pries deshalb jene Fürstin Marie-José, die sich in ihrer Villa am Genfer See mit einigen geladenen Gästen an modernster Musik delektiere,26 sowie jenen Fürsten Max Egon zu Fürstenberg, der jedes Jahr zu exklusiven Musiktagen nach Donaueschingen einlade.27 Überhaupt verteidigte Stuckenschmidt in diesen Jahren auf höchst penetrante Weise stets eine »Musik gegen jeder­ mann«, die völlig »zweckfrei« sei, das heißt einem L’art pour l’art-Absolutis­ mus huldige und selbst mit »einer noch so kleinen Gruppe von Hörern« keinen Kompro­miss schließen dürfe.28 Und auch Adorno beteuerte damals geradezu unentwegt, dass sich jede anspruchsvolle Musik dem Prinzip des Elitären verschreiben müsse. Besonders verhasst war ihm darum neben allem nationalen Getue jene christliche, existentialistische oder jugendbewegte Erneuerungspose, die ständig in den Bereich des »Eigentlichen« ziele. Wie alle »Ohne-mich«-Vertreter dieser Jahre setzte demzufolge auch Adorno – im Zuge der von dieser Gruppe geforderten Entnationalisierung, Entideologi­ sierung und Entgesellschaftung – das Wesen höchster Musik immer wieder mit Esoterik und Hermetik gleich. Indem sie sich freiwillig in die Isolierung 220

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

begebe, sich aus der Öffentlichkeit ausschließe und nur noch das »Abwei­ chende«, das »Andersartige«, das »Neue« als ihre höchsten Kriterien aner­ kenne, heißt es bei ihm, leiste sie alles, was eine solche Kunst-im Zeitalter der alles nivellierenden Massenmedien überhaupt noch zu leisten vermöge. In diesem Punkt hielt sich Adorno strikt an jene Maxime Schönbergs, der am 26. Juni 1945 in einem Brief an William S. Schlamm erklärt hatte  : »If it is art, it is not for the masses. If it is for the masses, it is not art.«29

III Es nimmt daher nicht wunder, dass gerade Stuckenschmidt und Adorno die Musik eines Schönberg als das eigentliche Vorbild aller modernistisch orientierten E­-Musik schlechthin hinstellten. Seine Kompositionen fanden sie in einem idealen Sinne konstruktivistisch, avanciert, hermetisch ver­ schlüsselt und damit entromantisiert, entnationalisiert, entgesellschaftet. Während die eher konservativen Kritiker, die auf einer gesamtgesellschaft­ lichen Relevanz aller Musikformen bestanden, diesen Hang zur Abstraktion im Zeichen von Humanität, Religion und Folklore aufs schärfste verur­ teilten, ließen deshalb sie und andere Vertreter derselben Richtung in den nächsten Jahren nicht davon ab, gerade diese Abstraktheit als unabdingbare Forderung wahrer Modernität herauszustreichen. Der gleiche Unterschied zwischen diesen beiden Lagern zeichnete sich in ihrem Verhältnis zu jener trivialisierten Massenmusik ab, die bereits damals als »Muzak« bezeichnet wurde. Während die Konservativen diese Musik am liebsten völlig verbannt sehen wollten, um nicht ständig mit dem Niederen, Seelenverschmutzen­ den konfrontiert zu werden, sahen die Schönberg-Anhänger in der triviali­ sierten U- oder Massenmusik eine ideale Negativfolie, vor der sie sich mit ihren hochgespannten Abstraktheitskonzepten umso brillanter abheben konnten. Gerade diese Musik gab ihnen das beruhigende Gefühl, anders zu sein als die Anderen – und verlieh ihnen damit einen ästhetischen und gesellschaftlichen Sonderstatus, der deutlich ans Narzisstische grenzt. Wäh­ rend also die konservativen Kritiker aufgrund ihrer idealistischen Hoffnung, den Gesamtverlauf der bürgerlich kapitalistischen Musikentwicklung noch 221

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

einmal umkehren zu können, stets von der Idee der Restaurierung der älte­ ren Hoch- und Volkskultur ausgingen, stellten ihre Gegner aufgrund ihrer kulturpessimistischen Überzeugung, dass sich die Aufspaltung des Musik­ betriebs in verschiedene Teilkulturen ohnehin nicht ändern lasse und der Rückzug auf das eigene Ich oder eine kleine Gruppe von Kennern noch das Beste sei, wie bereits in den zwanziger Jahren der Flut der ­massenhaften U-Musik lediglich das Konzept einer bürgerlich-­antibürgerlichen Anders­ artigkeit entgegen. Allerdings verstanden sie diese Haltung nicht mehr in jenem revolutionären Sinne, mit dem noch die expressionistische oder dadaistische Avantgarde aufgetreten war, sondern lediglich im Sinne des technisch Avancierten oder Novitätssüchtigen. Was schon um 1920 in den Kompositionen eines Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern vornehmlich als innermusikalische Innovation gedacht war, verflachte daher in den frühen fünfziger Jahren zu einem musikalischen Modernismus, der im Rückbezug auf solche sezessionistischen Tendenzen von vornherein auf jede gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit, ja selbst auf einen neuen leitkultu­ rellen Stilbegriff verzichtete, in dem sich das Bekenntnis zu einer epochalen Wende manifestierte hätte. Der sich nach 1950 im Bereich der modernistischen E-Musik in der Bundesrepublik abzeichnende Trend gleicht deshalb keineswegs einem tief­ greifenden Paradigmenwechsel. Zugegeben, die Vertreter der sogenann­ ten Halbmoderne, also Komponisten wie Paul Hindemith, Carl Orff oder Werner Egk, traten jetzt allmählich in den Hintergrund und machten den Vertretern jenes Modernismus Platz, als deren Hauptrepräsentanten die Meister der sogenannten zweiten Wiener Schule galten. Während man sich in den Jahren zwischen 1945 und 1949 von der Musik eines Schönberg noch kühl distanziert hatte, wurde diese Musik jetzt als Inbegriff alles wahr­ haft Neuen und Andersartigen ausgegeben. Dies wird nicht nur von einem Komponisten dieser Jahre wie Hans Werner Henze,30 sondern auch von vielen der späteren Musikwissenschaftler bestätigt.31 Eine wichtige Start­ hilfe leisteten hierbei die Philosophie der neuen Musik (1949) von Theodor W. Adorno, in der die Musik Schönbergs – in scharfer Frontstellung gegen 222

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Abb. 32 Transkription der 4. Variation des 2. Satzes von Anton Weberns Symphonie (1928)

Igor Strawinsky und Béla Bartók – als die »Neue Musik« schlechthin, ja als die einzige »Flaschenpost« zu noch ungeahnten Ufern bezeichnet wird,32 sowie die 1951 erschienene Schönberg-Monographie von H. H. Stucken­ schmidt. Ähnlich enthusiastische Bekenntnisse zu Schönberg finden sich kurze Zeit später in Melos.33 Und so wurde die Zwölftontechnik der zweiten Wiener Schule im Laufe weniger Jahre für viele der jüngeren, ja selbst für manche der älteren Komponisten zum wichtigsten Vorbild eines wahrhaft modernistischen Komponierens. Während es in den frühen fünfziger Jahren vornehmlich Schönberg war, an dem sich diese Gruppen orientierten, stieg nach 1955 eher die Kompositionstechnik seines Schülers Anton Webern zum alles überragenden Leitbild auf. Webern, der noch in den zwanziger Jahren als ein »kurioser – vielleicht durchaus beachtlicher – Sonderfall fürs Raritätenkabinett« gegolten hatte, wie es 1960 in Melos hieß, galt plötzlich als das »Maß aller Dinge«.34 Welche Wirkung diese Anlehnung an Schönberg und Webern im Bereich der seriellen, strukturellen, punktuellen, informellen, konkreten, aleatori­ schen und elektronischen Musik der fünfziger Jahre hatte, ist oft beschrieben 223

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

worden und braucht hier nicht noch einmal ausführlich dargestellt zu wer­ den. Jedenfalls kam es durch all diese Strömungen, zu denen sich selbstver­ ständlich auch die Einflüsse anderer Komponisten, vor allem John Cages und Edgard Varèses, gesellten, zu einem immer größeren I­ ntonationsschwund, einer fortschreitenden Internationalisierung und damit einem zunehmen­ den Abstraktionsgrad innerhalb der modernistischen E-Musik, so dass Hans Curjel schon 1960 von einer »Weltsprache« dieser Art von Musik sprechen konnte.35 Kein Wunder daher, dass die sogenannte Neue Musik, die im Sinne der fortschreitenden Fetischisierung des musikalischen Materials glaubte, end­ lich völlig zu sich selbst gekommen zu sein, in den späten fünfziger Jahren immer selbstbewusster auftrat. Wie die gegenstandslose Malerei, die 1959 auf der zweiten Kasseler documenta ihren Triumph der »Balken, Kreise und Striche« feiern konnte, verlor auch sie die letzten Skrupel, irgendwel­ che Konzessionen an die Tonalitäts- oder Melodieerwartungen der meis­ ten Konzertbesucher oder Schallplattenkäufer zu machen. Und zwar gilt dies im Rahmen der westlichen Welt vor allem für die Bundesrepublik, wo die modernistische E-Musik wegen ihrer verstärkten Entnationalisierung, Abstrahierung und Internationalisierung im Zuge der ökonomischen und militärischen Westintegrierung eine besonders lebhafte Unterstützung der öffentlichen Hand wie auch vermögender privater Mäzene erfuhr. Das lässt sich unter anderem an der Programmgestaltung der verschiedenen interna­ tionalen Ferienkurse und Musiktage für modernistisch orientierte E-Musik, vor allem der in Darmstadt und Donaueschingen, belegen. Hier hatte man bis 1949, wie gesagt, im Bereich der deutschen Musik vornehmlich die Werke »halbmoderner« Komponisten wie Harald Genzmer, Ottmar Gers­ ter, Karl Amadeus Hartmann, Paul Hindemith und Heinrich Sutermeister gespielt.36 Ab 1950 wurden dagegen bei den gleichen Ferienkursen und Musiktagen neben den Werken der Wiener Schule und Ausländern wie Pierre Boulez, John Cage, Bruno Maderna, Olivier Messiaen, Luigi Nono, Pierre Schaeffer und Edgard Varèse von den Deutschen fast nur noch die Werke jener Komponisten aufgeführt, die sich dem eher »abstrakten« Stil 224

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

anschlossen, also die von Giselher Klebe, Karlheinz Stockhausen, Winfried Zillig und Bernd Alois Zimmermann.37 Für diese Entwicklung lässt sich eine stattliche Reihe von Gründen anfüh­ ren  : Dass es gerade in der Bundesrepublik zu einem so nachdrücklichen Bekenntnis zum Internationalismus und zu einem allgemeinen »Ideologie­ verdacht« kam, ist nach den Erfahrungen unter dem Nazifaschismus nicht weiter verwunderlich. Doch das allein reicht als Erklärung für diesen Abstrak­tionsprozess nicht aus. Schließlich vollzog sich diese Entwicklung zugleich im Umfeld einer verstärkten Frontstellung gegen jenen Sozialisti­ schen Realismus hinter dem »Eisernen Vorhang«, unter dem sich die meisten Westdeutschen der fünfziger Jahre – aufgrund der durch den Kalten Krieg verursachten unaufhörlichen Hetze gegen die »DDR« – nur eine künstle­ risch völlig minderwertige Politkunst vorstellen konnten. Aber nicht einmal das allgemeine Antitotalitarismus-Gerede, bei dem zwischen Faschismus und Kommunismus ohnehin kein qualitativer Unterschied gemacht wurde, liefert genügend Anhaltspunkte zum Verständnis dieses fortschreitenden Abstraktionsprozesses der damals als modernistisch ausgegebenen E-­Mu­ sik. Um der restaurierten »Neuen Musik« im Rahmen der direkten oder indirekten Kulturpolitik der fünfziger Jahre wirklich zum Sieg zu verhelfen, dazu mussten noch ganz andere, nicht nur ideologische, sondern auch rein materielle, soziale und ökonomische Faktoren ins Spiel kommen. Schließ­ lich kann man einen neuen Stil, in diesem Fall den Stil der Abstraktion, nicht allein mit Programmen und Manifesten kreieren, ja nicht einmal allein mit Preisen, Stipendien, Tagungen, Spätveranstaltungen in Dritten Programmen, Musica viva-Konzerten, Internationalen Ferienkursen oder Festtagen für modernistische Musik, dazu ist zugleich eine soziale Träger­ schicht vonnöten, die einer solchen Musik die nötige Neugier, ja Aufnah­ mebereitschaft entgegenbringt. Nun, diese Trägerschicht hat es auch gegeben, womit wir bei der entschei­ denden Frage der musikalischen Teilkulturen wären, selbst wenn diese Trä­ gerschicht in den fünfziger Jahren die Ein-Prozent-Grenze der westdeutschen Bevölkerung eher unter- als überschritten haben dürfte. Welche Statistiken 225

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

man auch durchblättert  : Der Prozentsatz jener, der sich damals für moderne E-Musik interessierte, war fast noch kleiner als in den zwanziger Jahren. Ob man die Programmangebote der Rundfunkanstalten, die Konzertpro­ gramme der größeren Symphonieorchester oder den ­Bielefel­der Katalog studiert,38 immer wieder kommt man zu dem Ergebnis, dass der Anteil der modernistischen E-Musik im Vergleich zum Anteil der barock-klassisch-ro­ mantischen E-Musik an sich kaum in die Waagschale fällt und dement­ sprechend auch der Käufer- und Interessentenkreis dieser Art von Musik verschwindend klein gewesen sein muss. Wahrscheinlich handelte es sich hierbei um eine höchst gemischte Schicht aus freischwebenden Intellek­ tuellen, anpassungsbereiten Journalisten, modebewussten Snobs, auf das Nouveauté­-Wesen eingestellte Komponisten, mit dem Schein des Neuen leicht zu blendende Jugendliche höherer Bildungsgrade sowie gewisse neu­ reiche Manager, Freiberufliche oder höhere Angestellte, die Wert darauf legten, als »modern« zu gelten und sich um 1955 ihre Wohnungen als im »fashionable« geltenden magnum-Stil einrichten ließen. Jedenfalls war die Trägerschicht dieser Musik nicht mehr jene bildungsbewusste Altbourgeoisie, die vor 1950 unter anspruchsvoller Musik noch immer etwas Erbauliches, Tiefgefühltes oder auch handwerklich Gekonntes, Repräsentatives verstan­ den hatte. Im Konzertsaal gehört oder auf Schallplatten gekauft wurden deshalb die Werke der sogenannten Neuen Musik nicht von den bürgerli­ chen Althörern, die weiterhin Meisterliches bevorzugten, sondern eher von den Informationssüchtigen unter den Parvenüs des westdeutschen »Wirt­ schaftswunders« oder jenen, die als Intellektuelle im Hinblick auf diese Entwicklung weitgehend die Haltung eines konformistischen Nonkonfor­ mismus einnahmen. So hörten etwa die Parvenüs damals die Werke eines Pierre Boulez, Karl­ heinz Stockhausen oder Anton Webern durchaus neben anderen musika­ lischen Ausdrucksformen wie dem Cool Jazz oder dem Rock ’n’ Roll der fünfziger Jahre. All das erschien ihnen als »modern«, als »in«, als »with-it«. Während also bis 1949/50 in den führenden Kunst-, Kultur- und Musik­ zeitschriften noch ein enormer Sinnhunger geherrscht hatte, der sich vor 226

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Abb. 33 Karlheinz Stockhausen (um 1955)

allem am Tiefen, Philosophischen, Klassischen, Abendländischen abzusät­ tigen suchte, setzte sich innerhalb dieser Schichten ein Erfolgs- und Auf­ stiegsdenken durch, dessen oberste Werte Dabeisein oder Auffallenwollen waren. Die ältere Musik, die früher oft als Kompensation für nichtgelebtes Leben herhalten musste, empfanden deshalb diese Kreise zusehends als obsolet. Vor allem jene Aufsteiger, welche das bisherige Gerede von Krieg und Nachkrieg nicht länger ausstehen konnten, hatten für Anklagendes, Religiöses, Humanistisches, Appellartiges keinen Bedarf mehr. Sie woll­ ten lieber Modernistisches, Abstraktes, Experimentelles, Unverbindliches 227

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

hören, um so zu demonstrieren, wie sehr sie die »Moderne«, das heißt die technische Innovation, das Schicke, das Originelle, das Abweichende, das Neue um des Neuen willen zu schätzen wüssten. So viel zu den Parvenüs. Für die Intellektuellen innerhalb dieser Schicht erfüllte dagegen diese Musik eine etwas andere Funktion. Sie gab ihnen das erwünschte Gefühl, der »dummen breiten Masse«, die immer noch am Tonalen und Melodiösen klebe, ästhetisch und geistig turmhoch überlegen zu sein. Ihre Elitevorstellung leitete sich weitgehend aus dem Bewusstsein ab, für etwas Sinn zu haben, was sonst fast niemand zu schätzen wisse, das heißt »anders« zu sein als die Anderen. Während nach 1945 selbst in die­ sen Schichten noch viel von Volk, Nation und gemeinsamem Schicksal die Rede war, entwickelte sich daher innerhalb der an modernistischer E-Mu­ sik interessierten Intellektuellenkreise zwischen 1950 und 1960 ein Jargon, in dem sich vornehmlich der Stolz auf ein elitäres Außenseiterturn wider­ spiegelt. Ob nun bei Konzerten, in den Feuilletons oder den Salons dieser Schicht  : Überall herrschte der sprachliche Entre-nous-Gestus des Schwerund Unverständlichen. Das Wort »Avantgarde«, das dabei manchmal auf­ taucht, wurde in diesem Umkreis nur noch im Sinne der inneren und äuße­ ren Selbstlegitimierung gebraucht. Wer sich zur Avantgarde zählte, waren jetzt lediglich jene, die sich einzig und allein für die Produkte der moder­ nistischen E-Kultur interessierten und alles in den Bereich der U-Kultur Gehörige höhnisch von sich wiesen. Während sich in den tieferen Regionen des Gesellschaftslebens in den fünfziger Jahren auch kulturell eine immer stärkere Standardisierung und Homogenisierung des Massengeschmacks vollzog,39 erfreute sich diese Intelligenz kritiklos an den ästhetischen Pro­ dukten eines ghettoartigen Modernismus, der trotz seiner formalen »Radi­ kalität« einen gesamtgesellschaftlich unverbindlichen Charakter hatte. Wenn also im Hinblick auf die E-Musik der fünfziger Jahre von einer leitkulturellen Avantgarde oder einem neuen Stil gesprochen wird, sollte man stets bedenken, dass dies lediglich die »Moderne« einer winzig kleinen Schicht der westdeutschen Bevölkerung war. Aber schon dieser minimale Prozentsatz genügte, um dieser Stilformation in den führenden Organen 228

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

und Organisationen der westdeutschen Gesellschaft eine dominante Rolle zuzusichern, ja als die »Neue Musik« schlechthin anerkannt zu werden. Die Klangwelt dieser Musik stieg daher in der Periode der Adenauer-Ära zum offiziösen Stil eines restaurierten Modernismus, ja zum sogenannten In-Stil und damit zum obersten Maßstab aller dazugehörigen In-Groups auf. Und solange sich die führende In-Group dieser Gesellschaft als ein­ flussreich erwies, erwies sich auch diese Musik als einflussreich. Innerhalb eines solchen Machtgefüges, dem es gelang, sich politisch, ökonomisch und gesellschaftlich gegen alle kritischen Elemente weitgehend abzuschirmen, hatte deshalb jede gesamtgesellschaftlich orientierte E-Musik nur geringe Chancen, ihren Widerspruch anzumelden oder gar als neue Stilformation aufzutreten. Im Rahmen dieser Gesellschaft konnte es nur eine moder­ nistische E-Musik des interessierten Ungefallens geben, die inhaltlich so entleert war, dass sie wie die abstrakte Malerei, mit der sie oft verglichen worden ist,40 ins Gegenstandslose und damit indirekt Affirmative überging.

IV Alle kritischen Reaktionen gegen die Stilformation der »Abstraktion« blie­ ben darum solange ineffektiv, solange die Unteren von solchen Problemen überhaupt keine Notiz nahmen, das heißt sie sich mit den Produkten der für sie hergestellten Massenunterhaltung begnügten, und sich die soge­ nannte Intelligenz größtenteils einer unverbindlichen Ohne-mich-Hal­ tung verschrieb. So gesehen, ist die »Neue Musik« dieser Jahre ein ästhe­ tisch prägnanter Ausdruck jenes konformistischen Nonkonformismus, der sich aus Angst vor der Gefahr einer neuen »Ideologisierung« weigerte, sich auf irgendeine Weltanschauung festzulegen. Eine Kritik an dieser Art von Musik kam deshalb, wie gesagt, anfangs fast ausschließlich aus den Reihen jener älteren Bourgeoisie, die sich schon in den Jahren nach 1945 gegen die Anfänge dieser Richtung zu stemmen versuchte. Übelster Mief mischte sich dabei mit höchst gerechtfertigten Argumenten. Da gab es Humanis­ ten und Christen, welche die Entmenschung oder Entgöttlichung dieser Musik beklagten, hochmütige Bildungsbürger, die sich über den schlechten 229

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Geschmack der neureichen »Wirtschaftswunderfritzen« lustig machten, aber auch verbohrte Nationalisten, welche lediglich die fortschreitende Entdeut­ schung der Gegenwartsmusik bedauerten. Besonders interessant ist hierbei die Kritik jener Völkischen und Konservativen, die weiterhin ihren frü­ heren Idealen treu zu bleiben versuchten und darauf hinwiesen, wie viele Anhänger der sogenannten Moderne einmal opportunistisch eingestellten Nazi­faschistischen gewesen seien, die sich heute durch einen Überfanatis­ mus nach der anderen Seite von ihren ehemaligen Sünden reinzuwaschen suchten.41 Doch solche Stimmen verhallten weitgehend ungehört. Selbst von einer linken Kritik, sofern sie sich überhaupt artikulierte oder artikulieren konnte, drang damals nur wenig in die breitere Öffent­ lichkeit ein. So wurde etwa jene grundsätzliche Kritik, wie sie Hanns Eisler in seinem Brief nach Westdeutschland von 1951 formulierte, in dem er auf die politischen und gesellschaftlichen Ursachen für den im Westen immer krasser werdenden Gegensatz zwischen E- und U-Musik einging,42 in der Bundesrepublik kaum diskutiert. Für eine wahrhaft »moderne« E-Musik, heißt es hier, interessiere sich heute in der BRD nur noch jene zu »Grup­ pen von Cliquen, Sekten, Adepten, Zirkeln« zusammengeschrumpfte bür­ gerliche »Bildungselite«, die von Tag zu Tag immer kleiner werde.43 Im Gegensatz zu den meisten konservativen Kritikern der sogenannten neuen E-Musik forderte jedoch Eisler in diesem Brief nicht einfach eine Rückkehr zu Tonalität und Melodie, sondern stellte die Frage nach der Funktion einer solchen Musik wesentlich »konkreter«, indem er nicht bloß abstrakt von der gesamtgesellschaftlichen Verbindlichkeit aller hohen Kunst sprach, son­ dern auch die Inhalte, ja die Weltanschauung einer solchen Musik in seine Überlegungen einbezog. Während sich die bürgerlichen Musica-Beiträger eine neue Volkstümlichkeit der gegenwärtigen E-Musik vornehmlich von einer drastischen »Vereinfachung« der musikalischen Mittel versprachen, gab Eisler dabei keineswegs den einmal erreichten »Standard« der bisher erreichten modernistischen Kompositionstechniken auf, bemühte sich aller­ dings, diese in den Dienst einer allgemeinen gesellschaftlichen Veränderung in Richtung auf Humanität und Sozialismus zu stellen. Sein höchstes Ziel 230

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

war eine Musik, die mit der Idee der Menschheit wieder »auf Du und Du« stehen würde, wie das auch Thomas Mann 1947 in seinem Doktor Faustus gefordert habe.44 Doch ein solches Postulat, für das es im Westen überhaupt keine sozialpolitischen Voraussetzungen für eine ähnlich geartete musika­ lische Leitkultur gab, musste in der Bundesrepublik notwendig auf Unver­ ständnis stoßen. Ja, die Ironie des Ganzen war, dass gerade das »Konkrete« einer solchen Forderung in diesen Breiten – angesichts der steigenden Flut der über die Massenmedien vermittelten U-Musik – als hoffnungslos ide­ alistisch und damit veraltet galt. Noch am ehesten wahrgenommen wurde in diesem Land die kulturpes­ simistische Kritik eines Adorno an gewissen Überspitzungen der neuesten E-Musik, die allerdings – gesamtgesellschaftlich gesehen – reichlich unver­ bindlich blieb. Das gilt vor allem für seinen Aufsatz Das Altern der Neuen Musik, der 1955 in der Zeitschrift Der Monat erschien und innerhalb der einschlägigen Zirkel lebhafte Diskussionen auslöste. Adorno wandte sich in ihm erbittert gegen jene zwölftönerischen Schönberg-Epigonen, bei denen sich ein Konformismus der Abstraktion breit mache, der zusehends ins Technizistische und damit Unpersönliche ziele. Während in der »heroischen Zeit« der »Neuen Musik« zwischen 1910 und 1925, wie er schrieb, der aus­ schlaggebende Faktor stets der Impuls des »Neuen« gewesen sei, herrsche in der heutigen »Musikfestmusik« eine »Akkommodation an den Zeitgeist« bzw. ein »Radikalismus, der nichts mehr koste«, der das »Neue« nur noch »verwalte« und schließlich ins Nichtssagende »verdünne«.45 An die Stelle des »Aufstörenden und selber Verstörten« im Sinne einer geradezu unge­ zügelten »Subjektivität«, wie man sie noch bei den Vertretern der Wiener Schule finde, sei um 1955 eine entsetzliche Normalität des Unnormalen getreten.46 Selbst in den experimentellsten Werken herrsche gegenwärtig eine serielle »Gesetzlichkeit« oder auch nur »technische Masche«, die auf einen »Kultus der Unmenschlichkeit« hinauslaufe, durch den der Begriff des »Radikalen« fast den Charakter des »Ratzekahlen« angenommen habe.47 Ein ehemals »kritisches Musikpotential« werde hier einfach ins »falsch Positive« verkehrt und bewirke so eine »falsche Befriedigung« noch immer unerfüllter 231

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

Wünsche.48 »Der Begriff des Fortschritts verliert sein Recht«, erklärte er schließlich apodiktisch, »wo Komponieren zur Bastelei, wo das Subjekt, dessen Freiheit die Bedingung avancierter Kunst ist, ausgetrieben wird.«49 Wahrhaft »authentisch« erschienen deshalb Adorno in diesem Aufsatz nur jene Werke der »Neuen Musik«, denen ein tieferes Gefühl für das Katastro­ phenhafte der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse zugrunde liege, das heißt in denen sich der »künstlerische Widerstand« gegen die »totalitäre« oder »verwaltete« Welt in ästhetischen Formen manifestiere, die von einer »hoffnungslosen Vereinzelung« ihrer Schöpfer zeugten.50 Aber mit solchen Theorien war eigentlich niemandem geholfen. Den im Bereich der Musik von sich selbst entfremdeten Massen lediglich das Prinzip einer alles sprengenden Subjektivität entgegen zu stellen, lief letzt­ lich auf eine Affirmation jener elitären Konzepte hinaus, die sich schon bei den sezessionistisch eingestellten Ästheten der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik finden. Jedenfalls lieferten solche Thesen keinen kon­ struktiven Beitrag zu der immer dringlicher werdenden Frage, auf welche Weise die zeitgenössische E-Musik wieder in einen sinnvollen Wechselbezug zur Gesamtgesellschaft treten könne. Sollte sie dabei eine wegweisende, eine repräsentative, eine erbauliche oder eine kritische Funktion übernehmen  ? Doch für solche Fragen waren die späten fünfziger Jahre, in denen im Zuge der allgemeinen Ohne-mich-Gesinnung alles auf den bereits beschriebenen konformistischen Nonkonformismus hinauslief, eine höchst ungünstige Zeit. Daher las selbst der ansonsten rebellisch auftretende Hans Magnus Enzensberger in seinem Aufsatz Die Aporien der Avantgarde, der sich in vie­ lem an die Argumente Adornos anschloss, jenem Modernismus, bei dem sich alles ins Abstrakte der »Unbestimmtheit« und »Leere« verdünne und der sich dafür sogar noch »staatlich fördern« lasse,51 noch im Jahre 1962 lediglich die Leviten, anstatt ihm zugleich das Leitbild einer neuen Avant­ garde entgegenzustellen, die durch den Anschluss an bestimmte progres­ sive Bewegungen wieder eine gesellschaftliche Relevanz bekommen würde.5 Doch bis zu einer solchen Umbesinnung mussten noch einige Jahre ins Land gehen. Genau betrachtet, kam es erst seit Mitte der sechziger Jahre 232

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen

im Zuge der verschärften Vergangenheitsbewältigung sowie der kritischen Haltung der Studentenbewegung und der sich zehn Jahre später an sie anschließenden ökologischen, feministischen und pazifistischen Bewegun­ gen wieder zu einer Folge von leitkulturellen Avantgardekonzepten, die über das Ästhetische hinaus auch ins Gesellschaftliche, ja Gesamtgesellschaftli­ che vorzustoßen suchten. Diese Bestrebungen haben danach der E-Kunst innerhalb der Literatur und des Films zweifellos eine Reihe neuer Impulse gegeben und sie dadurch – wenigstens teilweise – aus ihrer elitären Abseits­ stellung befreit. Im Rahmen der modernistischen E-Musik ist dagegen eine solche gesellschaftsbezogene Neubelebung bisher ausgeblieben.54

233

Das große U und das kleine E. Zur Medienkultur des Neoliberalismus

I Unter »Kultur« wird heute vieles verstanden. Einige meinen damit immer noch die Kultur der Bildungsbeflissenen, die sich durch ihre Vorliebe für höhere Literatur, Theateraufführungen, Museen, Opernhäuser und philhar­ monische Konzerte, kurz  : für die verschiedenen Ausprägungen der soge­ nannten E-Kultur auszuzeichnen versuchen. Andere sprechen dagegen eher nonchalant von Esskultur, Wohnkultur, Reisekultur, wenn nicht gar Kos­ metik- oder Wellnesskultur, falls sie sich überhaupt auf solche Begriffsdis­ kussionen einlassen. Ja, es gibt sogar Menschen, die behaupten, Kultur sei letztlich das, »wie der ganze Mensch lebt«, was einerseits sehr anspruchsvoll klingt, andererseits auf eine Binsenweisheit hinausläuft.1 Dass dem nicht immer so war, weiß jeder kulturgeschichtlich halbwegs Gebildete. Solange in Deutschland noch klare ständestaatliche Vorstellun­ gen herrschten, also vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein, exis­ tierten nicht nur auf politischem und sozioökonomischem, sondern auch auf kulturellem Sektor völlig andere Konventionen. Da gab es eine Hoch­ kultur der Herrschenden, in der die geistlichen und weltlichen Würden­ träger das Sagen hatten, und da gab es eine Volkskultur, die sich vor allem in Liedern, Tänzen, festlichen Umzügen, der Bauweise der Häuser sowie den kunsthandwerklichen Produkten der bäuerlichen und frühstädtischen Bevölkerungsschichten ausdrückte. Eine Änderung in dieser Hinsicht trat erst ein, als sich im 16. Jahrhundert die Stadtbürger allmählich bereicher­ ten und schließlich im Zuge der Aufklärung des 18. Jahrhunderts nicht nur politisch und sozial, sondern auch kulturell ein nachdrückliches Mit­ sprache-, ja Selbstbestimmungsrecht anzumelden begannen. Auf kunst­ philosophischer Ebene kulminierte dieses emanzipatorischen Bestreben bekanntermaßen 1790 in der Kritik der Urteilskraft von Immanuel Kant, 235

Das große U und das kleine E

in welcher die Werke der höheren Kultur, also Kunstwerke mit höchstem ästhetischem Anspruch, als etwas hingestellt wurden, was »man« – womit die bürgerlichen Bildungsschichten gemeint waren – mit »interesselosem Wohlgefallen« betrachten solle, um derartige Werke ein für allemal dem Herrschaftsanspruch der Höfe und der Kirchen zu entziehen.2 Diese Forderung war zwar radikal gemeint, jedoch so abstrakt formuliert, dass sie sich auch in einem ästhetizistischen Sinne, nämlich als Postulat einer subjektiven Kunstautonomie deuten, wenn nicht gar bewusst missverste­ hen ließ. Und genau das trat im Laufe des 19. Jahrhunderts ein. Selbstver­ ständlich wurden auch in dieser Ära, in der viele Herrscher weiterhin die Vorstellung von »Thron und Altar« aufrechtzuerhalten suchten, noch eine stattliche Anzahl höfisch oder klerikal überformter Kunstwerke geschaffen. Aber daneben entstand zugleich ein verstärktes Streben nach einer rein bürgerlichen Kultur, die sich von den bisherigen Herrschaftskonventio­ nen des ersten und zweiten Standes frei zu machen versuchte. Und dieses Bemühen gipfelte – nach verschiedenen Ansätzen – schließlich um 1900 in einem forcierten Ästhetizismus, welcher sich vor allem im Bereich jener »machtgeschützten Innerlichkeit« ausbreitete, der ein Autor wie Thomas Mann seine wirkungsmächtige Stimme lieh. Erst jetzt formierte sich jenes Bürgertum, das als diejenige Bevölkerungsschicht auftrat, der in Fragen »Kultur« ein alleiniger Stellvertretungsanspruch zustehe. Und damit brach in der ökonomischen Hochkonjunkturphase zwischen 1892/93 und 1914 – als plötzlich eine stattliche Zahl verschiedener Kunststile, unter anderem der Impressionismus, die Neuromantik, der Symbolismus, der Jugendstil und die Heimatkunst, miteinander zu konkurrieren begannen, welche trotz der Unterschiede ihrer ästhetischen Gestaltungsmittel in ihrer spezifisch bürgerlich-sezessionistischen Mentalität relativ gleichgeartet waren – jene hohe Zeit einer bildungsbürgerlichen Leitkultur an, die zwar in der mör­ derischen Katastrophe des Ersten Weltkriegs nicht völlig unterging, aber doch einen schweren Schlag erhielt. In der Weimarer Republik, deren Führungsschichten unter fortschrei­ tender Demokratisierung weitgehend eine sich in alle Bereiche des Lebens 236

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

ausbreitende Kommerzialisierung verstanden, was viele Linke mit höhni­ schen Worten als »Börsenhumanismus« abkanzelten, stieg zwar das Bürger­ tum mit Hilfe der Sozialdemokraten, welche erst die monarchische Regie­ rungsform beseitigt hatten und danach alle Putschversuche von rechts und links niederschlagen ließen, zur führenden Macht im Staate auf, wandte aber seine Hauptenergien nicht mehr dem kulturellen, sondern dem ökono­ mischen Sektor zu. Zugegeben, auch ältere Kulturformen, wie Gemälde, Dramen oder Opern, konnten noch in modernistischen oder neusachli­ chen Überformungen weiterhin Aufsehen erregen, büßten aber viel von ihrem bisherigen feudalistischen oder bildungsbürgerlichen Statuscharakter ein und machten zusehends jener Medienkultur Platz, bei der nicht mehr das im älteren Sinne Stilvolle oder Ästhetisch-Wertbetonte, sondern das Modisch-Kommerzialisierte im Vordergrund stand.3 Und dazu gehörten vor allem künstlerische Ausdrucksformen wie Filme, Fotos, Schlager, Schall­ platten, Revuen, Modetänze und Radiofeatures, mit denen sich schnellere Umsätze und damit größere Profite als mit E-Kunstwerken erzielen ließen, kurzum  : wo nicht mehr das Prinzip der »Aura«, sondern das der »techno­ logischen Reproduzierbarkeit« dominierte, wie es Walter Benjamin später formulierte.4 Hiermit waren alle Voraussetzungen für jene kommerzialisierte Medien- oder auch Eventkultur gegeben, wie sie sich in einem wesentlich größeren Maßstab bereits in den USA als herrschende Leitkultur entwi­ ckelt hatte. Dass sich diese Prozesse in der Weimarer Republik und in den Ver­ einigten Staaten fast synchron vollzogen, hing keineswegs von Zufällen ab. Schließlich waren dies die beiden Staaten, die 1929 in der Weltrang­ liste der Industrienationen den von anderen Ländern oft beneideten ersten und zweiten Platz einnahmen. Dass sich dieser Vorgang in den USA noch krasser abspielte als in Deutschland, ging weitgehend darauf zurück, weil es dort keine feudalistischen und auch nur geringe bildungsbürgerliche Traditionen gab, die sich dieser Entwicklung in den Weg gestellt hätten. Demzufolge herrschte in den Vereinigten Staaten schon in den zwanzi­ ger Jahren jene weitgehend kommerzialisierte »Kulturindustrie«, wie sie 237

Das große U und das kleine E

Theodor W. Adorno später genannt hat,5 die sich am Prinzip des »nie­ dersten Nenners« orientierte, um damit den höchstmöglichen Profit zu erzielen. H. L. Mencken, einer der wenigen kulturkritischen Geister in den USA, fasste diese Einstellung bereits um 1930 in der bissig-verzweifel­ ten Bemerkung zusammen  : »No one ever went bankrupt in this country, underestimating the taste of the general public.« Dieser Mann wusste also schon damals, dass damit die kapitalistische Marktwirtschaft – zumindest in diesem Lande – auch auf kulturellem Sektor endlich ganz zu sich selbst gekommen war. Während jedoch diese Verhältnisse in den USA seitdem zum Dauerzustand wurden und eine nicht zu überwindende Herrschaft der seit vielen Jahrzehnten fetischisierten Jazz-, Folk and Country- sowie Rock’n’Roll-Musik, des mit Krimi-Elementen durchsetzten Bestsellers, der Romance Novels, der Glamour-Effekte des Musicals, der Soap Operas im Fernsehen und der stereotypen Handlungsstränge vieler Hollywood-Filme bewirkten, haben in Deutschland nach 1933 und dann nach 1949 zwei politische Regime versucht, dieser Entwicklung Paroli zu bieten. Das eine war das Dritte Reich, das andere die Deutsche Demokratische Republik, die beide – wenn auch mit höchst unterschiedlichen ideologischen Zielset­ zungen – der älteren Hoch- oder E-Kultur staatlicherseits eine erhebliche Förderung zuteilwerden ließen. Unter dem Nationalsozialismus geschah das aus folgenden Gründen  : Obwohl sich die 1933 zur Macht gekommene Partei dieses Staates als Arbei­ terpartei ausgab und angeblich eine gleichgeschaltete Volksgemeinschaft anstrebte, versuchten ihre Führer, auch die ältere Bildungsbourgeoisie für ihre Ziele zu gewinnen und unterstützten demzufolge unter deutschnati­ onaler Perspektive ein reiches E-Kulturprogramm, in dem die bisherigen Formen des Dramas, der Oper, des Ölgemäldes, der Skulptur und des »guten Buchs« eine nicht zu übersehende Privilegierung erfuhren. Doch das war nur die eine Seite der NS-Kulturpolitik. Wohl wissend, dass die sogenannten breiten Massen der Bevölkerung seit der Weimarer Republik vor allem Unterhaltungsgenres wie die Boulevardkomödie, den Schlager, die Operette, den Lustspielfilm, die Tanzmusik, den Populärroman sowie den 238

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

Röhrenden Hirsch auf den Bildern der Trivialmalerei bevorzugten, ließen es die dafür Verantwortlichen in diesen Jahren auch an Produkten der auf geringere Bedürfnisse eingestellten Kulturindustrie keineswegs fehlen, was erheblich zum wohlkalkulierten Massenappeal der NS-Bewegung beigetra­ gen hat. Statt lediglich eine parteiamtliche Kunst zu unterstützen oder nur die hehren Werke der Großepochen der künstlerischen Vergangenheit als die allein gültigen Manifestationen einer neuen Leitkultur in den Vorder­ grund zu rücken,6 hielten sich die NS-Kulturfunktionäre mehrheitlich an die kaum veränderten Geschmackspräferenzen jener 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung, welche weder über eine mittlere noch eine höhere »Reife« ver­ fügten und sich aufgrund ihrer harten Tagesarbeit am Abend, am Wochen­ ende oder in den Ferien lediglich nach möglichst eingängigen Unterhal­ tungseffekten sehnten. Und diese Rechnung ging auch voll auf. Dass die »breiten Massen« dem Nazifaschismus kaum Widerstand entgegensetzten, verdankten also Hitler und Goebbels nicht nur der plumpen Schneidig­ keit ihrer parteipolitischen Parolen, sondern ebenso sehr der platten Nor­ malität ihres Kulturprogramms, das sich nur in Ausnahmefällen von dem der Weimarer Republik unterschied. Foxtrott blieb Foxtrott und die Ufa blieb die Ufa – während die parteiamtlichen Kunstwerke, um ideologisch nicht allzu penetrant zu erscheinen, eher eine randständige Rolle spielten. Die breiten Massen folgten Hitler, nicht weil ihnen Filme wie Hitlerjunge Quex oder Jud Süß zusagten, sondern weil ihnen Schauspieler wie Hans Albers und Heinz Rühmann, Schlagersängerinnen wie Marika Rökk und Zarah Leander sowie Lieder wie »Ich tanze mit dir in den Himmel hinein«, »Kann denn Liebe Sünde sein« und »Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern« gefielen. Die kulturpolitische Situation in der DDR war dagegen anfangs eine völlig andere. Vor allem in den fünfziger und sechziger Jahren, der Walter Ulbricht-Ära, wurde hier fast ausschließlich die als klassisch ausgegebene Hochkultur privilegiert. Den Kulturfunktionären dieses Staates ging es in volkspädagogischer Absicht mehrheitlich darum, die bisher von der höhe­ ren Bildung ausgeschlossenen gesellschaftlichen Unterschichten endlich mit 239

Das große U und das kleine E

dem progressiven Kulturerbe des älteren Bildungsbürgertums vertraut zu machen. Dementsprechend wurden um 1950 vielfach Parolen wie »Vor­ wärts zu Goethe  !« oder »Vorwärts zu Beethoven  !« ausgegeben, um so den DDR-Sozialismus als eine logische Fortentwicklung des »goethezeitlichen Humanismus« hinzustellen. Trotz mancher gegenläufigen Bemühungen, wie sie etwa von Bertolt Brecht befürwortet wurden, der eher an sozialis­ tisch-proletarische Tendenzen anzuknüpfen versuchte, als irgendwelche bourgeoisen Kulturideale in den Kommunismus zu »verretten«, wie er das nannte,7 setzte sich hier letztendlich jener Johannes R. Becher durch, der als Goethe- und Thomas Mann-Verehrer um 1955 zu dem Germanisten Hans Mayer gesagt haben soll  : »Wenn das Volk auf den Straßen von Leipzig den Zauberberg von Thomas Mann als Volkslied pfeift, sehe ich meine Kul­ turpolitik als erfüllt an.«8 Das klingt auf Anhieb wie ein halbwegs ironisch gemeintes Bonmot, war aber sicher ebenso ernst gemeint wie der Ausspruch von Walter Ulbricht, der die DDR – im Sinne der Parole »mit freiem Volk auf freiem Grund zu stehen« – gern als »Faust. Dritter Teil« bezeichnete und am Grabe Johannes R. Bechers mit einer Anspielung auf Schillers Bürgschaft erklärte  : »Du warst uns der Dritte im Bunde nach Goethe und Hölderlin.«9 Das mag in den Ohren der »Nachgeborenen« etwas lächer­ lich klingen, ist aber höchst symptomatisch dafür, mit welchem Anspruch die SED in der frühen DDR – im Gegensatz zum Nazifaschismus – eine künstlerische Leitkultur durchzusetzen versuchte, die sich mit utopischer Verve gegen alle bisherigen »Wonnen der Gewöhnlichkeit« abzuschirmen versuchte. In diesem Staate, wo alles der parteipolitischen Planung unterlag, gab es daher zu Anfang weder die Groschenhefte der Trivialliteratur noch eine Jazz- oder Boogie-Woogie-Musik, weder die Röhrenden Hirsche auf den Wohnzimmerbildern noch Vorführungen der frühen James Dean- oder Elvis Presley-Filme, sondern nur die epochalen Werke der älteren natio­ nalen und internationalen Hochkultur sowie die ersten Ansätze zu einer nachbürgerlichen Kunst, die sich in Form des Sozialistischen Realismus an alle in der DDR lebenden Menschen zu wenden versuchte. Da sich dieser Anspruch – vor allem wegen der verführerischen Medienübermacht der 240

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

Abb. 34 Titelblatt einer vom Büro des Nationalrats der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik herausgegebenen Broschüre (1952)

»westlichen« Radio- und Fernsehsendungen sowie der Popmusik der Kas­ settenrekorder – seit Beginn der siebziger Jahre nicht mehr aufrechterhalten ließ, kam es in der folgenden Erich Honecker-Ära auch in der DDR zu einem immer stärkeren Vordringen jener bundesdeutschen sowie US-ame­ rikanischen Popkulturformen, was als sogenannte Liberalisierung letztend­ lich nicht unerheblich zum Untergang dieses mit eindeutig hochkulturellen Programmen gegründeten Staates beigetragen hat.

II Und damit sind wir bereits mitten im Thema einer als Popular Entertain­ ment vermittelten Medienkultur, wofür sich nicht ohne Grund ein US-ame­ rikanischer Begriff eingebürgert hat. Zu Anfang, wie wir wissen, herrschten 241

Das große U und das kleine E

selbst in den drei westdeutschen Besatzungszone auf kulturellem Sektor ganz andere Verhältnisse als heutzutage. Auch dort sehnten sich die gebil­ deten Schichten – nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit – erst einmal nach Trost, nach Lebenshilfe, nach »höheren Werten«. Ihr Kulturenthusiasmus war so groß, dass Theodor W. Adorno, der 1948 als Soziologe aus dem US-amerikanischen Exil nach Frankfurt am Main zurückkehrte, bereits ein Jahr später unter dem Titel Auferstehung der Kultur  ? in den Frankfurter Heften schrieb,10 dass er es kaum fassen könne, nach zwölf Jahren Hitler-Barbarei einem solchen Kulturhun­ ger zu begegnen. Allerdings war er hellsichtig genug, in dieser nachdrückli­ chen Beschwörung alles Hochkulturellen zugleich eine bewusste Verdrän­ gung der mörderischen Verbrechen der nazifaschistischen Ära zu erkennen. Doch dieser Zustand, in dem noch das Radio – meist in Form des alten Volksempfängers aus der NS-Zeit – das einzige wichtige Massenmedium war, sollte nicht lange dauern. Zugegeben, die altbewährten kulturellen Institutionen, ob nun die Theater, Opernhäuser, Kunstgalerien, anspruchs­ volle Verlage, Schriftstellerverbände oder Symphonieorchester, mit denen eine bildungsbürgerliche Gesellschaftsschicht, und mochte sie auch nur vier bis fünf Prozent der Gesamtbevölkerung betragen, ihren kulturellen Stell­ vertretungsanspruch aufrechtzuerhalten versuchte, starb nicht so schnell ab, ja erwies sich zum Teil als relativ zählebig. Daher waren die fünfziger Jahre in der frühen Bundesrepublik noch immer eine Zeit, in der auch die Hochkultur eine relativ wichtige Rolle spielte. Und zwar war das möglich, weil sich dieser Staat damals im Hinblick auf einige Grundgesetzerklärun­ gen noch durchaus als »Kulturstaat« verstand.11 Außerdem konnte es sich dieses Land – aufgrund des sogenannten Wirtschaftswunders – durchaus leisten, das erforderliche Geld für die Pflege des kulturellen Erbes sowie der modernistisch-elitären Kunst und Musik in Form neuer Theaterbauten und Opernhäuser sowie Musikfeste und documenta-Ausstellungen bereitzustel­ len und in all diesen Institutionen und Veranstaltungen auch in der Presse die genügende Beachtung zu schenken. Ohne diese finanziellen Subventi­ onen hätten wahrscheinlich viele dieser hochkulturellen Institutionen, falls 242

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

Abb. 35 Hans Haacke  : Verbindungsstudenten auf der 2. Documenta vor einem Bild von Wassily Kandinsky (1959)

man sie in privatwirtschaftliche Unternehmen verwandelt hätte, bereits damals nach wenigen Jahren Bankrott anmelden müssen. Schließlich wuchs in diesem Staate die bildungsbürgerliche Schicht der Abiturienten und Abi­ turientinnen von 1949 bis 1965 lediglich von 4,5 auf 6,1 Prozent der jungen Menschen an, während die »Kulturindustrie«, um nochmals Adornos Begriff zu benutzen, seit der Mitte der fünfziger Jahre, als es auf allen Ebenen wirt­ schaftlich aufwärts ging, geradezu astronomische Ausmaße annahm. Zuerst vermehrten sich die Zeitungen, dann die Illustrierten, die Groschenhefte, die Produkte der Schlagerindustrie, die Comicstrips, die US-amerikanischen Bestsellerromane, die westdeutschen Heimat- und Sissi-­Filme und schließ­ lich das Fernsehen, das bereits in den sechziger Jahren zum Primärmedium der westdeutschen Gesellschaft aufsteigen sollte. Mit all dem konnten schon 243

Das große U und das kleine E

Abb. 36 »Fernsehen«. Illustration in der Zeitschrift »tendenzen« (1973)

um 1960 die Kammerkonzerte mit Beethoven-Streichquartetten, die Ver­ anstaltungen der Stifter- und Eichendorff-Gesellschaften, die Kunstgalerien mit Ausstellungen von Gemälden Willi Baumeisters oder Fritz Winters sowie die anspruchsvollen Gedichtbände von Hans Magnus Enzensberger oder Paul Celan nicht mehr konkurrieren. Aufführungen, Veranstaltun­ gen oder Publikationen von Werken dieser Art, für die sich damals der teils abschätzige, teils anpreisende Begriff »E-Kunst«, das heißt »Ernste« oder »Elitäre Kunst«, einbürgerte, wurden deshalb von der überwältigen­ den Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung entweder als hoffnungslos randständig empfunden oder überhaupt nicht wahrgenommen. Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und dann noch schneller in den frühen siebziger Jahren, als im Zuge der rapiden Demokratisierung der Oberschulen und Universitäten die Schicht der 244

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

sogenannten Gebildeten oder auch Intellektuellen zusehends größer wurde. Aber trug das wirklich zu einem grundsätzlich veränderten Kulturverhalten dieser Schichten, das heißt zu einem Anwachsen der E-Kultur-Sphäre bei  ? Ja und nein. Greifen wir dafür als Beispiel die Vertreter und Vertreterinnen der Achtundsechziger Bewegung heraus, über deren kulturelles Verhalten es besonders viele Anthologien und Sonderstudien gibt.12 Und zwar lassen sich dabei innerhalb dieser Bewegung, die sich als Auftakt zu einer neuen Leitkultur innerhalb der BRD verstand, mindestens vier Richtungen unter­ scheiden  : die Linksliberalen, die maoistisch bzw. DKP-orientierten K-Grup­ pen, die Anarcho-Sozialisten sowie die Pop-Rebellen, obwohl es zwischen diesen Gruppierungen auch zahlreiche ideologische oder kulturpolitische Überschneidungen gab. Noch am stärksten der älteren E-Kultur verhaftet verhielten sich die Linksliberalen, deren Eltern meist zu den »besserverdienenden« Schichten mit einem wohlausgeprägten Bildungshintergrund gehörten. Im Gegensatz zu den Konservativen legten sie jedoch in ihrer Einstellung zum kulturel­ len Erbe den Hauptnachdruck weniger auf die altbewährten »Klassiker« als auf eine stärkere Berücksichtigung der progressiv eingestellten Bewe­ gungen innerhalb der deutschen Kulturtradition. Wie die Aufklärer des 18. Jahrhunderts hatten sie noch die Illusion, mit ihren Schriften à la Jür­ gen Habermas zu einer »kritischen Öffentlichkeit« beizutragen und damit eine längst überfällige Demokratisierung der Gesamtgesellschaft in Gang zu setzen. Allerdings blieben sie dabei – angesichts der immer stärker und immer deutlicher konzerngesteuerten Massenmedien – zwangsläufig in einer Außenseiterposition, die sie auch mit den von ihnen einberufenen Sprin­ ger-Tribunalen oder wohlgezielten Karikaturen in den sie unterstützenden Zeitschriften nicht überwinden konnten. Fast das gleiche gilt für die maoistischen bzw. DKP-orientierten K-Grup­ pen um 1970. Beide hofften zwar auch, mit nichtkommerziellen Kunstpro­ dukten, ob nun mit den Schriften Mao-Tsetungs oder den Werken Bertolt Brechts, Hanns Eislers oder John Heartfields in die gesellschaftlichen Ver­ hältnisse einzugreifen, ja gaben sich zeitweilig – im Rahmen der von ihnen 245

Das große U und das kleine E

ins Leben gerufenen »Werkkreise« – sogar der Hoffnung auf eine proletari­ sche Gegenkultur hin, fanden aber auf Seiten der westdeutschen Arbeiter, die sich längst auf dem Wege zur Verkleinbürgerlichung befanden und sich ohne jede Skrupel den »Wonnen der Gewöhnlichkeit« in den Massenme­ dien hingaben, kaum Anklang oder gar Unterstützung. Dennoch trugen sie wenigstens zu einer steigenden Wertschätzung der älteren sozialistischen sowie der in der frühen DDR geförderten hochkulturellen Bemühungen bei. Dagegen herrschte bei den Anarcho-Sozialisten sowie den Pop-Rebellen der westdeutschen Szene um 1970 von vornherein ein ausgeprägter Affekt gegen alles Hochkulturelle. Die Ersteren beriefen sich dabei – meist höchst vergröbernd – auf Herbert Marcuses These, dass alle Epochen der bürger­ lichen Kunst stets »affirmativ« gewesen seien, ja aufgrund ihrer erotischen Verklemmung einen deutlich »sublimierenden« Charakter gehabt hätten, den es endlich zu überwinden gelte.13 Während manche Vertreter dieser Richtung dabei noch eine halbwegs politische Randgruppenstrategie entwi­ ckelten, gingen die Pop-Rebellen dieser Ära immer stärker dazu über, sich im Ankampf gegen die ältere bürgerliche Hochkultur, die jetzt im Zuge der steigenden Amerikanisierung als »Daddy’s Culture« abgewertet wurde, den hedonistischen Parolen der »Beat-and-Hippy-Generation« hinzugeben. Was sie unter »Culture« verstanden, waren vorwiegend lustvoll gestimmte Comicstrips, Graffiti, Porno-Romane, Undergroundfilme, ­Ansteckbuttons, psychedelische Poster sowie das pausenlose Rock-Geplärre der Diskos, Walk­ men, Schallplatten und Open Air Festivals. Und die Manager der markt­ wirtschaftlich ausgerichteten Kulturindustrie sahen darin sofort ihre Chance, diese neuen Genres in klingende Münze umzusetzen, zumal neben den Ver­ tretern der sogenannten Außerparlamentarischen Revolte auch die überwäl­ tigende Mehrheit der anderen Teens und Twens diese neuen Kulturformen – vor allem auf musikalischem Gebiet – geradezu enthusiastisch begrüßte. Aufgrund dieser Entwicklung veränderte sich die westdeutsche Kultur­ szene der frühen siebziger Jahre in folgende Richtung  : Die Werke aus den älteren Epochen der Hochkultur, welche in der Wirtschaftswunderära der fünfziger Jahre und frühen sechziger Jahre noch eine relativ bedeutsame 246

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

Abb. 37 Titelblatt (1979)

Rolle gespielt hatten, wurden zusehends als randständig empfunden, das heißt erstarrten zu unterschiedslosen Formen des kulturellen Erbes oder in einem ins Abstrakte verdünnten Autonomiebestreben,14 während die immer stärker US-amerikanisierten Homogenisierungstendenzen – vor allem im Film, im Fernsehen und in der Popmusik – einen Siegeslauf ohnegleichen antraten, bei dem zwischen aufmüpfigen und kommerzialisierten Ausprä­ gungen kaum noch zu unterscheiden war. Selbst große Teile der oberen Schichten der Bevölkerung verstanden jetzt unter »Kultur« nicht mehr den sinnstiftenden oder zumindest ästhetisch veredelten Charakter bedeuten­ der Gemälde, Skulpturen, Dramen, Gedichte, Symphonien oder Opern, ja 247

Das große U und das kleine E

vielleicht sogar einiger Cineastenfilme oder avantgardistisch gemeinter Fotos, sondern eher die Unterhaltungskultur der Popmusik, der Illustrierten, der Bestsellerromane, der Ratespiele, der TV-Serien, des Fußballs, der Krimis und der Hollywoodfilme sowie all jener Manifestationen des steigenden Wohlstands, für die sich, wie gesagt, branchenübliche Bezeichnungen wie Esskultur, Wohnkultur, Reisekultur, Ausgehkultur oder Badezimmerkul­ tur einzubürgern begannen, zu denen sich später sogar noch Begriffe wie Wohlfühlkultur, Wellness-Kultur, Saunakultur oder Erotikkultur gesellten. Im profitbringenden Strudel dieser Massenmedien- und Wohlfühlkultur gingen demnach die rebellischen Elemente der Achtundsechziger Bewe­ gung allmählich unter. Zugegeben, gewisse Randgruppen versuchten zwar unter feministischem oder linksliberalem Vorzeichen noch in den späten siebziger Jahren weiterhin auf den solidarisierenden Charakter sinnstiften­ der Hochkulturwerke hinzuweisen, doch ihre Stimmen konnten sich im immer stärker anschwellenden Rauschen der Massenmedien nicht mehr durchsetzten. Und zwar hing das auch damit zusammen, weil ihr aus der US-amerikanischen Studentenbewegung übernommener Hauptslogan »The personal is the political« meist in einem solipsistischen Sinne, das heißt rein subjektbezogen, ausgelegt wurde. Mit dem Abflauen der solidarischen, ja fast kollektivierenden Elemente innerhalb des linken Flügels der Achtundsechzi­ ger Bewegung verloren überhaupt die bisherigen gesellschaftskritischen bzw. gesellschaftsverändernden Tendenzen innerhalb der westdeutschen Kultur­ szene allmählich ihre ideologische Effektivität und machten schließlich dem Konzept eines sowohl sozial als auch ästhetisch ins Zeitlose verewigten »Plu­ ralismus« Platz. Diese Entwicklung wurde zwar von manchen Kulturkriti­ kern und -kritikerinnen weiterhin als »demokratisierend« verstanden, lief aber letztendlich auf die Anschauung hinaus, dass jeder Mensch nur noch seine eigene »Ich-AG« sei und vornehmlich seinen persönlichen Nutzen im Auge behalten solle, statt sich für irgendeine neue Leitkultur einzusetzen.15 Demzufolge brach während der achtziger Jahre in der ehemaligen Bun­ desrepublik jenes Zeitalter einer unverbindlichen »Postmoderne« an, dem abermals ein aus dem US-Amerikanischen übernommener Slogan, nämlich 248

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

»Anything goes«, zugrunde gelegt wurde. Auf kulturellem Sektor wirkte sich das vor allem folgendermaßen aus  : Selbstverständlich gab es weiterhin jene Hochkulturinstitutionen, die von den bundesstaatlichen bzw. kommunalen Behörden – trotz populistischer Proteste gegen den gewaltigen Kostenauf­ wand für Theater und Opernhäuser – nach wie vor finanziell subventioniert wurden, da sie sonst eingegangen wären. Aber selbst sie blieben nicht von der allerorten ins Ahistorische tendierenden Postmoderne verschont. Um überhaupt weiterexistieren zu können, entwickelten sie in diesen Jahren einen Regiestil, der auch die Einbeziehung spezifisch popkultureller Ele­ mente in diese ehemals »heil’gen Hallen« nicht verschmähte. Nicht mehr das innerhalb der geschichtlichen Entwicklung bedeutsame Werk als solches, sondern der persönliche Inszenierungsstil des jeweiligen Regisseurs oder der jeweiligen Regisseurin stand jetzt im Vordergrund. Mitten in Shakespeares Tempest sangen der Prinz und seine Miranda im Berliner Ensemble plötz­ lich ein Lied der Rolling Stones und erhielten dafür den ersten frenetischen Szenenapplaus. In Aufführungen von Kleist-Dramen trugen die Haupt­ darsteller und -darstellerinnen Blue Jeans und gebrauchten ständig Wörter wie »super«, »cool« oder »doll«. Und vor einer Beethoven-Symphonie gab es im Konzertsaal erstmals einen Johann Strauß-Walzer zu hören, um sich auch zu den sogenannten Light Classics zu bekennen. Wie gesagt, hat man diesen angeblichen Pluralismus häufig als »demokratisierend« hingestellt. Doch letztlich wurde damit die ältere Bildungsbourgeoisie, das heißt das vielbeschworene Abonnementspublikum, lediglich irritiert, wenn nicht gar verärgert, und die ästhetisch Anspruchsvolleren unter den Jugendlichen keineswegs in dem Maße gewonnen, wie die Manager dieser Institutionen anfangs gehofft hatten. Trotz alledem sind im Gefolge dieser populistisch gemeinten »Durch­ mischung« des Hohen und des Niederen die Theater und Opernhäuser nicht unbedingt leerer geworden. Dazu hat vor allem der immer stärker ins Spek­ takuläre und Sensationelle tendierende Kulturbetrieb nach der sogenannten Wende von 1989 beigetragen. Und so sind seitdem, als die freie Marktwirt­ schaft im Zuge des Neoliberalismus in allen Teilen Deutschlands so richtig zu 249

Das große U und das kleine E

sich selbst kommen konnte und fast alles nur noch dem Gesetz von Angebot und Nachfrage unterworfen wurde, die sogenannten höheren Künste keines­ wegs untergegangen. Noch immer gibt es innerhalb jenes ästhetischen Super­ markts, wie er sich in den letzten 20 bis 25 Jahren etabliert hat, weiterhin einige Gourmetecken für die Sinnsuchenden oder ästhetisch Verwöhnten. Aber die dort zur Schau gestellte Kunst wird ständig realitätsentfremdeter. Wer will, kann sich zwar noch immer die »modernistische« Musikfestmusik in Donaueschingen anhören oder sich die abstrakten Bilder und Installatio­ nen der Kunstausstellungskunst in den einschlägigen Galerien ansehen. Von irgendeiner Relevanz für die Gesamtgesellschaft, wie die gesellschaftskriti­ schen Gruppen der frühen siebziger Jahre gesagt hätten, ist jedoch dort wenig oder nichts zu spüren. Ja, die Mehrheit der Bevölkerung ansprechende The­ men oder Gestaltungsformen, in denen sich ein auf gesellschaftlichen Alterna­ tivvorstellungen beruhendes Epochenbewusstsein manifestieren würde, wer­ den von den meisten Künstlern und Künstlerinnen gar nicht mehr angestrebt. Einzelne produzieren hier für andere Einzelne, wobei hinter den Kulissen das profiteinträgliche Anderssein oft den Hauptausschlag gibt. Etwas überspitzt gesagt, sind dadurch E- und U-Kultur, die früher pein­ lich getrennte Bereiche waren, fast zu einem gegensatzlosen Zwillingspaar geworden. Trotz mancher ins Extravagante gesteigerter Geschmacksorientie­ rungen sowie anderer ästhetischer Scheinmanöver weisen diese beiden Bran­ chen des gegenwärtigen Kulturbetriebs durch die zunehmende Entwertung irgendwelcher ideologischen Wertvorstellungen kaum noch Unterschiede auf. Was demzufolge weitgehend verschwunden ist, sind E-Kulturwerke, die einen avantgardistisch-eingreifenden Charakter haben oder sich wenigstens durch einen kritisch-herausfordernden, idealistisch-versittlichenden oder schöngeistig-formvollendeten Charakter auszuzeichnen versuchen. Die meis­ ten von ihnen wirken so sinnentpflichtend, dass sie, vor allem im Bereich der akustischen oder visuellen Medienvermittlung, von der Mehrheit der Kunstkonsumenten und -konsumentinnen – jenseits irgendwelcher Gesin­ nungsintentionen – auch als unterhaltsame Momenteindrücke rezipiert wer­ den können. 250

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

Doch nicht nur das. Selbst manche der bedeutsamsten Werke des kultu­ rellen Erbes werden von geschickten Managern und Managerinnen der Kul­ turindustrie zusehends in den Sog jener marktorientierten Unterhaltungsund Eventbetriebsamkeit hineingezogen, in der es primär um ichbezogene Zerstreuungen geht, mit denen die jeweiligen Freizeitindustrien die von allen anderen Sinnbezügen entleerte arbeitsfreie Zeit ihrer Konsumenten und Konsumentinnen mit massenmedial aufbereiteten kulinarischen oder erotischen Prickelmomenten »anzureichern« versuchen. Besonders instruk­ tive Beispiele dafür sind die seit 1989 in den Musikabteilungen der großen Elektrogeschäfte oder Kulturkaufhäuser auftauchenden CDs, in denen ein Potpourri »leichter Klassik« mit Titeln wie For a Lazy Afternoon, For My Love oder For Evening Passions mit den entsprechenden wohlgeformten Models auf den Umschlägen angeboten wird. Noch mehr Appeal sollen jene CDs haben, bei denen manche Firmen die klassische Musik mit Kochrezep­ ten vermischen und zugleich mit einladenden Etiketten wie Merlot, Filet ­Mignon und Mozart oder Puccini und Pasta versehen. Ja, um auch das noch zu überbieten, gibt es sogar schon CDs, die sich Making Out to Mozart oder Bedroom Bliss with Beethoven nennen. Ähnliches spielt sich seitdem im Bereich der modernistisch orientierten Galeriekünste und Kunstmessen ab, wo meist ein buntes Mit- und Durcheinander von Installationen, Video Art, Starfotos, computergenerierten Landscapes, heißen Akten oder kühlen Farcen herrscht, die eine »kalkulierte Ziellosigkeit« demonstrieren sollen, wie es in der Berliner Kulturzeitschrift art info vom November 2006 hieß.16 Und zwar tragen diese »selbstreferentiellen Objekte«,17 die in gemalter oder graphischer Form selbst in den Eingangshallen der großen Banken zu sehen sind, meist US-amerikanische Titel, um so eine Weltläufigkeit anzudeuten, die im Zeichen globalisierter Verkaufsanreize steht. Auf einer etwas höheren Ebene spielt sich dieses kulturelle Verramschen, mit der man sich jeder stilgeschichtlichen und damit zugleich kulturpo­ litischen Verpflichtung entziehen will, in vielen Theatern und Opernhäu­ sern ab. In postmoderner Beliebigkeit herrscht auch hier im Inszenierungs­ stil meist ein buntes Durcheinander der verschiedensten historischen und 251

Das große U und das kleine E

Abb. 38 Hans Neuenfelds Inszenierung von Mozarts »Zauberflöte« an der Komischen Oper in Berlin im November 2007. Die 2. Dame überreicht Tamino einen Flötenpenis mit den Worten  : »Hiermit kannst du allmächtig handeln,/der Menschen Lebenskraft verwandeln.«

ästhetischen Ebenen. Nicht mehr die Werke als solche werden vorgestellt, sondern die Bearbeitungseinfälle der jeweiligen Regisseure und Regisseurin­ nen. In Mozarts Così fan tutte treten elegante Junior Executives, gelangweilte Models und sexbesessene Hippies auf, der Don Giovanni spielt in einem Hochhaus der New Yorker Bronx, Wagners Fliegender Holländer wird in ein Space Ship verlegt und in Ibsens Peer Gynt zieht sich der Titelheld zweimal die Unterhose aus und steht am Schluss vor einer Coca Cola-Bude – von anderen Extravaganzen ganz zu schweigen. Und kaum jemand opponiert dagegen. Im Gegenteil, gerade solche Einfälle oder Szenen werden manch­ mal besonders heftig beklatscht. Ähnliches gilt für andere Spektakel der immer weiter um sich ­greifenden neoliberalen Leitkultur – ob nun die Berliner Love Parade, die Marathon­ läufe, die Andy Warhol-Retrospektiven, die betont »wüsten« Frank Castorf-­ Inszenierungen an der Berliner Volksbühne, die Aufführungen anglo-ameri­ kanischer Musicals wie der Aida von Elton John, der »allerletzte« Auftritt der 252

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

Abb. 39 Die erfolgreichste deutsche Girlband aller Zeiten »No Angels« (um 2001)

Rolling Stones, die monströse Darbietung der Flick Collection im Hambur­ ger Bahnhof, die Sonderausstellungen plastinierter menschlicher Leichen, die von Hans Neuenfels total verhunzte Fledermaus bei den Salzburger Festspielen, die Girlband No Angels, die Blue Man Group am Potsdamer Platz, die im Blutrausch untergehende Orestie im Deutschen Theater oder die mit Feuerwerk durchsetzten Lichtreklamen am nächtlichen Himmel. Auch sie werden von den verschiedensten Bevölkerungsschichten umjubelt oder zumindest als eine zum kulturellen Pluralismus tendierende »Demo­ kratisierung« gutgeheißen. Ja, es gibt sogar Medienkritiker und Medien­ kritikerinnen, die selbst die total kommerzialisierten Sportsendungen, Kri­ mis, Psychothriller, Computerspiele, Soap Operas, Pornos, Schlagerparaden, Quiz-Sendungen, Hit Tunes, MTV Spots, Boulevardkomödien und Rühr­ stücke als angeblich »kommunitaristisch« empfinden, da diese Werke keine »höheren« Ansprüche an die jeweiligen Mediennutzer und -nutzerinnen

253

Das große U und das kleine E

stellten und daher angeblich gute Vehikel seien, die bisherigen Bildungs­ barrieren abzubauen. Doch genauer besehen, erweist sich dieser ins Vermassende zielende Trend letztlich nicht als demokratisierend, sondern eher als trivialisie­ rend. Wahrhaft »populär« wäre schließlich nur das, was für die konkreten Interessen der Mehrheit der Bevölkerung eintritt, während trivialisierend stets das ist, was sich gegen die konkreten Interessen der Mehrheit der Bevölkerung wendet.18 Schließlich wird durch diesen Trend ins Mas­ senmediale oder Unterhaltsam-Spektakuläre keineswegs jene »Pluralität« oder gar »Mündigkeit« befördert, von denen in den offiziösen Verlaut­ barungen der sogenannten Meinungsträgerschichten, wie der Spiegel sie nennt, so oft die Rede ist. Im Gegenteil, dadurch verbreitet sich lediglich jene bereits um 1970 von Herbert Marcuse massiv angeprangerte »Eindi­ mensionalität«,19 welche in immer breiteren Gesellschaftsschichten eine Mentalität erzeugt, die auf dem niedrigsten kulturideologischen Nenner beruht. Statt also innerhalb der Kunst, was selbst in Medien wie dem Fernsehen und dem Internet durchaus möglich wäre, den »kleinen Kreis der ­Kenner« durch staatliche Bildungsprogramme in den »großen Kreis der Kenner« zu erweitern, wird durch die weitgehend konzerngesteuerten oder zumindest systemimmanenten Social engineering-Taktiken inner­ halb der Massenmedien eine immer stärkere Gleichschaltung erreicht, die, wie gesagt, nicht nur der größtmöglichen Profitmaximierung innerhalb der einzelnen Branchen der Druck-, Video- und Hörmedien dient, sondern die zugleich – trotz aller hypokritischen Pluralismus-Beteuerungen – die Mehrheit der Konsumenten und Konsumentinnen politisch und kultu­ rell auf den Bewusstseinszustand einer konformistisch gestimmten Masse herabzudrücken versucht.

III Wie sollen sich angesichts dieser Situation eigentlich jene Intellektuellen bzw. Kunstfreunde verhalten, die dieser Entwicklung kritisch gegenüberste­ hen  ? Sollen sie einen Rückzug in bildungsbürgerliche Kulturvorstellungen 254

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

empfehlen  ? Sollen sie mit adornistischer Hartnäckigkeit weiterhin auf eine sich hermetisch gegen die gesellschaftliche Realität absperrende Kunstau­ tonomie pochen, um sich nicht dem sogenannten Ideologieverdacht aus­ zusetzen  ? Sollen sie sich – mit einem ironischen Augenzwinkern – an den besonders spektakulären Erscheinungsformen innerhalb des marktverpflich­ teten Kulturbetriebs ergötzen und sich über den Rest einfach mit elitärer Gebärde lustig machen  ? Oder sollen sie sogar, wie einige der sogenannten Postmodernisten, ein Loblied auf jenen Konsumismus anstimmen,21 des­ sen ideologische Zielvorstellung lediglich ein am Status quo der momentan herrschenden Verhältnisse orientierter »Gesellschaftsfrieden« ist  ? All das sind Verhaltensweisen, die angesichts der kulturellen Miserabi­ lität der herrschenden Verhältnisse durchaus verständlich sind. Doch nüt­ zen sie uns, falls wir weiterhin an einer fortschreitenden Demokratisierung unserer Gesellschaft interessiert sind, in welcher der Unterschied zwischen den Reichen und den Armen, den Gebildeten und den Ungebildeten end­ lich aufgehoben würde  ? Oder drücken sie nur Unmut, Verzweiflung, Iro­ nie oder Elitismus aus  ? Wenn ja, dann sollte man sich lieber um andere Konzepte bemühen. Doch über solche Bestrebungen würden die Zyniker oder Realisten unter den heutigen Intellektuellen sicher nur lächeln. Denn die jeweils herrschende Kultur, werden sie sagen, ist immer die Kultur der Herrschenden gewesen. Und die Herrschenden, beteuern sie, säßen heut­ zutage so fest im Sattel der Macht, dass ihnen mit systemkritischen oder gar avantgardistisch-rebellischen Bestrebungen auf der Kunst- oder Uni­ versitätsebene nicht mehr beizukommen sei. Diese Schichten und die mit ihnen übereinstimmenden Kulturtheoretiker haben daher im Gefolge der allerorten verbreiteten Posthistoire-Stimmung weitgehend aufgehört, von irgendwelchen Epochenstrukturen, künstlerischen Stilen oder gar aufmüp­ figen Avantgardebewegungen zu sprechen, die zu gesellschaftlichen Ver­ änderungen führen könnten. Stattdessen begnügen sie sich im Hinblick auf die heutzutage ins Gruppenspezifische oder gar Subjektiv-Vereinzelte tendierenden Verhältnisse weitgehend mit soziologisch determinierten Vor­ stellungen wie denen einer Risiko- oder Erlebnisgesellschaft, die sich zwar 255

Das große U und das kleine E

in Teilaspekten noch reformieren, aber nicht mehr grundsätzlich verän­ dern ließen. Und damit haben sie, wie man zugeben muss, angesichts der momentan herrschenden Stasis der politischen, sozioökonomischen und kulturellen Voraussetzungen leider Recht. Was also tun, um nicht – trotz mancher kritischen Einsichten – als Kulturtheoretiker zu jenen Mitläufern zu gehören, die sich vom entwicklungslosen Fortgang der Ereignisse, der zwar in seinen technologischen Innovationen eine eminente Rasanz aufweist, aber in dem sich nichts auf eine soziokulturelle Wende ins Andersartige, Bessere zu erkennen gibt, einfach mittreiben lassen  ? Wer sich nicht mit kleinen Einzelaktionen begnügen will, obwohl auch diese weiterhin nützlich sein könnten, muss daher angesichts der herrschen­ den Kulturverhältnisse notwendig irgendwelche Gegenentwürfe ins Auge fassen. Denn Kritik ist immer nur dann sinnvoll, wenn sie nicht in ein all­ gemeines Meckern ausartet, sondern wenn hinter ihr zugleich eine ernst­ zunehmende Alternative aufleuchtet. Dass wir in Deutschland mit dem Triumph des Neoliberalismus nach 1989 nicht das »Ende der Geschichte« erreicht haben, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Darum sollte man in Zukunft ruhig etwas nachhaltiger als bisher über den wahren Sinn des propagandistisch aufgebauschten Schlagwortes »Demokratie«, das letztlich »Volksherrschaft« bedeutet, nachdenken und versuchen, von dort her Konzepte für eine neue Leitkultur zu entwerfen. Diese werden zwar angesichts der herrschenden politischen und ökonomischen Machtverhält­ nisse notwendig illusorisch bleiben, aber zugleich ein Widerstandspotential bereitstellen, das in Zeiten neuer Krisen, Umbrüche oder Avantgardebewe­ gungen durchaus virulente Formen annehmen könnte. Denn eine anders­ geartete Kultur wird es vielleicht erst dann geben, wenn sich ein allgemeiner Konsensus herausbilden würde, dass wir vom Ideal einer Demokratie, in der nicht mehr wie heute den Wenigen fast alles und den Meisten fast nichts gehört, noch relativ weit entfernt sind. Von einer wahrhaft demokratischen Kultur wird man also erst dann sprechen können, wenn der Zustand einer sozioökonomischen Gerechtigkeit erreicht wäre, der allen Menschen das Gefühl konkreter Teilhabe und Mitbestimmung in sämtlichen öffentlichen 256

Zur Medienkultur des Neoliberalismus

Angelegenheiten geben würde. Ohne positive Leitbilder dieser Art wird es auch in Zukunft keine höher geartete Kultur geben, die sich nicht mehr den Spielregeln der heutigen Erlebnis-, Spaß-, Unterhaltungs- oder Eventkultur anzupassen braucht. Ich weiß, all das sind – auf ihre Realisierungschancen befragt – etwas hohl­klingende Forderungen  ! Doch worauf kann man – angesichts der gegenwärtigen Übermacht der systemimmanenten Massenmedien und ihrer manipulierenden Effizienz – seine Hoffnung auf eine kulturelle Erneuerung sonst setzen  ? Und was wären die Alternativen zu einem solchen Idealismus oder Utopismus  : die Hände einfach in den Schoß zu legen, den Kopf in den Sand zu stecken oder sich die allbekannten Scheuklappen anzulegen, wie das in allen Zeiten der Inneren Emigration üblich war  ? Ebenso schmählich wäre es, sich allein mit solipsistischen Regieeinfällen oder ähnlich gearteten Spektakeln der neoliberalen Eventkultur zu begnügen, als ob es für die Kunst keine anderen Themen mehr gebe, nämlich die Erweiterung der Bildung, des politischen Einsatzes für gesamtgesellschaftliche Ziele, des Kampfes für soziale Gerechtigkeit, der gesellschaftsbezogenen und zugleich persön­ lichen Erfüllung in unentfremdeter beruflicher Tätigkeit sowie eines tieferen Verständnisses für eine sinnstiftende, wenn nicht gar wegweisende Kunst. Dementsprechend sollte eine demokratische Allgemeinkunst der Zukunft, welche diese Bezeichnung wirklich verdiente, vornehmlich solidaritätsstif­ tende Tendenzen ins Auge fassen, statt ihr Publikum ständig mit Produkten zu traktieren, die lediglich die Profitmaximierung der großen Freizeitindus­ trien befördern, indem sie die Sensations- bzw. Spektakelbedürfnisse der bereits in ihren ästhetischen Geschmackspräferenzen weitgehend gleichge­ schalteten Kunstkonsumenten und -konsumentinnen zu befriedigen suchen. Eine solche Kunst müsste demnach ihren Hauptakzent stets auf jene Impulse legen, mit der sie den Verblendungstaktiken der sich unentwegt überbieten­ den Reklame mit all ihren bedürfniserweckenden Losungen am wirksamsten entgegentreten könnte, statt mit ihr konkurrieren zu wollen. Und das wären Darstellungen, die in ihrer unmittelbaren Verständlichkeit, ihrer aufkläre­ risch-argumentierenden Kritik sowie ihren rebellisch-widersetzlichen Zügen 257

Das große U und das kleine E

alles Kommerziell-Ankurbelnde vermeiden und sich stattdessen um eine demokratisch ausgerichtete »Ästhetik des Widerstands« bemühen würden.22 Anstatt nur die kleine Schicht kulturinteressierter Akademiker und Akade­ mikerinnen bzw. wohlverdienender Kunstfreunde und Kunstfreundinnen anzusprechen, sollte sich eine solche Kunst – ohne sich um die Häme der systemimmanenten Schickeria zu kümmern – stets an die Mehrheit der Bevölkerung wenden und diese zu einem gesamtgesellschaftlichen Verant­ wortungsbewusstsein aufrufen.23

258

Nachwort. Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur

I Fragen wir uns so konkret wie nur möglich  : Welche Folgerungen lassen sich im Hinblick auf eine sinnvolle Periodisierung der in diesem Buch behan­ delten Epochenstrukturen der deutschen Kulturentwicklung zwischen dem späten 18. Jahrhundert und der gegenwärtigen Situation ziehen  ? Auf den ersten Blick erst einmal keine oder nur sehr wenige. Alle der in den einzelnen Kapiteln vorgestellten Leitkulturen und der mit ihnen übereinstimmenden oder gegen sie aufbegehrenden Stile, Ismen, Sezessionen, revolutionären Avantgarden oder auch reaktionären Bewegungen fügen sich zwar nahtlos in den Verlauf der deutschen Geschichte ein, das heißt hängen aufs Engste mit den jeweiligen politischen und sozioökonomischen Grundbedingungen zusammen, ergeben aber keine logische Aufeinanderfolge im Sinne einer von progressiven Impulsen angetriebenen Gesamtentwicklung. Immer wie­ der kam es aufgrund reaktionärer Restaurationsbemühungen wie nach dem Wiener Kongress von 1815, der gescheiterten Revolution von 1848/49, der Gründung des Zweiten Kaiserreichs, dem Ersten Weltkrieg, der Weimarer Republik, dem Sieg des Nazifaschismus, dem Zweiten Weltkrieg, der ­Teilung Deutschlands in zwei autonome Staaten, der Wiedervereinigung im Jahr 1989/90 und dann der Berliner Republik zu tiefgreifenden Umbrüchen, die zu ständig neuen Richtungswechseln führten. Und die »Kultur« passte sich, wie nicht anders zu erwarten, diesen Ein­ schnitten, wenn nicht gar Katastrophen geradezu zwangsläufig an. Das Resultat war darum auch auf diesem Gebiet ein höchst verwirrendes Nach-, Gegen- oder Nebeneinander verschiedenster Strömungen, ob nun vehement revolutionärer, reformistisch-liberaler, ästhetisch-sezessionistischer, in die Innere Emigration ausweichender, opportunistisch-angepasster oder gewalt­ sam-totalitaristischer Prägung, die sich nicht ohne Weiteres in eine kohärent 259

Nachwort

verlaufende Gesamtentwicklung einordnen lassen, sondern – auf den ersten Blick – lediglich wie singuläre, unwiederholbare Erscheinungen wirken. Jeder, der sich um eine konsequent verlaufende Periodisierung der deut­ schen Kulturentwicklung der letzten 200 Jahre bemüht, sieht sich daher erst einmal einer Fülle sich widerstreitender Bewegungen und Stile gegenüber, die zwar, wie gesagt, höchst konkret mit den jeweiligen politischen und sozioökonomischen Voraussetzungen zusammenhängen, aber aus denen sich letztlich keine innere Zwangsläufigkeit ergibt. Gut, man könnte die einzelnen Leitkulturen und die gegen sie aufbegehrenden sowie mit ihnen übereinstimmenden Bewegungen in die oft hervorgehobene weiße bzw. schwarze Linie der deutschen Geschichte einordnen, also den humanistisch gesinnten Aufklärern, den Jakobinern, den Jungdeutschen, den Vormärz­ lern, den Achtundvierzigern, den Naturalisten, den Expressionisten, den Linken der Weimarer Republik, den antifaschistischen Exilkünstlern nach 1933, den hoffnungsvollen Kulturfunktionären der frühen DDR, den west­ deutschen Achtundsechzigern sowie den Vertretern und Vertreterinnen der darauffolgenden ökologischen, feministischen und pazifistischen Neuen sozialen Bewegungen in ebenso signifikanter Reihenfolge die Antijakobiner, den rechten Flügel der Romantiker, die mit der metternichschen Restaura­ tion übereinstimmenden Biedermeier, die Nachmärzler, die Gründerzeit­ ler, die Anhänger der Völkischen Opposition des Zweiten Kaiserreichs, die Nazifaschisten sowie die Kalten Krieger der Zeit nach dem Zweiten Welt­ krieg gegenüberstellen. Aber selbst das wäre noch nicht genug, um dar­ aus eine kulturell stringente Periodisierung abzuleiten. Schließlich gab es daneben eine bis ins frühe 20. Jahrhundert weiterbestehende Volkskultur sowie viele Kulturschaffende und mit ihnen sympathisierende bildungsbür­ gerliche Bevölkerungsschichten, die sich als »unpolitisch« verstanden und versuchten, sich auf sezessionistische Weise von den jeweils tonangebenden Hauptströmungen zu distanzieren und in die Gefilde eines ästhetischen Autonomiestrebens auszuweichen. Und doch – trotz der geradezu unübersehbaren Fülle all dieser Phäno­ mene – lässt sich wenigstens im Lauf der Zeit ein immer mächtiger werdender 260

Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur

Entwicklungstrend innerhalb dieser gewaltsam aufeinander reagierenden Wandlungsprozesse beobachten, der letztendlich zu einer grundsätzlichen Veränderung all dessen geführt hat, was man noch im Mittelalter, der ­frühen Neuzeit und in der Ära des autoritären Absolutismus unter »Kultur« verstan­ den hatte. Während nämlich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts – vor allem im Bereich der Architektur, der Musik und der bildenden Künste – fast ausschließlich die feudalistischen und kirchlichen Autoritäten die maßgeb­ lichen Auftraggeber auf diesen Gebieten waren, in denen sie wichtige Mani­ festationen ihrer Herrschaftsansprüche sahen, trat im Zuge der Aufklärung das sich allmählich emanzipierende Bürgertum als eine neue kulturelle Trä­ gerschicht auf, ja beanspruchte zusehends, wenn auch anfangs vornehmlich auf literarischem Sektor, die führende Rolle in dieser Hinsicht zu spielen.1 Damit setzte ein Paradigmenwechsel ein, dessen Folgen bis heute zu spü­ ren sind. Im Gegensatz zu der zuvor weitgehend von autoritär überformten Herrschaftsvorstellungen dominierten Kultur, die lange Zeit als alleingültig ausgegeben wurde, versuchte sich jetzt – im Zuge der verstärkten Verstäd­ terung und dann der seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden Indust­ rialisierung – nicht nur politisch und wirtschaftlich, sondern auch kulturell ein bürgerliches Vormachtstreben durchzusetzen, was zwangsläufig zu hef­ tigen Konflikten zwischen den weiterhin auf ihre Hoheitsrechte pochen­ den aristokratischen Oberschichten und dem gesellschaftlich aufstrebenden Mittelstand führte. Und das bewirkte im Laufe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts all jene politischen und kulturellen Konfrontationen, von denen bereits die Rede war.

II Wer also im Hinblick auf diesen Zeitraum von leitbildlichen Epochenstruk­ turen spricht, sollte stets bedenken, dass sich diese nur im Rahmen der verschiedenen Ausprägungen der seit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts einsetzenden bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen verstehen lassen. Allerdings gilt es dabei stets jene Wandlungen im Auge zu behalten, die zum größten Teil durch den dramatischen Verlauf der deutschen Geschichte in 261

Nachwort

diesem Zeitraum mitbedingt wurden und immer wieder zu ideologischen Neuorientierungen führten, wodurch dieser Emanzipationsdrang ständig neue, den jeweiligen politischen und sozioökonomischen Verhältnissen angepasste Formen annahm. Was anfangs im Rahmen dieser Gesinnung noch durchaus humanistisch, ja fast menschheitlich gemeint klang, ging nämlich schon im Laufe des 19. Jahrhunderts in eine mittelständische Hal­ tung über, die sich nicht nur gegen die Hoheitsansprüche der aristokrati­ schen Oberschicht, sondern auch gegen die Forderungen des Vierten Stan­ des wandte und dadurch viel von ihrem ursprünglich progressiven Charakter einbüßte. Die von einigen jakobinisch gesinnten bürgerlichen Radikalauf­ klärern in den frühen neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts verkündete Parole »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« verlor daher in der Folgezeit zusehends ihre ins Menschheitliche tendierende Zielrichtung. Was übrig blieb, war lediglich die viel beschworene »Freiheit«, die allerdings immer stärker im Sinne einer erweiterten Freizügigkeit des persönlichen Durch­ setzungsdrangs verstanden wurde. Welche kulturellen Konsequenzen sich daraus ergaben, ist leicht vorher­ zusehen. Was im Rahmen des wirtschaftlich und damit gesellschaftlich aufsteigenden Bürgertums fortan als ausschlaggebend galt, war fast aus­ schließlich die Kultur jener selbstbewussten bildungsbürgerlichen Elite, die sich gegen die älteren Hoheitsansprüche der Aristokratie auf diesem Gebiet durchzusetzen versuchte. Und aufgrund ihrer wirtschaftlichen Vor­ machtstellung gelang ihr das auch. Damit wurden zwar einige feudalistische Kulturinstitutionen, wie das Hoftheater und die Hofoper, zusehends in den Hintergrund gedrängt, aber zugleich eine kulturelle Selbstgenügsam­ keit angestrebt, die nicht mehr im Sinne der bürgerlichen Radikalaufklärer des späten 18. Jahrhunderts ins Kosmopolitische zielte, sondern lediglich den künstlerischen Gemütsansprüchen der sich saturiert gebenden Bour­ geoisie der Nachmärzära und des anschließenden wilhelminischen Zeital­ ters dienlich sein sollte. Die ideologischen Folgen waren dementsprechend, das heißt sie führten zu einer weitgehenden Entpflichtung von Kultur im Sinne klar umrissener Fortschrittskonzepte zu Ungunsten eines ästhetischen 262

Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur

Autonomiestrebens, das – von kurzlebigen rebellischen Episoden wie dem Naturalismus der Zeit um 1890 und dem Frühexpressionismus zwischen 1910 und 1914 einmal abgesehen – vornehmlich auf das Genussverlangen der gut- und bestbürgerlichen Schichten im Hinblick auf ihre impressionis­ tische Reizsamkeit und ihre vom Jugendstil herkommenden Dekorations­ bedürfnisse zugeschnitten war. Was sich dadurch in dieser Ära auf wissenschaftlicher Ebene verbreitete, war ein Denken in sich modisch abwechselnden Stilen und Ismen, die sich weitgehend als kunstautonom verstanden und von vielen bürgerlichen Kunstschriftstellern als Ausdrucksformen einer sich endlich von allen ideo­ logischen Vorgaben befreiten »Moderne« hingestellt wurden. Und dieses modernistische Ismen-Karussell blieb solange in Schwung, wie jene von 1892/93 bis 1914 herrschende wirtschaftliche Hochkonjunktur anhielt, die großen Teilen der konservativ eingestellten bildungsbürgerlichen Elite das Gefühl verlieh, in einer Periode ununterbrochener Wohlstandssteigerung zu leben, in der man in Kunst und Kultur auf irgendwelche gesellschaftli­ chen Alternativvorstellungen getrost verzichten könne und sich stattdessen lieber an farbsprühenden oder stilkünstlerischen L’art pour l’art-Produkten erfreuen solle. Doch mit dieser weitgehend ins Kunstautonome tendierenden, moder­ nistisch-ästhetisierenden Unverbindlichkeit war es nach der Novemberrevo­ lution von 1918, dem Auftreten der Arbeiter- und Soldatenräte sowie den ins Politaggressive verstoßenden spätexpressionistischen und dadaistischen Künstlergruppen erst einmal vorbei. Allerdings erwiesen sich selbst diese Umsturzbemühungen als kurzlebige Episoden. Was sich schon zwei bis drei Jahre später in der sogenannten Weimarer Republik im Zuge einer politi­ schen und wirtschaftlichen Stabilisierung durchsetzte, war eine ideologische Grundbefindlichkeit, für die sich schnell das Schlagwort »Neue Sachlichkeit« einbürgerte, um sich damit kulturell zu einer Gesinnung zu bekennen, die im Sinne der erneut angestrebten Wohlstandssteigerung auf alle bisheri­ gen Ismen verzichten könne. Ja, manche der diese Wende unterstützenden Kulturtheoretiker wollten fortan nicht nur die früheren Stilbemühungen, 263

Nachwort

Abb. 40 HAP Gries­ haber  : Der 1. Mai 1978

sondern alle höher gearteten Kulturformen abschaffen und fassten demzu­ folge eine als »demokratisch« verstandene, das heißt allgemeinverständliche Leitkultur ins Auge, wobei sie ihre Haupthoffnungen auf die sich damals schnell ausbreitenden Massenmedien setzten. Das war zum Teil durchaus liberal gemeint, führte aber letztendlich – vor allem auf Betreiben der vorwiegend marktorientierten Musik- und Filmindustrie – zu einem Übergewicht des Unterhaltsam-Zerstreuenden, in dem kaum noch höhere Zielsetzungen zu erkennen waren. Kurzum  : Das Ergebnis dieser Entwicklung war, dass sich neben den Enklaven der bildungsbürgerlichen E-Kultur eine auf die breiten Massen ausgerichtete U-Kultur ausbreitete, die zwar diese Bevölkerungsschichten bei guter Laune 264

Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur

hielt, ihnen aber keine gesellschaftlich relevanten Ideale vermittelte. Und an dieser Aufspaltung in zwei Kulturen änderte sich – trotz mancher lauthals verkündeten Volksgemeinschaftskonzepte – selbst in dem darauffolgenden Dritten Reich nicht viel. Die breiten Massen bevorzugten auch in diesem Zeitraum weiterhin die ihnen von den Massenmedien angebotenen Schla­ ger und Filmkomödien, während sich die bildungsbürgerlichen Schichten zusehends in die Innenräume der älteren E-Kultur zurückzogen.

III Doch kommen wir endlich zu jenen Kulturverhältnissen, wie sie sich nach dem Zusammenbruch des Nazifaschismus herausbildeten. Wie bereits aus­ führlich dargestellt, änderte sich auch danach an der bereits in den zwanzi­ ger Jahren eingetretenen Aufspaltung in eine E- und eine U-Kultur nichts Wesentliches. Lediglich in der DDR versuchte man anfangs diesen Gegen­ satz sowohl durch eine auf die Gegenwart bezogene Reaktivierung der pro­ gressiven Tendenzen innerhalb der älteren Hochkultur als auch durch die Propagierung eines Sozialistischen Realismus aufzuheben, der aufgrund sei­ ner propagandistischen Absicht und vereinfachten Stilgebung alle Schichten der Bevölkerung ansprechen sollte. Doch, wie wir wissen, scheiterte dieser Versuch an der sich seit den siebziger Jahren zusehends den massenmedialen Verlockungen hingebenden Mehrheit der dortigen Bevölkerung. In der BRD setzte dieser Trend ins Populistische, wie wir uns ebenfalls erinnern, bereits im Rahmen des in den fünfziger Jahren allerorts verkün­ deten »Wirtschaftswunders« ein. Gut, auch hier gab es Gegenstimmen, die sich ebenso vehement auf die Vorbildlichkeit des kulturellen Erbes beriefen, aber sie konnten sich gegen den breiten Strom der U-kulturellen Überflu­ tung nicht durchsetzen. Selbst der für die politische Relevanz älterer, gesell­ schaftskritisch eingestellter Hochkulturwerke eintretende linke Flügel der Achtundsechziger Bewegung sowie einiger gewerkschaftlich organisierter Gruppen blieb daher letztlich folgenlos. Und auch die sich in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren formierenden Neuen sozialen Bewe­ gungen, denen es vor allem um ökologische, feministische und pazifistische 265

Nachwort

Belange ging, bewirkten – trotz mancher beachtlichen Einzelleistungen – keine ins Hochkulturelle zielende Wende.3 Was sich dadurch nach der 1989/90 erfolgten Wiedervereinigung der beiden Deutschländer in kultureller Hinsicht in der neuen Bundesrepublik durchsetzte, war ein scheinbar nicht mehr zu überwindendes Nebenein­ ander gewisser, längst veralteter E-Kulturreste und eine immer mächtiger anschwellende U-Kultur. Demzufolge trat auf dieser Ebene jene bereits vor Jahrzehnten von Herbert Marcuse prophezeite kulturelle »Eindimensiona­ lität« ein, die von den maßgeblichen Meinungsträgerschichten und den von ihnen beeinflussten Massenmedien geradezu unentwegt als der e­ ndlich erreichte Zustand eines den Wünschen der Mehrheit der Bevölkerung ent­ sprechenden Kulturverhaltens hingestellt wurde, das auf alle als »totalita­ris­ tisch« charakterisierten Alternativkonzepte getrost verzichten könne. Auf­ grund derartiger Human conditioning- bzw. Social engineering-Taktiken lassen sich die von ihnen beeinflussten sogenannten breiten Massen seitdem einfach passiv weitertreiben, ohne sich groß Gedanken über eine Änderung der bestehenden Verhältnisse zu machen. Und die Folgen dieser Haltung sind überall zu spüren. Wenn nämlich in einer Gesellschaft die »Oasen« eines mit kritischer Absicht in die Öffentlichkeit eingreifenden Kulturwil­ lens »austrocknen«, wie Jürgen Habermas bereits 1985 in seinem Büchlein Die neue Unübersichtlichkeit erklärte, breite sich zwangsläufig ein Zustand der »allgemeinen Ratlosigkeit und Banalität« aus.2 Worin sich diese Ratlosigkeit und Banalität seitdem auf kultureller Ebene besonders nachdrücklich manifestiert, sind – einmal etwas pauschalisierend formuliert – vor allem folgende Erscheinungen  : Über die besagte Banalität brauchen nicht viele Worte verloren zu werden. Sie herrscht am eindring­ lichsten auf fast allen Ebenen der gängigen Massenmedien, wo es von Silly Love Songs, Rockmusik, Seifenopern, Comicstrips, Krimis, Groschenroma­ nen, Klatschgeschichten, Soft Pornos, Filmkomödien, Sportveranstaltun­ gen, Videospielen, Ratesendungen und Blödelbardenauftritten nur so wim­ melt. All das lässt sich, wie das ständige Muzak-Gedudel, durchaus auf der

266

Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur

Stelle konsumieren, ohne irgendwelche tiefergehende, ins gesellschaftliche Bewusstsein eingreifende Wirkungen zu hinterlassen. Anders steht es dagegen mit dem Phänomen der Ratlosigkeit, das sich eher in jenen Kulturformen äußert, die einen etwas höheren Anspruch vertreten. So sind etwa wegen ausbleibender Alternativvorstellungen im Bereich der sogenannten Neuen Musik fast alle einmal als innovativ aus­ gegebenen Tendenzen inzwischen weitgehend erloschen. Und auch in den Werken der anspruchsvolleren bildenden Künste kommt es, wenn man an die allerorts ausgestellten abstrakten Installationen denkt, kaum noch zu irgendwelchen aussagekräftigen Neuerungen. Lediglich in der gehobenen Literatur und in gewissen Cineastenfilmen handelt es sich zum Teil noch um Themen, die sich mit Konfliktsituationen innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaftszustände auseinandersetzen. Doch selbst hier werden solche Konflikte – aufgrund des besagten Mangels an Alternativvorstellungen – meist auf der Ebene individueller Einzelerscheinungen und nicht als kol­ lektiv bedingte Vorgänge dargestellt, was zu einem merklichen Übergewicht des Biographischen, wenn nicht gar des Autobiographischen über irgend­ welche gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen geführt hat. Um all diese kulturellen Erscheinungsformen kurz zusammenzufassen  : Das Ergebnis der bereits von Jürgen Habermas beschworenen ideologischen »Ratlosigkeit und Banalität« im Bereich des gegenwärtigen Kulturbetriebs ist daher – paradox gesprochen – ein Zustand, der sich am besten mit dem Begriff einer sich pluralistisch gebenden Eindimensionalität umschreiben ließe, in dem einerseits auf der untersten Ebene eine als demokratisch ver­ standene Massenbefriedigung, andererseits auf einer etwas höheren Ebene ein weitgehender Rückzug ins Abstrakt-Nichtssagende bzw. Subjektiv-Ver­ einzelte dominiert, ohne dass sich darin irgendwelche stilbildenden oder gar progressiv wirkenden Tendenzen andeuten würden, die sich im älteren Sinne als avantgardistisch bezeichnen ließen. Was in fast all diesen kultu­ rellen Manifestationen vorherrscht, ist letztlich ein Status quo-Verhalten, in dem sich keine gesamtgesellschaftlich relevanten Zielvorstellungen mehr zu erkennen geben. 267

Nachwort

IV Die ideologische Folgeerscheinung dieser angeblich als pluralistisch, subjek­ tivistisch, freiheitlich und damit demokratisch hingestellten bundesrepubli­ kanischen »Erlebnisgesellschaft« ist dementsprechend eine Juste milieu-­ Mentalität, die – trotz aller technologischen Innovationen im Bereich der Massenmedienindustrie – im Gefolge der verbreiteten Posthistoire­ Stimmungen weitgehend im Zustand einer selbstgenügsamen Fortschritts­ losigkeit verharrt. Gut, es hat auch kritische Reaktionen auf den Abbau gesamtgesellschaftlicher Ansprüche gegeben. So haben sich in den letz­ ten drei Jahrzehnten mehrere parteiamtliche Wertekommissionen damit beschäftigt, eine Reihe spezifisch »demokratischer« Kulturideale ausfindig zu machen. Aber diese Bemühungen sind meist daran gescheitert, weil die Vertreter oder Vertreterinnen derartiger Gremien nach längeren Bera­ tungen zu der Überzeugung kamen, den bestmöglichen Zustand einer die Mehrheit der deutschen Bevölkerung zufriedenstellenden Kultur bereits erreicht zu haben. Ja, es hat sogar – als Reaktion auf die jüngst erfolgten Einwanderungswellen – Vorschläge zu einer spezifisch deutschgesinnten Leitkultur gegeben. Aber diese waren von Seiten der AfD zumeist chauvi­ nistisch oder von Seiten der CDU/CSU zumeist religiös ausgerichtet und sind daher zu Recht auf den Widerspruch der eher internationalistisch und damit weltoffen eingestellten Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevöl­ kerung gestoßen.4 Dagegen sind die Vorschläge zu einer »neuen Leitkultur«, zu denen sich jüngst einige SPD-Politiker bekannten,5 wegen ihrer Befür­ wortung transnationaler sowie transreligiöser Wertvorstellungen von vielen Deutschen durchaus begrüßt worden. Allerdings ging es dabei – unter dem Motto »tolerant, bunt und einladend« – eher um liberale Verhaltensformen innerhalb einer pluralistisch ausgerichteten Gesellschaft als um jene spe­ zifisch kulturstiftenden Aspekte, wie sie einmal bei der ins Höhergeartete zielenden Kunst der älteren Avantgarden im Vordergrund gestanden haben. Doch damit sollte die Idee einer wahrhaft neuen Leitkultur keineswegs endgültig abserviert sein, selbst wenn sich diese – angesichts der gegenwär­ tig herrschenden Gesellschaftsverhältnisse – nur als eine in die Geschichte 268

Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur

vorausgreifende Utopie anvisieren lässt. Und es mehren sich bereits einige Anzeichen, die in diese Richtung tendieren. Schließlich sind in den letzten Jahren – vor allem auf sozialpolitischer Ebene – eine Reihe von Kritikern aufgetreten, welche die eklatante Ungleichheit der finanziellen Vermögens­ verhältnisse innerhalb der bundesrepublikanischen Bevölkerung als zutiefst »undemokratisch« hingestellt haben, statt wie viele systemkonforme Wirt­ schaftswissenschaftler im Hinblick auf diesen Staat weiterhin sowohl von einer pluralistisch wohlfunktionierenden als auch sozial nivellierten Mittel­ standsgesellschaft zu sprechen. Ja, einige dieser Kritiker haben sogar nicht gezögert, Deutschland höchst provokativ als eines der »reichsten Armenhäu­ ser der Welt« zu charakterisieren, in dem endlich eine »neue Umverteilung« der bestehenden Vermögensverhältnisse durchgesetzt werden müsse,6 um die herrschenden Zustände überhaupt noch als »demokratisch« bezeich­ nen zu können. Warum sollte also im Hinblick auf die kulturelle Situation in der gegen­ wärtigen Bundesrepublik auf eine ähnlich geartete Kritik verzichtet werden  ? Wenn man schon neue Leitbilder einer wahrhaft demokratischen Gesell­ schaft ins Auge fasst, müsste man das auf allen Gebieten tun und dürfte sich nicht mit Einzelaspekten begnügen. Schließlich ist »Kultur« nichts Neben­ sächliches, nicht nur ein unverbindliches Freizeitvergnügen oder ein dekora­ tives Aushängeschild. Genau besehen, das heißt wirklich ernst genommen, sollte sich in ihr all das manifestieren, was einer bestimmten Gesellschaft ihren ideellen Rang verleiht, ihr als Leitbild einer höher gearteten Gesittung dienen könnte, ihr den Weg zu der »einen großen, gebildeten Nation« wei­ sen würde, woran seit dem späten 18. Jahrhundert viele jener fortschrittlich eingestellten Aufklärer, Humanisten und Sozialisten geglaubt haben, für die Politik und Kultur noch eine untrennbare Einheit bildeten, Ja, noch mehr  : Um sich in den Dienst dieser hehren Aufgabe zu stellen, haben sie sich häu­ fig mit Gleichgesinnten zu avantgardistischen Gruppen vereint oder sich betont progressiven Parteien angeschlossen. Statt im Bereich des Ideellen zu verharren, wollten sie zugleich in die gesellschaftliche Praxis eingreifen. Dass ihnen das nur in wenigen Fällen gelungen ist, sei durchaus zugegeben. 269

Nachwort

Aber vielen der älteren Avantgardisten mangelte es wenigstens nicht an einer dahingehenden Absicht. Dagegen ist heute eine derartige Avantgarde auf kulturellem Sektor nir­ gendwo in Sicht. Überall herrscht auf diesem Gebiet, wie gesagt, entweder das Unterhaltsam-Massenhafte oder das Hoffnungslos-Vereinzelte vor, deren mediale Vermittlungsformen sich zwar geändert haben, denen jedoch keine neuen ideologischen Zielsetzungen zugrunde liegen. Das Konzept einer neuen Avantgarde scheint daher in kultureller Hinsicht endgültig aufgege­ ben zu sein. Auch von der Möglichkeit eines neuen Stils, eines neuen Ismus, einer neuen Epochenstruktur wird in dieser Hinsicht nirgends mehr geredet. Was geradezu flächendeckend vorherrscht, ist eine selbstgenügsame Postmo­ derne, die selbst die bisher als »modernistisch« aufgefassten Kunstformen als veraltet empfindet und sich mit einem kulturellen Stillstand begnügt. Gut, es gibt immer noch das sogenannte kulturelle Erbe und es wird auch von vielen staatlichen und kommunalen Institutionen am Leben erhal­ ten. Doch darin »unsere Kultur« zu sehen, wäre eine Illusion. Schließlich handelt es sich bei diesen Werken, und mögen sie noch so bedeutsam sein, nicht um unsere Kultur, sondern um Werke längst vergangener Epochen. Genau besehen, machen sie kritisch eingestellten Kulturtheoretikern ledig­ lich bewusst, dass es heute kaum noch Werke gibt, die sich damit vergleichen lassen. Aber selbst angesichts solcher Einsichten dürften Kritiker dieser Art, statt die Flinte von vornherein ins Korn zu werfen, nicht darauf verzichten, neue, wenn auch vorerst noch utopisch wirkende kulturelle Leitbilder zu entwerfen, mit denen sich dieser Zustand eventuell überwinden ließe. Und zwar sollten sie dabei ihre Hoffnungen nicht auf irgendwelche kunstimma­ nenten Entwicklungsvorgänge setzen, die im Rahmen der gegenwärtigen, vornehmlich profitorientierten Marktgesetze kaum durchführbar sind, son­ dern sich keineswegs scheuen, die jeweils herrschenden Parteien und die von ihnen unterstützten Regierungen sowie die kommunalen Behörden und Gewerkschaften für ihre ideologischen Zielsetzungen zu interessieren. Besonders wichtig wäre in diesem Zusammenhang die Errichtung eines effektiven Kultusministeriums, das verantwortungsbewussten Künstlern 270

Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur

staatliche Aufträge erteilen würde, bei ihren Werken sowohl Themen aufzu­ greifen, die sich mit der nach wie vor bestehenden finanziellen, bildungsbe­ dingten und geschlechtsspezifischen Ungleichheit, kurzum  : den unüberseh­ baren Klassenunterschieden der real existierenden Bevölkerungsschichten auseinandersetzen würden, als auch ideologische Leitbilder einer neuen gesellschaftlichen Solidarität aufzurichten, welche auf möglichst konkreten Zielvorstellungen, wie denen einer sozialen Gleichberechtigung, einem kom­ munitaristischen Verantwortungsbewusstsein, einer ökologischen Nach­ haltigkeit, einer besseren Altersvorsorge, einer zunehmenden Aufhebung des Gegensatzes von entfremdeter und unentfremdeter Arbeit, einer höher gearteten Bildungspolitik und damit einer größeren Wertschätzung der diesen Idealen entsprechenden Kunstwerke beruhen würden. Das letztlich anvisierte Ziel all dieser Bestrebungen wäre demnach eine neue Leitkultur, die sich – jenseits der bestehenden Spaltung in eine ins massenhaft trivialisierte U-Kultur sowie eine ins Ästhetisierende oder psy­ chologisch Vereinzelte und damit Randständige tendierende E-Kultur – endlich bemühen würde, eine A- oder Allgemeinkultur ins Auge zu fassen, von der wieder gesellschaftsverändernde Impulse ausgehen könnten. Erst dann wäre es möglich, mit besserem Gewissen von einer wahrhaft demo­ kratischen Kultur zu sprechen.

271

Anmerkungen Statt eine stringente Abfolge der in Deutschland seit der sogenannten Wei­ marer Klassik vorherrschenden Leitkulturen und der mit ihnen übereinstim­ menden, ins Kunstautonome ausweichenden oder gegen die aufbegehren­ den Kunst-Ismen, Sezessionen, revolutionären Avantgarden oder reaktionä­ ren Bewegungen nachzuzeichnen, werden in den einzelnen Kapiteln dieses Buchs lediglich einige der wichtigsten Konfrontationen in dieser Hinsicht behandelt. Um stets das Grundsätzliche derartiger Problemstellungen im Auge zu behalten, haben sich dabei gewisse Wiederholungen oder Über­ schneidungen nicht ganz vermeiden lassen. Man fasse deshalb das Ganze trotz seiner chronologischen Abfolge nicht als eine historisch angelegte Monographie, sondern als eine essayistische Auseinandersetzung mit dem Begriff »Leitkultur« auf, dem es nach vielen Verfälschungen ins Herrschafts­ betonte, ob nun in chauvinistischer, religiöser oder totalitaristischer Ausprä­ gung, endlich eine wahrhaft demokratische Sinngebung abzugewinnen gilt. Die Computerisierung des Ganzen besorgte wiederum Justin Court, wäh­ rend mir Carol Poore beim Korrekturlesen half. Beiden sei auch an dieser Stelle nochmals mein aufrichtiger Dank ausgesprochen.

Vorwort. Zur Vielfalt bisheriger Periodisierungsbemühungen von Epochenstrukturen 1  Vgl. Richard Hamann und Jost Her­ mand  : Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionis­ mus, 5 Bde., Berlin 1959–1977, und Jost Hermand und Frank Trommler  : Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978. 2  Vgl. hierzu schon meine Aufsätze  : Periodisierungsfragen einer allgemeinen Kulturgeschichte. In  : Friedrich Möbius und Helga Sciurie (Hrsg.)  : Stil und

Epoche, Dresden 1989, S. 268–286, und Principles of Periodization in Ger­ man Art and Literature. In  : Ingeborg Hoesterey und Ulrich Weisstein (Hrsg.)  : Intertextuality. German Litera­ ture and Visual Art, Columbia, S.C. 1993, S. 18–29. 3  Vgl. die Periodisierungsprinzipien in Heinrich Wölfflin  : Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilent­ wicklung in der neueren Kunst, Mün­

Anmerkungen chen, 2. Aufl., 1948, S. 20 ff., und die Kritik daran in Arnold Hauser  : Sozial­ geschichte der Kunst und Literatur, München 1958, Bd. I, S. 458–461. 4  Vgl. dazu mein Buch  : Literaturwis­ senschaft und Kunstwissenschaft. Methodische Wechselbeziehungen seit 1900, Stuttgart 1965, S. 6 ff. 5  Vgl. Walter Benjamin  : Illuminatio­ nen, Frankfurt a. M., 1969, Bd. I, S. 253 f. 6  Vgl. u. a. Rainer Rosenberg  : Litera­ turverhältnisse im deutschen Vormärz, München 1975. In  : Zentralinstitut für Literaturgeschichte (Hrsg.)  : Streitpunkt Vormärz. Beiträge zur Kritik bürgerli­ cher und revisionistischer Erbeauffas­ sungen, Berlin1977, Willi Geismeier  : Biedermeier als literarisches Pseudonym, Leipzig 1975, und meinen Aufsatz  :

»Biedermeier« oder »Vormärz«. Zum Kalten Krieg in der ost-westdeutschen Literaturwissenschaft zwischen 1950 und 1980. In  : Ders.: Fünfzig Jahre Ger­ manistik. Aufsätze, Statements, Polemi­ ken 1959–2009, Frankfurt a. M. 2009, S. 323–340. 7  Vgl. meinen Forschungsbericht  : All­ gemeine Epochenprobleme. In  : Jost Hermand und Manfred Windfuhr (Hrsg.)  : Zur Literatur der Restaurati­ onsperiode 1815–1845. Festschrift für Friedrich Sengle, Stuttgart 1970, S. 3–61, und Friedrich Sengles Reaktion darauf in  : Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815– 1848, Stuttgart 1971, Bd. I, S. 198– 201.

Der in den frühen siebziger Jahre entfachte Streit um die häufig als »klassische« Leitkultur hingestellte Goethe-Zeit 1  Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.)  : Die Klassik-Legende, Frankfurt a. M. 1971. 2  Vgl. hierzu Frank Trommler  : Jost Hermand or the Ways of Shaping a Dis­ cipline. In  : Stephen Brockmann and James Steakley (Hrsg.)  : Heroes and Heroism. Essays in Honor of Jost Her­ mand, Amsterdam 2001, S. 242 ff. 3  Das Junge Deutschland. Texte und Dokumente. Hrsg. von Jost Hermand, Stuttgart 1966, S. 20–30. 4  Jost Hermand  : Von Mainz nach Wei­ mar. 1793–1919. Studien zur deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 9–52.

274

5  Vgl. hierzu auch mein Buch  : Zuhause und anderswo. Erfahrungen im Kalten Krieg, Köln 2000, S. 142. 6  Jost Hermand  : Stänker und Weisma­ cher. Zur Dialektik eines Affekts, Stutt­ gart 1971. 7  Die Klassik-Legende (wie Anm. 1), Vorwort, S. 12. 8  Franz Schonauer  : Die Klassik-Le­ gende. Hessischer Rundfunk am 8. Januar 1972. Gedruckt als  : Attacke gegen ein Bildungsklischee. In  : Kölner Stadt-Anzeiger am 10. Februar 1973. 9  Vgl. meine zwei Aufsätze  : Heines »Ideen« im »Buch Le Grand«. In  : Man­ fred Windfuhr (Hrsg.)  : Internationaler

Anmerkungen Heine-Kongreß 1972, Hamburg 1973, S. 370–385, und  : Werthers Harzreise. In  : Von Mainz nach Weimar (wie Anm. 4), S. 129–151. 10  Diskussion. In  : Internationaler Hei­ ne-Kongreß (wie Anm. 9), S. 399–402. 11  Ebd. S. 402. 12  Rudolf Walter Leonhardt  : Liberale, Marxisten und Judaisten auf einem Kongreß in Düsseldorf. In  : Die Zeit, Nr. 43 vom 31. Oktober 1972. 13  Zit. in Karl Robert Mandelkow (Hrsg.)  : Goethe im Urteil seiner Kriti­ ker. Teil IV, 1948–1982, München 1984, S. 426. 14  Helmut Holtzhauer  : Von Sieben, die auszogen, die Klassik zu erlegen. In  : Sinn und Form, 1973, H.1, S. 169– 188. Vgl. zu Holtzhauer den Aufsatz von Ingeborg Cleve  : Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Klassik in Weimar in der Ära Holtzhauer (1954–1973). In  : Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.)  : Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln 2000, S. 343–358. 15  Ebd., S. 188. 16  Ebd., S. 178. 17  Ebd., S. 188. 18  Ebd., S. 188. Vgl. dazu auch Klaus L. Berghahn  : Das Andere der Klassik. Von der »Klassik-Legende« zur jüngsten Klassik-Diskussion. In  : Goethe Year­ book 6, 1992, S. 7 ff. 19  Vgl. hierzu auch Lothar Ehrlich und Gunther Mai (Hrsg.)  : Weimarer Klassik in der Ära Honecker, Köln 2001, und zwar vor allem die Beiträge »Ostdeut­ sche Kulturwissenschaft und Weimarer Klassik« von Dietrich Mühlberg (S. 91), »Die Klassik-Debatte in der Zeitschrift

›Sinn und Form‹ 1973/74« von Lothar Ehrlich (S. 109–126) und »Klassik vor Ort. Präsentationsformen und Aneig­ nungsweisen« von Ingeborg Cleve (S. 238f.). 20  Sinn und Form, 1973, H. 1, S. 254. 21  Vgl. Werner Mittenzwei  : Die Intel­ lektuellen. Literatur und Politik in Ost­ deutschland 1945–2000, Leipzig 2001, S. 266 f. 22  Hans-Heinrich Reuter  : Die deut­ sche Klassik und das Problem Brecht – Zwanzig Sätze der Entgegnung auf Wer­ ner Mittenzwei. In  : Sinn und Form, 1973, H. 4, S. 809–824., Lothar Ehr­ lich  : Bertolt Brecht und die deutsche Klassik, 1974, H. 5, S. 221–227, und Hans Dietrich Dahnke  : Sozialismus und deutsche Klassik, 1974, H. 5, S. 1083–1107. 23  Wilhelm Girnus  : Die Glätte des Stroms und seine Tiefe – Betrachtungen über unser Verhältnis zur literarischen Vergangenheit. In  : Sinn und Form, 1975, H. 3, S. 55–62. 24  Rudolf Dau  : Erben oder Enterben  ? Jost Hermand und das Problem einer realistischen Aneignung des klassischen bürgerlichen Literaturerbes. In  : Weima­ rer Beiträge 19, 1973, H. 7, S. 67–97. Vgl. dazu auch Rainer Rosenberg  : Das klassische Erbe in der Literaturge­ schichtsschreibung der DDR. In  : Wei­ marer Klassik in der Ära Ulbricht (wie Anm. 14), S. 192 f. 25  Rudolf Dau  : Erben oder Enterben (wie Anm. 24), S. 71. 26  Ebd., S. 71. 27  Ebd., S. 75. 28  Ebd., S. 72. 275

Anmerkungen 29  Ebd., S. 73. 30  Ebd., S. 94. 31  Dieter Schiller  : Von alten und neuen Legenden. In  : Weimarer Beiträge 20, 1974, H. 1, S. 170–178. 32  Ebd., S. 170. 33  Ebd., S. 174. 34  Ebd., S. 177. 35  Rudolf Dau  : Klassenkampf und klassisches Erbe. Zu einigen neueren Tendenzen der Klassik-Rezeption in der Literaturwissenschaft der BRD. In  : Weimarer Beiträge 22, 1976, H. 11, S. 114–121. Ebenso scharf drückte sich Wolfgang Harich am 28. Juli 1984 in einem Brief an mich aus, in dem er mich als einen »linkssektiererischen Klassikfeind« bezeichnete. 36  Hans Wilhelm  : »Dem Heine eine Tracht Prügel«. Jost Hermand zu Prob­ lemen des literarischen Erbes. In  : Deut­ sche Volkszeitung vom 15. April 1976. 37  Gerhard Kaiser  : Über den Umgang mit Republikanern, Jakobinern und

Zitaten. In  : Ders.: Neue Antithesen eines Germanisten 1974–1975, Frank­ furt a. M. 1976, S. 70–98. 38  Manfred Lauffs  : Poesie, Politik und ein Professor. Über einen Aufsatz von Jost Hermand zur politischen Lyrik der Bundesrepublik. In  : Deutsche Viertel­ jahrsschrift, 1981, S. 495–509. 39  Ebd., S. 503. 40  Ebd., S. 504. 41  Frankfurter Rundschau vom 25. März 2002, S. 11. 42  Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz  : »Es ist der Herren eig’ner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.« Der poli­ tisch in Dienst genommene Goethe. In  : Wolfgang Beutin und Thomas Büthow (Hrsg.)  : Gottes ist der Orient  ! Gottes ist der Occident  ! Goethe und die Reli­ gionen der Welt, Frankfurt a. M. 2000, S. 205–222. 43  Erstfassung in Helle Panke (Hrsg.)  : Goethe in der DDR, Berlin 2003, S. 21–30.

Politästhetische Stilcharakterisierungen im Hinblick die deutsche Malerei des 19. Jahrhunderts 1  Anton Springer  : Die Kunst des 19. Jahrhunderts, Leipzig 1884, Adolf Rosenberg  : Geschichte der modernen Kunst, Leipzig 1884 ff., und Robert Dohme  : Kunst und Künstler des 19. Jahrhunderts. Leipzig 1886 ff. 2  Vgl. Richard Hamann und Jost Her­ mand  : Gründerzeit. Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus, Bd. I, Berlin 1965, S. 22ff.

276

3  Richard Muther  : Geschichte der Malerei, Bd. 3, 18. und 19. Jahrhun­ dert, Leipzig 1909, S. 386. 4  Vgl. »Ausstellung deutscher Kunst aus der Zeit von 1775–1875 in der Königlichen Nationalgalerie Berlin«. Hrsg. von Hugo von Tschudi, München 1906. 5  Friedrich Haack  : Die Kunst des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1905, S. 398. Noch stark dem gründerzeitli­ chen Geschmack verpflichtet bleibt

Anmerkungen dagegen Max Schmid in seiner »Kunst­ geschichte des 19. Jahrhunderts«, Leip­ zig 1904. 6  Richard Hamann  : Die deutsche Malerei im 19. Jahrhundert, Leipzig 1914. S. III. Vgl. zum Folgenden auch mein Buch  : Der Kunsthistoriker Richard Hamann. Eine politische Bio­ graphie (1879–1961), Köln 2009, S. 34 ff. 7  Ebd., S. 3. 8  Ebd., S. 8. 9  Ebd., S. 358. 10  Vgl. mein Buch  : Literaturwissen­ schaft und Kunstwissenschaft. Methodi­ sche Wechselbeziehungen seit 1900, Stuttgart, 2. Aufl., 1971, S. 281f. 11  Max Deri  : Die Malerei im 19. Jahr­ hundert, Berlin, 2. Aufl., 1920, S. 372 ff. 12  Karl Scheffler  : Geschichte der euro­ päischen Malerei. Vom Klassizismus zum Impressionismus, Berlin 1927, S. 5. 13  Gustav Pauli  : Die Kunst des Klassi­ zismus und der Romantik, Berlin 1925, S. 5. 14  Ebd., S. 10 f. 15  Vgl. Jost Hermand und Frank Trommler  : Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 382 ff. 16  Richard Hamann  : Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart, Berlin 1932, S. 7. 17  Ebd., S. 67. 18  Vgl. George L. Mosse  : The Natio­ nalization of the Masses. Political Sym­ bolism and Mass Movements in Ger­ many from the Napoleonic Wars

Through the Third Reich, New York 1975, S. 183 ff. 19  Hans Sedlmayr  : Verlust der Mitte, Salzburg, 3. Aufl., 1948, S. 9, 11, 61. Historisch »objektiver«, wenn auch kon­ zeptionsloser bleibt dagegen Fritz Novotny in seinem Buch »Malerei und Plastik in Europa 1780–1880«, Mün­ chen 1960. 20  Vgl. meinen Aufsatz  : Bewährte Tümlichkeiten. Der völkisch-nazistische Traum einer ewig-deutschen Kunst. In  : Horst Denkler und Karl Prümm (Hrsg.)  : Die deutsche Literatur im Drit­ ten Reich, Stuttgart 1976, S. 108 ff. 21  Werner Hofmann  : Das irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts, München, 2. Aufl., 1974, S. 263. 22  Vgl. meinen Aufsatz  : Der lebende Leichnam. Gedanken zur Neubewer­ tung der sogenannten »Salonmalerei«. In  : Kritische Berichte 5/6, 1974, S. 106–119. 23  Vgl. meinen Aufsatz  : Heimweh nach dem Jugendstil. Formen der ästhe­ tischen Revolte in den sechziger Jahren. In  : Ders.: Stile, Ismen, Etiketten. Zur Periodisierung der modernen Kunst, Wiesbaden 1978, S. 125–139. 24  Vgl. den Katalog der Ausstellung »German Painting in the 19th Cen­ tury«, die 1971/72 in mehreren nord­ amerikanischen Städten gezeigt wurde. 25  Deutsche Kunst im 19./20. Jahr­ hundert, Berlin 1966, S. 13. 26  Richard Hamann  : Geschichte der Kunst von der Vorgeschichte bis zur Spätantike. Berlin 1955, S. 7.

277

Anmerkungen 27  Vgl. hierzu auch mein Bändchen »Literaturwissenschaft und Kunstwis­ senschaft« (wie Anm. 10), S. 16 ff. 28  Vgl. die Rezensionen des »Naturalis­ mus«-Bandes. Hans Mayer in  : Deutsche Literaturzeitung 81/2, 1960, S. 155– 159, und Edgar Kirsch in  : Weimarer Beiträge 1, 1961, S. 194–197, sowie Georg Knepler  : Geschichte als Weg zum Musikverständnis, Leipzig 1977, S. 336–344. Vgl. dazu auch mein Buch  : Der Kunsthistoriker Richard Hamann (wie Anm. 6), S. 162. 29  Vgl. meinen Aufsatz  : »Der Streit um die Epochenbegriffe«. In  : Stile, Ismen, Etiketten (wie Anm. 23), S. 10 ff. 30  Dies als Selbstkorrektur im Hinblick auf die beiden Bände »Gründerzeit« und »Naturalismus« innerhalb der Reihe »Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionismus«. 31  So gliedert etwa Klaus Günther Just sein Buch  : Von der Gründerzeit bis zur Gegenwart, München 1973, in die Epo­

chenabschnitte  : Die Ära Bismarcks, Das Wilhelminische Zeitalter, Das expressio­ nistische Jahrzehnt, Die Weimarer Republik, Drittes Reich und Exil, Nach dem Zweiten Weltkrieg. 32  Bertolt Brecht  : Über Lyrik, Frank­ furt a. M. 1964, S. 72. 33  Vgl. meinen Aufsatz  : Die Literatur wird durchforscht werden. Einstellun­ gen zum »progressiven« Erbe. In  : Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartslitera­ tur 8, 1978, S. 56. 34  Vgl. dazu u. a. mein Buch  : Politi­ sche Denkbilder von Caspar David Friedrich bis Neo Rauch, Köln 2011, S. 14–50, 72–82 und 83–102. 35  Vortrag zum 100. Geburtstag von Richard Hamann im Oktober 1979 an der Humboldt-Universität zu Ostberlin. Vorläufige Erstfassung in  : Wissenschaft­ liche Zeitschrift der Humboldt Univer­ sität zu Berlin, Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe XXIX, 1980, S. 495–502.

Gesteigerter Sensualismus. Impressionismus als kultursoziologisches Phänomen 1  Vgl. Richard Hamann und Jost Her­ mand  : Impressionismus, Berlin 1960, S. 127. 2  Vgl. Peter Krieger  : Maler des Impres­ sionismus aus der Nationalgalerie Ber­ lin, Berlin 1967, S. 5. 3  Vgl. Peter Paret  : The Berlin Seces­ sion. Modernism and Its Enemies in Imperial Germany, Cambridge, Mass. 1980, S. 77 ff. 4  Julius Meier-Graefe  : Impressionisten, Leipzig 1907, S. 21. 278

5  Karl Scheffler  : Deutsche Maler und Zeichner im 19. Jahrhundert, Leipzig 1911, S. 142 ff. 6  Karl Lamprecht  : Zur jüngsten deut­ schen Vergangenheit, Berlin 1902, Bd. 1, S. 273 f. 7  Willy Hellpach  : Nervosität und Kul­ tur, Leipzig 1902, S. 61. 8  Richard Hamann  : Impressionismus in Leben und Kunst, Köln 1907, S. 5 f. 9  Ebd., S. 26. Vgl. hierzu auch mein Buch  : Der Kunsthistoriker Richard

Anmerkungen Hamann. Eine politische Biographie (1879–1961), Köln 2009, S. 30–38. 10  Vgl. mein Buch  : Literaturwissen­ schaft und Kunstwissenschaft. Methodi­ sche Wechselbeziehungen seit 1900, Stuttgart 1965, S. 16 ff. 11  Max Picard  : Das Ende des Impressi­ onismus, Erlenbach-Zürich, 2. Aufl., 1921, S. 18. 12  Emil Waldmann  : Die Kunst des Realismus und des Impressionismus im 19. Jahrhundert, Berlin 1927, S. 115. 13  Kurt Brösel  : Veranschaulichung im Realismus, Impressionismus und Früh­ expressionismus, München 1928, und Luise Thon  : Die Sprache des deutschen Impressionismus, München 1928. 14  Hermann Pongs  : Vom Naturalismus bis zur Neuen Sachlichkeit. In  : Her­ mann August Korff und Walter Linden (Hrsg.)  : Aufriß der deutschen Literatur­ geschichte, Leipzig 1929, S. 129 ff. 15  Oskar Walzel  : Wesenszüge des deut­ schen Impressionismus. In  : Zeitschrift für deutsche Bildung, 1930, S. 169 ff. 16  Hans Naumann  : Die deutsche Dichtung der Gegenwart, Stuttgart, 3. Aufl., 1933, S. 3. 17  Bruno Kroll  : Deutsche Malerei der Gegenwart. Die Entwicklung der deut­ schen Malerei seit 1900, Berlin, 3. Aufl., 1937, S. 12 ff. 18  G. F. Hartlaub  : Die Impressionisten in Frankreich, Wiesbaden 1955, S. 15. 19  Raymond Cogniat  : French Painting in the Time of the Impressionists, New York 1951, S. 70 ff., 85. 20  Arnold Hauser  : Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1953, Bd. 2, S. 927 ff.

21  Ebd., S. 930. 22  Ebd., S. 948. 23  Von den Rezensenten dieses Buchs, die sich von der damals herrschenden Kalten-Kriegs-Ideologie nicht zu negati­ ven Urteilen hinreißen ließen, sei an dieser Stelle Klaus Lankheit, Helmut Kreuzer und Paul Seligman gedankt. 24  Timothy J. Clark  : The Painting of Modern Life. Paris and the Art of Manet and His Followers, New York 1985, S. 23 ff. 25  Robert L. Herbert  : Impressionism. Art, Leisure, and Parisian Society, New Haven 1988, S. 314. 26  Ebd., S. 306. 27  Ebd., S. 306. 28  Peter H. Feist  : Impressionismus. Die Entdeckung der Freizeit, Leipzig 1993, S. 20. 29  Vgl. hierzu meine Aufsätze »Der Aufbruch in der falschen Moderne« und »Der verdrängte Naturalismus«. In  : Ders.: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frank­ furt 1972, S. 13–38. 30  Überarbeitete Fassung meines Auf­ satzes unter dem gleichen Titel in Götz Czymmek (Hrsg.)  : Landschaft im Licht. Impressionistische Malerei in Europa und Nordamerika 1860–1910, Köln 1990, S. 15–23.

279

Anmerkungen

Moderne, Avantgarde, Sezession. Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg 1  Vgl. Jürgen Schutte und Peter Spren­ gel (Hrsg.)  : Die Berliner Moderne. 1885–1914, Stuttgart 1997. 2  Vgl. zur Debatte über den Begriff »Moderne« im Hinblick auf die Kunst um 1900 u. a. Walter Fähnders  : Avant­ garde und Moderne. 1890­–1933, Stutt­ gart 1998, S. 18, Peter Sprengel  : Geschichte der deutschsprachigen Lite­ ratur 1870–1900. Von der Reichsgrün­ dung bis zur Jahrhundertwende, Mün­ chen 1998, S. 5359, Georg Bollenbeck  : Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deut­ sche Kontroversen um die kulturelle Moderne. 1880–1945, Frankfurt a. M. 1999, S. 27–43, und Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.)  : Aufbruch ins 20. Jahr­ hundert. Über Avantgarden, München 2001. 3  Vgl. auch meine Polemiken gegen den Begriff »Moderne« in Ders.: Modern, modisch, modernd. In  : Ossietzky 3,9, 2000, S. 311–313, und  : Zehn Thesen zur Problematik des Begriffs »Moderne«. In  : Edward Bialek, Manfred Durzak und Marek Zybura (Hrsg.)  : Literatur im Zeugenstand. Festschrift für Hubert Orłowski, Frank­ furt a. M. 2002, S. 809–818. 4  Vgl. hierzu meinen Aufsatz  : Das Konzept Avantgarde. In  : Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.)  : Faschismus und Avantgarde, Königstein 1980, S. 119. 5  Vgl. mein Buch  : Pop International. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M. 1972, S. 20–28. 280

6  Vgl. u. a. Georg Fülberth  : Proletari­ sche Partei und bürgerliche Literatur. Auseinandersetzungen in der deutschen Sozialdemokratie der II. Internationale über Möglichkeiten und Grenzen sozia­ listischer Literaturpolitik, Neuwied 1972, und Manfred Brauneck  : Literatur und Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jahrhundert, Stuttgart 1974. 7  Richard Hamann und Jost Hermand  : Naturalismus, Berlin 1959, S. 290 ff. 8  Vgl. Hans-Ulrich Wehler  : Das Zweite Kaiserreich 1871–1918, Göttin­ gen 1973, S. 48–58. 9  Vgl. dazu meinen Aufsatz  : Expressio­ nismus als Revolution. In  : Ders.: Von Mainz nach Weimar 1793–1919. Stu­ dien zur deutschen Literatur, Stuttgart 1969, S. 298–354. 10  Vgl. Jost Hermand und Frank Trommler  : Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 40 ff. 11  Vgl. mein Buch  : Die deutschen Dichterbünde von den Meistersingern bis zum PEN-Club, Köln 1998, S. 144– 183. 12  Vgl. meinen Aufsatz  : Werkstätten einer anderen Zukunft. Zur historischen Bedeutsamkeit von Künstlerkolonien. In  : Klaus Bździach (Hrsg.)  : Die impo­ sante Landschaft, Berlin 1999, S. 64–74. 13  Richard Hamann und Jost Her­ mand  : Naturalismus (wie Anm. 7), S. 286. Vgl. hierzu auch meinen Auf­ satz  : Der verdrängte Naturalismus. In  : Ders.: Der Schein des schönen Lebens.

Anmerkungen Studien zur Jahrhundertwende, Frank­ furt a. M. 1972, S. 2638. 14  Vgl. u. a. Peter Paret  : Die Berliner Sezession, Berlin 1981. 15  Vgl. hierzu Richard Hamann und Jost Hermand  : Stilkunst um 1900, Ber­ lin 1967, sowie den sich daran anschlie­ ßenden Ausstellungskatalog  : Stilkunst um 1900 in Deutschland. Hrsg. von Willi Geismeier und Claude Keisch, Berlin 1972. 16  Vgl. in diesem Zusammenhang Nikolaus Pevsner  : Wegbereiter moder­ ner Formgebung. Von Morris bis Gro­ pius, Hamburg 1957. 17  Zur Kritik an dieser Form des Sezes­ sionismus vgl. Hans-Ulrich Simon  : Sezessionismus. Kunstgewerbe in litera­ rischer und bildender Kunst, Stuttgart

1976, und meinen Aufsatz  : Können Sezessionen Avantgarden sein  ? In  : Hart­ muth Kircher, Maria Klanka und Erich Kleinschmidt (Hrsg.)  : Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1990, Köln 2002, S. 1–12. 18  Vgl. dazu Friedrich Ahlers-Hester­ mann  : Stilwende. Aufbruch der Jugend um 1900, Berlin 1956. 19  Vgl. Werner Mittenzwei  : Brechts Verhältnis zur Tradition, Berlin 1972, S. 9 ff. und 218 ff. 20  Verbesserte Fassung meines Aufsat­ zes  : Moderne, Avantgarde, Sezession 1885–1914. In  : Helle Panke (Hrsg.)  : Berliner Moderne im Widerstreit, Ber­ lin 2002, S. 5–16.

Realistisch oder abstrakt. Ideologiegefärbte Leitkonzepte in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts 1  Vgl. meine Aufsätze  : Modernism Restored  : West German Painting in the 1950s. In  : New German Critique 32, 1984, S. 23–41, und  : Freiheit im Kalten Krieg. Zum Siegeszug der abstrakten Malerei in Westdeutschland. In  : Ekke­ hard Mai et al. (Hrsg.)  : ’45 und die Fol­ gen. Kunstgeschichte eines Wiederbe­ ginns, Köln 1991, S. 135–162. 2  Diese Äußerung wurde nicht in Wer­ ner Haftmanns Einleitung zu dem Begleitband der Documenta-Ausstel­ lung (München 1955, S. 15–25) aufge­ nommen. 3  Vgl. Bertolt Brecht, Hermann Besen­ bruch, Fritz Cremer, Alfred Kurella, Herbert Sandberg und Gustav Seitz  :

Über Malerei. In  : Werner Hecht (Hrsg.)  : Brecht im Gespräch. Diskussi­ onen, Dialoge, Interviews, Frankfurt a. M. 1975, S. 139–157. 4  Vgl. u. a. Paul Vogt  : Geschichte der deutschen Malerei im 20. Jahrhundert, Köln 1972, S. 450 f., Horst Alheit  : Von der »befreiten« Kunst zur »freien« Kunst. Skizze zur Kunstpolitik in Deutschland. Ausstellungen 1945– 1949. In  : Frankfurter Kunstverein (Hrsg.)  : Zwischen Krieg und Frieden. Gegenständliche und realistische Ten­ denzen in der Kunst nach 1945, Berlin 1980, S. 36–46, mein Buch  : Kultur im Wiederaufbau. 1945–1965, München 1986, S. 189–208, und Frances Stonor 281

Anmerkungen Saunders  : Who Paid the Piper  ? The CIA and the Cultural Cold War, Lon­ don 1999, S. 252–260. 5  So etwa bei Werner Haftmann  : Male­ rei im 20 Jahrhundert, München 1954, S. 439 ff. 6  Vgl. u. a. die fünfbändige Buchreihe von Richard Hamann und Jost Her­ mand  : Deutsche Kunst und Kultur von der Gründerzeit bis zum Expressionis­ mus, Berlin 1959–1975. 7  Vgl. Wassily Kandinsky  : Über das Geistige in der Kunst, München 1911. 8  Vgl. Richard Hamann und Jost Her­ mand  : Expressionismus, Berlin 1975, S. 247 ff. 9  Vgl. mein mit Frank Trommler geschriebenes Buch  : Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 40–45. 10  Vgl. u. a. Linda F. McGreevy  : Bitter Witness. Otto Dix and the Great War, Oxford 2001. 11  Vgl. Richard Hiepe  : Die Kunst der neuen Klasse, München 1973. 12  Vgl. Ernst Piper  : Ernst Barlach und die nationalsozialistische Kulturpolitik. Eine dokumentarische Darstellung zur »Entarteten Kunst«, München 1983, und Jürgen Kramer  : Die Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands (ARBKD). In  : Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin, 2. Aufl., 1977, S. 174–204. 13  Vgl. Peter Klaus Schuster  : Die »Kunststadt« München 1937. National­ sozialismus und Entartete Kunst, Mün­ chen 1987. 14  Vgl. u. a. Theodor W. Adorno  : Dis­ sonanzen, Göttingen 1956, S. 62–102. 282

15  Vgl. Große Deutsche Kunstausstel­ lung 1937 im Haus der Deutschen Kunst, München 1937. 16  Vgl. Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.)  : Die Expressionismusdebatte. Materia­ lien zu einer marxistischen Realismus­ konzeption, Frankfurt a. M. 1973. 17  Vgl. meinen Aufsatz  : Picassos politi­ sche »Wende«. In  : www.ver.di.kultur.de. 18  Vgl. zum Folgenden auch Jutta Held  : Kunst und Kunstpolitik in Deutschland 1945–49, Berlin 1981. 19  Das Kunstwerk, 1948, H. 5/6, S. 57. 20  Vgl. meinen Aufsatz  : Freiheit im Kalten Krieg (wie Anm. 1), S. 142. 21  Klaus J. Fischer in  : Das Kunstwerk, 1955, H. 6, S. 8. 22  Vgl. Frankfurter Kunstverein (Hrsg.)  : Zwischen Krieg und Frieden (wie Anm. 4), S. 190 ff., und Der Monat, 1954/55, S. 65–71, 320–323 und 545–548. 23  Vgl. Werner Haftmann  : Glanz und Gefährdung der abstrakten Malerei (1952). In  : Ders.: Skizzenbuch. Zur Kultur der Gegenwart, München 1960, S. 108 ff., und Franz Roh  : Geschichte der deutschen Kunst von 1900 bis zur Gegenwart, München 1958, S. 154 f. 24  Zit. in Wieland Schmied  : Wegberei­ ter zur modernen Kunst. 50 Jahre Kest­ ner-Gesellschaft, Hannover 1966, S. 153. 25  schri kunst schri. ein almanach alter und neuer kunst 4, 1955, S. 12. 26  Jahresring, 1959/60, S. 75. 27  Willi Baumeister  : Das Unbekannte in der Kunst, Stuttgart 1947, S. 28.

Anmerkungen 28  Zit. in Jost Hermand  : Kultur im Wiederaufbau (wie Anm. 4), S. 202. 29  Vgl. Wolfgang Hütt  : Deutsche Malerei und Graphik im 20. Jahrhun­ dert, Berlin 1969, S. 470. 30  Rudolf Maares  : Kirche und abs­ trakte Malerei. In  : Kunst und Kirche 25, 1962, H. 1, S. 28. 31  Karl Lüthi  : Moderne Malerei. In  : Kurt Marti et al. (Hrsg.)  : Moderne Literatur, Malerei und Musik, Zürich 1963, S. 181. 32  Vgl. mein Buch  : Jugendstil. Ein Forschungsbericht 1918–1964, Stutt­ gart 1965, S. 5 ff. 33  Gustav René Hocke  : Die Welt als Labyrinth, Reinbek 1957, und  : Abs­ trakte Metaphorik in der Kunst. In  : Jahresring, 1957/58, S. 94 ff. 34  Werner Haftmann  : Malerei im 20. Jahrhundert (wie Anm. 5), S. 439 ff. 35  Ebd., S. 480. 36  Willi Baumeister  : Das Unbekannte in der Kunst (wie Anm. 27), S. 23. 37  Paul Ortwin Rave  : Kunstdiktatur im Dritten Reich, Hamburg 1949, S. 5 f. Vgl. hierzu auch meinen Aufsatz  : Neuordnung oder Restauration  ? Zur Beurteilung der faschistischen Kunst­ diktatur in der unmittelbaren Nach­ kriegszeit. In  : Kritische Berichte 12, 1984, H. 1, S. 78–84 und H. 2, S. 69–79.

38  Werner Haftmann  : Malerei im 20. Jahrhundert (wie Anm. 5), S. 421 ff. 39  Werner Haftmann  : Über das moderne Bild. In  : Ders.: Skizzenbuch (wie Anm. 23), S. 121. 40  Werner Haftmann  : Moderne Kultur und politische Idee. In  : ebd., S. 68. 41  Franz Roh  : Karl Hofer. 1876–1955, Berlin 1978. 42  Der Monat, 1950, S. 426. 43  Will Grohmann  : Aktualität, Realis­ mus und Restauration. In  : schri kunst schri. ein almanach alter und neuer kunst 2, 1954, S. 5. 44  Bruno E. Werner  : Ehrenrettung für den Snobismus. In  : Melos. Zeitschrift für neue Musik 31, 1964, S. 293. 45  Vgl. mein Buch  : Kultur im Wieder­ aufbau (wie Anm. 4), S. 251 ff. 46  Vgl. hierzu meinen Aufsatz  : Die antikapitalistische »Realismus«-Thema­ tik in der Zeitschrift »tendenzen« (1960–1989). In  : Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 16, 2014, S. 105–114. 47  Erheblich überarbeitete und erwei­ terte Fassung meines Aufsatzes  : Tenden­ zen in der deutschen Malerei des 20. Jahrhunderts. In  : Argonautenschiff. Jahrbuch der Anna Seghers Gesellschaft 18, 2009, S. 47–61.

»Nichts bleibt so, wie es war!« Expressionismus als Revolution 1  Vgl. Richard Hamann und Jost Her­ mand  : Expressionismus, Berlin 1975, S. 7.

2  Vgl. mein Buch  : Fünfzig Jahre Ger­ manistik, Oxford 2009, S. 124. 3  Vgl. u. a. Eva Kolinsky  : Engagierter Expressionismus. Politik und Literatur 283

Anmerkungen zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik, Stuttgart 1970, und Walter Fähnders und Martin Rector  : Zur pro­ letarisch-revolutionären Literaturtheo­ rie. 1919–1923, München 1971. 4  Vgl. Hans-Jürgen Schmitt  : Die Expressionismus-Debatte, Frankfurt a. M. 1973. 5  Richard Hamann und Jost Hermand  : Expressionismus (wie Anm. 1), S. 226– 246. 6  Ebd., S. 96–224. 7  Carl Sternheim  : Kampf der Meta­ pher (1917). In  : Ders.: Gesamtwerk.

Hrsg. von Wilhelm Emrich, Bd. VI, Neuwied 1966, S. 33. 8  Gottfried Benn  : Gesammelte Werke. Hrsg. von Dieter Wellershoff, Bd. III, Wiesbaden 1963, S. 375. 9  Vortrag in der »Hellen Panke« in Ber­ lin im Oktober 2009. Vorläufige Druck­ fassung in Heidi Beutin, Wolfgang Beu­ tin und Ralph Müller-Beck (Hrsg.)  : Das waren Wintermonate voller Arbeit, Hoffen und Glück. Die Novemberrevo­ lution 1918 in Grundzügen, Frankfurt a. M. 2010, S. 151–164.

Neue Sachlichkeit. Stil, Wirtschaftsform oder Lebenspraxis 1  Karl Lamprecht  : Zur jüngsten deut­ schen Vergangenheit, Leipzig 1902. 2  Vgl. u. a. Jost Hermand und Frank Trommler  : Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 35 ff., und meine Aufsätze  : Unity within Diversity  ? The History of the Concept »Neue Sachlichkeit«. In  : Keith Bullivant (Hrsg.)  : Culture and Society in the Weimar Republic, Manchester 1977, S. 166–182, und  : Die sogenannten Zwanziger Jahre. Ein kritischer Rück­ blick auf die Kultur der Weimarer Republik. In  : Karl-Heinz J. Schoeps und Christopher J. Wickham (Hrsg.)  : »Was in den alten Büchern steht«. Fest­ schrift für Reinhold Grimm, Frankfurt a. M. 1991, S. 3–22. 3  Vgl. Franz Roh  : Nach-Expressionis­ mus. Magischer Realismus, Leipzig 1925.

284

4  Vgl. Gerald D. Feldman (Hrsg.)  : Konsequenzen der Inflation, Berlin 1989. 5  Vgl. Helmut Lethen  : Neue Sachlich­ keit 1924–1932. Studien zur Literatur des »Weißen Sozialismus«, Stuttgart 1970, S. 19–57. 6  Vgl. mein Buch  : Die Wenigen und die Vielen. Trägerschichten deutscher Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 2017, S. 203 f. 7  Vgl. Adolf Behne (Hrsg.)  : Das Neue Berlin. Großstadtprobleme, Berlin 1929, S. 150 f. 8  Vgl. zum Folgenden auch Jost Her­ mand und Frank Trommler  : Die Kultur der Weimarer Republik (wie Anm. 2), S. 105 ff. 9  Neufassung meines gleichnamigen Aufsatzes in Leslie Bodi et al. (Hrsg.)  : Weltbürger – Textwelten. Helmut Kreu­ zer zum Dank, Frankfurt a. M. 1995, S. 325–342.

Anmerkungen

Kulturelle Verblendungssyndrome. Das Verhalten breiter Schichten der nationalgesinnten Bildungselite im Dritten Reich 1  Julius Petersen  : Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, Stuttgart 1934, S. 1. 2  Zitiert bei Hildegard Brenner  : Die Kulturpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963, S. 189. 3  Vgl. mein Buch  : Der alte Traum vom neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 133–140. 4  Vgl. Hans Peter Herrmann  : German Professors and the Two World Wars. In  : Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.)  : 1914/1939  : German Reflec­ tions of the Two World Wars, Madison 1992, S. 154 ff. 5  Vgl. hierzu allgemein Georg Bollen­ beck  : Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmus­ ters, Frankfurt a. M. 1994. 6  Vgl. Armin Mohler  : Die konservative Revolution in Deutschland, 1918– 1932. Grundriß ihrer Weltanschauun­ gen, Stuttgart 1950, S. 18–24. 7  Vgl. meinen Aufsatz  : Bewährte Tüm­ lichkeiten. Der völkisch-nazistische Traum einer ewig-deutschen Kunst. In  : Ders.: Stile, Ismen, Etiketten. Zur Peri­ odisierung der modernen Kunst, Wies­ baden 1978, S. 94–100. 8  Als Äußerung von Hermann Göring zitiert bei Joseph Wulf  : Die Bildenden Künste im Dritten Reich, Gütersloh 1963, S. 228. 9  Vgl. meinen Aufsatz  : Meister Fidus. Vom Jugendstil-Hippie zum Germanen­ schwärmer. In  : Ders.: Der Schein des

schönen Lebens. Studien zur Jahrhun­ dertwende, Frankfurt a. M. 1972, S. 117. 10  Vgl. Klaus Schöffling (Hrsg.)  : Dort wo man Bücher verbrennt, Frankfurt a. M. 1983, und Hermann Haarmann, Walter Huder und Klaus Siebenhaar (Hrsg.)  : »Das war ein Vorspiel nur …«. Bücherverbrennung Deutschland 1933, Berlin 1983. 11  Vgl. mein Buch  : Geschichte der Germanistik, Reinbek 1994, S. 83–97. 12  Vgl. das Kapitel »Innere Emigra­ tion« in meinem Buch  : Kultur in finste­ ren Zeiten. Nazifaschismus, Innere Emigration, Exil, Köln 2010, S. 175– 206. 13  Vgl. zum Vorangegangenen schon mein Einleitungsstatement  : Die Kul­ turszene im Dritten Reich. In  : Brun­ hilde Sonntag et al. (Hrsg.)  : Die dunkle Last. Musik und Nationalsozialismus, Köln 1999, S. 9–22, und den Abschnitt  : Das Ideal einer »ewig-deut­ schen Kultur« in meinem Buch  : Kultur in finsteren Zeiten (wie Anm. 12), S. 39–46.

285

Anmerkungen

Die restaurierte »Moderne« im Umkreis der musikalischen Teilkulturen der frühen Bundesrepublik 1  Die gegensätzliche »Null­ punkt«-These vertraten u. a. H. H. Stu­ ckenschmidt  : Klangaskese und Zahlen­ zauber. In  : Joachim Moras (Hrsg.)  : Deutscher Geist zwischen Gestern und Morgen, Stuttgart 1954, S. 418 f., Ulrich Dibelius  : Moderne Musik. 1945–1965, 2. Aufl., München 1966, S. 15, Hans Joachim Vetter  : Die Musik unseres Jahrhunderts, Mainz 1968, S. 138 f., und Hans Vogt  : Neue Musik seit 1945, Stuttgart 1972, S. 16. 2  Vgl. meinen Aufsatz  : Bundesrepublik Deutschland. In  : Walter Hinderer (Hrsg.)  : Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Stuttgart 1978, S. 320. 3  So verlangten die Herausgeber der Zeitschrift »Musica« 1947 in ihren Geleitworten zum ersten Heft vor allem »Herz« (S. 2). Werner Gehlmann schrieb im gleichen Jahrgang auf S. 66, dass die neue Musik von »Humanität« durchstrahlt sein müsse. In der Zeit­ schrift »Aussaat« forderte Hermann Kel­ ler eine Musik, an der »unsere kranke und mißhandelte Seele wieder gesun­ den« könne (1946/47, H. 1, S. 23). Rudolf Malsch sehnte sich in seiner »Geschichte der deutschen Musik« (Ber­ lin 1949), nach einer Musik, die wieder »Offenbarung eines Höheren, Irrationa­ len, Metaphysischen« ist (S. 398). Andreas Liess behauptete in seinem Buch »Die Musik im Weltbild der Gegenwart« (Lindau 1949), dass jede höhere Musik von einem »seinsbezoge­ 286

nen Erlebnis« ausgehen müsse (S. 237) usw. 4  Vgl. u. a. Arno Erfurt  : Verfemte Kunst II. Paul Hindemith. In  : Aussaat 1, 1946/47, H. 2, S. 18 f., Otto-Erich Schilling  : Paul Hindemith. In  : Der Standpunkt 1, 1946, H. 3, S. 29 f., und Willibald Gurlitt  : Paul Hindemith. In  : Universitas 1, 1946, S. 196–201. 5  Heinrich Strobel  : Mathis der Maler. In  : Melos 14, 1947, S. 65. 6  Bernard Gavoty  : Zum Problem der Zwölftonmusik. In  : Melos 14, 1946/47, S. 247. 7  H. H. Stuckenschmidt  : Das Problem Schönberg. In  : Melos 14, 1946/47, S. 143. 8  Warum wollen die Leute keine neue Musik hören  ? In  : Melos 14, 1946/47, S. 143. 9  Vgl. Jost Hermand und Frank Trommler  : Die Kultur der Weimarer Republik, München 1978, S. 299 ff. 10  Hanns Eisler  : Schriften, München 1973, Bd. 1, S. 32. 11  Ebd., S. 394. 12  Vgl. mein Buch  : Konkretes Hören. Zum Inhalt der Instrumentalmusik, Berlin 1981, S. 7 ff. 13  H. H. Stuckenschmidt  : Was ist bür­ gerliche Musik  ? In  : Stimmen 1, 1946/47, S. 212. 14  Günter Kehr  : Intellektuelle Arro­ ganz. In  : Melos 15, 1948, S. 225. 15  Heinrich Strobel  : Melos 1946. In  : Melos, 1946/47, S. 2.

Anmerkungen 16  Bertolt Brecht  : Arbeitsjournal. Hrsg. von Werner Hecht, Frankfurt a. M. 1973, S. 777. 17  Vgl. Musica 8, 1954, S. 43 f., 88, 95. 18  Ebd., S. 279. 19  Fred Hamel  : Vom wahren Wesen der Musik. In  : Musica 11, 1957, S. 689 f. 20  Ebd., S. 692. 21  Vgl. u. a. Melos 27, 1960, S. 125, 208 ff., 246, und 29, 1962, S. 203. 22  Vgl. meinen Aufsatz  : Die Metapher »heile Welt«. Zu Adornos Antiutopis­ mus. In  : Ders.: Orte. Irgendwo. For­ men utopischen Denkens, Königstein 1981, S. 112 ff. 23  Gegängelte Musik. In  : Theodor W. Adorno  : Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt, Göttingen 1956, S. 61. 24  Melos 27, 1960, S. 262. 25  H. H. Stuckenschmidt  : Musik eines halben Jahrhunderts. 1925–1975, Mün­ chen 1976, S. 100 ff. 26  Melos 27, 1960, S. 155. 27  Musik eines halben Jahrhunderts (wie Anm. 25), S. 116. 28  Musik gegen jedermann. In  : Melos 22, 1955, S. 248. 29  Arnold Schönberg  : Letters. Hrsg. von Erwin Stein, London 1958, S. 235. 30  Zuletzt bei Hans Werner Henze  : Exkurs über den Populismus. In  : Ders.: Zwischen den Kulturen, Frankfurt 1979, S. 15. 31  Vgl. hierzu u. a Hans Vogt  : Neue Musik seit 1945 (wie Anm. 1), S. 22 ff., und Gottfried Eberle  : Neue Musik in

Westdeutschland nach 1945. In  : Hanns-Werner Heister und Dietrich Stern (Hrsg.)  : Musik der 50er Jahre, Berlin 1980, S. 43 ff. 32  Theodor W. Adorno  : Philosophie der neuen Musik, Frankfurt 1958, S. 162. 33  Vgl. u. a Melos 19, 1952, S. 13 ff., 342 ff., 20, 1953, S. 118 f., und 21, 1954, S. 115 f. 34  Vgl. hierzu Melos 20, 1953, S. 337 ff., 27, 1960, S. 325 ff., 29, 1960, S. 377 ff., Theodor W. Adorno  : Webern der Komponist. In  : Merkur 13, 1959, S. 201–214, Helmut Kirchmeyer und Hugo Wolfram Schmidt  : Aufbruch der jungen Musik von Webern bis Stockhausen, Köln, 3. Aufl., 1970, und Wolfgang Martin Stroh  : Anton Webern, Göppingen 1973, S. 299 ff. 35  Vgl. Hans Curjel  : Dodekaphonie – eine Weltsprache. In  : Melos 28, 1961, S. 29–34. 36  Vgl. u. a. Melos 14, 1946/47, S. 340 f., Musica 2, 1948, S. 255–257, und Frankfurter Hefte 4, 1949, S. 713 f. 37  Vgl. Melos 18, 1951, S. 255–259, 20, 1953, S. 320 f. und 21, 1954, S. 258, 318–320. Vgl. dazu auch mei­ nen Aufsatz  : Der sich als unpolitisch verstehende »Modernismus« in der E-Musik der frühen Bundesrepublik. Karlheinz Stockhausens »Gruppen für 3 Orchester« (1958). In  : Ders.: Mehr als tönende Luft. Politische Echowirkungen in Lied, Oper und Instrumentalmusik, Köln 2017, S. 229–242. 38  Vgl. zum Beispiel die Statistiken bei Helmut Federhofer  : Neue Musik, Tut­ zing 1977, S. 23–31. 287

Anmerkungen 39  Vgl. dazu meinen Aufsatz  : Die fal­ sche Alternative. Zum Verhältnis von Eund U-Kultur in der BRD und den USA. In  : Zeitschrift für Volkskunde, 1980, S. 234–250. 40  Vgl. u. a. Werner Haftmann  : Musik und moderne Malerei. In  : H. Ruppel (Hrsg.)  : Musica viva, München 1959, S. 175–195, Gertrud Meyer-Denk­ mann  : Klangfarbe und Farbklang in der modernen Musik und Malerei. In  : Melos 29, 1962, S. 227–232, und Peter Gradenwitz  : Wege zur Musik der Gegenwart, Stuttgart 1963, S. 157 ff. 41  Vgl. Fred K. Prieberg  : Musik im NS-Staat, Frankfurt 1982, S. 9–33. 42  Brief nach Westdeutschland. In  : Hanns Eisler  : Materialien zu einer Dia­ lektik der Musik. Hrsg. von Manfred Grabs, Leipzig 1976, S. 199–210. 43  Ebd., S. 203. 44  Ebd., S. 210.

45  Theodor W. Adorno  : Das Altern der Neuen Musik. In  : Der Monat, 1955, S. 151 ff. 46  Ebd., S. 150. 47  Ebd., S. 153, 155. 48  Ebd., S. 156, 150. 49  Ebd., S. 158. 50  Ebd., S. 158. 51  Die Aporien der Avantgarde. In  : Hans Magnus Enzensberger  : Einzelhei­ ten, Frankfurt 1962, S. 307, 314. 52  Zum Avantgarde-Problem vgl. allge­ mein meinen Aufsatz  : Das Konzept »Avantgarde«. In  : Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.)  : Faschismus und Avantgarde, Königstein 1980, S. 1–19. 53  Vgl. Konkretes Hören (wie Anm. 12), S. 172–188. 54  Stark überarbeite Fassung meines gleichnamigen Beitrags zu dem von Werner Knüppelholz herausgegebenen Band  : Musikalische Teilkulturen, Laa­ ber 1983, S. 172–193.

Das große U und das kleine E. Zur Medienkultur des Neoliberalismus 1   Vgl. hierzu auch mein Buch  : Nach der Postmoderne. Ästhetik heute, Köln 2004, S. 90–123. 2   Immanuel Kant  : Kritik der Urteils­ kraft. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden, 1957, S. 280. 3   Vgl. meinen vorausgegangenen Auf­ satz  : Neue Sachlichkeit. Stil, Wirt­ schaftsform oder Lebenspraxis. 4   Walter Benjamin  : Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu­ zierbarkeit, Frankfurt a.M. 1963.

288

5   Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer  : Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1971, S. 108–150. 6   Vgl. das dementsprechende Kapitel in meinem Buch  : Deutsche Kulturge­ schichte des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2006, S. 121–141. 7   Vgl. hierzu meinen Aufsatz  : Thomas Mann und Bertolt Brecht. Repräsentant und Verräter der bürgerlichen Klasse. In  : Ders.: Die Toten schweigen nicht. Brecht-Aufsätze, Frankfurt a. M. 2010, S. 146–161.

Anmerkungen 8   Mündliche Äußerung Hans Mayers im Jahr 1971 dem Verfasser gegenüber. 9   Vgl. Leonore Krenzlin  : Faust im Produktionseinsatz. DDR-Variationen im Umgang mit der Klassik. In  : Helle Panke (Hrsg.)  : Goethe in der DDR, Berlin 2003, S. 47–55. 10   Theodor W. Adorno  : Auferstehung der Kultur  ? In  : Frankfurter Hefte 150, 1949, S. 230. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz  : »Hochkulturhunger« nach 1945. In  : Heidi Beutin et al. (Hrsg.)  : Hoffnung, Sehnsüchte und politische Vorstellungen zum Mai 1945, Mössin­ gen 2016, S. 39–56. 11   Vgl. meinen Aufsatz  : Ist die Bun­ desrepublik ein »Kulturstaat«  ? In  : Revier-Kultur, Sonderband 88, 1990, S. 37–55. 12   Vgl. u. a. Rolf-Ulrich Kaiser (Hrsg.)  : Protestfibel. Formen einer neuen Kultur, Bern-München 1968, Vagelis Tsakiridis (Hrsg.)  : Super Garde. Prosa der Beat- und Pop-Generation, Düsseldorf 1969, Jost Hermand  : Pop International. Eine kritische Analyse, Frankfurt a. M. 1971, Hans Christoph Buch (Hrsg.)  : Für eine neue Literatur – gegen den spätbürgerlichen Literaturbe­ trieb, Reinbek 1973, und Martin Lüdke (Hrsg.)  : Literatur und Studentenbewe­ gung, Opladen 1977. 13   Vgl. Herbert Marcuse  : Triebstruk­ tur und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973. 14   Vgl. hierzu meinen Beitrag  : AvantGarde, Modern, Postmodern. The Music (Almost) Nobody Wants to Hear. In  : Ingeborg Hoesterey (Hrsg.)  : Zeit­ geist in Babel. The Post-Modernist

Controversy, Bloomington, Indiana 1992, S. 92–107. 15   Vgl. dagegen u. a. Seyla Benhabib  : Selbst im Kontext, Frankfurt a. M. 1995, und Horst-Eberhard Richter und Hubert Christian Ehalt  : Anfang und Ende der Egomanie, Wien 2004. 16   art info, 2006, Nr. 11, S. 5. 17   Ebd., S. 19. 18   Vgl. hierzu Horst Denkler  : Volks­ tümlichkeit, Popularität und Trivialität in den Revolutionslustspielen der Ber­ liner Achtundvierziger. In  : Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.)  : Popularität und Trivialität. Fourth Wis­ consin Workshop, Frankfurt a. M. 1974, S. 77–100. 19  Vgl. Herbert Marcuse  : Der eindi­ mensionale Mensch, Neuwied 1970. 20  Bertolt Brecht  : Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. VIII, S. 259. 21  Vgl. Norbert Bolz  : Das konsumisti­ sche Manifest, München 2002. 22  Vgl. hierzu auch Hilmar Hoffmann und Dieter Kramer  : Zum Kulturbegriff demokratischer Kulturpolitik. In  : Hel­ mut Brackert und Fritz Wefelmeyer (Hrsg.)  : Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1990, S. 421–440, und meinen Aufsatz  : Ziel­ vorstellungen einer wahrhaft demokrati­ schen Kultur. In  : Dieter Zauberzweig et al. (Hrsg.)  : Kultur als intellektuelle Pra­ xis. Festschrift für Hermann Glaser, Essen 1998, S. 84–98. 23  Stark überarbeitete Fassung meines Aufsatzes  : Das Event. Zur Spektakelkul­ tur des Neoliberalismus. In  : Ders.: Die 289

Anmerkungen Utopie des Fortschritts. 12 Versuche, Köln 2007, S. 143–157.

Nachwort. Die Utopie einer wahrhaft demokratischen Leitkultur 1  Vgl. hierzu u. a. mein Buch  : Die Wenigen und die Vielen. Trägerschich­ ten deutscher Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Köln 2017, S. 105 ff. 2  Jürgen Habermas  : Die neue Unüber­ sichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 161. 3  Vgl. u. a. über feministische Künstle­ rinnen Berliner Festspiele (Hrsg.)  : Ber­ lin. A Critical View. Ugly Realism. 20s– 70s, Berlin 1978, S. 106–123, und Gis­ lind Nabakowski, Helke Sander und Peter Gorsen  : Frauen in der Kunst, Frankfurt a. M. 1980, sowie über ökolo­ gische Kunst Wassili Loukopoulos-Le­ panto  : Kunst für den Menschen oder Für eine ökologische Kunst. Ein Mani­ fest, Freiburg 1983, und Die Grünen. Bundesarbeitsgemeinschaft Kultur (Hrsg.)  : Dem Struwwelpeter durch die Haare gefahren. Auf dem Weg zu einer grünen Kulturpolitik, Bonn 1987. 4  Vgl. zu der in den letzten 15 Jahren höchst kontrovers geführten Debatte

290

um eine deutsche Leitkultur u. a. Bas­ sam Tibi  : Leitkultur als Wertekonsens. Bilanz einer missglückten deutschen Debatte. In  : Die Welt vom 26. Mai 2002, Hartwig Dautz  : Die deutsche Leitkultur. Eine Identitätsdebatte. Neue Rechte, Neorassismus und Normalisie­ rungsbemühungen, Stuttgart 2005, Jür­ gen Nowak  : Leitkultur und Parallelge­ sellschaft. Argumente wider einen deut­ schen Mythos, Frankfurt a. M. 2006, und Heide Oestreich  : De Maizières 10 Thesen. In  : Tageszeitung vom 1. Mai 2017, in der jedoch fast ausschließlich nationale oder religiöse Argumente vor­ herrschten, während von der Möglich­ keit einer neuen Leitkultur in künstleri­ scher oder massenmedialer Hinsicht nir­ gends die Rede war. 5  Vgl. dazu das Buch von Raed Saleh  : Ich deutsch. Eine neue Leitkultur, Hamburg 2017. 6  Vgl. u. a. Hans-Ulrich Wehler  : Die neue Umverteilung. Soziale Ungleich­ heit in Deutschland, München 2013.

Abbildungsverzeichnis 1  akg-images/Bremen, Kunsthalle 2  Fotonachweis  : Dorotheum Wien, Auktionskatalog 15.05.2013 3  © bpk/Hamburger Kunsthalle/Elke Walford 4  www.findartinfo.com [letzter Zugriff  : 17.11.2017], Privatbesitz 5  © bpk/Kupferstichkabinett, SMB/ Jörg P. Anders 6  © bpk/Bayerische Staaatsgemälde­ sammlungen 7  Deutsche Kunst und Dekoration 5, 1899/1900, S. 15 8  Moderna Museet Stockholm 9  © bpk Bildagentur Nationalgalerie, SMB/Jörg P. Anders 10  »Führer durch die Ausstellung Ent­ artete Kunst«, 1937, S. 7 11  akg-images, Erich Lessing 12  Rainer Zimmermann  : Otto Pankok, Berlin, Rembrandt Verlag, 2. Aufl., 1972, S. 199 13 akg-images/© VG Bildkunst Bonn 2017 14 akg-images/© VG Bildkunst Bonn 2017 15  Kunstmuseum Stuttgart, CC-BYNC-SA 3.0 Deutschland/© VG Bild­ kunst Bonn 2017 16  Simplicissimus, 4. Mai 1957, S. 275 17  Hermann Raum  : Die bildende Kunst der BRD und Westberlin, Leip­ zig, Seemann Verlag, 1977, Abb. 330 18  Archiv des Verfassers 19 akg-images/WHA/World History Archive

20  © bpk/Nationalgalerie, SMB/Rein­ hard Friedrich/© VG Bildkunst Bonn 2017 21  Archiv des Verfassers 22  Dr. Franz Stoedtner, Düsseldorf 23  Martin Wagner  : Das neue Berlin, Berlin 1929, S. 151 24  Klaus Jürgen Sembach  : Stil 1930, Tübingen, Wasmuth Verlag 1971, Abb. 116 25  Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal 26  Walter Panofsky  : Protest in der Oper, München, Laokoon Verlag, 1966, S. 14 27 akg-images 28  Willy van Heekern/Fotoarchiv Ruhr-Museum 29  akg images 30  © bpk/Arthur Grimm 31 akg-images 32  Hans Vogt  : Neue Musik seit 1945, Stuttgart, Reclam Verlag, 1972, S. 213 33 akg-images 34  Archiv des Verfassers 35  Google images, Foto Hans Haacke 36  tendenzen, Heft 90, 1973, S. 29 37  Titelblatt der Zeitschrift »Ästhetik und Kommunikation«, Heft 35, 1979 38  http://www.omm.de/veranstaltun­ gen/ musiktheater20062007/B-KO-die-zau­ berfloete.html [letzter Zugriff  : 12.01.2017] 39  No Angels  : Elle’Ments, Cheyenne Records/Polydor, 2001.

291

Abbildungsverzeichnis 40  Städtische Kunsthalle Recklinghau­ sen (Hg.)  : Europäische Gemeinsamkeit.

292

Inspirationen. Wechselwirkungen, Recklinghausen 1979, Abb. 174

Register A Abendroth, Walter  217 Abusch, Alexander  32 Achenbach, Andreas  44 Adenauer, Konrad  131, 141, 215, 229 Adorno, Theodor W.  121, 187, 212, 213, 218 – 222, 231, 232, 238, 242, 243 Agartz, Viktor  210 Albers, Hans  239 Alt, Theodor  70 Amorbach, Oskar Martin  123 B Baeumer, Max L.  31, 34 Bahr, Gisela  30 Baluschek, Hans  65 Barlach, Ernst  119 Bartók, Béla  223 Baumeister, Willi  128, 130, 136 – 138, 140, 244 Becher, Johannes R.  41, 132, 240 Beckmann, Max  130 Beenken, Hermann  54 – 57, 140 Beethoven, Ludwig van  48, 72, 198, 240, 244, 249 Behne, Adolf  176 Belling, Rudolf  154, 156 Benjamin, Walter  17, 88, 237 Benn, Gottfried  146, 160 Berg, Alban  212, 222 Berghahn, Klaus L.  31, 34, 39 Berliner, Emil  96 Bernstein, Eduard  97, 99 Bismarck, Otto von  44 Blacher, Boris  211

Blech, Leo  209 Bloch, Ernst  149, 151 Böcklin, Arnold  44 Börne, Ludwig  31 Bornscheuer, Lothar  32 Boulez, Pierre  224, 226 Boyle, Richard J.  77 Brandt, Willy  141 Brecht, Bertolt  30, 34, 35, 41, 63, 106, 110, 151, 152, 178, 214, 240, 245 Brenner, Hildegard  201 Brösel, Kurt  74 Bruse, Hermann  131 Büchner, Georg  30, 41 C Cage, John  224 Carossa, Hans  201 Cassirer, Bruno  103 Castorf, Frank  252 Celan, Paul  244 Clark, Timothy J.  80, 81, 85 Cogniat, Raymond  76, 77 Comte, Auguste  96 Corinth, Lovis  75, 82, 84, 86 Cornelius, Peter von  44 Courbet, Gustave  76 Cranach, Lucas  199 Curjel, Hans  224 D Dahn, Felix  44 Dahnke, Hans Dietrich  35 Darwin, Charles  96 Daun, Berthold  46, 47 293

Register Dau, Rudolf  36 – 39 David, Johann Nepomuk  211 Dawes, Charles  99, 168 Dean, James  240 Defregger, Franz von  44, 54, 117 Deri, Max  51 Diersch, Manfred  80, 85 Dilthey, Wilhelm  48 Distler, Hugo  216 Dix, Otto  116, 119, 128 – 130, 134 Döblin, Alfred  185 Dohme, Adolf  43 Dötsch, Walter  131 Dürer, Albrecht  117, 199 E Eckhart, Meister  136 Edschmid, Kasimir  155 Egk, Werner  211, 222 Ehrlich, Lothar  35 Eichendorff, Joseph von  244 Eisler, Hanns  212, 213, 230, 245 Elias, Julius  70 Enzensberger, Hans Magnus  232, 244 Erhard, Ludwig  141 Ernst, Paul  100 F Feininger, Lyonel  161, 162 Feist, Peter H.  84 Feuchtwanger, Lion  184 Feuerbach, Anselm  44, 45 Fortner, Wolfgang  211 Fricsay, Ferenc  212 Friedrich, Caspar David  45, 65, 117 Friedrich I. (Preußen).  Siehe Friedrich III. (Brandenburg) Fuegi, John  30 Fürstenberg, Max Egon zu  220 Furtwängler, Wilhelm  198, 199 294

G Galley, Eberhard  32 Gehlen, Arnold  135 Geismeier, Willi  59 Genzmer, Harald  224 George, Stefan  100 Georg Ludwig (Braunschweig-Lüne­ burg).  Siehe Georg I. (Großbritan­ nien) Gerster, Ottmar  224 Girnus, Wilhelm  32, 34, 35 Goebbels, Joseph  197, 204, 205, 239 Goethe, Johann Wolfgang  30 – 35, 37, 40 – 42, 48, 72, 173, 240 Götsch, Georg  217 Grab, Walter  40 Griebel, Otto  117 Grieshaber, HAP 264 Grimm, Reinhold  29, 30 Grohman, Will  134, 140 Gropius, Walter  160, 181 Grossberg, Carl  180 Grosz, George  114, 123 Grundig, Hans  110, 117 Grundig, Lea  131 Grünewald, Matthias  199 Grützner, Eduard  54 Gurlitt, Cornelius  46, 47 H Haacke, Hans  243 Haack, Friedrich  46, 47 Habermas, Jürgen  245, 266, 267 Haeckel, Ernst  96 Haftmann, Werner  56, 110, 134, 137, 138 Hahn, Karl-Heinz  32, 33 Hamann, Richard  47 – 53, 59, 60, 64, 71, 72, 74, 79, 160 Hamel, Fred  217

Register Hanson, Elizabeth  77 Hanson, Lawrence  77 Harich, Wolfgang  33 Hartlaub, G. F.  76 Hartmann, Karl Amadeus  211, 212, 224 Hasenclever, Walter  155 Hausenstein, Wilhelm  128 Hauser, Arnold  78, 79 Hausmann, Manfred  201 Hausmann, Raoul  114, 115 Heartfield, John  114, 117, 123, 142, 245 Heckel, Erich  130 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  19, 21, 47, 48 Heidegger, Martin  192 Heine, Heinrich  32, 33, 37 Hellpach, Willy  71 Henze, Hans Werner  211, 222 Herbert, Robert L.  81, 82, 84, 85 Hermand, Jost  36 Hiepe, Richard  142 Hildebrandt, Hans  51, 52 Hindemith, Paul  183, 184, 211, 216, 222, 224 Hinderer, Walter  31, 34 Hitler, Adolf  54, 118, 120, 189, 190, 192, 196 – 198, 239, 242 Höch, Hannah  114 Hocke, Gustav René  138 Hofer, Carl  128 – 130, 133, 170 Hofmann, Werner  56 Hölderlin, Friedrich  240 Holtzhauer, Helmut  33, 34, 36, 38 Honecker, Erich  31, 35, 39, 41, 241 Honegger, Arthur  211 House, John  77 Hubbuch, Karl  126 Hübner, Heinrich  86, 87

Hübner, Julius  65 Hugenberg, Alfred  195 Hülsewig-Johnen, Jutta  84 I Ibsen, Henrik  252 J John, Elton  252 Johst, Hanns  155 Jünger, Ernst  200, 201 K Kaiser, Georg  155 Kaiser, Gerhard  40 Kallmorgen, Friedrich  65 Kandinsky, Wassily  112, 113, 136, 180, 243 Kanoldt, Alexander  180 Kant, Immanuel  19, 235 Kaufmann, Hans  33 Kaulbach, Wilhelm  44 Kehr, Günter  214 Keller, Hermann  217 Keun, Irmgard  185 Kirchner, Ernst Ludwig  153 Klebe, Giselher  225 Klein, Philipp  78, 86 Kleist, Heinrich von  249 Klinger, Max  46, 49 Knaus, Ludwig  44 Knigge, Adolf Franz von  40 Kohl, Helmut  17 Kollwitz, Käthe  65, 96, 97, 110, 119, 142 König, Leo von  86 Kooning, Willem de  128 Kraft, Werner  32 Kralik, Hanns  126 Krenek, Ernst  183 295

Register Kretschmer, Ernst  16 Kroll, Bruno  75 Krüger, Walther  217 Kuehl, Gotthardt  65 Kühl, Gotthardt  86 Kurella, Alfred  110 L Lagarde, Paul de  70 Lamprecht, Karl  71, 72, 79, 165 Landsberger, Franz  74 Langbehn, Julius  70 Lassaigne, Jacques  77 Laukhard, Friedrich Christian  40 Leander, Zarah  239 Lehar, Franz  209 Leibl, Wilhelm  45, 199 Lenbach, Franz von  44 Leonhardt, Rudolf Walter  32 Lessing, Gotthold Ephraim  30 Lessing, Karl Friedrich  65 Leutze, Emanuel  65 Lichtwark, Alfred  45, 46 Liebermann, Max  45, 65, 69, 75, 84, 86, 96 Liebermann, Rolf  211 Liess, Andreas  217 Lissitzky, El  114 Loos, Adolf  160 Luckhardt, Wassili  160 Luft, Werner  135 Lukács, Georg  41, 124, 151, 152 Lunatscharski, Anatoli Wissilje­ witsch 36 Lüthi, Karl  136 M Maderna, Bruno  224 Mahler, Gustav  210 Makart, Hans  44, 54 296

Maler, Wilhelm  217 Malewitsch, Kasimir  114 Mann, Golo  33 Mann, Heinrich  38, 40 Mann, Thomas  40, 231, 236, 240 Mao-Tsetung 245 Marc, Franz  150 Marcuse, Herbert  246, 254, 266 Marshall, George C.  131 Marx, Karl  19 Maurer, Otto  136 Mayer, Hans  240 Mehring, Franz  30 Meidner, Ludwig  119, 147 Meier-Graefe, Julius  47 Meißner, Günter  59 Meistermann, Georg  128, 136, 140 Melichar, Alois  217 Mencken, H. L.  238 Mendelssohn, Erich  160 Menzel, Adolph  65, 199 Messiaen, Olivier  224 Metternich, Clemens Wenzel Lothar von  23, 25, 26, 61, 260 Meyboden, Hans  129 Milhaud, Darius  211 Mittenzwei, Werner  33, 38 Mondrian, Piet  136, 180 Morgenthau, Henry  211 Mörike, Eduard  40 Motherwell, Robert  128 Mozart, Wolfgang Amadeus  251, 252 Müller, Bernhard  123 Müller, Heiner  33 Müssener, Helmut  32 Muther, Richard  44 – 47, 70, 103 N Nagel, Otto  117, 131 Napoleon III. von Frankreich  80

Register Naumann, Hans  75 Nay, Ernst Wilhelm  130, 140 Neuenfeld, Hans  252 Neuenfels, Hans  253 Nolde, Emil  119 Nono, Luigi  224 Novotny, Fritz  76 O Orff, Carl  211, 222 Osborn, Max  70 P Pankok, Otto  126, 127 Pauli, Gustav  52 Pechstein, Max  130, 134 Pecht, Friedrich  43 Pepping, Ernst  211 Petersen, Julius  52, 192 Pfeiffer-Watenphul, Max  129 Picard, Max  73 Picasso, Pablo  110, 125 Piscator, Erwin  158, 193 Platschek, Hans  140 Platte, Hans  77 Politzer, Heinz  29 Pollock, Jackson  128 Pongs, Hermann  75 Popper, Karl R.  217 Presley, Elvis  240 Pringsheim, Heinz  212 Puccini, Giacomo  251 Q Querner, Curt  117, 118, 131 R Räderscheidt, Anton  180 Radziwill, Franz  129 Rathenau, Walter  160

Rave, Paul Ortwin  138 Reger, Erik  185 Reger, Max  210 Reich-Ranicki, Marcel  39 Remak, Henry H. H.  29 Remarque, Erich Maria  185 Rembrandt, Harmensz van Rijn  48, 72 Renner, Hans  220 Reuter, Hans-Heinrich  35 Reutter, Hermann  211 Rewald, John  76 Reyher, Ursula  59 Riegel, Hermann  43 Rilke, Rainer Maria  40 Roh, Franz  140 Rökk, Marika  239 Rosbaud, Hans  212 Rosenberg, Adolf  43 Rosenberg, Alfred  117, 195, 197 Rosenhagen, Hans  70 Rousseau, Jean-Jacques  154 Rufer, Siegfried  212 Rühmann, Heinz  239 Runge, Philipp Otto  45 Ruthenberg, Vera  58 S Saliger, Ivo  123 Schad, Christian  180 Schaeffer, Pierre  224 Scheffler, Karl  51, 70, 103 Schiller, Dieter  38 Schiller, Friedrich  30, 37, 38, 40 – 42, 240 Schlamm, William S.  221 Schlichter, Rudolf  200 Schmalenbach, Werner  135 Schmied, Wieland  136 Schnoor, Hans  217 297

Register Scholz, Werner  129 Schonauer, Franz  31 Schönberg, Arnold  149, 183, 210, 212, 213, 216, 217, 221 – 223, 231 Schrimpf, Georg  116 Schultze-Naumburg, Paul  198 Schumacher, Fritz  160 Schumacher, Kurt  210 Schuster-Woldan, Raffael  123 Schutte, Jürgen  89 Sedlmayr, Hans  55, 57, 128, 134, 136, 137 Seidel, Ina  201 Seidlin, Oskar  29 Sengle, Friedrich  33 Shakespeare, William  249 Shdanow. Andrej  127 Siegel, Ralph Maria  209 Siewert, Gerdt Marian  142, 143 Simon, Ernst  32, 33 Sitte, Willi  131 Slevogt, Max  75, 84, 86 Sokel, Walther  34 Spengler, Oswald  16, 51, 55 Sprengel, Peter  89 Springer, Anton  43 Springer, Axel  245 Stahl, Fritz  70 Steiner, Rudolf  100 Stelzmann, Volker  131, 132 Sternberger, Dolf  32 Sternheim, Carl  155, 160 Stifter, Adalbert  40, 244 Stockhausen, Karlheinz  225 – 227 Stolz, Robert  209 Strauß, Johann  249 Strauss, Richard  210 Strawinsky, Igor  211, 223 Strobel, Heinrich  211, 214

298

Stuckenschmidt, H. H.  212, 214, 220, 221, 223 Suhrkamp (Verlag)  29 Sutermeister, Heinrich  224 T Taine, Hippolyte  96 Tatlin, Wladimir  114 Taut, Bruno  160 Taylor, Basil  76 Tessenow, Heinrich  160 Thalheim, Hans-Günther  32 Thiess, Frank  201 Thoma, Hans  69, 117, 199 Thon, Luise  74 Tigges (Reiseagentur)  7 Tizian 72 Toller, Ernst  160 Treitschke, Heinrich von  43 Trier, Hann  135, 140 Trökes, Heinz  140 Tschudi, Hugo von  45, 46, 68 Tübke, Werner  131, 142 U Uhde, Fritz von  75, 86, 101 Ulbricht, Walter  31, 33, 35, 39, 41, 239, 240 Unseld, Siegfried  29 Ury, Lesser  86 V Vansittart, Robert  211 Varèse, Edgard  224 Velde, Henry van de  103, 104 Viegener, Eberhard  181, 182 Vinnen, Carl  70 Voß, Johann Heinrich  40

Register W Wagner, Richard  252 Wagner, Winifred  198 Waldmann, Emil  52, 74 Walther, Inge F.  84 Walzel, Oskar  15, 60, 75 Warhol, Andy  252 Webern, Anton  212, 222, 223, 226 Weber, Paul  139 Weber, Paul A.  140 Wechßler, Eduard  16, 52 Weill, Kurt  183 Weiss, Peter  30 Weisstein, Ulrich  30 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig  40 Wendel, Udo  190, 191 Werfel, Franz  150 Werner, Anton von  44 Werner, Bruno E.  140 Werner, Theodor  140 Wichmann, Siegfried  77

Wiese, Benno von  32 Wildenbruch, Ernst von  44 Wilhelm II. Kaiser von Deutsch­ land 68 Wilkinson, Elizabeth  30 Willsdon, Claire A.  84 Winkler, Gerhard  209 Winter, F. A.  136 Winter, Fritz  128, 130, 140, 244 Wölfflin, Heinrich  15, 16, 50, 52 Womacka, Walter  131 Worringer, Wilhelm  51, 137 Wulf, Joseph  201 Z Zeitler, Rudolf  56 Ziegler, Adolf  120, 122, 123 Zillig, Winfried  225 Zimmermann, Bernd Alois  225 Zügel, Heinrich von  75 Zweig, Arnold  184

299

JOST HERMAND

DIE WENIGEN UND DIE VIELEN TRÄGERSCHICHTEN DEUTSCHER KULTUR VON DEN ANFÄNGEN BIS ZUR GEGENWART

In diesem Buch wird erstmals versucht, die Gesamtentwicklung der deutschen Kultur von den Anfängen bis zur Gegenwart im Hinblick auf ihre sozialbedingten Voraussetzungen darzustellen. Als die wichtigsten Trägerschichten erwiesen sich dabei bis zum 15. Jahrhundert die Kaiser, Bischöfe, Mönche und Ritter, während sich im Zuge der danach einsetzenden Verstädterung eine zunehmende Verbürgerlichung vieler kultureller Bemühungen bemerkbar machte, die jedoch im Zeitalter des Absolutismus wieder zurückgedrängt wurden und erst im späten 18. Jahrhundert ihren entscheidenden Durchbruch erfuhren, ja sich in der Folgezeit mit wechselnden Zielsetzungen als die alleinbestimmenden durchsetzten. Der Hauptakzent wird dabei stets auf die gesellschaftlichen Gegensätze zwischen den jeweils dominierenden Wenigen und die von ihnen unterdrückten bzw. ideologisch manipulierten Vielen gelegt, welche in den verschiedenen Epochen höchst unterschiedliche Formen angenommen haben. 2017. 346 S. 28 S/W- UND 24 FARB. ABB. GB. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-50751-0

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

JOST HERMAND

MEHR ALS TÖNENDE LUFT POLITISCHE ECHOWIRKUNGEN IN LIED, OPER UND INSTRUMENTALMUSIK

Wenn man von einem erweiterten Kulturbegriff ausgeht, der auch die sozioökonomischen und ideologischen Voraussetzungen ästhetischer Ausdrucksformen mitbedenkt, sind alle Kunstwerke letztlich politisch. Und zwar gilt das selbst für jene wortlose Musik, die in vielen rationalistischen, romantischen und formalistischen Theoriebildungen, ob nun unter negativer oder positiver Perspektive, wegen ihres nichtmimetischen Charakters vornehmlich als „tönende Luft“ interpretiert worden ist. Wie untrennbar jedoch nicht nur Lieder und Opern, sondern auch Werke der Instrumentalmusik mit dem jeweils herrschenden Zeitgeist verbunden waren, soll in diesem Buch anhand ausgewählter Beispiele nachgewiesen werden. 2017. 303 S. GB. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-50921-7

böhlau verlag, lindenstraße 14, 50674 köln, t: + 49 221 92428-500 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

OK! AUC H ALS eBO

JOST HERMAND

GRÜNE KLASSIK GOETHES NATURVERSTÄNDNIS IN KUNST UND WISSENSCHAFT

Goethe verbrachte die Hälfte seines Lebens mit bildkünstlerischen und naturwissenschaftlichen Studien, bei denen es ihm vornehmlich um ein holistisches Verständnis der in all ihren Erscheinungsformen zu respektierenden Natur ging. Nach einer Darstellung der lebensgeschichtlichen Etappen von Goethes Bemühungen um ein immer vertiefteres Verständnis der Natur bildet eine ausführliche Rezeptionsgeschichte all jener Natur wissenschaftler und Philosophen, die vom frühen 19. Jahrhundert bis in der Gegenwart in Goethe einen »grünen Klassiker« gesehen haben, den Abschluss des Buches. Liegt auch als EPUB für eReader, iPad und Kindle vor. Dieses DRM-freie eBook ist unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten zitierfähig und enthält Interaktionen: Anmerkungen und Registereinträge sind verlinkt, Querverweise und Weblinks sind interaktiv. Die Hauptkapitel-Überschriften haben Backlinks auf das Inhaltsverzeichnis. 2016. 168 S. 16 S/W- UND 22 FARB. ABB. GB. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-50359-8 [BUCH] | ISBN 978-3-412-50630-8 [E-BOOK]

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

JOST HERMAND

DAS LIEBE GELD! EIGENTUMSVERHÄLTNISSE IN DER DEUTSCHEN LITERATUR

Im Gegensatz zu eher dichtungsorientierten Deutungsweisen deutscher Literatur geht es in diesem Buch vornehmlich um die Widerspiegelung jener sozioökonomischen Verhältnisse, die letztlich allen kulturellen Überbauphänomenen zugrunde liegen. Als Beispiele dienen dafür – vom späten Mittelalter bis zur unmittelbaren Gegenwart – vor allem Dramen, Romane, Autobiographien und Gedichte von Rudolf von Ems, Wickram, Grimmelshausen, Lessing, Goethe und Schiller, Immermann, Freytag, Fontane, Hauptmann, Fischer, Kaiser, Fallada, Brecht, Müller, Walser, Wallraff, Scheben, Braun, Hein und Händler, in denen die jeweiligen Wandlungen und Katastrophen bestimmter Wirtschaftsprozesse besonders deutlich zum Ausdruck kommen. 2015. 356 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-50145-7

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar