Deutsche Geheimgesellschaften: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart 9783412216252, 9783412209988

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Deutsche Geheimgesellschaften: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart
 9783412216252, 9783412209988

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Jost Hermand | Sabine Mödersheim (Hg.)

Deutsche Geheimgesellschaften Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart

2013 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Graduate School der University of Wisconsin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Tabula Smaragdina Hermetis/Verba Secretorum Hermetis. Kupferstich, koloriert. Aus: Geheime Figuren der Rosenkreuzer aus dem 16ten bis 17ten Jahrhundert, Altona ( J.D.A. Eckhardt) 1785, S. 15. © akg-images

© 2013 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kim Hemmers Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20998-8

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Wilhelm Vosskamp Utopie und Geheimnis oder Wie lässt sich vom Geheimen erzählen, an Beispielen von Bacon bis Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Rainer Godel „Ob übrigens das, was ich aus diesen Blättern destilliret habe, ächtes Gold sey, wird sich zeigen“. Wielands Replik auf Ernst Anton von Göchhausens Kampf gegen die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Jan Assmann Das alte Ägypten und die Illuminaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Jost Hermand Der Königsberger Tugendbund. Eine antinapoleonische Geheimgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Carol Poore Ein Gespenst geht um in Europa. Geheimgesellschaften und die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung . . 93 Sabine Mödersheim Enthüllung und Geheimhaltung. Zur Bildsymbolik der Rosenkreuzer und Freimaurer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Jost Hermand Vom Werfenstein zur Wewelsburg. Die sogenannten arioheroischen Geheimbünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Corina L. Petrescu Widerstand im Dritten Reich. Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

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Jost Hermand Die „Döner-Morde“. Der Nationalsozialistische Untergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

Liste der Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

Vorwort I Wann die ersten Geheimgesellschaften entstanden sind, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Wahrscheinlich hat es solche Vereinigungen seit Urzeiten gegeben. Immer dann, wenn sich gesellschaftliche Minderheiten von den jeweils herrschenden obrigkeitlichen Organen unterdrückt oder missachtet fühlten, haben sie diesen Zustand nicht nur willenlos ertragen, sondern sich auch entschlossen, ihren Gegnern entweder mit Waffengewalt entgegenzutreten oder sich in geheim gehaltenen Widerstandsgruppen zusammenzuschließen, um nicht von den machthabenden Schichten weiterhin gemaßregelt, ausgebeutet oder versklavt zu werden. Allerdings gilt es dabei in politischer oder religiöser Hinsicht zwischen höchst verschieden gearteten Geheimbünden zu unterscheiden. Im Mittelalter standen bei gewissen Rückzügen ins Verborgene meist religiöse Gründe im Vordergrund, wodurch größtenteils ein Sektenwesen entstand, das weniger gesellschaftspolitische als mysteriöse oder gar okkulte Züge aufwies. Ja, manche Vereinigungen dieser Art hatten einen ausgesprochen geheimniskrämerischen Charakter. Zudem waren sie häufig in ihren Ordensbildungen ebenso hierarchisch strukturiert wie die von ihnen abgelehnten kirchlichen Organisationsformen. Viele dieser Vereinigungen haben daher heute – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur noch ein religionsgeschichtliches Interesse und werden deshalb im Folgenden bewusst übergangen. Was in diesem Band im Vordergrund stehen soll, sind dagegen vornehmlich jene Geheimgesellschaften, die seit dem Beginn der Neuzeit im 16. Jahrhundert, ob nun in progressionsbetonter oder reaktionärer Ausprägung bestimmte gesellschaftspolitische Zielsetzungen in aufklärerischer, sozialistischer oder anarchistischer sowie nationalistischer oder nazifaschistischer Art ins Auge gefasst haben. Sie traten daher, wie nicht anders zu erwarten, ideologisch äußerst unterschiedlich auf. Was sie in ihrem oppositionellen Charakter gemeinsam hatten, war lediglich ihre gesellschaftsverändernde Tendenz. Doch nicht nur ihre Ziele, sondern auch ihre im Untergrund geplanten Aktivitäten lassen sich schwerlich auf einen Nenner bringen. Neben Gruppen, die sich im Verborgenen erst einmal auf den Aufbau eines weitgespannten Netzwerks beschränkten, um ihren Bemühungen eine möglichst breite gesellschaftliche Basis zu verschaffen, gab es auch Geheimbünde, welche auf einen sofortigen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung drängten und dabei auch vor Attentaten oder Bombenanschlägen nicht zurückschreckten,

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von denen sie sich eine politisch aufrüttelnde Wirkung versprachen. Ebenso unterschiedlich waren ihre organisatorischen Binnenstrukturen. Einige dieser Geheimbünde waren streng hierarchisch gegliedert, das heißt, sie unterwarfen sich einer bestimmten Führerfigur, andere waren mehr demokratisch organisiert, um sich so vom totalitären Charakter der von ihnen bekämpften Herrschaftssysteme abzusetzen.

II Wegen des wechselvollen, ja zum Teil katastrophalen Verlaufs der deutschen Geschichte in den letzten drei Jahrhunderten nimmt es nicht wunder, dass auch die Geschichte der in diesem Land aktiv werdenden Geheimbünde neben manchen positiven, auch viele negative Züge aufweist. Von anfänglich aufklärerisch, bruderschaftlich oder sozialistisch eingestellten Bünden bis hin zu chauvinistisch oder rassistisch ausgerichteten Geheimorganisationen und ihren Folgeerscheinungen findet sich im deutschen Sprachraum geradezu alles, was die bisherige Geheimbundforschung als repräsentative Beispiele dieser Art herausgearbeitet hat. Zu Anfang überwogen dabei als Leitbilder solcher im Verborgenen gegründeten Bünde erst einmal phantastisch ausgemalte Inselutopien, bis sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einige Aufklärer bemühten, derartige Idealvorstellungen auch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durchzusetzen. Ihre weiteste Verbreitung fanden solche Tendenzen vornehmlich in den allerorten entstehenden Freimaurerlogen. Da viele dieser Vereinigungen von Seiten sich „gnädiglich“ gebender Fürsten sowie reformistisch eingestellter Vertreter des Hochadels eine benevolente Unterstützung fanden, lassen sie sich – trotz ihrer liberaldemokratischen Zielsetzungen – nicht unbedingt als Geheimgesellschaften im engeren Sinne charakterisieren, übten jedoch durch ihre Forderungen nach religiöser Toleranz, Bruderliebe, Wohltätigkeit und Rechtsgleichheit sowie ihre rituellen Verhaltensformen bis weit in das 19. Jahrhundert hinein einen maßgeblichen Einfluss auf viele der späteren humanistisch oder sozialreformerisch orientierten Untergrundorganisationen aus. Während die Freimaurer noch weitgehend vorrevolutionär auftraten und sich daher, wie gesagt, sogar der Unterstützung der Fürsten, des Adels und des finanzstarken Bürgertums erfreuten, setzten sich Geheimbünde wie der 1776 von Adam Weishaupt in Ingolstadt gegründete Illuminatenorden sowie die von Karl Friedrich Bahrdt 1786 gegründete Deutsche Union, die ohne fürstliche oder adlige Unterstützung entstanden, für wesentlich radikalere Zielsetzungen ein, welche

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auf eine Gesamtumwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung hinausliefen und deren Mitglieder daher von den jeweiligen Regierungen als „ruchlose Verschwörer“ mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt wurden. Noch schwieriger hatten es solche Gesellschaften, als 1793 die französischen Jakobiner unter Maximilien Robespierre in Paris die Macht ergriffen, deren auf nationale Bruderliebe und soziale Gleichheit drängende Maßnahmen viele deutsche Fürsten veranlasste, so gnadenlos wie möglich gegen irgendwelche aufklärerischen Bünde oder Gesellschaften einzuschreiten, die auch in den deutschen Teilstaaten auf die Durchsetzung derartiger Ideale drängten oder sich auf die radikaldemokratischen Anschauungen des amerikanischen Revolutionärs Thomas Paine beriefen. In Wien ließ Kaiser Franz II. daraufhin im Jahr 1794 einen Jakobiner wie Franz Hebenstreit kurzerhand öffentlich hinrichten, während in Preußen mehrere Mitglieder jener von August Wilhelm von Leipziger gegründeten Geheimloge, die sich – nach dem griechischen Wort für „Wohltäter“ – Bund der Evergeten nannte und mit republikanischer Gesinnung gegen die Misswirtschaft der Junkerkaste auftrat, 1796 im Gefängnis landeten. Zu neuen Geheimbundaktivitäten kam es erst wieder, als sich nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs im Jahr 1806 und der darauffolgenden Besetzung Preußens und Österreichs durch die französische Grande Armée unter Napoleon eine allmählich immer nachdrücklicher werdende Widerstandsgesinnung gegen die „fremdländischen Eindringlinge“ verbreitete. Wohl das bekannteste Beispiel einer solchen Renitenz war jener 1808 in Königsberg gegründete Tugendbund, eine Art freimaurerischer Geheimgesellschaft, deren 700 Mitglieder sich im Gefolge der Evergeten die „Aufsuchung des gemeinen Volks“ vornahmen, um selbst den Kleinbürgern und Bauern einen Enthusiasmus für das vaterländische Gemeinwohl einzuflößen und sie somit auf einen möglichen Befreiungskrieg vorzubereiten. Da sich jedoch derartige Aktivitäten nur schwer geheim halten ließen und obendrein dem Napoleon gegenüber äußerst zögerlich taktierenden preußischen König Friedrich Wilhelm III. zu riskant erschienen, hob dieser den nur kurze Zeit aktiven Tugendbund schon Ende 1809 wieder auf. Öffentlich auftreten konnten solche Geheimbünde, wie beispielsweise die 1810 gegründete Deutsche Gesellschaft, erst nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht von Leipzig von 1813, worauf sie 1815 in ganz Deutschland nationalgestimmte Freudenfeste veranstalteten. Doch schon im gleichen Jahr entschieden sich die in Wien versammelten Fürsten, alle „jakobinisch“ aufgeflammten Gefühle einer nationalen Verbrüderungssehnsucht zu unterdrücken und in sämtlichen Staaten des Deutschen Bundes wieder die altgewohnten absolutistischen Zustände herzustellen.

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Was folgte, war also erneut eine Zeit langanhaltender Unterdrückung, für welche sich der Begriff „Metternichsche Restaurationsperiode“ eingebürgert hat. Wer gegen diese Politik aufmuckte, wie etwa die 1815 gegründeten Burschenschaften oder die bereits seit 1812 bestehenden Turnvereine, wurde von den lokalen Behörden sofort des Landes verwiesen oder zu Haftstrafen verurteilt. Und so blieb dem radikalen Flügel der Studentenschaft, vor allem den Gießener Schwarzen oder Unbedingten unter Karl Follen, nichts anderes übrig, als sich Geheimgesellschaften, wie dem Jünglingsbund, anzuschließen. Auch die von Georg Büchner und Friedrich Ludwig Weidig 1833 in Gießen gegründete Gesellschaft für Menschenrechte scheute das Licht der Öffentlichkeit und flog erst nach der Publikation des Hessischen Landboten im Jahr 1835 auf. Für die meisten Gegner des fürstlichen Absolutismus blieb daher nur der Weg ins Exil, meist nach Frankreich oder in die Schweiz, übrig. Doch selbst in Paris sahen sie sich, wie der 1834 gegründete Bund der Geächteten sowie der 1838 gegründete Bund der Gerechten, gezwungen, sich im Geheimen zu treffen, um nicht von vornherein den Zorn der französischen Behörden zu erregen, die sich in den gleichen Jahren gegen die revolutionären Umtriebe neobabouvistischer Geheimbünde, die von den Blanquisten ausgingen, zur Wehr setzen mussten. Erst nach der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 flauten derartige Aktivitäten wieder merklich ab. Zugegeben, es gab auch in der darauffolgenden Nachmärz-Ära noch rebellisch auftretende Hermannssöhne unter den Burschenschaftern und Turnern, welche jedoch ihre radikaldemokratischen Zielsetzungen zusehends aufgaben und sich der auf eine Reichsbildung unter Preußens Vormacht hindrängenden Bewegung anschlossen. Von irgendwelchen Geheimbünden war daher in diesem Zeitraum wie auch der anschließenden Gründerzeit nach 1871 kaum noch die Rede. Selbst Bismarcks Unterdrückung der Sozialdemokratie in den Jahren zwischen 1878 und 1890 führte nicht dazu, dass diese Partei die Form einer Geheimgesellschaft annahm, sondern weiterhin mit halb legalen, halb illegalen Mitteln gegen den reaktionären Kurs der Reichspolitik anzukämpfen versuchte. Neue Geheimbünde entstanden erst wieder um 1900, als die mit dem allzu „laschen“ außenpolitischen Kurs Wilhelms II. unzufriedenen Industriellen und Großagrarier einen wesentlich machtbetonteren Imperialismus forderten. Neben mit offenem Visier auftretenden Organisationen im rechtsradikalen Spektrum, wie etwa dem 1893 von Heinrich Claß gegründeten Alldeutschen Verband, kam es dabei im Rahmen der sogenannten Völkischen Opposition auch zur Gründung einiger rassistisch eingestellter Germanenorden oder Germanenlogen, die ihre Mitglieder zu absoluter Verschwiegenheit verpflichteten und sich lediglich an ge-

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heim gehaltenen Versammlungsorten trafen. Ja, selbst im Bereich jener anspruchsvollen Literatur, die sich der fortschrittlichen Reaktion zugehörig fühlte, entstand zu diesem Zeitpunkt ein logenartiger Bund, wie der Stefan George-Kreis, der lieber unter sich blieb und sich mit elitärer Pose als das Geheime Deutschland ausgab. Doch die meisten anderen Kreise, Bünde und Orden der Jahre zwischen 1900 und 1914, wie der Sera-Kreis um Eugen Diederichs, der Woltersdorfer St. Michaelsbund um den Maler Fidus, der Orden des Neuen Tempels von Jörg Lanz von Liebensfels sowie die Guido von List-Gesellschaft, welche entweder lebensreformerische oder nationalkonservative bzw. rassistische Zielsetzungen ins Auge fassten, zögerten keineswegs, sich an eine breitere Öffentlichkeit zu wenden. Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 traten jedoch die meisten derartiger Bestrebungen wieder in den Hintergrund. Jetzt gaben sich alle bisher rechtsgerichteten Kreise, Bünde und Orden jenem offen zur Schau gestellten Nationalismus hin, den auch die Mehrheit der deutschen Bevölkerung an den Tag legte. Nur jene, die sich zu einem grundsätzlichen Pazifismus bekannten, mussten jetzt – angesichts der strengen Zensurbestimmungen – mit ihren Anschauungen lieber hinterm Berg halten. Das änderte sich erst wieder nach dem Ausbruch der Novemberrevolution von 1918, als plötzlich die linksgerichteten Gruppen vorübergehend die Oberhand gewannen und so die noch immer wilhelminisch oder deutschvölkisch eingestellten Schichten ihre Massenbasis verloren. Rechtsextreme Gruppen, wie die Organisation Consul, die Schwarze Reichswehr oder der Frontbund, konnten daher in den frühen zwanziger Jahren nur als Geheimgesellschaften operieren. Lediglich manche Präfaschisten und dann die Anführer der NSDAP wandten sich in den späten zwanziger Jahren wieder an die sogenannten breiten Massen und forderten sie auf, mit ihnen jenen Marsch anzutreten, der in ein rassistisch vereinheitlichtes Drittes Reich führen sollte. Und diese Zielsetzung versuchten die Nazifaschisten, als ihnen am 30. Januar 1933 die Macht übergeben wurde, so konsequent wie nur möglich durchzusetzen. Es gab zwar im Dritten Reich auch einige sich zu Geheimgesellschaften zusammenschließende Widerstandsgruppen, wie anfangs die Zellen des kommunistischen Untergrunds und während des Zweiten Weltkriegs, als sich die Zeichen mehrten, dass Deutschland diesen Krieg verlieren würde, den Kreisauer Kreis, die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation, die Gruppe Baum, den Geschwister Scholl-Kreis und die Männer des 20. Juli 1944. Aber sie blieben marginal und entgingen – trotz aller Geheimhaltetaktiken – nicht den Fängen der Gestapo, worauf ihre Mitglieder entweder im Gefängnis landeten oder aufgehängt wurden. Als daraufhin – nach der katastrophalen Niederlage des Dritten Reichs – im Jahr

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1949 im Zuge des Kalten Kriegs auf Druck der Siegermächte die beiden deutschen Teilstaaten, nämlich die westorientierte Bundesrepublik Deutschland (BRD) und die ostorientierte Deutsche Demokratische Republik (DDR), gegründet wurden, hörte die Bildung neuer Geheimbünde erst einmal auf. Es gab zwar im Westen weiterhin einige nationalgesinnte Organisationen, wie die Deutsche Partei (DP) und den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), aber sie verhielten sich als offiziell zugelassene Parteien weitgehend systemkonform und kamen daher wegen der höchst erfolgreichen Wirtschaftspolitik der Regierungsparteien nie über den Status unbedeutender Splitterparteien hinaus. Erst als es um 1966/67 in der BRD zu einer ersten ökonomischen Krise kam, trat eine politische Polarisierung ein, welche die Entstehung neuer Parteien sowie rebellisch eingestellter Gruppen begünstigte. Vor allem die sogenannte Außerparlamentarische Opposition (APO), die sich zu diesem Zeitpunkt formierte, unterstützte nicht nur öffentliche Demonstrationen, sondern trug auch zur Bildung neuer Untergrundbewegungen bei. Der weitaus bekannteste Geheimbund dieser Art war damals die Rote Armee Fraktion (RAF), die unter der Führung von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof mehrere Warenhausbrandanschläge und Attentate auf bekannte Vertreter der wirtschaftlichen und politischen Führungsschichten in der BRD durchführte, bis sie im Jahr 1976 von der Kriminalpolizei aufgehoben wurde, worauf einige ihrer Mitglieder im Gefängnis Stammheim Selbstmord begingen. Die anschließenden Protestaktionen im Rahmen der um 1980 entstehenden Friedensbewegung und der Partei der Grünen hatten dagegen keinen Geheimbundcharakter, sondern versuchten in aller Offenheit möglichst breite Bevölkerungsschichten für ihre Ziele zu gewinnen. Erst nach dem 1989/90 vollzogenen Wiedervereinigungsprozess der beiden deutschen Teilstaaten kam es vor allem in den sogenannten Neuen Bundesländern – aufgrund der Stilllegung der bisherigen volkseigenen Betriebe und der sich daraus ergebenden Arbeitslosigkeit – erneut zu rebellisch eingestellten Gruppenbildungen, die wegen der gegen sie verhängten Verbote gegen Ende der neunziger Jahre nicht nur zur Entstehung neofaschistischer Kameradschaften, sondern auch zur Bildung ressentimentgeladener Geheimgesellschaften führten. Wohl die bekannteste Gruppe, die sich im Zuge der einsetzenden Ausländerfeindlichkeit – im Sinne einer Blut und Ehre-Bewegung – rassistische Ziele setzte, war der im Herbst 2011 aufgedeckte Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der zwischen 1999 und 2008 nicht nur mehrere Türken, einen Griechen und eine Polizistin ermordete, sondern auch Bombenanschläge und zahlreiche Banküberfälle verübte.

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III Soviel zur Geschichte und zum gegenwärtigen Stand jener seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland agierenden Geheimbünde, die keinen privaten und damit außergesellschaftlichen Charakter hatten, sondern aufs Engste mit den jeweiligen politischen Umbrüchen und ihren wirtschaftlichen Folgeerscheinungen zusammenhingen. Während in diesen Geheimgesellschaften, wie gesagt, anfangs eher aufklärerische oder nationaldemokratische Zielvorstellungen im Vordergrund standen, fassten solche geheim gehaltenen Organisationen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vornehmlich soziale, ja selbst kommunistische Veränderungskonzepte ins Auge. Als diese jedoch mehrfach niedergeschlagen wurden, kam es in Zeiten ökonomischer Krisen eher zur Bildung rechtspopulistischer, anarchistischer oder neofaschistischer Geheimgesellschaften, die selbst vor Fememorden oder Aufsehen erregenden Attentaten nicht zurückschreckten. Und Gefahren dieser Art bestehen in Deutschland, wie in vielen europäischen Ländern, auch heute noch. Obwohl sich politische Prognosen häufig als trügerisch erwiesen haben, wird sich daran, falls es zu neuen wirtschaftlichen Engpässen kommen sollte, wahrscheinlich nicht viel ändern. Hoffen wir, dass die Reaktionen auf solche Krisen eher radikaldemokratischer oder ökologiebewusster als anarchistischer oder rechtsextremistischer Art sein werden. Jost Hermand

Wilhelm Vosskamp

Utopie und Geheimnis oder Wie lässt sich vom Geheimen erzählen, an Beispielen von Bacon bis Goethe I Der Zusammenhang von Utopie und Geheimnis enthält eine doppelte Paradoxie: Wie kann ein Geheimnis geheim bleiben, wenn davon erzählt oder darüber gesprochen wird? Verhindert nicht jede Kommunikation über das Geheimnis den Geheimnischarakter des Kommunizierten? Schließlich: wie kann der in den Utopien formulierte aufklärerische Selbstanspruch, das Entworfene und Vorgeschlagene der allgemeinen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, eingelöst werden, wenn das Projektierte der allgemeinen Kommunikation vorbehalten oder gar entzogen wird?1 Utopisches Erzählen verstrickt sich deshalb in Aporien, die sie im Erzählen darzustellen und zu reflektieren hat. Leisten dies Gründungsgeschichten von Utopien in der frühen Neuzeit? Wie entwickeln sich ihre Strukturen im Blick auf jene Geheimnisse, die sie ebenso hüten wie offenbaren? 1 Vgl. Immanuel Kants Forderung an jeden Einzelnen „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“. In Imannuel Kant: Was ist Aufklärung? Werke. Hrsg. von Wilhelm Weischädel, Band 6, Darmstadt 1966, S. 53–61; hier S. 55. In den letzten Jahren sind eine Reihe von Arbeiten erschienen, die sich mit dem Geheimen in der Frühen Neuzeit und im 18. Jahrhundert beschäftigen. Ausgangspunkt war hauptsächlich Reinhart Kosellecks grundlegende Arbeit über Kritik und Krise (1959). Allgemein: Aleida und Jan Assmann in Verbindung mit Alois Hahn und Hans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.): Geheimnis und Öffentlichkeit, München 1997, Daniel Jütte: Das Zeitalter des Geheimnisses. Juden, Christen und die Ökonomie des Geheimen (1400–1800), Göttingen 2011 und Martin Mulsow: Prekäres Wissen. Frankfurt a. M., 2012. Wichtige Arbeiten zum 18. Jahrhundert: Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, 2. Aufl., München 1987, Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1993 und Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002.

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Im Folgenden werden an Hand von Strukturmerkmalen in frühneuzeitlichen Utopien wiederkehrende Aspekte unter der Fragestellung analysiert, inwieweit sich Entwicklungen von den klassischen Utopien der Renaissance bis hin zu Romanen des 18. Jahrhunderts beobachten lassen. Dabei spielen vier Gesichtspunkte eine konstitutive Rolle: das Motiv des Schiffsbruchs und der Topographien von utopischen Gegenwelten; ihre Institutionen und die vorausgesetzte Initiation der künftigen Bewohner; die Rolle der Bildung und Wissenschaft als konstantes Merkmal neuzeitlicher Utopieentwürfe und die Bedeutung der literarischen Form als Medium von Zukunftsprojektionen. An Beispielen von Bacon, Campanella, Andreae und Schnabel versuche ich, die genannten Aspekte zu erläutern und schließe ab mit einem Blick auf Goethes Turmgesellschaft im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre.

II Francis Bacons Wissenschaftsutopie Nova Atlantis (1626) Unter allen Utopien der Renaissance spielt Francis Bacons Nova Atlantis2 eine besondere Rolle insofern, als hier in der Wissenschaftsutopie „Salomons House“ das Geheimnis selbst einen institutionellen Ort hat. Dabei folgt Bacon zunächst dem traditionellen Schema von Zustandsutopien. Zwar verzichtet er auf den bei Morus oder Schnabel inszenierten Schiffbruch, dennoch wird die Grenze zwischen dem Bekannten in der Erzählgegenwart und dem Unbekannten in dem noch zu entdeckenden Land (häufig eine Insel) scharf gezogen. Bacons (anonymer) Erzähler berichtet von einer Seereise von Peru nach China und Japan, die, verursacht durch einen Sturm nach ausgestandener Todesgefahr, zu einer Notlandung in einem sicheren Hafen führt. Bewohner des fremden Landes erlauben allerdings nur dann eine Landung und einen Landgang, wenn es sich nicht um Piraten handelt oder die Ankömmlinge sich einer Gewalttat schuldig gemacht haben. Ansteckungsgefahr wird sogleich durch entsprechend verabreichte Gegengifte gebannt. Der erste Schritt in den dem Leser vertrauten ‚Rites du Passage‘ bildet eine Übergangsphase, in der die Ankömmlinge für drei Tage (mit einer dann gewähr2 Francis Bacon: Nova Atlantis. Fragmentorum alterum Franciscum Bacorum, London 1638. Deutsche Übersetzung mit einem Essay „Zum Verständnis der Werke, Bibliographie und Kommentierung von Klaus J. Heinisch: Der utopische Staat. Morus, Utopia. Campanella, Sonnenstaat. Bacon, Neu-Atlantis, Hamburg 1960, S. 175–2015. Vgl. auch die Reclam-Ausgabe: Neuatlantis. Übersetzt von Günther Bugge. Durchgesehen und neu herausgegeben von Jürgen Klein, Stuttgart 1982. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2003.



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ten Verlängerung um sechs Wochen) vorläufig untergebracht werden. Der Bruch mit der Vergangenheit wird aber unmittelbar vollzogen: gerettet „wie Jonas aus dem Bauch des Wals“, wollen sie sich „[…] eingedenk des vergangenen Glückes und der gegenwärtigen und zukünftigen Gefahren an Gott wenden, [… die] Herzen erheben und ein jeder für sich [… den Lebens]Wandel bessern“3. Der radikale Wechsel vom alten zum neuen Zustand ist – in säkularisierter Form (noch bei Johann Gottfried Schnabel) – mit einem ‚moralischen‘ Mentalitätswandel verbunden, der bereits den ‚neuen Menschen‘ ankündigt. Allerdings ist damit über den geheimnisvollen Ort, die Topographie oder die Institution des neuen Landes noch nichts bekannt – dies muss erst erfragt werden. Die Ermunterung, Fragen zu stellen, vermeidet eine kontinuierliche Erzählung der Abgesandten des neuen Landes, deren Auskunft sogleich mit dem Schweigegebot verbunden wird. In einem Frage-Antwort-Schema wird vom Vorsteher die Geschichte der Insel Bensalem erzählt, allerdings auch hier nicht ohne dass der Berichterstatter einiges für sich behält, „[…] was überhaupt nicht zu verraten erlaubt ist“ (188). Vorwegnehmend wird indessen bereits der Hinweis auf das „Auge des Reiches“ genannt, das den Mittelpunkt der Insel bildet.4 Bekanntgegeben wird schließlich noch der (ideale) „Gesetzgeber dieses Volkes“, der die „Werke der Menschlichkeit“ mit „politischen Absichten zu verbinden“ sucht (192). Die Differenz gegenüber der zurückgelassenen Wirklichkeit besteht deshalb auch darin, dass im Unterschied zur undurchsichtigen und intriganten Kabinettspolitik der ‚alten‘ Welt Moral und Politik als Einheit geschildert werden. Erst nach der Erzählung von Ankunfts- und Übergangsphase folgt im dritten Teil die zentrale Charakterisierung der Wissenschaftsutopie des „Hauses Salomon“. Als Gründungszweck ist die „Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur und die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen“ intendiert.5 Es geht also 3 Francis Bacon: Neu-Atlantis. In: Der utopische Staat (wie Anm. 2), S. 181. Im Folgenden Seitenangaben dieser Ausgabe im Text. 4 Eine Art Beobachter- und Überwachungsposition. 5 Francis Bacon: Neues Organon (1620). Hrsg. mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn, Hamburg 1960, S. 205. Vgl. dazu Wilhelm Voßkamp: „Bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen“. Francis Bacons Utopie der Wissenschaft. In: Gegenworte. Hefte für den Disput über Wissen 27, 2012, S. 32–35, auch zum Folgenden. Zu Bacon insgesamt: Wolfgang Krohn: Francis Bacon. München 1987, und dessen Einleitung zum „Neuen Organon“, Hamburg 1960. Außerdem Richard Nate: Utopie der Wissenschaft/Utopie der Literatur. In Bernhard F. Scholz (Hrsg.): Mimesis. Studien zur literarischen Repräsentation, Tübingen und Basel 1998, S. 215–228 und Daniel Jütte: Das Zeitalter des Geheimnisses (wie Anm. 1), S. 344–351.

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nicht mehr um die Untersuchung des Gegebenen, sondern um die Erkenntnis der möglichen, noch verborgenen Natur und ihre durch den Menschen angestrebte Herrschaft über sie. Der „Bereich des Geheimnisses [soll aufgeklärt werden,] um ihn der Beherrschung durch den Menschen zugänglich zu machen“.6 In Bacons Novum Organum wird der König Salomo zitiert: „Der Ruhm des Herrn ist, seine Werke zu verhüllen, der Ruhm des Königs sie zu erforschen“.7 Damit muss eine neue Beziehung zwischen dem zu Erforschenden und dem Forscher gefunden werden, die den fortschreitenden, unabschließbaren Forschungsprozess (als Lüften des Geheimnisses) bis an die Grenzen des „überhaupt Möglichen“ vorantreibt. Induktive und experimentelle Methoden sind dafür erforderlich und Kooperationen in der Forschungspraxis, die Bacon im Einzelnen entwickelt. Als Pendant zu den sechs Schöpfungstagen („Kollegium der Werke der sechs Tage“, S. 194) konzipiert Bacon deshalb eine Utopie, die den verzeitlichten Forschungsprozess ebenso charakterisiert wie die notwendige jeweilige ‚Stillstellung‘ in der wissenschaftlichen Kooperation in dazu erforderlichen Institutionen. Erkenntnis und Handlung bilden eine Einheit. Gefordert wird eine „Äquivalenz von Ursachenwissen und Handlungsregeln“.8 Damit ist ein neues Wissenschaftsideal entworfen, das nicht mehr vom gebildeten homo universale ausgeht, sondern vom Typus des spezialisierten Wissenschaftlers, der verborgene Natur-Geheimnisse entdeckt und auf technische Erfindungen aus ist. Gegenüber dem durch Rhetorik und Logik trainierten Humanisten steht von nun an der in seiner Einzelforschung spezialisierte Wissenschaftler im Zentrum, der die Kooperation mit den Nachbardisziplinen sucht. Dafür bedarf es unabhängiger Institutionen. Der Philosophie der Forschung in Bacons Neuem Organon entspricht in der Nova Atlantis, die Institution des „Hauses Salomon“, einem geheimnisvollen, unabhängigen Ort, dessen Stifter „Solamona“ auf die Verbindung zweier ehrwürdiger Autoritäten, Solon und Salomon, verweist. „Salomons Haus“ existiert in einem Arkanum. Von seiner Existenz erfahren nur jene Besucher, die zufällig – in dieser Erzählung durch Notlandung – diesen Ort erreichen und dann von den Bewohnern der Nova Atlantis zum Bleiben eingeladen werden. So bewahrt die Utopie des „Salomonischen Hauses“ ihr Geheimnis, während deren Mitglieder sich gleichzeitig über ausgeschickte Kundschafter (eine Art Wissenschafts- und Industriespionage) in der Welt auf dem 6 Manfred Voigts: Thesen zum Verhältnis von Aufklärung und Geheimnis. In: Aleida und Jan Assmann in Verbindung mit Theo Sundermeier (Hrsg.): Schleier und Schwelle, Bd. 2, Geheimnis und Offenbarung, München 1998, S. 65–80; hier S. 67. 7 Zit. in ebd., S. 68. 8 Wolfgang Krohn: Einleitung zum „Neuen Organon“ (wie Anm. 5), S. 88.



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Laufenden halten und die erworbenen neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse für sich zu nutzen verstehen. Charakterisiert wird das Wissenschaftssystem „Salomons Haus“ in zwei detaillierten Darstellungen; zunächst der Forschungseinrichtungen und ihrer Produktion und danach in der Beschreibung wissenschaftlicher Forschergruppen und ihrer Funktion. Bei den Forschungseinrichtungen beginnt Bacon in der Tradition utopischer Insel- und Raumbeschreibung mit der Erzählung von Laboratorien „In den Regionen der Tiefe“ (u.a. unterirdische Höhlen zur Materialforschung) und den „Regionen der Höhe“ (Forschungstürme für Astronomie und Meteorologie). Dann folgen Beschreibungen von Einrichtungen, die den Experimenten der Medizin und Pharmazie dienen, und solche der Tier- und Humangenetik. Die Genetik kennt prinzipiell keine Grenze zwischen Mensch und Tier; sie ist auf Versuche mit einem genetischen „Material“ mit induktiv-experimentellen Verfahren spezialisiert (208). Menschenfreundlicher geht es in den Labors zur Entwicklung gesunder Nahrungsmittel und zur Erzeugung von naturschonender Energie oder in den akustischen Werkstätten zu, in denen Hilfsmittel für das Gehör produziert werden (211). Den zivilen wissenschaftlichen Errungenschaften in praktischen Erfindungen entsprechen indes auch avancierte Techniken in der Waffenproduktion9 (212), aber auch Automaten, die in der Tradition frühneuzeitlicher Kunstkammern durch „Gleichmaß und Feinheit“ ausgezeichnet sind (212). Den Forschungseinrichtungen stellt der Berichterstatter die Forschungsorganisation von „Salomons Haus“ an die Seite. Unter dem Stichwort von „Ämtern und Diensten“ werden neue interdisziplinär arbeitende Wissenschaftler, Dienstund Funktionsträger beschrieben, zu denen beispielsweise die „Lichthändler“ (mercatores Lucis) gehören, die „in fremde Länder fahren und Bücher und Versuchsmuster“ in das eigene Forschungsinstitut importieren (213), aber auch jene „Leuchter“ (lampadas), die die erworbenen Sammlungen und bisher erzielten Ergebnisse begutachten und Anregungen für die weitere Forschung geben. Dies geschieht in permanenter Kommunikation mit allen Mitgliedern der (internen) Wissenschaftlergemeinschaft, die ihrerseits den wissenschaftlichen Nachwuchs ausbildet und an den Zusammenkünften beteiligt. Keine geringe Rolle spielt die Veröffentlichung der wissenschaftlichen Ergebnisse und das Bekanntmachen ungewöhnlicher Erfindungen. Die Frage, wer Entscheidungen darüber trifft, was „zu veröffentlichen angebracht [ist], was dagegen nicht“ (214) – also geheim bleibt – , verweist auf den institutionellen Macht-Wissen-Zusammenhang: die Verfassungs-

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Dies bleibt ein Leitmotiv in Utopien (vgl. Sébastien Mercier: Das Jahr 2440 [1770/71]).

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organe der Nova Atlantis sind diejenigen, die die wissenschaftlichen Geheimnisse verwalten und das letzte Wort bei ihrer Offenlegung behalten. So bleibt die bei Bacon postulierte „Autonomie der Wissenschaft“ eingebettet in das Arkansystem der Gesamtutopie. Im Unterschied zu Thomas Morus’ Utopia (1516) besteht auf der Insel Nova Atlantis keine auf Gemeinbesitz und verbindliche Arbeitsordnung gegründete Verfassung, sondern ein am Status quo des absolutistischen Staates orientiertes Konzept. „Progressive“ (indes noch weitgehend arkane) Wissenschaft trifft auf ein konservatives Gesellschaftsmodell. Der experimentelle Spielraum, der den Wissenschaftlern eröffnet wird, wird ihnen politisch nicht zugebilligt. Dadurch enthält Bacons Text eine eigentümliche Schwebelage und Doppeldeutigkeit insofern, als die geschilderte geheime Wissenschaftsgesellschaft in der Institution von „Salomons Haus“ die traditionale gesellschaftliche Ordnung (noch) nicht verändern kann.

III Campanellas theokratische Staats- und Wissenschaftsallegorie Um die progressiven Momente Bacons im Umgang mit wissenschaftlichen „Geheimnissen“ der Wissenschaftsorganisation von „Salomons Haus“ genauer zu charakterisieren (und zu würdigen)10, bedarf es eines Blicks auf die etwa gleichzeitig entstandene Civitas Solis des der Ketzerei beschuldigten, vor das Inquisitionsgericht geladenen und lebenslang verfolgten Dominikanermönchs Tomaso Campanella.11 Campanellas Verrätselungstechnik im Blick auf die verborgenen Geheimnisse setzt eine universelle Mikro-Makro-Vorstellung voraus in der Nachfolge von Dantes „Staatsallegorie“.12 Geographisch wird die Civitas Solis genauer lokalisiert als die Insel Bensalem bei Francis Bacon. Anstelle eines Berichts über den auf die Insel Ceylon („Taprobana“) verlegten Sonnenstaat kleidet Campanella seine Erzählung in einen Dialog zwischen einem klassisch geschulten Malteser Ordensritter und dem Steuermann des Kolumbus, dem „Genueser“. Die im Dialog geschilderte Ausgangssituation ist weniger ausgeprägt als bei Thomas Morus, allerdings durchaus gegliedert und dynamisch strukturiert. Es handelt sich um die Erzählung 10 Vgl. die offenkundigen Parallelen zur zeitgleich gegründeten britischen „Royal Academy“. 11 ��������������������������������������������������������������������������������������� Zuerst 1602, lateinische Version hrsg. v. Tobias Adami 1623. 1636 noch einmal überarbeitet. Vgl. Peter Kuon: Utopischer Entwurf und fiktionale Vermittlung. Studien zum Gattungswandel der literarischen Utopie zwischen Humanismus und������������������������ Frühaufklärung, ����������������������� Heidelberg 1986, S. 440. 12 Ebd., S. 194.



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eines „als Fragment“ ausgegebenen „umfassenderen, […] aber nicht [vollständig] wiedergegebenen Bericht[s] über eine gerade vollendete Weltreise“.13 Sowohl der Dialog als auch der Fragmentcharakter weisen dem Leser eine produktive Funktion beim schrittweisen Aufdecken der im Einzelnen geschilderten Geheimnisse zu. Sieben konzentrische Ringe bilden das architektonische Grundmuster des Sonnenstaats. Kugeln, auf denen das Firmament bzw. die Erde gemalt ist, und die Kuppel, die alle Sterne des Himmels und sieben Planeten vergegenwärtigt, erinnern sogleich an den Zusammenhang von irdischer und kosmischer Ordnung. Ein strenges Triumvirat von „Pon“ (Macht), „Sin“ (Weisheit) und „Mor“ (Liebe) bildet die Basis einer Pyramide, an deren Spitze ein „Metaphysikus“ („Sol“) steht.14 In Campanellas „Hierokratie“ (Max Weber) spielt die Utopie der universellen Wissenschaft eine zentrale Rolle. Sie wird dem Leser in jener Architektur der konzentrischen Ringbauten als eine Art „Orbis pictus“ emblematisch dargestellt. Auf den äußeren Wänden sind die „Sterne gemalt, ihre Größe, Kräfte und Bewegungen, in je drei Versen gekennzeichnet“ (120). Auf der Innenseite der Mauer erblickt „man alle mathematische[n] Figuren und zwar bei weitem mehr als Archimedes und Euklid erfanden, im richtigen Verhältnis zu der Größe der Wand sauber gezeichnet mit je einer kurzen Erklärung in Versform“ (120). Auf der nach außen gewölbten Seite dieser Mauer stehen eine „genaue und vollständige Beschreibung der ganzen Erde“ und die „Darstellung jeder einzelnen Gegend. Dabei werden auch Sitten und Gebräuche, die Gesetze, der Ursprung und die Machtmittel der Einwohner in kurzen Worten auseinandergesetzt; ebenso sieht man die Alphabete aller Völker über dem Alphabet des Sonnenstaates“ (120 f.). Schritt für Schritt wird in die einzelnen Wissensbereiche eingeführt und „jedes Mal mit einer Erklärung in zwei Versen“ (121) emblematisch verrätselt und enträtselt. Nachdem alle Wissensbereiche vorgestellt sind, folgen die „Bildnisse aller Entdecker und Erfinder wissenschaftlicher und technischer Dinge ebenso die der Gesetzgeber“, wobei dem „Bildnis Jesu Christi und [den Bildnissen] der zwölf Apostel“ – die „gleichsam für Übermenschen“ gehalten werden – ein besonderer Platz gehört (122). Schließlich stehen Lehrer zur Verfügung, die „all diese Bilder erklären, und die Kinder pflegen noch vor dem zehnten Lebensjahre ohne große Mühe, gleichsam spielend und dennoch auf historische Weise [also durch Anschauung] alle Wissenschaften zu lernen“ (122). 13 Ebd., S. 146. 14 Tomaso Campanella: Sonnenstaat. In: Klaus J. Heinisch (Hrsg.): Der utopische Staat, Hamburg 1960, S. 111–169, hier S. 120. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. Seitenangaben im Text.

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Von einer Autonomie oder Teilautonomisierung der Wissenschaft kann – im Unterschied zu Bacon – bei Campanella nicht die Rede sein, weil die „gesamte architektonische Anlage als Emanation göttlichen Ursprungs deutbar“ ist.15 Obwohl in einen Dialog zwischen dem Ordensritter und Seefahrer eingebettet, wird dem Leser eine „Initiation in die [Geheimnisse der] Solarischen Ordnung“ nicht als dynamischer Prozess, sondern als eine „hierarchisch geordnete Summe von Fakten und Bezügen, als endliche Totalität, die in der Allwissenheit des ‚Metafisico‘ und der Perfektion der Sonnenstadt ein für allemal erreicht worden ist“, präsentiert.16 Allerdings vermögen gerade die emblematische Dichte von Faktendeutung und metaphysischer Überhöhung durch den scholastisch argumentierenden „Großmeister“ die inhärenten „Geheimnisse“ nicht zu beseitigen, oder sie erzeugen neue Fragen und Probleme. Dazu gehört das Prinzip von Kausalität und Zufall (vgl. 163) ebenso wie die Gefährlichkeit von prophetischen Voraussagen: „[…] nicht weil sie immer falsch, sondern weil sie meistens oder immer gefährlich sind“ (164). Folglich müssen neue „Offenbarungen“ angekündigt werden: „Was aber der Welt alles bevorsteht, will ich [so der Genueser] dir in einer anderen Unterhaltung ergänzend mitteilen“ (168). Wiederholt kommt zudem das Geheime ins Spiel, etwa wenn Geheimmittel in der Landwirtschaft verwendet werden oder für anstehende Land- und Seeschlachten „künstliche Feuer“ zu erfinden sind „sowie viele Geheimwaffen“ produziert werden (146). Schließlich benötigt man Früchte und Trauben „gegen Traurigkeit und gallige Schwermut“ (147).17 Campanellas Sonnenstaat kann in der Tat melancholisch machen. Die unaufhebbare Aporie des utopischen Konzepts besteht darin, dass gerade – und dies bei einem (offenen) Dialogmodell – die emblematische Dichte und theologischmetaphysische Absicherung das Geheime und Verborgene erst hervorhebt und evoziert. Die nichtautonome Wissenschaft steigert den Geheimnischarakter des Sonnenstaats im Unterschied zu einer auf der Spannung zwischen Wissenschaft und institutioneller Macht beruhenden Konstellation bei Bacon. Allerdings machen die Institutionen in Campanellas Sonnenstaat auch deutlich, dass das Verborgene nicht vollständig unter Kontrolle gebracht werden kann.

15 Peter Kuon: Utopischer Entwurf (wie Anm. 11), S. 170 f. 16 Vgl. ebd., S. 184. 17 Über den Zusammenhang von Utopie und Melancholie vgl. Robert Burton: The Anatomy of Melancholy (1621). Edited with an introduction by Holbrook Jackson and with a new introduction by William H. Gass, New York 2001.



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IV Johann Valentin Andreaes verinnerlichte Offenbarung des Geheimnischarakters in der Christianopolis (1619/1741)18 Im Unterschied zu Campanellas Sonnenstaat bildet der wichtigste frühneuzeitliche Text im deutschsprachigen literarischen Utopie-Diskurs keine dialogische Rahmenhandlung, sondern eine auf den Autor hin stilisierte monologische IchErzählung. Die Reise ins geheime Wissen ist eine ebenso theologisch grundierte wie phantasievolle Schiffbruchgeschichte, in der das „Ich“ allein überlebt. Der Überlebende berichtet als allwissender Erzähler dem Leser über seine Erfahrungen mit dem Ziel, ihn – im Unterschied zur Lutherischen Orthodoxie und im Zeichen einer Reform der Reformation – auf einen eigenen individuellen Weg zum Heil zu führen. Darauf beruht – parallel zu Campanella – die allegorische Struktur des Textes, die der Leser zu entziffern hat. Insgesamt lässt sich der Text als Antwort auf die Rosenkreuzer-Bruderschaft lesen, der die Herausforderung der Theologie Johann Arndts (Wahres Christentum) aufnimmt.19 Es geht wie bei Morus darum, „selber eine Stadt zu bauen“ und die Fiktion („ludicrum est, quod in Thoma Moro“ [33 f.]) in den Dienst einer Frömmigkeitstheologie zu stellen, die auf eine imitatio Christi zielt. Andreae erblickt in seinem literarischen Versuch eine Art geistige Grundlage für die von ihm 1617 geplante und 1620 versuchte Gründung einer „Societas Christiana“.20 Der intendierten (verinnerlichten) Aufdeckung eines zum wahren Christentum führenden göttlichen Geheimnisses entspricht ein traditioneller durch Schemata der überlieferten Utopiearchitektur präsentierter Bericht. Wie in allen Utopien geht es um eine scharfe Trennung zwischen der Außen- und Innenwelt, sobald der Schiffbrüchige in die Christiansburg gelangt. Dort erwarten ihn in der Übergangsphase entsprechende Examina. Dazu gehören neben einer Professions18 Lateinische Ausgabe 1619 und deutsche Übersetzung von David Samuel Georgi 1741. Zit. in Johann Valentin Andreae: Christianopolis. Deutsch und lateinisch. Eingeleitet und hrsg. von Richard van Dülmen, Stuttgart 1972. Seitenangaben im fortlaufenden Text. Zu Andreae vgl. die Biographie von Martin Brecht: Johann Valentin Andreae 1586–1654. Eine Biographie. Mit einem Essay von Christoph Brecht: Johann Valentin Andreae. Zum literarischen Profil eines deutschen Schriftstellers im 17. Jahrhundert, Göttingen 2008. Außerdem vgl. Wilhelm Voßkamp: Von der Staats- zur „Bildungs“-Utopie. Johann Valentin Andreaes Christianopolis. In: Walter Haug und Burghart Wachinger (Hrsg): Innovation und Originalität, Tübingen 1993, S. 196–205. 19 Vgl. Richard van Dülmens Einleitung zur oben genannten Ausgabe, S. 11–20, hier S. 13. 20 Ebd., S. 16 f. Den Rosenkreuzern wird der Zutritt zur Christianopolis verwehrt. Vgl. Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen (wie Anm. 1), S. 63.

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und Sitten-Befragung die Untersuchung körperlicher Befindlichkeit und – als zentrales letztes Examen – die Bildungsprüfung im Zeichen der „Beherrschung [seiner] selbst“ (45). Diese Selbst-Bildung steht allerdings nicht nur im Zeichen einer durch die theologische Grundhaltung erwarteten Glaubensprüfung, sondern zugleich im Zeichen von Naturwissenschaften und Sprachenkenntnissen. Ausdrücklich wird auf chemische Untersuchungen hingewiesen, um „[…] die der Erde eingeprägten göttlichen Geheimnisse“ zu entdecken (113). Chemische, physikalische und metaphysische Kenntnisse gehören zusammen; sie kulminieren – ähnlich wie bei Campanella – im Wissen um die geheimen Zahlen, da Gott „in seinen Werkstätten und typischen Gebäuden [in dieser Weise] seine Geheimnisse entworfen“ habe (147). Den Geheimnissen im Inneren des Selbst entsprechen deshalb die Geheimnisse der Natur, die in der entworfenen Architektur allegorisiert sind. Der IchErzähler bekennt am Schluss des Textes, dass er möglicherweise „den geheimen Mittelpunkt ihrer [der Christianopolis] Regierung einzusehen nicht zugelassen worden [sei und] die Geheimnisse der Republik noch nicht“ fasse (225). Die intendierte Spannung in der Christianopolis wird deshalb auch nicht aufgehoben, sondern an künftige Besucher – sprich Leser – weitergegeben. Im Entschlüsseln der allegorischen Erzählung ist erst ein Anfang gemacht.21

V Johann Gottfried Schnabels Doppelfiktion des Geheimnis-Erzählens Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg22 zeigt auf exemplarische Weise, dass der Geheimnischarakter von Institutionen durch das Geheimnis von Lebensgeschichten gesteigert werden kann. Nicht nur veröffentlicht Schnabel seinen Roman unter einem (geheimen) Pseudonym „Gisander“ (der das Buchmanuskript von einem in einer Postkutsche verunglückten Mitreisenden erhalten haben will), sondern in seiner Robinsonaden-Utopie geht es vornehmlich um das Entdecken von individuellen Geheimnissen künftiger Felsenburg-Utopie-Bewohner. Bei al21 ������������������������������������������������������������������������������������������ Die Bibel behält den „allergrößten Wert“, weil sie eine „von Gott verliehene Gabe voll unerschöpflicher Geheimnisse darstellt“, S. 105. 22 Wunderliche FATA einiger See-Fahrer, absonderlich ALBERTI JULII, eines gebornen Sachsens […], 1731–1743 unter dem Pseudonym „Gisander“ erschienen. Neudruck: Frankfurt a. M. 2001. Zit. in Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Hrsg. v. Volker Meid und Ingeborg Springer-Strand, Stuttgart 1979.



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Insel Felsenburg, entnommen aus Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Reinbek 1969, S. 256.

ler traditionellen Schemahaftigkeit des Textes besteht das eigentliche Geheimnis deshalb im Leben der einzelnen Individuen, die aus Europa auswandern. Die von Andreae eingeleitete Darstellung des paradigmatischen Wechsels vom Geheimnis der utopischen Institution zum Geheimnis des unergründlichen Selbst lässt sich bei Schnabel besonders gut beobachten. Die Gattungstradition der Robinsonade bietet dafür das prägende literarische Modell. Insgesamt geht es um eine subtile Verschränkung von autobiographisch-erzählenden mit utopisch-beschreibenden Diskursen.23 Die Vielzahl erzählter Lebensläufe der auf der Insel Ankommenden macht auf den biographisch-autobiographischen Charakter von Individuen mit ihren Lebensgeheimnissen aufmerksam; der bereits auf der Insel lebende Patriarch der Insel, Albert Julius, weiht die aus dem „alten“ Europa stammenden Emigranten und künftigen Utopie-Bewohner mittels gründlicher Visitationen Schritt für Schritt in die Geheimnisse der Insel ein; und einer der Protagonisten, „Capitain Leonhard Wolffgang“ betont, dass er „[…] ein solches Geheimnis entdecken werde, welches, je unglaublicher es anfänglich scheinen, desto kostbarer [es] vor euch seyn wird“.24 Darüber hinaus lässt sich von einem Geheimnis der utopisch-geographischen Topographie sprechen. Nicht nur fügt Schnabel eine imaginäre Landkarte bei, die in vielem an die Topographie der Utopia des Thomas Morus erinnert, sondern er 23 ���������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Wilhelm Voßkamp: „Ein irdisches Paradies“. Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg. In: Klaus Berghahn und Hans Ulrich Seeber (Hrsg.): Literarische Utopien von Morus bis zur Gegenwart, Königstein 1983, S. 95–104. 24 Zit. in Wunderliche FATA (wie Anm. 22), S. 31.

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verlegt sie in deutlicher Anlehnung an eine tatsächlich bestehende Insel – Tristan da Cunha – in den Südatlantik.25 Im Unterschied zum Nicht-Ort („u-topos“) bei Morus handelt es sich bei Schnabel um einen mehr oder minder geographisch lokalisierten Glücks-Ort („eu-topos“). Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass nach der Veröffentlichung der Insel Felsenburg die Suche nach dem genauen Standort der geheimnisvollen Insel Felsenburg einsetzte. Im Blick auf den Zusammenhang von Utopie und Geheimnis ist es wichtig zu betonen, dass sich – in überlieferter Utopietradition – alle Neuankömmlinge auf der Insel Felsenburg einer Prüfung unterziehen müssen, die in einer Art Lebensbeichte besteht. Die Felsenburg-Bewohner selbst sind zum Schweigen verpflichtet. Vom Leben auf der Insel (dem „irdischen Paradies“) erzählen ausschließlich die (ehemaligen) „Europäer“: der Patriarch Albert Julius und der Chronist Eberhard Julius. Deshalb steht auch hier das Erzählen im Zeichen des Geheimnisses. Für alle ausgewanderten Neuankömmlinge besteht die Pflicht zum Erzählen (Offenbaren der je individuellen Lebensschicksale); gleichzeitig besitzen nur wenige Privilegierte die Legitimation zum Entdecken der Insel-Geheimnisse. Darüber hinaus wird denen, „die wieder nach Europa zurückkehren wollen oder müssen […] kein Einblick in das Paradies Groß-Felsenburg erlaubt […]“.26 Pointiert zusammengefasst: bei Schnabel verlagert sich das Geheimnis zunehmend auf die subjektive Enthüllung im Erzählen einzelner Lebensgeschichten und auf eine durch verschiedene Erzähler verteilte selektive Berichterstattung über das Geheime. Aus dem erzählten Geheimnis wird so mehr und mehr ein „geheimnisvolles Erzählen“.27

VI Geheimnisvolles Erzählen in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre am Beispiel der Turmgesellschaft Goethes Roman lässt sich als eine ebenso überraschende wie zukunftsweisende Zusammenfassung und Weiterführung des Erzählens vom Geheimen seit dem 16. 25 Robert Stockhammer hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich Landkarten lediglich in literarischen Utopien befinden, die nicht von einzelnen Robinsonen, sondern von Kollektiven erzählen. Zit in: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München 2007, S. 113–135. 26 Ebd., S. 113. 27 Vgl. dazu insgesamt Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis (wie Anm. 1).



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und 17. Jahrhundert charakterisieren.28 Die individuelle Geschichte des Protagonisten Wilhelm Meister in verschiedenen Lebensphasen (vor allem in der Welt des zeitgenössischen Theaters mit der Absicht, ein deutsches Nationaltheater zu gründen) bringt der Erzähler in den beiden letzten Büchern des Romans mit der Darstellung der Turmgesellschaft zu einem (vorläufigen) Abschluss. Bildungsgeschichte und Geschichte der Sozietät vom Turm werden nicht zur Deckung gebracht; sie befinden sich in einem produktiven Spannungsverhältnis, insofern Wilhelm von einem schlendernden, sich selbst noch ungewissen Individuum zum Eintritt in einen logenhaften Geheimbund von Männern geführt wird, der sowohl den Prozess der individuellen Bildung abschließt als auch eine neue Bildungsgeschichte sozialer Tätigkeit (mit anschließenden „Wanderjahren“) eröffnet.29 Wichtig ist daher, dass Goethe die Welt des Turms nicht in einer fernen Gegenwelt, sondern im Schloss des zeitgenössischen Landadligen Lothario im späten 18. Jahrhundert ansiedelt. Der „Turm mit vielen Gängen und Seitengebäuden“ (VII, 840) bildet jene Seite des Schlosses, die dem Protagonisten zunächst „verborgen“ bleibt, bis Jarno Wilhelm „tiefer“ in die „Geheimnisse“ einführt (VII, 871). Diese Initiation findet im Stil von Freimaurer- und Geheimbundzeremonien statt;30 dazu gehört das Warten vor einer alten Tür ebenso wie der Gang durch einen dunklen Raum und das Eintreten in einen hellen, den Initianten tief beeindruckenden Saal, in dessen Archiv sich kleine Rollen befinden, die neben den „Lehrbriefen“ von Lothario und Jarno auch den Lehrbrief Wilhelms enthalten. Begleitet wird diese Initiation von Stimmen des Abbés und des Geists von Hamlet, der Wilhelm an die Stimme seines alten Vaters erinnert. Der Abbé überreicht Wilhelm schließlich die Rolle mit seinem „Lehrbrief “. Hier mag kurz erwähnt werden, dass sich Goethe selbst als „Lehrling“ für die Weimarer Loge Anna Amalia beworben hat und 1780 aufgenommen wurde. Auch um eine rasche Beförderung bittet Goethe in einem Gesuch an den Freiherrn von Fritsch am 31. März 1781: „Sollte es möglich seyn mich gelegentlich bis zu dem Meistergrade hinauf zu führen, so würde ich’s dankbarlichst erkennen. Die

28 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Hg. v. Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Zit. in Goethe: Sämtliche Werke, DKV. I. Abt. Bd. 9, Frankfurt a. M. 1992. Bücher und Seitenzahlen im Folgenden im Text. 29 Vgl. den Kommentar und die Einleitung „Struktur und Gehalt“, S. 1363–1380. 30 Vgl. dazu insgesamt Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen (wie Anm. 1).

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Bemühungen, die ich mir bisher in nützlichen Ordenskenntnissen gegeben, haben mich vielleicht nicht ganz eines solchen Grades unwürdig gelassen.“31 Goethes aktive Zeit als Logenbruder dauert allerdings nur drei Jahre; später äußert er sich politisch höchst kritisch (in einer Stellungnahme vom 31. Dezember 1807 zur Gründung einer Loge in Jena): „Die Freimaurerei macht durchaus statum in statu. Wo sie einmal eingeführt wird, wird das Gouvernement sie zu beherrschen und unschädlich zu machen suchen. Sie einzuführen wo sie nicht war, ist niemals rätlich […] Ich will übrigens nicht leugnen, daß dieses maurerische Ordenswesen in großen Städten, auf große rohe Massen ganz günstig gewirkt haben und wirken mag. Auch an kleinen Orten, wie z. B. in Rudolstadt, dient eine solche Anstalt zu einer Form der Geselligkeit. Hier in Weimar brauchen wir sie eigentlich gar nicht, und für Jena halte ich sie […] für gefährlich.“32 Diese biographische Information trägt allerdings wenig zur Interpretation der Geheimbundidee im Wilhelm Meister-Roman bei. Wichtig ist hier neben der zeremoniellen Beschreibung und Initiation in die Geheimnisse der Turmgesellschaft jene Funktion, die der Erzähler damit verbindet. In Anspielung auf und in Abgrenzung von Lessing (Ernst und Falk) und Wieland (Kosmopolitenorden) ist die aus dem Turm hervorgehende geheime „Sozietät“ im genauen Wortsinn eine globale ökonomisch-politische Funktionsgemeinschaft, die Goethe während der Entstehungszeit seines Romans (1794/95) in eine vorrevolutionäre Zeit verlegt, in der es um die prinzipielle Vermeidung von Revolutionen und deren Folgen geht: „Es ist gegenwärtig nichts weniger als rätlich, nur an Einem Ort zu besitzen, nur Einem Platze sein Geld anzuvertrauen, und es ist wieder schwer an vielen Orten Aufsicht darüber zu führen; wir [das sind außer dem Sprecher Jarno, Lothario (der reformfreudige Landadlige, der den „Lehnshokuspokus“ abschaffen will) und der Abbé, der im ganzen Roman eine lenkende Funktion für den Protagonisten Wilhelm Meister übernimmt] haben uns deswegen etwas anders ausgedacht, aus unserem alten Turm soll eine Sozietät ausgehen, die sich in alle Teile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Teile der Welt eintreten kann. Wir assekurieren uns unter einander unsere Existenz, auf den einzigen Fall, dass eine Staatsrevolu31 Johann Wolfgang Goethe: Das erste Weimarer Jahrzehnt. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 7. November 1775 bis 2. September 1786. Hrsg. v. Hartmut Reinhardt. Zit. in Goethe: Sämtliche Werke. DKV II. Abtl. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1997, S. 343. 32 Johann Wolfgang Goethe: Napoleonische Zeit. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 bis 6. Juni 1816. Teil I: Von Schillers Tod bis 1811. Hrsg. v. Rose Unterberger. Zit. in Goethe: Sämtliche Werke. DKV II. Abtl. Bd. 6, Frankfurt a. M. 1993, S. 262–265, hier S. 262 und S. 265.



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tion den einen oder den andern von seinen Besitztümern völlig vertriebe. Ich gehe nun hinüber nach Amerika, um die guten Verhältnisse zu benutzen, die sich unser Freund [Lothario] bei seinem dortigen Aufenthalt gemacht hat. Der Abbé will nach Russland gehen, und Sie [Wilhelm] sollen die Wahl haben, wenn Sie sich an uns anschließen wollen, ob Sie Lothario in Deutschland beistehn, oder mit mir gehen wollen. Ich dächte Sie wählten das letzte. Denn eine große Reise zu tun ist für einen jungen Mann äußerst nützlich“ (VIII, 944 f.). Die „Sozietät“ zielt auf eine ‚Weltgesellschaft‘, insofern der Osten mit Russland durch den Abbé, der Westen durch Jarno (der an die seit Lotharios Beteiligung am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bestehenden amerikanischen Verbindungen anknüpfen kann) vertreten ist, so dass Wilhelm die Entscheidung schwer gemacht wird, sich für die eine oder andere Himmelsrichtung zu entscheiden. Wenn der Protagonist am Ende – wie Lothario – in Deutschland bleibt, sind das eher Gründe, die mit der Darstellung seiner persönlichen Freundschafts- und Liebesbeziehungen zu tun haben, als mit einer klugen Überlegung, sich diesem antirevolutionären Männerbund anzuschließen. Nachdem die Absicht, ein deutsches Nationaltheater zu gründen, aufgegeben ist, geht es auch für den Protagonisten um eine „soziale“ Alternative, die für den Erzähler (und Goethe) nur im Kontext der Revolutionsereignisse gefunden werden kann. Eine genauere historisch-gesellschaftliche Konkretheit erstrebt Goethes Roman nicht. Das Geheimnis des „Turm“ wird vom Erzähler aufgedeckt; die Bedeutung des Sozialen und damit die Bestimmung einer neuen Rolle für Wilhelm sind vorgegeben; die während des gesamten Romans bestehende geheime Lenkung durch den Abbé wird beendet. Zwar wird im Verlauf des letzten Buches des Romans noch einmal auf Traditionen utopischer Modelle angespielt, so im „Saal der Vergangenheit“ oder (im weiteren Umkreis) im Zusammenhang mit der Bibliothek des Oheims, die eine Naturaliensammlung (vgl. die zeitgenössischen Kunstkammern) und ein physikalisches Kabinett enthält und in ihrer räumlichen Ordnung wie die einzelnen Mauerringe in Campanellas Sonnenstaat oder in Terrassons ägyptischem Königspalast angelegt ist, aber das Geheimnis des Turm kann nun kein Thema des Romans bleiben. Man mag in den Zeremonien und Aufnahmeritualen eine Art Fortführung der Theaterwelt aus Goethes Roman Wilhelm Meisters theatralische Sendung und den ersten fünf Büchern der Lehrjahre erblicken und in der Verbindung von Bildungs- und Geheimbundroman Elemente utopischer Traditionen entdecken, wichtiger scheint mir, die Aufmerksamkeit auf die globale Bestimmung zu lenken, die der ursprünglich geheimen „Sozietät“ vom Turm im historischen Kontext der Revolution zugeschrieben wird. Mit Goethes Roman – so darf man pointiert for-

mulieren – endet keineswegs die Darstellung einer konstitutiven Verbindung von Utopie und Geheimnis (wie viel gelesene Romane bis in die Gegenwart dokumentieren), aber – und das mag mit Goethes kritischer Einstellung zu den Freimaurerorden zu tun haben – in den Lehrjahre[n] findet sich eine ebenso künstlerisch subtile wie selbstironische „Verabschiedung“ von Traditionen der frühen Neuzeit wie sie in diesem Vortrag vorgestellt wurden.

Rainer Godel

„Ob übrigens das, was ich aus diesen Blättern destilliret habe, ächtes Gold sey, wird sich zeigen“ Wielands Replik auf Ernst Anton von Göchhausens Kampf gegen die Aufklärung

I Anhand eines kleinen, fast unscheinbaren Textes von Christoph Martin Wieland soll im Folgenden aufgezeigt werden, dass und wie im späten 18. Jahrhundert der Geheimbunddiskurs mit der Frage nach der Konzeption und den Möglichkeiten von Aufklärung verbunden ist. Dabei werde ich einige der kontroversen Konstellationen herausarbeiten, die sich am Ende der 1780er Jahre abzeichnen.1 Hierzu gehe ich von drei Voraussetzungen aus: Erstens: Diese Kontroversen lassen sich nicht hinreichend beschreiben, wenn man von einer vermeintlichen Klärung des Aufklärungsbegriffs durch Kant ausgeht. Dass Aufklärung schon für die Zeitgenossen der „Ausgang des Menschen

1 Im Rahmen dieses Artikels kann nicht exemplarisch eine „Konstellation“ im Sinne Henrichs oder Mulsows analysiert werden. Zwar teile ich mit Mulsows Ansatz den Blick auf die zeitlichen und narrativen Strukturen der Debatte, die Analyse von Vernetzungsstrukturen und den Versuch einer argumentanalytischen Rekonstruktion, doch können Motivationen und Mündlichkeiten hier nicht nachgezeichnet werden. Vgl. Martin Mulsow: Zum Methodenprofil der Konstellationsforschung. In Marcelo Stamm (Hrsg.): Konstellationsforschung, Frankfurt a. M. 2005, S. 74–97. Die in diesem Artikel zugrundegelegte Quellenlage bildet nur einen signifikanten Teil der Debatten um Geheimgesellschaften und Gesellschaftsordnungen am Ende der 1780er Jahre ab und setzt diese in Beziehung zur Debatte um die Aufklärung. Wenn daher Jean-Jacques Rousseau als expliziter Gegner oder Unterstützer oder auch Kants spätere Schrift „Vom ewigen Frieden“, die zahlreiche der Diskussionspunkte einer Lösung zuzuführen sucht, nicht erscheint, so ist dies dem Versuch geschuldet, einen dichten, zeitlich und inhaltlich begrenzten Diskussionszusammenhang auf Grundlage der in den Quellen vorfindlichen Referenzen darzustellen.

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aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“2 sei, ist eine Legende der Aufklärungsforschung. Aufklärung wird gerade erst nach Kants Definition und im Zuge der vielfältigen Definitionsbemühungen auch der späten 1780er Jahre zu einem eminenten Problem. Elementarer Bestandteil der Kontroversen um die Geheimgesellschaften, insbesondere die Illuminaten, ist die Auseinandersetzung um verschiedene Modelle von „Aufklärung“. Zweitens: Beim Blick auf die Debatten um die „wahre Aufklärung“, wie Werner Schneiders sie schon 1974 in einem wichtigen, oft nicht zureichend gewürdigten Buch dargestellt hat,3 darf nicht vergessen werden, dass hierbei nicht-propositionale und narrative Elemente eine entscheidende Rolle spielen. Die Debatte um die „wahre Aufklärung“ kann nicht auf jene Textformen beschränkt werden, in denen die formale Gestalt der semantischen Decodierung der Proposition scheinbar keinen Widerstand entgegenbringt. Die Form des Textes und die dadurch initiierte Kommunikationssituation sind von der inhaltlich-definitorischen Frage nach „der“ Aufklärung nicht zu trennen.4 Die Verschränkung von Fiktion und Wahrheit öffnet sich in der Spätaufklärung dem Urteilsprozess des Rezipienten, der darauf abzielt, eigenverantwortlich am Prozess der Aufklärung teilzunehmen.5 Selbstdenken ist das zentrale Schlagwort eines solchen emanzipatorischen Aufklärungsverständnisses, in dem fiktionale Elemente spezifische Funktionen übernehmen können.6 Drittens: Es genügt nicht, die Debatte um die Geheimgesellschaften in den 1780er Jahren bloß anhand programmatischer Äußerungen zusammenzutragen,

2 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 8, Berlin und Leipzig 1923, S. 33–42, hier S. 35. Der Artikel Kants erschien bekanntlich erstmals in: Berlinische Monatsschrift 4, 1784, S. 481–494. 3 Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg, München 1974. 4 „Wahrheit“ wird bei Christoph Martin Wieland in essayistischen Formen auf andere Weise begründet, ohne dass durch die Abweichung vom akademisch-philosophischen Genre damit der Anspruch verloren ginge. Vgl. Jan-Dirk Müller: Wielands späte Romane. Untersuchungen zur Erzählweise und zur erzählten Wirklichkeit, München 1971, S. 40. 5 ���������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. hierzu mit Blick auf Wieland Walter Erhart: Entzweiung und Selbstaufklärung: Christoph Martin Wielands „Agathon“-Projekt, Tübingen 1991, S. 145. 6 �������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. zur Unterscheidung einer rationalistischen und einer emanzipatorischen Selbstdeutung der Aufklärung Werner Schneiders: Einleitung. Das Zeitalter der Aufklärung. In: Ders. (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, S. 9–23, hier S. 11.



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wie sie die Dokumentensammlung Marian Füssels bietet.7 Nicht in den Blick kommen so die Frage der Textformen und der mit ihnen einhergehenden Prägungen der Kommunikationssituation, die Gestaltung des Verhältnisses von Wissen und Nichtwissen und die Vorsichtsmaßnahmen und Einschränkungen bei der Verschiebung ihrer Grenzen. Wenn alle Texte dieser breiten Kontroversen als referentielle Bezüge zur Wissensproduktion gelesen werden und dabei ihr agonaler, performativer und fiktionaler Charakter ausgeblendet wird, dann geht eine spezifische Charakteristik dessen verloren, was die Debatte um Aufklärung und Geheimgesellschaften in den späten 1780er Jahren ausmacht: die Frage, wie in der Praxis des Erkennens und Handelns, abseits der akademischen Debatten und jenseits programmatischer Definitionen, Aufklärung betrieben werden kann und soll. Der mediale Kontext des späten 18. Jahrhunderts generiert Formen der Kontroverse, die sich nicht auf die „Wahrheit“ einer logischen Definition beschränken lassen. Sie zielen auf die Beteiligung eines breiten, nicht bloß philosophisch gebildeten Publikums und berücksichtigen konkrete lebensweltliche Umstände sowie Bedingungen und Hindernisse von Erkenntnis in der Praxis.8

II Im April 1789 erscheint in Wielands Teutschem Merkur der in der Forschung wenig beachtete Aufsatz Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen.9 Die Metapher der „Goldkörner“ im Titel alludiert auf esoterisch-alchemistische Diskurselemente, die zeitgenössisch mit manchen Geheimgesellschaften eng verbunden waren. Wielands Essay führt somit in das Zentrum der zeitgenössischen Debatte um Geheimbünde. Damit kann indes nicht voraus7 Marian Füssel: Weishaupts Gespenster oder Illuminati.org revisited. Zur Geschichte, Struktur und Legende des Illuminatenordens. [2000] Zugriff am 19. 3. 2012. 8 Vgl. zur Charakteristik solcher Kontroversen auch Rainer Godel: Mediale Strategien. Zu Möglichkeiten und Grenzen literaturwissenschaftlicher Kontextualisierung am Beispiel der Kant-Forster-Kontroverse. In Gideon Stiening (Hrsg.): Klopffechtereien – Missverständnisse – Widersprüche? Methodische und methodologische Perspektiven auf die Kant-Forster-Kontroverse, München 2012, S. 293–323. 9 Im Folgenden zit. nach Christoph Martin Wieland: Ein paar Goldkörner aus – Maculatur oder Sechs Antworten auf sechs Fragen. In: Wielands Gesammelte Schriften. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin durch Hans Werner Seiffert, Bd. 23, Kleine Schriften III, 1783–1791, Berlin 1969, S. 270–275 [Im Folgenden: AA plus Bandnummer].

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gesetzt werden, dass es sich nicht um eine Debatte innerhalb der Aufklärung und über Aufklärung handelt.10 Der Erzähler dieses Essays, das mit dem Pseudonym „Timalethes“ unterzeichnet ist, beginnt mit einer Darlegung der Umstände, die zur Entstehung des Textes geführt hätten. Ein Makulaturbogen eines ihm unbekannten Buchs, das seine Herkunft nicht durch das „geringste typographische Kennzeichen“ verraten habe, sei ihm als Verpackung einer wichtigeren Broschüre aus Leipzig zugesandt worden.11 Als er den Makulaturbogen dazu habe nutzen wollen, wozu eben Makulaturbögen genutzt wurden, „wenn sie auf gutes weiches ungeleimtes Papier gedruckt“ sind, habe er „von ungefähr einen Blick auf die Seite 214 des Blatts, das ich eben zwischen den drey vordersten Fingern meiner rechten Hand hielt“ geworfen und, „nicht ohne einen kleinen Schauer, von Erstaunen“ 12 sechs Fragen gefunden, die er nun beantworten wolle. Die Entstehung des Essays zeugt von einer kontingenten Situation, die ausdrücklich thematisiert wird: „Nichts kann zufälliger sein als die Entstehung dieses kleinen Aufsatzes.“13 Schon dieser knappe Eingang kontrastiert den Anspruch, Fakten zu berichten, der durch die Darlegung einer Entstehungsgeschichte gestützt wird, mit der Profanität dieser Geschichte selbst. Die Zufälligkeit des Lesens und dessen Örtlichkeit scheinen nicht für die Relevanz des Dargestellten zu sprechen. Der Bogen ist nur Verpackung einer wichtigeren Broschüre, die allerdings nicht benannt wird. Zum Lesen ist er eigentlich nicht gedacht – und wenn, dann nur zur kurzweiligen Lektüre vor einer anderweitigen und endgültigen Verwendung des Papiers. Dem artikulierten Anspruch auf faktische Wahrheit – der Erzähler berichtet von einem Geschehen, das die Leser glauben sollen – scheint die Trivialität des Berichteten zu widersprechen. Dieser Gegensatz wird innerhalb des Textes noch verstärkt. Wieland spielt auf das Geheimbundwesen der Zeit an, insbesondere auf die alchemistische Suche nach dem Stein der Weisen, die etwa bei den Freimaurern Strikter Observanz und bei Rosenkreuzern nicht unüblich war.14 Ein Adept habe, so der Goldkörner-Essay weiter, wie die Leser sich erinnerten, „aus einer gewissen unnennbaren Materie 10 Esoterik kann gar zum Katalysator aufgeklärten Denkens werden. Vgl. einschlägig Monika Neugebauer-Wölk: Aufklärung – Esoterik – Wissen. Transformationen des Religiösen im Säkularisierungsprozess. Eine Einführung. In Dies. (Hrsg.): Aufklärung und Esoterik. Re­ zeption – Integration – Konfrontation, Tübingen 2008, S. 5–28, hier S. 27. 11 Vgl. Christoph Martin Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 270. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner, Bd. 10. Hrsg. von Arno Schilson und Axel Schmitt, Frankfurt a. M. 2001, Kommentar, S. 709.



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den Stein der Weisen zu ziehen“ gesucht.15 Die ironische Anspielung ruft einerseits den Geheimnischarakter alchemistischer Versuche durch die Mystifizierung des „Unnennbaren“ auf. Andererseits setzt sie die Relevanz des Analogons herab: Denn als „unnennbar“ galten im Gefolge des Bedürfnisses nach sozialer Distinktion, wie Albrecht Koschorke gezeigt hat, diejenigen Körperausscheidungen, die in der Zone der Immunität angesiedelt waren.16 Der Erzähler bleibt also dem gewählten Bildbereich der Eingangsszene treu. Er proklamiert seinen Anspruch, aus Makulatur „Goldkörner“ zu ziehen, das Unrelevante und Vergessenswürdige (zu diesem Bildbereich gehören damit auch die esoterischen Aspekte des Geheimbundwesens) zu etwas Wertvollem zu formen. Wieland löst im genannten Essay nicht auf, aus welchem Buch die Seite 214 stammt, die er gelesen habe und deren Fragen er beantworten wird. (Ich komme auf seine Antworten später zurück.) Noch im selben Jahr, 1789, kommentieren die Annalen der neuesten Theologischen Litteratur und Kirchengeschichte den Eingang der Goldkörner: „Es ist oder soll eine Recension der kleinen Schrift über Aufklärung und ihre Gränzen seyn, und was nun diese Recension selbst betrift, so wollen wir sie still liegen und auf ihrem Werthe oder Unwerthe beruhen lassen. Aber, daß der Verfasser sich im Angesichte des ganzen ehrsamen Publikums hinsetzt und seine Recension während einer Verrichtung macht, zu welcher ein wohlgezogener Bauerjunge von 4 Jahren abseits gehet – zeigt wenigstens an, daß er nicht so viele Delikatesse besitze, als dieser.“17

Möglicherweise hatte der Rinteler Herausgeber der Annalen, Johann Matthäus Hassencamp, angesichts von Wielands Mystifizierung das ungenannte rezensierte Buch nicht richtig zugeordnet. Denn die genannten Attribute einer kleinen Schrift zum Thema „Aufklärung und ihre Grenzen“ treffen für das Buch, das Wieland in den Goldkörnern besprach, nur am Rande zu. Der Autor des von Wieland im Merkur auf so Aufsehen erregende Weise rezensierten Buches indes hatte sein Werk erkannt und fühlte sich angegriffen. Im Neuen Teutschen Merkur publiziert Ernst Anton von Göchhausen drei Jahre später aus Anlass einer Rezension einer weiteren seiner Kontroversialschriften im 15 Christoph Martin Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 270. 16 ������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18.��������� Jahrhun�������� derts, München 1999, S. 43 ff. 17 Annalen der neuesten Theologischen Litteratur und Kirchengeschichte 1, 1789, 37. Woche, S. 585.

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Merkur18 eine umfangreiche Selbstrechtfertigung, in der er angibt, den anonymen Verfasser der Goldkörner zu kennen: „Ueber diesen Timalethes vorher noch ein Wort. An der ganzen mir bekannten Manier seines Vortrags, und an dem cynischen Eingang seines Schwanks über ein paar aus ihrem Zusammenhange gerissene Stellen einer meiner älteren Schriften: (Vertheidigung cc. der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik,) zu welcher er, seinen Grundsätzen nach, selbst gehört, glaubte ich meinen Mann straks zu erkennen, und würde ihm das gleich damals vernehmlich gesagt haben, wenn mir der Rinteler Annalist nicht zuvorgekommen wäre, und ihm begreiflich gemacht hätte, daß man allenfalls wohl seiner Laune Luft machen dürfte, aber darum noch lange nicht bis zum Schmutz herabsinken müsse.“19

Wieland selbst, der Herausgeber des Merkur, versieht nun diesen Artikel Göchhausens mit einer Fußnote, in der er sich zur Autorschaft bekennt und gleichzeitig den Wahrheitsanspruch seines Berichts bekräftigt:

„Was übrigens den Timalethes betrift, mit welchem Herr v. G. in vorstehendem Aufsatze so weidlich umspringt, so ist alles was besagter Timalethes von der Entstehung seiner im T. M. April 1789 befindlichen sechs Antworten auf sechs Fragen seinen Lesern gebeichtet hat, bis auf den geringsten Umstand in facto die lautere Wahrheit, wie ich hiemit, mit dem Herzen in der Hand, und bey dem Wort eines ehrlichen Mannes, versichere! Die Ursache, warum ich hierüber so positiv seyn kann, ist keine geringere als – weil ich selbst dieser Timalethes bin.“20

Das Buch also, auf das sich der Goldkörner-Essay bezieht und das der Ausgangspunkt dieser Debatte war, ist Ernst Anton August von Göchhausens mit dem fiktiven Druckort Rom 1787 erschienener Band Aufschluß und Vertheidigung der 18 ������������������������������������������������������������������������������������ Es handelt sich um Ernst Anton von Göchhausen: Meines Vaters Haus-Chronika. Ein launiger Beytrag zur Lebensweisheit, Menschen- und Weltkunde. Mit Belegen, Anecdoten und Characterzügen, Erfurt 1790, welche im Merkur 1791 rezensiert worden war: C. S. Krause: Göchhausen, E.A.A.v.: Meines Vaters Haus Chronicke, ein launiger Beytrag zur Lebensweisheit, Mensch- und Weltkunde, Erfurt 1790. Rezension in: Der neue Teutsche Merkur 2, 1791, S. 318–336. 19 Ernst Anton August von Göchhausen: Bestimmtere Antwort auf das Sendschreiben im 7ten Stück des N.T. Merkurs 1791 über das Buch Meines Vaters Haus-Chronika betitelt, von dem Verfasser dieser Schrift. In: Der neue Teutsche Merkur 3, 1791, S. 41–125*, hier S. 104 f. 20 Ebd., S. 123*. Wieland unterzeichnet diese Anmerkung mit seinem vollen Namen.



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Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik.21 Dieses Buch stellt bis dahin den Höhepunkt einer umfangreichen Publikationsreihe dar, in deren Verlauf Göchhausen eine reaktionäre, anti-illuminatische Verschwörungstheorie entwickelt.22 Schon 1786, im selben Jahr, als Friedrich II., der „Aufklärer“ auf dem Thron, starb und durch Friedrich Wilhelm II., den Rosenkreuzer auf dem Thron, ersetzt wurde, hatte Göchhausen den Vorgängerband mit dem Titel Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik vorgelegt.23 Hier schon verbindet er die Behauptung, die Jesuiten suchten der Aufklärung auf geheimem Wege entgegenzuarbeiten, mit der Furcht vor eben denselben Anstrengungen der Illuminaten. Die erstere Verschwörungstheorie, die den Jesuiten den geheimen Angriff auf die Aufklärung unterstellt, war in den Jahren 1785/ 1786, also im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang von Göchhausens Buch, durch die Debatte zwischen Johann Erich Biester und Christian Garve über die in Frage stehende Nähe von Schwärmerei und Aberglauben befördert worden. Biester betrachtete die Rituale des „papistischen Aberglaubens“ als schädliche Auswirkung der Schwärmerei und schätzte letztlich den Katholizismus als gefährlich für die Aufklärung ein, während Garve eher zu Mäßigung riet.24 Ort dieser Debatte war die Berlinische Mo21 [Ernst Anton August von Göchhausen]: Aufschluß und Vertheidigung der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. Nebst einer Bitte an die Leser. Rom [= Leipzig] 1787. 22 Vgl. Wolfgang Albrecht: In Biedermannsposen polemisch eifernd wider die „Epidemie der Aufklärungswuth“. Ernst August Anton von Göchhausens Beiträge zur norddeutschprotestantischen Gegenaufklärung. In Christoph Weiß (Hrsg.): Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, S.  155–192, zur Verschwörungstheorie S.  158 f., zu anti-aufklärerischen Strategien Göchhausens S. 160 ff., und Christoph Weiß: Ernst August Anton von Göchhausen. In Walther Killy (Hrsg.): Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 4, München 1989, S. 182–183, hier S. 182. Der Beginn reaktionärer und anti-aufklärerischer Kritik an den Freimaurern kann auf die Veröffentlichung von Josef Marius von Babos Flugschrift „Ueber Freymaurer. Erste Warnung“ (1784) da­ tiert werden. Vgl. hierzu Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987, S. 126 f., dort auch ausführlicher zu Göchhausen, S. 133 ff. Vgl. auch Wolfgang Albrecht und Christoph Weiß: Einleitende Bemerkungen zur Beantwortung der Frage: Was heißt Gegenaufklärung? In: Christoph Weiß (Hrsg.): Von „Obscuranten“ und „Eudämonisten“, S. 7–34. 23 ��������������������������������������������������������������������������������� [Ernst Anton August von Göchhausen:] Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. In: Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers. Wahrscheinlich manchem Leser um zwantzig Jahre zu spät publizirt. Rom [= Leipzig] 1786. 24 Vgl. Johann Erich Biester: Aberglauben und Schwärmerei in Wirkung und Rükwirkung auf einander. In: Berlinische Monatsschrift 6, 1785, S.  375–379. Zur Debatte gehören Christian Garve: Ueber die Besorgnisse der Protestanten in Ansehung der Verbreitung des

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natsschrift, das zentrale Organ der Berliner Aufklärung. Bemerkenswert ist auch hier die enge personelle und institutionelle Verbindung des Aufklärungs- und des Geheimbunddiskurses. An der Debatte beteiligten sich Garve, Biester und Friedrich Nicolai,25 die Mitglieder der Berliner Mittwochsgesellschaft waren, welche wiederum die zentrale institutionelle Form der Berliner Aufklärung bildete, und wenigstens zum Teil in Personalunion Illuminaten. Aus deren Kreis war nicht nur der Anstoß für die Bestimmung des Aufklärungsbegriffs gekommen,26 sondern auch die aufklärerischen Reformen des preußischen Rechts sollten hier ihren Ursprung finden.27 Im Zentrum der Berliner Debatten steht keineswegs die die Bestimmmung des Begriffs von Aufklärung, sondern die lebenspraktische Frage, wie das Verhältnis von aufklärerischem Fortschritt und Selbstdenken gestaltet werden könnte. Dabei wurden im Umkreis von Mittwochsgesellschaft und Monatsschrift durchaus unterschiedliche Auffassungen von der Radikalität des aufklärerischen Unterfangens in Hinblick auf dessen Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft formuliert. Kants bekanntlich in der Monatsschrift getroffene Unterscheidung von öffentlichem und privatem Gebrauch der Vernunft mit ihrer Selbstzensur in Religionsangelegenheiten ist eine der konservativeren Lösungen.28 Katholicismus. In: ebd., S. 19–67, und J. E. Biester: Antwort an Herrn Professor Garve, über vorstehenden Aufsatz. In: ebd., S. 68–90. 25 Auch Nicolai setzte sich intensiv mit den Katholiken und den Rosenkreuzern auseinander, wobei er beiden anti-aufklärerische Absichten unterstellt. Vgl. Horst Möller:Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974, S. 34. Nicolais Kritik an Geheimgesellschaften steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Katholizismus-Kritik, die die vorgebliche jesuitische Unterwanderung der Freimaurer anprangert. Zu einer differenzierten Darstellung von Nicolais Mitgliedschaft bei den Illuminaten vgl. Michael Voges: Aufklärung (wie Anm. 22), S. 129 f. 26 ����������������������������������������������������������������������������������� Die öffentliche Frage nach der Definition der Aufklärung, die zu den bekannten����� ���� Antworten Kants und Mendelssohns führte, geht bekanntlich auf eine Diskussion in der Berliner Mittwochsgesellschaft zurück. Am 17. Dezember 1783 hatte Johann Carl Wilhelm Moehsen in der Mittwochsgesellschaft eine Vorlesung mit dem Titel „Was ist zu thun zur Aufklärung der Mitbürger?“ vorgetragen. Diese enthielt den Vorschlag, „genau zu bestimmen, was ist Aufklärung“. Diese Frage wurde im Umlaufverfahren der Mittwochsgesellschaft aufgegriffen und von Johann Friedrich Zöllner als Fußnote öffentlich gestellt. Vgl. Ludwig Keller: Die Berliner Mittwochs-Gesellschaft. Ein Beitrag zur Geschichte der Geistesentwicklung Preussens am Ausgange des 18. Jahrhunderts. In: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 5, H. 3/4, 1896, S. 67–94, die Frage Moehsens S. 74, und Johann Friedrich Zöllner: Ist es rathsam, das Ehebündniß ferner durch die Religion zu sanciren? In: Berlinische Monatsschrift 2, 1783, S. 508–516, hier S. 516. 27 ����������������������������������������������������������������������������������� Ernst Ferdinand Klein und Carl Gottlieb Svarez waren an der Ausarbeitung des Allgemeinen Preußischen Landrechts beteiligt. 28 Vgl. Immanuel Kant: Beantwortung (wie Anm. 2), S. 37.



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Diese hier nur angedeuteten Differenzen verbieten es, von „der“ Aufklärung zu sprechen. Vielmehr wird der Prozess der Aufklärung und werden die Debatten um die Aufklärung durch die mediale Konfrontation sich widersprechender Positionen geprägt. Darin stimmten die Berliner Aufklärer trotz aller Differenzen in der Sache überein: Sie teilten die Überzeugung, dass Aufklärung der öffentlichen Auseinandersetzung bedarf.29 Die Frage der Gleichverteilung der Vernunft war in der Mittwochsgesellschaft umstritten,30 also selbst Gegenstand eines Diskurses, der nicht voraussetzt, dass jeder Einzelne, wenn er nur gründlich genug mündig denkt, zu einem wahren Ergebnis kommen werde. Vielmehr wird angenommen, dass die gegenseitige Korrektur und das Aufeinander-Reagieren-Können zum Fortschritt aufklärerischer Erkenntnis beitragen. Das theoretische Konzept der aufklärerischen Öffentlichkeiten und Teil-Öffentlichkeiten fordert die Ausweitung der Debatten aus der geschlossenen Mittwochsgesellschaft in der öffentlich zugänglichen Monatsschrift. Es ist immer mit der Vorstellung verbunden, dass die Leserschaft zum aktiven Teilnehmer und Teilhaber an der aufklärerischen Debatte wird. Dies betrifft auch die öffentliche Auseinandersetzung um die jesuitische Verschwörungstheorie. Göchhausen nun reagierte auf diese Debattenlage mit der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik (1786). Dieses Buch gerät zu einer konservativen Abrechnung mit den Zielen einer offenen Aufklärung auf der Basis einer viellagigen Verschwörungstheorie, die den Jesuiten weitreichende Unterwanderungsabsichten unterstellt:31

29 Vgl. hierzu Rainer Godel: Die Form der Auseinandersetzung. Forster und die Berliner Mittwochsgesellschaft. Erscheint in: Georg-Forster-Studien 18 (2013) (wie Anm. 8). 30 Vgl. Birgit Nehren: Aufklärung – Geheimhaltung – Publizität. Moses Mendelssohn und die Berliner Mittwochsgesellschaft. In Michael Albrecht, Eva J. Engel, Norbert Hinske (Hrsg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, Tübingen 1994, S. 93– 111, hier S. 107. 31 Vgl. Fritz Valjavec: Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770– 1815, Kronberg 1978, S. 293–296, Klaus Epstein: Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revo­ lution 1770–1806. Aus dem Engl. von Johann Zischler, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1973, S. 118–123. Reinhart Koselleck liest Göchhausens „Enthüllung“ als Voraussage der kommenden Revolution, die die geschichtsphilosophischen „Tarnungen“ aufdecke. Der polemiologische Aspekt spielt bei Koselleck eine geringere Rolle. Vgl. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 113–115.

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„Lassen sie die Jesuiten, als geistlichen oder Priester-Orden gantz hinter sich liegen. Sie haben diese Livree abgelegt; [...]. Der Weltbürger-Rock ist das Gewand, das sie itzt tragen. Dencken Sie sich bey der Kirche allzeit Rom; bey Rom den Sitz der Cäsarn, und der Universalmonarchie, bey Catholizism, Cosmopolitism; bey Jesuiten Cosmopoliten, und bey Freymaurerey Jesuiterey. Das ist der rechte Schlüssel.“32

Das Buch bietet, wie dieses Zitat schon zeigt, eine „verwirrende Mischung scheinbar disparater Elemente“.33 Göchhausens Verschwörungstheorie warf zentrale Überzeugungen der Berliner wie der Weimarer Aufklärer über Bord. Er suchte deren Zentralbegriffe zu diskreditieren, indem er den Jesuiten unterstellte, Ziele und Methoden der Aufklärung für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Die Basis von Göchhausens Argumentation bildet eine reaktionär-etatistisch-absolutistische Position, die in der Genese des deutschen Konservativismus und Nationalismus zum wirkungsvollen Argumentationsmuster werden sollte. Göchhausen fand neben konservativen Unterstützern schnell akzentuierte Gegner.34 In der Allgemeine Literatur Zeitung antwortete Johann Joachim Bode mit einer ausführlichen, zweiteiligen Rezension,35 in der er Widersprüche Göchhausens aufzuzeigen sucht: „Es wird darinn [in Göchhausens Enthüllung, R.G.] den Jesuiten Schuld gegeben, dass sie 1) den Orden der Freymaurer regieren und zu ihren Absichten brauchen, und dass sie 32 Ernst Anton August von Göchhausen: Enthüllung (wie Anm. 23), S. 270 f. Kursivierungen im Orig. gesperrt. Das Zitat bringt auch Füssel: Weishaupts Gespenster, S. 20. 33 Michael Voges: Aufklärung (wie Anm. 22), S. 134. 34 Vgl. zu ersten Reaktionen ebd., S. 135 f. 35 [ Johann Joachim Christoph Bode:] Unter dem angeblichen Druckorte Rom: Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. – In Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers, – Wahrscheinlich manchem Leser um zwanzig Jahr zu spät publicirt. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 4, 1786, Nr. 282, Sp. 385–392, und ders.: Unter dem angeblichen Druckorte Rom: Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. etc, (Beschluss des Nr. 282 abgebrochenen Artikels). In: Allgemeine Literatur-Zeitung 4, 1786, Nr. 284, Sp. 401– 403. Vgl. auch Gottfried Höfer: Ernst August Anton von Göchhausen. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg, N.F. 2, 1970, S. 110–150, hier S. 121, und Johann Joachim Christoph Bode: Journal von einer Reise von Weimar nach Frankreich. Im Jahr 1787. Hrsg. von Hermann Schüttler, München 1994, insbes. S. 201 f. zu Bodes Reaktion auf Göchhausens Verschwörungstheorie. Aufschlussreich ist der Kommentar Schüttlers auf S. 159, aus dem hervorgeht, dass der langjährige Freimaurer Göchhausen 1782 Mitglied der Illuminaten geworden war, Knigge aber Bode schon im Juli 1783 mitteilt, dass Göchhausen ausgetreten sei „oder vielmehr [ent]lassen worden [sei], weil er ein Narr und heimlicher Spion der R[osenkreuzer] ist.“ Knigge an Bode am 7. Juli 1783. Zit. in ebd., S. 159.



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2) die Aufklärung unsrer Tage samt ihren Folgen und den dadurch in Umlauf gebrachten Sätzen bewirkt haben und noch befördern, und zwar, weil diese ihnen zur Errichtung ihrer Universalmonarchie dienen kann und soll.“36

Ironie der Geschichte ist wohl, dass Bode selbst Jesuiten der Unterwanderung der Freimaurerei bezichtigte und 1787 mit seiner Reise nach Paris den Boden für die Ausbreitung der Legende bereiten sollte, dass Geheimgesellschaften die Revolution angezettelt hätten.37 Die Differenz liegt hier darin, dass Bode die aufklärerischen Ziele der Geheimbünde zu retten sucht gegenüber der gegenaufklärerischen Position Göchhausens. Wielands Schwiegersohn, der Kantianer und ehemalige Jesuit Karl Leonhard Reinhold, schrieb für den Teutschen Merkur eine Kritik von Göchhausens Buch, die dessen protestantisch-orthodoxe, antiaufklärerische und verschwörungstheoretische Aspekte aufspießt.38 Reinhold zitiert ausführlich aus Göchhausen und sucht mit Kommentaren und Glossierungen dessen Behauptung, mit seinen Thesen auf dem Boden des einzig wahren Christentums zu stehen, zu widerlegen. Insbesondere hebt Reinhold die Absurdität des Gedankens hervor, dass die Jesuiten „gegenwärtig keineswegs durch Verfinsterung sondern durch Erleuchtung des Verstandes [...] ihre Absichten zu bewirken“ suchten.39 Wilsons Vermutung, Wieland habe von Reinhold eine positive Rezension von Göchhausens Enthüllung erwartet, scheint zu weit zu gehen:40 Spätestens in den ausführlichen Anmerkungen zu Göchhausens späterer, bereits erwähnter Selbstrechtfertigung bezeichnet Wieland seine und Göchhausens Überzeugungen dezidiert als antipodisch.41 36 Johann Joachim Christoph Bode: Unter dem angeblichen Druckorte (wie Anm. 35), Sp. 386 f. Vgl. auch die erste Rezension der „Enthüllung“ in: Der Allgemeinen Literatur Zeitung 2, 1786, 143. Stück., Sp. 524–528. 37 Vgl. Michael Voges: Aufklärung (wie Anm. 22), S.  131, und Marian Füssel: Weishaupts Gespenster (wie Anm. 7), S. 21. 38 ������������������������������������������������������������������������������������� Karl Leonhard Reinhold: Revision des Buchs: Göchhausen, E.A.A.v.: Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik, Leipzig 1786. Rezension in: Der Teutsche Merkur 2, 1786, S. 176–190. 39 Ebd., S. 184. 40 Vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1991, S. 169. 41 Vgl. Christoph Martin Wieland: Anmerkungen zu: v. G[oechhausen], Bestimmtere Ant­ wort auf das Sendschreiben im 7ten Stück des Neuen Teutschen Merkurs 1791 über das Buch Meines Vaters Haus-Chronika betitelt, von dem Verfasser dieser Schrift. In: AA 23 (wie Anm. 9), S. 382–384, hier S. 382. Erstmals gedruckt im Anschluss an Göchhausens Artikel in: Neuer Teutscher Merkur, 3, 1792, S. 41–125.

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Die Debatte über die politischen Grenzen der Aufklärung und die Frage des Kosmopolitismus sind, wie schon dieser kleine Ausschnitt zeigt, in den späten 1780er Jahren sowohl miteinander als auch mit dem Geheimbunddiskurs eng verschränkt.42 Schon vor der Französischen Revolution kann sich die Debatte um die Aufklärung der Politisierung der (preußischen) Spätaufklärung kaum mehr entziehen. Exemplarisch für diesen Zusammenhang stehen die Polemiken Andreas Riems gegen die Wöllner-Dekrete und die mit diesen verbundenen Einschränkungen der Pressefreiheit. Riem hatte seine scharfen Angriffe gegen Wöllner mit dem programmatischen Titel Ueber Aufklärung 1788 in mehreren kurzen Schriften publiziert. Sie erlebten schnell mehrere Auflagen.43 Riem tritt für eine radikale Aufklärung ein, die sich insbesondere der sich in Preußen vermeintlich manifestierenden gegenaufklärerischen Entwicklung entgegenstellt. Riem plädiert unmissverständlich für eine unbegrenzte Aufklärung: „Besteht die Aufklärung in Berichtigung der Begriffe, nach Prinzipien reiner Wahrheit; so begeht der, welcher ihr Grenzen setzt, ein Verbrechen.“44 Die Frage nach der Aufklärung steht für Riem in unmittelbarem Zusammenhang mit der Kontrastierung von Eigennutz und Nutzen der Gemeinschaft. Egoismus widerspricht den Erfordernissen der Aufklärung: „Viele verbinden der Wahrheit die Augen, damit sie ihre Thorheiten nicht sehe. [...] Die meisten finden ein wirkliches Interesse daran, Vorurtheile zu hegen, weil kein Feld der Speculation zu wichtigern Finanzoperationen ergiebiger ist, als jenes der Dummheit einer Menschenrasse, die Lust und Betrug auszusaugen willens ist.“45

In der bürgerlichen Aufklärung fördere, so könnte man Riems Argumentation zusammenfassen, der spekulative Kapitalismus die Erhaltung von Vorurteilen, um 42 Vgl. zum Folgenden Rainer Godel: Vorurteil (wie Anm. 8), S. 386–398. 43 Andreas Riem: Ueber Aufklärung. Ob sie dem Staate – der Religion – oder überhaupt gefährlich sey, und seyn könne? Ein Wort zur Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Erstes Fragment, 3. Aufl., Berlin 1788, und ders.: Ueber Aufklärung. Was hat der Staat zu erwarten – was die Wissenschaften, wo man sie unterdrückt? – Wie formt sich der Volkscharakter? – und was für Einflüsse hat die Religion, wenn man sie um Jahrhunderte zurückrückt, und an die symbolischen Bücher schmiedet? Ein Wort zur Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester. Zweytes Fragment, ein Commentar des Ersten, 2. Aufl., Berlin 1788. Kemper hat die Schriften zum Preußischen Religionsedikt ediert und kommentiert. Vgl. Dirk Kemper (Hrsg.): Mißbrauchte Aufklärung? Schriften zum preußischen Religionsedikt vom 9. Juli 1788, Hildesheim/Zürich/New York 1996. 44 Andreas Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment (wie Anm. 43), S. 28. 45 Ebd., S. 5.



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die menschliche Verblendung zu eigennützigen Zwecken auszunutzen. Die Ökonomie instrumentalisiere das Vorurteil. Der Einzelne ist nach Riem zur Aufklärung und zur Vorurteilskritik befugt. Der Leser bleibt indes aufgefordert, Riems Thesen zu überprüfen: „Ob ich Recht habe, entscheide der Leser, der über das, was ich darüber sagen werde, nachdenken kann.“46 Ein solches Modell aufklärerischer Kommunikation, das den Leser zum eigenen Denken und Handeln ermächtigt, thematisiert Wieland zeitgleich in seinem Essay Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen (1788). Wieland fordert hier den Leser ausdrücklich auf, die Reflexion selbständig weiterzuführen: „Jeder die Wahrheit aufrichtig liebende Leser möge hier einen Augenblick still stehen, und dann die Betrachtungen selbst fortsetzen, auf die ihn das Gesagte natürlicher Weise führen muss!“47 Die Überprüfung bisher getroffener Urteile und die Möglichkeit, neue Urteile zu fällen, setzt, wie Wieland meint, ein Innehalten, eine skeptische έποχή, voraus, die eine reflexive Distanz ermöglicht.48 In Hinblick auf das Widerstandsrecht des Einzelnen geht Riem deutlich über Wieland hinaus: Regenten, die mit Vorurteilen und Täuschungen regierten, hätten, wie Riem nahelegt, mit Angriffen auf ihre körperliche Unversehrtheit zu rechnen.49 Jede Einschränkung der Freiheit schlage auf den zurück, der sie einschränke.50 Diese – vor der Französischen Revolution formulierte – Prophezeiung beruht auf der diskursiven Konstellation im Preußen der späten 1780er Jahre. In diese Debatte um das Bedingungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Aufklärung greift auch der hallenser Theologe Karl Friedrich Bahrdt mit der Polemik Über Preßfreyheit und deren Gränzen. Zur Beherzigung für Regenten Censoren und Schriftsteller (1787)51 ein. Bahrdt setzt sich nicht nur für eine sehr weitreichende Redefreiheit ein, die man sich nicht „rauben“ lassen dürfe, sondern er setzt sich auch offensiv, genau wie Reinhold, mit dem Anspruch Göchhausens auseinander, im Namen des wahren Christentums zu sprechen. In Bahrdts Vorrede heißt es: 46 Ebd., S. 6 f. 47 ������������������������������������������������������������������������������ Christoph Martin Wieland: Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen sammt einer Beylage. In: C. M. Wieland: Sämmtliche Werke. Bd. 29, Leipzig 1797, S. 3–144, hier S. 53f. 48 Vgl. ebd., S. 124 f. 49 Vgl. Andreas Riem: Ueber Aufklärung. Erstes Fragment (wie Anm. 43), S. 30 ff. 50 Da seine Argumentation nun aber den Verdacht nahelegen könnte, Riem befürworte einen Umsturz, betont er im zweiten Fragment die Notwendigkeit des Staatserhalts. Vgl. ders., S. 75. 51 ����������������������������������������������������������������������������������� Karl Friedrich Bahrdt: Über Preßfreyheit und deren Gränzen. Zur Beherzigung für Regenten Censoren und Schriftsteller, Züllichau 1787.

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„Möchte sie [Bahrdts Schrift, R.G.] doch auch dem weisheitsbedürftigen Verfasser der Enthüllung des Weltbürgersystems zu Händen kommen, der so armselige Begriffe von Religion und so kindische Furcht vor Leuten hat, welche die Religion stürzen wollen, daß man ihn für einen Romanschreiber halten oder für einen Schwachsinnigen ansehen muß, der von der ewigen und unerschütterlichen Wahrheit noch keinen Strahl empfunden hat!“52

Während sich Bahrdt und Bode also in der Gegnerschaft gegen den reaktionären Verschwörungstheoretiker Göchhausen einig sind, sind sie erbitterte Opponenten in Hinsicht auf die von ihnen jeweils vertretenen bzw. geleiteten Geheimbünde. Bode wendet sich 1788 entschieden gegen die von Bahrdt als Fortsetzung bzw. Konkurrenz zu den Illuminaten gegründete Deutsche Union, die schließlich nicht zuletzt dank dieser Angriffe aufgelöst wurde.53 Umgekehrt verbindet Bahrdt mit Wieland etwa die Forderung nach Pressefreiheit, während sie sich bezüglich der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Geheimbünden unterscheiden. Wenigstens knapp erinnern möchte ich noch an zwei weitere zeitgleiche Beiträge zum Thema, die in der Forschung bisher relativ selten in den zeitgenössischen Diskurs um Pressefreiheit und das Verhältnis von Aufklärung und Staat eingeordnet wurden. Friedrich Schiller legt in der Erstausgabe des Dom Karlos Marquis Posa im Gespräch mit dem Regenten die bekannte aufklärerische Forderung: „Geben Sie Gedankenfreiheit“ in den Mund.54 Und natürlich schreibt Schiller in diesen Jahren den Geisterseher, in dem offenbar eine katholische Geheimgesellschaft einen protestantischen Fürsten zu beeinflussen sucht. Eine ähnlich dichte Diskussionslage zeigt sich in den Debatten über den Kosmopolitismus, die in den späten 1780er Jahren aufflammen. Das Ideal des Weltbürgertums war von Wieland schon in der Geschichte der Abderiten (1773) als eine grundlegende humanistische Forderung der Aufklärung formuliert worden, Lessing sollte das Motiv in Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer (1778) eng mit dem Diskurs der Geheimgesellschaften verbinden: „Recht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären, und genau wüßten, wo Patriotismus, Tugend zu sein 52 Ebd., Vorrede, S. 1. 53 Vgl. auch die biographische Notiz zu Bahrdt bei Hermann Schüttler: Die Mitglieder des Illluminatenordens 1776–1787/93, München 1991, S. 17. 54 Friedrich Schiller: Don Karlos. Infant von Spanien. 2. Aufl. der Erstausgabe [1787]. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. von Paul Böckmann und Gerhard Kluge, Bd. 6, Weimar 1973, III 10, V, 3861 f., S. 191.



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aufhöret.“55 In Bezug auf die Frage, ob und inwiefern der Kosmopolitismus ein zentrales Merkmal oder Ziel der progressiven Bemühungen sein könne oder solle, meldeten sich in den späten 1780er Jahren Beiträger verschiedenster politischer Richtungen zu Wort. Nicht nur der konservative Kritiker Göchhausen in der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik, sondern auch der Gründer des Illuminatenordens Adam Weishaupt – in seinem Nachtrag zur Rechtfertigung meiner Absicht (1787)56 – fühlten sich ermächtigt, den Begriff des Kosmopolitismus für die eigene Sache umzudeuten. Wieland sah sich daher im August 1788 – zwei Jahre nach Erscheinen von Göchhausens erster Schrift – dazu genötigt, im Essay Das Geheimnis des Kosmopolitenordens nachdrücklich vor den Gefahren zu warnen, die drohen, wenn die Idee des Kosmopolitismus instrumentalisiert werde.57 Als Ausweg fordert Wieland die Offenlegung aller vermeintlichen Geheimnisse.58 Damit kehrt er Göchhausens Anspruch, die Geheimnisse zu enthüllen, in den aktiven, aufklärerischen Prozess der Offenlegung um. Mit der Bekanntmachung der zentralen Prinzipien des fiktiven Kosmopolitenordens verbindet er die Aufforderung an alle anderen Geheimgesellschaften, dasselbe zu tun und ihre Prinzipien zu veröffentlichen: „Ihr geheimen Orden alle, wollt ihr uns von der Rechtmäßigkeit eurer Verfassungen, von der Lauterkeit eurer Absichten, von der Unschuld eurer Mittel überzeugen, – so gehet hin und tut desgleichen!“59 Kosmopoliten betrachteten sich – aber das sei kein Geheimnis, sondern stehe jedem als Wissen offen – als „Weltbürger in der eigentlichsten und eminentesten Bedeutung“: 55 Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 10, Werke 1778–1781. Hrsg. von Arno Schilson und Axel Schmitt, Frankfurt a. M. 2001, S. 11–66, hier S. 33. 56 Vgl. ebd., Kommentar, S. 728. 57 ������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Christoph Martin Wieland: Das Geheimnis des Kosmopolitenordens. In: Christoph Martin Wieland: Werke, Bd. 3, Hrsg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, München 1967, S. 550–575, hier S. 551. [ED Teutscher Merkur August 1788, S. 97–115] In den Zusammenhang gehören auch Wielands „Gedanken von der Freiheit über Gegenstände des Glaubens zu philosophieren“. Vgl. John A. McCarthy: Art. „Das Geheimnis des Kosmopolitenordens“. In Jutta Heinz (Hrsg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2008, S. 368–373, hier S. 368. McCarthy weist zurecht auf den Zusammenhang zu vorangegangenen Debatten über Denkfreiheit, Aufklärung und die Auswirkungen des blinden Glaubens hin. 58 ������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. zum Geheimnis als politisch fungibler Größe Manfred Voigts: Thesen zum Verhältnis von Aufklärung und Geheimnis. In Aleida und Jan Assmann (Hrsg.): Schleier und Schwelle, Bd. 2. In Verbindung mit Theo Sundermeier, München 1998, S.  65–80, hier S. 74. 59 Christoph Martin Wieland: Geheimnis (wie Anm. 57), S. 553.

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„Sie betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie, und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzählichen andern vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern, indem jedes nach seiner besondern Art und Weise für seinen eigenen Wohlstand geschäftig ist.“60

Im Zentrum steht also bei Wieland das Verhältnis von individueller Tätigkeit und Gemeinwohl, die Frage des nicht nur aufgeklärten Denkens, sondern vor allem auch des aufgeklärten Handelns.61 Dessen Grundlage bildet das emanzipatorische Aufklärungsverständnis des Selbstdenkens, das in diesem Essay eng an die aufklärerische Kernidee der Bestimmung des Menschen geknüpft wird, wie sie in der Auseinandersetzung von Thomas Abbt und Moses Mendelssohn als skeptische Anthropologie auf der Grundlage von Johann Joachim Spaldings Best- und Longseller entwickelt worden war.62 Der Mensch ist ein denkendes und wollendes Wesen, dessen aufklärerische Tugend im wohltätigen Handeln besteht.63 Wieland glaubt an den gesellschaftlichen Fortschritt und fordert unbehindertes öffentliches Räsonnement und gemeinsinniges Handeln.64 Während in den Riem-Polemiken ein sehr viel weiter greifendes Widerstandsrecht des Einzelnen formuliert wird, bleibt dieses bei Wieland, der vom Kosmopoliten als einem „gute[n] und ruhige[n] Bürger“ spricht,65 auf zwei Fälle beschränkt: Widerstand ist nur dann erlaubt oder gar geboten, wenn – erstens – es moralisch gewiss ist, dass die öffentliche Unterstützung für die gute Sache den Ausschlag geben würde, oder wenn – zweitens – eine offenbar unrecht leidende Partei in Gefahr wäre, ohne Beistand gänzlich unterdrückt zu werden.66 Zum zweiten Fall gehört jede Einschränkung der Pressefreiheit, die von Wieland 60 Ebd., S. 556. 61 Wielands Kosmopolitismus-Essay kann als „Kritik der falsch verstandenen Aufklärung“ verstanden werden. Vgl. John A. McCarthy: Art. Kosmopolitenorden (wie Anm. 57), S. 368. 62 Vgl. Thomas Abbt: Zweifel über die Bestimmung des Menschen. In: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Bd. 6/1, Stuttgart-Bad 1981, S.  7–18, und Moses Mendelssohn: Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend. Gedruckt zu Schinznach, 1763. In: ebd., S. 18–25. 63 Vgl. John A. McCarthy: Art. Kosmopolitenorden (wie Anm. 57), S. 369. 64 Vgl. Wolfgang Albrecht: Wielands Vorstellungen von Aufklärung und seine Beiträge zur Aufklärungsdebatte am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, Berlin/Weimar 1988, S. 25–60, hier S. 41 f. 65 Christoph Martin Wieland: Geheimnis (wie Anm. 57), S. 562. 66 Vgl. ebd., S. 566.



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ebenso entschieden wie von Riem abgelehnt wird.67 Wielands bürgerlich-liberales Modell definiert seine Grenzen und die Möglichkeiten des Widerstands. Indes trug Wieland selbst mit seiner Parteinahme für kosmopolitische Prinzipien unwillentlich dazu bei, dass Reaktionäre in seinen Schriften die Befürwortung illuminatischer Prinzipien sahen.68 Zurecht kann man gegen Wielands Modell der Aufklärung, wie es im Kosmopolitismus-Aufsatz zur Sprache kommt, einwenden, dass die geforderte absolute Transparenz im Verbund mit der Begrenzung des Rechts zu aktiv handelndem Widerstand notwendig Selbstzensur nach sich zieht, die in der Abschätzung der Grenzen eigenen Widerstandes liegen muss. Bedeutet dies nicht letztlich, das individuelle Widerstandsrecht zugunsten der Staats- und Gesellschaftsruhe aufzugeben? Allerdings gehen die politische Wirkungsabsicht Wielands,69 das Vertrauen auf die Vernunft jedes Menschen und das anti-elitäre Aufklärungsverständnis deutlich über das Aufklärungsverständnis Kants und der Kantianer hinaus. Obwohl die tendenziell eher bürgerlich-konservativen Elemente in Wielands Staats- und Gesellschaftsverständnis nicht zu leugnen sind, sucht er dennoch eine Position zu entwickeln, die weder dem illuminatischen Gedanken, man „besitze“ das aufgeklärte Wissen, noch den reaktionär-anti-illuminatischen Verschwörungstheorien entspricht70 und die zudem den definitorischen Bemühungen um die „Aufklärung“ ein performatives Modell hinzufügt.

67 ������������������������������������������������������������������������������������������ McCarthy konstatiert unter Bezug auf Martini, dass die Radikalität dieses Gedankens in einem ansonsten konservativen Umfeld überrasche. Vgl. John A. McCarthy: Art. Kosmopolitenorden (wie Anm. 57), S. 370. 68 Vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte (wie Anm. 40), S. 168. 69 Vgl. einschlägig Jan Philipp Reemtsma: Der politische Schriftsteller Christoph Martin Wieland. In�������������������������������������������������������������������������� :������������������������������������������������������������������������� Christoph Martin Wieland: Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution, Bd. I, Nördlingen 1988, S.  XII-LXXV. Reemtsma verweist zurecht mit Arno Schmidt darauf, dass Wieland „die Frage der Form als ein theoretisches Problem begriff.“ Ebd., S. XIV. 70 Vgl. zu Wielands Kosmopolitismus auch Reinhart Koselleck: Kritik und Krise (wie Anm. 31), S. 80f. Koselleck erkennt hier eine Dialektik. Die aufstrebende Gesellschaft verwickele den herrschenden Staat in einen dualistischen Prozess, indem sie sich von ihm distanziert, ihn scheinbar neutral kritisiert, als moralischer Richter verurteilt und als geheimer Exekutor zugleich das Urteil zu vollstrecken sucht. Koselleck verweist darauf, dass Wieland in diesem Aufsatz das Umschlagen der moralischen Kritik in politische Aktion prognostiziere. Der Kosmopolitenorden-Aufsatz Wielands ist mithin nicht auf den Versuch beschränkbar, sich von den Illuminaten zu distanzieren. Vgl. W. Daniel Wilson: Geheimräte (wie Anm. 40), S. 171.

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III Wie dieser kleine Aufriss der politischen Debattenlage um Aufklärung und Geheimgesellschaften in den späten 1780er Jahren zeigt, wäre es falsch, von einer Dichotomie konstanter Lager (hier die Geheimbünde, dort die Aufklärung, hier die wahre, dort die Gegenaufklärung) auszugehen.71 Die dargestellten kontroversen Konstellationen konstruieren zwar Dichotomien. Man ließe mit der bloßen Beschreibung zweier Lager, zu denen sich die jeweiligen Personen zuordneten, indes genau jene kontroversen Strategien außer Acht, die für das Aufklärungsverständnis vieler Autoren und Publizisten des späten 18. Jahrhunderts notwendige Bedingungen des Aufklärens waren. Es geht Autoren wie Wieland, Forster, Lessing, Lichtenberg und Herder um eine Aufklärung, zu der der (literarische) Kommunikationsakt kritisch denkend und provozierend anregt. Es geht um eine Aufklärung des radikalen Selbstdenkens, die die Selbstkontrolle in den Prozess mit einzuführen sucht.72 Das Verhältnis der verschiedenen Verständnisse von Aufklärung zu- und gegeneinander kann nur als Gemengelage mit variablen Grenzverschiebungen, von Inklusionen und Exklusionen sowie von polemiologischen und narrativen Strategien verstanden werden. In dieser Gemengelage also meldet sich Göchhausen 1787 erneut zu Wort: mit Aufschluß und Vertheidigung der Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik, dem Buch, auf das sich Wieland dann im Goldkörner-Essay beziehen sollte. Göchhausen entwickelt in diesem Band seine schon in der Enthüllung dargelegten Argumente erneut wenig systematisch, sondern wiederholt sie mehrfach in Auseinandersetzung mit verschiedenen Kritikern. Gleichzeitig holt er zu einem Rundumschlag gegen all jene aus – und hier ist Wieland und dessen Umkreis eines der präferierten Angriffsziele –, die eine vermeintlich falsche, zu liberale oder gar radikale Auffassung von den Möglichkeiten und Grenzen der Aufklärung vertreten. Als erster Gegner kommt Reinhold in den Blick, weil er sich in der erwähnten Merkur-Rezension angemaßt habe, nur einzelne Aphorismen wiederzugeben und nicht das Ganze nachzuvollziehen.73 Der Merkur wird kritisiert, weil er analog argumentierende Schriften lobe, Göchhausens Texte aber kritisiere. Explizit erwähnt Göchhausen die politischen Schriften des Wiener Aufklärers Joseph von 71 Vgl. Marian Füssel: Weishaupts Gespenster (wie Anm. 7). 72 Vgl. zu diesem Konzept der Selbstaufklärung Rainer Godel: Vorurteil (wie Anm. 8). Zur Analyse dieser Konstellationen und Dynamiken muss die Frage nach den Praktiken des Aufklärens vor der Frage nach den Praktiken zur Durchsetzung der Aufklärung gestellt werden. Aufklärung ist hier keine vorgängige Materialität. 73 Vgl. Ernst Anton August Göchhausen: Aufschluß (wie Anm. 21), S. 21ff.



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Sonnenfels, der – bezeichnenderweise Freimaurer und Illuminat – indes de facto wesentlich zur österreichischen Aufklärung der 1770er und 1780er Jahre beitrug und die „Liebe zum Vaterland“ gerade nicht als unkritischen Gehorsam definierte, sondern den Einzelnen zum Selbstdenken zu ermächtigen intendierte.74 Überzeugender als die Parallelen zu Sonnenfels, die Göchhausen behauptet, ist, dass er Friedrich Carl von Moser als Verbündeten anführt. Moser hatte schon 1761 behauptet, übergroßes Vertrauen auf Vernunft führe dazu, dass der Mensch sich überschätze: „Die Vernunft läßt sich ihr Recht nicht nehmen, den Menschen zu erinnern, was er ist und was er werden könnte. Sie weißt ihm den Weg, ist sie aber der Weg selbst?“75 Grundlage auch von Göchhausens restaurativer Position ist eine skeptisch-protestantische Anthropologie: „der menschliche Wille muß eingeschränkt werden, weil er verdorben ist.“76 Da Wille und Emotionen jedes Menschen anfällig seien, dürften Individuen nicht den öffentlichen Fortschritt steuern. Dies sei einzig und allein Aufgabe des Staates, dem in dieser Hinsicht (und in allen anderen) vertraut werden müsse. Göchhausen weitet Mosers reformkonservative Einwände gegen eine allgemeine Aufklärung zu einem reaktionären Plädoyer für eine rigide Begrenzung der individuellen wie der allgemeinen Aufklärung aus.77 Es handelt sich hier um eine Strategie der Konfrontation, die von den real vertretenen Positionen zugunsten einer bloß polemiologischen Auseinandersetzung absieht. Die Reihe von Göchhausens Gegnern ist lang. Neben Knigge, dem führenden Organisator des Illuminatenbundes bis zu dessen Suspendierung, und Bahrdt kommt auch Bode erneut in den Blick. Göchhausen setzt sich mit Bodes entlarvender Rezension seiner Enthüllung auseinander. Er verteidigt sich mit einer sehr weitgehenden Ermächtigung des Staates. Letztlich sei es, so Göchhausen, der Staat, der über die Grenzen der Aufklärung und der Vorurteilskritik entscheiden müsse. Denn die „gesunde Vernunft“ habe hinlänglich bewiesen, dass sie nicht in der Lage sei, Vorurteile auszurotten.78 Auf Seite 214 dieses Werks nun formuliert Göchhausen diejenigen Fragen, auf die sich Wieland im Goldkörner-Essay beziehen sollte: 74 Vgl. ebd., S. 90 ff. Zu Sonnenfels’ politischen Positionen vgl. neuerdings Simon Karstens: Joseph von Sonnenfels (1733–1817). Seine Karriere und sein Beitrag zur Reformpolitik in der Habsburgermonarchie. In: Wolfgang Schmale (Hrsg.): Multiple kulturelle Referenzen in der Habsburgermonarchie des 18. Jahrhunderts, Bochum 2010, S. 295–304. 75 Friedrich Carl von Moser: Beherzigungen, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1762, S. 9. 76 Ernst Anton August Göchhausen: Aufschluß (wie Anm. 21), S. 40. 77 Vgl. ebd., S. 90 ff. 78 Vgl. ebd., S. 189 ff.

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„1) Was ist Aufklärung? 2) Ueber welche Gegenstände kann und muß sie sich ausbreiten? 3) Wo sind ihre Grenzen? 4) Durch welche sichere Mittel wird sie befördert? 5) Wer ist berechtigt die Menschheit aufzuklären? 6) An welchen Folgen erkennt man ihre Wahrheit?“79

Diese Fragen seien, so Göchhausen, noch nicht „einstimmig beantwortet“,80 nicht ohne im Anschluss in einer mehrseitigen gegenaufklärerischen Suada sich anzuschicken, die Aufklärer als „blinde Leiter von Blinden“ zu beschimpfen, die die Gegenstände, Mittel und Grenzen der Aufklärung nicht kennten oder nicht kennen wollten.81 Es sei bloße „Sitte“, „alles durchforschen zu wollen, auch das, was jenseits dem Forschungsvermögen der Menschheit liegt“, statt sich auf jene Gegenstände zu beschränken, die dem „Menschengeist“ und den menschlichen Kräften angemessen seien.82 Das „Licht“83 der Aufklärung habe „die Menschheit im Ganzen aber nicht glücklicher nicht weiser, und nicht besser gemacht“.84 Die Aufklärung sei, so Göchhausen, letztlich ein „Phantom“.85 In Wielands Goldkörner-Essay hatten wir die esoterische Motivik des Adep­ ten, der den Stein der Weisen sucht, und die Metapher der „Goldkörner“ im Titel selbst als Allusionen auf den Geheimbunddiskurs analysiert. Auffällig ist, dass der Zusammenhang zur Geheimbundproblematik auf Seite 214 von Göchhausens Aufschluß, die der Erzähler des Essays einzig gelesen zu haben behauptet, nicht erkennbar ist. Dort wird zwar neben der Wiedergabe der Fragen und dem Beginn der Antworten in einem Klammerzusatz auf die Enthüllung verwiesen, dies aber nur mit einem Kurztitel, ohne dass hier bei Göchhausen auf dieser Seite die enge Verbindung der Fragen nach der Aufklärung mit den Geheimbund- und Verschwörungsszenarien deutlich wird. Dass Wieland also gerade den Bildbereich der Geheimgesellschaften zur Illustration verwendet, dürfte darauf hindeuten, dass Wieland von Göchhausens Schrift mehr kannte als nur eine einzige Seite. Hierfür spricht auch die Erzählstruktur des Goldkörner-Essays, die in der Forschung bisher wenig wahrgenommen worden ist.��Wolfgang Albrecht hat allerdings zurecht 79 80 81 82 83 84 85 86

Ebd., S. 214. Kursivierungen im Orig. gesperrt bzw. fett und gesperrt. Ebd. Ebd., S. 215. Ebd. Ebd. Ebd., S. 216. Ebd. Vgl. Werner Schneiders: Wahre Aufklärung (wie Anm. 3), S.  122 ff., v.a. S.  125, Klaus Schaefer: „nur dem einzelnen Menschen, nicht der Menschheit sind Grenzen gesetzt.“ Zu einigen Aspekten von Christoph Martin Wielands Gesellschafts- und Geschichtsbild



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darauf verwiesen, dass Ironie und Persiflage den Text entscheidend prägten und Wielands eigene Positionen nur verkürzt zur Darstellung kämen.87 Die Goldkörner glichen einem „Satyrspiel“, das darauf reagiere, dass sich im Zusammenhang mit dem krisenhaften gesellschaftlichen Entwicklungsprozess die Umstände der Aufklärungsbewegung und der Charakter der Aufklärungsdebatte gewandelt hätten.88 Der konkrete Anlass für Inhalt und Form von Wielands Goldkörner-Essay sind die anti-aufklärerischen und reaktionären Züge von Göchhausens Buch. Dieser hatte sich bereits mit dem Ziel, die Fragen sollten „berichtigt“, also einhellig und endgültig geklärt werden, vom emanzipatorisch-aufklärerischen Diskurs distanziert.89 Göchhausen formuliert ex negativo ein Ideal, das das Geschäft der Aufklärung nur einem ausgewählten Kreis von ‚wahren‘ Aufklärern zumutet, der zu einstimmigen Urteilen komme. Alle anderen und damit auch diejenigen, die laut Göchhausen in der Öffentlichkeit als Aufklärer verstanden würden, sind bei Göchhausen von der Teilhabe an der Reflexion ausgeschlossen. Wielands fast volksaufklärerisch anmutendes Merkur-Programm, das beinhaltet, dass zuweilen auch „ein Schuster dem Apelles einen Fehler zeigen“ könne,90 wird vom Reaktionär Göchhausen nicht geteilt. Wieland unterwirft den Wahrheitsanspruch seiner Replik auf Göchhausen indes genau jenem Prozess der öffentlichen Kritik, den er im Kosmopoliten-Aufsatz initiiert hatte: „Ob übrigens das, was ich aus diesen Blättern destilliret habe, ächtes Gold sey, wird sich zeigen“.91 Dem Anspruch Göchhausens, absolute Wahrheit gefunden zu haben, stellt Wieland die notwendige kritische Überprüfung jeder Position gegenüber. Er formuliert zunächst nicht seine Antworten auf die sechs göchhausenschen Fragen, sondern bekundet, diese Fragen seien „schon seit einigen tausend Jahren für alle verständige Menschen keine Fragen mehr“.92 Die erzählerische Hypothese eindeutiger Antworten entgrenzt den Zeitraum der Aufklärung und führt damit in einen ironischen Modus, der rezeptive Verunsicherung erzeugt: „wenn wir, dachte ich, uns dem ungeachtet [also obwohl die Fragen be-

87 88 89 90 91 92

zwischen 1789 und 1800. In: Impulse. Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik, 8. Folge, 1985, S. 190–202, hier S. 191 f. Vgl. Wolfgang Albrecht: Wielands Vorstellungen (wie Anm. 22), S. 43 ff. Vgl. ebd., S. 43. Ernst Anton August Göchhausen: Aufschluß (wie Anm. 21), S. 214. Christoph Martin Wieland: Der Herausgeber an das Teutsche Publicum. In: Der Teutsche Merkur 2, 1773, S. III-XVI, hier S. IV. Christoph Martin Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 270. Ebd., S. 271.

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antwortet scheinen, R.G.] in einem ewigen Chaos von Anmaßungen, Irrthümern und Dunkelheiten herumtreiben, so muß das wohl eine andere Ursache haben“.93 Der seit einigen tausend Jahren verfügbaren vermeintlichen Klarheit über die definitorischen Fragen widerspricht die herausgehobene, von Göchhausen wörtlich übernommene These des „ewigen Chaos“ menschlichen Nichtwissens und Fehlverhaltens, das der Erzähler hier allerdings nicht auf den Mangel an Vernunft zurückführt, sondern auf ungenannte andere Ursachen. Diese argumentative Doppelstrategie stellt die Fragen ironisch als längst beantwortet (und damit einer neuerlichen Antwort kaum bedürftig) dar und verweist doch gleichzeitig auf die Offenheit des aufklärerischen Prozesses, der vielfältigen Faktoren unterliegt und gerade deshalb unabgeschlossen bleibt. Es geht um einen Aufklärungsprozess in der Praxis, und dieser sieht sich offenbar mit ganz anderen Problemen konfrontiert als mit der bloßen Begriffsbestimmung.94 Wieland beginnt nun mit der lakonischen Beantwortung der von Göchhausen gestellten Fragen. Was Aufklärung sei, wisse jeder, der mittels eines „Paars sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen hell und dunkel, Licht und Finsterniß besteht.“95 Hierzu seien ausreichendes Licht sowie Fähigkeit und Wille zu sehen erforderlich.96 Hier wird das Vertrauen auf die empirische Erkenntnis einerseits beschworen, andererseits an die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit und menschlichen Willens gebunden. Zugleich verweist die Metaphorik konkret auf Göchhausen. Denn Göchhausen selbst zieht das „Hinsehen“ dem „Hinhören“ vor (übrigens natürlich nicht auf Seite 214).97 Dennoch weicht Wielands Ergebnis von dem Göchhausens ab: Beider Wahrheiten unterscheiden sich, auch wenn man deutlich „hinsieht“. Wielands Antworten zielen letztlich nicht auf eine Definition der Aufklärung, ihrer Gegenstände und Grenzen. Die für die Aufklärung gängige Lichtmetaphorik, die gleichzeitig auch auf Göchhausens Polemik gegen die Illuminaten anspielt, wird bis zur ironischen Tautologie wiederholt: „Das Licht des Geistes, wovon hier

93 Ebd. 94 Johann Gottfried Gruber wertet Wielands Essay verkürzend als Beispiel für Wielands Opposition gegen den „Zeitgeist“. Inwieweit die konservative Kritik der Aufklärung als „Zeitgeist“ markiert werden kann, sei dahingestellt. Vgl. Johann Gottfried Gruber: C. M. Wielands Leben. Mit Einschluß vieler noch ungedruckter Briefe Wielands. In Christoph Martin Wieland: Sämmtliche Werke, Bd. 52, Leipzig 1828, S. 446. 95 Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 271. 96 Vgl. ebd. 97 Vgl. Ernst Anton August Göchhausen: Aufschluß (wie Anm. 21), S. 21 f.



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die Rede ist, ist die Erkenntniß des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen.“98 Aufklärung beleuchte alles, was sie zu erkennen in der Lage sei: „Die Aufklärung, d.i. so viel Erkennntniß als nöthig ist, um das Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können, muß sich also über alle Gegenstände ohne Ausnahme ausbreiten, worüber sie sich ausbreiten kann, d. i. über alles dem äussern und innern Auge sichtbare.“99

Umgekehrt wird auf die dritte Frage nach den Grenzen der Aufklärung lakonisch geantwortet, die Grenzen lägen dort, wo bei allem Licht nichts mehr zu sehen ist – und dies sei noch eine zu ernsthafte Antwort.100 Es bleibt offen, ob die Aufklärung dort nicht mehr möglich ist, weil Licht als Erkenntnismittel nicht weiterhilft, oder ob Aufklärung nicht mehr notwendig ist, weil mehr Licht nicht mehr Erkenntnis bringt. Ähnlich spielerisch greift der Erzähler im Folgenden all jene Tätigkeiten an, die besser im Dunkeln vor sich gingen: „wer gerne Grillen fängt, Luftschlösser baut, und Reisen ins Schlaraffenland oder in die glücklichen Inseln macht“ sei ein „natürliche[r] Gegner der Aufklärung“.101 Die hier angeführten Topoi literarisch-produktiver Einbildungskraft verdeutlichen den ironischen Sprechmodus Wielands. Wird die Entfaltung poetischer Phantasie im Modus von Märchen und Utopie – zwei für Wielands Werk charakteristische Gattungen –, als vermeintlich sinnfreie Beschäftigung in Kontrast zur erhellenden Aufklärung gestellt, so erzeugt die Distanz eine gelingende Selbstironie. Die Bilder, die für märchenhafte, allegorische oder auch schwärmerische Dichtungstypen stehen, rekurrieren auf eine aufklärerische Problemlage. Denn auch Wielands eigene Beiträge zur Literatur der Aufklärung verstehen die Exaltation der poetischen Phantasie als graduelles Problem, das mit Hilfe rationaler Verfahren nicht lösbar ist, sondern das vielmehr durch affektive Verfahren wie etwa Shaftesburys „test of ridicule“ begrenzt werden kann. Mit Shaftesbury plädiert Wieland für ein Verfahren ironischer Distanzierung, das die narrativen Strategien auf Plot – wie auf Kommunikationsebene in Don Sylvio und in der Geschichte des Agathon mitprägt.102 Zugleich wird durch 98 99 100 101 102

Christoph Martin Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 272. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. zu Wielands „Don Sylvio von Rosalva“ Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977, S. 197 ff., ders.: Der anthropologische Roman. Seine

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die Aufrufung der schwärmerischen Phantasie die Schwärmer- und Aberglaubenkritik der Berliner Aufklärung konterkariert, die ja nicht zuletzt den Katholizismus mit antiaufklärerischer Schwärmerei gleichgesetzt hatte. Wieland zeigt hier in Form der ironischen Anspielung, dass man ein reflektierter „Schwärmer“ und ein fühlender Aufklärer gleichzeitig sein kann und zugleich auch deren Kritiker. Eine bezeichnende Parallele für solche selbstironischen Anspielungen, die, wie Herbert Jaumann konstatiert, den „Raum der Fiktion“ eröffnen,103 findet sich im Merkur schon 1787, also zwei Jahre vorher. Dort schreibt Wieland: „Aber vermuthlich gehört er [ein Kritiker namens Schneider, R.G.] zu den weisen Männern, die keine Verse, oder doch wenigstens keine Mährchen lesen, und von deren einem ich vor einigen Jahren [...] beschworen wurde, doch endlich einmal, relictis nugis, gescheidt zu werden und, anstatt der leidigen Mährchen, schöne dogmatische Abhandlungen [...] zu schreiben.“104

Diese Aufwertung fiktionaler Erkenntnis und die positive Wendung der sinnlichen Erkenntnis in der Schwärmer-Metaphorik der Goldkörner entspricht den Vorbehalten Wielands gegenüber einem nur rationalistischen Verständnis der Aufklärung: Wäre der Sachverhalt so simpel, wie es die durchgängig dichotomische Metaphorik von Wielands Goldkörner-Essay nahelegt, widerspräche die poetische Einbildungskraft jeglicher Aufklärung, ja, sie machte alle „Gegner der AufEntstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung. In Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, München 1980, S. 247–275, hier S. 253f., Jutta Heinz: Von der Schwärmerkur zur Gesprächstherapie – Symptomatik und Darstellung des Schwärmers in Wielands „Don Sylvio“ und „Peregrinus Proteus“. In: Wieland-Studien 2, 1994, S. 33–53, hier S. 39. Generell zu Wielands Shaftesbury-Rezeption vgl. Stefan Jordan: Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Ein Prolegomenon zur Linie Gottsched-Wieland. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 44, 1994, S. 410–424, Jan Engbers: Der „Moral-Sense“ bei Gellert, Lessing und Wieland. Zur Rezeption von Shaftesbury und Hutcheson in Deutschland, Heidelberg 2001, S. 53 ff., 63 ff., 103 ff., und Mark-Georg Dehrmann: Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2006, S. 271–340. 103 Vgl. Herbert Jaumann: Politische Vernunft, anthropologischer Vorbehalt, dichterische Fiktion. Zu Wielands Kritik des Politischen. In: Modern Language Notes 99, H. 3, 1984, S. 461–478, hier S. 476. 104 Christoph Martin Wieland: Zusatz des Herausgebers [zu: Ludwig Heinrich von Jakob: An Herrn Sr., Verfasser des Schreibens über das Recht des Stärkern]. In: Der Teutsche Merkur 1, 1787, S.  259–262, hier S.  261. Zitat bei Jaumann: Politische Vernunft (wie Anm. 103), S. 476.



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klärung“ ihr gegenüber resistent: „nimmermehr werden sie (die Grillen fangenden und Luftschlösser bauenden Gegner der Aufklärung, R. G.) sich überzeugen lassen, daß das Licht über alle Gegenstände verbreitet werden müsse, die dadurch sichtbar werden können“.105 Jene Selbstironisierung der poetischen Phantasten spricht dafür, dass Wielands Essay allzu platte, dichotomische Aufklärungspropaganda ebenso entlarvt wie er vor der politischen Instrumentalisierung solcher Simplifizierungen warnt. Innerhalb der Licht-Metaphorik antwortet Wieland schließlich auf die Frage, durch welche „sichere Mittel“ Aufklärung befördert werde, das sicherste Mittel sei die Vermehrung des Lichts.106 Doch nun folgt das Programm einer seriösen Aufklärung. „Die Vorstellungen, Begriffe, Urtheile und Meynungen der Menschen werden aufgeklärt, wenn das Wahre vom Falschen daran abgesondert, das Verwickelte entwickelt, das Zusammengesetzte in seine einfachern Bestandtheile aufgelößt, das Einfache bis zu seinem Ursprung verfolgt, und überhaupt, keiner Vorstellung oder Behauptung, die jemals von Menschen für Wahrheit ausgegeben worden ist, ein Freybrief gegen die uneingeschränkteste Untersuchung gestattet wird.“107

Um „Sicherheit“ im Fortschreiten der Aufklärung zu erhalten, reichten isolierte Erkenntnisprozesse nicht aus. Als methodische Grundregel gilt vielmehr das skeptische Verfahren der Vorurteilskritik. Der Duktus von Wielands Text wird ernsthaft, wenn er Zweifel an diesem Mittel und an dessen Anwendung dem Verdacht der Unlauterkeit aussetzt: „Es wäre Spott und Schande, wenn wir nachdem wir schon dreyhundert Jahre lang nach und nach einen gewissen Grad von Licht gewohnt sind, nicht endlich einmal im Stande seyn sollten, hellen Sonnenschein ertragen zu können. Es greift sich mit Händen, daß das bloße Ausflüchte der lieben Leute sind, die ihre eigenen Ursachen haben, warum es nicht hell um sie seyn soll.“108

Schon die zeitliche Präzisierung des Beginns der Aufklärung gegenüber den „einigen tausend Jahren“ des ironischen Eingangs markiert, dass Wieland nun Aufklärung als historischen Prozess situiert, der vor 300 Jahren, in der Zeit des Huma105 106 107 108

Christoph Martin Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 272. Ebd., S. 273. Ebd. Ebd., S. 274.

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nismus, der Reformation und nicht zuletzt der kopernikanischen Wende, seinen Ausgang nahm. Auch die sich im weiteren Verlauf des Essays anschließenden Forderungen nach einer Aufklärung, zu der alle berechtigt sind, nach Rede- und Pressefreiheit und auch danach, Öffentlichkeit als Ort aufklärerischer Auseinandersetzung nicht einzuschränken, sprechen in Duktus und Stilart dafür, dass Wieland nun aufklärerische Grundlagen seines eigenen positiven Verständnisses darstellt und von den Obscuranten und Eudämonisten absetzt.109 Eine einzige Ausnahme von der Redefreiheit formuliert Wieland. Er fordert staatliches Eingreifen gegen heimliche Konventikel und geheime Verbrüderungen; geheime Konventikelreden sollten verboten und nur die öffentliche Buchdruckerpresse zugelassen werden.110 Während diese Forderung nach staatlicher Regulierung auf den ersten Blick dem zeitgenössischen Konservativismus etwa auch Göchhausens zu entsprechen scheint (da zudem Prozesse der Selbstzensur hinzugedacht werden müssen), so ist sie im Preußen jener Jahre, in denen der Rosenkreuzer-König Friedrich Wilhelm II. die Pressefreiheit eindämmt, als regierungskritische Forderung zu lesen. Denn Wieland proklamiert das staatliche Verbot genau jener Art von Verbindungen, denen der oberste Vertreter des Staates angehörte. Die These korrespondiert mithin dem von Wieland entwickelten Zusammenhang von Pressefreiheit und Aufklärung: Pressefreiheit, die als natürliches Recht der Menschheit legitimiert ist, gilt für Wieland als Bedingung aufklärerischen Fortschritts.111 Man erkenne die Wahrheit der Aufklärung, so schließt Wieland seinen Essay Ein paar Goldkörner, „wenn es im Ganzen heller wird“, wenn „die Masse der Vorurtheile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird“, wenn der Respekt vor der menschlichen Natur und ihren Rechten und Ständen zunehme und „wenn alle Messen einige Frachtwagen voll Broschüren gegen die Aufklärung in Leipzig ein und ausgeführt werden.“112 Die Leser sind aufgefordert, selbst aktiv zu werden: Denn „Aufklärung“ bedeutet einen Prozess des lauten Denkens und aktiven Han-

109 Vgl. Christoph Martin Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 274 f. Vgl. auch Christina Stange-Fayos: Lumières et Obscurantisme en Prusse, Bern 2003, S. 179 ff. 110 Vgl. Christoph Martin Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 274. 111 Vgl. auch Christoph Martin Wieland: Ueber die Rechte und Pflichten der Schriftsteller, in Absicht ihrer Nachrichten und Urtheile über Nazionen, Regierungen, und andere öffentliche Gegenstände. In: AA 15, S. 65–73, hier S. 65 f. 112 Christoph Martin Wieland: Goldkörner (wie Anm. 9), S. 275.



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delns. Am Maßstab des wachsenden Widerstands der Gegner, der zunehmenden antiaufklärerischen Publikationen, ist der Erfolg jener Aufklärung zu messen.113 In Ein paar Goldkörner entwickelt Wieland narrative Formen, die den Leser durch die Verschränkung von ironisch-distanzierenden, intertextuell referierenden und ernsthaft propositionalen Aspekten zu einem selbständigen Prozess des Aufklärens anhalten. Damit überschreitet Wieland im Genre des Essays durch Distanz schaffende narrative Mittel dessen Grenzen.114 Wielands privilegierte Textbedeutung ist funktional für die Eigenart seiner kritischen aufklärerischen Position, die sich gegen dogmatische Wahrheitsbehauptungen und schulgerechte Abhandlungen wendet und sich für die Perspektivenvielfalt als aufklärerisches Prinzip einsetzt.115

113 Zieht man in Betracht, dass die Debatte nach der Veröffentlichung von Wielands „Goldkörnern“ keineswegs beendet war, sondern noch bis 1791 intensiv weitergeführt wurde, so war Wielands Aufklärung wohl erfolgreich. Vgl. zur Fortsetzung der Debatte mit bibliographischen Angaben Christoph Martin Wieland: Von der Freiheit der Literatur. Kritische Schriften und Publizistik. Hrsg. und kommentiert von Wolfgang Albrecht, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1997, S. 1308–1311. 114 Hofmanns These vom „Niveauunterschied“ der theoretischen Reflexion Wielands gegenüber den anspruchsvolleren poetischen Texten vermag ich nicht zuzustimmen. Beide Textsorten erweisen sich erzählstrategisch als vielfach verschränkt. Vgl. Michael Hofmann: Reine Seelen und komische Ritter. Aspekte literarischer Aufklärung in Christoph Martin Wielands Versepik, Stuttgart/Weimar 1998, S. 11 f. 115 Vgl. Herbert Jaumann: Politische Vernunft (wie Anm. 103), S. 471–475.

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Das alte Ägypten und die Illuminaten I Das 18. Jahrhundert war nicht nur das Zeitalter der Aufklärung, sondern auch der geheimen Gesellschaften – zwei gegenläufige Tendenzen, wie man annehmen sollte, würden wir doch normalerweise Aufklärung mit Öffentlichkeit und Geheimhaltung mit Obskurantismus verbinden. Einen gemeinsamen Nenner zwischen Aufklärung und Geheimnis bietet jedoch die neue politische Theorie der antiken, speziell ägyptischen Mysterienkulte, die zuerst der britische Bischof William Warburton um 1740 vorgetragen hatte, die aber ihren großen europäischen Einfluss erst eine Generation später auszuüben begann. Der englische Theologe, Altphilologe und Shakespeare-Forscher William Warburton publizierte sein monumentales Werk Die göttliche Sendung Moses in drei Bänden von 1738 bis 1741.1 Der zweite von neun Teilen war den Mysterien gewidmet. In Deutschland wurde das Werk in der Übersetzung von Johann Christian Schmidt, Frankfurt und Leipzig 1751–1753, bekannt.2 Den eigentlichen Durchbruch verschaffte der Theorie Warburtons aber erst der Philosoph und Historiker Christoph Meiners, der sie seinem Buch Über die Mysterien der Alten, besonders die Eleusinischen Geheimnisse zugrunde legte.3 Dieses Buch machte in den Kreisen der Freimaurer Furore und 1 ��������������������������������������������������������������������������������������� William Warburton: The divine legation of Moses demonstrated on the principles of a religious deist, from the omission of the doctrine of a future state of reward and punishment in the Jewish dispensation, London 1738–1741, London, 2. Aufl. 1778. 2 Dr. William Warburton’s „Göttliche Sendung Mosis“. Aus den Grundsätzen der Deisten bewiesen, übersetzt von Johann Christian Schmidt, 3 Teile, Frankfurt und Leipzig 1751– 1753; französische Teilübersetzung von Léonard des Malpeines: Essai sur les hiéroglyphes des Égyptiens, où l’on voit l’origine et le progrès du langage et de l’écriture, l’antiquité des sciences en Égypte et l’origine du culte des animaux. Traduit de l’anglais de M. Warburton. Avec des observations sur l’antiquité des hiéroglyphes scientifiques et des remarques sur la chronologie et sur la première écriture des Chinois, 2 Bde., Paris 1744. Neuausgabe von Patrick Tort: William Warburton, Essai sur les hiéroglyphes des Égyptiens […]. Collection Palimpseste, Paris 1978; davon eine deutsche Teilausgabe in der Übersetzung von Johann Christian Schmidt durch Peter Krumme: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter, Frankfurt a. M., Berlin und Wien 1980. 3 ������������������������������������������������������������������������������������ Christoph Meiners: Über die Mysterien der Alten, besonders die Eleusinischen Geheimnisse, Göttingen 1776

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wirkte als Auslöser einer wahren Flut von Publikationen, die sich mit den alten Mysterien beschäftigten. In den Jahren zwischen 1776 und 1800 erschienen vor allem in Deutschland und Österreich mehrere Dutzend gelehrter Abhandlungen zu diesem Thema, die meisten aus freimaurerischer Feder.4 Der Ingolstädter Professor Adam Weishaupt legte Meiners’ Darstellung der eleusinischen Einweihung, die er übrigens, wie schon Warburton, für einen Ableger der ägyptischen hielt, seinem neugegründeten Orden der Illuminaten zugrunde.5 Auch im Bereich der schönen Literatur und der Künste griff die Mysterienfaszination um sich. Als eine Untergattung des Bildungsromans entwickelte sich der Geheimbundroman, der auf der Analogie zwischen Aufklärung und Einweihung basiert.6 Diese Analogie stellt die Verbindung her zwischen den scheinbaren Gegensätzen Aufklärung und Geheimnis. Im Vollzug der Einweihung wird der Initiand aufgeklärt über die wahre Natur der Welt und den wahren Zusammenhang der Dinge und von den Illusionen und Vorurteilen befreit, die ihn vorher in Finsternis gefangen hielten. Diese Analogie mag den enormen Erfolg der Bildungsromane im Anschluss an François de Fenélons Aventures de Télémaque (1699) erklären, von denen viele den Bildungsweg des Helden als Einweihung in die Mysterien darstellen und vorzugsweise als Reise in die ägyptische Unterwelt verlegen. Die prominentesten Beispiele für diese Mysterienfaszination in den schönen Künsten stellen die Oper Die Zauberflöte (1791) von Mozart und Schikaneder und Schillers Ballade Das verschleierte Bild zu Sais (1795) dar,7 und auch Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) gehört zur Gattung des Geheimbundromans. Was ist nun das spezifisch Neue und Besondere dieser Mysterientheorie, dass sie eine solche Wirkung entfalten konnte? Das Geheimnis dieser Wirkung liegt in 4 Vgl. hierzu mein Buch: Religio Duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin 2010, Kap. 4: Religio Duplex und die Freimaurerei, S. 122–154. 5 Adam Weishaupt, Jesuitenzögling und Professor für Kirchenrecht und praktische Philosophie in Ingolstadt, hat sich bei der Einrichtung des Ordens vornehmlich an den Jesuiten orientiert. Die höchste Stufe seiner dreigeteilten Hierarchie, die „Mysterienklasse“, aber mit ihrer Gliederung in „kleine“ und „große Mysterien“, ist eindeutig von Christoph Mei­ ners’ Darstellung der Eleusinien inspiriert. 6 Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002, mit reicher Bibliographie zu diesem Zusammenhang. Zum Geheimbundroman des 18. Jahrhunderts siehe auch Rosemarie Nicolai-Haas: Die Anfänge des deutschen Geheimbundromans. In Peter Christian Ludz (Hrsg.): Geheime Gesellschaften. Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung V/1, Heidelberg 1979, S. 267–292, und besonders Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis, Tübingen 1987. 7 Vgl. dazu Jan Assmann: Das verschleierte Bild zu Sais. Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe. In: Lectio Teubneriana VIII, Stuttgart, Leipzig 1999.



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der politischen Deutung der Mysterien, ihres Ursprungs und ihrer Funktion. Damit gewann eine bis dahin rein gelehrte und antiquarische Frage auf einmal eine hochaktuelle politische Bedeutung. Die antiken Mysterien stellten sich in dieser Deutung in einem Licht dar, in dem sich die der Aufklärung verschworenen Geheimgesellschaften der Zeit wie in einem Spiegel wieder erkennen konnten. Warburton argumentierte, dass die Mysterien gleichzeitig mit dem Staat entstanden.8 In ihnen wurde eine ursprüngliche und natürliche Form von Religion bewahrt, die nicht auf Offenbarung und heiligen Schriften, sondern auf dem Studium der Natur bzw. Schöpfung beruhte und die Natur als einzige Gottheit verehrte. Ägypten galt als der erste Staat der Menschheitsgeschichte und damit auch als die erste Kultur, die ihrer ursprünglichen Religion die Form einer Mysterienreligion gab, mit geheimen Riten und theologischen Lehren, die dann zum Modell aller späteren Mysterienreligionen wurde. Wie hängen nun politische und religiöse Organisationsform zusammen, was zwang, mit anderen Worten, die Ägypter dazu, zugleich mit der Einrichtung des Staates ihre Religion zum Geheimnis zu machen? Warburtons Erklärung lief folgendermaßen: Die Urreligion der Natur konnte nicht staatstragend sein. Staat und zivile Gesellschaft brauchen persönliche Götter, die belohnen und strafen, Moral und Gesetze schützen und nationale und regionale Identitäten repräsentieren. Die Menschen würden die Gesetze nicht respektieren ohne Furcht vor göttlicher Strafe und verlören jede moralische und politische Orientierung ohne Stadtund Staatsgötter. Daher musste sich jede Gesellschaft, die nach sozialer Ordnung und politischer Macht strebte, solche Götter zulegen, und da sie nicht auf eine Offenbarung zurückgreifen konnte, wie sie nur den Israeliten durch Moses zuteil geworden war, mussten sie diese Götter erfinden, indem sie verdiente Gesetzgeber, Kulturgründer, Heroen, Häuptlinge und Könige zu Göttern machten und ihnen Funktionen zuwiesen in der Aufsicht über die Gesetze und der Symbolisierung politischer und sozialer Identität. Warburton gab sich daher große Mühe, seine heidnischen Kulturen vom Vorwurf des Priesterbetrugs freizuhalten, der schon in den religionskritischen Schriften der antiken Aufklärung, von Euripides bis Lukrez, immer wieder erhoben worden war und im 18. Jahrhundert mit Bernard de Fontenelle und anderen populär gemacht wurde. Diese Götter sind zwar Fiktionen, aber legitime Fiktionen, weil sie unentbehrlich sind für die Aufrechterhaltung von Ordnung, Recht, Gerechtigkeit und Herrschaft. Man brauchte also die fiktiven Götter, wollte andererseits aber auch nicht auf die natürliche Religion 8 ��������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. hierzu im Einzelnen: Religio Duplex (wie Anm. 4), Kap. 3: Religio Duplex und politische Theologie, S. 88–120.

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und Theologie verzichten, die als Wahrheit geglaubt und durch Alter geheiligt war. Vor dieser Wahrheit mussten aber die fiktiven Götter geschützt werden, damit sie nicht als fiktiv entlarvt würden und so ihre staatstragende Glaubwürdigkeit verlören. Daher musste die natürliche Urreligion im Verborgenen praktiziert und tradiert werden. Warburton gründete seine Theorie auf zwei antike Traditionen. Die eine besteht in dem stoischen, durch Marcus Terentius Varro bzw. dessen Wiedergabe bei Augustinus bekannt gewordenen Konzept der theologia tripertita mit seiner Unterscheidung zwischen politischer, poetischer und natürlicher Theologie, das sich im 17. Jahrhundert auf die Dichotomie von politischer und natürlicher Theologie zugespitzt hatte.9 Die andere geht auf die platonische Unterscheidung zurück zwischen der Masse der Vielen, die unfähig zu abstraktem Denken und reiner Erkenntnis, und daher auf Fabeln und Bilder angewiesen sind, und den Philosophen, die sich aus der Sphäre der populären Illusionen befreien und zum Licht der Erkenntnis aufsteigen können. Beide Traditionen – die ursprünglich stoische Dichotomie zwischen drei bzw. zwei Theologien und die ursprünglich platonische zwischen zwei Wissens- und Erkenntnisformen – wurden bereits im 17. Jahrhundert vor allem in England bei Gelehrten wie John Selden, John Spencer und Ralph Cudworth zum Konzept der doppelten Religion verschmolzen, mit einer volkstümlichen, offiziellen, polytheistischen Außenseite und einer geheimen, monooder pantheistischen, esoterischen Innenseite.10 Warburtons bahnbrechende Neuerung bestand dann aber darin, dem traditionellen Konzept der doppelten 9 Die Begriffe „politische“ und „natürliche“ Theologie bilden zusammen mit der „poetischen Theologie“ das Schema der theologia tripertita („dreigeteilten Theologie“), das über Varro auf griechische (stoische) Traditionen zurückgeht. Für die theologia politikē oder civilis sind die öffentlichen kultischen Institutionen, Tempel, Kirchen und ihre Priester zuständig, die theologia poiētikē oder fabularis ist Sache der Dichter, und die theologia physikē oder naturalis gehört den Philosophen. Zur theologia tripertita vgl. Godo Lieberg: Die theologia tripertita als Formprinzip antiken Denkens. In: Rheinisches Museum 125, 1982, S. 25– 53, W. Geerlings: Die theologia mythica des M. Terentius Varro. In Gerhard Binder und Bernd Effe (Hrsg.): Mythos, Trier 1990, S. 205–222. Zur theologia civilis vgl. im besonderen Hubert Cancik: Augustinus als constantinischer Theologe. In Jacob Taubes (Hrsg.): Der Fürst dieser Welt, München 1983, S. 136–152; Albrecht Dihle: Die Theologia tripertita bei Augustin. In Hubert Cancik et al. (Hrsg.): Geschichte – Tradition – Reflexion, Bd. 2, Tübingen 1996, S. 183–202. Zur antiken Begriffsgeschichte der politischen Theologie siehe Ernst Feil: Von der ‚Politischen Theologie ‘ zur ‚Theologie der Revolution‘?. In Ernst Feil und Rudolf Weth (Hrsg.): Diskussion zur Theologie der Revolution, München und Mainz 1969, S. 110–132, hier S. 113 ff. 10 ������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. hierzu Religio Duplex, Kap. 2 (wie Anm. 4): Vom Doppelsinn der Zeichen zur Doppelten Religion, S. 63–86.



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Religion eine politische Deutung zu geben und damit beiden Seiten der heidnischen Religionen eine Art von Legitimität zuzugestehen: der exoterischen durch ihre politische Funktion, für Ordnung, Moral, Sinn und Sicherheit zu sorgen, und der esoterischen Seite durch ihren Bezug auf die Urreligion der Natur, die natürliche Offenbarung des Schöpfers. Natürlich sind diese Theorien sowohl der doppelten Religion als auch ihrer politischen Deutung ohne jede historische Bedeutung, was das alte Ägypten angeht. Das Bild, das sich diese Zeit vom alten Ägypten als einer gespaltenen Kultur machte, geteilt in eine esoterische und eine exoterische Religion, ist wichtig, nicht weil es irgendwelche authentischen Informationen über das alte Ägypten enthielt, sondern weil es der zeitgenössischen Kultur und Gesellschaft als ein Spiegel diente, um sich über ihre eigene Lage zu verständigen. Die Tatsache, dass man den Staat mit dem Imaginären und Fiktiven, die Sphäre des Geheimnisses dagegen mit Wahrheit und Aufklärung verband, ist zwar abwegig mit Bezug auf die Antike, aber umso aufschlussreicher für die Sozial- und Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts.11 Im Zentrum des Interesses dieser Zeit am alten Ägypten und an den alten Mysterien stand die Initiation. Nicht nur die allgemeine Idee der doppelten Religion oder gespaltenen Kultur, sondern vor allem auch der Weg, der von der exoterischen zur esoterischen Seite führte und die Verwandlung, die der Initiand auf diesem Weg durchzumachen hatte, waren Gegenstand der Faszination. Die antiken Quellen stellten die ägyptische Initiation unter zwei Aspekten dar, einem gramma­tologischen und einem topologischen. Der grammatologische Aspekt betonte die Existenz zweier scheinbar grundverschiedener Schriftsysteme, der bildhaften Hieroglyphen und der abstrakten Kursivschrift, der topologische Aspekt gründete sich auf die Fülle und Ausdehnung der unterirdischen Anlagen und bezog die oberirdischen Bauten auf die öffentliche Volksreligion und die unterirdischen auf die Geheimreligion. Beide Aspekte basierten auf Missverständnissen: Die beiden Schriften unterscheiden wir heute als Varianten desselben Schriftsystems (im Sinne von Monumentalschrift und Kursivschrift), und die unterirdischen Anlagen sind nach heutigem Wissen Grabanlagen.

11 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959, Helge Jordheim: Die Hypokrisie der Aufklärer – oder: War Wieland ein Lügner? Eine Untersuchung zu Kosellecks Kritik und Krise. In Jussi Kurunmäki und Kari Palonen (Hrsg.): Time, History and Politics/ Zeit, Geschichte und Politik. Zum achtzigsten Geburtstag von Reinhart Koselleck, Jyväskylä 2003, S. 35–54.

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Auf den grammatologischen Aspekt will ich hier nur kurz eingehen.12 In Ägypten verschwand die Kenntnis der Hieroglyphenschrift im Lauf des 4. Jahrhunderts, aber eine Fülle von Informationen überdauerte in griechischen Texten. Die Griechen waren von der ägyptischen Schriftkultur aus zwei Gründen fasziniert. Der eine bestand in dem ikonischen Charakter der Hieroglyphen als einer Bilderschrift und ihrem scheinbaren Bezug, nicht auf Sprache, sondern auf Dinge und Konzepte, der andere lag in der Verwendung zweier scheinbar verschiedener Schriften, von denen man die Bilderschrift als Geheimschrift und die Kursivschrift nicht nur als Alltags-, sondern auch als Alphabetschrift deutete. Für die abendländische Ägyptenrezeption war der grammatologische Ägyptendiskurs enorm einflussreich. Die Passagen, die den ikonischen Charakter der Hieroglyphen herausstellten, betonten drei Punkte: die Nicht-Diskursivität (die Hieroglyphen geben in ihrer Anordnung nicht die Abfolge der Silben und Wörter wieder), den metaphorischen Charakter (die dargestellten Gegenstände beziehen sich auf metaphorischem Wege auf Konzepte und anderes, so dass man mit einem zwar enorm großen, aber nicht unbegrenzten Bilderinventar alles schreiben kann) und die damit verbundene Bedeutung von Weltwissen und Gedächtnis für die Schriftbeherrschung. Die Beherrschung der Schrift erforderte ein ungeheures Wissen über die metaphorische und damit geheime Bedeutung der Dinge. Dadurch kam das Lesen- und Schreibenlernen einer Initiation in die Geheimnisse der Natur gleich. Für die Alltagszwecke schriftlicher Kommunikation erfanden die Ägypter eine zweite Schrift, die leicht zu lernen und ohne geheime Bedeutungen war. Die Unterscheidung zweier Schriften kommt am klarsten bei Diodor zum Ausdruck, der seinerseits Hekataios von Abdera, einen Autor des späten 4. Jahrhunderts vor Christi ausschreibt. Dort heißt es: „Die Ägypter besitzen zwei Schriften: die eine, ‚demotisch‘ genannt, lernen alle; die andere wird die ‚heilige‘ genannt. Bei den Ägyptern verstehen sie allein die Priester, die sie von den Vätern in den Mysterien lernen.“13

Die Existenz zweier Schriftsysteme erklärte man sich mithilfe der Unterscheidungen zwischen dem Heiligen und dem Profanen, Priestern und Laien sowie Geheimnis und Öffentlichkeit. Spätere Quellen, insbesondere Clemens von Alexandrien und Porphyrios, erklären ganz explizit die verschiedenen Stufen des 12 Vgl. hierzu Aleida und Jan Assmann (Hrsg.): Hieroglyphen. Stationen einer anderen abend­ländischen Grammatologie, München 2003, und Religio Duplex, Kap. 1 (wie Anm. 4): Vom Doppelsinn der Zeichen, S. 27–62 13 Bibl. Historica III, 3, vgl. Aleida und Jan Assmann: Hieroglyphen (wie Anm. 12), S. 33.



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Schrifterwerbs, vom Demotischen zur Sakralkursive und weiter zur Hieroglyphenschrift, als Stufen eines Einweihungsweges.14 Dieser grammatologische Diskurs der Griechen bildete die wichtigste Grundlage für die seltsame Theorie der doppelten Kultur oder Religion im 17. und 18. Jahrhundert. In der Verwendung zweier verschiedener Schriften drückte sich in den Augen der Griechen eine Kluft innerhalb der ägyptischen Gesellschaft aus, die geradezu an Lessings „garstigen Graben“ denken lässt, zwischen den eingeweihten Weisen auf der einen Seite und dem Rest der schriftkundigen Gesellschaft auf der anderen. Das ist die „doppelte Philosophie“ der Ägypter,15 wie sie Heliodor und andere beschrieben: eine volkstümliche oder exoterische und eine exklusive oder esoterische, eine für das Volk, die andere für die Weisen. Die wichtigste Quelle der Renaissance zur ägyptischen Hieroglyphenschrift, das erste Buch des Horapollon Nilotes, das aus dem 5. Jahrhundert stammt und 1419 von einem Reisenden in einem griechischen Kloster entdeckt wurde, gibt für jede einzelne von 70 Hieroglyphen nicht nur die Bedeutung an, die meistens korrekt ist, sondern auch die Motivation, die eher fantastisch anmutet.16 So soll das Schriftzeichen für „öffnen“ mit dem Bild eines Hasen geschrieben werden, weil dieser niemals die Augen schließt, und das Zeichen für „Sohn“ mit dem Bild einer Gans, weil diese einen so besonderen Familiensinn hat. Dahinter steht jene moralisierende Zoologie, die uns aus antiken Quellen wie Aelian, Plinius und dem Physiologus bekannt ist. In Wirklichkeit funktionieren die Schriftzeichen über Homophonie, aber dieses Wissen um die Lautbedeutung der Hieroglyphen ging verloren und wurde dann durch das zoologische Wissen ersetzt.

14 Clemens von Alexandria: Stromata V 4,20,3. Stromata I-VI. Hrsg. von Otto Stählin. Neu hrsg. von L. Früchtel, 4. Aufl. mit Nachträgen von U. Treu, Berlin 1985, S. 339. Siehe dazu Philippe Derchain: Les hiéroglyphes à l’époque ptolémaïque. In Claude Baurain et al. (Hrsg.): Phoinikeia Grammata, Liège 1991, S. 243–256. Porphyrios: De vita Pythagorae §§ 11 f. Hrsg. und übersetzt von Édouard des Places: Porphyre. Vie de Pythagore, lettre à Marcella, Paris 1982, hier S. 41, Z. 10–15. 15 Jacob Friedrich Reimmann: Idea Systematis Antiquitatis Literariae Specialioris, Hildesheim 1718. Zu Reimmann siehe Martin Mulsow und Helmut Zedelmaier (Hrsg.): Skepsis, Providenz, Polyhistorie, Tübingen 1998. 16 Horapollon: Horapollinis Nilotici Hieroglyphica Libri II. Hrsg. von Francesco Sbordone, Neapel 1940; eng. Übersetzung von George Boas: The Hieroglyphics of Horapollo, Bollingen Series XXIII, Princeton 1993; griech. und ital. Übersetzung: Horapollo: I Geroglifici. Introduzione, traduzione e note di Mario Andrea Regni e Elena Zanco, Mailand 1996; dt. Übersetzung, Buch I von Heinz-Josef Thissen: Des Niloten Horapollon Hieroglyphenbuch, Bd. 1, Leipzig, München 2001.

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Durch eine andere Entdeckung des 15. Jahrhunderts schien sich dann ein Fenster aufzutun auf den Inhalt des geheimen Wissens, das man hinter den Hieroglyphen vermutete. Das war das Corpus Hermeticum, das 1463 nach Florenz und auf das Schreibpult von Marsilio Ficino gelangte, der darüber seine Platon-Übersetzung hintanstellte: ein Konvolut von 16 theologisch-philosophischen Traktaten, die dem Weisen Hermes Trismegistos und damit dem höchsten Altertum, lange vor Platon und sogar Moses zugeschrieben wurden.17 Die Quintessenz der hermetischen Lehre lässt sich in der Formel „Hen to pan“, das All-Eine, zusammenfassen, eine Art mythologischem Pantheismus. In diesem Rahmen wird Kosmologie zu Theologie und wissenschaftliches Wissen nimmt die Eigenschaften theurgischen und magischen Wissens an, da es mit den der Natur immanenten göttlichen Kräften umgeht. Dieser praktische Zweig des Hermetismus ist als „Alchemie“ bekannt. Giordano Bruno unterstrich die magischen und mnemonischen Potentiale der Hieroglyphen im Vergleich zur Alphabetschrift: „Von dieser Art waren die […] Hieroglyphen oder ‚Heiligen Charaktere‘ bei den Ägyptern, bei denen anstelle der einzelnen bezeichnenden Zeichen [designanda] bestimmte Bilder aus den Dingen der Natur oder aus anderen Teilen genommen wurden. Solche Schriften und Sprachen kamen in Gebrauch, da durch sie die Ägypter Unterredungen mit den Göttern zum Zwecke der Ausführung wunderbarer Dinge anstrebten. Danach sind durch Teut oder einen anderen die Buchstaben erfunden worden der Art, wie wir sie noch heute in anderer Absicht verwenden. Dadurch ist der größte Schaden am Gedächtnis, an der göttlichen Wissenschaft und an der Magie entstanden.“18 Durch diese Verbindung zwischen Hieroglyphik und Hermetismus gewann das Studium der Hieroglyphen über seine grammatologischen, semiotischen und künstlerischen Aspekte hinaus eine starke und weitreichende theologische Dimension. Das trat mit besonderer Virulenz in der Debatte um Pantheismus, Atheismus und Monotheismus hervor – alle diese Begriffe wurden im Kontext dieser Debatte zuallererst entwickelt –, die sich im Zuge des englischen Deismus und im Anschluss an die Publikation von Spinozas Ethik mit ihrer verstörenden Formel 17 ������������������������������������������������������������������������������ Corpus Hermeticum. Hrsg. und übersetzt von Arthur Darby Nock und Andre J. Festugière, 4 Bde., Paris 1945–1954. Neuere kommentierte Übersetzungen von Brian P. Copenhaver: Hermetica. The Greek Corpus Hermeticum and the Latin Asclepius in a new English translation with notes and introduction, Cambridge 1992, und Carsten Colpe und Jens Holzhausen: Das Corpus Hermeticum Deutsch, Stuttgart, Bad Cannstatt 1997. 18 �������������������������������������������������������������������������������������� Giordano Bruno: De Magia, Op. lat., vol. ��������������������������������������������� III, S. 411–412. Zit. nach Elisabeth von Samsonow: Giordano Bruno, Köln 1995, S. 127 f. Vgl. Frances Yates: Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, Chicago 1964, S. 263.



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„deus sive natura“ entfaltet hatte. Das Bild des alten Ägypten und seiner Mysterien gewann dadurch ganz neue Farben. Die ägyptische Geheimtheologie wurde jetzt als eine Art Spinozismus ante Spinozam gedeutet, und da der Spinozismus von der offiziellen Religion verteufelt wurde, erschien die Parallele zwischen dem alten Ägypten mit seinem scharfen Antagonismus zwischen Volks- und Geheimreligion und dem modernen Europa nur noch enger.19

II Der topologische Aspekt der ägyptischen Initiation, dem wir uns nun zuwenden wollen, ist in der griechischen Überlieferung sehr viel weniger präsent als der grammatologische, spielt aber eine umso größere Rolle in der Vorstellung des 18. Jahrhunderts. Das wird zweifellos dem Zustrom archäologischer Anschauung verdankt in den Reiseberichten und altertumskundlichen Prachtbänden des 17. und 18. Jahrhunderts. In ihrem topologischen Aspekt nimmt die ägyptische Initiation jetzt die Züge eines Abstiegs in die Erdtiefe an. Die wichtigste antike Quelle für den topologischen Aspekt der ägyptischen Einweihung ist der verschlüsselte Bericht, den Lucius im Goldenen Esel des Apuleius von seiner Einweihung in die Isis-Mysterien gibt: Accessi confinium mortis et calcato Proserpinae limine

Ich habe das Grenzgebiet des Todes betreten und meinen Fuß auf die Schwelle der Proserpina gesetzt per omnia vectus elementa remeavi nachdem ich durch alle Elemente gefahren bin, bin ich wieder zurückgekehrt. nocte media vidi solem Mitten in der Nacht habe ich die Sonne candido coruscantem lumine in weißem Licht strahlen sehen. deos inferos et deos superos accessi den unteren und den oberen Göttern bin ich coram von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten et adoravi de proxumo und habe sie aus der Nähe angebetet.20 19 Vgl. hierzu mein Buch: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998. Engl. Übersetzung: �������������������������������������������������������� Moses the Egyptian. The Memory of Egypt in Western Monotheism, Cambridge, Mass. 1997. 20 Vgl. hierzu besonders Reinhold Merkelbach: Isis-Regina, Zeus-Sarapis, Stuttgart, Leipzig 1995, Kap. 23, S. 266–303, John Gw. Griffiths: Apuleius of Madauros. The Isis-Book. Me-

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Drei Motive dieser Passage kehren in den Texten des 18. Jahrhunderts immer wieder: die Verbindung von Initiation und Tod, die Reise durch die vier Elemente und die Schau der Götter. Der erste neuere Autor, der diese knappen Anspielungen in eine detaillierte Erzählung der ägyptischen Einweihung umgesetzt hat, war der Abbé Jean Terrasson, Gräzist am Collège de France und renommierter Herausgeber der Historischen Bibliothek des Diodor von Sizilien. In seinem 1731 erschienen Roman Séthos,21 widmete er gute 100 Seiten der Beschreibung der Einweihung seines Helden in die Mysterien der Isis. Séthos ist der legitime Thronerbe, der aber von seiner bösen Stiefmutter Daluca zugunsten ihrer eigenen Kinder unterdrückt wird. Als er 16 Jahre alt wurde, gibt sein Mentor Amédès endlich seinem glühenden Wunsch nach, in die Mysterien eingeweiht zu werden. Séthos und Amédès betreten die Große Pyramide des Nachts auf der Nordseite und steigen einen sehr tiefen Schacht hinab. Unten gelangen sie nach weiteren Schächten, Hallen und Korridoren endlich an ein Portal mit einer Inschrift, die wörtlich im Libretto der Zauberflöte wiederkehrt. In der von Mozart und Schikaneder benutzten Übersetzung von Matthias Claudius lautet sie: „Wer diesen Weg allein geht und ohne hinter sich zu sehen, der wird gereinigt werden durch das Feuer, durch das Wasser und durch die Luft; und wenn er das (!) Schrecken des Todes überwinden kann, wird er aus dem Schooß der Erde wieder herausgehen, und das Licht wieder sehen, und er wird das Recht haben, seine Seele zu der Offenbarung der Geheimnisse der großen Göttin Isis gefasst zu machen!“22

Amédès muss zurückbleiben und Séthos muss seinen Weg allein fortsetzen. Er wird – nicht von zwei, sondern – von drei Geharnischten empfangen, die ihn warnen, dass es von hier ab kein Zurück gibt. Nach weiteren Stationen muss er schließlich einen Raum voll lodernden Feuers durchqueren und einen Kanal mit kaltem Wasser durchschwimmen. Die letzte Prüfung bzw. das letzte Element, dass tamorphoses, Book XI, Leiden 1975, S. 296–308, Jan Bergman: Per omnia vectus elementa remeavi. In: Ugo Bianchi und Maarten Jozef Vermaseren (Hrsg.): La soterologia degli culti orientali nell‘ impero romano, Leiden 1982, S.  671–702, Erik Hornung: Altägyptische Wurzeln der Isismysterien. In: Hommages à Jean Leclant IV, Kairo 1994, S.  287–293; Françoise Dunand: Isis, mère des dieux, Paris 2000, S. 127–140. 21 Séthos. Histoire ou vie, tirée des monuments, Anecdotes de l’ancienne Égypte; Ouvrage dans lequel on trouve la description des Initiations aux Mystères Égyptiens. Traduit d’un manuscrit Grec, Paris 1731. 22 Matthias Claudius: Geschichte des egyptischen Königs Sethos, Breslau 1777–78, S. 155.



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er durchqueren muss nach Erde – der gefährliche Abstieg – Feuer und Wasser ist die Luft: er muss zwei Ringe ergreifen, die ihn unter enormem Getöse durch die Luft direkt in den Tempel des Ptah und vor eine Gruppenstatue von Isis, Osiris und Horus befördern. Dort wird er vom Hohepriester mit einem Gebet begrüßt, das ebenfalls in die Zauberflöte übernommen wurde: „O Isis, große Göttin der Egypter, gieb deinen Geist dem neuen Diener, der so viel Gefahren und Beschwerlichkeit überstanden hat, um vor dir zu erscheinen. Mache ihn auch sieghaft in den Proben seiner Seele, und lehre sein Herz deine Gesetze, damit er würdig werde, zu deinen Geheimnissen zugelassen zu werden. Als alle Priester die ersten Worte dieses Gebets: O Isis, große Göttin der Egypter, wiederholt hatten, ließ man dem Sethos wieder aufstehn, und der Oberpriester reichte ihm ein zusammengesetztes Getränk, das die Griechen Cyceon genannt haben, und sagte ihm, daß dies ein Getränk der Mnemosyne oder des Gedächtnisses für alle die Lehren sey, die er von der Weisheit erhalten werde.“23

Terrasson präsentierte seinen Roman als Übersetzung eines griechischen Manuskripts, das er überdies mit gelehrten Fußnoten ausstattete. Wegen seines großen Rufs als Gelehrter wurde sein Bericht der ägyptischen Einweihung fast allgemein als authentisch aufgefasst. So kam es zu der Vorstellung eines von unterirdischen Anlagen, die der geheimen Religion dienten, vollständig unterminierten Ägypten und der Einweihung als eines Übergangs aus der oberirdischen Welt der Illusionen in die unterirdische Welt der Wahrheit, wobei auch noch die Idee der hermetischen Höhle eine große Rolle spielte, in der Hermes Trismegistos die von ihm mit der über die Sintflut geretteten Urweisheit beschrifteten Säulen verborgen habe.24

III Das alte Ägypten erschien jetzt in der Optik einiger Geheimgesellschaften nicht nur als der Ursprung aller antiken Staaten und Religionen einschließlich des biblischen Monotheismus, sondern auch als der Spiegel der modernen Gesellschaft mit ihrer Außenseite von Kirche und Absolutismus und ihrer Innenseite von Deismus und aufgeklärter Philosophie. Die Freimaurer betrachteten sich als Erben der 23 Ebd., S. 165. 24 Vgl. hierzu Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005, S. 106– 112.

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ägyptischen Priester und der antiken Mysterienreligionen, und die ägyptischen Mysterien wurden jetzt erforscht als Modelle der modernen Freimaurerei. Das aktivste Zentrum dieser Mysterienforschung war die den Illuminaten besonders verbundene Wiener Loge zur Wahren Eintracht, die die systematische Erforschung der Mysterien zu ihrem zentralen Projekt machte und in den Jahren 1784 und 1787 nicht weniger als 14 Artikel und längere Abhandlungen zu diesem Thema veröffentlichte.25 Einer der für unsere Frage nach dem topologischen Aspekt der ägyptischen Einweihung interessantesten Beiträge ist ein anonymer Essay über die Frage der wissenschaftlichen Freimaurerei.26 Der Beitrag wird allgemein Ignaz von Born zugeschrieben, dem Großmeister der Loge, aber nach Aussage des Sitzungsprotokolls27 hat ein gewisser Anton Kreil über genau diesen Gegenstand in den Sitzungen vom 16. und 22. April 1785 zwei Vorträge gehalten, und es kann nicht der geringste Zweifel daran bestehen, dass er der Verfasser des besagten Artikels ist. Kreil war ein hochgebildeter Philosoph und Altphilologe, der verschiedene besonders interessante Artikel zu dem Journal beisteuerte und auch der Schöpfer der Unterscheidung zwischen „wissenschaftlicher“ und „religiöser Freimaurerei“. Wissenschaftliche Freimaurerei wurde als eine Bastion zur Beförderung der Aufklärung definiert und religiöse Freimaurerei als eine Form von spirituellem Konservativismus und Geheimniskrämerei.28 Der interessanteste Aspekt dieser Vorträge ist aber das Datum, denn laut Protokoll wurden sie in den beiden Sitzungen gehalten, in denen Leopold Mozart zum Gesellen und Meister erhoben wurde, in Anwesenheit von Wolfgang. Damit ist der definitive Beweis erbracht, dass Mozart von den Mysterienforschungen der Loge Kenntnis hatte. Kreils Vorträge erweisen sich als die farbigste und eindrucksvollste Darstellung der ägyptischen Mysterien in ihrem topologischen Aspekt, denn er gehört zu den ersten, die den archäologischen Quellen, das heißt Reiseberichten und Bildbänden Rechnung tragen. Indem er nun diese Berichte mit der Theorie der ägyptischen Doppelkultur in Verbindung bringt, kommt er zu dem Schluss, dass diese ausgedehnten unterirdischen Anlagen, von denen ganz Ägypten unterminiert sein soll, Gänge, Korridore, Pfeilerhallen, Lichthöfe, Treppen und Schächte, alles von oben bis unten mit 25 Vgl. Religio Duplex (wie Anm. 4), S. 242–348. 26 In: JF 7, 1985, S. 49–78. 27 Heinz-Josef Irmen: Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge „Zur Wahren Eintracht, 1781–1785, Frankfurt a. M. 1994, S. 271, Nr. 374, und S. 272, Nr. 376. Irmen schreibt die Rede Ignaz von Born zu „anläßlich einer Meistererhebung“. Vgl. S. 26. 28 Jan Snoek: What Means the Word „Religious“ in Reinhold’s Religious Freemasonry. In Sibylle Appel (Hrsg.): Egypt – Temple of the Whole World. Ägypten – Tempel der ganzen Welt, Leiden 2003, S. 409–420.



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Hieroglyphen bedeckt, nur einem Zweck dienen konnten, nämlich als Bibliothek, Laboratorium und Ritualbühne zur Pflege und Weitergabe der geheimen Religion und ihrer geheimen Theologie der Natur. Die ägyptischen Priester verbrachten ihre meiste Lebenszeit unter der Erde mit dem Studium der Geheimnisse von Natur und Theologie und hüllten ihr Wissen in den undurchdringlichen Schleier der Hieroglyphen und der verborgenen Räume. Sie waren darin so erfolgreich, meint Kreil, dass ihre Tradition an manchen Orten bis heute lebendig ist. Man kann sich nun gut vorstellen, dass Mozart, der ja ein sehr engagierter Freimaurer war,29 bei dieser Gelegenheit die Idee kam, die ägyptischen Mysterien auf die Bühne zu bringen und das Prinzip der doppelten Religion in die Form einer Doppeloper zu übersetzen mit einer volkstümlichen Außen- und einer philosophisch-geheimnisvollen Innenseite. Als dann sechs Jahre später Emanuel Schikaneder sich von ihm eine Oper wünschte, fügten die beiden das Zauberflötenmärchen aus Wielands Dschinnistan und Mozarts Vorstellung der ägyptischen Einweihung zu einer opera duplex aus Volkstheater und Mysterienspiel zusammen und schufen damit die überzeugendste ästhetische Darstellung der ägyptischen Initiation.30 Im Licht der Mysterientheorie mit ihrem Antagonismus von außen und innen, oben und unten, Volksreligion und Geheimreligion, Illusion und Wahrheit, lösen sich alle Schwierigkeiten der Zauberflötenhandlung, die früh schon zu der Vorstellung führten, Mozart und Schikaneder hätten mitten in der Arbeit ihren Plan geändert, aus der guten Königin der Nacht eine Rachefurie und aus dem Bösewicht Sarastro einen weisen Herrscher gemacht und den Plot von der Rettung der geraubten Prinzessin in ein Einweihungsritual umgelenkt. Wenn man die 29 Mozarts Beziehungen zur Freimaurerei reichen über befreundete Salzburger Familien weit in seine Jugendzeit zurück und müssen sich in den Jahren 1773–79 erheblich intensiviert haben, als er die Bühnenmusik für das Theaterstück des prominenten Freimaurers Philipp Freiherrn von Gebler „Thamos. König in Ägypten“ schrieb bzw. überarbeitete. Selbst einer Loge angeschlossen hat er sich jedoch erst in seiner Wiener Zeit. Am 14.12. des Jahres 1784 trat er der von seinem Freund aus Mannheimer Tagen, dem Bühnenschriftsteller, Dramaturgen und Theatertheoretiker Otto Reichsfreiherrn von Gemmingen-Hornberg, gegründeten Loge „Zur Wohltätigkeit“ bei und wurde bereits am 5.1.1785 in der Schwesterloge „Zur Wahren Eintracht“ zum Gesellen und wenig später zum Meister befördert. Über Mozart als Freimaurer und die Wiener Logen zwischen 1780 und 1791 vgl. Howard Chandler Robbins Landon: Mozart and the Masons, London 1982, Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005, S. 149–154, ders.: Mozart und die Wiener Freimaurerei. In Claudia Maria Knispel und Gernot Gruber (Hrsg.): Mozarts Welt und Nachwelt. Das Handbuch, Laaber 2009, S. 148–160. 30 Zur Entstehungsgeschichte der Zauberflöte vgl. Jan Assmann: Schikaneder, Mozart und die Zauberflöte. Nachwort zu Jan Assmann (Hrsg.): Die Zauberflöte. Ein literarischer Opernbegleiter, Köln 2012.

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Geschichte als eine Mysterienreise versteht, die den Initianden – Tamino – von der Oberwelt der Illusionen (dem Reich der Königin der Nacht) durch verschiedene Prüfungsstationen der Unterwelt in die Sphäre der Eingeweihten bzw. Aufgeklärten führt, wird der Sinn der Wende klar, die die Geschichte nimmt. Nach der Theorie Warburtons und der Wiener Freimaurer führt der Einweihungsweg von den Illusionen der Volksreligion durch das Dunkel der Desillusionierung und Prüfung schließlich zum vollen Licht der Wahrheit und verläuft in vier Stadien: das Ausgangsstadium des Irrtums, die Reinigung von falschen Vorstellungen, die kleinen Mysterien und die großen Mysterien. Zu den kleinen Mysterien, die aus Prüfungen und Belehrungen bestehen, ist jeder unbescholtene, freie Bürger zugelassen. Nur sehr wenige dagegen, die zu Herrschern berufen sind oder sonst durch Tugend und Weisheit hervorragen, sind zu den Großen Mysterien zugelassen. Die Großen Mysterien konfrontieren den Initianden mit dem Tod und versetzen ihn in echte Todesangst. Plutarch beschreibt in einem von Warburton und den Freimaurern viel zitierten Fragment die Erfahrung der Einweihung in die Großen Mysterien als eine echte Nah-Tod-Erfahrung: „Hier ist die Seele ohne Erkenntnis außer wenn sie dem Tode nah ist. Dann aber macht sie eine Erfahrung, wie sie jene durchmachen, die sich der Einweihung in die Großen Mysterien unterziehen. Daher sind auch das Wort ‚sterben‘ ebenso wie der Vorgang, den es ausdrückt, (τελευταν) und das Wort ‚eingeweiht werden‘ (τελεισθαι) ebenso wie damit bezeichnete Handlung einander gleich. Die erste Stufe ist nur mühevolles Umherirren, Verwirrung, angstvolles Laufen durch die Finsternis ohne Ziel. Dann, vor dem Ende, ist man von jeder Art von Schrecken erfaßt, und alles ist Schaudern, Zittern, Schweiß und Angst. Zuletzt aber grüßt ein wunderbares göttliches Licht und man wird in reine Gefilde und blühende Wiesen aufgenommen, wo Stimmen erklingen und man Tänze erblickt, wo man feierlich-heilige Gesänge hört und göttliche Erscheinungen erblickt. Unter solchen Klängen und Erscheinungen wird man dann, endlich vollkommen und vollständig eingeweiht, frei und wandelt ohne Fesseln mit Blumen bekränzt, um die heiligen Riten zu feiern im Kreise der heiliger und reiner Menschen.“31

Wenn wir dieses Schema auf die Oper anwenden, stellen wir eine überraschende Übereinstimmung fest. Die Einteilung in kleinere und grosse Mysterien entspricht 31 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Plutarch fr. 178 Sandbach. Vgl. dazu u. a. Paolo Scarpi (Hrsg.): Le religioni dei Misteri, Milano 2002, Bd. 1, S. 176 f. mit italienischer Übersetzung, außerdem Walter Burkert: Antike Mysterien, München 1990, S. 77.



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genau dem ersten und zweiten Teil des Zweiten Akts. Die Oper gliedert sich in zwei Aufzüge, die ihrerseits noch einmal in zwei Abschnitte ungefähr gleicher Länge unterteilt sind: eine Abfolge von Gesangsnummern und gesprochenen Dialogen (erster und dritter Abschnitt) wird jeweils gefolgt von einem Finale, in dem nur gesungen und nicht gesprochen wird (zweiter und vierter Abschnitt). Jeder Abschnitt endet überdies in der Tonart, in der er beginnt: Es-Dur (Ouvertüre bis Duett „Bei Männern…“), C-Dur („Zum Ziele führt dich“ bis Chor „Wenn Tugend und Gerechtigkeit“), F-Dur (Priestermarsch bis Arie „Ein Mädchen oder Weibchen“) und wieder Es-Dur („Bald prangt“ bis Schlusschor). Der dritte Teil, also der erste Teil des Zweiten Akts, enthält die typischen Prüfungen und Instruktionen der kleinen Mysterien. Hier ist auch Papageno dabei, wenn er auch eine eher klägliche Figur abgibt. Es geht hier um Selbstkontrolle, die Initianden müssen lernen, ihrem Kommunikationstrieb zu widerstehen, und während Papageno es nicht schafft, gegenüber den drei Damen und der als Altes Weib verkleideten Papagena zu schweigen, behält Tamino seine Fassung gegenüber der geliebten Pamina trotz ihrer Verzweiflung und Todesabsicht. Der vierte Teil gilt den Großen Mysterien. Hier ist Papageno nicht dabei, aber Pamina vereint sich mit Tamino zur Feuer- und Wasserprobe. Von Tod ist ständig die Rede in diesem Teil, der mit Paminas versuchtem Selbstmord beginnt und dann Tamino vor den „Schreckenspforten“ zeigt, „die Not und Tod ihm dräun“. „Wenn er des Todes Schrecken überwinden kann“, heißt es in der Inschrift, „schwingt er sich von der Erde himmelan.“ „Ein Weib, das Nacht und Tod nicht scheut“, singen die Geharnischten und Tamino, „ist würdig und wird eingeweiht.“ „Wir wandeln durch des Tones Macht“, singen die beiden „froh durch des Todes düstre Nacht“. In den Großen Mysterien geht es um die Verwandlung des Initianden durch die Erfahrung der Todesnähe, das heißt des „Erhabenen“.32 Wenn man die zwei Teile des Zweiten Akts den kleinen und großen Mysterien zugeordnet hat, erkennt man leicht die Stadien der Illusion und der Desillusionierung in den beiden Teilen des Ersten Akts. Tamino – und mit ihm die Zuschauer – werden zunächst ganz eingenommen von der Erzählung der Königin der Nacht mit ihrer Geschichte von der entführten Prinzessin und müssen dann im zweiten Teil eine gründliche Umorientierung durchmachen, die Tamino von den falschen Vorannahmen befreit, aber ihn im Übrigen in völligem Dunkel lässt. „O ew’ge Nacht, wann wirst du schwinden?“ Offensichtlich will die Oper die verschiedenen 32 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Über das Erhabene. Schiller im Licht von Kant und Mozart. Marbacher Schillerrede 2006. In: Schiller Jahrbuch 51, 2007, S. 166–182, und Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Berlin 1989.

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Stadien der ägyptischen Einweihung in ihren Gegensätzen auf die Bühne bringen, von Volksreligion und esoterischer Weisheit, Aberglauben und Aufklärung, der Oberwelt der Illusionen und der Unterwelt der wahren Erkenntnis. Nach den frühen Bühnenbildern33 zu urteilen, spielt die Zauberflöte auch gar nicht im alten Ägypten, sondern in einer exotischen Gegend oder einem Freimaurer-Park, wo die Isismysterien noch begangen werden. Nicht Altägypten, sondern die ägyptischen Mysterien – von denen Kreil ja behauptete, dass sie irgendwo noch lebendig wären – bilden das eigentliche Thema der Oper. Ins alte Ägypten wurde die Oper von den Bühnenbildnern erst ab 1815 verlegt, als die ersten Bände der Description de l‘Egypte erschienen waren.34

IV Überraschenderweise gibt es nun auch eine enge Verbindungslinie, die von der Mysterienforschung der Wiener Loge zu Schillers Ballade Das verschleierte Bild zu Sais führt. Ein sehr aktives Mitglied dieser Loge, der junge Philosoph Carl Leonhard Reinhold, hatte sich im November 1784, kurz vor Mozarts Eintritt, nach Leipzig abgesetzt, um dort zu promovieren, wurde aber noch vorher auf eine Professur nach Jena berufen. Dort arbeitete er jedoch weiter an dem Mysterienprojekt und steuerte zum Journal zwei lange Abhandlungen bei, die er dann unter dem Titel Die hebräischen Mysterien oder Die älteste religiöse Freimaurerei als Buch veröffentlichte.35 Schiller, den Reinhold als Kollegen nach Jena holte, war von diesem Buch so beeindruckt, dass er einen Essay mit dem Titel Die Sendung Moses veröffentlichte, der praktisch eine Kurzfassung des Reinholdschen Buches darstellt.36 Reinhold war eine führende Figur, nicht nur des deutschen Idealismus, sondern auch des Illuminatenordens. Sein Buch basiert auf einer gründlichen Lektüre vor allem von Warburton und Spencer und vertritt eine erstaunliche Neuauflage von 33 �������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Annette Frese: „Das Theater verwandelt sich…“. Bühnenbilder, Figurinen und Illustrationen zur Zauberflöte. In Bärbel Pelker (Hrsg.): Theater um Mozart, Heidelberg 2006, S. 143–205. 34 Die „Description de l‘Égypte“ erschien unter der Leitung von François Jomard zwischen 1809 und 1828 und umfasste neun Text- und 11 Bildbände. 35 ������������������������������������������������������������������������������������� Carl Leonhard Reinhold: Die hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey (1787). Hrsg. und eingeleitet von Jan Assmann, Neckargemünd, 2. Aufl., 2006, zuerst 2001. 36 Friedrich Schiller: Die Sendung Moses. In Friedrich Schiller, Werke und Briefe. Hrsg. von Otto Dann, Bd. VI: Historische Schriften und Erzählungen, Frankfurt a. M., 2000, S. 451– 474.



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Spencers These vom ägyptischen Ursprung des mosaischen Monotheismus. Moses, das ist auch Reinholds Ansicht, lernte alles über die wahre Religion in den ägyptischen Mysterien, in die er als Prinz eingeweiht worden war; die Religion, die er dann den Hebräern verkündete, ist nichts als eine popularisierte Version des ägyptischen esoterischen Deismus. Die ägyptische Gottheit ist das All-Eine, die verschleierte Gottheit von Sais, deren Inschrift verkündet: „Ich bin alles, was da war, ist, und sein wird; kein Sterblicher hat meinen Schleier gelüftet.“37 Diese Gottheit hat keinen Namen, wie es im Traktat Asclepius des Corpus Hermeticum heißt, da sie einzig ist und zugleich alles, so dass sie entweder mit allen oder gar keinem Namen benannt werden kann.38 Diese Namenlosigkeit, ergänzt Schiller, ist der Inbegriff des Erhabenen. Moses übersetzt dieses Konzept in „Jehova“, was ebenfalls kein Name, sondern der Entzug eines Namens ist: „Ich bin der ich bin“. Schiller und Reinhold folgen der Septuaginta-Fassung – ego eimi ho ōn – was sie als „Ich bin das wesentliche Sein“ übersetzen und im Sinne von „Ich bin was da ist“ verstehen. Beethoven, der Schillers Essay im Jahre 1825 las, hat sich die Kernsätze der vermeintlich ägyptischen Arcantheologie auf einem Blatt abgeschrieben, das er sich hinter Glas gerahmt auf seinen Schreibtisch stellte.39

37 “ego eimi pan to gegonos kai on kai esomenon” – Plutarch: De Iside et Osiride, Kap. 9 (354C). Hrsg von. John Gw. Griffiths, Cardiff 1970, S. 130 f. und 283 f. 38 Ps. Apul. Ascl. cap. 20 = Corpus Hermeticum. Hrsg. von Arthur Darby Nock und Andre J. Festugière II, 320f. „Der Schöpfer ist namenlos oder trägt jeden Namen, weil er ja einer und alles ist, so daß man entweder alles mit seinem Namen oder ihn selbst mit den Namen von allem benennen muß.“ 39 ���������������������������������������������������������������������������������������� Siehe hierzu Erhart Graefe: Beethoven und die ägyptische Weisheit. In: Göttinger Miszellen 2, 1972, S.  19–21 mit Verweis auf Anton F. Schindler: Biographie von Ludwig van Beethoven, 3. Aufl., Münster 1860, S. 161. In der von Ignaz Moscheles herausgegebenen und übersetzten englischen Ausgabe von 1841 „The Life of Beethoven“, Mattapan 1966, Bd. 2, S. 163, heißt es hierzu und hinsichtlich von Beethovens religiösen Überzeugungen: „If my observation entitles me to form an opinion on the subject, I should say he (scil. Beethoven) inclined to Deism; in so far as that term might be understood to imply natural religion. He had written with his own hand two inscriptions, said to be taken from a temple of Isis “. Beethovens Text, den Schindler in Faksimile wiedergibt, lautet: „Ich bin, was da ist / Ich bin alles, was ist, was war, und was seyn wird, kein sterblicher Mensch hat meinen Schleyer aufgehoben / Er ist einzig von ihm selbst, u. diesem Einzigen sind alle Dinge ihr Daseyn schuldig“. Die Sätze sind durch doppelte Schrägstriche voneinander abgesetzt. Der dritte ist vielleicht später zugefügt; die Handschrift wirkt kleiner und flüchtiger. Beethoven war kein Freimaurer, hatte aber enge Freunde unter Freimauerern und Illuminaten, zu denen etwa Beethovens Lehrer Christian Gottlob Neefe gehörte.

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Aber weil nun einmal ein Staat und eine zivile Gesellschaft nicht auf natürliche Theologie gegründet werden können, musste Moses seine erhabene Idee der Fassungskraft des Volkes anpassen und den Gott der ägyptischen Philosophen in einen Nationalgott, den biblischen Gott der Väter, und natürliche in politische Theologie übersetzen. Auch hier aber erhielt sich unter den Weisen eine Spur der Wahrheit, so dass auch die jüdische Religion eine Doppelstruktur, und zwar die Form der religiösen Freimaurerei annahm. Schiller spricht in diesem Zusammenhang von einem Betrug in edler Absicht. Man fühlt sich an Schönbergs Oper Moses und Aron erinnert, in der dieser Konflikt zwischen philosophischer Wahrheit und fasslicher Religion auf zwei Figuren verteilt wird, Moses und Aron.40 Wie Moses in Schönbergs Oper an der Unkommunizierbarkeit der Wahrheit, so scheitert der Jüngling in Schillers Ballade Das verschleierte Bild zu Sais an ihrer Unfassbarkeit.41 Der Fehler des Jünglings, der von „des Wissens heißem Durst“ getrieben nach Sais eilt, um sich in die Mysterien der Isis einweihen zu lassen, liegt darin, dass er die vorbereitenden Stufen der Einweihung, die Desillusionierung und die kleinen Mysterien überspringt. Er will sich sofort der letzten Schau aussetzen, ohne zu ahnen, dass nur der Vorbereitete, Auserwählte, den Anblick der Wahrheit ertragen kann; für den Unvorbereiteten bedeutet er durch die plötzliche Zerstörung aller lebensdienlichen Illusionen die Konfrontation mit dem Nichts, dem Abgrund.42 Das ist die Struktur des Erhabenen. Es ereignet sich nur in der Konfrontation zwischen dem Furchtbaren und der „standhaltenden“ Seele.43 Es ereignet sich nicht im schieren Grauen, dem nichts standhält, und ebenso wenig in der von starken Gewissheiten, etwa der Unsterblichkeit, getragenen Seele, die das Grauen gar nicht verspürt. Was der noch nicht desillusionierte bzw. aufgeklärte, noch nicht in jahrelangem Lernen und Leiden vorbereitete und erprobte Jüngling erblickt, ist eine Wahrheit, der sein Geist nicht standzuhalten vermag, weil er sie nur als Nichts, als Abgrund der Negation, als schiere und unvorstellbare Sinnlosigkeit erlebt. Schiller und Kant definierten das Erhabene als eine überwältigende Erfahrung, die entweder den physischen Überlebenswillen oder die geistige Fas40 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Die Mosaische Unterscheidung in Schönbergs „Moses und Aron“. In: Musik und Aesthetik 9, Heft 33, 2005, S. 5–29. 41 Vgl. hierzu meine Studie: Das verschleierte Bild zu Sais. Schillers Ballade und ihre griechischen und ägyptischen Hintergründe. In: Lectio Teubneriana VIII, Stuttgart und Leipzig 1999. 42 In der genannten Studie habe ich die von dem vorwitzigen Jüngling geschaute Wahrheit mit dem Tod identifiziert, unter Berufung auf den Satz Ludwig Börnes: „Hinter dem Schleyer der Isis lauscht der Tod.“ (Über Freimaurerei). 43 Christine Pries (Hrsg.): Das Erhabene (wie Anm. 32).



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sungskraft in höchstem Maße herausfordert. Beide erblickten im verschleierten Bild zu Sais und seiner Inschrift den Inbegriff des Erhabenen. Für die Illuminaten und andere der Aufklärung verschriebene Geheimgesellschaften muss es jedenfalls als eine bedeutende Bestätigung erschienen sein, dass sich ihre religiösen Überzeugungen, diese Verbindung von Deismus, Spinozismus, Pantheismus, auf die ägyptischen Mysterien und die Urreligion der Menschheit zurückführen lassen. Ignaz von Born, prominenter Mineraloge, Illuminat und Meister vom Stuhl der Wiener Loge zur Wahren Eintracht, schrieb in seiner Abhandlung Über die Mysterien der Aegyptier, mit der er die Serie der Mysterienschriften im Journal für Freymäurer eröffnete: „Die Kenntniß der Natur ist der Endzweck unsrer Anwendung. Diese Zeugerinn, Nährerinn und Erhalterinn aller Geschöpfe verehren wir unter dem Bilde der Isis. – Nur jener deckt ihren Schleyer ungestraft auf, der ihre ganze Macht und Kraft kennet.“44

Auch Kant verbindet in jener Fußnote seiner dritten Kritik, in der er das verschleierte Bild zu Sais als den Gipfel des Erhabenen preist, das Bild der Isis mit der Naturwissenschaft: „Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter Natur): ‚Ich bin alles was da ist, was da war und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt.‘ Segner benutzte diese Idee, durch eine sinnreiche, seiner Naturlehre vorgesetzte Vignette, um seinen Lehrling, den er in diesen Tempel einzuführen bereit war, vorher mit dem heiligen Schauer zu erfüllen, der das Gemüth zu feierlicher Aufmerksamkeit stimmen soll.“45

Damit verweist Kant zum einen auf die von Schiller betonte emotionale Dimension des Erhabenen – ohne Schrecken und Schaudern ist der Tempel der Natur nicht zu betreten – und zum anderen auf die ikonographische Tradition, die sich mit Isis als „Mutter Natur“ verbindet. Segners Vignette (Abbildung 1) stellt in der Tat die Göttin Isis dar, kenntlich an dem Sistrum, das sie in der Hand hält, und sie ist verschleiert. In ihrem Rücken vermessen zwei Putten ihre Fußspuren, denn sie können sie nicht direkt, von vorn, studieren. Das ist eine Anspielung auf die 44 Ignaz von Born: Über die Mysterien der Aegyptier. In: Journal für Freymäurer 1, 1784, S. 15–132. Er zitiert als seine Quelle Plutarch. 45 Immanuel Kant: Kritik der ästhetischen Urteilskraft. In: Werke in 10 Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Darmstadt 1968, S. 417.

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Abb. 1: Titelblatt zu J. A. v. Segner, Einleitung in die Naturlehre, Göttingen 3. Aufl. 1770

Abb. 2: Heinrich Füßli, Frontispiz zu Erasmus Darwin, The Temple of Nature, Edinburgh 1809

Szene in Exodus 33: 20–23. Moses wünscht sich, Gottes Antlitz zu sehen. Der aber verwehrt es ihm mit den Worten „kein Mensch kann mein Antlitz sehen und leben“. Der Anblick Gottes sei nur von hinten möglich. Dafür kommt aber das Motiv der verschleierten und entschleierten Isis durchaus häufig auf anderen naturkundlichen Werken des 17. und 18. Jahrhunderts vor.46 Das bei weitem eindrücklichste Bild dieser Art, das Heinrich Füssli dem naturkundlichen Lehrgedicht The Temple of Nature von Erasmus Darwin, dem Großvater von Charles, voranstellt, bringt wirklich den Schrecken des Erhabenen und den heiligen Schauer zum Ausdruck, von dem Kant und Schiller schreiben (Abbildung 2). Darauf sieht man eine Frau, von hinten, die mit Gesten des Schreckens und vielleicht auch Entzückens auf den Anblick der vielbrüstigen Isis reagiert, von der eine Priesterin abgewandten Gesichts den Vorhang oder Schleier wegzieht. Hier geht es nun wirklich um einen Tempel, The Temple of Nature, und um eine Einweihung. Was Füssli darstellt, ist der letzte und höchste Schritt der Initiation, die Epoptie oder Schau, bei dem einzelnen Erwählten dann doch der allen ge-

46 Pierre Hadot: Le voile d’Isis, Paris 2004.



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Abb. 3: Gedenkmedaille zum Erscheinen der Description de l’Egypte, 1826

wöhnlichen Sterblichen entzogene Anblick der Gottheit gewährt wird. Diese Szene ist der Inbegriff, gewissermaßen die „Urszene“ des Erhabenen. Das Motiv der Entschleierung der Isis bringt auf besonders augenfällige Weise das sogenannte Projekt der Moderne zum Ausdruck, und zwar in dem zentralen Aspekt einer Dekonstruktion des Geheimnisses. Das betrifft vor allem auch die Ägyptologie, die mit den Ideen der ägyptischen Mysterien, der Hieroglyphen als symbolischer Geheimschrift und der Gräber als Stätten der Geheimreligion aufgeräumt hat. Eine Gedenkmedaille zum Abschluss des Monumentalwerks der Description de l’Egypte stellt einen römischen Soldaten als Symbol des siegreichen napoleonischen Frankreich (Gallia victrix) dar, der den Schleier von der „wieder belebten“ (rediviva) Personifikation des Alten Ägypten hebt (Abbildung 3).

Jost Hermand

Der Königsberger Tugendbund Eine antinapoleonische Geheimgesellschaft

I Im Jahr 1806 kam es zu einem der folgenreichsten Umbrüche in der deutschen Geschichte. Nachdem Napoleon und seine Grande Armée ein Jahr zuvor die Österreicher in der Schlacht bei Austerlitz vernichtend geschlagen hatten, löste sich in diesem Jahr das seit langem nur noch pro forma bestehende Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das schon Voltaire als einen monströsen Corpus bezeichnet hatte, „der weder heilig, noch römisch, noch ein Reich sei“, endgültig auf. Außer Österreich, Preußen und Sachsen mussten sich darauf alle anderen deutschen Staaten dem am 12. Juli 1806 unter französischem Protektorat stehenden Rheinbund anschließen, wobei ausdrücklich erklärt wurde, dass diese Confédération germanique „auf ewig von dem Territorium des deutschen Reichs getrennt bleiben solle“, wie es im Artikel I der Grundsatzerklärung dieser Vereinigung hieß.1 Und dem stimmten die 35 Fürsten, die diesem Bund beitraten, auch bedingungslos zu. Drei Wochen später verzichtete darauf Kaiser Franz II. – auf Druck Napoleons, der sich seit seiner Selbsterhöhung zum Empereur im Jahr 1804 immer stärker in der Tradition der römischen Cäsaren bzw. Karls des Großen sah – auf die inzwischen bedeutungslos gewordene deutsche Kaiserwürde und nannte sich fortan Franz I. von Österreich. Als kurz darauf Preußen und Sachsen gegen die inzwischen eingetretenen Neuregelungen protestierten und sich zu einem Koalitionskrieg gegen Frankreich entschlossen, bei dem sich Österreich neutral verhielt, war es für Napoleon ein Leichtes, das preußisch-sächsische Heer im Oktober 1806 in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstädt zu besiegen und mit seinen Truppen bis Berlin vorzudringen. Obwohl es danach noch einmal zu Schlachten bei Preußisch-Eylau und Friedland kam, siegten wiederum die Franzosen gegen die Preußen und die ihnen zu Hilfe eilenden Russen. Damit erreichte Napoleon 1 �������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. dazu allgemein mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 74 ff.

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den Höhepunkt seiner Machtstellung in Zentraleuropa. 1807 musste Preußen im Frieden zu Tilsit auf alle linkselbischen Gebiete verzichten, Reparationen in der Höhe von 30 Millionen Talern zahlen und sich obendrein mit der französischen Okkupation großer Teile seines Restterritoriums abfinden. Die Reaktionen auf diese Ereignisse innerhalb der einzelnen deutschen Teilstaaten waren höchst verschiedenartig. Doch in einer Hinsicht stimmten sie weitgehend überein. Während viele Vertreter des frühliberalen Bürgertums bis dahin in Napoleon vor allem einen kämpferischen Repräsentanten ihrer eigenen Klasse gesehen hatten, der in der europäischen Gesellschaft endlich alle feudalistisch­ absolutistischen Rang- und Rechtsansprüche beseitigen wolle, und die daher die Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation als einen Befreiungsakt empfunden hatten, verbreitete sich nach diesem Zeitpunkt in den gleichen Schichten eine immer stärker anwachsende antinapoleonische Gereiztheit, die schließlich in einen erbitterten Napoleon-Hass umschlug, zumal Napoleon nicht zögerte, einige der von ihm angeblich „befreiten“ Gebiete ohne die geringsten Skrupel in Königreiche zu verwandeln, deren Throne er wie ein absolutistischer Herrscher mit Mitgliedern seiner eigenen Familie besetzte. Obendrein hörten sie, wie geringschätzig Napoleon von den Deutschen als einem „Volk ohne Vaterland“ dachte, das ihm vor allem in den Rheinbundprovinzen, aber auch anderswo in serviler Untertänigkeit auf „leichtgläubige Weise in die von ihm aufgestellten Netze“ gelaufen sei.2 Es waren daher nicht nur die militärischen Niederlagen der Österreicher und dann der Preußen, sondern auch die imperialen Übermutsgesten, mit denen Napoleon im deutschsprachigen Raum auftrat und den er im Dienste der französischen Großbourgeoisie rücksichtslos ausplünderte, durch welche sich eine ständig aggressiver werdende antinapoleonische Stimmung entwickelte, die dann nach 1812 zu jenem Befreiungskrieg führte, von dem sich die liberaldemokratisch gesinnten Schichten in Deutschland nicht nur eine Beseitigung der französischen Fremdherrschaft, sondern zugleich die Durchsetzung ihrer eigenen freiheitsbetonten Forderungen erhofften.

II Wie bekannt, äußerte sich diese Unmutsstimmung auf mehreren Ebenen. Das erste Aufsehen in dieser Hinsicht erregte die 1806 anonym erschienene Broschüre Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung des Nürnberger Verlegers und Buch2 Ebd., S. 78.



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händlers Johann Philipp Palm, in der sich dieser in aller Schärfe gegen die „Eroberungspolitik und Willkürherrschaft Napoleons und die verräterische Politik der deutschen Rheinbundfürsten“ wandte und „zum Befreiungskampf gegen die französische Fremdherrschaft“ aufrief.3 Ihn ließ Napoleon umgehend verhaften und dann am 14. August 1806 in Braunau standrechtlich erschießen. Kurz darauf kam es vor allem in Wien und Berlin auf hochadlig-ministerieller sowie bürgerlich-akademischer Ebene zu ersten Überlegungen, wie man den imperialistischen Herrschaftsgelüsten Napoleons am besten entgegentreten könne. Gedemütigt durch die militärischen Erfolge seiner von nationalistischen Sentiments angefeuerten Grande Armée, fassten dabei die diesbezüglichen Regierungen zur Stärkung ihrer eigenen Staaten erst einmal durchgreifende Heeresreformen ins Auge, um ihre bisherigen, nur widerwillig kämpfenden Söldnerheere durch Armeen zu ersetzen, die ebenfalls aufgrund patriotischer Gefühle und nicht nur wegen eines vorher festgesetzten Solds für ihr jeweiliges Vaterland in den Krieg ziehen würden. In Wien gingen derartige Überlegungen vor allem von zwei Staatsmännern aus: dem Erzherzog Karl von Habsburg und dem österreichischen Außenminister Johann Philipp Graf von Stadion, die sich für die Aufstellung einer schlagkräftigen Landwehr und zugleich für eine verstärkte Volkserziehung engagierten. Doch beide konnten den österreichischen Kaiser nicht bewegen, sich zu einer militanten Haltung gegen Napoleon durchzuringen, da Franz I. in einer „Volkserhebung“ eine Gefahr für den habsburgischen Vielvölkerstaat sah, in dem es nicht nur Deutsche, sondern auch Polen, Ungarn, Böhmen, Slowaken, Slowenen, Kroaten und Italiener gab, von denen viele keineswegs an einer antinapoleonischen Stimmungsmache interessiert waren. Aufgrund dieser Einstellung überließ er daher die Staatsgeschäfte weitgehend dem von ihm erst als Außenminister und dann als Staatskanzler eingesetzten Fürsten Klemens Wenzel von Metternich-Winneberg, der sich ausdrücklich gegen das Konzept einer nationalen Erhebung wandte. Dementsprechend unterdrückte Metternich alle Tendenzen, die eine Aufhebung der Standesunterschiede oder gar eine patriotische Verbrüderung anstrebten. Aus denselben, von abwiegelnder Vorsicht diktierten Gründen vermittelte er sogar die Eheschließung zwischen Napoleon und Marie Luise von Habsburg, einer Tochter Franz I., und unterstellte obendrein die österreichische Armee dem Oberbefehl Napoleons. Und damit fiel Preußen die führende Rolle in der Vorbereitung eines möglichen Befreiungskriegs gegen Frankreich zu. In Berlin war die treibende Kraft 3 Vgl. Elvira Siegert: Johann Philipp Palm, Verleger, Buchhändler, Patriot. In: Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung. Reprint, Berlin 1983, S. 15.

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hinter den zu dieser Zeit einsetzenden Reformbemühungen Karl August von Hardenberg, der seit 1804 dem preußischen Außenministerium vorstand, jedoch diesen Posten 1806 wegen seiner antifranzösischen Gesinnung auf Drängen Napoleons aufgeben musste. Darauf setzte er sich ins Zarenreich nach Riga ab, wo er 1807 eine Denkschrift verfasste, in der er sich einerseits in aller Schärfe gegen die „Raub- und Herrschsucht Napoleons“ aussprach, jedoch andererseits ebenso nachdrücklich ein starres „Festhalten am Alten“ verwarf. Nach seiner Entlassung bekannte sich der preußische Freiherr Heinrich Friedrich Karl von und zum Stein, den König Friedrich Wilhelm III. als seinen neuen Außenminister berief, zu einer relativ ähnlichen Haltung. Doch auch Stein musste schon 1808 – wiederum auf Druck Napoleons – seinen Posten als Minister aufgeben und ebenfalls ins Zarenreich fliehen, wo er in schroffer Ablehnung der versöhnlerisch einlenkenden Haltung Metternichs mehrere Denkschriften gegen die „erdrückende Übermacht Frankreichs“ verfasste. Wie schon Hardenberg richtete auch er in diesen Schriften als das Ziel einer möglichen Insurrektion gegen die „ungebundene Herrschsucht Napoleons“ das Ideal einer „gemäßigten Monarchie“ auf, in der allen deutschen Bürgern die gleichen Rechte zustehen würden.4 Und es gab auch genug adlige und bürgerliche Intellektuelle in Preußen, welche die gleichen oder ähnliche Konzepte vertraten. Wie allgemein bekannt, gehörte dazu Johann Gottlieb Fichte, der im Winter 1807 auf 1808 im Berliner Akademiegebäude seine später immer wieder zitierten Reden an die deutsche Nation vor einem ihn fasziniert folgenden Publikum hielt, während draußen die Trommeln vorbeiziehender französischer Truppen zu hören waren. Ähnliche Anschauungen lagen den nach 1806 in Halle und Berlin gehaltenen Patriotischen Predigten des preußischen Theologen Friedrich Daniel Schleiermacher zugrunde, in denen er seine Zuhörer ermunterte, nicht nur einer Anhänglichkeit an das Alte zu huldigen, sondern auch dasjenige gern und willig zu tun, was Preußen zu einer „vollständigen Wiedergeburt“ verhelfen würde. Noch schärfer äußerte sich in dieser Hinsicht Ernst Moritz Arndt, der in seinen Schriften, die ab 1806 meist unter dem Titel Geist der Zeit erschienen, mit teutonischer Vehemenz gegen den „hinterhältigen Despotismus Napoleons“ vom Leder zog und sich auf jenen Gott berief, „der Eisen wachsen ließ“, welcher den Deutschen in ihrem Ankampf gegen die Franzosen sicher den nötigen Beistand leisten werde. Die gleiche antinapoleonische Emphase herrschte in diesen Jahren in den Äußerungen Friedrich Ludwig Jahns, der seit 1808 an seinem betont nationalistisch eingestellten Buch Deutsches Volkstum arbeitete. Und auch Heinrich von Kleist gehört in diesen Zusammen4 Vgl. Verlorene Illusionen (wie Anm. 1), S. 81.



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hang, der 1808 in Caspar David Friedrichs Atelier den Dresdner „Freiheitsfreunden“ sein Drama Die Hermannsschlacht vorlas, das in seinem Gegensatz zwischen Varus und Hermann dem Cherusker fast an den Gegensatz zwischen Napoleon und dem Freiherrn vom Stein erinnert. Viele dieser Tätigkeiten spielten sich in einer Art Kryptoöffentlichkeit ab. Daran waren nicht nur die französischen Zensurbestimmungen, sondern auch der sich recht zögerlich verhaltende Friedrich Wilhelm III. schuld, der zwar duldete, dass Hermann von Boyen, August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau, Karl Wilhelm von Grolmann und Gerhard Johann von Scharnhorst mit einer durchgreifenden Heeresreform begannen, sich aber ansonsten von allen darüber hinausgehenden Reformbemühungen eher distanzierte, um nicht den Zorn Napoleons auf sich zu ziehen.

III Während wir über alle diese Aktivitäten, die in den Jahren 1808 und 1809 in Preußen um sich griffen, schon seit langem bestens informiert sind, ist der 1808 in Königsberg gegründete Tugendbund, eine Art patriotische Geheimgesellschaft, von vielen Historikern meist übersehen worden. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bilden lediglich einige propreußische Publikationen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts5 sowie die frühe, weitgehend nationalistisch ausgerichtete Geschichtsforschung der Deutschen Demokratischen Republik, die in Anlehnung an Friedrich Engels6 vor allem den volksrevolutionären Charakter der Befreiungskriege und den ihnen vorausgehenden ideologischen Bemühungen zu akzentuieren versuchte und dabei auch auf die Bedeutung dieser Vereinigung hingewiesen hat.7 Gegründet wurde dieser Bund, nachdem die französischen Truppen kurz zuvor abgezogen waren, im Frühjahr 1808 in Königsberg. Im Gefolge der „Illuminaten, Freimaurer, Patrioten und Brüder der Deutschen Gesellschaften“ des späten 5 Vgl. die Publikationen von Johannes Voigt: Geschichte des sogenannten Tugendbunds oder sittlich-wissenschaftlichen Vereins, Berlin 1850, Johann August Lehmann: Der Tugendbund, Berlin 1867, und Paul Stettiner: Der Tugendbund, Königsberg 1904. 6 Vgl. den Brief von Friedrich Engels an Karl Marx vom 22. September 1857, wo er den Befreiungskrieg als einen „halben Insurrektionskrieg“ gegen die Fürsten bezeichnet. In: Marx/ Engels: Briefwechsel, Berlin 1949, Bd. II, S. 279. 7 ��������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. u. a. Helmut König (Hrsg.): Patrioten in Wort und Tat. Lehrer und Schüler, Professoren und Studenten im Befreiungskrieg, Berlin 1963, S. 98–105.

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18. Jahrhunderts versuchte er die „Erbschaft der Klassiker, Lessings und Herders“ mit „realpolitischen und nationalen Absichten zu verbinden“, wie einer seiner späteren Chronisten schrieb,8 das heißt nicht nur im Verborgenen zu bleiben, sondern auch im Sinne der Herderschen Briefe zur Beförderung der Humanität (1793–1797), der Ernst und Falk-Dialoge (1778) Lessings sowie der von Herder übersetzten Rules for a Club (1732) von Benjamin Franklin in das öffentliche Leben einzugreifen. Er tat also das, was der abgesetzte preußische Außenminister Karl August von Hardenberg schon in einem Gutachten vom 12. September 1807 gehofft hatte, nämlich – „ähnlich wie die Jakobiner“ – einen Bund zu gründen, „der mit derselben Kraft und Konsequenz, womit Napoleon das französische revolutionäre System verfolgt“, in Anlehnung an ältere „Geheimgesellschaften, namentlich die Freimaurer,“ in Preußen aktiv werden würde.9 So gesehen war der Königsberger Tugendbund die erste größere Vereinigung antinapoleonisch gesinnter Patrioten in Preußen, selbst wenn er anfänglich in verschleiernder Absicht lediglich als „Sittlich-wissenschaftlicher Verein“ auftrat.10 Eine führende Rolle spielten in ihm, neben einigen adligen Offizieren und Großgrundbesitzern, eine Reihe lokaler Professoren und Lehrer, darunter Hans Friedrich Gottlieb Lehmann, der Direktor des Königsberger Gymnasiums, sowie die Königsberger Universitätsprofessoren Wilhelm Trautgott Krug und Ludwig von Baczko.11 Nachdem Lehmann Mitte März 1808 im Versammlungsraum der Königsberger Freimaurerloge zum Totenkopf und Phönix die Idee zu einer derartigen Vereinigung gekommen war,12 schlossen sich diesem Bund etwa 700 Mitglieder an, die sich vorher strengen Aufnahmeritualen unterwerfen mussten.13 Die meisten davon lebten und wirkten im ostpreußischen Königsberg oder Braunsberg, nahmen aber auch Beziehungen zu anderen ähnlich national gesinnten Verbindungsmännern in anderen preußischen Städten, darunter den zum gleichen Zeitpunkt aktiv werdenden Heeresreformern Hermann von Boyen, August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau und Karl Wilhelm von Grolmann, auf.

8 Vgl. Paul Stettiner: Der Tugendbund (wie Anm. 5), S. 4 f. 9 Zit. in ebd., S. 9. 10 Vgl. Joachim Streisand: Deutsche Geschichte von 1789 bis 1815. Von der Französischen Revolution bis zu den Befreiungskriegen und dem Wiener Kongreß, Berlin, 4. Aufl., 1977, S. 190. 11 Vgl. Helmut König (Hrsg.): Patrioten in Wort und Tat (wie Anm. 7), S. 100. 12 Vgl. Otto Hieber: Geschichte der Vereinigten Johannes-Loge zum Totenkopf und Phönix, Königsberg 1897. 13 Vgl. Paul Stettiner: Der Tugendbund (wie Anm. 5), S. 46.



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Zu den Hauptzielen dieses Bunds gehörten folgende. Wie der bereits in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in Anlehnung an die Ideale der Französischen Revolution in Schlesien unter der Leitung von August Wilhelm von Leipziger aktiv werdende Geheimbund der Evergeten, das heißt „Wohltäter“, der jedoch von König Friedrich Wilhelm II. sofort gnadenlos unterdrückt worden war, verstanden sich auch die Mitglieder des Königsberger Tugendbunds in erster Linie als „Volksfreunde“, die sich die „Aufsuchung des gemeinen Volks“ vornahmen, um demselben – nach der deprimierenden Niederlage von Jena und Auerstädt im Jahr 1806 – einen „sittlichen Enthusiasmus“ für das vaterländische Gemeinwohl einzuflößen und sie damit auf einen möglichen Befreiungskampf gegen die Franzosen vorzubereiten. In diesem Sinne erklärte etwa Hans Friedrich Gottlieb Lehmann am 6. August 1808 in einer Rede vor den Mitgliedern dieses Bunds: „Die Absicht geht geradewegs aufs Volk, aufs Herz des Landes, wohin keine Macht des Staats reicht, was keine Lektüre, keine Theorie in ihre Gewalt bekommt, das wollen wir durch einen Verein versuchen. Was einzelne Reformatoren konnten, sollte das nicht ein Verein können? Der Geist des Chors war immer gewaltiger als einzelne Sterne. Soll ein Volk gut und mächtig werden, so muß es in allen seinen Adern Leben ergreifen. Es muß unter uns, wenn es schlimm und tot ist und besser werden soll, ein freier Aufwuchs von mehreren Kräften entstehen, welche die schlafenden Särge im Volk nach sich reißen. Im Volke, nicht in uns liegt unsere Absicht. Große Wandlungen gingen sonst von oben herab, von den Großen im Volke. Aber wir wollen von unten anheben und die Masse zum Guten fertig, und wir haben das Ganze bei den Füßen gefasst.“14

Ähnliche Bekenntnisse zur Stärkung eines vaterländischen Gemeinsinns legten auch andere Mitglieder dieses möglichst geheim gehaltenen, das heißt im Untergrund wirkenden Bunds ab. So schrieb etwa Wilhelm Traugott Krug später im Rückblick auf die 1808 ins Auge gefassten Zielsetzungen dieser vaterländisch gesinnten Vereinigung: „Da traten einige patriotische Männer in Königberg zusammen und stifteten einen Verein in der wohlgemeinten zwiefachen Absicht, 1. durch Belebung der geistigen, sowohl intellektuellen als moralischen Kräfte des preußischen Volks den Verlust des preußischen Staats an physischer und politischer Kraft soviel als möglich zu ersetzen und 2. eben dadurch die Wiedergewinnung dieser physischen und politischen Kräfte

14 Zit. in Johann August Lehmann: Der Tugendbund (wie Anm. 5), S. 93 f.

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vorzubereiten, wenn einst Umstände eintreten sollten, die eine solche Wiedergewinnung begünstigten.“15

Ja, Krug wurde in manchen seiner Äußerungen sogar noch konkreter, indem er nicht nur die moralisch-versittlichende Wiederaufrichtung in den Zielsetzungen dieses Bunds hervorhob, sondern zugleich darauf hinwies, dass sich dieser Bund auch bemüht habe, durch „wohltätige Handlungen und Anstalten“ für eine „Verminderung jenes Elends“ zu sorgen, das durch den Krieg von 1806 und vor allem durch die Verwüstung Ostpreußens eingetreten sei.16 Der Königsberger Tugendbund gab deshalb, wie wir wissen, nicht nur ein theoretisch orientiertes Vereinsblatt unter dem Titel Der Volksfreund heraus, sondern errichtete auch Armenspeisehäuser und Werkstätten für arbeitslos gewordene Gesellen und Lehrlinge, um die notleidenden Schichten innerhalb der ärmeren Bevölkerung von seinen auf ein verstärktes Gemeinwohl zielenden Absichten zu überzeugen. Außerdem propagierte er neue Methoden in der Landwirtschaft und gründete Industrieschulen, mit denen er eine Wiederbelebung der bäuerlichen und handwerklichen Produktion herbeizuführen hoffte.17 Zugleich bemühte sich dieser Bund mehrfach mit Erfolg, die von Napoleon gegen England verhängte Kontinentalsperre zu durchbrechen, indem er französische Kaperschiffe bei Anbruch der herbstlichen Äquinoktalstürme ermunterte, in See zu stechen, worauf diese großen Schaden erlitten.18 Andererseits betonte Krug später, dass der Königsberger Tugendbund von Anfang an dafür eingetreten sei, unter der einheimischen Bevölkerung eine „feindselige Richtung gegen Frankreich“ zu erwecken.19 Doch diese Tendenz habe man – unter den gegebenen Umständen der weiterwirkenden Zensur und des Widerstands einiger altpreußischer Junker – selbstverständlich nicht sofort an die große Glocke hängen können. Daher habe dieser Verein, wie er schrieb, stets etwas „Geheimes“ gehabt.20 So seien etwa die wehrsportlichen Übungen der männlichen Schüler auf den dafür von Cornelius Burgund in Braunsberg eingerichteten

15 Wilhelm Traugott Krug: Das Wesen und Wirken des sogenannten Tugendbundes und anderer angeblicher Bünde, Leipzig 1816, S. 12 f. 16 Ebd., S. 13. 17 Vgl. Helmut König (Hrsg.): Patrioten in Wort und Tat (wie Anm. 7), S. 102. 18 Vgl. Ludwig von Baczko: Geschichte meines Lebens, Königsberg 1824, Bd. III, S. 160. 19 Wilhelm Traugott Krug: Das Wesen und Wirken des sogenannten Tugendbundes (wie Anm. 15), S. 13. 20 Ebd., S. 13.



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Gymnastikplätzen,21 die der Vorbereitung auf den von allen Mitgliedern dieser Organisation erhofften Befreiungskampf gegen die Franzosen helfen sollten, lediglich als sportliche Veranstaltungen bezeichnet worden. Wie sehr man dabei das gesamte Volk, ja selbst die Ärmsten unter ihm, im Auge hatte, belegt folgende Verfügung dieses Bunds: „Fechten und Schießen lerne ein jeder, je nachdem er sich die Waffen dafür anzuschaffen vermag. Die von den Mitgliedern anzuschaffenden Waffen sind: Säbel, Degen, Spieße, Pistolen, Flinten und überhaupt alle Arten von Schießgewehren. Für Unvermögende werden dergleichen Waffen zum obigen Gebrauch aus dem Schatze der Anstalt angeschafft und den ausgezeichneten fleißigen und geschickten Lehrlingen geschenkt.“22

Doch trotz aller Bemühungen, sich nicht als rebellisch gesinnter Bund bloßzustellen, wie es bei Krug später heißt, seien sowohl die Franzosen als auch die absolutistisch eingestellten preußischen Junkerschichten, die sich zu diesem Zeitpunkt – aus Angst vor möglichen „jakobinischen“ Umtrieben innerhalb der unteren Bevölkerungsschichten – den Forderungen Napoleons nur allzu willig unterworfen hätten, „bald aufmerksam auf den Königsberger Verein geworden“ und hätten die „Verbreitung desselben möglichst zu verhindern“ gesucht.23 Während also die preußischen Reformer, vor allem Boyen, Gneisenau und Grolmann, wie auch der Freiherr vom Stein, die Aktivitäten dieses Bunds durchaus begrüßten, ließen die Vertreter des überlieferten Feudalismus nicht nach, ihren König vor den Aktivitäten des Königsberger Tugendbunds zu warnen und ihn zum Verbot dieser Vereinigung zu bewegen. So stellten Karl von Stein zum Altenstein und Friedrich Ferdinand Alexander von Dohna schon in einem Schreiben vom 11. Dezember 1808 an Friedrich Wilhelm III. die „Machinationen“ dieses Bunds als etwas hin, was dem „Staate und Throne“ höchst gefährlich werden könne.24 Ja, auch einige Königsberger Adligen erklärten bereits im November 1808 in einer Eingabe an die preußische Regierung, dass dieser Bund an den verhassten französischen „Jakobinerklub“ erinnere, 21 Vgl. [Cornelius Burgund]: Darstellung des unter dem Namen des Tugendbunds bekannten Sittlich-wissenschaftlichen Vereins, nebst Abfertigung seiner Gegner, Berlin und Leipzig 1816. 22 Zit. in Helmut König (Hrsg.): Patrioten in Wort und Tat (wie Anm. 7), S. 105. 23 Wilhelm Traugott Krug: Das Wesen und Wirken des sogenannten Tugendbundes (wie Anm. 15), S. 13. 24 Zit. in ebd., S. 27.

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indem er nicht nur auf Freiheit, sondern auch auf Gleichheit dränge und damit die monarchische Struktur des preußischen Staats in Frage stelle. Regieren sollten nur der „von Gott eingesetzte Monarch“ und die ihm treu ergebenden „Adligen“, hieß es in diesem Dokument. Der „Pöbel“ dürfe dagegen keineswegs an den Staatsgeschäften beteiligt werden.25 Ähnlich scharf warnte selbstverständlich der französische Generalkonsul Clérembault in Königsberg die preußische Regierung vor den rebellischen Absichten jener „Frères vertueux“,26 die ihn deutlich an die ehemaligen Jakobiner erinnerten. Andere Franzosen wandten sich in diesem Punkt direkt an Napoleon und erklärten ihm, dass der „progrès de cette association des amis de la vertu“ ständig zunehme,26 worauf Napoleon diesem Bund als „ein erschreckendes Gespenst“ bezeichnete, vor dem er die deutschen Fürsten als gefährliche „Jakobiner und Demagogen“ warnte.27 Vor allem der preußische Innenminister Friedrich Ferdinand Alexander von Dohna ließ daraufhin nicht locker und erinnerte König Friedrich Wilhelm III. immer wieder an das bereits am 20. Oktober 1798 verhängte Verbot aller Geheimgesellschaften innerhalb des preußischen Staatsgebiets, das endlich auch auf den Königsberger Tugendbund angewendet werden müsste. Ja, ein seinem Publicandum gegen geheime Gesellschaften und Verbindungen, das er am 16. Dezember 1808 dem König überreichen ließ, erklärte in schroffer Ablehnung jeglicher Einmischung aller nichtadligen Staatsbürger in die politischen Angelegenheiten der von den jeweiligen Monarchen ernannten Regierungen: „Es ist die unerläßliche Pflicht eines jeden Staatsbürgers, im Vertrauen auf die stets rege Fürsorge seines Landesherrn, geruhig und treu seinen Beruf zu üben und sich nicht weiter in die öffentlichen Verhältnisse zu mischen, als Verfassung und Landesgesetze ihm solches gestatten.“28

Als selbst dieses Publicandum Friedrich Wilhelm III. nicht umstimmte, schickte Dohna am 24. Dezember des gleichen Jahres an ihn ein weiteres Schreiben, in dem er ihn bat, den Königsberger Bund endlich „aufzulösen“, um nicht zur „Verminderung der Achtung und der Anhänglichkeit der Untertanen zu ihrem vortrefflichen Könige“ beizutragen.29 Und darauf erließ der von diesen Argumenten eingeschüchterte preußische König am 31. Dezember – sowohl aus Furcht vor 25 26 27 28 29

Zit. in ebd., S. 26. Ebd., S. 33. Ebd., S. 37. Zit. in ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 49 und 57.



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den Franzosen als auch aus Misstrauen gegen die liberaldemokratischen Tendenzen des Königsberger Tugendbunds – ein endgültiges Verbot dieser Vereinigung.

IV Nach diesem Verbot hörten die Aktivitäten dieses Bunds erst einmal auf. Das heißt jedoch nicht, dass seine Wirkung in den Jahren 1808 und 1809 bedeutungslos war. Viele Mitglieder oder Sympathisanten dieses Vereins bemühten sich auch danach, so gut sie es vermochten, innerhalb der Unterschichten der preußischen Bevölkerung den Sinn für ein vaterländisches Gemeinwohl zu befördern und sie zugleich auf einen Befreiungskampf gegen die französische Fremdherrschaft vorzubereiten. Als daher Ende 1812 Napoleons Grande Armée, in der auch zahlreiche preußische Regimenter mitmarschieren mussten, beim Überqueren der Beresina von den Russen vernichtend geschlagen wurde, entschloss sich der preußische General Ludwig York von Wartenburg am 30. Dezember 1812, ohne sich vorher mit seinem sich weiterhin zögerlich verhaltenden König verständigt zu haben, mit den siegreich vordringenden Russen im ostpreußischen Tauroggen auf eigene Faust einen Bündnispakt, durch welchen er den Abfall Preußens von Napoleon einleitete. Sowohl im Auftrag des Zaren als auch im Gefolge des Königsberger Tugendbunds stellten daraufhin York von Wartenburg und der Freiherr vom Stein in Ostpreußen die ersten, bereits auf den Befreiungskampf vorbereiteten Landwehreinheiten auf. Neben vielen anderen Aktivitäten gegen die französische Besatzung – wie der Verteidigung Kolbergs durch Joachim Christian Nettelbeck, den Guerillataktiken der von Ferdinand von Schill und Friedrich von Katte angeführten Freikorps, der von Hermann von Boyen, August Wilhelm Neidhardt von Gneisenau, Karl Wilhelm von Grolmann und Gerhard Johann von Scharnhorst durchgeführten Heeresreform sowie den Reden, Predigten und Schriften Johann Gottlieb Fichtes, Friedrich Daniel Schleiermachers, Ernst Moritz Arndts und Friedrich Ludwig Jahns – gehört daher auch dem antinapoleonisch gesinnten Königsberger Tugendbund durchaus ein Ehrenplatz in der Vorgeschichte des 1813 einsetzenden Befreiungskriegs, in dem drei Viertel „von den ehemaligen Mitgliedern dieses Vereins zu den Waffen griffen“, wie Ludwig von Baczko später voller Stolz behauptete.30 Dass dieser Krieg nicht auf eine allgemeine Verfreiheitlichung und damit eine Beseitigung jeglicher „Ständeunterschiede“ aller Bürger hinauslief, wie sie Cornelius 30 Ludwig von Baczko: Geschichte meines Lebens (wie Anm. 18), Bd. II, S. 255 f.

Burgund im April 1809 gefordert hatte,31 sondern 1815 in der Restaurierung der von allen Liberalen verhassten absolutistischen Verhältnisse ein unwürdiges Ende fand, gehört leider auf ein anderes Blatt der von vielen Illusionen durchzogenen deutschen Geschichte.

31 Vgl. [Cornelius Burgund]: Darstellung (wie Anm. 21).

Carol Poore

Ein Gespenst geht um in Europa Geheimgesellschaften und die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung

I Man geht sicher nicht fehl zu behaupten, dass es in der gesamten Weltgeschichte fast nie irgendwelche unterdrückten Klassen oder andere Gesellschaftsschichten gegeben hat, die ihre Zielsetzungen in einer öffentlich durschaubaren oder legalen Art und Weise verfolgen konnten, und zwar gleichgültig, ob diese religiös oder weltlich, reaktionär oder linksorientiert, legitim oder illegitim waren. Die Unterdrückung ihrer Forderungen führte oft dazu, dass sich solche Gruppierungen rebellisch gesinnter Organisationsformen bedienten, bei denen auch geheimgehaltene Gesellschaften eine wichtige Rolle spielten. Dabei gilt es zwischen zwei Formen solcher Gruppierungen zu unterscheiden. Geheimgesellschaften im engeren Sinn sind meist autoritäre, hierarchisch angeordnete Verschwörerorganisationen, die gern zu esoterischen Riten neigen und ihre Ziele vornehmlich durch Putschversuche oder Terrorakte zu erreichen versuchen, ohne sich dabei der Unterstützung bestimmter Klassen oder größerer Gesellschaftsschichten zu versichern. Bewegungen, die sich eher demokratische Ziele setzen, verwerfen dagegen derartige Methoden im allgemeinen, obwohl sich auch sie von Zeit zu Zeit gezwungen sehen, in den Untergrund bzw. die Illegalität auszuweichen, wenn sich die ihnen entgegentretenden Schichten als allzu mächtig erweisen. Die Existenz derartiger Oppositionsgruppen, mögen sie nun streng oder locker organisiert sein, entsteht meist in Zeiten der Unterdrückung und bewirkt demzufolge, dass sich die Herrschenden, um solche Verschwörungen aufzudecken oder gar zu liquidieren, der Hilfe von Spionen, Geheimagenten oder Polizisten bedienen.1 Auch in diesem Umkreis erweist sich wieder einmal der Slogan „Wissen ist Macht“ als höchst zutreffend, ob nun für jene, die sich im Geheimen treffen und ihre Ideen aus dem Dunkeln ans Licht zu bringen versuchen, oder für jene, die sich mit allen 1 Eugen Lennhoff: Politische Geheimbünde, Wien, 2. Aufl. 1966.

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ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln bemühen, sich ebenfalls Zugang zu diesen geheim gehaltenen Vorstellungen zu verschaffen. Zur historischen Spezifik solcher Verallgemeinerungen soll folgendes Beispiel dienen. So erklärte etwa der Historiker Eric Hobsbawm, dass während der Periode der drei Französischen Revolutionen (1789–1830–1848) die geheimen revolutionären Bruderschaften eine der wichtigsten Organisationsformen waren, welche die westeuropäische Gesellschaft zu verändern suchten.2 Selbst in den deutschen Bundesstaaten der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts gingen viele demokratisch-revolutionäre Bemühungen auf die Aktivitäten von Geheimgesellschaften zurück. Vor allem wenn man sich mit den Anfängen der deutschen Arbeiterbewegung dieser Ära beschäftigt, sieht man sich mit einem geradezu undurchdringlichen Dickicht geheimer Gesellschaften und einem weit gespannten Netzwerk von Spionen und Geheimagenten konfrontiert, die von den Herrschenden zur Unterdrückung derartiger Aktivitäten eingesetzt wurden. Wer in dieser Gesellschaft gegen die Metternichsche Restaurationspolitik opponierte, musste daher zwangsläufig ins „Geheime“ ausweichen, um nicht angeklagt, eingekerkert oder gar hingerichtet zu werden. Es war daher eine Welt, in der in großen Teilen Westeuropas eine Unzahl radikaldemokratischer oder bereits kommunistischer Bewegungen entstanden, die ihre Ziele nicht offen zum Ausdruck bringen konnten und sich deshalb zu mehr oder minder geheim gehaltenen Gesellschaften zusammenschlossen. Die deutsche Arbeiterbewegung, einschließlich ihrer kommunistischen Gruppen, entstand in den dreißiger Jahren, und zwar nicht innerhalb der deutschen Staaten, sondern in Paris, London, Brüssel und der Schweiz, wo sie im Untergrund zu operieren versuchte. Die erste dieser Gesellschaften, der Bund der Geächteten, existierte in Paris von 1834 bis 1836 und war eine hierarchisch organisierte Geheimgesellschaft nach dem Modell der italienischen Carbonari. Aus dieser Gesellschaft ging 1838 der etwas demokratischer organisierte Bund der Gerechten hervor. Diese Gesellschaft wiederum änderte ihren Namen 1847 in Bund der Kommunisten und beauftragte Karl Marx und Friedrich Engels, jenes Manifest der kommunistischen Partei zu verfassen, das mit den berühmten Sätzen beginnt: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische

2 Eric J. Hobsbawm: Primitive Rebels. Studies in Archaic Forms of Social Movement in the 19th and 20th Centuries, Manchester 1959, S. 162.



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Radikale und deutsche Polizisten.“3 Das Wort „Gespenst“ spielte hierbei sowohl auf den damaligen Diskurs über die wachsende kommunistische Bedrohung, später die „rote Gefahr“ genannt, als auch auf das Netzwerk der verschiedenen kommunistischen Geheimgesellschaften an, welche die Mächtigen als eine bedrohliche Verschwörung empfanden, der man ein Ende bereiten sollte.4 Statt weiterhin die Form des Geheimbunds zu wählen, schließt das Kommunistische Manifest mit den unmissverständlichen Worten: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung.“5 Der revolutionäre Moment von 1847/48 war somit der Zeitpunkt, an dem diese Gruppen ins Rampenlicht der Geschichte traten. Nachdem diese Revolution in Deutschland scheiterte, wurden allerdings viele ihrer Teilnehmer ins Gefängnis geworfen, in den Untergrund abgetrieben, zur Emigration gezwungen oder hingerichtet. Dementsprechend schrieb Marx 1853: „Der proletarischen Partei stand nach 1848 wie vor 1848 nur ein Weg offen – der Weg der geheimen Verbindung.“6 Die Geschichte dieser politischen Geheimgesellschaften ist vor allem deswegen von Wichtigkeit, weil sie nicht nur mit den Anfängen des Marxismus und der deutschen Arbeiterbewegung zu tun hat, sondern auch auf grundsätzliche Probleme gesellschaftlicher Veränderungen hinweist.

II Auf Anhieb betrachtet, bestand der Bund der Geächteten aus einer seltsamen Mischung wandernder Handwerksgesellen sowie aus Deutschland vertriebener politischer Flüchtlinge. Damit markierte er in der kurzen Zeit seines Bestehens einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der frühen deutschen Arbeiterbewegung. Und der bestand darin, dass einige seiner bürgerlichen Mitglieder einsahen, statt weiterhin einer putschistischen Ideologie anzuhängen, sich mit be3 ������������������������������������������������������������������������������������ Karl Marx und Friedrich Engels: Manifest der kommunistischen Partei. In������������� :������������ Dies������� .������ : Ausgewählte Werke, Wien 1970, Bd. I, S. 415. 4 Vgl. „Geheimnis“ und „Gespenst“ in Wolfgang Fritz Haug (Hrsg.): Historisch­-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Berlin 2001, Bd. V, ��������������������������������������� S. 48–53 und 640–648. Zur �������������� „Roten Gefahr“ vgl. Reiner Diederich: Die rote Gefahr. Antisozialistische Bildagitation 1918–1976, Berlin 1976, und Klaus Körner, „Die rote Gefahr“. Anti-kommunistische Propaganda in der Bundesrepublik 1950–2000, Hamburg 2003. 5 Marx und Engels: Manifest der kommunistischen Partei (wie Anm. 3), Bd. I, S. 451. 6 Karl Marx: Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Gesamtausgabe, Abteilung I, Berlin 1985, Bd. II, S. 413.

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stimmten Gruppen der Unterklassen zu verbinden, um ihre revolutionären Ziele zu erreichen. Schließlich vollzog sich in diesen Jahren die erste Industrialisierung in Deutschland, wodurch jene „soziale Frage“ entstand, die mit der Gründung von Fabriken zusammenhing. Konsequenterweise führte das zu einem Klassenbewusstsein, das von den Fabrikarbeitern auch auf die deklassierten Handwerksgesellen übergriff, die sich plötzlich ebenfalls als Teil einer größeren Arbeiterklasse empfanden. Daraufhin verwandelten sich die bereits bestehenden Gesellschaften aus Organisationen politischer Flüchtlinge zusehends in Assoziationen wandernder Handwerksgesellen, die im Gegensatz zu den Bürgerlichen nicht nur Freiheit und nationale Einheit, sondern auch Gleichheit verlangten. Und dies war zugleich der Moment, wo sie aus dem Verborgenen in die Öffentlichkeit traten. Um dieser Entwicklung nachzugehen, ist es erst einmal nötig, einen kurzen Blick auf die beiden Hauptgruppen dieser Gesellschaften zu werfen, um herauszufinden, wie es zu diesem Zusammenschluss wandernder Handwerksgesellen und politischer Flüchtlinge kam und wie sie ihre Gesellschaften organisierten. In dem Zeitraum zwischen 1815 und 1848 dominierte in den deutschen Staaten – ­­ sozioökonomisch gesehen – noch weitgehend das Bäuerliche. Rund 60 Prozent der Bevölkerung arbeitete in der Landwirtschaft, 15 bis 20 Prozent waren Handwerker, und der Rest war in anderen Berufen tätig. Nur etwa 2 bis 4 Prozent arbeiteten in den neuen Fabriken, die nach 1830 entstanden. Im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm der Anteil der Handwerker in bestimmten Berufen so stark zu, dass immer mehr junge Männer – aufgrund der gelockerten Zunftbeschränkungen – in die größeren Städte abwanderten. Und mit der Auflösung der Zünfte verlor sich auch das patriarchalische Verhältnis, das der jeweilige Meister bisher zu seinen Gesellen und Lehrlingen hatte, weshalb viele Gesellen fürchteten, in die Klasse der Fabrikarbeiter abzusinken. Dazu trug außerdem bei, dass nach der Aufhebung der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre viele der billigen englischen Massenprodukte den europäischen Markt überschwemmten, wodurch vor allem der Lebensunterhalt jener Handwerker bedroht wurde, die im Bereich des Textil-, Leder- und Metallhandwerks tätig waren. Demzufolge fühlten sich die Handwerksgesellen dieser Zeit oft „zwischen der Enge der Zunft und der Trostlosigkeit des Proletariats“ eingezwängt.7 Es gab zwei Möglichkeiten, mit denen diese Handwerksgesellen auf die für sie immer schwieriger werdende Situation reagieren konnten. Die Einen fanden sich damit ab, richteten kleine Werkstätten ein, gründeten Familien und sehnten sich 7 Rainer Koch: Deutsche Geschichte 1815–1848. Restauration oder Vormärz? Stuttgart 1985, S. 168–173.



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nach einer Wiederherstellung des mittelalterlichen Handwerkerlebens. Die Mitglieder der deutschen Handwerkerassoziationen und der im Ausland agierenden politischen Geheimgesellschaften schlugen dagegen einen anderen Kurs ein. Zugegeben, Handwerksgesellen waren schon seit Jahrhunderten gewandert, wobei sie viele der europäischen Großstädte kennengelernt hatten. Eins der beliebtesten Ziele war dabei Paris, die damals größte europäische Stadt und das Zentrum von all dem, was als neu und modebetont galt. Hier hatten sie daher ihre handwerklichen Fähigkeiten verfeinert, um dann nach ihrer Rückkehr in die Heimat ihren Kunden die letzten Pariser Produkte anbieten zu können. Andererseits äußerte sich in diesem verstärkten Wandertrieb zugleich ein Gefühl der Krise. Schließlich nahmen zu diesem Zeitpunkt in Deutschland nicht nur die Arbeitslosigkeit, sondern auch die damit verbundene Polizeiaufsicht, das Bettlerverbot und ähnliche Restriktionen zu.8 Es nimmt daher kein wunder, dass gerade die Mitglieder der am meisten bedrohten Berufe, nämlich die Schneider, Schuster, Tischler, Schlosser und Gürtler, besonders aufnahmebereit für irgendwelche radikalen sozialen und politischen Doktrinen waren und sich am schnellsten den entstehenden politischen Geheimgesellschaften anschlossen. Indem sie diesen Radikalismus zugleich mit ihren herkömmlichen Berufsvorstellungen verbanden, entstanden so Visionen eines „Handwerkerkommunismus“, der auf dem Recht auf Arbeit, dem Wert der menschlichen Arbeit, der Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse und der Wichtigkeit einer sozialen Harmonie beruhte.9 Zu den anderen Mitgliedern dieser Geheimgesellschaften gehörten vor allem politische Flüchtlinge, die sich in den deutschen Staaten in liberalen Bewegungen engagiert oder gar an Demonstrationen oder Aufständen teilgenommen hatten. Fast alle diese Flüchtlinge waren hochgebildet, das heißt Studenten oder Akademiker, Journalisten oder Anwälte. Obwohl ihre Anzahl klein war, spielten sie anfänglich als Führer der oppositionellen Gruppen im Ausland eine historisch wichtige Rolle.10 Als Liberale oder Radikaldemokraten, die sich gegen den Absolutismus wandten und für eine konstitutionelle Regierung eintraten, sahen sie ihre Vorläufer in den deutschen Jakobinern und den ersten kleineren Gesellschaften, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts für Freiheit und nationale Einheit eingetreten waren. Dazu gehörten unter anderem der von preußischen Patrioten 1808 gegründete Tugendbund und der spätere Deutsche Bund sowie 8 ������������������������������������������������������������������������������������ Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet. Handwerker zwischen Liberalismus und ���� Kommunismus. In: Ergebnisse. Hefte für historische Öffentlichkeit, 1980, H.12, S. 23. 9 Vgl. Rainer Koch: Deutsche Geschichte 1815–1848 (wie Anm. 7), S. 173. 10 Vgl. Wolfgang Schieder: Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963, S. 90.

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die von Ernst Moritz Arndt inspirierten Deutschen Gesellschaften, an deren Stelle 1815 die nationalistisch eingestellten Hoffmannschen Bünde getreten waren.11 Solange die deutschen Fürsten ihren Hauptgegner in Napoleon gesehen hatten, hatten sie diese Gesellschaften durchaus toleriert. Nach 1815, als die sogenannten Befreiungskriege vorbei waren und die Fürsten wieder auf ihren absolutistischen Rechten bestanden, wurden dagegen alle diese Gesellschaften drakonisch unterdrückt. Dementsprechend erließ der preußische König Friedrich Wilhelm III. 1816 eine „Verordnung wegen der angeblichen geheimen Gesellschaften“, in der er jenes königliche Edikt von 1798 erneuerte, das die Gründung politischer Gesellschaften unter Strafe stellte.12 Damit wurden alle „Verführer“, die das „glückselige Verhältnis“ zwischen dem König und seinen Untertanen durch „falsche, verderbliche Grundsätze“ bzw. einen „schädlichen Parteigeist“ zu stören versuchten, zu Kriminellen abgestempelt. Diese Gruppen, die zum Teil noch immer den Idealen der Französischen Revolution anhingen, sahen sich besonders den Maßnahmen jenes Wiener Kongress von 1815 ausgesetzt, der von dem österreichischen Staatskanzler Klemens Fürst von Metternich dominiert wurde. Obwohl aufgrund der dort verfügten Beschlüsse eine strenge Restauration des Absolutismus einsetzte, ließen sich einige radikal gesinnte Gruppen keineswegs entmutigen. So bekannten sich etwa die Burschenschafter in Gießen und Jena weiterhin zu dem Motto „Ehre, Freiheit, Vaterland“, während sich ihr nur im Geheimen auftretender radikaler Flügel unter der Führung von Karl Follen zum Verein der Unbedingten bzw. der Schwarzen zusammenschloss.13 Anlässlich der 300. Wiederkehr des Beginns der Lutherischen Reformation kamen demzufolge im Oktober 1817 etwa 600 Burschenschafter zum Wartburgfest nach Eisenach, wo sie sich zur nationalen Einheit Deutschlands bekannten. Als darauf der Burschenschafter Karl Sand, einer der Follen-Anhänger, am 23. Mai 1819 den Metternich-Gefolgsmann August von Kotzebue in Mannheim erstach, betrachteten die deutschen Fürsten dies als willkommene Chance, mit ihren Karlsbader Beschlüssen die Burschenschaften zu verbieten und alle Uni11 Vgl. „Bund“ in Otto Brunner (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1978, Bd. I, S. 645 f., und Rainer Koch: Deutsche Geschichte 1815–1848 (wie Anm. 7), S. 87 ff. 12 ������������������������������������������������������������������������������������ Ernst R. Huber (Hrsg.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Deutsche Verfassungsdokumente 1803 bis 1850, Stuttgart 1961, Bd. I, S. 57–58. 13 Walter Grab erklärte, dass diese Gruppe ein Geheimbund war und ältere Freimaurer-Ideen als ihr Vorbild wählte. In seinem „Diskussionsbeitrag“ in Otto Busch (Hrsg.): Die frühsozialistischen Bünde in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Vom „Bund der Gerechten“ zum „Bund der Kommunisten“ 1836–1847. Ein Tagungsbericht, Berlin 1975, S. 69.



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versitäten einer strikten Kontrolle zu unterwerfen. Zugleich erließen sie für das gesamte Publikationswesen strenge Zensurmaßnahmen und richteten in Mainz eine Zentraluntersuchungskommission ein, die mit einem Netzwerk von Spionen und Informanten allen subversiven Bestrebungen entgegentreten sollte, was als sogenannte Demagogenverfolgung in die deutsche Geschichte eingegangen ist. Das Ergebnis all dieser Bestrebungen war, dass es nicht zu einer kritischen Öffentlichkeit kam – oder wie es ein Historiker formulierte: „Die Karlsbader Beschlüsse sollten verhindern, dass sich die bürgerliche Gesellschaft politisch formierte.“14 Aufgrund dieser Unterdrückungsmaßnahmen waren die zwanziger Jahre eine Zeit relativer Ruhe. Erst die Julirevolution von 1830, welche in Frankreich die Bourbonenherrschaft beendete und dem „Bürgerkönig“ Louis-Philippe auf den Thron verhalf, bewirkte, dass es auch in anderen europäischen Staaten zu Aufständen kam. So besetzte etwa eine Gruppe von Göttinger Privatdozenten, von denen vorher einige im Ausland politischen Geheimgesellschaften angehört hatten, mit Hilfe von Studenten, Bürgern und Bauern im Januar 1831 das dortige Rathaus und erzwang damit eine Steuerreform und andere liberale Reformen.15 Solche lokalen Aufstände hatten jedoch keine breitere Wirkung. Die Regierungen von Preußen und Österreich wurden erst unruhig, als im Januar 1832 einige Radikaldemokraten jenen Vaterlandsverein zur Unterstützung der freien Presse gründeten, den der Frankfurter Bundestag allerdings schon zwei Monate später verbot. Als Antwort darauf organisierten die südwestdeutschen Radikaldemokraten Ende Mai des gleichen Jahres jenes Hambacher Fest, an dem etwa 20 000 bis 30 000 Menschen teilnahmen und das als die erste Massenveranstaltung gegen Fürstenherrschaft und für demokratische Rechte und nationale Einheit in Deutschland charakterisiert werden kann.16 Unmittelbar nach dem Hambacher Fest fanden weitere Volksfeste dieser Art statt, was die von Metternich angeführte Fürstenkoalition dazu veranlasste, in allen deutschen Staaten harte Maßnahmen gegen die Vertreter der sie bedrohenden liberalen Strömungen zu ergreifen. Der Bundestag verschärfte demzufolge 1832/33 die Karlsbader Beschlüsse, indem er alle politischen Gesellschaften 14 ����������������������������������������������������������������������������������������� Zit. in Hans Adler: Staatsschutz im Vormärz. In������������������������������������������ :����������������������������������������� Ders.: Literarische Geheimberichte. Protokolle der Metternich-Agenten, 1840–1843, Köln 1977, Bd. I, S. 12. 15 Vgl. ebd., S. 16–17, und Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten 1836– 1852, New York 1993, S. 38. 16 ����������������������������������������������������������������������������������� Über die Mehrheit der bürgerlichen Teilnehmer am Hambacher Fest vgl. Dieter Schiffmann: „Es herrscht jetzt Freiheit und Gleichheit.“ Die „niedere Volksklasse“ in der Pfalz und das Hambacher Fest. In Joachim Kermann (Hrsg.): Freiheit, Einheit und Europa. Das Hambacher Fest von 1832. Ursachen, Ziele, Wirkungen, Ludwigshafen 2006, S. 293 f.

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verbot, das Versammlungsrecht abschaffte, weitere Zensurbestimmungen erließ und zugleich eine erhebliche Erweiterung der bisherigen Überwachungssysteme einleitete. Diese Maßnahmen bildeten den Hintergrund des sogenannten Frankfurter Wachensturms vom 3. April 1833, bei dem eine Gruppe von etwa 50 Heidelberger Burschenschafter unter der Führung von Ernst von Rauschenplatt, der vorher am Göttinger Privatdozentenputsch teilgenommen hatte, den Bundestag besetzen wollten, um anschließend – in der Hoffnung auf einen Massenaufstand – die Deutsche Republik ausrufen zu können. Dieser amateurhaft geplante Putsch wurde jedoch durch das Militär vereitelt und führte lediglich zu weiteren repressiven Maßnahmen von Seiten der Konservativen. Metternich, der überall radikaldemokratische Verschwörungen witterte, regte daraufhin die Einrichtung einer zentralen Geheimpolizei an. Dementsprechend schrieb er am 20. April 1833 an den Direktor der Wiener Polizeiverwaltung: „Jene verruchte Verbrüderung, welche seit einem halben Jahrhundert an dem Umsturze der bestehenden und selbst aller möglichen gesetzlichen Ordnung und aller Throne unablässig arbeitet, hat im Jahr 1830 in Frankreich einen bedeutenden Sieg errungen, welcher ihr jedoch keineswegs genügt: ihr Plan geht weiter, er umfasst die Welt, – und von Paris, wo die revolutionäre Propaganda sitzt, bearbeitet diese Gesellschaft die verschiedenen Reiche Europas, um ihre verderblichen Lehren den Nationen einzuimpfen und die Völker gegen ihre Regierungen aufzuwiegeln. Der leitende Ausschuss, welcher das Zentrum dieser permanenten Verschwörung bildet, hat unter sich ebenso viele oberste Klubs als es Nationen gibt, deren Revolutionierung gehofft werden kann. Was der spanische, italienische, belgische, polnische und der schweizerische Klub gewirkt haben, lehrte uns die Geschichte der drei letzten Jahre: Die Arbeiter des Deutschen Klubs sind jetzt in voller Tätigkeit, und die Frankfurter Ereignisse vom 3. April waren das Vorspiel eines ganz Deutschland umfassenden Planes. . . . Jede Machination der Pariser Propaganda ist für Österreich von hohem Interesse; insofern aber diese Ränke Italien, Deutschland, Ungarn und Polen zum Gegenstande haben, wird die Erforschung und Vereitlung solcher Komplotte für uns eine wahre Selbsterhaltungspflicht.“17 Daraufhin gründete – auf Metternichs Anregung – der Frankfurter Bundestag eine Zentralbehörde für politische Untersuchungen in Mainz, deren Maßnahmen gegen irgendwelche subversiven Aktivitäten so geheim wie nur möglich erfolgen sollten. Die Reaktion auf das Hambacher Fest, den Frankfurter Wachensturm sowie andere burschenschaftliche Aktivitäten war brutal. Über 2 000 Menschen wurden 17 Zit. in Hans Adler: Staatsschutz (wie Anm. 14), S. 3–4.



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verhört und zum Teil zu langen Haftstrafen verurteilt. Lediglich einigen führenden Mitgliedern dieser Bewegungen gelang es, in die Schweiz oder nach Paris zu entfliehen. Angesichts all dieser Unterdrückungsmaßnahmen, die sich geradezu niederschmetternd auswirkten, ist das verzweifelte Bemühen des jungen Studenten Georg Büchner und des Pfarrers Friedrich Ludwig Weidig, dennoch weiterzukämpfen, mehr als bewundernswert. Büchner hatte in Straßburg die französische Société des Droits de l’Homme et du Citoyen kennengelernt und Weidig war vorher ein Mitglied der geheimen Hoffmannschen Bünde gewesen.18 1834 gründeten daraufhin Büchner und Weidig in Gießen die geheime Gesellschaft der Menschenrechte und publizierten die Flugschrift Der hessische Landbote, in der sie die Bauern zum Aufstand gegen die Darmstädter Regierung aufriefen. Im Gegensatz zu den bisherigen Studentenrevolten, die wegen ihres Minderheitsstatus notwendig scheitern mussten, hofften Büchner und Weidig mit ihrer Wendung an die Bauern die Mehrheit der Bevölkerung aufzuwiegeln. Nachdem ihre Verschwörung 1835 aufgedeckt wurde, floh Büchner in die Schweiz, während Weidig 1837 im Gefängnis so misshandelt wurde, dass er im gleichen Jahr Selbstmord verübte. August Becker, ein anderes Mitglied dieser Gesellschaft, wurde 1839 aus dem Gefängnis entlassen, schloss sich in der Schweiz dem Bund der Gerechten an und wurde ein wichtiger Theoretiker des „Handwerkerkommunismus“.19 Zusammenfassend lässt sich sagen: die Unterdrückungsmaßnahmen nach dem Hambacher Fest bewirkten einerseits einen Rückgang, andererseits eine Radikalisierung der aufrührerisch gesinnten Bewegungen. Allerdings sahen sich die meisten Radikaldemokraten – nach dem Scheitern der Putschversuche – gezwungen, in die Schweiz oder nach Paris zu fliehen, wo sie politische Geheimgesellschaften gründeten, um wenigstens von dort aus einen Einfluss auf die deutschen Verhältnisse zu haben. Um welche Gesellschaften handelte es sich dabei?

III Im Zeitraum von 1832 bis 1848 gerieten diese Geheimgesellschaften immer stärker unter den Einfluss der wandernden Handwerksgesellen, was zu ihrer Radikalisierung führte und schließlich eine Wendung vom bürgerlichen Liberalismus zum Kommunismus bewirkte. So wandelte sich etwa der deutsche Gesangsverein in 18 Vgl. Gerhard Schaub: Georg Büchner, Friedrich Ludwig Weidig. „Der hessische Landbote.“ Texte, Materialien, Kommentar, München 1976, S. 112. 19 Ebd., S. 135.

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Paris 1832 in einen Zweig des Pressvereins, der darauf im Juli den Namen Deutscher Volksverein annahm und bis zum April 1834 existierte. Seine Aufgabe sah dieser Verein, dessen 500 Mitglieder sowohl Exilanten wie Ludwig Börne und Heinrich Heine, verarmte Kaufleute als auch Handwerksgesellen waren, vor allem darin, politische Flüchtlinge zu unterstützen und Flugblätter zu verfassen, in denen er sich für republikanische Ideen und Rechtsvorstellungen einsetzte. Er traf sich in aller Offenheit in Restaurants oder Cafés und zog im Laufe der Zeit immer mehr Handwerker an, die andere ihrer Landsleute treffen und zugleich ihre sozialen Forderungen artikulieren wollten. Während in diesem Verein zu Anfang die bürgerlichen Liberalen das Übergewicht hatten, drängten sich danach die Handwerker zusehends in den Vordergrund und veröffentlichten Zirkuläre, die sich vornehmlich mit sozialen Fragen beschäftigten.20 Zur gleichen Zeit begannen auch die französischen Arbeiter ein Klassenbewusstsein zu entwickeln. So kam es im November 1831 in Lyon zu einer Revolte der Seidenweber, die zwar nur wenige Tage dauerte, aber deren Schlachtruf „Vive en travaillant ou mourier en combattant!“ die Regierungen in ganz Europa schockierte, während er den unzufriedenen Arbeitern die Augen öffnete, dass sich die zukünftigen Konflikte vor allem zwischen den Reichen und den Armen abspielen würden.21 1833 fanden in Frankreich weitere 72 Arbeitsniederlegungen statt, die im Februar 1834 in dem lang anhaltenden Streik der Lyoner Seidenweber kulminierten. Aber auch sonst verbreiteten sich unter den französischen Arbeitern zusehends republikanische Ideen, zumal sich mehr und mehr der militanten Société des Droits de l’Homme et du Citoyen anschlossen. Aufgrund dieser Ereignisse erließ die französische Regierung im März 1834 ein neues Vereinsgesetz, welches das Versammlungsrecht erheblich einschränkte und alle politischen Gruppen zwang, sich erneut um eine Zulassung zu bewerben. Damit wurde der radikale Flügel der Arbeiterbewegung gezwungen, sich in den Untergrund zurückzuziehen, worauf die französischen Radikalen das bereits bestehende Netzwerk der Geheimgesellschaften erheblich erweiterten.22 Da auch der deutsche Volksverein von diesem Gesetz betroffen wurde, kam es unter seinen Mitgliedern zu Diskussionen, ob man sich der Kontrolle der Regierung unterwerfen oder lieber eine illegale Geheimgesellschaft werden solle. Öffentlich traf sich der Volksverein zum letzten Mal im Mai 1834, wo er entschied, 20 Vgl. Hans Adler, Staatsschutz (wie Anm. 14), S.  22, Wolfgang Schieder: Anfänge (wie Anm. 10), S. 92, und Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 28 ff. 21 Vgl. David Priestland: The Red Flag. A History of Communism, New York 2009, S. 33. 22 Vgl. William Sewell: Work and Revolution in France. The Language of Labor from the Old Regime to 1848, New York 1980, S. 219.



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sich in den Untergrund zurückzuziehen und sich als Geheimgesellschaft Bund der Geächteten zu nennen. Kurz darauf ließ er ein Pamphlet mit dem Titel Aufruf eines Geächteten an die deutschen Volksfreunde drucken, in dem er mit folgenden Worten die Notwendigkeit seiner Entscheidung erklärte, die Form einer Geheimgesellschaft angenommen zu haben: „Vereinigung der Vaterlandsfreunde ist der erste Schritt zur Freiheit, und der letzte. Eine solche Verbindung muss ‚wesentlich eine geheime‘ sein. Ich weiß es, dass in Deutschland ‚geheime‘ Verbindungen noch immer ihre Widersacher finden werden. Der offene gerade Deutsche scheut das ‚Dunkel des Geheimnisses‘. Aber wir wollen ‚keine geheimen Verbindungen, die im Dunkeln richten und schlichten, und die im Dunkeln ihre Feinde rücklings trifft‘. Wir Deutsche wollen eine ‚geheime‘ Verbindung nur, ‚weil wir nicht öffentlich uns versammeln dürfen; weil wir die Angelegenheiten Deutschlands nicht öffentlich besprechen, weil wir nicht öffentlich drucken lassen dürfen‘. Wir wollen eine ‚geheime‘ Verbindung nur, um durch sie das Mittel zu finden, uns zu vereinigen, uns zu scharen, und ‚um dann dereinst offen, Mann gegen Mann, Auge in Auge, gerade und deutsch unsern Feinden gegenüber treten zu können.‘“23 Obwohl der Bund der Geächteten zu dieser Maßnahme gezwungen war, spielte bei seiner Entscheidung, eine Geheimgesellschaft zu werden, auch eine gewisse Vorliebe für das Geheimnisvolle an sich eine wichtige Rolle. Das hing zum Teil damit zusammen, dass einige seiner Mitglieder sich bei der Organisation dieses Bunds an französischen und italienischen Geheimgesellschaften, einschließlich der neobabouvistischen Gruppen, orientierten.24 Die Geheimgesellschaft der Carbonari war gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Süditalien entstanden und trat für die Gründung einer italienischen Republik ein. In ihren hierarchischen Organisationsformen und komplizierten Initiationsriten ähnelte sie den Freimaurern. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts hielt man sich erstmals auch in Frankreich an dieses Modell. Darauf gründete der toskanische Exilant Filippo Buonarroti, der 1795/96 in Paris an Babeufs kommunistischer Verschwörung der Gleichen teilgenommen hatte, wiederum in Paris die republikanisch orientierte Geheimgesellschaft Charbonnerie démocratique universelle. Auch im Bund der Geächteten waren einige seiner Mitglieder, wie etwa Jakob Venedey und Theodor Schuster vom Volksverein sowie Josef Garnier von der winzigen Geheimgesellschaft Der Sühnungsbund, mit Buonarrotis Buch Conspiration pour l’egalite dite de 23 „Aufruf eines Geächteten an die deutschen Volksfreunde“. In: Hans-Joachim Ruckhäberle (Hrsg.): Frühproletarische Literatur. Die Flugschriften der deutschen Handwerksgesellenvereine in Paris 1832–1839, Kronberg 1977, S. 120–121. 24 Vgl. Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 28.

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Babeuf (1828) vertraut und sahen in seiner „Charbonnerie“ ihr organisatorisches Vorbild.25 Der Bund der Geächteten war eine hierarchisch strukturierte und damit prinzipiell undemokratische Geheimgesellschaft, deren vier Stufen dem Carbonari-Modell entsprachen. Das geheime Zentrum, der sogenannte „Brennpunkt“, ernannte sich selbst. Unter ihm befanden sich die Diskasterien, die Berge und die Hütten. Die Mitglieder der unteren Stufen sandten jeweils Delegierte zu der nächst höheren Stufe. Sonst gab es keine Kontakte zwischen den einzelnen Gruppen. Jedes Mitglied musste sich zu absolutem Gehorsam und zur Verschwiegenheit verpflichten. In den Statuten wurde ein kompliziertes System von Schlüsselworten, Eiden, Initiationsriten, Pflichten und Strafen festgelegt, wobei allen Mitgliedern, welche sich als Verräter der Geheimnisse dieser Geheimgesellschaft erweisen sollten, der Tod angedroht wurde.26 Wohl das wichtigste Merkmal dieses Bunds war, dass alle Entscheidungen im Brennpunkt gefällt und dann in die unteren Ränge weitergeleitet wurden. Wie viele Mitglieder dieser Bund hatte, lässt sich nur schätzen. Im Gegensatz zum Pressverein und zum Volksverein waren etwa 85 Prozent seiner Mitglieder Handwerksgesellen, während sich die politischen Flüchtlinge, die sich den früheren Organisationen angeschlossen hatten, mehrheitlich von dieser Geheimgesellschaft fernhielten. Besonders stark waren in diesem Bund Tischler, Schneider und Drucker vertreten.27 Wahrscheinlich hatte diese Gesellschaft in Paris etwa 200 bis 300 Mitglieder und auch in Deutschland ungefähr die gleiche Anzahl von Anhängern.28 Allerdings waren die zwei einflussreichsten Mitglieder im Brennpunkt dieses Bunds Jakob Venedey, ein früherer Burschenschafter, Freimaurer sowie Sprecher beim Hambacher Fest, und Theodor Schuster, ein ehemaliger Göttinger Privatdozent und Anführer des dort 1832 erfolgten Putschversuchs.29 25 �������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Wolfgang Schieder: Anfänge (wie Anm. 10), S. 23f., und Birgit Bublies-Godau: Parteibildungsprozesse im vormärzlichen Exil. Die deutschen Auslandsvereine in Paris. Ein Blick auf den geheimen „Bund der Geächteten“ von 1834–36 und das Wirken seines Anführers Jakob Venedey (1805–1871). In������������������������������������������������ :����������������������������������������������� Norbert Eke und Fritz Wahrenburg (Hrsg.): Vormärz und Exil, Bielefeld 2005, S. 110. Vgl. Alan Spitzer: Old Hatreds and Young Hopes. The French Carbonari Against the Bourbon Restoration, Cambridge 1971. 26 Vgl. Hans-Joachim Ruckhäberle: Frühproletarische Literatur (wie Anm. 23), S. 144–151. 27 Vgl. Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 36. 28 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten und der Bund der Gerechtigkeit. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Nr. 3, 2002, S. 64. 29 ������������������������������������������������������������������������������������� Birgit Bublies-Godau: Parteibildungsprozesse (wie Anm. 25), S. 108, und Werner Kowalski: Vorwort. In: Der Geächtete, Leipzig 1972, S. XVII.



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Zu den in seinen Statuten formulierten Zielen dieser Geheimgesellschaft gehörten: „Die Befreiung Deutschlands von dem Joch schimpflicher Knechtschaft und Begründung eines Zustands, der, soviel es Menschenvorsicht vermag, den Rückfall in Knechtschaft und Elend verhindert. Die Erreichung dieses Hauptzweckes ist nur möglich bei Begründung und Erhaltung der sozialen und politischen Gleichheit, Freiheit, Bürgertugend und Volkseinheit, zunächst in den der deutschen Sprache und Sitte angehörenden Ländergebieten, sodann aber auch bei allen übrigen Völkern des Erdbodens.“30 Das Hauptziel dieses Bunds war also die Schaffung eines in republikanischen Idealen verankerten deutschen Einheitsstaats. Zu diesem Zweck versuchte er durch persönliche Kontakte sowie die von Venedey und Schuster herausgegebene Zeitschrift Der Geächtete neue Mitglieder anzuwerben, diese von der Notwendigkeit einer deutschen Revolution zu überzeugen und sie dann als wandernde Handwerksgesellen nach Deutschland zu schicken, um die deutschen Arbeiter für seine Zielvorstellungen zu gewinnen.31 Obwohl die meisten Mitglieder dieses Bunds dem Handwerkerstand angehörten, waren es lediglich Intellektuelle, die für diese Zeitschrift schrieben, darunter Börne und Heine, die beide je einen Artikel verfassten.32 Dennoch gab es von Anfang an in dieser Geheimgesellschaft auch Tendenzen, die weit über den bürgerlichen Liberalismus hinausgingen. Das zeigte sich schon in der Debatte zwischen Venedey und Schuster, die sie in der Zeitchrift Der Geächtete über den Vorrang der sozialen Gleichheit gegenüber der politischen Freiheit führten.33 Wie den meisten der politischen Flüchtlinge ging es Venedey weniger um soziale Reformen als um die Errichtung einer liberalen deutschen Republik. Schuster setzte sich zwar auch für die Abschaffung der Monarchie und eine konstitutionelle Form des 30 Hans-Joachim Ruckhäberle: Frühproletarische Literatur (wie Anm. 23), S. 144. 31 ��������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 38, und Wolfgang Schieder: Anfänge (wie Anm. 10), S. 29. 32 Weder Börne noch Heine waren Mitglieder des Bunds der Geächteten. Heine schrieb seinen Beitrag wahrscheinlich nur, weil er persönlich mit Venedey bekannt war. Vgl. Jacques Grandjonc und Michael Werner: Wolfgang Strahls „Briefe eines Schweizers aus Paris“ 1835. Zur Geschichte des Bundes der Geächteten in der Schweiz und zur Rezeption Heines unter deutschen Handwerkern in Paris, Trier 1978, und Jost Hermand: Heinrich Heine. Kritisch. Solidarisch. Umstritten, Köln 2007. 12 Hefte mit je 500 Exemplaren des „Geächteten“ erschienen zwischen Juli 1834 und Januar 1836 und zwar von 200 deutschen Arbeitern in Paris finanziert. Vgl. Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 66. 33 Vgl. Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 42, Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 40 ff., und Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 66 ff.

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Regierungswesens ein, vertrat aber zugleich den Standpunkt, dass in einer wahren Demokratie auch eine soziale Gleichheit herrschen müsse und dass sich die Handwerkergesellschaften vor allem diesem Ziel verschreiben sollten. Und damit war im Bund der Geächteten von Anfang an ein Konflikt zwischen einem eher bürgerlichen und einem eher proletarischen Konzept von Demokratie angelegt.34 Während all dieser Vorgänge gründete Giuseppe Mazzini in Marseilles die Geheimgesellschaft Das junge Italien, welche sich zum Ziel setzte, die italienischen Fürsten zu stürzen und ihr Heimatland in eine konstitutionelle Republik umzuwandeln. Mazzini war vorher ein Mitglied der Carbonari gewesen, hatte sich jedoch von den internationalen Verschwörungstendenzen dieser Gesellschaft und ihren relativ vagen politischen Konzepten distanziert. Im April 1834 regte er die Gründung der Geheimgesellschaft Das junge Europa in Bern an, deren Ziel darin bestand, alle europäischen Staaten in Republiken zu verwandeln und diese dann in ein vereinigtes Europa zu integrieren. Darauf waren mehrere nationale Gesellschaften, wie Das junge Polen, Das junge Frankreich und Die junge Schweiz entstanden. Der deutsche Zweig dieser Gesellschaft entstand auf folgende Weise in der Schweiz. Im Herbst 1833 gründete Ernst Schüler, ein ehemaliger Burschenschafter, der am Frankfurter Wachensturm teilgenommen hatte, in Biel einen Handwerkerleseverein, dessen Ziel es war, wandernde Handwerksgesellen nach Deutschland zu schicken, um – in Art einer „Propaganda zu Fuß“ – republikanische Ideen zu verbreiten. Ähnliche Vereine wurden in anderen schweizerischen Städten, einschließlich Zürichs und Genfs, gegründet. Im April 1834 schlossen sich die politischen Flüchtlinge und Handwerksgesellen dieses Vereins Mazzinis Jungem Europa an. Zuerst nannten sie sich Neues Deutschland und dann Junges Deutschland. Zwei Jahre später hatte diese Organisation etwa 300 Mitglieder, von denen zwei Drittel Handwerker waren.35 Mehrere ihrer Mitglieder, darunter der Uhrmacher Josef Moll und der Burschenschafter Karl Schapper, wurden später führende Mitglieder im Bund der Gerechten und dann im Bund der Kommunisten. Nachdem im Februar 1834 Mazzinis Savoyerzug, der in Italien eine Volkserhebung gegen die Monarchie einleiten wollte, ebenso kläglich wie der Frankfurter Wachensturm gescheitert war, wandten sich viele Mitglieder des Jungen Deutschlands von den bisher im Geheimen geplanten putschistischen Aktionen ab und forderten zugleich eine Demokratisierung der bestehenden Organisatio-

34 Vgl. Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 67. 35 Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 54.



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nen.36 Obwohl das Junge Deutschland ebenfalls eine Geheimgesellschaft war, die Schwüre und ähnliche Riten verlangte, war sie wesentlich demokratischer als der Bund der Geächteten. Ihr „Leitender Ausschuss“ wurde von den unteren Rängen, den sogenannten Klubs, gewählt, und musste diesen gegenüber Rechenschaft ablegen.37 Obwohl der Bund der Geächteten, das Junge Deutschland und ihre Nachfolgeorganisationen relativ klein waren, gab es zweifellos unter den deutschen Handwerkern ein wesentlich breiteres Netzwerk von Sympathisanten in den vielen Gesang-, Lese-, Ball- und Küchenvereinen sowie den Unzähligen, die ihre Broschüren lasen.38 Innerhalb Deutschlands verbreiteten vor allem wandernde Handwerksgesellen diese Schriften und gründeten zugleich in mehreren Städten Zweigstellen des Bunds der Geächteten.39 Dabei entwickelten sie höchst raffinierte Methoden, um ihre subversive Kontrebande nach Deutschland einzuschmuggeln: die Schmiede stellten Behältnisse mit einem doppelten Boden her, die Schneider nähten Flugblätter in die Kleider ein und die Schumacher versteckten Propaganda in den Schuhsohlen.40 Metternichs Spione kamen jedoch hinter derartige Taktiken und alarmierten die Behörden über die Gefahren, die von den wandernden Handwerksgesellen ausgingen. Daraufhin erließ der Frankfurter Bundestag im Jahr 1835 ein „Wanderverbot“, durch das er „das Wandern der den Deutschen Bundesstaaten angehörigen Handwerksgesellen nach denjenigen Ländern und Orten“ untersagte, „in welchen offenkundig irgendwelche politischen Assoziationen und Versammlungen geduldet werden“, welche man in Deutschland nicht tolerieren dürfe.41 Damit meinten die Behörden vor allem Frankreich, Belgien und 36 Vgl. Wolfgang Schieder: Anfänge (wie Anm. 10), S. 29, und Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 52 ff. 37 ��������������������������������������������������������������������������������������� Im Jahr 1835 publizierte eine andere Gruppe deutscher politischer Flüchtlinge und Handwerker in der Schweiz die Zeitschrift „Das Nordlicht“. Dabei handelte es sich um eine öffentliche Vereinigung, die alle „revolutionsromantischen Formen der Geheimbündelei“ verwarf und sich für eine breitere „Bildungs- und Aufklärungsarbeit“ einsetzte. Vgl. ClausDieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 54. 38 Vgl. Jacques Grandjonc: Die deutsche Binnenwanderung in Europa 1830 bis 1848 (wie Anm. 32), S. 15. 39 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 67. Sie fanden heraus, dass es in Deutschland 1 „Lager“ und 6 bis 8 „Zelte“ in Frankfurt am Main, 2 „Zelte“ in Mainz und weitere „Zelte“ in Darmstadt, Mannheim, Schleiz, Homburg und wahrscheinlich auch in Würzburg, Dörnigheim bei Hanau, Obereschbach, Höchst, Bremen, Wiesbaden, Birkenau und Stuttgart gegeben habe. 40 Werner Kowalski: Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten, Berlin 1962, S. 219. 41 Zit. in Hans Adler: Staatsschutz (wie Anm. 20), S. 27.

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die Schweiz und drohten jedem, der sich in diese Länder begeben würde, mit dem Verlust seines Heimatrechts.42 Wie scharf dieses Verbot durchgeführt wurde, belegt eine der wenigen Quellen, die wir in dieser Hinsicht haben, in der ein Drucker namens Wagner seine Zusammenstöße mit der Polizei folgendermaßen beschrieb: „Fünfmal hatte ich unterwegs Kondition bekommen, nirgends durfte ich bleiben. Überall fürchteten die Polizisten, einen Deutschen, der aus der Schweiz kommt, im Orte zu dulden, denn sie fürchten und hassen sie, weil die unruhigen, revolutionären Menschen sich nicht gern das Fell über die Ohren ziehen lassen.“43 Trotz dieses Wanderverbots schmuggelten viele Handwerkergesellen weiterhin verbotene Broschüren nach Deutschland ein und versuchten, dort zugleich neue Kontakte herzustellen.44 Aufgrund der Drohung einer militärischen Intervention von Seiten der deutschen Staaten verbot daher die Schweiz im Jahr 1834 alle Organisationen, die ihre Beziehungen zu anderen Ländern gefährden könnten. Dieses Verbot führte zu der sogenannten „Flüchtlingshatz“ und bewirkte, dass rund 100 deutsche Flüchtlinge und Handwerksgesellen, die in diesen Organisationen aktiv waren, nach Frankreich abgeschoben wurden. Die meisten dieser Abgeschobenen flohen von dort nach England und nahmen Kontakte zur dortigen Arbeiterbewegung auf. Aber einige von ihnen blieben in Frankreich und nahmen an den konfliktreichen Diskussionen innerhalb des Bunds der Geächteten teil.45 Bereits seit der Mitte der dreißiger Jahre kritisierten die unteren Ränge dieses Bunds immer stärker die hierarchische Struktur dieser Organisation, das heißt ihre bedingungslose Subordination dem anonym bleibenden „Brennpunkt“ gegenüber. Viele seiner Mitglieder fürchteten, dass man sie weiterhin in Revolten, wie dem gescheiterten Savoyerzug, einsetzen würde, die nichts mit Deutschland zu tun hätten. In den mittdreißiger Jahren gab daher dieser Bund seinen vier Rängen die neuen Bezeichnungen Nationalhütte, Kreislager, Lager und Zelte, um damit sein Deutschtum zu unterstreichen und sich zugleich von den bewaffneten Aufständen der Carbonari zu distanzieren.46 Viele Mitglieder begannen zugleich die geheimen Rituale dieses Bunds zu kritisieren, die ihnen in Anbetracht ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich auch andere Handwerker politisch zu motivieren, als unwichtig erschienen. Und diese Kritik verstärkte sich noch, als jene Flücht42 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 66. 43 Zit. in Werner Kowalski: Vorgeschichte (wie Anm. 40), S. 121. 44 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 61. 45 Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 55. 46 Ebd., S. 35 und 50 ff.



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linge des „Jungen Deutschland“ aus der Schweiz in Paris eintrafen, die wesentlich demokratischer gesinnt waren und denen Fragen der ökonomischen Gleichheit vordringlicher erschienen als irgendwelche politischen Umsturzbemühungen.47 Im Laufe der nächsten zwei Jahre löste sich daher dieser Bund allmählich auf. An seine Stelle trat 1838 eine neue Gruppierung, die sich erst Bund der Gerechtigkeit und dann Bund der Gerechten nannte. Eine Gruppe aus dem Umkreis der „Zelte“, die Friedrich Engels später als „die schlafmützigsten Elemente“ bezeichnete,48 existierte auch danach noch eine Weile, aber die meisten Geächteten und auch einige Mitglieder des Jungen Deutschland schlossen sich dem Bund der Gerechten an.49 Der Bund der Gerechten war zwar ebenfalls eine Geheimgesellschaft mit bestimmten Decknamen und verschwörerischen Taktiken, aber weniger hierarchisch organisiert. Er hatte drei Ränge: die Gemeinden, die Gaustände und die Zentralbehörde der Volkshalle, die von den Gauständen gewählt wurde. Anstatt sich wie im Bund der Geächteten einer von oben diktierten Gehorsamspflicht zu unterwerfen, konnte in diesem Bund jeder bei seinen Entscheidungen seinem eigenen Gewissen folgen.50 Der Bund der Gerechten hatte im Jahr 1842 in Paris sicher nicht mehr als 70 Mitglieder, jedoch in der Schweiz fast 800, während die Zahl seiner Mitglieder in den deutschen Staaten nicht zu ermitteln ist.51 Fast alle waren Handwerker, die etwa 20 Berufszweigen angehörten, wobei allerdings die Schneider und Tischler, die unter der fortschreitenden Industrialisierung am meisten zu leiden hatten, die größten Gruppen bildeten. Von den Intellektuellen schlossen sich nur wenige diesem Bund an. Zur Zentralbehörde

47 Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 37. 48 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten 1885. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke (wie Anm. 6), Bd. VIII, S. 577. 49 Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S.  56. Obendrein gab es eine kleine Geheimgesellschaft, die sich Bund der Deutschen nannte und in Paris von 1840– 1841 existierte. Sie bestand aus früheren Mitgliedern des Bunds der Geächteten und des Jungen Deutschland, die sich wie Theodor Schuster nicht dem Bund der Gerechten anschlossen. Sie hatte drei Ränge. Der höchste, genannt „Volksrat“, wählte sich selbst und verlangte eine uneingeschränkte Gefolgsamspflicht. Sein Ziel war einen bewaffneten Aufstand in Deutschland zu entfesseln. Vgl. Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 72. Außerdem gründeten einige Anhänger der Büchnerschen Gesellschaft der Menschenrechte 1838 in Darmstadt ein „Zelt“ des Bunds der Geächteten. Vgl. Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 67. 50 Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 60. 51 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 71.

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gehörten anfänglich vor allem frühere Mitglieder des Bunds der Geächteten, darunter der besonders aktive Schneidergeselle Wilhelm Weitling.52 In den Statuten des Bunds der Gerechten standen nicht mehr die putschistischen Strategien der Burschenschafter und Nationalrevolutionäre sowie irgendwelche übertriebenen Geheimhaltungstaktiken, sondern eher propagandistische Aktivitäten, mit denen man in die Öffentlichkeit einzugreifen versuchte, im Vordergrund. Aufgrund dieser Einstellung bemühte sich dieser Bund nicht nur, so viele Pamphlete wie nur möglich herauszubringen, sondern in Paris, Deutschland, der Schweiz, England, Belgien und später sogar in den Vereinigten Staaten auch eine Reihe Arbeiterbildungsvereine mit eigenen Bibliotheken zu gründen und zugleich in den Gesangs-, Turn- und Lesevereinen an Einfluss zu gewinnen.53 In den Briefen von Mitgliedern innerhalb Deutschlands wurde dabei immer wieder auf die Schwierigkeiten dieser Aktivitäten angesichts der polizeilichen Überwachung hingewiesen. So schrieb etwa ein Gerechter: „Jede Kegelbahngesellschaft wird polizeilich überwacht“, ja erklärte sogar, dass der Kommunismus, „solange er nicht als massenhafte Gestalt in das helle, lichte Leben hineintritt“, ein „Gespenst“ bleiben würde.54 Doch trotz all dieser Behinderungen gelang es diesem Bund, nicht nur Zweigstellen innerhalb der deutschen Staaten einzurichten, sondern auch in die Gesellenvereinigungen einzudringen, worauf sich die Behörden zu einer noch schärferen Überwachung entschieden. So hob etwa im Jahr 1845 die Berliner Polizei vier solcher Gemeinden auf, deren 32 Mitglieder auch Kontakte zu anderen Städten hatten. Im gleichen Jahr wurde in Hamburg eine solche Gemeinde verboten, die dort bereits seit 1839 existierte und enge Beziehungen zu dem ebenfalls aktiven Arbeiterbildungsverein hatte. 1848 hatte der Letztere etwa 600 Mitglieder, von denen die Hälfte Tischler waren.55 Mit Hilfe der Mitglieder des Bunds der Gerechten kam 1838 Weitlings Pamphlet Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte heraus, das als Programmschrift dieses Bunds erst 1847 vom Kommunistischen Manifest abgelöst wurde. 52 Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 60 f. 53 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 71 f., und Werner Kowalski: Vorgeschichte (wie Anm. 40), S. 156. 54 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten und der Bund der Gerechtigkeit, Teil 2. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2003, Nr. 2, S. 79. Zwischen 1840–1842 verhafteten Metternichs Agenten in den deutschen Staaten 197 Handwerksgesellen, die entweder Mitglieder des Bunds der Geächteten oder des Bunds der Gerechten waren. Vgl. Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 119. 55 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 78 ff.



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Schon das Motto von Weitlings Buch umschreibt höchst treffend die programmatische Intention dieser Vereinigung: „Die Namen Republik und Konstitution, / So schön sie sind, genügen nicht allein; / Das arme Volk hat nichts im Magen, / Nichts auf dem Leib und muss sich immer plagen; / Drum muss die nächste Revolution, / Soll sie verbessern, eine soziale sein.“56 Wenige Jahre später publizierte Weitling seine zwei anderen theoretischen Werke, die Garantien der Harmonie und Freiheit (1842) und Das Evangelium des armen Sünders (1845). Als ein ungewöhnlich begabter Autodidakt stützte sich Weitling dabei vornehmlich auf die neobabouvistischen Konzepte jener radikalen Schriften, die damals in Frankreich kursierten, aber zog neben alten Handwerkerlehren auch die Theorien französischer Sozialisten wie Henri Saint-Simon, Charles Fourier und Robert Lamennais heran. Wie einige der französischen Neobabouvisten, vornehmlich Auguste Blanqui und Armand Barbès in ihrer Geheimgesellschaft „Société des Saisons“, propagierte Weitling im „Bund der Gerechten“ einen sogenannten Handwerkerkommunismus, der durch eine Revolution herbeigeführt werden sollte.57 Weitling bediente sich dabei einer christlich-apokalyptischen Sprache, mit der die Arbeiterklasse durchaus vertraut war, die auf jene Vision hinauslief, welche Ernst Bloch später als eine „rote Gewerkschaft des Proleten Jesus“ charakterisierte.58 Wie Babeuf vor ihm teilte dabei Weitling die sozialen Klassen in „Arbeiter“ und „Müßiggänger“, das heißt in „Männer der Arbeit und Entbehrung“ einerseits und „Umsonstfresser und Faulenzerbrut“ andererseits, ein. Kein Wunder daher, dass später Heines Zeilen „Verschlemmen soll nicht der faule Bauch / Was fleißige Hände erwarben“ in der frühen Arbeiterbewegung so oft zitiert wurden. Mit anderen Worten, Weitlings Konzept der verschiedenen Klassen beruhte noch nicht auf wirtschaftsbezogenen Eigentumsvorstellungen.59 Daher liefen seine Theorien meist auf ein radikales Gleichheitskonzept hinaus, das sowohl rückwärts als auch vorwärts orientiert war. Für Weitling war das erwünschte Ziel einer Revolution die Rückkehr zu einer früheren christlichen Gütergemeinschaft. Davon erhoffte er sich ein Gleichgewicht von Arbeit und Freizeit, einen garantierten Lebensstandard, einen Wegfall der Geldwirtschaft und eine zentral geplante Produktion 56 Wilhelm Weitling: Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte. In: Werner Kowalski: Vorgeschichte (wie Anm. 40), S. 210. 57 Vgl. zum Einfluss des Neobabouvismus auf den Bund der Geächteten und den Bund der Gerechten Jacques Grandjonc: Ideologische Auseinandersetzungen im Bund der Gerechten (wie Anm. 32), S. 86. Vgl. auch Walter Schmidt (Hrsg.): Große Französische Revolution und revolutionäre Arbeiterbewegung, Berlin 1989. 58 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a. M. 1959, Bd. I, S. 674. 59 Werner Kowalski: Vorgeschichte (wie Anm. 40), S. 137.

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und Konsumtion, die zu einer allgemeinen Gleichheit führen würden. Aufgrund dieser Vorstellungen ging es dem Bund der Gerechten weniger darum, eine nationaldemokratische Revolution in Deutschland herbeizuführen, als um die Durchsetzung einer Wirtschaftsordnung, die auf dem Prinzip der Gleichheit und der damit verbundenen Freiheit beruhen würde.60 Nachdem Weitling 1840 in Paris den Massenstreik der Schneider, von denen ein Viertel deutscher Abstammung waren, unterstützt hatte, ging er ein Jahr später in die Schweiz, um den dortigen Bund auszubauen. In den nächsten zwei Jahren gab er dort das Monatsblatt Der Hülferuf der deutschen Jugend heraus, das im Gegensatz zu der Publikation Der Geächtete von und für Arbeiter und nicht von und für Intellektuelle geschrieben war. Seine monatliche Auflage betrug 1 000 Exemplare. 400 davon gingen nach Paris und weitere 100 nach London, während es wandernde Handwerksgesellen auch in die deutschen Staaten und nach Skandinavien einschmuggelten. 1843 wurde Weitling verhaftet, kam ein Jahr ins Gefängnis und wurde 1844 aus der Schweiz ausgewiesen. Später emigrierte er in die Vereinigten Staaten, wo er seine politischen Aktivitäten fortsetzte. In der Zwischenzeit, kurz bevor Weitling von Frankreich aus in die Schweiz ging, hatte Blanquis und Barbès’ Société des Saisons im März 1839 in Paris einen Aufstand organisiert, an dem auch einige Mitglieder des Bunds der Gerechten teilnahmen. Das Scheitern dieser Revolte markierte das Ende all jener revolutionären Geheimgesellschaften der dreißiger Jahre und zugleich das Ende jener vorübergehenden Allianz zwischen dem bürgerlichen Republikanismus und einem proletarischen Republikanismus bzw. frühen Kommunismus. Nach dem gescheiterten blanquistischen Aufstand verwarfen sowohl der Bund der Gerechten als auch einige französische Geheimgesellschaften, wie die Société travailleurs égalitaire und die Société communiste, alle Versuche, gesamtgesellschaftliche Insurrektionen zu provozieren und konzentrierten sich immer stärker darauf, ihre Ideen unter der Arbeiterschaft zu verbreiten.61 Diese Bemühungen erhielten eine ungewollte Hilfe dadurch, dass mehrere deutsche Mitglieder des Bunds des Gerechten, die an dem besagten Aufstand teilgenommen hatten, nach ihrer Ausweisung von Paris nach England gingen. Dazu gehörten unter anderem der ehemalige Burschenschafter und Frankfurter Wachenstürmer Karl Schapper, der Schumacher Heinrich Bauer und der Uhrmacher Josef Moll. Diese drei richteten in London ein neues Zentrum des Bunds der Gerechten ein und verwandelten diesen Bund 60 Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 68. 61 Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 101–103 und 132.



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zugleich aus einer deutschen in eine internationale Organisation. 1840 gründeten sie darauf in London einen Kommunistischen Arbeiterbildungsverein, der zwischen 1840 und 1846 von sieben auf 200 Mitglieder anwuchs, von denen 130 Deutsche waren. Innerhalb dieser beiden Organisationen gründete Schapper zugleich eine geheime Sektion des Bunds der Gerechten, um so die Kontakte mit Paris und der Schweiz aufrechtzuerhalten.62 Als Friedrich Engels Schapper, Bauer und Moll kennenlernte, schrieb er: „Ich lernte sie alle drei 1843 in London kennen; es waren die ersten revolutionären Proletarier, die ich sah.“ Obwohl Engels mit ihrem „bornierten Gleichheitskommunismus“ à la Babeuf nicht übereinstimmte, fand er sie dennoch recht eindrucksvoll.63

III Wie wir wissen, entwickelte sich in den vierziger Jahren neben dem Handwerkerkommunismus Weitlings und dem Bund der Gerechten auch jener von Marx und Engels vertretene Kommunismus, der den Motor der Geschichte vor allem in den Eigentumsverhältnissen und den sich daraus ergebenden Klassenkämpfen sah. Während Weitlings christlicher Sozialismus auf dem Motto „Alle Menschen sind Brüder“ beruhte, gebrauchten Marx und Engels für ihren militanten Sozialismus, der von der ökonomischen ������������������������������������������������������ Analyse der jeweiligen Klassenkämpfe ausging, lieber den Slogan „Proletarier aller Länder, vereinigt euch.“64 Dass sich viele Mitglieder des Bunds der Gerechten den Ideen von Marx und Engels zuwandten, geschah zum Teil durch die Revolte der schlesischen Weber im Juni 1844, auf die eine Reihe weiterer Unruhen in mehreren deutschen Städten folgten. Wie schon der Streik der Seidenweber in Lyon lösten diese Ereignisse in den besitzbürgerlichen Schichten einen tiefgehenden Schock aus, den einer der Zeitgenossen in die Worte fasste: „Inmitten der empörten Weberhaufen hat man das Schreckgespenst des Kommunismus zu erblicken geglaubt.“65 Dies war – nach der Gründung des Bunds der Gerechten – die erste bedeutsame Handwerkerrevolte in Deutschland, in der sich andeutete, dass die industrielle Entwicklung, indem sie die Notlage 62 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 69, und Wolfgang Schieder: Anfänge (wie Anm. 10), S. 61. 63 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 48), S. 578– 579. 64 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung (wie Anm. 58), Bd. I, S. 672. 65 Zit. in Wolfgang Fritz Haug: Historisch-Kritisches Wörterbuch (wie Anm. 4), Bd. V, S. 64l.

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der Handwerker verschärfte, zugleich das revolutionäre Potential innerhalb dieser Schichten verstärkte. Daher bemühten sich die Mitglieder dieses Bunds danach immer stärker, ihre Theorien in den „niedrigarbeitenden“ Schichten zu verbreiten. Und es ist ebenso bedeutsam, dass im August 1844 Marx und Engels ihre Zusammenarbeit in Paris begannen.66 Die Kontakte zwischen den Gerechten und diesen beiden Gruppen begannen im Jahr 1845, als die Mitglieder des Londoner Bunds Marx und Engels aufforderten, ihrer Organisationen beizutreten.67 Aus Abneigung gegen alles äußerliche Drum und Dran, was meist mit Geheimgesellschaften verbunden war und was Marx als „abergläubisch autoritär“ bezeichnete, weigerten sie sich zuerst.68 1846 gründeten sie daraufhin in Brüssel ihr Kommunistisches Korrespondenzkomitee und hielten zugleich ihre Kontakte zum Bund aufrecht. Im Frühjahr 1846, wie sich Engels erinnerte, besuchte Josef Moll ihn und Marx in Brüssel und bat sie das zweitemal, dem Bund beizutreten, zumal er mit ihren Ansichten übereinstimmte, dass sich der Bund von allen Relikten der alten Verschwörungstradition trennen solle. Falls sie dem Bund beitreten würden, erklärte er, könnten sie ihre Ideen in einem Manifest zusammenfassen und obendrein die Führung dieser Organisation übernehmen. Aufgrund dieser Zusicherungen schlossen sich Marx und Engels dem Bund an, ja Engels vertrat im Sommer 1847 auf dem ersten Bundeskongress dieser Organisation in London die Pariser Gemeinden. Der erste Punkt auf der Tagesordnung war die Reorganisation dieses Bunds. Alles, was noch an ältere Verschwörertaktiken erinnerte, verschwand. Nachdem der Bund seinen Namen in „Bund der Kommunisten“ geändert hatte, wurde er in Gemeinden, Kreise, leitende Kreise und eine Zentralbehörde gegliedert. Er war jetzt eine demokratische, aber zentralisierte Propagandaorganisation, deren Hauptvertreter gewählt, aber auch abgewählt werden konnten. Im Gegensatz zu den Statuten der älteren Bünde, welche vor allem die Durchsetzung republikanischer Regierungsformen und weniger die soziale Gleichheit befürwortet hatten, entschied sich der Bund der Kommunisten für folgende Zielsetzungen: „Der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätzen beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum.“69 66 Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 187. 67 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 74. 68 Zit. in Eric Hobsbawm: Primitive Rebels (wie Anm. 1), S. 165. 69 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 48), S. 584.



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Im November/Dezember 1847 nahm Marx an dem zweiten Kongress dieses Bunds teil, wo man ihn und Engels aufforderte, jene Schrift zu verfassen, die 1848 unter dem Titel Manifest der kommunistischen Partei erschien und später weltberühmt werden sollte. Während sich Weitling zehn Jahre zuvor gegen den Kampf für demokratische Rechte ausgesprochen hatte, hieß es in diesem Manifest, dass die Kommunisten mit den Bürgerlichen gegen den Absolutismus kämpfen sollten, jedenfalls solange dieses Bürgertum eine revolutionäre Haltung einnehme, die sowohl republikanische als auch soziale Forderungen unterstütze.70 Mit anderen Worten, das Manifest verwarf alle Formen des Sektierertums. Es war keine Programmschrift für einen kleinen Bund, sondern wandte sich an alle veränderungsbereiten Schichten der Gesellschaft.71 Zu diesem Zeitpunkt hatte der Bund der Kommunisten etwa 500 Mitglieder, von denen die meisten Handwerksgesellen waren, wobei wiederum die Schneider die Hauptgruppe bildeten.72 Obwohl das nicht viele waren, hatte Georg Herwegh sicher Recht, wenn er in weiser Voraussicht sagte: „Spottet des Völkleins nicht! Es hat ja den römischen Adler / Eine geringere Zahl solcher Apostel gestürzt.“73 Die Revolution von 1848/49 erlaubte schließlich Flüchtlingen, darunter Marx, Engels, Weitling und Venedey, nach Deutschland zurückzukehren und in aller Offenheit an den politischen Ereignissen teilzunehmen. Im Frankfurter Paulskirchenparlament repräsentierte Wilhelm Wolff diesen Bund, der sich der radikalrepublikanischen Fraktion Donnersberg anschloss. Andere Mitglieder des Bunds der Kommunisten, deren „Zentralbehörde“ nach Köln übersiedelte, setzten ihre Publikationstätigkeit fort, deren wichtigstes Organ die von Marx herausgegebene Neue Rheinische Zeitung war, und unterstützten die Schaffung neuer Arbeiterassoziationen. Von besonderer Wichtigkeit war dabei die Allgemeine Deutsche Arbeiterverbrüderung, die 1848 als die erste überregionale Organisation gegründet wurde, der sich Arbeiter aus allen Bereichen anschlossen und die bald Tausende von Mitgliedern hatte, was den ersten Anstoß zur Entwicklung des Gewerkschaftswesens in Deutschland gab. Mindestens 48 seiner Gründungsmitglieder gehörten zum Bund der Kommunisten und von diesen hatte sich bereits

70 Claus-Dieter Storm: Verfolgt und geächtet (wie Anm. 8), S. 79. 71 Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 399. 72 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 48), S. 580, und „Bund der Kommunisten“ auf: vom 20. April 2011. 73 Zit. in: Otto Busch: Die frühsozialistischen Bünde (wie Anm. 32), S. 193.

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die Hälfte im Bund der Geächteten oder im Bund der Gerechten engagiert.74 Seine Mitglieder nannten sich nicht mehr Handwerker, sondern Arbeiter, da sie bereits erkannten, dass sie den Rest ihres Lebens als Lohnarbeiter verbringen würden.75 Weitling sah in dieser Organisation einen legitimen Nachfolger der älteren Bünde und schrieb später: „Damals hatten wir keine Pressfreiheit wie heute und lebten zerstreut unter Fremden. . . . Jetzt haben wir Pressfreiheit, wir leben mit Millionen deutschen Arbeitern zusammen, wir haben Hunderte von verschiedenen Vereinen gegründet.“76 Viele Mitglieder dieses Bunds, darunter Engels, kämpften bei den Maiaufständen von 1849 für die Verteidigung demokratischer Rechte. Als diese schließlich durch preußische Truppen niedergeschlagen wurden, setzte eine neue Periode der Reaktion und Unterdrückung ein. Fast die Hälfte der Mitglieder des Bunds der Kommunisten wich daraufhin ins Exil aus. Marx und Engels gingen im August 1849 wieder nach London zurück. Von denen, die in Deutschland blieben, wurden mehrere verhaftet oder umgebracht.77 Zehntausende, darunter 80 000 Badenser, emigrierten zwischen 1849 und 1851 in die USA.78 Wieder andere, aus Furcht eingekerkert zu werden, zogen sich in den Untergrund zurück, von wo aus sie weiterhin auf Arbeiterorganisationen Einfluss zu nehmen versuchten. Angesichts dieser revolutionären Situation, in der die proletarische Bewegung fast alle Möglichkeiten einer neuen Organisation einbüßte, schrieb Marx verbittert: „Presse, Redefreiheit und Assoziationsrecht, d. h. die legalen Mittel der ParteiOrganisationen“ seien erst einmal verloren.79 Lediglich die Fraktion Schapper/Willich, die sich vom Bund der Kommunisten abgespalten hatte, versuchte im September 1850 noch einmal eine carbonaristische Geheimgesellschaft zu gründen, um eine neue Revolution anzustiften. Doch das war ein kurzlebiger Versuch, der scheiterte.80 Kurz darauf fiel den Behörden eine Fülle von Dokumenten des Bunds in die Hand, was dazu führte, 74 Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 81. 75 Dieter Langewiesche: Deutsche Arbeiterbewegung zwischen Revolution und Reichsgründungsära. In: Ergebnisse. Hefte für historische Öffentlichkeit, 1980, H. 12, S. 5–9. 76 Zit. in Joachim Höppner und Waltraud Seidel-Höppner: Der Bund der Geächteten (wie Anm. 28), S. 82. 77 Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 595. 78 Walter Grab und Uwe Friesel: Noch ist Deutschland nicht verloren. Unterdrückte Lyrik von der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung. Texte und Analysen, Berlin 1980, S. 267. 79 Karl Marx: Enthüllungen (wie Anm. 6), S. 413. 80 Martin Hundt: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 668 f.



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dass 1851 in Köln und anderen Städten, darunter Paris, eine größere Anzahl von Kommunisten verhaftet wurde. In Köln wurden daraufhin im Herbst 1852 elf führende Mitglieder dieses Bunds im sogenannten Kölner Kommunistenprozess des Hochverrats, das heißt des versuchten Umsturzes der Regierung angeklagt. Unter den Angeklagten befanden sich neben einem Arzt und einem Journalisten auch ein Schneider und andere Arbeiter.81 Sieben wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, einem wurde Majestätsverbrechen vorgeworfen, einer starb wegen der miserablen Verhältnisse im Gefängnis und zwei gingen straffrei aus.82 Nach dieser Niederlage löste sich der Bund der Kommunisten im November 1852 auf, da Marx einsah, dass er in der gegenwärtigen Form in Europa keine nützliche Rolle mehr spielen konnte. Anschließend konzentrierten sich seine Führer erst einmal eine zeitlang auf theoretische und journalistische Arbeiten. In seinem Pamphlet Enthüllungen über den Kommunistenprozeß zu Köln nahm Marx die Abspaltung der Fraktion Schapper/Willich und den Kölner Prozess zum Anlass, über die Ziele der früheren Geheimgesellschaften sowie des Bunds der Kommunisten im Rahmen der proletarischen Bewegung zu reflektieren. Dabei kam er zu dem Ergebnis, dass es für die proletarische Bewegung nach 1848 nur einen Weg gebe, nämlich den der „geheimen Verbindung“.83 Er warf dabei jenen, die sich abgespalten hatten, eine bedeutungslose „Wirtshauspolterei“ vor, ja kritisierte sie scharf für ihre Insurrektionsvorstellungen, die keinerlei Basis in breiteren Gesellschaftsschichten hätten und daher notwendigerweise erfolglos blieben. Dementsprechend schrieb er: „An die Stelle der kritischen Anschauung setzte die Minorität eine dogmatische, an die Stelle der materialistischen eine idealistische. Statt der wirklichen Verhältnisse wird ihr der bloße Wille zum Triebrad der Revolution.“84 Im Gegensatz dazu fand es Marx besser, dass sich jene Mitglieder des Bunds, die nach 1848 in Deutschland geblieben und in den Untergrund ausgewichen waren, weiterhin bemühten, ihre Ideen in den verschiedenen Arbeiter­ assoziationen zu verbreiten.85 Statt also einen sofortigen Umsturz der Regierung ins Auge zu fassen, setzte er sich eher dafür ein, eine proletarische Partei zu gründen, die eine solide Unterstützung von Seiten der breiten Massen habe. Um es in seinen eigenen Worten zu sagen: „Der ‚Bund der Kommunisten‘ war daher keine konspiratorische Gesellschaft, sondern eine Gesellschaft, die die Organisation der 81 Wilhelm Pieper: The Trial of the Communists at Cologne. In: Karl Marx und Friedrich Engels (wie Anm. 6), S. 527. 82 Martin Hundt: Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 15), S. 761–764. 83 Karl Marx: Enthüllungen (wie Anm. 6), S. 413. 84 Ebd., S. 372 und 375. 85 Vgl. Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 48), S. 590.

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proletarischen Partei im Geheimen bewerkstelligte, weil das deutsche Proletariat igne et aqua, von Schrift, Rede und Assoziation öffentlich indiziert ist. Wenn eine solche Gesellschaft konspiriert, so geschieht das nur in dem Sinne, wie Dampf und Elektrizität gegen den Status quo konspirieren.“ Im Gegensatz zu früheren revolutionär gesinnten Geheimgesellschaften seien daher die Kommunisten, die man in die Illegalität abgedrängt hatte, die „Oppositions-Partei der Zukunft“.86 �������� Auch Engels schrieb – in Übereinstimmung mit Marx – in seinem Essay über den Kölner Kommunistenprozess, die Kommunisten hätten „a wider and more elevated purpose, which knew, that the upsetting of an existing Government was but a passing stage in the great impending struggle, and which intended to keep together and to prepare a party, whose nucleus they formed, for the last, decisive combat which must one day or another crush forever in Europe the domination, not of mere ‚tyrants‘, ‚despots‘ and ‚usurpers‘, but of a power far superior, and far more formidable than theirs; that of capital over labor“.87 Kurzum, die Bestrebungen der frühen Arbeiterbewegung hatten aufgehört, die Angelegenheit kleiner, mit verschwörerischen Taktiken operierender Geheimgesellschaften zu sein. An ihre Stelle trat jetzt das Bemühen, eine in ganz Europa in aller Offenheit auftretende Arbeiterpartei aufzubauen, obwohl auch in der Folgezeit viele Zweige dieser Arbeiterpartei von reaktionären Regimen wiederum zu Untergrundaktivitäten gezwungen wurden. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass im Laufe der hier aufgezeigten Entwicklungen an die Stelle der von den Carbonari übernommenen geheimgehaltenen Verschwörerstrategien des Bunds der Geächteten, der eher pragmatische Rationalismus des Bunds der Kommunisten trat. Aufs Große und Ganze gesehen, führte das zu einem Rückgang der bürgerlichen Verschwörer zugunsten von Handwerkern und Arbeitern und damit zu einer Proletarisierung der bisherigen Revolutionstheorien. Eric Hobsbawm schrieb über diese Entwicklung: „The proletarian revolutionary (or the intellectual who identified with him) was, by revolutionary definition, swimming in and with the stream of history and the proletariat. If a worker, he merely carried out in a more efficient way what he and other workers – provided they were ‚class-conscious‘ – felt to be the obvious strategy of their social situation. . . . If an intellectual, he had only to look at the workers to feel himself, though individually declassed, to be part of a ‚natural‘ collective. . . . Marx did not merely oppose the secret brotherhood because he had a natural and understandable distaste for ham acting in politics, and thus for people like Maz86 Karl Marx: Enthüllungen (wie Anm. 6), S. 413–414. 87 Friedrich Engels: The Late Trial at Cologne. In: Karl Marx und Friedrich Engels (wie Anm. 6), S. 436.



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zini, but because his kind of movement created stronger emotional commitments among a larger number of people than the quasi-masonic conspiracies.“88 Die ������� Geschichte all dieser Entwicklungen war daher eine mit vielen Verwicklungen und Sackgassen. Ja, selbst Marx schrieb einmal in diesem Zusammenhang: „Man muss gestehen, que tout cela n’est pas bien claire.“89 Dennoch waren es diese kleinen Geheimgesellschaften, die mit ihren revolutionären Aktivitäten jener Bewegung vorarbeiteten, die später zur Ersten Internationale und jenen größeren Arbeiterparteien führten, die sich als sozialdemokratisch oder kommunistisch ausgaben. Engels fasste 1885 den Erfolg dieser langsamen, geduldigen Bemühungen beim Aufbau einer „Oppositions-Partei der Zukunft“ in folgenden Worten zusammen: „Die Lehren, die der Bund von 1847 bis 1852 vertrat und die damals als die Hirngespinste extremer Tollköpfe, als Geheimlehre einiger zersprengter Sektierer vom weisen Philisterium mit Achselzucken behandelt werden durften, sie haben jetzt zahllose Anhänger in allen zivilisierten Ländern der Welt.“90 Zugegeben, die folgende Weltgeschichte der kommunistischen Arbeiterbewegung sollte eine des Heroismus und der Tragik, der Selbstlosigkeit und der Brutalität, der Illegalität und des Machtstrebens werden. Aber das ist eine andere, noch komplexere Geschichte. Aus dem Amerikanischen von Jost Hermand

88 Eric Hobsbawm: Primitive Rebels (wie Anm. 1), S. 172. 89 Karl Marx: Enthüllungen (wie Anm. 6), S. 417. 90 Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten (wie Anm. 48), S. 592.

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Enthüllung und Geheimhaltung Zur Bildsymbolik der Rosenkreuzer und Freimaurer Ein Motto der Freimaurer lautet: „Vide, Aude, Tace“ ­­– „sieh, hör und schweig!“1 Demgemäß verstehen sich viele Freimaurer in Deutschland heute nicht als eine Geheimgesellschaft, sondern als eine „diskrete“ oder „verschwiegene“ Gesellschaft. In der Tat haben in der Geschichte der organisierten Freimaurerlogen seit der Gründung der ersten solchen Loge, der Ersten Großloge von England im Jahre 1717 in London und Westminster, sichtbare Symbole immer eine wichtige Rolle gespielt: Symbole und Embleme, die in der nur Adepten zugänglichen sogenannten „Tempelarbeit“ in ihrer Bedeutung erklärt und interpretiert wurden, und die neben der gemeinschaftsbildenden Funktion eine Art mnemotechnischer Funktion hatten und haben. Sie sind auf Schürzen und Meisterteppichen abgebildet, auf Ringen, Abzeichen, den Bijoux der jeweiligen Logen, sowie auf Geschirr, Gläsern und anderen rituellen Gegenständen, die während der Zusammenkünfte der Brüder zum Einsatz kommen. Mitglieder beschreiben die Freimaurerei deshalb als ein „in Allegorien gehülltes und mit Symbolen illustriertes Moralsystem“.2 Die Bedeutung vieler solcher heute noch verständlicher Symbole ist nicht schwer zu erklären, falls sie aus einer langen ikonografischen Tradition stammen. Andere Bilder hingegen wirken rätselhaft und bedürfen spezieller Auslegung. Einige stammen aus einer allegorischen Tradition, die vielen heutigen Betrachtern nicht bekannt ist, was oft zu recht abstrusen Annahmen und Vorwürfen führt, die von Konspirationstheorien bis hin zum Satanismusverdacht reichen können. Aber auch die bekannten Bilder – wie etwa das allsehende Auge – werden häufig missverstanden bzw. allzu schnell mit einer freimaurerisch-verschwiegenen „Botschaft“ in Verbindung gebracht, besonders wenn sich die Betrachter nur oberflächlich mit sogenannt „esoterischer“ Symbolik beschäftigt haben, über die auf einschlägigen Seiten und Blogs im Internet in geradezu abstruser Weise spekuliert 1 Motto der United Grand Lodge of England, der Vereinigten Großloge von England, auf deren Wappen. 2 Jürg von Ins: „Zur Frage nach den Quellen der freimaurerischen Symbolik.“ In: Theo Gantner (Hrsg.): Freimaurer, Basel 1984, S. 29, und Arthur Edward Waite: A New Encyclopedia of Freemasonry, New York 2007, S. 36.

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wird. Beliebtes Ziel solcher Angriffe ist das Siegel der USA mit dem allsehenden Auge im Dreieck auf einer Pyramide, wie es auf dem Ein-Dollar-Schein abgebildet ist.3 Ähnlich verhält es sich mit der reichen Tradition der Rosenkreuzersymbolik und ihrer Rezeption, besonders der Traktate, die illustriert waren oder denen allegorische Titelkupfer vorangestellt waren. Diese hermetischen Darstellungen, oft alchemistischen Inhalts, gaben zu Spekulation und Misstrauen Anlass und übten eine große Faszination aus. Auch heute erfreuen sich diese dunklen und rätselhaften symbolischen Bilder wieder großer Beliebtheit in Bildsammlungen der elektronischen Popkultur auf Blogs und in Tumblr-Archiven.4 Auch vom Beginn der Rosenkreuzerbewegung5 im frühen 17. Jahrhundert an spielte eine hermetische Bildsymbolik eine wichtige Rolle. Sie steht im Dienste einer gezielten Enthüllungs- und Verhüllungstaktik. Einerseits erklärten sich die anonymen Autoren der frühen Pamphlete Fama Fraternitatis und Confessio Fraternitatis6 als eine Geheimgesellschaft, andererseits stellt eben die Veröffentlichung der Ziele dieser geheimen Gruppe ein faszinierendes Dilemma dar: Leser dieser Traktate erfahren gerade durch deren Publikation über die Existenz dieser angeblich geheimen Kreise, in die sie möglicherweise aufgenommen werden könnten. Es wird dabei der Schleier immer nur ein klein wenig gelüftet, gerade genug, um Interesse zu erzeugen, aber ohne die Geheimnisse wirklich preiszugeben. Als Medien dienen dabei literarische Allegorien und Allegoresen wie im Beispiel der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz7 oder der emblematischen Bildersprache wie in Michael Maiers Atalanta Fugiens.8 Spätere Publikationen wie die ab 1785 erschienenen illustrierten Bände Geheime Figuren der Rosenkreuzer aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert: aus einem 3 Ein Beispiel unter vielen: „Satan on Our Dollar! The Masonic Seal of America“ (www.jesusis-savior.com). 4 Z. B.: illuminatedthought.tumblr.com; theworkingtools.tumblr.com; ghostwhitebones. tumblr.com; 2know2will2dare2keepsilent.tumblr.com; und unzählige mehr. 5 Zur Rosenkreuzerbewegung siehe: Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Eso­terische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002, S. 60 ff. 6 ������������������������������������������������������������������������������������ Allgemeine und General Reformation der gantzen weiten Welt. Beneben der Fama Fraternitatis, Des Löblichen Ordens des Rosenkreutzes, an alle Gelehrte und Häupter Europae geschrieben, Kassel 1614, und Confessio Fraternitatis R.C. Ad Eruditos Europae, Kassel 1615. 7 Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz. Anno 1459, Straßburg 1618. 8 ���������������������������������������������������������������������������������������� Michael Maier: Atalanta Fugiens, hoc est emblemata nova de secretis naturae chymica, Oppenheim 1618.



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alten Mscpt. (siehe Umschlagbild) versuchen, diese Geheimsymbolik offenzulegen und einem breiten Publikum die Bedeutungen der hermetischen Embleme zu vermitteln.9 Während das Hören einigermaßen leicht kontrolliert werden kann – nur eingeladene Neophyten sind zugelassen, sich im Tempel und Versammlungsraum aufzuhalten, während der Meister vom Stuhl die Instruktionen vorträgt – sind die Bilder und ihre möglichen Interpretationen schwerer unter Kontrolle zu halten, da sie auch vielen uneingeweihten Personen zumindest oberflächlich zugänglich sein können. Der generellen Frage, wie sich die Geheimhaltungspflicht mit der Veröffentlichung von Bildern verträgt, die mehr oder weniger verschlüsselt wesentliche Inhalte der Freimaurerideologie repräsentieren und preisgeben, soll im Folgenden nachgegangen werden. Wie verhält sich die exoterische Darstellung hermetischer Zeichen zur esoterischen Verhüllung ihrer tieferen Bedeutung? Welche Rolle spielen dabei die bildrhetorischen Mittel und Formen, die zur Verschleierung bzw. Enthüllung eingesetzt werden? Eine besondere Form von Bildern mit hermetischer Symbolik, die hier untersucht werden soll, bilden spezielle Freimaurer-Diaserien für die Laterna Magica aus dem 19. Jahrhundert, die in öffentlichen sowie semi-öffentlichen Veranstaltungen zur Schau gestellt wurden. Aufgrund der Quellenlage – die meisten dieser Bilderserien, die heute in Archiven erhalten sind, wurden von amerikanischen Firmen hergestellt und vertrieben – beschäftigt sich dieser Beitrag vornehmlich mit diesen Beispielen. Interessanterweise werden diese Bilderserien zur Initiation der verschiedenen Grade heute von deutschen Freimaurerlogen mittels elektronischer Kopien wieder vorgeführt.10 Laternenbilder solcher Serien finden sich heute vielfach mehr oder weniger vollständig in Archiven und privaten Sammlungen, wenn auch in der Regel selten alle drei Zyklen (Lehrling, Geselle, Meister) vollständig sind. Das mag zum einen an der Anfälligkeit der Glasplatten liegen, die bei häufigem Gebrauch und Transport zerbrechen oder verloren gehen konnten, zum anderen mag es aber auch viele Gelegenheiten gegeben haben, zu denen man nur ausgewählte Einzelbilder aus den Serien vorführte. Auch konnten offenbar viele der maurerischen Laternenbil9 ������������������������������������������������������������������������������������ Geheime Figuren der Rosenkreuzer, aus dem 16ten und 17ten Jahrhundert: aus einem alten Mscpt., Altona, 1785. Digitale Ausgabe: http://digital.library.wisc.edu/1711.dl/HistSciTech.GeheimeFiguren. Siehe Umschlagbild. 10 Siehe: freimaurer-wiki.de: Günther Holzhey, Altstuhlmeister der Loge Zu den drei Rosen im Remstal i. O. Schwäbisch Gmünd, Leiter des Freimaurer-Museums in Nördlingen, nutzt amerikanische Diaserien zu Vorträgen. Siehe: freimaurer-wiki.de/index.php/Ditmarsia.

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der, die für die Instruktionsserien produziert wurden, auch als Einzelbilder oder kleine Serien erworben werden. Dies gilt besonders für die Embleme und Symbole, die nicht spezifisch freimaurerisch waren, sondern einem breiten Publikum verständlich waren, wie etwa Personifikationen der Kardinaltugenden oder der Freien Künste sowie biblische Szenen. Umgekehrt wurden Serien biblischer Bilder in freimaurerische Vorführungen integriert, wo Bedarf und Interesse bestand. Embleme von Tod, Vergänglichkeit und Regeneration, die zum Standardrepertoire der Meister-Serien gehörten, ob nun Sarg, Sanduhr, Sichel oder ein neusprießender Zweig auf einem toten Baum oder Baumstumpf, konnten selbstverständlich nicht nur für den symbolischen Tod und Auferweckung im Initiationsritual stehen, sondern genausogut für eine allgemeine moralische Betrachtung instrumentalisiert werden. Da Laternenbilder oft als Begleitprogramm zu Liedvorträgen oder Konzerten benutzt wurden, sind solche Bilder, deren Themen einen Bezug zu Liedtexten und Inhalten der vorgetragenen Hymnen aufwiesen, zur begleitenden Projektion genutzt worden. Moralische Unterweisung durch Allegorien und Embleme war nicht auf Freimauerversammlungen beschränkt, sondern stellte eine typische Rechtfertigung für die Massenunterhaltung durch das neue Medium dar. Die Technik der Laterna Magica11 entwickelte sich aus der frühen camera obscura wie sie beispielsweise von Athanasius Kircher in seiner Ars Magna Lucis Et Umbra beschrieben wird.12 Seit Christiaan Huygens‘ Erfindung der Laterna Magica um 1650, Athanasius Kirchers optischen Untersuchungen und Vorführungen und seit Thomas Walgenstens Demonstration seiner Laterna Magica 1670 am Hof des dänischen Königs Frederik III., gehören emblematische „Moralbilder“ zum Standardrepertoire von Laterna Magica-Projektionen.13 Bilder, die „magisch“ auf eine Wand projiziert werden und mittels optischer Tricks auch sich bewegende Bilder und Gestalten einschließen können, bilden die Vorläufer des modernen Kinos und wurden besonders im 18. und 19. Jahrhundert in ganz Europa und auf dem nordamerikanischen Kontinent populär. Sie waren ein wichtiger Teil der Massenunterhaltung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Werbungen und Anzeigen der Vorführer versprachen dem Publikum „gruselige Schauer“ und „mysteriöse Geistererscheinungen in Bildern aus Rauch“. 11 Deac Rossell: Laterna Magica – Magic Lantern, Stuttgart 2008, und Richard Crangle, Mervyn Heard (Hrsg.): „Devices and Desires.“ Realms of Light, London 2005. 12 Athanasius Kircher: Ars magna lucis et umbrae, Rom 1671, und Caspar Schott: Magia Universalis Naturae Et Artis, Würzburg 1657. 13 David Robinson, Stephen Herbert und Richard Crangle (Hrsg.): Encyclopaedia of the magic lantern, London 2001, S. 318 f.



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Vorbehalte gegen das „magisch” produzierte Bild und die daraus resultierende Furcht vor „Teufelszeug“ manifestiert sich zum Beispiel in einem Emblem aus Johann Arndts Büchern vom Wahren Christentum (1606–1610) mit dem Motto „Verfinstert und verkehrt“ (Illustration 1). Die Pictura dieses Emblems zeigt ein von der camera obscura erzeugtes Bild und kommentiert dies folgendermaßen: „Da geschieht es, daß die Leute, die auf der Gasse vorübergehen, in der Stube gesehen werden, aber doch also, daß sie ganz verkehrt auf den Köpfen gehen. Hiermit wird angedeutet, daß der Mensch durch Illustration 1: Emblem „Verfinstert und verkehrt“ den kläglichen Sündenfall in seinem mit der Darstellung einer camera obscura Herzen und Verstand, leider! ganz verfinstert, ja ein verkehrtes Bild worden, nämlich aus dem Bilde Gottes ein Bild des Satans.“14 Diese Skepsis gegenüber dem projizierten Bild steht in der philosophischen Tradition der Skepsis gegenüber den Sinneswahrnehmungen und ihrer Unzuverlässigkeit, doch hier kommt noch ein moralischer Aspekt hinzu, der solchen Projektionen und Sinnestäuschungen einen satanischen Ursprung beimisst. Da die Mehrzahl der wandernden Vorführer an solcher magischen Bilder aus Schall und Rauch vor allem an den Effekten interessiert war, sowie daran, ein sensationshungriges Publikum in den Bann zu ziehen und daraus schnelle Gewinne zu erzielen, blieben die Möglichkeiten des neuen Mediums, Inhalte zu vermitteln, in weiten Teilen ungenutzt, was zum schlechten Ruf der Scharlatane und Marktschreier beitrug. „Ich bin erst zufrieden, wenn meine Zuschauer unter Zittern und Schaudern ihre Augen verschließen aus Furcht vor den Geistern und Teufeln, die auf sie zuschießen, und sich selbst die Mutigsten in den Armen eines 14 Johann Arndt: Bücher vom wahren Christenthum, Frankfurt a. M., 1715, S. 8. Vgl. Irmgard Hampp: „Du sollst Dir kein Bildnis machen...“ Der schwäbische Pietismus und die frühe Photographie. In: Beiträge zur Film-Bild-Ton-Arbeit der Landesbildstellen Baden und Württemberg 1964, S. 42–44.

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Skeletts wiederfinden“, so warb Etienne-Gaspard Robert – besser bekannt als Robertson – im späten 18. Jahrhundert für seine Vorführungen sogenannter „Phantasmagorien“.15 Notorisch für seine Vorführungen mit der Laterna Magica war der Leipziger Kaffeehausbetreiber und Geisterbeschwörer Johann Georg Schrepfer, ein selbsternannter Logenmeister der sogenannten „Loge der ächten Maurerey“. Mit seinen rosenkreuzerischen „Arbeiten” und „Geister”-Zitationen versuchte Schrepfer Mitglieder der offiziellen Leipziger Tempelherren-Loge „Minerva zu den drey Palmen“ abzuwerben. Da diese ihm als Scharlatan, Schwärmer und Schwindler die Aufnahme verweigert hatten, begann er auch über öffentliche Aushänge deren „Geheimnisse“ zu veröffentlichen. Schrepfers schillernde Persönlichkeit faszinierte die Zeitgenossen, von Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai bis zu Schiller und Goethe. Öffentliche Laterna Magica-Präsentationen dienten jedoch nicht allein der Unterhaltung, sondern oft auch der Erziehung und Bildung eines breiten Publikums von Kindern und Erwachsenen, die mit faszinierenden Bildern erreicht werden sollten. Man ließ sich mit Hilfe der Laternenbilder an exotische Orte transportieren, sah die Weltwunder, Landschaften und Menschen fremder Länder. Auch wissenschaftliche Experimente und rudimentäre Einführungen in wissenschaftliche Themen gehörte zum Repertoire der Laterna Magica-Vorführer, sie bildeten sozusagen die „Powerpoints“ des 18. und 19. Jahrhunderts. Für Kinder wurden nicht nur Sets von Märchenbildern produziert, sondern auch kleine Laternenmodelle als Spielzeuge, oft mit einem pädagogischen Aspekt wie etwa in der Darstellung einer Lese- und Schreiblektion mittels Laternenbild. Im ausgehenden 19. Jahrhundert war die Laterna Magica zu einem Massenmedium geworden, und zog ein großes Publikum zu Vorführungen verschiedenster Art an. Man schätzt, dass allein in den USA etwa 150 000 Besucher pro Jahr in Kirchen oder Stadthallen Laterna Magica Shows ansahen. Es entwickelte sich ein reger Handel mit Laternenbildern, meist aus Glas und handbemalt, die von Firmen wie Underwood und Keystone View Company hergestellt wurden, die sich auf diese Form der Massenunterhaltung spezialisierten, zunächst mit handbemalten Glasplatten, dann mit neuen Technologien, die es erlaubten, Fotografien auf Glas zu übertragen, die dann oft von Hand koloriert wurden. 15 Terry Castle: „Phantasmagoria and the Metaphorics of Modern Reverie.“ In: The Female Thermometer, New York 1995, S. 140–167: „I am only satisfied if my spectators, shivering and shuddering, raise their hands or cover their eyes out of fear of ghosts and devils dashing towards them; if even the most indiscreet among them run into the arms of a skeleton!“



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Wie zeitgenössische Annoncen zeigen, wurden die Apparate komplett mit einer Grundausstattung von einer Auswahl Laternenbildern und Eintrittskarten verkauft. Wandernde Vorführer reisten damit von Stadt zu Stadt und Dorf zu Dorf, um mit immer neuen Bilderserien und Vorträgen kleinere und größere Gruppen zu unterhalten, sowohl Kinder als auch Erwachsene. Gemalte oder fotografische Bilder von exotischen Orten erlaubten den Zuschauern virtuelle Reisen in die Ferne. Missionsgesellschaften erwarben oder produzierten Bilderserien mit biblischen Motiven oder Abbildungen von afrikanischen oder indischen Missionsstationen, um Spenden zu sammeln. Die Bestseller der missionarischen und moralischen Literatur, wie The Pilgrim’s Progress wurden als Bilderserien vertrieben, und wir haben Zeugnisse davon, dass Missionare Zauberlaternen mitschleppten, um in Afrika und anderswo mittels dieser Bilder die Menschen dort zu bekehren. Temperenzler warben für ihre Sache mit Hilfe von Bilderserien, um den Zuschauern die gesundheitlichen und sozialen Folgen der Trunksucht drastisch vor Augen zu führen. Historische Ereignisse wie etwa der Amerikanische Bürgerkrieg wurden in Bilderserien nachgestellt. Laternenbilder berühmter Persönlichkeiten, Politiker usw. waren sehr beliebt, ebenso Abbildungen von Kunstwerken aus den Bereichen Skulptur, Malerei und Architektur. Szenen aus Dramen oder literarischen Werken und Bestsellern, von Shakespeares Dramen bis zu Onkel Toms Hütte wurden in farbigen Bildern ausgemalt oder mit Schauspielern gestellt und fotografiert.16 In der Vielfalt von Verwendungen dieses Mediums finden sich auch zahlreiche emblematische Laternenbilder mit Bildmotiven wie Hammer und Kelle, Winkelmaß und Kompass, oder das „allsehende“ Auge im Dreieck, die dem Spektrum freimaurerischer Symbolik zuzuordnen sind. Da viele der Quellen für die freimaurerische Symbolik aus der Bibel stammen, etwa die Geschichte des Salomonischen Tempels oder Hirams, waren solche Motive einem bibelfesten Publikum durchaus verständlich oder konnten mit geringem Aufwand anhand einschlägiger Bibelstellen in ihrer allgemeinen moralischen Relevanz erklärt und ausgelegt werden. Andere Symbole und Embleme, beispielsweise die Säulen von Jachin und Boas, ebenfalls biblisch belegt, stammten aus älterer Symbolik und lehnten sich an mittelalterliche und frühneuzeitliche Allegorien und Embleme an, die einem breiteren Publikum nicht ohne weiteres verständlich waren. Viele solcher Laternenbilder blieben daher enigmatisch, selbst wenn ihnen Titel beigegeben waren, wie etwa „Tod des Meisters“ oder „Stiftshütte“, weil sie einzelnen Stadien des Ein16 ��������������������������������������������������������������������������������� Zu den umfangreichsten Sammlungen amerikanischer Laternenbilder gehören das Eastman-Archiv (http://www.eastmanhouse.org) und die William Henry Goodyear Sammlung im Brooklyn Museum in New York (http://www.brooklynmuseum.org/opencollection/archives/lantern_slide_collection/).

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weihungsprozesses oder der Tempelarbeit zuzuordnen waren, die den Uneingeweihten unvertraut blieben. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts stieg nicht nur die Zahl der Freimaurer in England und den USA dramatisch an, gleichzeitig verbreitete sich auch die Bildsymbolik der Maurer, gerade auch mit Hilfe der Laterna Magica. Mehrere Serien handbemalter Laternenbilder erschienen zwischen 1880 und 1910, die insbesondere den Schottischen Ritus, den York Ritus und den Ritus des Eastern Star abbildeten. Eine Schätzung von „phoenixmasonry.org“ besagt, dass seit 1870 insgesamt bis zu 500 verschiedene solcher Motive auf Laternenbildern publiziert wurden. Es ist nicht ganz einfach zu rekonstruieren, welches Publikum diese Bilder der Laterna Masonica erreicht haben. Vieles spricht dafür, dass die komplexeren Bilder in erster Linie für Mitglieder der Logen gedacht waren und in geschlossenen Gesellschaften vorgeführt wurden, wobei der Meister vom Stuhl die Bilderserie mit einem Vortrag begleitete. Die Tatsache jedoch, dass jeder die Bilderserien im Versandhandel, entweder direkt bei den Herstellern oder durch Sears, Roebucks & Company erwerben konnte, spricht dafür, dass ein weit größeres Publikum Uneingeweihter Zugang zu diesem Bildmaterial hatte. Im Katalog der Firma Sears heißt es unter anderem: „Secret Society Views. We make to order fine colored photographs illustrating the degree workings in almost all secret societies. Masonic, Odd Fellows, Knights of Pythias, etc. Write us for prices and description of work.“17 Gleichzeitig vertrieb die Firma aber auch in der Rubrik „Comic Slides” unter dem Titel „How Jones became a Mason” eine Serie von Bildern, die sich über die Initiationsriten der Freimaurer lustig macht18 (Illustration 2). Nun waren diese Serien von Laternenbildern, wie aus den Anzeigen hervorgeht, allen Käufern zugänglich, und es liegt nahe zu vermuten, dass eher Zuschauer, die selbst nicht Freimaurer waren, diese komische Serie zur Erheiterung betrachteten. So versammelten sich etwa 2 000 Zuschauer im People‘s Temple Auditorium in Boston, um eine Konzertveranstaltung zu hören, bei der die Liedvorträge von Laternenbilderschauen begleitet waren, darunter die Serie „How Jones became a Mason“. Der Boston Daily Globe vom 10. Dezember 1895 berichtete von Heiterkeitsausbrüchen im Publikum, als „Jones“ auf der Bühne erschien.19 Wir haben aber ebenso Zeugnisse dafür, dass diese Bilderserie in einer Feier der „Ea17 Sears, Roebuck & Co.: Cheapest Supply House on Earth, Chicago. Cat. No 112, S. 269. 18 Die Serie findet sich als digitale Ausstellung aus der Sammlung Peabody der San Diego State University: library.sdsu.edu/exhibits/2009/07/lanterns/index.shtml. 19 Boston Daily Globe vom 10. Dezember 1895, S. 9 (Faksimile-Wiedergabe: http://newspaperarchive.com/boston-daily-globe/1895–12–10/page–9).



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Illustration 2: Parodie auf den Initiationsritus, Laternenbild

stern Star“-Lodge in Wichita zur Aufführung kam, wie der Wichita Daily Eagle vom 10. März 1898 ankündigte.20 Hier wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, wie rar und lohnend eine solche Veranstaltung sei, denn die Laternenbilder seien eigens aus Chicago und allein für diese Veranstaltung geschickt worden. Obwohl die Freimaurer in Wichita eines der besten Vorführgeräte besäßen, „das im Westen zu finden sei,“ wie es in der Ankündigung hieß, wurden offensichtlich neue Laternenbilder und bestimmte Serien nur ausgeliehen, nicht gekauft.21 Da sie nur einmal oder wenige Male gezeigt werden konnten, ohne das Publikum zu langweilen, lohnte sich die Anschaffung in der Regel nicht. Abgesehen von solchen Hinweisen gibt es wenige Quellen, die bei der Rekonstruktion eines möglichen Publikums für Freimaurerbilder für die Laterna Magica außerhalb der Logen und in der breiteren Öffentlichkeit behilflich sein können. Es ist auch schwierig zu bestimmen, ob die maurerischen Motive auf Laternenbildern insgesamt gesehen rar waren. Allein im Vergleich mit den sonst erhaltenen Bilderserien der vielen in Europa und Amerika aktiven Vorführer und Hersteller solcher Materialien machen sie jedoch neben den biblischen, historischen oder geogra20 S.  6 (Faksimile-Wiedergabe: http://chroniclingamerica.loc.gov/lccn/sn82014635/189803–10/ed–1/seq–6). 21 „Over fifty of the views in this entertainment are sent here from Chicago, to be used for this occasion only. The hymn ‚Abide With Me’ is illustrated by twenty-five views and must be seen and heard to be appreciated. The electric lantern which is owned by the Masonic bodies is one of the finest in the west, and there is no doubt but that every one will feel well repaid for going, for illustrated hymns and fine vies are rare entertainments in Wichita.“

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phischen Bilderserien nur einen sehr kleinen Teil der Produktion und Verbreitung von Laternenbildern aus. Auffallend ist, dass fast alle heute bekannten Serien mit freimaurerischem Inhalt aus nordamerikanischer Produktion stammen. Das ist damit zu erklären, dass die amerikanische Logenbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen gewaltigen Aufschwung hatte und sich die Mitgliederzahlen innerhalb weniger Jahre vervielfachten. Eine größere Offenheit war wichtig für die Rekrutierung so vieler neuer Mitglieder, und Massenmedien wie die Laterna Magica dienten nun zur Anwerbung neuer Logenmitglieder, wobei auch Frauenlogen gegründet wurden, zum Beispiel bei den Odd Fellows oder in der Eastern Star-Loge. Vieles spricht dafür, dass die komplexeren Bilderserien in erster Linie für Logen gedacht waren und dass dank dieser Steigerung der Mitgliederzahlen die Laternenbilder eine effektive Lösung für die Initiation neuer Logenbrüder darstellten und die Verbreitung der nötigen Information unter den neuen Logenmitgliedern ermöglichten. Es finden sich Beispiele von Laternenbildern, die zum festen Bestand der Laterna-Magica-Ausrüstung vieler Logen gehörten und offensichtlich zum Zweck der Werbung von neuen Mitgliedern der Loge gedacht waren. Ein gutes Beispiel hierfür ist eine Bilderserie der AOUW, einer Loge, die auch als Gewerkschaft fungierte. Es handelt sich dabei um die Loge des Ancient Order of United Workmen, die 1868 in Meadville in Pennsylvania gegründet wurde. Meadville war übrigens der Sitz einer der größten Firmen, die Laternenbilder und Stereoskopbilder herstellten, der Keystone View Company 22 (Illustration 3). Die Bilder zeigen ein sinkendes Schiff im Sturm, symbolisch für Unfälle oder Krankheiten, die einen Arbeiter unvermutet und unvorbereitet treffen können, den Sarg eines Arbeiters, die trauernde Frau und Kinder, die er hinterlässt, sowie einen Schutzengel, der über dem betenden Kind wacht. Darauf folgt das Zeichen der Freimaurer-Gewerkschaft AOUW, also Ancient Order of United Workmen. Dieses Emblem besteht aus einem Anker, sinnbildlich für Hoffnung, aber auch Stabilität sowie einem Schild mit den Initialen der Gewerkschaft, und einem Schriftband mit dem Text „Alterum Alterius Auxilio Eget“ (Einer braucht die Hilfe des Anderen). Auf den verschiedenen Laternenbildern sind diese Elemente einzeln gezeigt, und in der Abfolge werden sie nacheinander eingeblendet, um dann am Schluss das volle Zeichen zu bilden. Dies gab dem Vorführer oder Sprecher die Gelegenheit, jedes einzelne Element ausführlich zu beschreiben und zu erklären, um damit die Ziele der Gewerkschaft und Loge zu propagieren. 22 David Francis. „The AOUW or What Collecting Lantern Slides May Turn Up.“ In: Realms of Light (wie Anm. 6), S. 92–96; hier S. 92.



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Illustration 3: AOUW-Emblem

In England und den USA übernahmen Logen oft die Funktion der sozialen Absicherung der Mitglieder und ihrer Familien gegen Unfälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit. Die AOUW gehörte zu den ersten Organisationen, die eine Lebensversicherung anboten, um Witwen und Waisen verstorbener oder verunglückter Logenbrüder zu versorgen.23 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und zumal nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg, wurden zahlreiche solcher Logen gegründet, um den rapiden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen Rechnung zu tragen. Die Bilderserie der AOUW diente also zur Verbreitung der Information über die Leistungen der Logen und zur Anwerbung neuer Mitglieder. Je mehr neue Mitglieder geworben und regionale Logen eingerichtet werden konnten, desto sicherer und lukrativer wurde die Bewegung. Diese Bilderserie hatte aber darüber hinaus noch eine weitere, ebenso wichtige Funktion. Liest man die Initiationsriten zum Beispiel der Loge Ancient Order of United Workmen of Massachusetts, so sieht man darin, wie die Bedeutung des Siegels oder Zeichens der Loge in der Initiation erklärt und sogar mit verteilten Rollen in der Tempelarbeit durchgespielt wurde. Der Initiant erhielt dabei ein Pass- oder Kennwort, das ihm nicht nur Zugang zu den verschlossenen Bereichen des Tempels öffnete, sondern vor 23 1948 wurde z.B. die AOUW-Loge von Nord Dakota zur Pioneer Mutual Life Insurance Company.

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allem ein Motto der sozialen Funktion der Loge darstellte, nämlich das Wort „ASSIST“. Der Meister fragte ihn: M.W.: What is the Mystic Word? O., spelling out: A – S – S – I – S – T – Assist. M.W.: What do the letters signify? O.: A Safe Solvent Institution Saves Trouble.24

In mehreren Szenen wurden mit der Hilfe von Logenbrüdern, die sich als Bettler, Reisende, Charitas, Hoffnung und Tod mit jeweils passenden Attributen verkleidet hatten, dieser soziale Aspekt und das ethische Prinzip vor- und aufgeführt. Ein Bettler, der um ein Almosen bat, erhielt dies von einer Personifikation der Charitas. Reisende, die durch das Tal des Todes zu reisen begehrten, wurden unter den Schutz der Personifikation der Hoffnung gestellt, die der Personifikation des Todes entgegentrat. Zum Schluss präsentierte der Meister die neu Initiierten mit dem Emblem der Loge mit folgender Erklärung – einer Zusammenfassung der Lektionen des gerade durchgeführten Ritus: „Ich freue mich nun, Euch dieses Emblem zu präsentieren, Anker und Schild. In alten Zeiten wurde ein Schild gegen die Angriffe eines Feindes eingesetzt und ist daher emblematisch für SCHUTZ. Der Schild ruht auf einem Anker, der HOFFNUNG symbolisiert. Das soll uns daran erinnern, dass wie der Anker im festen Grund unserer brüderlichen Hilfsbereitschaft verankert ist, der Schild unseres SCHUTZES darauf ruht, um das künftige Wohlsein unserer Lieben durch den ANCIENT ORDER OF UNITED WORKMEN OF MASSACHUSETTS zu sichern. Trage dieses Emblem als eine stete Erinnerung an Deine Mitgliedschaft in diesem Orden und die damit verbundenen Pflichten, als eine Ehre und in Anerkennung der Prinzipien, die es verkörpert.“25 24 ������������������������������������������������������������������������������������ „Wie heißt das Geheimwort? Hilfe. Was bedeuten die Buchstaben? Eine gesicherte, solvente Institution erspart Probleme.“ ��������������������������������������������������������������������������������������� „I now take pleasure in presenting you with this Emblem, the Anchor and Shield. In ancient times the shield was used as a means of defence against the attacks of an enemy, and is therefore emblematic of PROTECTION. It rests upon the Anchor which symbolizes HOPE. This is to remind us that, as the Anchor is embedded in the firm ground of fraternal helpfulness, over all is the Shield of our PROTECTION, which secures the future comfort of our loved ones through the medium of THE ANCIENT ORDER OF UNITED WORKMEN OF MASSACHUSETTS. As a constant reminder of your membership in and your duty to the Order, wear this Emblem with honor to yourself and credit to the principles it represents.“



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Während diese Serie des Ancient Order of United Workmen nach Inhalt und Stil sowohl zur Initiation als auch zur Anwerbung neuer Mitglieder eingesetzt werden konnte, finden sich in der Mehrzahl der Laterna-Masonica-Bilderserien Motive und Inhalte, die sich in erster Linie an Freimaurer wandten, die bereits Mitglieder einer Loge geworden waren. Sie waren zur Tempelarbeit selbst gedacht. Schriftliche Zeugnisse lassen darauf schließen, dass die Instruktion und Weitergabe von Wissen und Lehrpunkten oft in einem katechetischen Wechselgespräch zwischen Meister und Initiant durchgeführt wurden. Es ist daher gut vorstellbar, dass die Laternenbilder, die wir hier sehen, in diesem Kontext projiziert wurden und einen Teil des Initiationsritus bildeten. Diese Laternenbilder illustrieren einerseits die Vorgänge, die hinter verschlossenen Türen in der Tempelarbeit vor sich gehen, und bieten andererseits bildliche Repräsentationen der allegorischen Themen, die in dieser ritualisierten Unterweisung und Einweisung behandelt werden. Hatten wir im Ritus des Ancient Order of United Workmen of Massachussetts gesehen, dass Logenbrüder in Kostümen und mit Attributen ausgestattet auftraten, um solche Szenen durchzuspielen, so können wir uns nun vorstellen, wie die Projektion einer solchen Szene oder Personifikation eine ähnliche Wirkung erzielten und diese Funktion übernehmen konnten. Diese Diaserien sind nach Stadien der Initiation in Grade eingeteilt. In vielen Fällen enthält jede Serie der einzelnen Grade jeweils ein Glasbild, auf dem alle Elemente zusammen abgebildet sind. Die darauf folgenden Laternenbilder stellten dann jeweils die einzelnen Elemente dieser Initiationsstufe im Einzelnen dar. Die zusammenfassenden Dias dienten der Übersicht über die einzelnen Schritte als eine Gedächtnishilfe für die gesamte Struktur, während die Einzelbilder dem Meister erlaubten, auf die jeweiligen Elemente im Besonderen einzugehen. Manche dieser Schritte oder Stufen bestanden selbst wieder aus mehreren Elementen. Eines der Bilder, gedacht für eine Einführung in den Grad des Lehrlings, stellt die drei Hauptsymbole der Freimaurerei dar: Winkelmaß und Zirkel auf einer aufgeschlagenen Bibel sowie ein Blatt mit der Aufschrift „Warrant“ – also die Gründungsurkunde der jeweiligen Loge. In weiteren Einzelbildern wird das Symbol von Winkelmaß und Zirkel mit Arm und Hammer in seine einzelnen Bestandteile aufgeteilt, deren Sinn und Bedeutung dann nacheinander und schließlich in der Kombination erläutert werden können. Hier gab es die Möglichkeit, entweder mit der Hilfe eines einzigen Laternenbildes diese verschiedenen Teile anzusprechen, oder aber die Option, zusätzliche Laternenbilder zu erwerben, die jedes einzelne Element auf einem separaten Dia darstellen. In den Serien sind diese entsprechend gekennzeichnet.

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Wie diese Bilder im Initiationsritus eingesetzt werden konnten, wird aus dieser Anordnung deutlich. So wurde der Lehrling im Rahmen der Initiation aufgefordert, die Werkzeuge der Maurer, das heißt die Symbole der Logenarbeit, Winkelmaß und Zirkel, auf die aufgeschlagene Bibel zu legen. Jeden einzelnen Schritt dieser rituellen Einweisung konnte ein Einzelbild der Diaserie begleiten, um dem Meister Gelegenheit zur Erklärung der jeweiligen symbolischen Bedeutung von Winkelmaß, Zirkel und Bibel zu geben (Illustration 4). Weitere Elemente dieses Kompositbildes zeigten die vier Tugenden, die einem Bruder den Zugang zu diesem Logengrad ermöglichten, nämlich Stärke, Klugheit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit, und diese vier Tugendpersonifikationen waren zusätzlich auch als erweiterte Serie von Einzelbildern erhältlich. Dies erlaubte es, auf jede dieser Tugenden speziell einzugehen, während der Lehrling und die Brüder sich während der Ausführungen und Instruktionen auf das Bild der jeweiligen Tugendpersonifikation konzentrieren können. Die zusammenfassenden Bilder konnten am Anfang einer Vorführung stehen, als Ausblick auf das Kommende, oder auch am Ende noch einmal gezeigt werden, um die Kandidaten zu testen, ob sie alle Aspekte der Symbolik verstanden und sich gemerkt hatten. Je nach ihrer finanziellen Lage konnte eine Loge also kleinere oder größere Diaserien erwerben, ohne dass jedoch an der Substanz und dem Inhalt etwas ausgelassen werden musste. Auf einem solchen Sammeldia für die Meisterstufe sieht man in der Mitte das all-sehende Auge, daneben zu beiden Seiten Sonne und Mond, ein Schwert, das in ein Herz sticht, ein Buch, die Bibel, mit einem Schwert darunter. Rechts befindet sich die Arche und ein Regenbogen, links die Säulen von Jachin und Boas und ein Bienenstock. Oben sieht man die Maurerwerkzeuge, den Stern des Ostens, eine Personifikation der Charitas oder Nächstenliebe, die Bibel auf einem Altar und eine Personifikation des Todes.26 Die Einzelbilder befassten sich dann mit den einzelnen Elementen dieses Grads, wie sie im Initationsritus besprochen und zur Meditation der damit verbundenen ethischen Prinzipien eingesetzt wurden. Die Embleme dieser Meister-Serie beziehen sich auf den allegorischen Tempelbau – die Idee des Wiederaufbaus des zerstörten Tempels des Königs Salomo als Symbol eines geistigen Wiederaufbaus, wie es Christoph Martin Wieland in seinen Reden Über den Zweck und Geist der Freimaurerei beschreibt: „Dass der Bau, den wir gründen, unter den verständigen 26 Beispiele solcher Laternenbilder aus Sammlungen von Freimaurerlogen finden sich auf: phoenixmasonry.org, sowie: http://kena.org/Hirams/Lecture-Slides-for-Masonic-DegreeWork.htm.



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Illustration 4: Winkelmaß und Zirkel, Laternenbild

und fleißigen Händen unserer Nachkommen zu einem ewig dauernden Tempel aufgeführt werde, worin das Götterbild der Humanität, zur Anbetung aller Menschen aufgestellt, auch alle Herzen mit dem lebendigen Gefühle durchdringe, dass alle, denen der heilige Stempel der Menschheit eingedrückt ist, Kinder eines Vaters und Bürger einer Stadt Gottes sind.“27 Eines der Bilder zeigt die „Stiftshütte“, die als Vorläufer des Tempels angesehen wurde, während die „zerbrochene Säule” auf dem nächsten Dia für die Zerstörung des Tempels steht. Allegorien des Todes und der Flüchtigkeit menschlichen Lebens sowie das Bild einer Trauernden erinnern an den gewaltsamen Tod des Erbauers des Tempels, Hiram von Tyrus. Die Hiramlegende spielt eine wesentliche Rolle in der freimaurerischen Literatur: Der Erbauer des Tempels gilt als das Vorbild der Maurer, und die alttestamentarische Geschichte des Tempelbaus wird als Allegorie der reformerischen Arbeit der Maurer verstanden. Weitere Bilder zeigen ein Weihrauchfass, als Emblem eines reinen Herzens, das auf dem Altar geopfert wird, und einen Bienenstock, ein beliebtes Motiv für den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit der Brüder in der Loge. Arche und Anker stehen für Hoffnung und Rettung. Diese Motive sind auf dem Hintergrund allgemein bekannter ikonografischer Konventionen leicht zu verstehen, während sich andere Embleme nicht ohne Kontextualisierung erschließen. 27 ������������������������������������������������������������������������������������ Christoph Martin Wieland: Über den Zweck und Geist der Freimaurerei. In Ders.: Freimaurer-Analecten, H. 1, Weimar 1809, S. 28.

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So ist etwa ein Bild in der Serie rätselhaft, das ein mit der Spitze auf ein Herz gerichtetes Schwert darstellt (Illustration 5). Die Bedeutung wird klar, wenn man Josef Schauburg zu Rate zieht, der ausführt, dass die Maurer Schwerter tragen als „Streiter des Lichtes gegen die Finsterniss, des Guten gegen das Schlechte, des Wahren gegen das Falsche“, wobei das Schwert zum Symbol für einen spirituellen Weg aus der Finsternis der Unwissenheit in das ewige Licht und Leben steht. Die Maurer seien milites Mithrae, fährt er fort, also „Lichtstreiter und Lichtsuchende, Illuminandi im höchsten und edelsten Sinne“. So verstehen sich die Freimaurer als „geistiger und sittlicher Ritterorden, der mit der Schärfe des Schwertes, des Lichtes, der Wahrheit und der Gerechtigkeit gegen jedes Dunkel, gegen die Lüge und das Unrecht kämpfet. Die Maurer sind Templer, indem sie in ihrem Tempel sich dem Dienste des Lichtes und der Gottheit weihen; erfüllen die Geweihten dieses heilige Gelübde, dann wird nach ihrem Hinübergange in den ewigen Osten das Schwert auf ihrem Sarkophage zum Zeichen ruhen, daß sie nun dort gefunden, was sie hier gesucht, – das Licht und die Wahrheit.“28 Dieses Bild symbolisiert die Vergewisserung der Werte und Ziele der Maurer, die im Raum versammelt sind. An dieser Stelle werden im Ritus die Türen verschlossen und verriegelt, damit kein Unbefugter den Höhepunkt der Initiation beobachten kann. Das zugehörige Bild mit dem Titel „Satzung, vom Tiler bewacht“ zeigt die Konstitution der Loge aufgeschlagen auf einem Kissen und darüber ein Schwert. Dies dient als Erinnerung an die Geheimhaltungspflicht und als Signal, das die nun folgenden Bilder in der Serie als besonders markiert, weil sie sich mit dem Geheimwissen der Loge befassen und auf Inhalte sowie Rituale verweisen, die Außenstehenden nicht enthüllt werden sollen. Die folgenden Embleme sind Todes- und Sterblichkeitsembleme: das Stundenglas, die Sichel, ein Bild mit dem Titel „Embleme der Sterblichkeit“, das den Sarg des Meisters zeigt und den symbolischen „Tod des Meisters“ darstellen soll. Der Schau des Lichts, dem eigentlichen Zielpunkt der Initiation, entspricht das Bild einer Sonne mit dem Buchstaben „G“ über dem Meisterstuhl (Illustration 6). Diese Laternenbilder stellen die Adaption einer älteren Instruktionstechnik in ein neues Medium dar. Für die Tempelarbeit, bei der die Neophyten stufenweise in die Geheimnisse der Freimaurerei eingeweiht wurden, benutzte der Meister oft sogenannte Instruktionstafeln oder auch Meisterteppiche, auf denen ähnliche Bilder und Embleme zu sehen waren, wie wir sie auf den Laternenbildern sahen, wie 28 Josef Schauberg: Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei mit besonderer Rücksicht auf die Mythologieen und Mysterien des Alterthums, Zürich 1861, Bd. 1, Kap. 17, S. 53.



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Illustration 5: Schwert, Herz und Auge, Laternenbild

Illustration 6: Meisterstuhl mit dem Symbol „G“, Laternenbild

etwa die Jakobsleiter als Symbol für die Schritte des Lehrlings im Verlauf der Einweihung und die drei Säulen der Prinzipien, auf die dieser Grad aufbaut: Stärke – Weisheit – Schönheit. Beispiele solcher Instruktionsbilder finden sich auch auf Meisterschürzen, wie zum Beispiel auf einer Schürze, die aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammt und heute im Freimaurermuseum in Bayreuth ausgestellt ist. Darauf sind die beiden Säulen Jachin und Boas mit Sonne und Mond zu sehen, im Hintergrund der

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Tempel, davor, durch drei Stufen zu erreichen, ein musivisches Pflaster. Die aufgehende Sonne und der untergehende Mond über den beiden Säulen steht für den ewigen Wechsel in der Natur von Licht zu Dunkelheit und ist symbolisch für Werden und Vergehen, „Leben und Tod und im Sittlichen vom Guten und Bösen, Reinen und Unreinen, Wahren und Falschen.“29 Der Unterschied zwischen diesen Instruktionstafeln und Laterna-Magica-Bildern besteht allerdings darin, dass die Instruktionstafeln im Tempel aufbewahrt wurden und wohl auch von den Meistern oder anderen Mitgliedern der Loge gezeichnet wurden. Damit blieben die Bilder den Augen uneingeweihter NichtLogenmitgliedern weitgehend vorenthalten und verschlossen. Im Unterschied dazu sind die Laternenbilder außerhalb des Kontrollbereiches der Logen hergestellt und vertrieben worden und waren damit jedem zugänglich, der sich dafür interessierte. Die Frage, die sich hinsichtlich dieser Bilder stellt, ist diese: Wie ist es möglich, dass diese Laternenbilder, die ganz sicher auch Uneingeweihten zugänglich waren, erlaubt waren? Da die Herstellung der Serien von Laternenbildern in den Händen von Firmen lag, die keine Verbindung zu den Freimaurern hatten, und von Künstlern in Handarbeit bemalt wurden, die zumeist keine Freimaurer waren, bestand doch die Gefahr, dass die Symbole und Bilder, die die geheimen Riten der Freimaurer beinhalteten, „profanen“ Augen zugänglich waren oder in falsche Hände gerieten. In der Tat, solche Vorbehalte wurden immer wieder erhoben, wie eine Broschüre belegt, in der auf diese Bedenken eingegangen wird. Ein einflussreicher Freimaurer, Carl Claudy, veröffentlichte einen Text unter dem Titel Old Tiler Talks, über einen jungen Adepten, der sich über einen Bruder beschwert, der „sorglos mit maurerischen Geheimnissen“ umginge. Dieser Bruder, heißt es im Text, betreibe die Laterna Magica und lasse die Laternenbilder herumliegen, wo Uneingeweihte ungehindert Zugang zu diesen hätten. Manchmal nähme er sie sogar mit nach Hause und seine Kinder könnten damit spielen. Old Tiler (ein Tiler ist der Torhüter, der für die Integrität der Geheimnisse zuständig ist) gibt ihm folgendes zur Antwort: „Was das Geheimnis in den Laternenbildern sein soll, haben viele Freimaurer vergeblich zu ergründen versucht, aber keiner hat es je gefunden. Das Geheimnis offenbart sich nicht im einfachen Anschauen der Bilder. [...] Kein Geheimnis der Freimaurerei kann aus den Laternenbildern entdeckt werden. Sie werden an jedermann verkauft, 29 Ebd., S. 205.



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der den Preis bezahlen kann. Wenn es etwas Geheimes in den Bildern gäbe, würde ihre Herstellung den maurerischen Verpflichtungen widersprechen. Die Geheimnisse der Freimaurerei sind in deinem Herzen, sie bestehen nicht in dem, was du sehen oder anfassen kannst. [...] Die Laternenbilder verbergen kein wissenswertes Geheimnis, ebensowenig die Instruktionstafeln, auf die der Vortragende zeigt, oder der Teppich, der zum 2. Grad ausgebreitet wird. Dies sind nur Mittel, um ein Bild in dein Herz zu geben, aber es ist die Bedeutung dieses Bildes, die geheim gehalten werden muss, nicht das Bild selbst.“30

Von den fünf Sinnen, heißt es in einem anderen Traktat, seien für den Freimaurer die ersten drei die wichtigsten: Hören, Sehen und Fühlen. Freimauer lehrten und lernten mehr über das Hören als das Sehen, heißt es darin weiter. Das aufmerksame Ohr nehme auf, was aus dem Mund des Meisters oder Lehrers komme. Doch manches könne mit der Hilfe von Bildern besser und leichter gelernt werden. Wörter seien Symbole, und Symbole lassen viele verschiedene Interpretationen zu. Es sei nicht möglich, dass ein Maurer einem anderen eine Szene beschreibe, so dass der andere genau dasselbe Bild in seiner Vorstellung erzeuge, aber man könne ein Bild dieser Szene zeigen, das der Schüler dann genau so sehe wie der Lehrer. Damit sei gewährleistet, dass beide von derselben Vorstellung ausgingen, wenn sie zu sprechen beginnen. Dies ist ein Versuch der Rechtfertigung, überhaupt Bilder zu verwenden. Was Geheimgesellschaften betrifft, ist ja das oberste Gebot der strikten Geheimhaltung von Inhalten und Riten am besten durch die ausschließlich mündliche Überlieferung gewährleistet. Sobald einzelne Inhalte schriftlich oder bildlich festgehalten werden, besteht die Gefahr, dass Unbefugte Zugang dazu erhalten. Der Ausweg hat dann meist darin bestanden, die Bilder so hermetisch und allegorisch zu gestalten, so dass sie wenig oder gar nichts, oft auch Irreführendes aussagten, und dass ihre richtige Interpretation den Eingeweihten vorbehalten blieb. Emblema30 Meine Übersetzung. Der Originaltext lautet: „The only secret about a Masonic lantern slide thousands of Masons have tried to find, but none ever have. It is not to be revealed by looking at them. [...] No secrets of Freemasonry are to be learned from a Masonic lantern slide. They are sold to anyone who has the price. If there was anything secret about a lantern slide, making it would be against Masonic obligations. [...] The secrets of Freemasonry are carried in your heart; they are not what you see with your eyes or touch with your fingers. [...] The lantern slide conceals no secret worth knowing, nor does the chart to which the lecturer points nor even the carpet laid down the second degree. These are all but a means of putting a picture in your mind and it is the meaning of that picture which must be sacredly kept, not the means which put it there.“ In Carl H. Claudy: Old Tiler Talks, Washington 1949, S. 133.

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tische und symbolische Bilder, deren Sinn unerschlossen bleibt, spielen in diesem Kontext eine wichtige Rolle. Die allegorischen oder emblematischen Laternenbilder, um die es hier geht, sind in der Tat so gestaltet, dass wenig oder gar nichts von den geheim zu haltenden Inhalten der Tempelarbeit darauf preisgegeben ist. Sie bleiben für Uneingeweihte weitgehend rätselhaft und hermetisch. Zwar sind die Bilder offen zu sehen, doch bleiben sie ohne Erklärung notgedrungen unverständlich. Der Grund dafür liegt in ihrer emblematischen oder allegorischen Struktur: Die Symbole weisen auf etwas hin, das sie aber nur verhüllt darstellen. Das Objekt, das im Bild zu sehen ist, steht für etwas anderes, wie der Sarg des Meisters für die Neugeburt des Initiierten, das ins Herz gebohrte Schwert für das Licht der Erkenntnis usw. Es bedarf einer expliziten Allegorese, die diese symbolische Bildlichkeit erschließt und in einen Kontext, zumeist den der Initiation, stellt. Wie bereits die Rosenkreuzer und andere, frühere hermetische Systeme, bedient sich somit auch die Freimaurerei dieser Technik der Verhüllung durch Allegorie, die spezieller Kenntnisse bedarf, um sie in einer ritualisierten Allegorese enthüllen zu können. Diese Technik der Verschleierung dessen, was offen sichtbar präsentiert ist, unterläuft und unterminiert alle Bestrebungen, die letzten Geheimnisse der Initiierten preiszugeben, egal welche neue Technologie, sei es im geschriebenen oder gedruckten Wort, in Laterna Magica-Bildern, im Internet oder sogar bei Wikipedia – der Freimaurer-Wiki. In Abwandlung des Mottos „AudeVide-Tace“ könnte die Aufforderung also lauten: „Siehe – Höre – Erhelle!“

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Vom Werfenstein zur Wewelsburg Die sogenannten arioheroischen Geheimbünde

I Es gibt bereits unzählige Versuche, die Gründe für die Entstehung der NSDAP und die anfänglichen Erfolge Adolf Hitlers auf einen schlüssigen Nenner zu bringen. Neben ideologisch unterschiedlich ausgerichteten sozialhistorischen oder marxistischen Deutungsversuchen, dafür vor allem das durch die „Schmach von Versailles” beschädigte deutsche Nationalbewusstsein, die oft beschworene Dolchstoßlegende, die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise, die in die Millionen gehende Arbeitslosigkeit der folgenden drei Jahre, die finanzielle Wahlhilfe von Seiten der Großindustrie, die Unterstützung der ostelbischen Adelsclique sowie das Dahinschwinden der bürgerlich-liberalen Parteien in der Spätphase der Weimarer Republik verantwortlich zu machen, haben auch jene Interpretationen keineswegs nachgelassen, das Phänomen „Nazifaschismus“ allein auf seine innere Affinität zu arioheroischen Geheimlehren, Hitlers pathologischen Überehrgeiz, eine um 1930 weitverbreitete Tendenz ins Nihilistische sowie eine irrationalistische Deutung der Geschichte schlechthin zurückzuführen, die sich jeder auf realpolitischen oder sozialhistorischen Fakten beruhenden Betrachtungsweise von vornherein entziehen. Ein besonders intensives Interesse im Rahmen der irrationalistischen Deutungen des Nazifaschismus hat dabei seine angebliche Nähe oder gar innere Verflochtenheit mit irgendwelchen okkulten, wenn nicht gar ans Dämonologische oder Satanische grenzenden Vorstellungen gefunden. Solchen, zumeist ausländlischen und zum Teil journalistisch überspitzten Theorien ist zwar von einigen kenntnisreichen deutschen Historikern mehrfach widersprochen worden,1 ohne sie jedoch wirklich eindämmen zu können. Ihre Kritik galt vor allem Büchern wie Le Matin des Magiciens (1960) von Louis Pauwels und Jacques Bergier, Hitler et les 1 Vgl. u. a. Detlev Rose: Die Thule-Gesellschaft. Legende. Mythos, Wirklichkeit, Tübingen 1994, S. 164–196.

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sociétés secrètes. Enquête sur les sources du nazisme (1969) von René Alleau, Hitler et la tradition cathare (1971) von Jean-Michel Angebert, The Spear of Destiny. The Occult Power Behind the Spear Which Pierced the Side of Christ (1973) von Trevor Ravenscroft, Zodiac and Swastika. How Astrology Guided Hitler’s Germany (1973) von Wilhelm Theodor H. Wulff, The Occult Underground (1974) von James Webb, Occult Reich (1974) von James Herbert Brennan, Satan and Swastika (1976) von Francis King, Gods and Beasts. The Nazis and the Occult (1977) von Dusty Sklar, El cordón dorado: Hitlerismo esotérico (1977) von Miguel Serrano, The Twisted Cross. The Occult Religion of Hitler and the New Age Nazism of the Third Reich (1983) von Joseph J. Carr, The Occult Roots of Nazism. The Ariosophists of Austria and Germany 1890–1935 (1985) von Nicholas Goodrick-Clarke, Guru Hitler. Die Geburt des Nationalsozialismus aus dem Geiste von Mystik und Magie (1985) von E. R. Carmin, Schwarze Magie – Braune Macht (1985) von Peter Orzechowski, Hinter den Kulissen des Dritten Reichs. Geheimgesellschaften machen Weltpolitik (1987) von Rudolf Otto Braun, Das Schwarze Reich. Templerorden. Thulegesellschaft. Das Dritte Reich. CIA (1994) von E. R. Carmin, Hitler and the Occult (1995) von Ken Anderson, Braune Magie. Okkultismus, New Age und Nationalsozialismus (1995) von René Freund, Hitler, Black Magician (1996) von Gerald Suster, Invisible Eagle. The History of Nazi Occultism (2000) von Alan Baker sowie The Nazis and the Occult. Forces Unleashed by the Third Reich (2007) von Paul Roland. Immer wieder ist in derartigen Monographien oder Traktaten im Hinblick auf den Nazifaschismus die Rede von irgendwelchen Geheimlogen, okkulten Inspirationen, theosophischen Verschwörungszentralen, Eingriffen des Übernatürlichen, Ausschweifungen ins Phantastische, Satanspakten, Schwarzen Messen, Drogeneinwirkungen, spiritistischen Seancen, Mesmerismus, Astrologiegläubigkeit, Manichäismus, Reinkarnationen, Atlantisschwärmereien, Odforschung, Thelepathie oder einer ins Kosmologische tendierenden Esoterik, die zum Teil bis auf den Templer-Orden, die Katharer, die Heilige Feme, die Rosenkreuzer oder theosophische Gruppenbildungen des späten 19. Jahrhunderts zurückgeführt werden, um Hitler als ein Medium geheimer Mächte hinstellen, von denen er entweder missbraucht wurde oder mit deren Hilfe er sein arisches Globalimperium aufzubauen versuchte.2 Wovon fast alle diese Autoren ausgehen, ist die These, dass der Nazifaschismus ohne seinen okkulten Hintergrund überhaupt nicht zu verstehen ist. „Die Historiker, insbesondere die NS-Forscher, mögen so sachlich sein, wie sie wollen“, schrieb

2 Ebd., S. 168.



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etwa E. C. Carmin, „die Geschichte ist es nicht.“3 Die realpolitischen oder sozioökonomischen Fakten kümmern daher solche Autoren wenig. Die meisten von ihnen sind davon überzeugt, dass sich das „wahre Gesicht“ des Nazifaschismus nur denjenigen zu erkennen gibt, die ein Gespür für den Eingriff irrationaler Mächte in den historischen Ablauf haben und sich nicht von angeblich logisch-kausalen Erklärungen blenden lassen. Was sie daher befürworten, ist eine Psychohistorie, die sich eher mit dem Verborgenen als mit dem Offenkundigen beschäftigt. Ihnen geht es in erster Linie um die angeblich im Geheimen agierenden Mächte, die hinter allen gesellschaftspolitischen Vorgängen ständen und die ohne Rückgriffe auf Mythisches nicht zu erklären seien. Nun, nicht alles, worin derartige Autoren den okkulten Hintergrund des Nazifaschismus sehen, der sich weitgehend als Geheimbündelei geäußert habe, ist völlig aus der Luft gegriffen. Aber letztlich bleibt ihre Sehweise dieses Phänomens ebenso eindimensional wie irgendwelche Reduktionen ins ausschließlich Realpolitische, Sozialhistorische oder Ideengeschichtliche, die sich als die alleingültigen Interpretationsmuster des Nazifaschismus ausgeben. Schließlich war diese Bewegung seit ihren Anfängen ein höchst komplexes Gemenge verschiedenster parteipolitischer Taktiken sowie rassistischer Wahnvorstellungen, das sich, wie gesagt, nicht auf einen genau zu umschreibenden Hauptantriebsimpuls zurückführen lässt. Sowohl die sozioökonomische Krisensituation der späten Weimarer Republik, die Angst vor einer Bolschewisierung Deutschlands auf Seiten der Großindustriellen und die in weiten Schichten der Bevölkerung verbreitete Hoffnung auf „geordnete Verhältnisse“ als auch die germanenkultischen Parolen der älteren Völkischen Opposition, der militante Hass auf die „Teufelsjünger“ des Kommunismus und der maßlos aufgebauschte Antisemitismus der NS-Ideologen haben zu ihrem Siegeslauf beigetragen. Etwas differenzierter betrachtet, war der sogenannte Hitlerismus letztendlich eine höchst geschickte Mischung aus wahltaktischen Erwägungen und großarischen Weltmachtphantasien, bei der man stets beide Seiten im Auge behalten sollte. Daher wäre es falsch, sich bei der Deutung des Nazifaschismus entweder allein auf die realpolitischen Fakten oder allein auf seine sogenannte okkulte Seite zu beschränken. Und wegen dieser Doppelkodierung darf man auch seine ins Mysteriöse oder Geheimbündlerische tendierenden Züge nicht ganz außer Acht lassen, wie das manche allzu eindimensional eingestellte Historiker getan haben. Man müsste derartige Phänomene nur enger mit den sozioökonomischen Ursachen 3 ������������������������������������������������������������������������������������� E. R. Carmin: Guru Hitler. Die Geburt des Nationalsozialismus aus dem Geiste von Mystik und Magie, Zürich 1985, S. 10.

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verbinden, um der zum Teil unauflöslichen Symbiose dieser beiden Elemente näher auf die Spur zu kommen. Dazu soll im Folgenden ein erster Ansatz geleistet werden, und zwar unter dem Gesichtspunkt: War das Okkulte wirklich ein handlungsbestimmender Auslöser des Nazifaschismus oder nur eine seiner vielen ideologischen Begleiterscheinungen?

II Beginnen wir als sozialhistorisch und zugleich ideengeschichtlich orientierte Gesellschaftswissenschaftler bei der Untersuchung dieser Frage mit einem Blick auf die prä- oder protofaschistischen Ideologiebildungen während der Spätphase des Zweiten Kaiserreichs. Über den weitverbreiteten Chauvinismus und den aus ihm hervorgehenden Germanen- oder Arierkult dieser Ära ist bereits viel geschrieben worden.4 Ihm lag nicht mehr die Sehnsucht nach der „alten Freiheit“ der Germanen zugrunde, welche die Klopstockianer des späten 18. Jahrhunderts und dann die burschenschaftlich gesinnten Hermanns­Söhne der Befreiungskriege zwischen 1813 und 1825 begeistert hatte, sondern der überhebliche Großmannsstolz auf das 1871 aus einem Krieg hervorgegangene neue Deutsche Reich, dessen ruhmreicher, von Bismarck herbeigeführter Sieg über die Franzosen unter Napoleon III. gern in Analogie mit dem Sieg Hermann des Cheruskers über die römischen Legionen unter Varus gleichgesetzt wurde. Neben einem hurrapatriotisch-prussifizierten Hohenzollernkult kam es daher in der Folgezeit allerorten zu einer ideologisch überschäumenden Germanenbegeisterung, die in den achtziger und neunziger Jahren zur Gründung zahlreicher Germanenlogen und Germanenbünde sowie anderer nationalistischer „Erneuerungs“-Gemeinden führte. Und zwar nahmen manche dieser Bemühungen nicht nur die Form auf rassische Neuzucht bedachter Gruppenbildungen und Geheimbünde an, sondern griffen sogar auf die sich gleichzeitig entwickelnde Lebensreformbewegung, wie etwa die arisch-antisemitisch eingestellte Obstbaukolonie Eden bei Berlin, über, die jedoch in der breiteren Öffentlichkeit anfangs kaum beachtet wurden. 4 Vgl. u. a. George L. Mosse: The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964, das Kapitel „Der Gedankenkreis der Fortschrittlichen Reaktion“ in Richard Hamann und Jost Hermand: Stilkunst um 1900, Berlin 1967, S. 24–203, und Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur Völkischen Bewegung 1871–1918, München 1996.



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Eine wesentlich aggressivere Note bekamen derartige Gruppenbildungen erst um die Jahrhundertwende, als sich das Zweite Kaiserreich – nach einer lange anhaltenden wirtschaftlichen Depressionsperiode, für welche viele Vertreter der deutschnational gestimmten Schichten die jüdischen Börsenspekulanten verantwortlich machten5 – zu einer der führenden Industriemächte der Welt zu mausern begann. Der Stolz auf die wachsende ökonomische und zugleich militärische Stärke verführte darauf immer mehr deutschglühende Kreise, die mit der zaghaft-dilettantischen Kolonialpolititik Wilhelm II. unzufrieden waren, einen ins Imperialistische ausgreifenden Kurs zu befürworten. Demzufolge kam es in den folgenden Jahren zu einer militant eingestellten „Völkischen Opposition“ bzw. „Fortschrittlichen Reaktion“, die von Deutschland sogar auf den deutschösterreichischen Teil des Habsburgerreiches überzugreifen begann und sowohl nationalistische als auch imperialistische Zielsetzungen unterstützte. Die Zahl der nach 1900 gegründeten deutschnational eingestellten Orden und Bünde ist deshalb kaum zu überblicken. Statt bei den anstehenden Sedangedenktagen, Kaisergeburtstagsfeiern oder Bismarck-Jubiläen weiterhin mit hurrapatriotischem Enthusiasmus lediglich „Heil Dir im Siegerkranz“ oder „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ anzustimmen, fassten viele dieser Organisationen bereits um 1900 ein auf den Hohenzollernstaat folgendes Drittes Reich unter einem sogenannten „Starken von oben“ oder „Führerkaiser“ ins Auge, unter dessen Leitung Deutschland im Zuge einer kriegerischen Annexionspolitik zur führenden zentraleuropäischen Macht aufsteigen würde. Den meisten Zulauf mit solchen Parolen hatte dabei der Alldeutsche Verband, der sich der finanziellen Unterstützung der RheinRuhr-Industriellen sowie der ostelbischen Junkerkreise erfreute und daher eine breite Öffentlichkeitsarbeit entfalten konnte. Doch nicht allein das. Auch in vielen völkisch gesinnten Romanen und Traktaten dieser Jahre, wie etwa in den Schriften Hermann Burtes, Max Haushofers, Hermann Poperts, Friedrich Langes, Hermann Teuts und Ernst Wachlers, überall tauchte plötzlich das Motiv der völkischen Wiedergeburt auf, wobei neben heroischen Einzelgängern ebenso oft ariookkultistische Geheimbünde als vorbildlich hingestellt wurden.6 Und zwar nahm dabei die rassistische Komponente innerhalb der Publikationen dieser Autoren von Jahr zu Jahr immer stärker zu. Ja, manche Fanatiker dieser Richtung gingen zu diesem Zeitpunkt sogar schon 5 ��������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. hierzu das Kapitel „The Gründerkrach, ‚Great Depression‘, and the Genesis �������� of Antisemitism (1873–1883)“. In Matthew Lange: Antisemitic Elements in the Critique of German Culture, 1850–1933, Oxford 2007, S. 103–180. 6 ������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. Jost Hermand: Der alte Traum vom Neuen Reich. Völkische Utopien und Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1988, S. 56–65.

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dazu über, in dieser Hinsicht die ersten nationalbetonten Ordens-, Vereins- oder Koloniegründungen vorzunehmen, die zwar durchaus in die Öffentlichkeit zielten, aber wegen ihrer maßlos überspannten sozialdarwinistischen Forderungen zwangsläufig randständige Geheimgesellschaften blieben. Noch am ehesten Aufsehen erregte in diesem Umkreis der 1912 von Theodor Fritsch gegründete Reichshammerbund, der an den bereits um 1890 aufflackernden Antisemitismus anknüpfte, während sich beispielsweise das 1901 von Willibald Hentschel entworfene Programm einer rassezüchterischen Mitgart-Kommune, in der sich 100 nordische Männer mit 1 000 nordischen Frauen der Kinderzeugung widmen sollten, vorerst als unrealisierbar erwies.

III Doch nun zu jenen Orden, Kreisen und Bünden, die wegen ihrer okkulten Elemente von den Vertretern der Psychohistorie später gern als die entscheidenden Vorläufer der Nazifaschisten hingestellt worden sind. Als die einflussreichste Figur wird dabei in dieser Hinsicht meist jene Deutsch-Russin Helena Petrowna Blavatsky hervorgehoben, die bereits in den siebziger Jahren die Theosophische Weltgesellschaft gegründet hatte und von ihren Anhängern als die bedeutendste Okkultistin des 19. Jahrhunderts empfunden wurde. Erst aufgrund ihrer Wirkung begann die eigentliche Geheimbündelei unter den völkisch orientierten Gruppen zwischen 1900 und 1918. Sie behauptete, die in einer tibetanischen Felsenbibliothek aufbewahrten esoterischen Bücher des Dzyan gelesen und auswendig gelernt zu haben, in denen sich eine als Geheimlehre beschriebene Entstehungsgeschichte der Welt sowie eine Darstellung der den historischen Entwicklungsstufen entsprechenden sieben menschlichen Wurzelrassen finde, was sie darauf in ihren Büchern Isis Unveiled (1877) und The Secret Doctrin (1888) auf eine geheimnisvoll verschleierte Weise zu erläutern versuchte, wobei sie die „arische“ Rasse als die höchste Form des menschheitlichen Reifungsprozesses hinstellte. Und diese Lehre hatte im deutschsprachigen Bereich unter den ariophilen Sektierern der neunziger Jahre durchaus ihre Folgen. Eine wichtige Rolle spielte dabei Blavatskys Intimus Franz Hartmann, der wesentlich zur Verbreitung der Ideen seiner Meisterin in Deutschland und Österreich beitrug. Besonders groß war seine Wirkung in Wien, der „rassisch bedrohten Metropole eines Vielvölkerstaats“, wie diese Stadt damals in den sich als völkisch verstehenden Kreisen



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bezeichnet wurde,7 wo Hartmann 1895 mit Theodor Reuß, einem Mitglied der Societas Rosecruciana in London sowie der finanziellen Unterstützung des Wiener Fabrikanten Karl Kellner einen theosophischen Geheimorden gründete, den er Ordo Templi Orientis nannte und in dem spezifisch ariosophische Vorstellungen herrschten. In eine breitere Öffentlichkeit drangen derartige Ansichten erstmals durch die Schriften Das Geheimnis der Runen (1907) und Die Armanenschaft der ArioGermanen (1908) des Wiener Privatgelehrten Guido von List, der die von Franz Hartmann vermittelten theosophischen Geheimlehren Helena Petrowna Blavatskys immer stärker mit den germanophilen Konzepten der Völkischen Opposition verband. Erst List wurde damit zum Begründer jener halb esoterischen, halb imperialistisch ausgerichteten „Ariosophie“, nach der „die Arier die allein kulturschöpferische Rasse seien, die den Höhepunkt der menschlichen Entwicklung bildeten und daher auch zur Weltherrschaft berufen wären“.8 Daran knüpfte er meist die Forderung, dass es heute vor allem darum gehe, die Urweisheiten jener altgermanischen Priesterkaste des Wotanismus, die er die „Armanen“ nannte, zu erneuern. Zu diesem Zwecke gründete er 1908 eine Guido von List-Gesellschaft, zu deren Mitgliedern neben Franz Hartmann auch viele hochstehende Adlige und Militärs, der antisemitisch eingestellte Wiener Oberbürgermeister Karl Lueger sowie führende Mitglieder der dortigen Theosophischen Gesellschaft gehörten und die von Seiten vermögender Industrieller eine beträchtliche finanzielle Unterstützung erfuhr.9 Eine solche Organisation lässt sich daher – trotz mancher sektiererischen Züge und esoterischen Ideologiebildungen – nicht als Geheimgesellschaft im engeren Sinne bezeichnen, wie oft behauptet wurde. Eine derartige Charakterisierung trifft selbst auf jenen vom inneren Kreis der List-Anhänger im Jahr 1911 gegründeten Hohen Armanen-Orden, kurz HAO, nicht zu, da sich unter seinen Mitgliedern ebenfalls zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Wien befanden. Dieser Orden verstand sich zwar in erster Linie als mystische „Speerspitze zur Errichtung eines neuen spirituellen Lebens in Deutschland“,10 indem er sich vor allem mit ariosophisch gedeuteten Hakenkreuzen und Runensymbolen schmückte sowie einen ins Pseudoreligiöse erhobenen Wotanskult pro7 Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Germania germanicissima. Zum präfaschistischen Arierkult um 1900. In Ders.: Der Schein des schönen Lebens. Studien zur Jahrhundertwende, Frankfurt a. M. 1972, S. 39–54. 8 Eduard Gugenberger: Hitlers Visionäre. Die okkulten Wegbereiter des Dritten Reichs, Wien 2001, S. 53. 9 Vgl. Detlev Rose: Die Thule-Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 37. 10 Eduard Gugenberger: Hitlers Visionäre (wie Anm. 8), S. 56.

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pagierte, verhehlte aber andererseits keineswegs seine höchst konkreten, ins Imperialistische zielenden Absichten. Wohl die größte Wirkung unter den Anhängern der Guido von List-Gesellschaft ging sicher von jenem ehemaligen Zistersiensermönch Adolf Lanz aus, der sich Jörg Lanz von Liebensfels nannte, um damit – wie schon List – auf seine armanisch-adlige Herkunft zu verweisen.11 Wie List propagierte auch Lanz – nach ausführlichen Studien älterer Mysterienkulte – eine ariosophische Rassenideologie, die auf der Behauptung beruhte, dass sich manche der älteren Arier zeitweilig auf sodomitische Weise mit verschiedenen Affenarten vermischt hätten, woraus all jene minderrassigen Buhlschrättlinge und Tschandalas entstanden seien, was zu einer fortschreitenden Entartung der Menschheit geführt habe, der man unter der Führung der noch verbliebenen Arioheroiker durch die Sterilisation aller subgermanischen Untermenschen sowie der Anlage neuer Brutstätten der nordischen Rasse entgegentreten müsse, um so einer neuen Herrenschicht den Weg zu bahnen. Ansichten dieser Art vertrat Lanz sowohl in seinem Buch Theozoologie oder Die Kunde von den Sodoms-Äfflingen und dem Götterelektron (1904) als auch in der von ihm zwischen 1905 und 1920 herausgegebenen Zeitschrift Ostara. Eine Bücherei der Blonden und Mannesrechtler, von der er behauptete, dass sie zeitweilig eine Auflage von 100 000 Exemplaren erreicht habe und in welcher er wiederholt die Anlage arischer Zuchtklöster sowie die Versklavung oder Ausrottung aller minderrassigen Menschen forderte. Wie List scharte Lanz außerdem ab 1904 eine ihm ergebene Jüngerschaft um sich, die er in Anlehnung an den älteren TemplerOrden den Orden des Neuen Tempels, kurz ONT, nannte. Zu den rund 400 Ordensmitgliedern, die im Stile mancher früheren Geheimbünde alle Decknamen trugen und selbstverständlich blonde, blauäugige „Asinge“ sein mussten, gehörten wie zur Guido von List-Gesellschaft vor allem Offiziere und Honoratioren der Wiener Gesellschaft, aber auch mehrere Theosophen und sogar der damals in Wien lebende schwedische Autor August Strindberg. Um seinem NeutemplerOrden ein kultisches Zentrum zu geben, erwarb Lanz mit Hilfe des kapitalträchtigen Wiener Unternehmers Johann Walthari Wölfl 1907 die Burgruine Werfenstein an der Donau, die er in eine Gralsburg des Neuen Heils ausbauen ließ und auf deren Turm er die erste Hakenkreuzfahne hisste. Inwieweit sich dieser Neutempler-Orden als ein arioheroischer Geheimbund charakterisieren lässt, wie in journalistischer Übertreibung immer wieder behaup11 Vgl. Wilfried Daim: Der Mann, der Hitler die Ideen gab. Jörg Lanz von Liebenfels, Wien 1958, und Rudolf J. Mund: Jörg Lanz von Liebenfels und der Neue Templer-Orden, Stuttgart 1976.



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tet worden ist, bleibt zweifelhaft. Was sich bei den Treffen auf der Burg Werfenstein tatsächlich abspielte, ist heute nicht mehr zu ermitteln. Wahrscheinlich wird man sich dort – ohne irgendwelche ariosophischen Seancen – zu denselben rassistischen Überlegenheitsparolen bekannt haben, die Lanz auch in seiner Ostara für eine breitere Öffentlichkeit propagierte. Und ganz so „mystisch“ waren diese Ansichten ja nicht, sondern deckten sich weitgehend mit den Zielvorstellungen anderer völkisch überspannter Kreise dieser Jahre. Das kommt besonders deutlich in der imperialistischen Emphase zum Ausdruck, mit der Lanz, wie der Alldeutsche Verband, die Wotans-Loge und der mit dem Wahlslogan „Ohna Juda, ohne Rom / wird erbaut Germanias Dom“ auftretende Schönerer-Bund, den Ersten Weltkrieg begrüßte. Schließlich hatte er schon vorher in seiner Ostara erklärt: „Unter dem Jubel der befreiten Gottmenschen werden wir den ganzen Erdball erobern. Das Feuer soll geschürt werden, bis die Funken aus den Schloten deutscher Schlachtschiffe stieben und die Feuerstrahlen aus den deutschen Geschützen zucken, um wieder Ordnung zu machen unter der zänkischen Udumubande.“12

IV Dass solche Parolen in der Anfangsphase des Ersten Weltkriegs – im Zuge eines gewaltig übersteigerten Chauvinismus – sowohl in Deutschland als auch in Deutschösterreich eine ideologische Hochkonjunktur erleben würden, war vorherzusehen. Und neben militaristischen, alldeutschen und völkischbetonten Slogans feierten dabei auch die ariosophischen bzw. arioheroischen Konzepte ständig neue Urständ. Greifen wir im Folgenden nur jene heraus, die am engsten mit den von List und Lanz propagierten Zielsetzungen zusammenhingen und einen gewissen Ordenscharakter hatten. Besonders einflussreich war in diesem Umkreis der von Theodor Fritsch gegründete antisemitische Reichshammerbund sowie der von ihm 1912 logenartig aufgebaute Germanenorden, der sich als „geheime Kommandozentrale für die gesamte völkische Bewegung“ verstand und dem ebenfalls nur Männer angehören durften, die in einem „Blutsbekenntnis“ nachweisen mussten, dass sie „bis ins dritte Glied reinblütige Deutsche“ seien.13 Nachdem sich die dahinter stehenden Kreise erst in einer Wotans-Loge zusammengeschlossen hatten, entstand durch den Zusammenschluss weiterer Logen dieser Art schließlich 12 Zit. in Hermann Gilbhard: Die Thule-Gesellschaft. Vom okkulten Mummenschanz zum Hakenkreuz, München 1994, S. 11. 13 Ebd., S. 11 und 49.

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der besagte Germanenorden,14 der sich als Geheimbund verstand und vor allem den angeblich bestehenden, nach Weltherrschaft strebenden jüdischen Geheimbünden den Kampf ansagte. Das Zentrum derartiger Bestrebungen verschob sich dabei immer stärker von Wien nach München. Hier setzte sich während des Ersten Weltkriegs unter anderem der alldeutsche Verleger Julius F. Lehmann,15 und zwar in engem Kontakt mit Alfred Ploetz, einem der Hauptvertreter der sozialdarwinistischen Rassenhygiene, sowie mit Houston Stewart Chamberlain, der in Lehmanns Verlag die Zeitschrift Deutschlands Erneuerung mitherausgab, für solche Tendenzen ein. Selbst als sich im Herbst 1918 der von den Alldeutschen und den mit ihnen alliierten Großindustriellen erhoffte Endsieg der sogenannten Mittelmächte als eine Illusion erwies,16 gaben diese Kreise ihre Zielvorstellungen keineswegs auf, ja gingen aus dem Geheimen immer stärker in die Öffentlichkeit über. Dafür sprechen vor allem die vielfältigen Aktivitäten Rudolf von Sebottendorffs, der sich zu diesem Zeitpunkt relativ schnell aus einem Logenbruder in einen Kampfbundführer wandelte. Er war erst im geheim gehaltenen Germanenorden tätig, welchem er – nachdem er sich jahrelang mit Astrologie, Sufi-Meditation, Theosophie und Freimaurerei beschäftigt hatte – ab Dezember 1917 als Leiter der bayerischen Ordensprovinz vorstand. Im August 1918 gründete er darauf in München die Germanen-Loge, die sich in einem mit Hakenkreuzen und Schwertern geschmückten Raum des Nobelhotels Vier Jahreszeiten traf und auch weitreichende Beziehungen zu anderen völkischen Organisationen aufzunehmen versuchte. Aus dieser Loge ging schließlich gegen Kriegsende jener vieldiskutierte Orden deutscher Art hervor, der sich erst aus Tarnungsgründen als Verein zur Erforschung der Edda ausgab und dann das sagenumwobene Schlagwort „Thule“ auf seine Fahnen schrieb. Wie die von dem Runenforscher Philipp Stauff angeführte Guido von List-Gesellschaft, der von Lanz gegründete Orden des Neuen Tempels sowie der von Theodor Fritsch geleitete Reichshammerbund, auf die sich Sebottendorff später in seinem Buch Bevor Hitler kam ausdrücklich als die für ihn maßgeblichen Vorläufer berief,17 vertrat auch die Thule-Gesellschaft eine Rassenideologie, die auf eine Verherrlichung der blonden Edlinge oder Arioheroiker hinauslief und in allen anderen Rassen, vornehmlich den Juden, lediglich niedrigstehende Untermenschen sah. Daher setzte 14 Vgl. Detlev Rose: Die Thule-Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 19. 15 Vgl hierzu Rudolf von Sebottendorff: Bevor Hitler kam. Urkundliches aus der Frühzeit der nationalsozialistischen Bewegung, München 1933, S. 62 f. 16 ������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. das Kapitel „Kriegsnationalismus“ in meinem Buch: Verlorene Illusionen. Eine �������� Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 206–221. 17 Vgl. Rudolf von Sebottendorff: Bevor Hitler kam (wie Anm. 15), Einleitung.



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sie sich, wie Stauff, List, Lanz und Fritsch, mit Hilfe von Parolen wie „Bedenke, dass Du ein Deutscher bist“ sowie „Halte Dein Blut rein“ für eine planmäßige „Aufnordung“ des deutschen Volkes ein und befahl jedem ihrer Mitglieder, sich eine Bronzenadel mit einem von einem Schwert durchkreuzten und mit Eichenlaub umrandeten Hakenkreuz anzustecken. Während sich die Thule-Gesellschaft vor Kriegsende, wie gesagt, erst einmal als ariosophischer Verein ausgegeben hatte, verzichtete sie nach dem 9. November 1918 auf ihren bisherigen Geheimbundcharakter und trat mit Unterstützung nationalistischer Freikorpsverbände als ein militanter Kampfbund gegen die teils pazifistisch, teils sozialistisch gestimmten Arbeiter- und Soldatenräte und dann gegen den von dem jüdischen USPD-Politiker Kurt Eisner ins Leben gerufenen Freistaat Bayern auf, wobei sie vor allem von den adligen und finanzstarken Gesellschaftsschichten Münchens unterstützt wurde, die in all diesen Phänomenen eine drohende „Bolschewisierung“ Deutschlands erblickten. Ja, als „militärischer Arm“ dieser Schichten beteiligte sich die Thule-Gesellschaft am 18. Dezember 1918 sogar aktiv an den Vorbereitungen zu einem rechtsradikalen Staatsstreich, der jedoch in letzter Minute vereitelt wurde. In den Monaten der darauf folgenden sozialistischen und dann kommunistischen Bayerischen Räterepublik, deren Anführer die Juden Kurt Eisner, Gustav Landauer, Ernst Toller und Eugen Leviné waren, verbündete sie sich mit dem Alldeutschen Verband sowie dem rechten Flügel der Nationalliberalen Partei und begrüßte am 21. Februar 1919 mit aufatmender Erleichterung die Ermordung Eisners durch den Grafen Anton von Arco, der zeitweilig zu ihren Mitgliedern gehört hatte. Auch an der kurz darauf erfolgten Gründung der Deutschen Arbeiterpartei (DAP) durch den Thule-Aktivisten Karl Harrer, aus der ein Jahr später die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) hervorging, war sie maßgeblich beteiligt. Im Großen und Ganzen gesehen, war also die Thule-Gesellschaft – trotz mancher logenartigen Züge – keine Geheimgesellschaft, sondern eher ein konterrevolutionärer Kampfbund, dessen Bedeutung nach der endgültigen Niederschlagung der Münchner Räterepublik schnell wieder abnahm. Sebottendorff, ihr Gründer und Anführer, hat später – nach der am 30. Januar 1933 erfolgten Machtübergabe an Adolf Hitler – versucht, fast den gesamten Nazifaschismus auf seine Aktivitäten zurückzuführen. Und das ist ihm auch von vielen, besonders den an Mythik und Magie dieses Phänomens interessierten NS-Forschern geglaubt worden. Doch auch diese Sehweise sollte man nachdrücklich relativieren. Zugegeben, wichtige Vertreter der DAP sowie der frühen NSDAP, wie Max Axmann, Anton Drexler, Dietrich Eckart, Gottfried Feder, Hans Frank, Rudolf Heß und Alfred Rosenberg, unterstützten zwar in der Zeit der Münchner Räterepublik die konter-

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revolutionären Bemühungen der Thule-Gesellschaft, aber keineswegs als Mitglieder, sondern lediglich als sogenannte Beobachter oder Gäste. Und auch die These, dass Hitler und andere führende Nazifaschisten viele ihrer esoterischen Vorstellungen den Einweihungsriten und Schriften der Thule-Gesellschaft verdankten, lässt sich aufgrund neuerer Forschung nicht aufrechterhalten.18 Vor allem die Beteuerung innerhalb der vornehmlich an irrationalistischen Phänomenen interessierten Literatur, dass die Thule-Gesellschaft eine Agentur fremder, in der Regel okkulter Mächte gewesen sei, die Hitler zu ihrem Werkzeug oder gar Medium gemacht habe, gehört in den Bereich unbegründeter Spekulationen. Ja, geradezu aus der Luft gegriffen ist die Behauptung, dass diese Gesellschaft nicht nur der „allerheiligste Mittelpunkt der Eingeweihten innerhalb der NS-Führung“, sondern zugleich in „perfekter Tarnung bis zum Ende des Dritten Reichs die geheime Zentrale“ der gesamten NSDAP geblieben sei.19 Mit solchen Thesen wird der Nazifaschismus lediglich in Bestsellermanier publizistisch „interessant“ gemacht, ohne ihn auf seine historisch konkreten Ursachen zurückzuführen.

V Was aus all diesen rassistischen Orden, Bünden und Gesellschaften gegen Mitte der Weimarer Republik wurde, ist bisher kaum untersucht worden. Doch so viel lässt sich dazu mit einiger Sicherheit sagen. Nach vereinzelten Putschversuchen, wie Hitlers gescheitertem Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle am 9. November 1923, lösten sich die meisten dieser Organisationen – angesichts der sogenannten „relativen Stabilisierung der politischen und sozioökonomischen Verhältnisse“ nach 1923/24 – entweder auf oder büßten viele ihrer Mitglieder ein. Dennoch hörten die Hoffnungen innerhalb der rechtsradikalen Splittergruppen, dass mit Hilfe eines „Starken von oben“ an die Stelle der verhassten „Novemberrepublik“ und des in ihr herrschenden „Massenmenschentums“ eine neue deutschbetonte Monarchie oder gar irgendein Drittes Reich treten würde, damit keineswegs auf. Doch die Mehrheit der oft apostrophierten „Vernunftrepublikaner“, die inzwischen allen Veränderungsversuchen oder gar Utopien abgeschworen und sich auf dem „Boden der Tatsachen“ gestellt hatte, lehnte bis zum Beginn der im Oktober 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise solche Vorstellungen ab. Werke, in denen weiterhin imperiale Weltmachtsgelüste oder nordische Rassenzuchtko18 Vgl. Detlev Rose: Die Thule-Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 12 ff., 27ff. und 93 ff. 19 So Louis Pauwels und Jacques Bergier: Aufbruch ins Dritte Jahrtausend, Bern 1962, S. 387.



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lonien beschrieben wurden, blieben daher bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend ungelesen.20 Und doch kam es selbst in diesen Jahren zu vereinzelten Neugründungen mit derartigen Vorstellungen sympathisierender Vereine oder Geheimbünde, da es immer noch genug vermögende Industrielle und Großagrarier gab, die sich solche Bemühungen aus Furcht vor irgendwelchen untergründig weiterwirkenden Links­tendenzen etwas kosten ließen. Einen guten Überblick über solche Organisationen, wie etwa den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, die Organisation Consul, den Bund der Kaisertreuen, den Frontbund, die Schwarze Reichswehr sowie gewisse rechtsradikale Gruppen innerhalb der Deutschnationalen Volkspartei, bieten die Ende 1924 erschienenen Bücher Verschwörer. Beiträge zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde seit 1918 von Emil Julius Gumbel sowie Neugermanisches Heidentum im heutigen Deutschland von Erhard Schlund. Außerdem meldeten sich neben diesen Bünden und Organisationen noch eine Reihe rechtsideologischer Einzelgänger zu Wort, um die sich schnell eine kleine, aber fanatisierte Anhängerschaft scharte, die vor allem von der an esoterischen „Urweisheiten“ interessierten NS-Forschung immer wieder herausgestellt worden sind. Zugegeben, manche der von dieser Forschungsrichtung aufgestellten Thesen sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Schließlich versuchten sowohl die Guido von List­-Gesellschaft als auch der Lanzsche Neutempler-Orden sowie die aus ihm hervorgehende Edda-Gesellschaft und der Lumen-Club auch in der Weimarer Republik durchaus weiter zu wirken. Ähnliche Tendenzen gingen von der 1925 in Berlin als geheime Okkultgemeinde gegründeten Loge der Brüder vom Licht oder Vril-Gesellschaft aus, die wie andere solcher Logen eine ins Kosmologische ausgreifende Erneuerung Deutschlands anstrebte und in der vor allem der TibetReisende, Indogermanenforscher und Lebensraumtheoretiker Karl Haushofer aktiv gewesen sein soll,21 der sich in seinen Überzeugungen vor allem auf das Buch The Coming Race (1871) des englischen Rosenkreuzers Edward Bulwer-Lytton zu stützen versuchte und nachgewiesenerweise 1924 Hitler mehrfach im Landsberger Gefängnis besucht hat. Jedoch daraus einen entscheidenden Einfluss auf Hitlers Ideologie abzuleiten, ist von der neueren Forschung ebenfalls zu Recht bezweifelt worden.22

20 Vgl. mein Buch: Der alte Traum vom neuen Reich (wie Anm. 6), S. 103 ff. 21 Vgl. Dusty Sklar: Gods and Beasts. The Nazis and the Occult, New York 1977, S. 87 f. 22 Vgl. Detlev Rose: Die Thule-Gesellschaft (wie Anm. 1), S. 175.

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Ein anderer solcher untergründig wirkender Einzelgänger, den man immer wieder mit den frühen Nazifaschisten in Beziehung gesetzt hat, ist der Wiener Physiker Hanns Hörbiger, der Begründer der in seinem Buch Glazial-Kosmogonie (1913) aufgestellten Welteislehre, die auf dem Gegensatz von Feuer und Eis, mit anderen Worten: hell und dunkel beruht, was manche NS-Ideologen veranlasst haben soll, darin eine Analogie zu dem ewigwährenden Kampf zwischen den Blonden und den Dunkelhaarigen zu sehen. Hörbiger war damals weitaus bekannter als Haushofer. Über ihn erschienen allein den Jahren zwischen 1919 und 1924 etwa 20 Bücher, was seine Anhänger zur Gründung eines Vereins für kosmotechnische Forschung bewegte, in dem sich in steigendem Maße eine Reihe germanophiler Tendenzen breit machten. Und das führte schließlich dazu, dass sich diese Kreise eine deutsche Zukunft vor allem von der „Heraufzüchtung neuer Ur- oder Vormenschen“ versprachen, um so die Deutschen wieder mit „kosmischen Urkräften“ auszustatten.23 Ebenso starke „Urmenschen“ versprach sich die 1925 ins Leben gerufene Artamanenschaft, die auf Anregung des Mitgart-Begründers Willibald Hentschel eine agrarromantische Blut und Boden-Ideologie propagierte und in der vorübergehend sowohl der sich als Züchter neuer Hühnerrassen betätigende junge Heinrich Himmler als auch der spätere Auschwitzkommandant Rudolf Höß und der spätere Reichsbauernführer Walther Darré aktiv waren. Die Artamanen-Bewegung verzichtete zwar auf irgendwelche ins Kosmologische oder Ariosophische ausschweifende Theoriebildungen und beschränkte sich vor allem auf eine gegen die slawischen „Untermenschen“ in Osteuropa gerichtete Siedlungspolitik, um so den deutschen Bauern neue Heimatstätten zu erschließen, blieb aber – trotz ihres militanten Aktivismus – vorerst im Sektiererischen stecken. Daher sollte der Einfluss derartiger Organisationen, Vereine oder Klubs auf die frühe Nazibewegung nicht überschätzt werden, zumal sich weder Adolf Hitler noch Joseph Goebbels vor 1933 öffentlich für irgendwelche ins Ariosophische oder Kosmologische zielende Ideologien eingesetzt haben. All das brodelte vorerst lediglich im Untergrund weiter. Worauf sich die führenden Nazisprecher in der späten Weimarer Republik konzentrierten, war weitgehend eine von gewissen Rhein-Ruhr-Industriellen wie Fritz Thyssen finanzierte propagandistische Öffentlichkeitsarbeit, die sich möglichst eingängiger Slogans wie „Brot und Arbeit“ bediente, um die durch die Weltwirtschaftskrise verunsichterten Wählermassen mit realpolitisch klingenden Versprechungen in ihre Netze zu locken. 23 Eduard Gugenberger: Boten der Apokalypse. Visionäre und Vollstrecker des Dritten Reichs, Wien 2002, S. 59.



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Und an dieser Linie hielt Hitler – trotz seiner umfangreichen Kenntnis der von Chamberlain, List, Lanz, Hörbiger und Haushofer in Gang gesetzten ariosophischen oder kosmologischen Strömungen – auch nach dem 30. Januar 1933, als ihm von Paul von Hindenburg, dem Zentrumspolitiker Franz von Papen und dem Vorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei Alfred Hugenberg die Macht übergeben wurde, erst einmal fest. Vor allem jene wilhelminischen „Rauschebärte“, wie er sich ausdrückte, die plötzlich Morgenluft witterten und sich mit ihren zum Teil skurrilen Vorstellungen als Wegbereiter der NSDAP aufspielten, drängte er rücksichtslos an den Rand. So ließ er etwa 1934 die zweite Auflage des Buchs Bevor Hitler kam des Begründers der Thule-Gesellschaft Rudolf von Sebottendorff kurzerhand einstampfen und seinen Autor ins Ausland abschieben. Nicht viel anders verfuhr er mit Jörg Lanz von Liebenfels, dem er 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs Publikationsverbot erteilte. Ja, selbst den sich immer wieder in den Vordergrund drängenden ariophilen Fanatiker Alfred Rosenberg, in dessen Buch Der Mythos des 20. Jahrhunderts (1930) Hitler nur kurz herumgeblättert hatte, stattete er nicht mit jener ideologischen Sonderstellung aus, die sich dieser erhofft hatte. Die Gründe dafür sind leicht einzusehen. Erstens wollte Hitler selber als der einzig maßgebliche Ideologe des Dritten Reichs angesehen werden. Zweitens fand er es wichtiger, sich erst einmal mit den realen Machtblöcken, also der Wehrmacht, den Industrieverbänden und den Kirchen, ins Vernehmen zu setzen. Und drittens hielt er es aus taktischen Gründen für unklug, sofort seine rassistischen und kriegerischen Zielvorstellungen an die große Glocke zu hängen und damit die nach „Brot und Arbeit“ verlangenden sogenannten breiten Massen unnötig zu verwirren oder gar vor den Kopf zu stoßen. Ihm ging es in den Anfangsjahren des Dritten Reichs erst einmal um die Durchsetzung populistisch ausgerichteter Nahziele, statt bereits mit seinen Fernzielen – wie der Vorbereitung eines Zweiten Weltkriegs, der Judenvernichtung, der „Aufnordnung“ des deutschen Volkes, der Abschaffung des Christentums, der Eroberung großer Siedlungsgebiete im Osten Europas sowie der Errichtung eines arischen Globalimperiums – herauszurücken. In den Anfangsjahren seiner Herrschaft gilt es deshalb, und zwar auf allen Gebieten, stets so klar wie möglich zwischen den Nahzielen und den Fernzielen der Nazistrategien zu unterscheiden. Zu den Nahzielen gehörten vor allem die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die Anhebung des Lebensstandards und der Ausbau einer massenwirksamen Unterhaltungsindustrie in den Bereichen Sport, Film und Musik, um so die immer wieder beschworenen Volksmassen bei guter Laune zu halten. Und mit der Durchführung dieser wohlkalkulierten Strategien betraute er vor allem seinen Propagandaminister Joseph Goebbels und den Leiter der KDF-

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Organisation Robert Ley, denen es in wenigen Jahren gelang, der überwältigenden Mehrheit der deutschen Bevölkerung durch die Betonung des Herkömmlichen sowie des Eskapistisch-Unterhaltsamen den Eindruck der Normalität des von den Nazifaschisten geschaffenen neuen Reichs vorzuspiegeln.24 Dennoch hielt Hitler, selbst wenn er öffentlich fast nie darauf zu sprechen kam, sicher privatim an einigen der älteren arioheroischen und kosmologischen Konzepte weiterhin fest. Allerdings sollte man dabei nicht so weit gehen, wie das manche der psychohistorisch eingestellten Okkultismus-Forscher getan haben, und Hitler als einen von astrologischen Vorstellungen besessenen Obskuranten, wenn nicht gar als ein Medium magischer Kräfte hinzustellen, der bis zum Ende seines Lebens auf eine kosmische Weltenwende gehofft habe.25 Solche Autoren berufen sich dabei gern auf jene Gespräche mit Hitler, die Hermann Rauschning, der anfangs durchaus nazifaschistisch eingestellte Danziger Senatspräsident, nach seinem politischen Damaskus-Erlebnis, 1940 im US-amerikanischen Exil publizierte. Manches an diesen Gesprächen ist in seiner übertriebenen Form zweifellos als antifaschistische Propaganda gemeint. Anderes, vor allem das, was Rauschning über Hitlers Gralskult berichtet, der sicher nicht nur auf Richard Wagner, sondern auch auf Jörg Lanz von Liebensfels zurückgeht, klingt dagegen recht überzeugend. So soll – Rauschning zufolge – Hitler fest daran geglaubt haben, dass der Gral nicht das Blut Jesu, sondern das nordische Blut enthalte und die Führer seiner NS-Organisationen die ihm unterstellten „Templeisen“ seien.26 Zugleich habe Hitler behauptet, dass der Gral durch die jahrhundertlange Rassenvermischung eingetrübt sei und erst dann wieder aufleuchten werde, wenn er das arische Blut von allen minderrassigen Bestandteilen gesäubert habe.27 Das mag als Geheimlehre etwas spekulativ klingen, hat aber durchaus eine innere Affinität zu Hitlers ideologischen Fernzielen. Das gleiche gilt für Hitlers Interesse für die ins Germanophile umgedeutete Welteislehre Hans Hörbigers, an der er nach 1933 jede öffentliche Kritik verbieten ließ. Doch trotz solcher Vorlieben bemühte er sich stets, in der Öffentlichkeit jedwede Überbetonung ariosophischer Ansichten à la Rosenberg erst einmal zurückzudrängen. Ja, Goebbels sprach in diesem Zusam-

24 Vgl. mein Buch: Kultur in finsteren Zeiten. Nazifaschismus, Innere Emigration, Exil, Köln 2011, S. 153–172. 25 Vgl. Louis Pauwels und Jacques Bergier: Aufbruch ins Dritte Jahrtausend (wie Anm. 19) und E. R. Carmin: Guru Hitler (wie Anm. 3). 26 Vgl. Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler, New York 1940, S. 260. 27 Vgl. dazu schon meinen Aufsatz: Gralsmotive um die Jahrhundertwende. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 36, 1962, S. 521–543.



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menhang im Hinblick auf derartige Vorstellungen manchmal in kleinerem Kreise sogar von „nordischem Kitsch“.

VI Allerdings hinderte das viele von Hitlers zum Fanatismus neigende Anhänger keineswegs, nach 1933 weiterhin im Geheimen oder gar öffentlich für ins Gewaltsame drängende arioheroische Vorstellungen einzutreten.28 So publizierte etwa Otto Höfler, einer der bekanntesten Nordisten dieser Jahre, 1934 eine umfangreiche Monographie unter dem Titel Kultische Geheimbünde der Germanen, in der er die volkstümlichen Sagen vom „wilden Heer“ auf die Kampfmythen „altgermanischer Mannerbünde“ zurückführte, deren „staatenbildende Kraft“ es heute neu zu erwecken gelte.29 Andere, wie Paul Lamberty in seinem 1937 erschienenen Buch Die Sage vom Weltreich der Arier, gingen bei solchen Erneuerungsvorstellungen von den angeblichen Schwellzeiten des nordischen Blutes aus, welche 1933 zu einer wahren Sturmflut geführt hätten. Wieder andere phantasierten plötzlich im Sinne der Hörbigerschen Welteislehre vom Anbruch eines neuen Feuerzeitalters, dem alle verfaulenden Reste minderrassiger Kulturen zum Opfer fallen würden. Ja, ein Ahnenforscher wie Herman Wirth glaubte, dass jetzt unter dem arischen Heilsbringer Adolf Hitler ein neues „Ur-Norda“ entstehen würde. All das wurde zwar in den Propagandablättern der NSDAP nicht groß herausposaunt, aber durchaus geduldet, da die Mehrheit der realpolitischen Taktiker des Nazifaschismus in derartigen Autoren eine Riege „nützlicher Idioten“ sah, die man ruhig gewähren lassen solle. Ein ernsthaftes, ja geradezu pseudoreligiöses Interesse an solchen Theorien entwickelten unter den maßgeblichen Satrapen der NSDAP eigentlich nur Alfred Rosenberg und Heinrich Himmler. Während sich Rosenberg dabei weitgehend auf die Vorstellungswelt der älteren Deutschordensritter stützte und in der ostpreußischen Marienburg das wichtigste Bauwerk einer arioheroischen Ostpolitik erblickte, gingen bei Himmler solche Einflüsse wesentlich tiefer und ließen ihn schließlich zum Hauptvertreter einer nazifaschistischen Geheimbundideologie 28 Vgl. meine Aufsätze: Ein Volk von österlich Auferstehenden. Zukunftsvisionen aus dem ersten Jahr des Dritten Reichs. In Hiltrud Gnüg (Hrsg.): Literarische Utopie- Entwürfe, Frankfurt a. M. 1982, S. 266–276, und: Gläubige und Opportunisten. Remythisierungsversuche in Politik und Kultur des „Tausendjährigen Reichs“. In John K. Noyes (Hrsg.): Kultur, Sprache, Macht. Festschrift für Peter Horn, Frankfurt a. M. 2000, S. 245–262. 29 Otto Höfler: Kultische Geheimbünde der Germanen, Frankfurt a. M. 1934, S. 323 f.

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werden, die immer mehr mystisch gefärbte Elemente in sich aufnahm. Allerdings ließ sich auch er dabei nicht in die Karten schauen, was seinen Fall so kompliziert und für Psychohistoriker so geheimnisvoll macht. Nach seiner Artamanenzeit war er in seinen Anfängen erst einmal als höchst strategisch vorgehender NS-Organisator tätig, indem er die Führung der Leibgarde Adolf Hitlers übernahm, aus der sich dann in den späten zwanziger Jahren die SS entwickelte. Seinen Aufstieg zu einer von Hitler mit großen Machtbefugnissen ausgestatteten Führungsstellung verdankte Himmler vor allem der Ermordung all jener sozialrevolutionären SAGrößen und Linkssektierer innerhalb der NSDAP, welche die SS in seinem Auftrag im Juni 1934 durchführte und von der sich Hitler eine verstärkte Unterstützung von Seiten der Großindustriellen erhoffte. Danach riss Himmler nicht nur die Leitung der Gestapo und der gesamten Reichspolizei an sich, sondern übernahm zeitweilig sogar das Amt des NS-Innenministers und wurde obendrein von Hitler zum Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums ernannt. Aufgrund dieser bevorzugten Stellung war es ihm nicht nur möglich, die SS zu einer Organisation auszubauen, deren Mitgliedschaft in die Hunderttausende anstieg und die schließlich geradezu einen Staat im Staate bildete, sondern auch einige seiner arioheroischen Wunschvorstellungen, wenn auch vorerst in möglichst unauffälliger Form in die Praxis umzusetzen. Dazu gehörten vor allem folgende: die im Jahr 1935 vorgenommene Gründung der Stiftung Ahnenerbe,30 welche sich unter der Leitung von Walter Darré und Herman Wirth mit der germanischen Vor- und Frühgeschichte beschäftigen sollte, die im Pyrmonter Protokoll von 1936 festgesetzte Unterstützung der Hörbigerschen Welteislehre, die Anlage einer umfangreichen Hexenkartothek, mit der Himmler das „finstere Treiben“ der katholischen Kirche gegen die Reste „germanisch“ gesinnter Menschen zu beweisen versuchte,31 seine Berufung des okkulten „Erberinnerers“ Karl Maria Wiligut, der sich Weisthor nannte und in enger Verbindung mit dem Lanzschen Tempel des Neuen Ordens, der EddaGesellschaft und der Bewegung arteigenen Glaubens stand,32 zum SS-Obergruppenführer und persönlichen Runenberater, Himmlers Interesse an den angeblich bis auf die germanische Vorzeit zurückgehenden Externsteinen im Teutoburger 30 Vgl. Michael H. Kater: Das Ahnenerbe. Die Forschungs- und Lehrgemeinschaft in der SS, Heidelberg 1966. 31 Vgl. Sönke Lorenz et al.: Himmlers Hexenkartothek. Das Interesse des Nationalsozialismus an der Hexenverfolgung, Bielefeld 1999. 32 ������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. Eduard Gugenberger: Hitlers Visionäre (wie Anm. 8), S. 102, und Franziska Hundseder: Wotans Jünger. Neuheidnische Gruppen zwischen Esoterik und Rechstradikalismus, München 1998, S. 126 ff.



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Wald, seine Vorliebe für Otto Rahn,33 der 1933 ein Buch unter dem Titel Kreuzzug gegen den Gral herausgebracht hatte, in dem es um die grausame Liquidierung des adlig-reinen Katharerordens durch das herrschsüchtige Papstum des späten 12. Jahrhunderts geht, seine Befürwortung der von Ernst Schäfer in den Jahren 1938/39 auf den Spuren von Helena Petrowna Blavatsky vorgenommenen Expeditionen nach Tibet34 sowie schließlich seine Umwandlung der Stiftskirche von Quedlinburg, in der Heinrich I. begraben liegt, in ein SS-Heiligtum, wo Himmler nicht nur mitternächtliche Gedächtnisfeiern an diesen ersten „bedeutsamen Slawenbezwinger“ abhielt, sondern bei denen er sich sogar als neuer „König Heinrich“ als Reinkarnation dieses „urgermanischen“ Herrschers ausgab. Alle diese Phänomene und die mörderischen Konsequenzen derartiger Anschauungen sind wohldokumentiert. Manche NS-Forscher haben deshalb Himmler, um ihn als ein Werkzeug okkulter Verblendungen oder gar teuflischer Mächte hinzustellen, als einen luziferischen Dämon oder „Black Jesuit“ und seine SS als „Satans Soldiers“ bezeichnet.35 Doch solche Überhöhungen ins Magische, die man auf viele Gewaltherrscher angewandt hat, lassen faktenorientierte Historiker stets unbefriedigt. Damit ist alles und zugleich nichts gesagt. Es wäre daher viel aufschlussreicher, den geheimnisvollen bzw. arioheroischen Ansichten Himmlers etwas wissenschaftsverpflichteter nachzugehen. Eins muss man dabei allerdings von vornherein zugeben: obwohl auch bei ihm, wie bei den meisten NS-Führern, das Primat der Politik im Vordergrund stand, war er von den bis ins späte 19. Jahrhundert zurückgehenden Geheimlehren wesentlich stärker beeinflusst als die Mehrheit der nazifaschistischen Demagogen. Dafür spricht vor allem sein Interesse an den vom Papst verketzerten Katharern, den Gralsmythen, den tibetanischen Urweisheiten, der Hörbigerschen Welteislehre sowie seine Überzeugung, eine Reinkarnation Heinrich I. zu sein. Aufgrund all dieser Überzeugungen hoffte er, dass aus seiner SS – nach dem siegreich zu Ende geführten Zweiten Weltkrieg – die Führerschicht eines vorerst geheim gehaltenen großgermanischen Reichs von Burgund bis zum Ural hervorgehen würde. In Anlehnung an frühere Geheimbünde, wie die Templer, Katharer, Rosenkreuzer und alchemistischen Bruderschaften, bemühte sich Himmler daher, seine 33 ����������������������������������������������������������������������������������� Vgl. Hans-Jürgen Lange: Otto Rahn und die Suche nach dem Gral. Die Tragödie des Katharismus, Engerda 1999. 34 Vgl. Alan Baker: Invisible Eagle. The History of Nazi Occultism, London 2000, S. 102 ff., und René Freund: Braune Magie. Okkultismus, New Age und Nationalisozialismus, Wien 1995, S. 16. 35 Joseph Carr: The Twisted Cross. The Occult, Religion, and the New Age Nazism in the Third Reich, Shreveport 1983, S. 112 ff. und 139 ff.

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SS ebenfalls in einen Orden umzubilden, von dessen Mitgliedern er im Hinblick auf den Aufbau eines starken Ariertums eine rein nordische Herkunft sowie einen blinden Gehorsam verlangte. Und wie fast alle Ordensgroßmeister vor ihm fasste er dabei ebenfalls eine zentrale Kultstätte dieses Ordens ins Auge. In seinem Fall war es die Ruine der 1123 errichteten Wewelsburg bei Paderborn, die er ab 1934 mit Hilfe eines vermögenden Freundeskreises, zu dem unter anderem die Vorstandsmitglieder der Deutschen Bank, der Dresdner Bank, der Commerzbank sowie des Norddeutschen Lloyd, der Siemenswerke, der IG Farben-Gesellschaft und des Flickkonzerns gehörten, welche ihm auch die mitternächtlichen Feiern am Grabe Heinrich I. in Quedlinburg finanzierten,36 zu einem Treffpunkt der obersten SS-Gruppenführer ausbauen ließ.37 Was sich in den Innenräumen dieser Burg, die von manchen zu mythischen Überhöhungen neigenden Psychohistorikern gern als SS-Kloster, Gralsburg, Himmlers Camelot oder Himmlers Walhall bezeichnet worden ist, danach wirklich abgespielt hat, können wir nur vermuten. Schließlich verhängte Himmler schon 1935 ein absolutes Berichtsverbot über alle Vorgänge in dieser Burg.38 Wir wissen lediglich, dass sie aufgrund von Vorschlägen Karl Maria Wiliguts mit Runen ausgestattet war und nach den Erweiterungsentwürfen des NS-Architekten Hermann Bartels, die auf 250 Millionen Mark veranschlagt waren, die Form jener Heiligen Lanze erhalten sollte, die bereits Otto Höfler in den Speer Wotans umgedeutet hatte, während andere „Erberinnerer“ darin die Lanze Heinrich I. sahen. Ob sich in der Wewelsburg auch Meditationsübungen oder spiritistische Seancen abgespielt haben, wie zum Teil behauptet wurde,39 lässt sich nicht mehr nachweisen. Wahrscheinlich war das Ganze eher als Schulungsstätte für die obersten SSGruppenführer gedacht, die dort mit den weitgehend geheim gehaltenen arioheroischen Fernzielen Himmlers vertraut gemacht wurden. Dass diese Ziele nach der Ausrottung der Juden und großer Teile der slawischen Bevölkerung Osteuropas sowie der „Aufnordung des deutschen Volks durch rassistische Züchtungsprogramme“ im Aufbau eines „großgermanischen Reichs“ kulminieren sollten, daran 36 Vgl. Reinhard Vogelsang: Der Freundeskreis Himmler, Tübingen 1972, S. 124. 37 Vgl. u.a. Karl Hüser: Wewelsburg 1933–1945. Kult- und Terrorstätte der SS, Paderborn 1982, und Jan Erik Schulte (Hrsg.): Die SS, Himmler und die Wewelsburg, Paderborn 2009. 38 Vgl. Heinz Höhne: Der Orden unterm Totenkopf. Die Geschichte der SS, Gütersloh 1967, S. 8. 39 Vgl. u.a. Paul Roland: The Nazis and the Occult. Dark Forces Unleashed by the Third Reich, Edison 2007, S. 81 und E. R. Carmin: Das Schwarze Reich. Templer-Orden. ThuleGesellschaft. Das Dritte Reich. CIA, Hamburg 2006, S. 137.



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ließ Himmler allerdings in den wenigen seiner Geheimreden, die sich in schriftlicher Form erhalten haben, schon vor dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 keinen Zweifel aufkommen.40 Obwohl es Himmler gelang, seine SS – einschließlich der Waffen-SS – bis zum Herbst 1944 zu einer Organisation von über 900 000 arischen Männern zu vergrößern, scheiterten jedoch – außer der unbarmherzigen Liquidierung von Millionen und Abermillionen Juden, Zigeunern, Polen, Ukrainern und Russen – alle seine anderen Pläne dank der militärischen Übermacht der sowjetischen, englischen und US-amerikanischen Streitkräfte aufs Kläglichste. Daraufhin befahl Himmler im März 1945 die Sprengung der Wewelsburg und der angrenzenden Verwaltungsgebäude und nahm sich kurz nach der deutschen Kapitulation das Leben. Mit ihm verschwand endlich der grausamste Vollstrecker jener arioherischen oder besser ariohybriden Vorstellungen, deren Vorgeschichte bis ins späte 19. Jahrhundert zurückgeht. Ob Himmler noch wie Hitler darauf gehofft hat, dass andere nordisch gesinnte Völker den Kampf gegen die dunkelrassischen Untermenschen weiterführen würden, wissen wir nicht. Wahrscheinlich kaum. Schließlich war er trotz aller rassistischen Wahnvorstellungen ein nazifaschistischer Realpolitiker, der mit dem „Brand der Halle“ oder der immer wieder vermuteten Versenkung des heiligen Gralsteins der Katharerburg Montségur in einer Gletscherspalte der Alpen41 – im Gegensatz zu einigen anderen NS-Fanatikern – keine neuen Wiederauferstehungsmythen verband. Während Hitler gegen Kriegsende darauf hoffte, dass nach dem Untergang Deutschlands die 25 Milllionen Arier in den USA den Kampf gegen die bastardisierten Untermenschen fortsetzen würden, war Himmler viel zu sehr auf seine Vorstellung eines agarisch-zentraleuropäischen Reichs fixiert, um irgendwelche darüber hinausgehenden geopolitischen Hoffnungen zu hegen. Daher setzte sich nach ihm im viergeteilten Restterritorium des Dritten Reichs kaum noch jemand von seinen ehemaligen Gefolgsleuten für eine abermalige Heraufkunft der Arioheroiker ein. Allerdings bedeutete das – trotz vieler Friedens- und Abrüstungskonferenzen – kein Ende einer Reihe neuer Weltmachtbestrebungen, die vor allem im Kalten Krieg der Nachkriegsära einsetzten, aber auch danach, ob nun in militärischer oder ökonomischer Form, keineswegs nachließen.

40 Vgl. Bradley Smith und Agnes Peterson (Hrsg.): Heinrich Himmler. Geheimreden 1933– 1945 und andere Ansprachen, Berlin 1974, S. 174 f. 41 So Jean-Michel Angebert: Hitler et la tradition cathare, Laffont 1971, S. 315.

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Widerstand im Dritten Reich Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation

Trotz allem Schweren sehe ich auf mein bisheriges Leben gern zurück. Das Lichte überwog das Dunkle. Und dafür war grossen Teils unsere Ehe der Grund. Ich habe mir in der letzten Nacht viele der schönen Augenblicke in unserer Ehe durch den Kopf gehen lassen, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurden es. Es war, als ob ich in einen Sternenhimmel sah, bei dem ja auch die Zahl der Sterne ständig wächst, je genauer man hinsieht. Erinnerst Du Dich noch an Picnic Point, als wir uns verlobten? Ich sang vor Freude früh morgens im Club. Und noch vorher an unser erstes ernstes Gespräch beim Mittagessen im Restaurant in State Street? Dieses Gespräch wurde mein Leitstern und ist es geblieben.1

I Mit diesen Worten verabschiedete sich Arvid Harnack am 14. Dezember 1942 von seiner Frau Mildred Harnack-Fish.2 Er war in dem von der Gestapo so bezeichneten Prozess der Roten Kapelle3 zum Tode verurteilt worden, seine Frau zu 1 Abschiedsbrief von Arvid Harnack an Mildred Harnack-Fish vom 14. Dezember 1942. In: Gedenkstätte Deutscher Widerstand (GDW), Sammlung Rote Kapelle. 2 Shareen B. Brysac: Resisting Hitler. Mildred Harnack and the Red Orchestra, Oxford 2000, S.  56. Laut Brysac zog Mildred es vor, Fish-Harnack genannt zu werden (S.  IX); da sie jedoch in Deutschland laut des üblichen Brauchs Harnack-Fish genannt wurde, benutzte sie Fish-Harnack in den USA und Harnack-Fish in Deutschland. In einem EmailAustausch mit der Verfasserin bekräftigte Johannes Tuchel von der GDW diese Tatsache. Auf Mildreds Visitenkarte aus ihrer Berliner Zeit stand: „Mildred Harnack-Fish, M. A. Lektor für Englisch und amerikanische und englische Literaturgeschichte an der Universität Berlin“ (GDW, Sammlung Rote Kapelle). Da dieser Text auf deutsch verfasst ist, hält sich die Verfasserin an die deutsche Namensgebung. 3 Vgl. Jürgen Danyel: Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung. In: Hans Coppi, Jürgen Danyel und Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994, S.  12–38, und Hans Coppi: Die ‚Rote Kapelle‘ im Spannungsfeld von Widerstand und nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Der Trepper-Report vom Juni 1943. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 44.3,

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dem Zeitpunkt nur zu einer langen Haftstrafe, die wenig später auf Hitlers direkten Befehl ebenfalls in eine Todesstrafe umgewandelt wurde. „Picnic Point“ und „State Street“ sind die Bezugspunkte, die einen Bogen schlagen zwischen Berlin, wo sich die zu diesem Brief führenden dramatischen Ereignisse abspielten, und Madison, im US-amerikanischen Bundesstaat Wisconsin, wo die zwei erwähnten Orte liegen und wo an einem kalten, aber sonnigen Wochenende im März des Jahres 2012 einige Geisteswissenschaftler zusammenkamen, um über das Thema „Deutsche Geheimgesellschaften“ zu diskutieren. Es schien mir daher angebracht, aus den verschiedenen geheim gehaltenen Gruppen und Organisationen des deutschen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus diejenige auszusuchen, innerhalb derer dieses Ehepaar gewirkt hat, um darauf hinzuweisen, wie tief die University of Wisconsin-Madison in den deutsch-US-amerikanischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts verwurzelt ist. Das Bestehen einer Geheimgesellschaft beruht in ihrem tiefsten Verständnis auf dem Geheimnis ihrer Existenz. Das ist umso mehr der Fall, wenn eine derartige Gesellschaft innerhalb eines diktatorischen Regimes und im Widerstand zu diesem wirkt. Für das Regime unsichtbar zu sein, ist zwar für das Überleben der Gruppe notwendig, bringt aber gleichzeitig die Gefahr mit sich, als Widerstandsgruppe oder -organisation wirkungslos zu sein, falls sie sich nicht auf die Unterstützung einer breiten Masse der Bevölkerung oder des Volkes stützen kann und als Clique oder Vertreter von Außenseitern dasteht. Diesem Dilemma müssen sich alle Widerstandsgruppen bzw. -organisationen überall und zu jeder Zeit stellen. Dadurch, wie sie es lösen, definieren sie nicht nur sich selbst, sondern auch ihr Verständnis des Widerstandes. Dieser Aufsatz konzentriert sich auf die beiden Gruppen, die sich unabhängig voneinander um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack bildeten, und sich 1939 zur Schulze-Boysen/Harnack-Organisation zusammenschlossen. Diese Gruppen wollten das nationalsozialistische Deutschland untergraben und waren nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs bemüht, diesem ein schnelles Ende zu 1996, S. 431–458. Die Organisation um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack wurde fälschlicherweise von der Gestapo samt anderer unter den Namen „Rote Kapelle“ subsumiert. Eigentlich kamen vier verschiedene Widerstandskreise unter dieser Benennung zusammen: 1. ein Geheimdienstnetzwerk, das Leopold Trepper auf Anforderung des NKWD in Frankreich und Belgien errichtet hatte und das Verbindungen zum französischen und belgischen Widerstand unterhielt, 2. die zwei seit 1933 und bis 1939 getrennt bestehenden Gruppierungen um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, 3. die Gruppe um den Legationsrat des Auswärtigen Amts des Dritten Reichs Rudolf von Scheliha, und 4. der Kreis um das KPD-Mitglied Kurt Schulze, welcher bereits vor 1933 für den sowjetischen Militärnachrichtendienst (GRU) als Funker tätig war.



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bereiten. Deshalb sammelten sie Informationen über das tägliche Leben unter dem Nationalsozialismus und über die Verfolgung sogenannter „Nicht-Arier“, verfassten Beweisstücke gegen das Regime, dokumentierten Gewalttaten und Verbrechen und stellten Materialien zusammen, die ihre Mitbürger darüber aufklären sollten, welche Schandtaten im Namen des Volkes von den Nationalsozialisten verübt wurden. Gleichzeitig riefen die Mitglieder dieser Widerstandsgruppe in ihren Schriften ihre Mitbürger und Mitbürgerinnen dazu auf, sich und Deutschland vom Nationalsozialismus zu befreien. Da viele unter ihnen aus dem linken Lager kamen oder ein Interesse an der Sowjetunion hatten, schloss die Organisation es nicht aus, gegebenenfalls auch mit diesem Land gegen das Dritte Reich zusammenzuarbeiten. Im Unterschied zu der US-amerikanischen und englischen Regierung war Stalin ernsthaft am deutschen Widerstand interessiert, nicht weil er dessen Mitglieder unterstützen wollte, sondern weil er befürchtete, dass sie mit den US-Amerikanern und Briten hinter seinem Rücken bevorrechtigte Friedensverträge abschließen könnten, was Hitler ermöglicht hätte, einen Einfrontenkrieg gegen die Sowjetunion anzufangen.4 Zwischen Januar und April 1941 ließ Arvid Harnack Stalin eine Übersicht des deutschen Widerstands in Deutschland, wie er ihn kannte, zukommen und bestärkte dadurch dessen Angst vor einer britisch-US-amerikanischen-deutschen Annäherung.5 Letztendlich blieb aber die wichtigste Warnung, welche die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation an die Sowjetunion weiterleitete, nämlich die Information über Deutschlands Verstoß gegen den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion im Juni 1941, ein KassandraRuf. Stalin ließ die Warnung nicht nur unberücksichtigt, sondern schloss auch die Möglichkeit ihrer Wahrhaftigkeit verächtlich aus.6 Dieser Beitrag stellt 1. die Zusammensetzung der Gruppen und der späteren Organisation Schulze-Boysen/Harnack dar, um ihre Ideale herauszuarbeiten, und thematisiert 2. anhand einer Analyse ihrer Schriften und Handlungen ihr Widerstandsverständnis. Das in diesem Beitrag vertretene Verständnis von „Widerstand“ ist durch Detlev Peukerts Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde (1982) geprägt. Darin entwickelt Peukert ein Schema der im Dritten Reich vorhandenen Konflikttypen auf Grund zweier Koordinaten: Erstens, die Reichweite der Systemkritik (von generell zu partiell) und zweitens, der Wirkungsraum der Handlung (von privat zu staatsbezogen), so dass nur Handlungen und Verhaltensweisen, „in de4 Shareen B. Brysac: Resisting Hitler (wie Anm. 2), S. 282–283. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 261, und Boris Chawkin, Hans Coppi und Juri Zorja: Russische Quellen zur Roten Kapelle. In: Ders. (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus (wie Anm. 3), S. 104–111, hier 107.

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nen das NS-Regime als Ganzes abgelehnt wurde, und Maßnahmen, die zur Vorbereitung des Sturzes des NS-Regimes im Rahmen der Handlungsmöglichkeiten des jeweils einzelnen Subjekts getroffen wurden,“7 Widerstand ausmachen. Andere Verhaltensweisen, mit denen man sich gegen die Macht des Staates über das eigene Leben auflehnte, gehören zu Kategorien wie Nonkonformität (wie etwa das Hören von Feindsendern, insbesondere der BBC), Verweigerung (die eigenen Kinder nicht zur Hitlerjugend oder dem Bund Deutscher Mädel zu schicken) oder Protest (dazu gehören öffentliche, regimekritische Erklärungen wie beispielsweise die der Kirchen gegen das Euthanasie-Programm der Regierung). All diesen Handlungen fehlt jedoch die systemische Breite einer grundsätzlichen Verneinung und Konfrontation mit dem nationalsozialistischen Regime. Widerstand heißt daher bewusstes, physisches Handeln gegen das Regime, in Form des bewaffneten Kampfes, der Propaganda gegen die Regierung, der Sabotage oder der Verschwörung. Diese Handlungen richteten sich gegen die gesamte Machtstruktur des NSRegimes und seiner Ideologie und strebten als Endresultat dessen Abschaffung an. Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation hat in ihrem Selbstverständnis und in ihren Handlungen den Nationalsozialismus nicht nur als Ideologie und Regierungsform abgelehnt, sondern auch aktiv zu untergraben und zu bekämpfen versucht. Sie hat Widerstand gegen Hitlers Regime geleistet und ihre Organisation so aufgebaut, dass sie dadurch ihren Mitgliedern sowohl moralische Unterstützung während der bedrückend gewaltsamen Jahre des Dritten Reichs als auch eine Basis für aktives Wirken gegen das Regime geboten hat. Ihr unbezwingbares Vertrauen in die Fähigkeit des deutschen Volkes, die Machenschaften des HitlerRegimes zu durchschauen und es dagegen zu mobilisieren, ist einer der bemerkenswertesten Fälle von sozialer Missdeutung auf Seiten politisch-engagierter Intellektueller im deutschen Widerstand. Unter Intellektuellen versteht man laut Seymour Martin Lipset all jene, „who create, distribute, and apply culture, that is the symbolic world of man, including art, science and religion“.8 ������������ Ralf Dahrendorf schreibt den Intellektuellen eine soziale Rolle zu, die durch „the independent and deliberate use of words“ begründet wird. Er betont, dass eine Gesellschaft ihr Veränderungspotenzial als soziale Einheit dann erhält, wenn Intellektuelle ihre Fähigkeiten zur kritischen Analyse verbalisieren und eine Rolle spielen, die zugleich unentbehrlich und mühselig ist.9 Diese Voraussetzung für eine veränderbare Ge7 Detlev Peukert: Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 97–98. 8 Seymour Martin Lipset: Political Man. The Social Bases of Politics, Garden City, NY 1963, S. 333. 9 Ralf Dahrendorf: Society and Democracy in Germany, Garden City, NY 1967, S. 281.



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sellschaft war während des Dritten Reichs nicht gegeben, da dessen Sozialleben auf Normen der Rassenideologie und einer intoleranten und anti-intellektuellen Weltanschauung errichtet wurde.10

II Die Schulze-Boysen-Gruppe zwischen 1933 und 1939 Die Gruppe um Harro Schulze-Boysen bestand aus dem „Gegner“-Kreis,11 aus verschiedenen Freundeskreisen und aus einigen Splittergruppen der KPD.12 Nach 1933 kamen diese zumeist miteinander befreundeten Personen an verschiedenen Abenden zusammen, um philosophische und politische Fragen zu erörtern. In diesem Sinne schrieb Harro Schulze-Boysen am 24. Februar 1937 an seine Eltern: „Alle 14 Tage hatten wir nette Picknick-Abende bei uns. Da es allen so gut gefällt, werden wir es auch weiter tun. Es ist eine famose Art, alle Freunde von Zeit zu Zeit zu sehen und alle Verpflichtungen auf vernünftige Weise zu erledigen. Meist sind etwa 25–30 Menschen da, die sich ja bei uns sozusagen fast verkrümeln. Wir haben ja genug Platz. Wir geben nur Tee. Die anderen bringen Keks, Wein usw. mit. Zuerst wird 1–1½ Stunden etwas Gutes gelesen, danach ist Musik und Tanz bis 12. Punkt 12 schmeißen wir alle raus. Am ersten Abend lasen [Werner] Dissel und [Klaus] Jedzek aus Ernst Jünger; am zweiten ich aus Ernst Fuhrmann; am dritten hatten wir Platon, und so geht es nun weiter: [Ludwig] Klages, [Georges] Sorel, Macchiavelli usw. Für 10 George L. Mosse: Nazi Culture. Intellectual, Cultural, and Social Life in the Third Reich, New York 1968, S. 133. 11 Alexander Bahar: Sozialrevolutionärer Nationalismus zwischen Konservativer Revolution und Sozialismus. Harro Schulze-Boysen und der „Gegner“-Kreis, Koblenz 1992. Harro Schulze-Boysens „Gegner“-Kreis hatte sich um die Publikation „Gegner“, ab April 1932 „Gegner. Zeitschrift für neue Einheit“, gebildet und stellte eine politische Alternative zu dem etablierten Parteiensystem der Weimarer Republik dar. Dieser Kreis vereinte Vertreter verschiedener ideologischer Ansichten ( Jungdeutscher Orden, Schwarze Front, Neue Nationalisten, Trotzkisten, Rote Pfadfinder) und brachte sie zusammen, um über die politische Lage Deutschlands zu diskutieren und einander kennenzulernen. 12 Hans Coppi: Harro und Libertas Schulze-Boysen. In: Ders. (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus (wie Anm. 3), S. 192–203, hier S. 198, und Peter Steinbach: Widerstandsorganisation Harnack/Schulze-Boysen. Die ‚Rote Kapelle‘ – ein Vergleichsfall für die Widerstandsgeschichte. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42.3, 1991, S. 133–152, hier S. 139.

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einen der nächsten Abende will Albrecht Haushofer (Geopolitik) bei uns ein neues Drama (Sulla, Tragödie des Zynikers) lesen.“13

Diese freundschaftlich-intellektuellen Beziehungen wurden auch während gemeinsamer Wochenend- oder Pfingstausflüge gepflegt, an denen auch die Politik zum Gesprächsthema wurde.14 Die Hauptteilnehmer waren Harro und Libertas Schulze-Boysen, Kurt und Elisabeth Schumacher, Günther Weisenborn, Elfriede Paul und Walter Küchenmeister, Walter und Marta Husemann, Oda Schottmüller und Gisella von Pöllnitz. Diese Gruppe war sehr heterogen zusammengesetzt: Harro Schulze-Boysen war Journalist und Leutnant im Reichsluftfahrtministerium, Libertas Schulze-Boysen war Journalistin und Angestellte der UFA, Kurt Schumacher war Bildhauer, Elisabeth Schumacher war Graphikdesignerin, Günther Weisenborn war Schriftsteller, Elfriede Paul war Ärztin, Walter Küchenmeister war Eisendreher und Journalist, Walter Husemann war Journalist und Werkzeugmacher, Marta Husemann war Schneiderin und Schauspielerin und hatte in dem Brecht-Dudow Film Kuhle Wampe als Gerda eine der beiden weiblichen Hauptrollen gespielt und auch später in Brechts Produktion von Maxim Gorkis Die Mutter mitgewirkt, Oda Schottmüller war Bildhauerin und Tänzerin und Gisella von Pöllnitz war Mitarbeiterin der United Press. Politisch war die Gruppe noch unentschieden. Die Mitglieder wussten, wogegen sie waren, nämlich gegen das Hitler-Regime, aber nicht unbedingt wofür.15 Wie bei anderen Widerstandsgruppen spielten auch für diese Gruppe bestimmte Ereignisse der Zeit eine zentrale Rolle. Die Weltwirtschaftskrise ab 1929, die Unfähigkeit der Weimarer Republik, eine nachhaltige parlamentarische Demokratie einzuführen, und die rapide zunehmenden nationalistischen Tendenzen innerhalb der deutschen Gesellschaft, die ihre Wortführer in der NSDAP gefun13 Brief von Harro Schulze-Boysen an seine Eltern vom 24. Februar 1937. In: Hans Coppi und Geertje Andersen (Hrsg.): „Dieser Tod passt zu mir.“ Harro Schulze-Boysen – Grenz­ gänger im Widerstand, Berlin 1999, S. 229–230. 14 Elsa Boysen: Harro Schulze-Boysen. Das Bild eines Freiheitskämpfers, Düsseldorf 1947, S.  17, und Klaus Lehmann: Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack, Berlin 1948, S. 7. 15 Jürgen Danyel: Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung (wie Anm. 3), S. 24, Hans Coppi: Vom Widerspruch zum Widerstand. In Elsa Boysen: Harro Schulze-Boysen. Das Bild eines Freiheitskämpfers (wie Anm. 14), S. 43, Marlies Coburger: Wege in den Widerstand. Marta und Walter Husemann. In: Hans Coppi, Jürgen Danyel und Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus (wie Anm. 3), S. 235–241, und Norbert Haase: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, Berlin 1993, S. 133–136.



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den hatten, veranlassten Vertreter der Intellektuellen und freidenkenden Jugend zusammen zu kommen, um die traditionellen Einteilungen zwischen der politischen Rechten und Linken aufzuheben. Sie suchten einen Dialog, um diese Kategorien – rechts und links – zu überschreiten, wenn nicht gar zu überbrücken.16 Harro Schulze-Boysens politische Einstellung wurde durch die Idee einer gemeinsamen Front der Jugend gegen die ältere Generation und deren Prinzipien geprägt. Er war gegen die politische Aufspaltung, welche die Parteien der Republik herbeigeführt hatten, indem jede einen Teil der Jugend für die eigene Sache gewinnen wollte. Er hoffte auch, dass es zu einer Verständigung zwischen der deutschen und der französischen Jugend kommen würde, so dass die deutsch-französischen Beziehungen von gegenseitigem Verständnis und von Freundschaft geprägt werden könnten. In diesem Sinne war er ein Vertreter von Alexander Marcs Personalismus-Doktrin, welche die Vereinigung der gesamten europäischen Jugend voraussah, diese aber nicht nach ihrer Einstellung, sondern nach ihrem Alter definierte. Für Marc waren Herkunftsland und ehemalige Parteizugehörigkeit unwichtig, solange die Jugend ein gemeinsames Ziel verfolge: das des Aufbaus einer neuen Welt, die mit der industriellen Revolution zu Recht kam, die den katastrophalen Paradoxien der wirtschaftlichen Entwicklung – darunter am wichtigsten dem Krieg – ein Ende setzten, der Vorherrschaft der Maschine entgegentreten und das Menschliche der Zivilisation zurückholen sollte.17 Ab Sommer 1936 beschäftigte sich diese Gruppe mit dem Bürgerkrieg in Spanien. Wegen seiner Arbeit im Reichsluftfahrtministerium hatte Harro SchulzeBoysen Zugang zu ausführlichen Informationen über Deutschlands Unterstützung des Franco-Regimes.18 Ab 1937 begann sie aufgrund eines Vorschlags von Walter Küchenmeister auch konkrete Aktionen zu planen, welche die nationalsozialistische Ideologie sowie die Unterstützung des Franco-Regimes untergraben sollten.19 Die Methoden ihrer subversiven Arbeit waren höchst verschieden:20 16 „Ich habe mir die geistige Einigung der jungen Generation und eine Art Ordens- und Elitenbildung zum Ziel gesetzt.“ Brief von Harro Schulze-Boysen an seine Mutter vom März/April 1933. In: Hans Coppi und Geertje Andersen (Hrsg.): „Dieser Tod passt zu mir“ (wie Anm. 15), S. 160–161. 17 Alexander Marc: Vers le front unique de la jeunesse européenne. In: Plans, Heft 9, 1931, S. 152–155. 18 Hans Coppi: Harro Schulze-Boysen. Wege in den Widerstand, Koblenz 1995, S. 181. 19 „Im Namen des deutschen Volkes! Feldurteil, 19. Dezember 1942“. In Norbert Haase: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft (wie Anm. 15), S. 103–121, hier S. 105, und Günther Weisenborn: Memorial. Der gespaltene Horizont, Berlin 1983, S. 15–16. 20 Hans Coppi: Harro Schulze-Boysen. Wege in den Widerstand (wie Anm. 18), S. 189.

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Man hörte Feindsender – darunter London, Paris und Moskau, aber hauptsächlich Freies Deutsches Radio auf der Welle 28.9, dessen Programme ab Februar 1937 von Barcelona ausgestrahlt wurden,21 man las in Deutschland verbotene Literatur, man verfaßte Flugblätter und Rundbriefe und sammelte belastendes Material gegen das Regime. Leider ist dieses Material nicht erhalten geblieben, so dass die Information darüber nur in vermittelter Form, wie in den Memoiren von Elfriede Paul,22 festgehalten wurde. Während der Sudetenland-Krise 1938 verfaßte die Gruppe das Flugblatt Der Stoßtrupp, welches laut des Urteils im späteren Prozeß gegen Harro Schulze-Boysen „die Maßnahmen der Reichsregierung [angriff ] und in vollem Umfang die Gründe und Gedanken, die in der feindlichen Agitation gegen diese politische Tat vorgebracht wurden [übernahm].“23 Dieselbe Quelle gibt an, dass nur 40 bis 50 Kopien dieses Flugblattes verteilt wurden.

III Arvid Harnack und seine Gruppe Obwohl Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack bereits 1935 miteinander bekannt wurden, entstand zunächst keine engere Verbindung zwischen diesen beiden Männern.24 Die Gruppe um Arvid Harnack war in vieler Hinsicht sehr verschieden von der um Harro Schulze-Boysen. Harnacks Gruppe war theoriebetonter in ihrer Auffassung vom Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unternahmen ihre Mitglieder keine konkreten Aktionen; ihr Interesse galt vornehmlich wirtschaftlichen Angelegenheiten, weshalb sie oft über die Erfolge der sowjetischen Planwirtschaft diskutierten, da sie in diesem System eine Herausforderung des westlichen kapitalistischen Modells sahen.25 Es ging ihnen um Fragen über die Struktur des wirtschaftlichen Systems und um die Rolle des Staates im Bezug auf soziale Fragen. Der promovierte Volkswirtschaftler Arvid Harnack wollte mehr über das System wissen und auch andere darüber informieren, und zwar in der Hoffnung, dass es eine Alternative 21 Ebd., S. 182. 22 Elfriede Paul: Ein Sprechzimmer der Roten Kapelle, Berlin 1981, S. 97. 23 ��������������������������������������������������������������������������������������� Zit. in Norbert Haase: Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft (wie Anm. 15), S. 105. 24 �������������������������������������������������������������������������������������� Brief von Rudolph Heberle an Ricarda Huch vom 12. Oktober 1946. In: Institut für Zeitgeschichte, Ricarda Huch-Nachlass, ED 106, Bd. 98. 25 Jürgen Danyel: Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung (wie Anm. 3), S. 21.



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bieten und Deutschlands Wirtschafts- und Außenpolitik verändern könnte.26 Er erhoffte sich für Deutschland die Rolle einer geistigen und wirtschaftlichen Brücke zwischen Ost und West, und in diesem Sinne war seine kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eher intellektuell als politisch. Bereits 1928 schrieb er seinem jüngeren Bruder Falk: „Jetzt steht mein Ziel klar vor mir. Mein Leben gehört der Arbeiterbewegung; meine Arbeit soll primär wissenschaftlich und sekundär praktisch sein. In wissenschaftlicher Beziehung habe ich mein Arbeitsfeld gedanklich abgesteckt: erstens interessiert mich die Geschichte der Entwicklung der Arbeiterbewegung im Volksganzen (in allen Ländern), zweitens beschäftige ich mich mit der Philosophie der Politik, d.h. der Frage nach den Formen des menschlichen Zusammenlebens, und 3. mit dem, was ich, ‚Theorie der geschichtlichen Entwicklung‘ nenne, d.h. der Frage nach den Gesetzen, die den Ablauf der Geschichte beherrschen.“27

Arvid Harnacks Tätigkeit innerhalb der Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetischen Planwirtschaft (ARPLAN), dessen erster Sekretär er war, brachte ihn in Verbindung mit der sowjetischen Botschaft in Berlin. Er pflegte diese Beziehung auch nach Hitlers Ernennung zum Kanzler und bis 1938, als manche seiner Bekannten nach Moskau zurückberufen wurden.28 Wie viele Linke in den dreißiger Jahren haben auch er und seine Freunde die Ähnlichkeiten zwischen Hitler und Stalin nicht ganz wahrgenommen. Obwohl sie über die Moskauer Schauprozesse der Zeit informiert waren,29 hat sie das nicht von ihrer linken po26 Falk Harnack: Arvid Harnack, ein Führer der deutschen Widerstandsbewegung. In: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Falk Harnack-Nachlass, Peter Steinbach: Widerstandsorganisation Harnack/Schulze-Boysen. Die ‚Rote Kapelle‘ – ein Vergleichsfall für die Widerstandsgeschichte (wie Anm. 12), S. 137, und Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus. Genese, Selbstverständnis und ordnungspolitische Vorstellungen der Widerstandsgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen. In Peter Steinbach und Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin 1994, S. 468–487, hier S. 475. 27 Brief von Arvid Harnack an Falk Harnack, 3. Juni 1928, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Falk Harnack-Nachlass. 28 �������������������������������������������������������������������������������������� Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus (wie Anm. 26), S. 482, und Peter Steinbach: Widerstandsorganisation Harnack/Schulze-Boysen. Die ‚Rote Kapelle‘ – ein Vergleichsfall für die Widerstandsgeschichte (wie Anm. 12), S. 136. 29 Vgl. Allen Weinstein and Alexander Vassiliev: The Haunted Wood. Soviet Espionage in America – The Stalin Era, New York 1999, S.  54. Martha Dodd wußte, dass Dmitri Bukhartsev – ihr und Arvid Harnacks Bekannter an der sowjetischen Botschaft in Berlin – im Februar 1937 verurteilt und hingerichtet worden war.

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litischen Einstellung entfremdet. Wie seine Frau im Januar und Februar 1933 an ihre Mutter schrieb, sahen sie in der Sowjetunion ihre einzige Hoffnung auf eine bessere Welt.30 Der Teil der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation, der traditionellerweise mit Harnack in Verbindung gebracht wird, kam einerseits durch die Freundschaft zwischen Arvid Harnack und seiner Frau mit Greta und Adam Kuckhoff, andererseits durch die Tätigkeit Mildred Harnack-Fishs als Dozentin am Berliner Städtischen Abendgymnasium für Erwachsene zustande.31 Adam Kuckhoff war nach 1933 freier Schriftsteller, nachdem er in den späten zwanziger Jahren in Jena die Zeitschrift Die Tat herausgegeben hatte. Obwohl er wegen seiner linksliberalen Tendenzen diese Stelle aufgeben musste, hielt er den Kontakt zu seinen ehemaligen Mitarbeitern aufrecht. Er organisierte weiterhin Diskussionstreffen, in denen man zusammenkam, um über wissenschaftliche und künstlerische Angelegenheiten zu diskutieren, ohne dabei sozial-politische Themen oder deren Auswirkung auf Kunst und Wissenschaft zu scheuen. Man besprach auch die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Umstrukturierung Deutschlands.32 Kuckhoffs Leitsatz war: „Niemals war es so wesentlich, die großen Gedankensysteme bis zu der letzten Konsequenz zu erörtern und gegeneinander in Wirksamkeit setzen zu dürfen. Geistesfreiheit ist heute gefährlicher bedroht als im wilhelminischen Zeitalter, als man sich um das Sozialistengesetz oder um irgendeine unbekleidete Statue herumschlug: weil von den Entscheidungen, die jetzt fallen, die Zukunft der Jahrhunderte abhängig sein wird.“33 Mildred Harnack-Fishs Abendgymnasium-Gruppe bestand aus dem Schlosser Karl Behrens und dessen Ehefrau Cläre, dem Schneider Bodo Schlösinger und seiner Ehefrau Rose, die Stenotypistin war, dem Arbeitslosen Wilhelm Utech und später dem Neffen ihres Ehemannes Wolfgang Havemann, der angehender Jurist war, dem Fabrikbesitzer Leo Skrzypczynski und Herbert Gollnow, einem Kon30 Briefe von Mildred Harnack-Fish an ihre Mutter vom 1. Januar und 4. Februar 1933, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Sammlung Rote Kapelle. 31 Hartmut Mehringer: Widerstand und Emigration, München 1997, S. 171–172, Johannes Tuchel: Das Ende der Legenden. Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): Der 20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln 1994, S. 277–290, hier S. 281. Vgl. auch dazu Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus (wie Anm. 26), S. 474–475, und Shareen B. Brysac: Resisting Hitler (wie Anm. 2), S. 120–122. 32 Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus (wie Anm. 26), S. 473. 33 ������������������������������������������������������������������������������������ Adam Kuckhoff: Eine Auswahl von Erzählungen, Gedichten, Briefen, Glossen und Aufsätzen, Berlin 1970, S. 226–227.



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sulatssekretär im Auswärtigen Amt.34 Neben volkswirtschaftlichen Traktaten las man auch Marx’ Kapital, Lenins Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus sowie Staat und Revolution. Besonders in dem letzten Buch sah Arvid Harnack ein mögliches Modell für eine radikale Restrukturierung Deutschlands nach dem Fall des nationalsozialistischen Regimes.35 Arvid Harnack hielt auf manchen der Treffen dieser Gruppen Reden, und seine außergewöhnliche Bildung prägte das hohe Niveau der darauffolgenden Diskussionen. Er erwartete von den Teilnehmern, dass sie die nationalsozialistische Propaganda durchschauten und die katastrophalen Konsequenzen des Hitler-Regimes voraussahen.36 Greta Kuckhoff arbeitete als wissenschaftliche Übersetzerin in Berlin und bot gemeinsam mit Mildred Harnack-Fish englischen Konversationsunterricht an, was beiden Frauen erlaubte, ihre Bekanntenkreise zu erweitern sowie mehr Leute kennenzulernen und zu beeinflussen.37 Sehr wichtig waren auch die Empfänge in der US-amerikanischen Botschaft, zu denen Mildred und Arvid eingeladen wurden sowie die Feste, die Martha Dodd – die Tochter des US-amerikanischen Botschafters bis 1937 – organisierte.38 Wie Jürgen Danyel gezeigt hat, war die Gruppe um Arvid Harnack davon überzeugt, dass sich die Bevölkerung früher oder später gegen das Dritte Reich erheben würde, und sah ihre Tätigkeit als Vorbereitung für den Moment, in dem eine geschickte Vermittlung ihrerseits Deutschland in eine bessere Richtung steuern würde. Der ausbleibende Protest sowie die gleichzeitigen Vorbereitungen auf den Krieg überzeugten jedoch die Mitglieder dieser Gruppe davon, dass neue Wege eingeschlagen werden müssten, um Hitlers Deutschland zu bezwingen.39 Seit dem Sommer 1935 betrieb Arvid Harnack Wirtschaftsspionage

34 Hans Coppi: Mildred Harnack – eine Amerikanerin in Berlin. In: Dahlemer Archiv Gespräche, Nr. 9, 2003, S. 77–101, hier S. 94, und Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus (wie Anm. 26), S. 475. 35 Friedrich Lenz: In Memoriam. Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Falk HarnackNachlass. Vgl. auch Friedrich Lenz: Wirtschaftsplanung und Planwirtschaft, Berlin 1948, S. 94. 36 Johannes Tuchel: Das Ende der Legenden (wie Anm. 31), S.  281, und Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus (wie Anm. 26), S. 475. 37 Shareen B. Brysac: Mildred und Arvid Harnack: The American Connection. In: Hans Coppi, Jürgen Danyel und Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus (wie Anm. 3), S.  180–191, hier 185–187; und Shareen B. Brysac: Resisting Hitler (wie Anm. 2), S. 169–173. 38 Ebd. 39 Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus (wie Anm. 26), 476, und Jürgen Danyel und Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Rote Kapelle (wie Anm. 3), S. 24.

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zugunsten der Sowjetunion und ab November 1939 auch zugunsten der USA.40 Im ersten Fall fühlte er sich dem Land „ideell verbunden,“41 obwohl seine Gruppe keine Verbindungen zu kommunistischen Organisationen hatte,42 im zweiten Fall wurde seine Wahl von der Überzeugung motiviert, dass die Vereinigten Staaten in einem bewaffneten Konflikt eine bedeutende Rolle für den Sieg gegen Hitlers Deutschland spielen würden.

IV Das Zusammenkommen: die Schulze-Boysen/HarnackOrganisation Die Grundlage für die Entstehung der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation im Jahr 1939 war die Freundschaft zwischen einzelnen Mitgliedern der beiden Gruppen um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack. Adam und Greta Kuckhoff stellten das Bindeglied zwischen den führenden Köpfen dar.43 Harro SchulzeBoysen traf später Hans Coppi und nahm auch Kontakt zu dessen Gruppe auf. Darauf begannen sie gemeinsam über die Konsequenzen des Ribbentrop-Molotow Paktes zu diskutieren,44 was zu Kontaktaufnahmen mit der Gruppe um den Psychoanalytiker John Rittmeister45 und die des Schauspielers Wilhelm Schürmann-Horster führte.46 Die Mitglieder all dieser Gruppen teilten gemeinsame soziale Erfahrungen und politische Interessen, wie die Weltwirtschaftskrise, die politische Provokation durch die NSDAP und ein Interesse an der Sowjetunion. Die Gruppen kamen zusammen und führten Aktionen durch, ohne jedoch ein 40 Shareen B. Brysac: Mildred und Arvid Harnack: The American Connection (wie Anm. 37), S. 187–188, Shareen B. Brysac: Resisting Hitler (wie Anm. 2), S. 224–228, S. 249– 250, S. 259 und S. 275–276. Während Brysacs Quellen überzeugend dafür sprechen, dass Arvid Harnack am Anfang 1941 noch Beziehungen zur US-amerikanischen Botschaft hatte und dass er auch diese vor dem Angriff auf die Sowjetunion warnte, ist es unklar, was aus dieser Verbindung nach der Abreise der letzten US-amerikanischen Diplomaten aus Berlin passiert ist. 41 Hans Coppi: Mildred Harnack – eine Amerikanerin in Berlin (wie Anm. 34), S. 98. 42 Ebd., 96. 43 Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle – Ein Lebensbericht, Berlin 1986, S. 230–232. 44 Heinrich Scheel: Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts, Berlin 1993, S. 224–227. 45 Johannes Tuchel: Das Ende der Legenden (wie Anm. 31), S. 282. 46 Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus (wie Anm. 26), S. 479, und Johannes Tuchel: Das Ende der Legenden (wie Anm. 31), S. 283.



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einheitliches, in allem präzise abgestimmtes Netzwerk zu bilden. Ihre Widerstandsarbeit war dezentralisiert, da jede Tat von persönlichen Beziehungen und Freundschaften abhing.47 Sie waren, um Jan Foitziks Begriff zu verwenden, eine „Konglomeratgruppe“, das heißt „eine Organisationsform, für die nicht ihre organisationspolitischen Vorformen konstitutiv waren, [sondern] subjektive und individuelle Faktoren“.48 Die Mitglieder der neuen Organisation umfassten „ein breites und differenziertes Spektrum sozialer Herkunftsbereiche und damit verbundener Traditionsbestände, variierender Lebensentwürfe, Sozialisationsmuster und beschaulicher Motivationen, die schon für sich genommen gegen grobe soziologische und politische Zuordnungsraster bei der Bewertung dieser Gruppierung sprechen.“49 Nach ihrer Entstehung konzentrierte sich die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation auf Vorträge und Diskussionen zwischen den Mitgliedern, da ihr die Möglichkeit nicht gegeben war, von innerhalb Deutschlands auf politische Ereignisse einzuwirken.50 Der Anfang des Zweiten Weltkriegs verwandelte diesen Dialog in Taten und offenen Widerstand anhand von Flugblättern, Pamphleten, Plakaten, einer Druckschrift und Spionage zugunsten von Deutschlands Gegnern. Sie wollte die deutsche Gesellschaft über den Nationalsozialismus aufklären, über den Verlauf des Krieges jenseits von Goebbels’ Propaganda informieren wie auch auf den bevorstehenden Bruch des Ribbentrop-Molotow-Pakts und den darauf folgenden Angriff auf die Sowjetunion aufmerksam machen. Ihre Ziele waren, dem Krieg ein Ende zu setzen und Deutschland von den Nationalsozialisten zu befreien. Und sie wollten dies erreichen, indem sie die deutsche Bevölkerung aus ihrer Lethargie erweckten und aufklärten. In diesem Sinn haben ihre Mitglieder Informationen über den Krieg gesammelt und an Deutschlands Feinde weitergeleitet. Nach Beginn des Krieges stießen neue Mitglieder zu dieser Organisation hinzu. Sie waren alle51 während der Weimarer Republik zu jung gewesen, um sich an die politischen Kämpfe der damaligen Zeit zu entsinnen. Ihr Widerstand gegen den Nationalsozialismus entsprang ihren Erlebnissen während der Zeit des 47 �������������������������������������������������������������������������������� Jan Foitzik: Gruppenbildung im Widerstand. In: Hans Coppi, Jürgen Danyel und Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus (wie Anm. 3), S. 68–78, hier S. 73–74. 48 Ebd., S. 77. 49 Jürgen Danyel: Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung (wie Anm. 3), S. 12. 50 Peter Steinbach: Widerstandsorganisation Harnack/Schulze-Boysen (wie Anm. 12), S. 140. 51 So z.  B. Hannelore und Fritz Thiel, Otto Golnow, Liane Berkowitz, Friedrich Rehmer, Heinz Strelow, Eva-Maria Buch, Cato Bontjes van der Beek und André Richter.

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Dritten Reichs, ihrer Enttäuschung über den Krieg und ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit.52

V Politische Aktivitäten der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation Ab 1940 hat diese Organisation Schriften hauptsächlich in Form von Flugblättern hergestellt. Die Verfasser dieser Schriften waren Wilhelm Guddorf, Arvid Harnack, Harro Schulze-Boysen, John Sieg und Adam Kuckhoff. Die meisten dieser Flugblätter wurden mit dem lateinischen Wort AGIS unterzeichnet.53 Diese Unterschrift war zugleich ein Aufruf an ihre Leser. „Agis“ ist die 2. Person Singular des Indikativs des lateinischen Verbs agere (handeln) und zugleich ein Verweis auf den spartanischen König Agis IV., der in seinen Bemühungen, Spartas wirtschaftliche und politische Struktur zu erneuern, auf die Tradition des Gesetzgebers Lykurg zurückgriff und die Aufhebung aller Schulden und die Aufteilung des Landes unter deren Bewohnern vorschlug.54 Die Schulze-Boysen/HarnackOrganisation hoffte, dasselbe auf einer abstrakteren Ebene zu erreichen, indem sie ihr Wissen um die Untaten der Nationalsozialisten mit der gesamten Bevölkerung teilen wollte, um diese zu bewegen, sich selbst von Hitlers Regime zu befreien. Sie verschickte die Flugblätter zuerst an Leute, die aufgrund ihrer sozialen Stellung für die darin erhaltenen Informationen Interesse aufbrächten. Zwischen 1941 und 1942 versuchte sie die Flugblätter per Post innerhalb Deutschlands und an die Front zu verschicken, hinterließ sie jedoch auch in öffentlichen Verkehrsmit-

52 Jürgen Danyel: Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung (wie Anm. 3), S. 27. 53 Das Werden der Nazibewegung; Was bedeutet Stimmenmehrheit; Wie es zum Kriege kommen musste; Warum der Krieg verloren ist; Aufruf zum Widerstand; Napoleon Bonaparte, sein politischer Weg, kurz dargestellt in Auszügen aus bekannten Werken der Geschichtsschreibung; Aufruf zum Widerstand aller Berufe und Organisationen gegen die Regierung; Entlarvendes Gutachten der norddeutschen Industrie über die zum Kriege führenden Verhältnisse; Die wirtschaftliche Entwicklung im nationalsozialistischen Stadium des Monopolkapitalismus; Clausewitz; Freiheit und Gewalt; Aufruf an die Arbeiter der Stirn und der Faust, nicht gegen Russland zu kämpfen; Organisiert den revolutionären Massenkampf; Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk. Zit. in: Günter Weisenborn (Hrsg.): Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945, Reinbek 1954, S. 206–207. 54 Klaus Lehmann: Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack, Berlin 1948, S. 11.



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teln oder Telefonzellen.55 Man hoffte, so viele Menschen wie möglich davon zu überzeugen, dass es den Nationalsozialisten trotz ihres radikalen Umgangs mit politischen Gegnern nicht gelungen war, alle oppositionellen Stimmen innerhalb Deutschlands zum Schweigen zu bringen. Nach dem Winter 1941/1942 beinhalteten die Flugblätter auch militärische Erwägungen, welche die Bevölkerung vor der aus ihrer Sicht unmittelbar bevorstehenden Niederlage warnen sollten. Sie beschwor die Bevölkerung, dem Krieg, der nur den Verlust von Menschenleben mit sich brachte, ein Ende zu setzen. Andere ihrer Schriften wurden entweder in dem mehrsprachigen Traktat Die innere Front, einer an die breitere Bevölkerung, aber auch an Zwangsarbeiter, Soldaten und Polizisten gerichteten Publikation,56 oder in der Flugblattserie Offene Briefe an die Ostfront, die sich an die Soldaten und Offiziere an der Ostfront richtete, veröffentlicht. In der Inneren Front wurde zur Kriegsverweigerung, zum passiven Widerstand, zur Sabotage und zu Streiks aufgerufen,57 indem hervorgehoben wurde, dass nur ein schnelles Ende des Krieges Europa vor der Gesamtzerstörung bewahren würde. In diesem Sinne schrieb man: „Nur die sofortige Beendigung des Krieges kann Europa vor dem Untergang und das deutsche Volk vor dem Zusammenbruch seiner nationalen Existenz retten. Hitler aber kann den Krieg nicht beenden, ohne sich selbst und sein Regime aufzugeben. Darum muß das deutsche Volk endlich sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und durch den Sturz der Hitlerdiktatur die Voraussetzung schaffen für ein freies, in Frieden und Freundschaft mit allen Völkern lebendes und arbeitendes Deutschland.“58 Die Serie Offene Briefe an die Ostfront, von der nur ein Flugblatt von 1941/1942 erhalten ist,59 schildert die Greueltaten der deutschen Einsatztruppen gegenüber der Zivilbevölkerung im Osten. John Sieg und Adam Kuckhoff verfassten die

55 Günter Weisenborn (Hrsg.): Der lautlose Aufstand (wie Anm. 53), S. 206. 56 Klaus Lehmann: Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack (wie Anm. 54), S.  11, Günter Weisenborn (Hrsg.): Der lautlose Aufstand (wie Anm. 53), S.  206, und Kurt Schilde: Eva-Maria Buch. Biographische Skizze eines kurzen Lebens. In: Hans Coppi, Jürgen Danyel und Johannes Tuchel (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus (wie Anm. 3), S. 204–212. 57 ���������������������������������������������������������������������������������������� „Italienischer Streik“. Abgedruckt in��������������������������������������������������� :�������������������������������������������������� Helmut Schmidt (Hrsg.): John Sieg. Einer von Millionen spricht. Skizzen, Erzählungen, Reportagen, Flugschriften, Berlin 1989, S. 144–145. 58 „Der Katastrophe entgegen“. Abgedruckt in Helmut Schmidt (Hrsg.): John Sieg (wie Anm. 57), S. 141–142, hier S. 142. 59 John Sieg/Adam Kuckhoff: „An einen Polizeihauptmann“. Abgedruckt in: Helmut Schmidt (Hrsg.): John Sieg (wie Anm. 57), S. 131–140.

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Schriften,60 um an die Soldaten an dieser Front zu appellieren, an solchen Schandtaten nicht teilzunehmen. Ein anderer Aspekt der Handlungen dieser Gruppe war die Herstellung von Plakaten, die darauf an Litfasssäulen, Wänden und Bäume geklebt wurden, um der apathischen Bevölkerung zu beweisen, dass nicht alle in Deutschland so dächten wie die Nationalsozialisten und dass sich diese Andersdenkenden für ihre Ideale einsetzen und das Hitler-Regime bekämpfen sollten. Am 8. Mai 1942 eröffnete in Berlins Lustgarten die Ausstellung „Das Sowjetparadies“. Um dieses Ereignis zu boykottieren, klebten Harro Schulze-Boysen, Liane Berkowitz, Hans und Hilde Coppi, Ursula Götze, John Graudenz, Werner Krauss, Friedrich Rehmer, Fritz Thiel und Maria Terwiel in der Nacht zwischen dem 17. und 18. Mai Plakate mit der folgenden Inschrift: „Ständige Ausstellung Das NAZI-PARADIES Krieg, Hunger, Lüge, Gestapo Wie lange noch?“61

In ihren Memoiren erklärte Greta Kuckhoff diese Aktion folgendermaßen: „Etwas mußte geschehen, damit die Berliner merkten, sie selbst lebten in einem sehr zweifelhaften ‚Paradies‘ und ließen sich von denen, die die ganze Welt knechten wollten, etwas vormachen über den ersten sozialistischen Staat.“62 Es gelang der Gestapo nicht, der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation auf die Spuren zu kommen. Da die Gestapo ihre Aufmerksamkeit jetzt auf die Widerstandsaktivitäten in Berlin gerichtet hatte, konnte sie die Mitglieder der Gruppe Baum verhaften, die am 27. Mai 1942 versucht hatte, die Ausstellung in Brand zu setzen.63 Abgesehen davon, dass sie eine kleine kommunistische Zelle war, befanden sich unter den Mitgliedern der Gruppe Baum auch einige Juden, was nicht nur für

60 Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle – Ein Lebensbericht (wie Anm. 43), S. 265 und S. 307, und Heinrich Scheel: Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts (wie Anm. 44), S. 260. 61 Meldung wichtiger staatspolizeilicher Ereignisse, Nr. 9 vom 20. Mai 1942. Zit. in: Margot Pikarski und Elke Warning (Hrsg.): Gestapo-Berichte über den antifaschistischen Widerstandskampf der KPD 1933–1943, Berlin 1989–1990, S. 227. 62 Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle – Ein Lebensbericht (wie Anm. 43), S. 321. 63 Ebd., S. 320.



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die Gruppe selbst, sondern auch für die übrig gebliebenen jüdischen Gemeinden Berlins schwere Folgen hatte.64 Die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation machte es sich auch zur Aufgabe, denen zu helfen, gegen die das Regime am ärgsten vorging. Sie sammelte Geld und Essen für politisch Verfolgte und Juden. Zugleich richtete sie mit Hilfe von Helmut Himpel und Maria Terwiel auch Versteckorte ein, um die Verfolgten dem Zugriff der Gestapo zu entziehen. Cato und Mietje Bontjes van der Beek stellten obendrein Verbindungen zu französischen Kriegsgefangenen her.65 Es scheint, als ob es auch Kontakte zwischen der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation und anderen anti-nationalsozialistischen Gruppen gegeben hat, ohne dass sich diese als systematische Zusammenarbeit nachweisen lassen. Am 30. August und 7. September 1942 wurden Harro Schulze-Boysen, Arvid Harnack und Mildred Harnack-Fish von der Gestapo verhaftet. Ihre Festnahme bedeutete das Ende der Aktionen ihrer Organisation und den Anfang höchst traumatischer Verhöre der gefassten Mitglieder. Am Ende dieser Verfahren wurden im Fall Rote Kapelle 39 Männer und 19 Frauen zum Tode und andere 25 Männer und 13 Frauen zu langen Haftstrafen verurteilt.66 In ihrer Gesamtheit entsprachen die Aktivitäten der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation der von Peukert vertretenen Auffassung von Widerstand, indem sie sich zu einem aktiven Widerstand gegen das Hitler-Regime entschloss. Die Anfänge dieser Organisation gingen zurück auf die Kreise um Harro und Libertas Schulze-Boysen und Arvid Harnack und Mildred Harnack-Fish, die andere Personen aus ihren Freundeskreisen heranzogen. In ihrer unkonventionellen Mischung aus literarischen Diskussionen, musikalischen Soireen, Tanzfesten, Wochenendausflügen und politischen (Selbst-)Ausbildungsabenden förderten ihre Treffen das Entstehen einer Kryptoöffentlichkeit,67 die ihren Teilnehmern moralische Unterstützung während der schwierigen Zeiten, die sie durchlebten, 64 Konrad Kwiet und Helmut Eschwege: Selbstbehauptung und Widerstand: Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933–1945, Hamburg 1984, S.  114–139, und Wolfgang Wippermann: Die Berliner Gruppe Baum und der jüdische Widerstand, Berlin 2001. 65 Klaus Lehmann: Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack (wie Anm. 54), S. 14, und Johannes Tuchel: Das Ende der Legenden (wie Anm. 31), S. 288. 66 Marlies Coburger, Regina Griebel und Heinrich Scheel: Erfasst? Das Gestapo-Album zur Roten Kapelle. Eine Foto-Dokumentation, Halle 1992, S. 341–355. 67 ������������������������������������������������������������������������������������������ In meiner Studie: Against All Odds. Models of Subversive Spaces in National Socialist Germany, Oxford 2010, S. 2–5, habe ich den Begriff „Kryptoöffentlichkeit“ folgendermaßen definiert: „a politicized private sphere [which] offers the possibility to resist, i.e. withstand, the state, but offers no guarantee that acts of opposition will emerge from it. In order for

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und die Grundlage für einen antistaatlichen Aktivismus und sogar für einen aktiven Widerstand bot. Doch trotz des Vertrauens der Organisationsmitglieder in das Rebellionspotenzial des deutschen Volks war auch diese Gruppe, wie auch der Kreisauer Kreis, der Scholl-Schmorell-Kreis und die Bewegung des 20. Juli, eine Form vom „Widerstand ohne Volk.“68 Die Geschichte der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation bleibt weiterhin kontrovers. In der Bundesrepublik wurde diese Gruppe meist als Spionageorganisation hingestellt, die im bezahlten Dienst der Sowjetunion stand, während man sie in der DDR als dem sowjetischen Nachrichtendienst unterstehende Gruppe anerkannte. Bis heute bleiben viele Aspekte ihrer Tätigkeit weiterhin ungeklärt. Erst seit dem Ende des Kalten Kriegs wurden mehr und mehr Dokumente zugänglich gemacht. Aus der Sicht dieses Beitrags bezeugen Existenz und Tätigkeiten der Schulze-Boysen/Harnack-Organisation, dass politische Tätigkeit auch in autoritären Gesellschaften private und öffentliche Bereiche miteinander verflicht und die Basis sowohl für Selbstbehauptung als auch Widerstand herstellt. Die eigenartige Gruppendynamik zwischen ihren Mitgliedern führte zu einer Art Widerstand, der sich in erster Linie als „Behauptung der in den Auseinandersetzungen der späten Weimarer Republik gewonnenen politischen und kulturellen Identität gegenüber dem Konformitätsdruck der Diktatur“69 verstand. Das Ziel dieser Organisation war, das deutsche Volk aufzuklären, eine soziale Revolution herbeizuführen, die nach dem Ende des Dritten Reiches zu einer Sozialdemokratie in Deutschland führen würde. In diesem Sinne haben ihre Mitglieder alle ihnen zu Verfügung stehenden Mittel verwendet: einerseits Flugblätter, Pamphlete und Plakate, um die Bevölkerung und die Soldaten an der Front zu erreichen, andererseits um durch Wirtschafts- und Militärspionage das Dritte Reich international zu kompromitieren. Der einzige Unterschied zwischen den Aktivitäten dieser Organisation und denen anderer Gruppen, wie der um General Hans Oster oder dem Kreisauer Kreis, war, dass die Schulze-Boysen/Harnack-Organisation nicht nur im Westen, sondern auch im Osten Unterstützung suchte. Ihr deswegen den Anspruch auf patriotische Gesinnung zu verweigern, wäre jedoch fehl am Platz.

actions occurring within it to become opposition, they must undermine the entire power structure of the opposed system and strive for the abolition of the regime.” 68 Jürgen Danyel: Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung (wie Anm. 3), S. 32. 69 Jürgen Danyel: Zwischen Nation und Sozialismus (wie Anm. 26), S. 474.

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Die „Döner-Morde“ Der Nationalsozialistische Untergrund

I Nach der katastrophalen Niederlage des Dritten Reichs im Mai 1945 vermieden alle ehemaligen NS-Fanatiker – so gut wie sie es vermochten – erst einmal für einige Jahre, sich wieder in das helle Rampenlicht der politischen Öffentlichkeit zu begeben. Stattdessen versuchte eine Reihe jener Widerstandskämpfer – vor allem die aus den Konzentrationslagern befreiten Linken sowie eine Reihe von Exilheimkehrern und Vertretern der sogenannten Inneren Emigration – in Organisationen wie dem Kulturbund zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands einen meinungsbildenden Einfluss auf die ideologisch verstörte deutsche Bevölkerung auszuüben. Doch das gelang ihnen nur bis zum Beginn des Kalten Kriegs im Jahr 1947, als in den westlichen Besatzungszonen des deutschen Restterritoriums nicht mehr der Antifaschismus, sondern, wie unter dem Hitler-Regime, der Antikommunismus zur allesbeherrschenden Leitideologie wurde. Und damit erhielten selbst frühere Nazifaschisten wieder die Chance, ihren Stimmen Gehör zu verschaffen. So kam es etwa im Nordwesten Deutschlands schon 1949 durch ErnstOtto Remer zur Gründung der Sozialistischen Reichspartei (SRP), in der vor allem frühere NSDAP-Funktionäre und Wehrmachtsoffiziere den Ton angaben. Als jedoch diese Partei im Jahre 1951 bei den Landtagswahlen in Niedersachsen 11 Prozent der Stimmen erhielt, wurde sie im Oktober 1952 vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe als „rechstextremistisch“ verboten.1 Dennoch ließen in den frühen fünfziger Jahren die deutschnational oder kryptofaschistisch eingestellten Schichten in der BRD in der Partei der Freien Demokraten (FDP), der Deutschen Reichspartei (DRP), dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) sowie den verschiedenen Soldatenverbänden nicht nach, sich gegen die von den Siegermächten durchgeführte Spal1 ������������������������������������������������������������������������������������ Vgl. Hans-Peter Schwarz: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik. 1949–1957, Wiesbaden 1981, S. 130–135.

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tung Deutschlands auszusprechen, ehemalige NSDAP-Mitglieder in ihre Reihen aufzunehmen und die Wiederherstellung des Deutschen Reichs in den Grenzen von 1937, also einschließlich der an Polen abgetretenen Ostgebiete, zu fordern. Ja, selbst in den oberen Rängen der Christlich Demokratischen Union (CDU) setzten sich Hans Globke und Theodor Oberländer für die gleichen oder ähnlich geartete Zielsetzungen ein. Fast dieselben Forderungen wurden 1951 von jenen Schichten erhoben, die sich für die Wiedereinführung des Lied der Deutschen als der einzig möglichen Nationalhymne der westdeutschen Bundesrepublik einsetzten, worauf Konrad Adenauer, trotz des Einspruchs von Theodor Heuss, am 6. Mai 1952 zwar nicht die erste, aber die dritte Strophe dieses unter den Nazifaschisten ins Imperialistische verfälschten Lieds zur offiziellen Hymne der BRD erklärte.2 Allerdings erwies sich dieser anfängliche „Furor teutonicus“ als relativ kurzlebig, da sich die meisten Bundesrepublikaner und -republikanerinnen in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre geradezu rückhaltslos von jenem mit den Mitteln der Marshallplangelder herbeigeführten wirtschaftlichen Aufschwung mitreißen ließen, was zu einer steigenden Selbstzufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen führte. Rechte Splitterparteien, ob nun die DRP oder der BHE, verloren demzufolge bei den anstehenden Wahlen immer mehr Stimmen. Daran änderte sich auch nichts, als die DRP im Reichsruf, ihrer Wochenzeitung für das nationale Deutschland, im Januar 1956 folgende Ergänzungsstrophe zum Lied der Deutschen publizierte, mit der sie ein neues Nationalbewusstsein unter der westdeutschen Bevölkerung zu verbreiten suchte: „Über Länder, Grenzen, Zonen, / hallt ein Ruf, ein Wille nur, / überall wo Deutsche wohnen, / zu den Sternen hallt der Schwur: / Niemals werden wir uns beugen, nie Gewalt für Recht anseh’n, / Deutschland, Deutschland über alles / und das Reich wird neu ersteh’n.“3 Einen neuen Auftrieb erhielten derartige Gesinnungen erst, als am 28. November 1964 in Hannover die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gegründet wurde. Wie die DRP und der BHE war sie kein Geheimbund, sondern eine staatlich zugelassene Organisation, deren Führungskräfte bis dahin der Deutschen Reichspartei (DRP), der Deutschen Partei (DP) und der Vaterländischen Union (VU) angehört hatten. Mit deutlichen Anklängen an ältere nazifaschistische Ideologievorstellungen vertrat diese Partei einen betont völkischen Nationalismus, das heißt, sie plädierte für einen autoritären Staat, der auf dem „Wil2 Vgl. meinen Aufsatz: Zersungenes Erbe. Zur Geschichte des „Deutschlandlieds“. In: Ders.: Sieben Arten an Deutschland zu leiden, Königstein 1979, S. 69 ff. 3 �������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. hierzu mein Buch: Verlorene Illusionen. Eine Geschichte des deutschen Nationalismus, Köln 2012, S. 329.



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len der Volksgemeinschaft“ und nicht auf angeblich undeutschen Vorstellungen, wie einem subjektivistisch-überspitzten Liberalismus, einem uneingeschränkten Asylvorrecht für Ausländer sowie einer Nichtbeachtung der traditionellen deutschen Kultur, beruhen sollte. Und in der im Jahr 1966 einsetzenden ökonomischen Rezession, die eine weitverbreitete Krisenstimmung auslöste, hatten solche Parolen durchaus ihre Wirkung.4 So gelang es etwa der von Adolf von Thadden angeführten NPD im Jahr 1966 bei der Hessenwahl 7,9 und der Bayernwahl 7,4 Prozent, 1967 bei der Wahl in Baden-Württemberg 9,8 Prozent der Stimmen zu erhalten und somit in die dortigen Landtage einzuziehen. Auch bei den im Jahr 1969 erfolgenden Wahlen zum Bundestag erhielt sie immerhin 4,3 Prozent, verfehlte jedoch die vorgeschriebene Fünf-Prozent-Hürde. In den folgenden Jahren ging allerdings ihr Stimmenanteil wieder drastisch zurück, da sich – aufgrund der sich verbessernden Wirtschaftslage – mit irgendwelchen nationalistischen Parolen keine breiteren Wählermassen mehr mobilisieren ließen. Ja, selbst die in ihrem Sinne herausgegebene National-Zeitung erwies sich trotz ihrer reißerischen Schlagzeilen als ein kaum beachtetes Randphänomen.

II Einen neuen Auftrieb erhielten derartige Tendenzen erst durch die am 3. Oktober 1990 erfolgte Wiedervereinigung Deutschlands, die zu einem merklichen Anschwellen nationalistischer Gefühlsentladungen führte. Die meiste Aufmerksamkeit erregten dabei die Proklamationen der NPD und der Deutschen Volksunion (DVU), die im Zuge der von vielen Ausländern beargwöhnten „Wir sind wieder ein einig Volk“-Stimmung keineswegs darauf verzichteten, erneut auf gewisse nazifaschistische Parolen zurückzugreifen. Am weitesten ging hierbei der damalige Vorsitzende der NPD Günter Deckert, der daraufhin im Jahr 1995 wegen „Volksverhetzung“ zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Eine ähnliche Haltung nahmen nach der „Wende“ die sogenannten Republikaner unter Franz Xaver Schönhuber ein, der gegen Ende der neunziger Jahre von der DVU mehrfach als Wahlkandidat aufgestellt wurde und für Blätter wie die von Gerhard Frey herausgegebene National-Zeitung sowie die Zeitschrift Nation und Europa betont rechstextremistische Beiträge verfasste.

4 Vgl. Jan-Ole Prasse: Der kurze Höhenflug der NPD. Rechtsextreme Wahlerfolge in den 1960er Jahren, Marburg 2010.

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Doch trotz all dieser Bemühungen blieben derartige Parteien, wie auch die Freiheitliche Arbeiterpartei (FAP) sowie die Deutsche Alternative (DA), bei den anstehenden Wahlen stets unter der vorgeschriebenen Fünf-Prozent-Hürde. Die meisten unter den nationalistisch eingestellten Gruppierungen gingen dabei in ihren Proklamationen von der Vorstellung aus, dass man von einem deutschen Volk erst dann wieder sprechen könne, wenn es sich als ethnische Einheit verstehe und jedwede fremdvölkische „Überfremdung“ entschieden ablehne. Deshalb traten sie – unterstützt von neonazistischen Kameradschaften sowie den Rockbands Noie Werte, Gigi & Die braunen Stadtmusikanten, Landser, Brutale Haie, Legion Ost und Störkraft – ohne die geringsten Skrupel in aller Offenheit für eine prinzipielle „Ausländerfeindlichkeit“ ein. Im Sinne solcher Parolen bekannte sich etwa im Jahr 1998 der damalige Vorsitzende der NPD in Sachsen Holger Apfel in seiner Eröffnungsrede zum Ersten Tag des nationalen Widerstands zu einer unnachsichtigen Ablehnung des herrschenden „Systems“ in jenem Staat, der sich die „Berliner Republik“ nenne, und rief die Mitglieder seiner Partei auf, alle einseitigen „Sühnebekenntnisse“ im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg abzulehnen. Stattdessen solle man lieber, wie er erklärte, der „deutschen Opfer des alliierten Bombenangriffs auf Dresden gedenken“, die „Macht des Zentralrats der Juden brechen“ und dafür eintreten, dass Schlesien, Ostpommern, Ostbrandenburg und Ostpreußen wieder Teile eines neu zu schaffenden deutschen Reichs würden. Ihre schärfste Ausprägung erlebte diese Radikalisierung der NPD, als es zwischen 2000 und 2003 fast zu einem Verbot dieser Partei gekommen wäre, gegen das sich die jüngeren Anhänger der NPD in vielen deutschen Städten mit propagandistisch aufgezogenen Umzügen zur Wehr zu setzen versuchten. Vor allem Skinhead-Gruppen, ob nun die Kameradschaft Germania in Berlin, die Weiße Offensive in Halle oder der Nationale Widerstand in Magdeburg, aber auch ähnliche Gruppen in Westdeutschland traten dabei mit einer Fülle teils gerechtfertigter, teils ungerechtfertigter Werbesprüche, wie „Volksgemeinschaft statt EU-Diktatur“, „One World stoppen“, „Gegen Gen-Mais“, „Arbeit zuerst für Deutsche“, „Nicht Kapitalismus! Nicht Kommunismus! Für deutschen Sozialismus“, „National aus sozialer Verantwortung“, „Arbeit für Millionen statt Profit für Millionäre“, „Bundeswehr raus aus Afghanistan“ oder „Stoppt den amerikanischen Imperialismus“, für eine sozialpolitische Wende in der Bundesrepublik ein. Wegen ihrer nazistischen Verbrämung mit schwarz-weiß-roten Fahnen, Eisernen Kreuzen, SS-Siegrunen, Totenköpfen sowie Berufungen auf die „unbefleckte Ehre“ der NSWehrmacht wurde jedoch das Auftreten solcher Gruppen von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung abgelehnt. Erfolge erzielte die NPD mit solchen Parolen lediglich bei unbelehrbaren Altnazis sowie Teilen der durch die grassierende Ar-



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beitslosigkeit in Not getretenen Jugendlichen, denen die Führer dieser Partei als Endziel ihrer Bestrebungen eine nationale Verbrüderung versprachen, die in einer „unsozialistischen Marktwirtschaft“, wo jeder gegen jeden stehe, nicht möglich sei. Noch am meisten Anklang fand die NPD mit derartigen Anschauungen in einigen wirtschaftlich schlechter gestellten Regionen Ostdeutschlands, wo sie vorübergehend sogar in die dortigen Länderparlamente einziehen konnte. So entschieden sich in Sachsen im Jahr 2004 9,2 Prozent und im Jahr 2006 in Mecklenburg-Vorpommern 7,3 Prozent der Wähler für sie, wobei es sich hauptsächlich um achtzehn- bis vierundzwanzigjährige Erstwähler handelte, die durch die radikal veränderten Eigentumsverhältnisse in den neuen Bundesländern entweder arbeitslos geworden waren oder sich mit Mindestlöhnen abfinden mussten.

III Kein Wunder daher, dass es – aufgrund dieser wirtschaftlichen Notsituation und zugleich der durch die NPD angefachten Nationalgefühle – nach 1990 vor allem in einigen Regionen der ehemaligen DDR nicht nur zu einer verbalen Ausländerfeindlichkeit, sondern auch zu gewalttätigen Ausschreitungen sowohl gegen all jene in Asylbewerberheimen lebenden Vietnamesen und Mosambikanern als auch gegen die aus der ehemaligen BRD nach Osten einwandernden „Fremdlinge“ kam. Besonders die durch die Stilllegung der bisherigen volkseigenen Fabriken aus der Bahn geworfenen Jugendlichen befürchteten, dass ihnen diese Gruppen die wenigen, noch übriggebliebenen Arbeitsplätze wegnehmen würden. In einem Staat großgeworden, in dem es aufgrund der sozialistischen Planwirtschaft keine Arbeitslosigkeit gegeben hatte, sahen sich diese Bevölkerungsschichten, die sich plötzlich als Bürger zweiter Klasse fühlten, einer Situation gegenüber, auf die sie mit einem dumpfen, unaufgeklärten Hass auf alles sie in ihrer persönlichen Existenz Bedrohende reagierten. Zugegeben, auch in der ehemaligen BRD hatte es seit den späten siebziger Jahren vereinzelte Übergriffe gegen sogenannte Gastarbeiter, besonders die Türken unter ihnen, gegeben. Aber was sich in der Nachwendezeit, wie etwa 1990/91 im sächsischen Hoyerswerda sowie 1992 im brandenburgischen Dolgenbradt und in Rostock-Lichtenhagen, abspielte, war wesentlich gewalttätiger als das, was sich vorher in Solingen, Mölln und anderen westdeutschen Städten ereignet hatte. Hierin äußerte sich eine ungezügelte Wut, die weniger rowdyhafte als maßlos enttäuschte Züge hatte. Schließlich hatten Helmut Kohl und die meisten westdeutschen Massenmedien diesen Schichten im

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Jahr 1989 die Segnungen einer „sozialen Marktwirtschaft“ mit all jenen Konsumgütern und Reisemöglichkeiten versprochen, deren man sich im Westen erfreue. Als jedoch die „Wende“ schließlich eintrat, hatten die meisten Ostdeutschen gar nicht das nötige Kleingeld, um sich diese „unbegrenzten Möglichkeiten“ leisten zu können. Demzufolge wanderten – nach der schnell einsetzenden Ernüchterung – Hunderttausende ehemaliger DDRler entweder in den Westen ab, wo sie sich bessere Verdienstmöglichkeiten erhofften, oder wählten anfangs mit relativ unverhüllten Ostalgiegefühlen die aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) hervorgegangene Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS). Doch, wie gesagt, es gab in den sogenannten neuen Bundesländern auch andere, vor allem unter den Jugendlichen, die sich angesichts der ökonomischen Notsituation zusehends irgendwelchen rechtsextremen Gruppen oder Bünden anschlossen, um ihrer aufgestauten Wut in außerparlamentarischen Aktionen Ausdruck zu verleihen. Zu den wichtigsten dieser Organisationen gehörten die Freien oder Autonomen Kameradschaften, die sich Mitte der neunziger Jahre bildeten, wobei sie auf irgendwelche Mitgliederverzeichnisse verzichteten und sich bei der Planung ihrer Aktivitäten lieber auf die Kommunikationstechniken der sogenannten Nationalen Infotelefone oder das Internet beschränkten, um nicht wie die wegen ihres Rechtsradikalismus verbotene Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei (FAP) ebenfalls in die Abschusslinie der staatlichen Behörden zu geraten. Obwohl diese Kameradschaften auch in Westdeutschland aktiv wurden, fanden sie – wie zu erwarten – unter Bezeichnungen wie Mecklenburgische Aktionsfront, Soziales und Nationales Bündnis Pommern, Weiße Brüderschaft Erzgebirge oder Kameradschaft Ostara den meisten Zulauf in den neuen Bundesländern. Allein in Sachsen entstanden in den neunziger Jahren etwa 40 derartige Freie Kameradschaften, denen sich insgesamt 1.800 Jugendliche anschlossen, die am 17. Oktober 2009 – am Jahrestag der Völkerschlacht von Leipzig und der Wartburgfeier der deutschen Burschenschaft – in Leipzig eine vielbeachtete Demonstration veranstalteten. Aufgrund ihrer Anti-Antifa-Gesinnung beteiligten sich diese Kameradschaften zugleich an Aufmärschen am deutschen Soldatenfriedhof in Halbe bei Berlin sowie an irgendwelchen Rudolf Heß-Gedenkmärschen. Obwohl eine Reihe dieser Gruppen, wie die Kameradschaft Oberhavel, die Kameradschaft Nationaler Widerstand Pirna, die Kameradschaft Tor in Berlin-Lichtenberg und die Berliner Alternative Süd-Ost durch die jeweiligen Behörden verboten wurden, ließ ihre Attraktivität für militant eingestellte Jugendliche kaum nach.5 Deshalb 5 Vgl. u. a. Andrea Röpke und Andreas Speit (Hrsg.): Braune Kameradschaften. Die neuen Netzwerke der militanten Neonazis, Berlin 2012.



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nimmt es nicht wunder, dass sich die NPD von Anfang an bemühte, diese Gruppen in ihre Partei einzubinden und sie in ihrem Szeneblatt Widerstand als eine ihnen verwandte „Systemalternative“ hinzustellen. Im gleichen Zeitraum entstand jene internationale, zumeist von England ausgehende Blood and Honour-Bewegung, die wegen ihrer White SupremacyParolen seit Mitte der neunziger Jahre auch in Deutschland begeisterte Anhänger fand. Obwohl sie dort, wie auch ihre Jugendorganisation White Youth im September 2000 behördlicherseits verboten wurde, blieben ihre Anhänger unter dem Decknamen Division 28 weiterhin aktiv. Statt lediglich Demonstrationen, Gedenkmärsche oder Kameradschaftstreffen zu organisieren, fassten diese Gruppen einen Untergrundkampf ins Auge, der auch vor Morden und Raubüberfällen nicht zurückschrecken würde. Sie fanden es sinnlos, sich weiterhin mit friedlichen Aktionen gegen das bestehende Establishment zu begnügen. Im Gefolge des älteren anarchistischen Attentatismus wollten sie endlich „Taten“ sehen, um in Deutschland all jene „undeutschen Elemente“ auszurotten, die zu einer „unerträglichen Überfremdung“ der nationalen Wertvorstellungen geführt hätten. „Die Patrioten von heute“, hieß es daher 1996 in einem Heft der Blood and Honour-Division Deutschland, das sich fast wie ein Ku-Klux-Klan-Manifest liest, „müssen sich auf den größten aller Kriege, den Rassenkrieg, vorbereiten.“ Dass man mit solchen Vorstellungen, die deutlich an die Blut und Ehre-Konzepte der Himmlerschen SS erinnerten, nicht in die breitere Öffentlichkeit treten konnte, ohne sofort verboten zu werden, war vielen Anhängern dieser Bewegung von vornherein klar. Daher entschlossen sich manche dieser Gruppen von Anfang an, ihre Aktivitäten so sorgfältig wie nur möglich geheim zu halten, was zwangsläufig zur Bildung von kleinen, weitverstreuten Terrorzellen führte. Und einer dieser Geheimbünde, der ohne die lange ideologische Inkubationszeit, die ihm vorausgegangen ist, kaum zu verstehen ist, war jener Nationalsozialistischer Untergrund, kurz: NSU, welcher jahrelang rassistisch motivierte Mordtaten durchführte, bis er schließlich im Herbst 2011 aufgedeckt wurde und daraufhin monatelang die deutschen Nachrichtensysteme in Atem hielt.

IV Nach all dem bereits Dargestellten wundert es nicht, dass derlei Gruppen vor allem in den neuen Bundesländern aktiv wurden. Hier hatte es, wie gesagt, bis 1989 kaum Ausländer und keine Arbeitslosigkeit gegeben, weshalb die Reaktion auf derartige Phänomene in diesen Bereichen Deutschlands besonders heftig ausfiel.

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Und im Hinblick auf solche Reaktionen muss auch die Entstehung jener Organisation oder besser braunen Terrorzelle gesehen werden, die inzwischen unter der Bezeichnung Nationalsozialistischer Untergrund in die Geschichte eingegangen ist.6 In ihren Anfängen war sie nicht nur, wie wir heute wissen, mit der Blood and Honour-Bewegung, sondern auch mit der Gruppe Thüringer Heimatschutz vernetzt, bei deren Jenenser Mitgliedern die Polizei gegen Ende der neunziger Jahre sowohl Gaspistolen, Schlagstöcke, Faustkampfmesser, Hansbeile als auch fünf Rohrbomben mit insgesamt 1,4 Kilogramm TNT entdeckt hatte. Bei den anschließenden Untersuchungen des Landeskriminalamts Thüringen gerieten auch Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, die drei Zentralfiguren des Nationalsozialistischen Untergrunds, in Verdacht, zum harten Kern der Blood and Honour-Bewegung in Jena zu gehören,7 wurden aber wegen mangelnder Beweise nicht gerichtlich herangezogen. Um einer möglichen Verhaftung zu entgehen, verließen sie daraufhin Jena, besorgten sich falsche Pässe und tauchten in Sachsen unter. Aufgedeckt wurde diese danach jahrelang im Untergrund aktive Gruppe erst, als im Herbst 2011 Böhnhardt und Mundlos Selbstmord verübten, Beate Zschäpe ihr Zwickauer Haus abbrannte und sich anschließend der Polizei stellte, sich jedoch nicht zu den von ihr und ihren zwei Komplizen verübten Tatvorwürfen äußerte. Aufgrund aufgefundener Videoaufzeichnungen und Drohlisten steht jedoch inzwischen Folgendes fest. Auf das Verbrecherkonto dieser Gruppe gehen mindestens 14 Raubüberfälle auf ostdeutsche Bankfilialen, zehn Morde und zwei Bombenanschläge zurück.8 Bei den Raubüberfällen zwischen 1999 und 2011 handelte es sich ausschließlich um Sparkassen- und Postfilialen in Chemnitz, Zwickau, Stralsund und Eisenach, bei denen diese Gruppe mehrere hunderttausend Euros erbeuten konnte, ohne dabei geschnappt zu werden. Die beiden Sprengstoffanschläge erfolgten 2001 und 2004 in Köln, bei denen es über 20, zum Teil lebensgefährlich Verletzte gab. Die Hauptziele dieser drei Terroristen waren von vornherein rassistischer Natur, wobei sie als Opfer – neben einer deutschen Polizistin – lediglich die ihnen verhassten „Ausländer“ ins Auge fassten. Im Jahr 2000 erschossen sie Enver Simsek in Nürnberg, 2001 Abdurrahim Özüdogru in Nürnberg, Süleyman Tasköprü in Hamburg und Habil Kiliç in München, 2004 6 Vgl. Christian Fuchs und John Goetz: Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland, Reinbek 2012. 7 Vgl Wolf Schmidt: Das Terrortrio NSU und Blood and Honour. Blut und Ehre-Mörder aus Jena. In: tageszeitung vom 15. Mai 2012. 8 �������������������������������������������������������������������������������� Vgl. zum Folgenden Thomas Heise, Maximilian Popp, Sven Röbel, Christoph Scheuermann und Holger Stark: In der Parallelwelt. In: Spiegel, 2012, Nr. 8, S. 63–66.



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Mehmet Turgut in Rostock, 2005 Ismail Yasar in Nürnberg und Theodorus Boulgarides in München, 2006 Mehmet Kubasik in Dortmund und Halit Yozgat in Kassel sowie schließlich 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn. Dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe all diese Banküberfälle, Bombenanschläge und Mordtaten in einem Zeitraum von über zehn Jahren ausüben konnten, ohne dass ihnen die Kriminalpolizei jemals auf die Spur gekommen wäre oder zumindest einen direkten oder indirekten Zusammenhang dieser Untaten geahnt hätte, ist weniger auf ein persönliches Versagen der jeweiligen Kriminalbeamten zurückzuführen als ein Beweis dafür, wie geschickt diese Gruppe zu operieren verstand und dass sie sich dabei auf ein wohlfunktionierendes Netzwerk ideologischer Gesinnungsgenossen verlassen konnte.9 So gesehen, ist sie geradezu ein Musterbeispiel jener rechtsextremistischen Geheimbünde der letzten zwei Jahrzehnte, die von der Überzeugung ausgingen, dass sich politische Ziele nicht demokratisch, sondern nur mit Gewalt durchführen lassen. Und zwar tat sie das mit der Absicht, auch andere nationalistisch Denkende zu ähnlich gearteten Taten anzustiften, um somit in ihrem „Vaterland“ wieder eine Gesinnung durchzusetzen, die auf „Blut und Ehre“ beruhen würde. Man vergleiche daher ihre Raubüberfälle nicht mit den ins Unterhaltsame stilisierten Verbrechen von Bonny und Clyde, sondern sehe in ihnen eher Auswüchse jener gewalttätigen, selbst vor Mordtaten nicht zurückschreckenden Gesinnung, die Heinrich Himmler von seinen SS-Männern verlangte. An der Zwickauer Terrorzelle lässt sich daher nichts beschönigen. Sie ist das krasse Gegenteil von all jenen progressionsbetonten Geheimbünden, die in Zeiten unbarmherziger Unterdrückung entstanden und sich für die Heraufkunft einer humaner gestimmten Zukunft einzusetzen versuchten.

V Aufgrund der von dieser Organisation verübten Verbrechen sollten deshalb auch all jene zur Rechenschaft gezogen werden, welche dieser Gruppe ideologisch vorgearbeitet haben oder auf irgendeine Weise mit ihr in Beziehung standen. Morde, die aufgrund privater Beweggründe begangen werden, sind eine Sache. Ihre Täter sollten gemäß der gesetzlich festgesetzten Verfügungen verurteilt werden und – falls sich keine mildernden Umstände für ihre Tat finden lassen – lebenslänglich eingesperrt werden. Weltanschauliche Morde, vor allem solche rassistischer Natur, 9 Vgl. nochmals Thomas Heise, Maximilian Popp, Sven Röbel, Christoph Scheuermann und Holger Stark: In der Parallelwelt (wie Anm. 8), S. 63–66.

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lassen dagegen nach den Erfahrungen unterm Nazifaschismus keine mildernden Umstände zu. Sie sind von vornherein verdammenswert und sollten gnadenlos geahndet werden. Und das trifft auch auf eventuelle Überlebende des Geheimbunds Nationalsozialistischer Untergrund zu. Diese Terroristen waren keine Unmündigen, sondern Erwachsene, die genau wussten, für welche inhumanen Ziele sie sich einsetzten. Im Hinblick auf sie bewahrheitete sich wieder einmal jene vielzitierte Zeile, die Bertolt Brecht schon in den fünfziger Jahren an den Schluss seiner antifaschistischen Kriegsfibel gesetzt hatte, um seine Zeitgenossen vor den möglichen Nachwirkungen der NS-Ideologie zu warnen: „Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“10 Daher: keine Gnade für Geheimbünde wie die Zwickauer Terrorzelle sowie ihre ideologischen Wegbereiter oder Hintermänner, die immer noch die gleichen rassistischen Ziele verfolgen wie Hitler und seine NSDAP. Auch wer sonst weiterhin mit solchen Vorstellungen liebäugelt, wie manche Anhänger der NPD, sollte aus den gleichen Gründen Berufsverbot erhalten und nicht mehr öffentlich auftreten dürfen. Ja, gegen Mitglieder dieser Partei, bei denen sich geheime Beziehungen zum Nationalsozialistischen Untergrund nachweisen lassen, müssten sich die Gerichte einschalten. Nur so könnte ein Signal gesetzt werden, nicht mehr mit derartig terroristisch operierenden Geheimbünden zu sympathisieren oder sie sogar im Verborgenen zu unterstützen.

10 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. von Elisabeth Hauptmann, Frankfurt a. M. 1967, Bd. IV, S. 1048.

Liste der Beiträger Jan Assmann Emeritierter Professor für Ägyptologie an der Universität Heidelberg und Honorarprofessor für Allgemeine Kulturwissenschaft und Religionstheorie an der Universität Konstanz. Buchpublikationen und Aufsätze zur ägyptischen Religion, Geschichte, Literatur und Kunst sowie zur allgemeinen Kulturtheorie („Das kulturelle Gedächtnis“) und Religionswissenschaft („Monotheismus und Kosmotheismus“). Rainer Godel Privatdozent am Interdisziplinären Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung in Halle. Forschungsschwerpunkte: (Popular-)Philosophie, Anthropologie und Literatur der Europäischen (Spät-)Aufklärung und der Weimarer Klassik, Literaturtheorie und -methodologie, Literatur des Nationalsozialismus und der DDR-Literatur. Jost Hermand William F. Vilas Emeritus Professor für deutsche Kulturgeschichte an der University of Wisconsin in Madison und Honorarprofessor der Humboldt-Universität zu Berlin. Buchpublikationen und Aufsätze zur deutschen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Methodik der Literaturwissenschaft und zur deutsch-jüdischen Geschichte. Sabine Mödersheim Associate Professor für deutsche Literatur und Kulturgeschichte an der University of Wisconsin in Madison. Forschungsschwerpunkte in der Literatur und visuellen Kultur der Frühen Neuzeit.

Corina L. Petrescu

Assistant Professor für deutsche Literatur an der University of Mississippi in Oxford, Mississippi. Forschungsschwerpunkte: Literatur der deutschen Minderheit in Rumänien, deutsch-jüdische Beziehungen seit dem 18. Jahrhundert, jiddisches Theater und transnationale Literaturbeziehungen. Carol Poore Professor Emeritus für deutsche Literatur an der Brown University in Providence, Rhode Island. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 20. Jahrhun-

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Liste der beiträger

derts, Literatur der Arbeitswelt, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und Behindertenforschung. Wilhelm Voßkamp Professor Emeritus für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Köln. Forschungsschwerpunkte: Utopieforschung, Romantheorie, Weimarer Klassik, Wissenschaftsgeschichte, Medien und kulturelle Kommunikation.

Außer den Aufsätzen zum Königsberger Tugendbund und zum Nationalsozialistischen Untergrund wurden die Beiträge in diesem Band im Rahmen eines Humboldtkollegs vorgetragen, das Ende März 2012 an der University of Wisconsin in Madison stattfand. Die Herausgeber bedanken sich für die finanzielle Unterstützung, die ihnen die Alexander von Humboldt-Stiftung anlässlich dieser Tagung gewährte. Kristopher Imbrigotta sorgte für die Einrichtung großer Teile des Manuskripts.

Bildnachweise Voßkamp Abb. 1: Insel Felsenburg, entnommen aus Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp, Reinbek 1969, S. 256. Assmann Abb. 1: Gedenkmedaille zum Erscheinen der Description de l’Egypte, 1826 Abb. 2: Titelblatt zu J.A.v.Segner, Einleitung in die Naturlehre, Göttingen 3.Aufl. 1770 Abb. 3: Heinrich Füßli, Frontispiz zu Ersamus Darwin, The Temple of Nature, Edinburgh 1809 (Quelle für Abb. 1–3: Jan Assmann, L’Egypte ancienne entre mémoire et science, Paris: Hazan 2009) Mödersheim Illustration 1: Emblem „Verfinstert und verkehrt“ mit der Darstellung einer camera obscura, entnommen aus: Johann Arndt: Bücher vom Wahren Christentum (ca. 1650) Illustration 2: Parodie auf den Initiationsritus, Laternenbild, George Eastman House, International Museum of Photography and Film: Sammlung Louis Walton Sipley Nr. 81:0840:0005. Courtesy of George Eastman House, International Museum of Photography and Film. Illustration 3: AOUW-Emblem, entnommen aus: Richard Crangle, Mervyn Heard: Realms of Light, London 2005, S. 94. Illustration 4: Winkelmaß und Zirkel, Laternenbild, George Eastman House, International Museum of Photography and Film: Sammlung Louis Walton Sipley Nr. 86:0633:0008. Courtesy of George Eastman House, International Museum of Photography and Film. Illustration 5: Schwert, Herz und Auge, Laternenbild, George Eastman House, International Museum of Photography and Film: Sammlung Louis Walton Sipley Nr. 86:0633:0091. Courtesy of George Eastman House, International Museum of Photography and Film. Illustration 6: Meisterstuhl mit dem Symbol „G“, Laternenbild, George Eastman House, International Museum of Photography and Film: Sammlung Louis Walton Sipley Nr. 86:0633:0064. Courtesy of George Eastman House, International Museum of Photography and Film.

Personenregister Adenauer, Konrad 182 Aelian 65 Agis IV. von Sparta 176 Albrecht, Wolfgang 50 Alleau, René 142 Altenstein, Karl von Stein zum 89 Anderson, Ken 142 Andreae, Johann Valentin 16, 23, 25 Angebert, Jean-Michel 142 Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach 27 Apfel, Holger 184 Apuleius von Madaura 67 Arco, Anton von 151 Arndt, Ernst Moritz 84, 91, 98 Arndt, Johann 23, 125 Axmann, Max 151 Baader, Andreas 12 Babeuf, François-Émile 103, 104, 111, 113 Bacon, Francis 15, 16, 18, 19, 20, 22 Baczko, Ludwig von 86, 91 Bahrdt, Karl Friedrich 8, 43, 44, 49 Baker, Alan 142 Barbès, Armand 111, 112 Bartels, Hermann 160 Bauer, Heinrich 112, 113 Baum, Herbert 11, 178 Becker, August 101 Beethoven, Ludwig van 75 Behrens, Cläre 172 Behrens, Karl 172 Berkowitz, Liane 175, 178 Biester, Johann Erich 37, 38 Bismarck, Otto von 10, 144, 145 Blanqui, Auguste 10, 111, 112 Blavatsky, Helena Petrowna 146, 147, 159 Bloch, Ernst 111 Bode, Johann Joachim 40, 41, 44, 49 Böhnhardt, Uwe 188, 189 Bontjes van der Beek, Cato 175, 179 Bontjes van der Beek, Mietje 179 Börne, Ludwig 76, 102, 105

Born, Ignaz von 70, 77 Boulgarides, Theodorus 189 Boyen, Hermann von 85, 86, 89, 91 Braun, Rudolf Otto 142 Brecht, Bertolt 168, 190 Brennan, James Herbert 142 Bruno, Giordano 66 Büchner, Georg 10, 101 Bulwer-Lytton, Edward 153 Buonarroti, Filippo 103 Burgund, Cornelius 88, 92 Burte, Hermann 145 Campanella, Tomaso 16, 20, 21, 22, 23, 24, 29 Carmin, E. R 142, 143 Carr, Joseph J. 142 Chamberlain, Houston Stewart 150, 155 Claß, Heinrich 10 Claudius, Matthias 68 Claudy, Carl H. 138, 139 Clemens von Alexandrien 64 Clérembault 90 Coppi, Hans 174, 178 Coppi, Hilde 178 Cudworth, Ralph 62 Dahrendorf, Ralf 166 Dante Alighieri 20 Danyel, Jürgen 173 Darré, Walther 154, 158 Darwin, Erasmus 78 Deckert, Günter 183 Diederichs, Eugen 11 Diodor von Sizilien 64, 68 Dodd, Martha 171, 173 Dohna, Friedrich Ferdinand Alexander von 89, 90 Drexler, Anton 151 Eckart, Dietrich 151 Eisner, Kurt 151 Engels, Friedrich 85, 94, 109, 113, 114, 115, 116, 118, 119 Ensslin, Gudrun 12

Personenregister Euripides 61 Feder, Gottfried 151 Fenélon, François de 60 Fichte, Johann Gottlieb 84, 91 Ficino, Marsilio 66 Fidus 11 Flick 160 Foitzik, Jan 175 Follen, Karl 10, 98 Fontenelle, Bernard de 61 Forster, Georg 48 Fourier, Charles 111 Franco, Francisco 169 Frank, Hans 151 Franklin, Benjamin 86 Franz II. von Deutschland 9, 81 Franz I. von Österreich 81, 83 Frederik III. von Dänemark 124 Freund, René 142 Frey, Gerhard 183 Friedrich, Caspar David 85 Friedrich II. von Preußen 37 Friedrich Wilhelm II. von Preußen 37, 56, 87 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 9, 84, 85, 89, 90, 98 Fritsch, Theodor 27, 146, 149, 150, 151 Füssel, Marian 33 Füssli, Heinrich 78 Garnier, Josef 103 Garve, Christian 37, 38 George, Stefan 11 Globke, Hans 182 Gneisenau, August Wilhelm Neidhardt von 85, 86, 89, 91 Göchhausen, Ernst Anton von 31, 35, 36, 37, 39, 40, 41, 43, 44, 45, 48, 49, 50, 51, 52, 56 Goebbels, Joseph 154, 155, 156, 175 Goethe, Johann Wolfgang 15, 16, 26, 27, 28, 29, 30, 60, 126 Gollnow, Herbert 172 Goodrick-Clarke, Nicholas 142 Götze, Ursula 178 Graudenz, John 178 Grolmann, Karl Wilhelm von 85, 86, 89, 91 Guddorf, Wilhelm 176

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Guizot, François 94 Gumbel, Emil Julius 153 Hardenberg, Karl August von 84, 86 Harnack, Arvid 163, 164, 165, 170, 171, 172, 173, 174, 176, 179 Harnack, Falk 171 Harnack-Fish, Mildred 163, 172, 173, 179 Harrer, Karl 151 Hartmann, Franz 146, 147 Hassencamp, Johann Matthäus 35 Haushofer, Karl 153, 154, 155 Haushofer, Max 145 Havemann, Wolfgang 172 Hebenstreit, Franz 9 Heine, Heinrich 102, 105, 111 Heinrich I. von Sachsen 159, 160 Hekataios von Abdera 64 Heliodor 65 Hentschel, Willibald 146, 154 Herder, Johann Gottfried 48, 86 Hermann der Cherusker 85, 144 Hermes Trismegistos 66, 69 Herwegh, Georg 115 Heß, Rudolf 151, 186 Heuss, Theodor 182 Himmler, Heinrich 154, 157, 158, 159, 160, 161, 189 Hindenburg, Paul von 155 Hitler, Adolf 141, 142, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 161, 164, 165, 166, 168, 171, 173, 174, 176, 177, 178, 179, 181, 190 Hobsbawm, Eric 94, 118 Hoffmann, Heinrich 98, 101 Höfler, Otto 157, 160 Horapollon Nilotes 65 Hörbiger, Hanns 154, 155, 156, 157, 158, 159 Höß, Rudolf 154 Hugenberg, Alfred 155 Husemann, Marta 168 Husemann, Walter 168 Huygens, Christiaan 124 Jahn, Friedrich Ludwig 84, 91 Jaumann, Herbert 54 Kant, Immanuel 15, 31, 32, 38, 47, 76, 77, 78

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Personenregister

Karl der Große 81 Karl von Habsburg 83 Katte, Friedrich von 91 Kellner, Karl 147 Kiesewetter, Michèle 189 Kiliç, Habil 188 King, Francis 142 Kircher, Athanasius 124 Knigge, Adolph 40, 49 Kohl, Helmut 185 Koschorke, Albrecht 35 Kotzebue, August von 98 Krauss, Werner 178 Kreil, Anton 70, 71, 74 Krug, Wilhelm Traugott 86, 87, 88, 89 Kubasik, Mehmet 189 Küchenmeister, Walter 168, 169 Kuckhoff, Adam 172, 174, 176, 177 Kuckhoff, Greta 172, 173, 174, 178 Lamberty, Paul 157 Lamennais, Robert 111 Landauer, Gustav 151 Lange, Friedrich 145 Lanz von Liebenfels, Jörg 11, 148, 149, 150, 151, 155, 156 Lehmann, Hans Friedrich Gottlieb 86, 87 Lehmann, Julius F. 150 Leipziger, August Wilhelm von 9, 87 Lenin 173 Lessing, Gotthold Ephraim 28, 44, 48, 65, 86 Leviné, Eugen 151 Ley, Robert 156 Lichtenberg, Georg Christoph 48 Lipset, Seymour Martin 166 List, Guido von 11, 147, 148, 149, 150, 151, 153, 155 Louis-Philippe von Frankreich 99 Lueger, Karl 147 Lukrez 61 Lykurg 176 Maier, Michael 122 Marc, Alexander 169 Marie Luise von Habsburg 83 Marx, Karl 85, 94, 95, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 173 Mazzini, Giuseppe 106, 119

Meiners, Christoph 59, 60 Meinhof, Ulrike 12 Mendelssohn, Moses 38, 46, 126 Metternich-Winneberg, Klemens Wenzel von 83 Moll, Josef 106, 112, 113, 114 Molotow, Wjatscheslaw 174, 175 Morus, Thomas 16, 20, 23, 25, 26 Moser, Friedrich Carl von 49 Moses 59, 61, 66, 74, 75, 76, 77 Mozart, Leopold 70 Mozart, Wolfgang Amadeus 60, 68, 70, 71, 74 Mundlos, Uwe 188, 189 Napoleon Bonaparte 9, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 88, 89, 90, 91, 96, 98, 176 Napoleon III. von Frankreich 144 Nettelbeck, Joachim 91 Nicolai, Friedrich 38, 126 Oberländer, Theodor 182 Orzechowski, Peter 142 Oster, Hans 180 Özüdogru, Abdurrahim 188 Paine, Thomas 9 Palm, Johann Philipp 83 Papen, Franz von 155 Paul, Elfriede 168, 170 Pauwels, Louis 141 Peukert, Detlev 165, 179 Platon 66, 167 Plinius 65 Ploetz, Alfred 150 Pöllnitz, Gisella von 168 Popert, Hermann 145 Porphyrios 64 Rahn, Otto 159 Rauschenplatt, Ernst von 100 Rauschning, Herrnann 156 Ravenscroft, Trevor 142 Rehmer, Friedrich 175, 178 Reinhold, Carl Leonhard 41, 43, 48, 74, 75 Remer, Ernst-Otto 181 Reuß, Theodor 147 Ribbentrop, Joachim von 174, 175 Riem, Andreas 42, 43, 46, 47 Rittmeister, John 174 Robert, Étienne-Gaspard (Robertson) 126

Personenregister Robespierre, Maximilien 9 Roland, Paul 142 Rosenberg, Alfred 151, 155, 156, 157 Saint-Simon, Henri 111 Sand, Karl 98 Schäfer, Ernst 159 Schapper, Karl 106, 112, 113, 116, 117 Scharnhorst, Gerhard Johann von 85, 91 Schikaneder, Emanuel 60, 68, 71 Schiller, Friedrich 44, 60, 74, 75, 76, 77, 78, 126 Schill, Ferdinand von 91 Schleiermacher, Friedrich Daniel 84, 91 Schlund, Erhard 153 Schmidt, Johann Christian 59 Schnabel, Johann Gottfried 16, 17, 24, 25, 26 Scholl, Hans 11, 180 Scholl, Sophie 11, 180 Schönberg, Arnold 76 Schönhuber, Franz Xaver 183 Schottmüller, Oda 168 Schrepfer, Johann Georg 126 Schulze-Boysen, Harro 164, 167, 168, 169, 170, 174, 176, 178, 179 Schulze-Boysen, Libertas 168, 179 Schumacher, Elisabeth 168 Schumacher, Kurt 168 Schürmann-Horster, Wilhelm 174 Schuster, Theodor 103, 104, 105, 109 Sears, Roebuck & Company 128 Sebottendorff, Rudolf von 150, 151 Segner, Johann Andreas von 77 Selden, John 62 Serrano, Miguel 142 Shaftesbury, Anthony Ashley 53 Shakespeare, William 59, 127 Sieg, John 176, 177 Simsek, Enver 188 Sklar, Dusty 142 Skrzypczynski, Leo 172 Sonnenfels, Joseph von 49 Spencer, John 62, 74, 75 Spinoza, Benedictus de 66

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Stadion, Johann Philipp von 83 Stalin 165, 171 Stauff, Philipp 150, 151 Stein, Heinrich Friedrich von und zum 84, 85, 89, 91 Suster, Gerald 142 Tasköprü, Süleyman 188 Terrasson, Jean 29, 68, 69 Terwiel, Maria 178, 179 Teut, Hermann 66, 145 Thadden, Adolf von 183 Thiel, Fritz 175, 178 Thyssen, Fritz 154 Toller, Ernst 151 Utech, Wilhelm 172 Varro, Marcus Terentius 62 Varus, Publius Quinctilius 85, 144 Venedey, Jakob 103, 104, 105, 115 Voltaire 81 Wachler, Ernst 145 Wagner 108, 156 Walgensten, Thomas 124 Warburton, William 59, 60, 61, 62, 72, 74 Webb, James 142 Weidig, Friedrich Ludwig 10, 101 Weisenborn, Günther 168 Weishaupt, Adam 8, 45, 60 Weitling, Wilhelm 110, 111, 112, 113, 115, 116 Wieland, Christoph Martin 28, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 41, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 71, 134 Wiligut, Karl Maria 158, 160 Wilson, W. Daniel 41 Wirth, Herman 157, 158 Wolff, Wilhelm 115 Wölfl, Johann Walthari 148 Wöllner, Johann Christoph von 42 Wulff, Wilhelm Theodor H. 142 Yasar, Ismail 189 York von Wartenburg, Ludwig 91 Yozgat, Halit 189 Zschäpe, Beate 188, 189

JOST HERMAND

POLITISCHE DENKBILDER VON CASPAR DAVID FRIEDRICH BIS NEO RAUCH

Jost Hermand stellt politisch intendierte Werke vor, die in der Zeit von 1806 bis heute entstanden sind, und bindet sie in den politisch-historischen Kontext ein. Themen sind zudem die Entstehungszeit des Bildes sowie Herkunft und Bedeutung des Künstlers. Behandelt werden Werke von: Friedrich, Schnorr von Carolsfeld, Menzel, Böcklin, Schmidt-Rottluff, Barlach, Kollwitz, Heartfield, Picasso, Nagel, Prechtl, Mattheuer, Kiefer und Rauch. 2011. 294 S. 29 FARB. U. S/W-ABB. GB. MIT SU. 135 X 210 MM. ISBN 978-3-412-20703-8

„Hermands Beispiele dienen als anschauliche Hintergrundfolie für einen Querschnitt durch den Nationalismus und seine Rezeption als zentrales Thema der jüngeren deutschen Geschichte. Die Verflechtung des Historischen mit dem Mythischen bzw. die Ausdifferenzierung nationaldemokratischer und faschistischer Strömungen bis in die jüngere Geschichte der Bundesrepublik fungieren dabei […] als tragende und von Hermand engagiert und kenntnisreich vorgetragene Gesichtspunkte.“ Sehepunkte

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JOST HERMAND

VERLORENE ILLUSIONEN EINE GESCHICHTE DES DEUTSCHEN NATIONALISMUS

Der Begriff „Nationalismus“ hat im deutschsprachigen Bereich Zentraleuropas seit dem Humanismus des frühen 16. Jahrhunderts bis zur heutigen Berliner Republik höchst dramatische Wandlungen erlebt. Aufgrund der ständig wechselnden realpolitischen Voraussetzungen wurde dabei von den jeweils Herrschenden im Hinblick auf die Bevölkerung dieses Territoriums nicht nur von einer Reichsnation gesprochen, sondern auch Begriffe wie Kulturnation, Kriegsnation, Wirtschaftsnation sowie Staatsbürgernation verwendet. Wie viele Illusionen damit verbunden waren, stellt Jost Hermand in diesem Buch dar. 2012. 390 S. 40 S/W- U. 26 FARB. ABB. GB. MIT SU | ISBN 978-3-412-20854-7

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