Deutsch: Eine Sprachgeschichte bis 1945 9783110914849, 9783111858463, 9783484310933

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Deutsch: Eine Sprachgeschichte bis 1945
 9783110914849, 9783111858463, 9783484310933

Table of contents :
Vorwort
Verzeichnis der Karten
Abkürzungen und Sonderzeichen
Einleitung
I: Die Anfänge des ‚Deutschen‘
II: Die Phonologie des Frühdeutschen (Ahd.)
III: Die Mittelalterliche Periode (1050–1500)
IV: Die Morphologie des mittelalterlichen Deutsch (Mhd.)
V: Der Übergang zum frühen modernen Deutsch (1450–1650)
VI: Die Syntax in der Übergangsperiode (Fnhd.)
VII: Die frühmoderne Periode (I): Die Verteidigung der Sprache (1600–1700)
VIII: Die frühmoderne Periode (II): Grammatiker, Literaten und Kulturpolitik im achtzehnten Jahrhundert
IX: Die moderne Periode (1800–1945) (I): Einheit und Vielfalt
X: Die moderne Periode (1800–1945) (II): Semantik, Sprachreinigung und Politik
Anhang A Die Hochdeutsche Konsonantenverschiebung
Anhang B Die Frühdeutschen Klosterschreibdialekte mit Textproben
Bibliographie
Namenregister
Sachregister

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Reihe Germanistische Linguistik

9 3 Kollegbuch

Herausgegeben von Helmut Henne, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand

C. J. Wells

Deutsch: eine Sprachgeschichte bis 1945 Aus dem Englischen von Rainhild Wells

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1990

Originally published in English by Oxford University Press under the title German: A Linguistic History to 1945 c C J Wells 1985

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wells, Christopher J.: Deutsch: eine Sprachgeschichte bis 1945 / C. J. Wells. Aus d. Engl, von Rainhild Wells. — Tübingen : Niemeyer, 1990 (Reihe germanistische Linguistik ; 93 : Kollegbuch) NE: GT ISBN 3-484-31093-6 (kart.) 3-484-10638-7 (Ln)

ISSN 0344-6778

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1990 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Williams Graphics, Abergele, N. Wales, UK. Druck: Weihert-Druck Gmbh, Darmstadt. Einband: Heinr. Koch,Tübingen.

Diese deutsche Ausgabe widme ich meiner verehrten Schwiegermutter Frau Dr. Hildegard Hanewald

Inhalt

Vorwort Verzeichnis der Karten

ix xii

Abkürzungen und Sonderzeichen

xiv

Einleitung I: Die Anfänge des .Deutschen' II: Die Phonologie des Frühdeutschen (Ahd.)

1 35 75

III: Die Mittelalterliche Periode (1050-1500)

105

IV: Die Morphologie des mittelalterlichen Deutsch (Mhd.)

156

V: Der Übergang zum frühen modernen Deutsch (1450-1650) VI: Die Syntax in der Übergangsperiode (Fnhd.) VII: Die frühmoderne Periode (I): Die Verteidigung der Sprache (1600-1700) VIII: Die frühmoderne Periode (II): Grammatiker, Literaten und Kulturpolitik im achtzehnten Jahrhundert IX: Die moderne Periode (1800-1945) (I): Einheit und Vielfalt

192 244 283 321 366

X: Die moderne Periode (1800-1945) (II): Semantik, Sprachreinigung und Politik Anhang A Die Hochdeutsche Konsonantenverschiebung Anhang Β Die Frühdeutschen Klosterschreibdialekte mit Textproben Bibliographie Namenregister Sachregister

414 453 464 472 522 536

Vorwort

,Vor allen Dingen vergesse man nie, daß die Leute unterhalten, amüsiert sein wollen; daß selbst der unterrichtendste Umgang ihnen in der Länge ermüdend vorkommt, wenn er nicht zuweilen durch Witz und gute Laune gewürzt wird ...' Adolph Freiherr von Knigge (1751-17%)

Diese Sprachgeschichte entstammt meinem Unterricht als Lehrender an der Universität Oxford. Sie wurde auf die Bedürfnisse Oxforder Studenten zugeschnitten, besonders derjenigen, die kurz vor den Schlußprüfungen stehen. Gleichzeitig habe ich versucht, mir über viele Probleme in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung Klarheit zu verschaffen, von den großen Fragen nach Zweck und Ziel bis hin zu Detailfragen. So ist das Werk mehrfach zu einem Bekenntnis geworden. In diesem Buch wird Sprachentwicklung als dynamischer Prozeß verstanden, der mit zentralen Funktionen der Sprache als Kommunikationsmittel zu tun hat, Sprachgeschichtsschreibung vornehmlich als interprétatives Verfahren, das jenseits der Darstellung des Tatsächlichen seine eigene Dynamik besitzt. Um mit den Erfordernissen von Methodik und Material fertig zu werden, habe ich meine Studie in dreifacher Hinsicht begrenzt. Erstens wurde der vordeutsche Hintergrund stark gekürzt, da er häufig und erfolgreich behandelt worden ist. Zweitens wurde 1945 - etwas tendenziös - als unterste Zeitgrenze gewählt: nicht in der Überzeugung, daß dieses Datum den Untergang der deutschen Kultur markierte, sondern weil hier deutlich ein neuer Zeitabschnitt beginnt. 1 Aber nur ein Zeitabschnitt, kein .Abbruch'. Denn wie das NS-Regime immer weiter in die Vergangenheit rückt, knüpfen die beiden deutschen Staaten, Bundesrepublik Deutschland und DDR, mit ihrer gemeinsamen Geschichte - und daher notgedrungen mit ihrer Sprachgeschichte und miteinander - neue Verbindungen: die neuesten Jubelfeiern für Goethe (1982), Luther (1983) und neuerdings Berlin (1988) liefern hierfür den Beweis.2 Drittens habe ich in meiner Darstellung Kapitel aus der historischen Grammatik mit soziolinguistisch orientierten Kapiteln zur Geschichte der Sprachgemeinschaft verzahnt, indem ich jeweils eine Sprachebene mit einer historischen Periode verbunden habe - bis hin zum 17. Jahrhundert, als zeitgenössische Erörterungen zur muttersprachlichen Grammatik einsetzten und damit eine Behandlung stilistischer und lexikalischer Entwicklungen vor dem Hintergrund ihrer literarischen und soziolinguistischen Einbettung möglich wird. ' Auch für mich persönlich war 1945 entscheidend: Im Jahr darauf befand ich mich auf einem Schiff nach Deutschland, wo ich im Alter von vier Jahren in einen deutschen Kindergarten wanderte und so als Kind der Besatzung von den Kindern und von der Sprache der Besiegten eingenommen wurde. Diese Sprache hat mich seitdem mehr oder wenig ständig begleitet und fasziniert. 2 Inzwischen leiten seit dem 9. November 1989 die neuen Grenzübergänge in Berlin und die Reisefreiheit in der DDR hoffentlich verbesserte und humanere deutsch-deutsche Beziehungen ein.

χ

Vorwort

Dieser Aufbau dieses Buches erweist sich jedoch als weniger radikal und neu, als man vermuten könnte: denn diese Struktur will nur den Perspektivenwechsel ausnutzen, der aus Mangel an passendem sprachlichen Vergleichsmaterial für alle Sprachebenen zu allen Zeitpunkten jedem Sprachhistoriker des Deutschen aufgezwungen wird. Ja die hier gewählte Struktur macht die Verschiebungen in Behandlung und Betonung des Materials in den Sprachgeschichten seit Adelung evident. Gleichzeitig habe ich versucht, sicher nicht immer mit Erfolg, mich von einer rein schematischen Darstellung des Stoffes - der .Daten' - zu lösen, um die je unterschiedlichen Beziehungen zwischen der Geschichte der Sprecher und der Geschichte der von ihnen benutzten Sprachformen zu untersuchen und zu interpretieren. Für den Zeitraum bis etwa 1650 wird also jeweils ein Kapitel über die gesellschaftlichen und soziolinguistischen Hintergründe einer Sprachperiode mit einem Kapitel aus deren historischer Grammatik verknüpft. Kapitel I bringt die vordeutschen und frühdeutschen Voraussetzungen, rekonstruierte Urformen sowie das vorhandene landschaftliche und stilistische Textsortiment, während Kapitel II die Grundzüge der Phonologie desselben Zeitraums mit junggrammatischen, strukturalistischen und generativen Methoden untersucht. In Kapitel III und IV werden Periodisierung, gesellschaftliche Entwicklung und Textsorten bis etwa 1450 und die zeitgenössischen morphologischen Erscheinungen besprochen. Kapitel V befaßt sich mit dem Buchdruck, mit Luther und mit den ersten volkssprachlichen Grammatiken, während Kapitel VI Syntaktisches aus dieser Zeit beisteuert. Das siebente Kapitel behandelt die Lexis der Alamode-Zeit und den zeitgenössischen Purismus im 17. Jahrhundert. Das achte Kapitel bringt auf metasprachlicher Ebene den Streit der Grammatiker des 18. Jahrhunderts über schrift- und literatursprachliche Normen - mit Gottsched, Klopstock und Adelung als Schwerpunkten. Die moderne Periode 1800-1945 wird in Kapitel IX skizziert, und die Varianten werden im Zuge der Rechtschreibungs- und Aussprache-Kodifizierung behandelt - Dialekte, Umgangssprache, die Berufs-, Sonder- und Fachsprachen. In Kapitel X. wird der Beitrag der Semantik zum Purismus und zu den politischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts diskutiert, darauf folgt eine eingehende Behandlung der Sprache im Nationalsozialismus. Gerade die Problematik der nie endgültig festzulegenden Verknüpfung von Sprache und Wirklichkeit in der Politik schließt den Bogen der Darstellung, da diese Beziehung zugleich eines der Hauptthemen der Kommunikation wie der Sprachgeschichte ist. Die Einleitung mußte das vielseitige Phänomen .Sprache' erörtern: natürlich ein notwendiger, wenn auch unrealistischer Ausgangspunkt. Aber wie sollte man die Geschichte einer Sprache darstellen, ohne sich zuerst mit dem Wesen der Sprache auseinandergesetzt zu haben? Die gewählte Methode oder der Gesichtspunkt der Betrachtung bestimmt zum Teil die Beschreibung und Analyse: Daher war auch notgedrungen eine Skizzierung der verschiedenen linguistischen Schulen am Platze, insofern sie für das Deutsche bedeutsam sind - auch dies ein weites Feld. Schließlich muß jeder Lehrer oder Studierende etwas über die Methodik wissen, die für die Sprachgeschichte relevant ist. Ich möchte diese

Vorwort

xi

Einleitung nur als allgemeinen Überblick und Ausgangspunkt verstanden wissen, keineswegs als Umriß der aktuellen Forschungslage. Soziolinguistik wurde mehrfach im Buch bemüht, ohne daß sie den Grundton der Behandlung bestimmte. Gerade in der Vielfalt einer Sprachgemeinschaft liegt meiner Meinung nach die Triebfeder der Veränderung, daher lohnt sich das Studium des Ineinanderspiels der sprachlichen Varianten einer so stark ausgebildeten Sprache wie des Deutschen auch vom historischen Standpunkt. Diese offenen, sich gegenseitig bestimmenden und beeinflussenden Varietäten werden von den Sprechern nur begrenzt und jeweils in verschiedenem Grad beherrscht; so muß die sprachliche Kommunikation zu Verschiebungen im Gebrauch führen. Die neuere Geschichte des Deutschen, also etwa ab 1800, liefert viel Material, für die jüngere Zeit sogar in Form von Schallplatten oder Film, und ich hätte gerne diese relativ vernachlässigte Epoche noch ausführlicher behandelt. Gerade dieser Teil des Buchs dürfte vorübergehend seinen Wert behalten, indem er verstreutes Material handlich zusammenfaßt: daher habe ich zwei Kapitel und etwa 20% des Buches gerade dieser Zeit gewidmet. Es versteht sich, daß ich bei einem so weitläufigen Gegenstand - schon die Sekundärliteratur ist schier unermeßlich - nicht selbst ,vor Ort' arbeiten konnte. Ich habe trotzdem versucht, in einige Schächte und Galerien so weit vorzudringen, daß ich das Geräusch der Bohrmaschinen zu vernehmen meinte ... So dient dieses Buch als etwas altmodische Fahrkunst: Meine Leser und Kritiker werden bestimmt weiter kommen bzw. gekommen sein. Eine persönliche Darstellung der deutschen Sprachgeschichte wie diese kann nur durch eine gewisse Voreingenommenheit eine klar umrissene und für die Leserschaft verwertbare Gesamtgestalt annehmen, und so konnte die Behandlung nicht immer aktuell und nicht immer ausbalanciert sein. Die Gattung des Buches ist eher die des Vademekums als die des Handbuchs, da es nicht eine nüchterne Darbietung des anscheinend Faktischen sein will, sondern eher eine Würdigung einer der ehrwürdigsten und schönsten Kultursprachen, die es überhaupt gibt eine Würdigung allerdings von außerhalb der Sprachgemeinschaft. Unter den mir bekannten Rezensionen und Anzeigen der englischen Ausgabe dieses Buches sind folgende zu nennen: Eher positiv: Alan Deighton, New German Studies 13 (1985), 197-8. Martin Durrell, Modern Languages Review (1987), 1015-16. Maxi Krause, Études Germaniques (1987), 47-8. Klaus-Peter Wegera, Zeitschrift für deutsche Philologie 108 (1989), 144-47. Eher ablehnend: Charles Russ: The Year's Work in Modern Language Studies 47 (1985), 610-11. Klaus Mattheier, Germanistik (1987), 41. Viele Freunde und Kollegen beiderseits des Ärmelkanals haben mir im Laufe der lang ausgedehnten Vorbereitungen zur ersten und zweiten, deutschen Fassung des Buchs geholfen — allen voran Peter Ganz und David McLintock. An meinem College, St Edmund Hall, standen mir stets mit gutem Rat John

xii

Vorwort

Cowdrey, Bruce Mitchell, Ken Segar und Richard Fargher bei. In vielen, ihnen bestimmt nun entfallenen Gesprächen halfen mir weiter: Jonathan Bartlett, Helmut Birkhan, Herbert Blume, Theodora Bynon, Dieter Cherubim, Denys Dyer, Kurt Gärtner, meine Schwägerin Iselind Hanewald, Fritz Hermanns, Magdalena Heuser, Fred Hodcroft, Maria von Katte, Mansur Lalljee, Francis Lamport, Elisabeth Lang, Kurt Ostberg, Brian Pickering, Uwe Pörksen, Rainer und Marianne Vasel. Den vielen freundlichen Bibliothekaren, die mir im Laufe der Jahre geholfen haben, möchte ich danken, auch wenn ich nur Catherine Hilliard und Jill Hughes von der Taylorian Library, Oxford und Ulrich Kopp von der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel nenne. Die von mir betreuten Studenten in Oxford haben zum Buch mehr beigesteuert, als sie vielleicht ahnten und ich mir einzugestehen wage. Bei der ersten Ausgabe habe ich Stipendien und Unterstützung vom DAAD, von der Universität Oxford, der Leverhulme Stiftung, der Britischen Akademie und vom Kuratorium der Taylorian Institution erhalten. Zu ganz besonderem Dank bin ich Helmut Henne verpflichtet, der die Aufnahme des Buches in die „Reihe Germanistische Linguistik" ermöglichte: ich hoffe, er und die Mitherausgeber, Horst Sitta und Herbert Ernst Wiegand werden an dem Ergebnis Gefallen finden. Herbert Blume sei ausdrücklich dafür gedankt, daß er die mühsame Arbeit der Durchsicht auf sich genommen hat. Die Oxford University Press ermöglichte uns die Zusammenarbeit mit dem angesehenen Max Niemeyer Verlag. Herr Robert Harsch-Niemeyer kam uns in allem freundlich und großzügig entgegen, Frau Birgitta Zeller legte eine so bewundernswerte wie charmante Geduld an den Tag. Zur deutschen Ausgabe ist schließlich zu sagen, daß meine Frau Rainhild und ich das Buch gemeinsam übersetzt und wir versucht haben, die Kritik an der englischen Fassung zu verwerten, neuere Literatur einzuarbeiten und Kleinigkeiten, die für deutsche Studenten nicht so wichtig waren, auszulassen bzw. andere Aspekte zu betonen. So ist die Übersetzung in manchem ein anderes Buch geworden, und derjenige, der die englische mit der deutschen Fassung vergliche, würde manche Abweichungen - hoffentlich Besserungen - feststellen. Befremdend war es auch, wenn ich hin und wieder hinter der ursprünglichen Formulierung eine Doppeldeutigkeit feststellte, die ausnahmsweise nicht beabsichtigt war: vor allem die englische Unart, mit .hängenden Partizipien' zu hantieren, verdunkelt oft die logische Satzverknüpfung. Sonst wollten wir eine klare und lebendige Darstellung, ohne den flotten Modernismus der Uneigentlichkeit oder den Muff eines gespreizten Kathederwelschs. Diese gemeinsame stilistische Aufgabe hat uns manchmal Spaß gemacht: mögen unsere Leser sich ab und zu auch freuen, - der Gegenstand zumindest lohnt sich. Sprachliche, sachliche und geschmackliche Unzulänglichkeiten sind allein mir zuzurechnen. Oxford, den 26. November 1989

C.J.W.

Verzeichnis der Karten

1. Die althochdeutschen Klosterschreibdialekte und Hauptzentren [Kap. I: S. 48]. 2. Geographische Verteilung der Adjektiv-Deklination nach ein/ain im 15. Jahrhundert [Kap. III S. 152]. 3. Die Oberdeutsche Apokope [Kap. IV: S. 166]. 4. Das Ostmitteldeutsche Mundartareal im 18. Jahrhundert [Kap. Vili: S.325]. 5. Deutsche Dialekte um 1900 [Kap. IX: S.381].

Abkürzungen und Sonderzeichen

Sprachen aalem. abair. aengl. afries. afrk. afrz. ags. ahd. air. alem. and. anfrk. an(ord.) asächs. bair. dt. fnhd./frnhd. fries. frk. frühdt. frz. gallorom. germ. got. griech. hd. idg. ieur. ital. kelt. Lat./lat. lgb. md. mfrk. mfrz.

altalemannisch altbairisch altenglisch altfriesisch altfränkisch altfranzösisch angelsächsisch althochdeutsch altirisch alemannisch altniederdeutsch altniederfränkisch altnordisch altsächsisch bairisch deutsch frühneuhochdeutsch friesisch fränkisch frühdeutsch französisch galloromani sch germanisch gotisch griechisch hochdeutsch indogermanisch indoeuropäisch italienisch keltisch Latein/lateinisch langobardisch mitteldeutsch mittelfränkisch mittelfranzösisch

mhd. mlat. mnl. moselfrk. nd. nfrk. nhd. niederalem. nl. nnl. nordgerm. obd./oberd. oberfrk. ofrk./ostfrk. omd. ond. oobd. obersächs. ostgerm. plattdt. rheinfrk./rhfrk. ripuar. rom. russ. sfrk. skand. südrhfrk. urgerm. urieur. vulg(är)lat. westfrk. westgerm. wmd. wnd. wobd.

mittelhochdeutsch mittellateinisch mittelniederländisch moselfränkisch niederdeutsch niederfränkisch neuhochdeutsch niederalemannisch niederländisch neuniederländisch nordgermanisch oberdeutsch oberfränkisch ostfränkisch ostmitteldeutsch ostniederdeutsch ostoberdeutsch obersächsisch ostgermanisch plattdeutsch rheinfränkisch ripuarisch romanisch russisch südfränkisch skandinavisch südrheinfränkisch urgermanisch urindoeuropäisch vulgärlateinisch westfränkisch westgermanisch westmitteldeutsch westniederdeutsch westoberdeutsch

Zeitschriften usw.: AdWdDDR ATB BES BLVS BMZ CLG

Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik. Altdeutsche Textbibliothek. Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache. Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart. Benecke, Müller und Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch. F. de Saussure: Cours de linguistique générale.

Abkürzungen

XV

und Sonderzeichen

DAdWB DSA DTM Dt. Wg. DVGL DWA FMST

Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Deutscher Sprachatlas. Deutsche Texte des Mittelalters. Deutsche Wortgeschichte. Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur und Geschichte. Deutscher Wortatlas. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster. Göppinger Arbeiten zur Germanistik. German Life and Letters. Germanisch-Romanische Monatsschrift. Großes Wörterbuch der Deutschen Aussprache. Herzog-August-Bibliothek, Wolfenbüttel. Institut für Deutsche Sprache. Journal of English and Germanic Philology. Kurzer Grundriß der germanischen Philologie. Lexikon der Germanistischen Linguistik. Modern Language Review. Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Oxford German Studies. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Publications of the Modern Language Association of America. Rheinisches Archiv. Transactions of the Philological Society. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur. Veröffentlichungen der Sprachwissenschaftlichen Kommission. Volkseigener Betrieb. Vom Mittelalter zur Reformation. Weimarer Ausgabe (der Werke Luthers). Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Wörterbuch der Deutschen Aussprache. Wirkendes Wort. Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins (jetzt: Muttersprache). Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Zeitschrift für deutsches Altertum. Zeitschrift für deutsche Philologie. Zeitschrift für deutsche Sprache. Zeitschrift für deutsche Wortforschung. Zentralinstitut für Sprachwissenschaft. Zeitschrift für Mundartforschung.

GAG GLL GRM G WD A HAB IDS JEGP KG LGL MLR NDL OGS PBB PMLA Rh. Archiv TPS SdlfdSuL VdSK VEB VmzR WA WBG WD A WW ZADS ZDL ZfdA ZfdPh ZfdS ZfdW ZIfS ZMF Sprachliches: Abi. Adj. Adv. A./Akk. Akt. Art. Dat. Dem.

Ablativ Adjektiv Adverb Akkusativ Aktiv Artikel Dativ Demonstrativum

F./Fem. FN. Fut. G./Gen. Imp. Ind. I./Instr. intrans.

Femininum Familienname Futur Genitiv Imperativ Indikativ Instrumental intransitiv

xvi K./Konj. Kons. M./Mask. N./Neutr. N./Nom. Obj. ON. Part. Pass. Perf.

Abkürzungen und Sonderzeichen Konjunktiv Konsonant Maskulinum Neutrum Nominativ Objekt Ortsname Partizip(ium) Passiv Perfekt

PI. Plquperf. PN. Präs. Prät. Pron. Sg. Subj. trans. V./Vok.

Plural Plusquamperfekt Personenname Präsens Präteritum Pronomen Singular Subjekt transitiv Vokativ

Sonderzeichen und Phonetisches: / / < > [] φ ~ • > , -» < , «0 â, a, a: e ç t> ö 3(3)

Klammerung durch Schrägstriche für Phoneme: z.B. / b / . Spitze Klammern für Graph(em)e. Eckige Klammern für phonetische Transkription. Bezeichnung einer (phonemischen) Opposition. Zeichen für Variabel/Variation/Alternierung. rekonstruierte (erschlossene) Form; auch falsches/unzulässiges grammatisches Gebilde. wird zu entstanden aus/ stammt von. Nullmorphem/Nullmorph. Bezeichnung der Vokallänge durch Makron, übergesetzter Strich, oder Kolon. Bezeichnung der Gespanntheit (Geschlossenheit) eines Vokals durch untergesetzten Punkt. Bezeichnung der Ungespanntheit (Offenheit) eines Vokals durch Cedille (untergesetztes Häkchen). Stimmloser dentaler Reibelaut - aengl. porn, wie im Engl, think. Stimmhafter koronal-dentaler Reibelaut - aengl. eth, wie im Engl. the. Stimmlose hd. (Doppel-) Spirans. Unter- bzw. übergesetzter kleiner offener Kreis: stimmlose Medien.

Einleitung

Sprache Eine Darstellung der Geschichte einer Sprache setzt einen zu beschreibenden Gegenstand als gegeben voraus, der sich im Laufe der Zeit aus- und umformt. Wie man Gesetzmäßigkeiten bei der chronologischen Beschreibung dieser Sprache erkennt und wie man diese dann bezeichnet, also ob man etwa von Tendenzen oder gar von Zielgerichtetheit (Teleologie) oder von Entwicklung spricht, bringt schon ein interprétatives Moment in die Darstellung hinein. Gleichzeitig impliziert die Vorstellung einer Entwicklung eine Kontinuität zwischen den Zeitstufen der betreffenden Sprache, was seinerseits die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Sprachgemeinschaft aufwirft, da zumindest die Sprecher sich genetisch von Generation zu Generation fortpflanzen und in ihren Gesellschaftsstrukturen die Sprache zur Verständigung, aber auch zur Identifizierung gebrauchen. Die komplexe Beschaffenheit der Sprache sowie die theoretischen Voraussetzungen der jeweils angewendeten Darstellungsweise erschweren - um nicht zu sagen vereiteln - die Sprachgeschichtsschreibung. So scheint es ratsam, über manche Unzulänglichkeiten von vornherein zu sprechen. Deshalb schicken wir dieser Darstellung einige Vorbemerkungen über Wesen und Beschaffenheit der Sprache voraus. Die Sprache ist ein Hauptbestandteil der menschlichen Kommunikation überhaupt, und sie in erster Linie benutzen die Menschen, wollen sie sich miteinander verständigen oder aufeinander einwirken, wobei sie sich systematisch konventioneller Zeichen bedienen müssen, beim Sprechen wie beim Schreiben. Die Sprache ist jedoch kein geschlossenes System, losgelöst von anderem sozialem Verhalten, und auch die einzelnen Sprachen der Welt, wie etwas das Deutsche, sind keine geschlossenen Systeme: ihre Grenzen lassen sich manchmal nur schwer bestimmen, sie enthalten in sich mehrere stilistische oder regionale Varianten, und andere Sprachen wirken auf sie ein. Die sprachlichen Konventionen müssen von den .native speakers' außerdem ohne formale Regeln gelernt werden, nämlich auf dem Wege der Beobachtung und Nachahmung. Hierin sind sie sozialen Konventionen ähnlich. Dem Erlernen der Erstsprache kommt eine zentrale Rolle im Sozialisierungsprozeß des Individuums zu, durch den jeder sich und seinen Platz in der Welt - seinen Standpunkt - allmählich zu definieren und zu begreifen lernt. Das Wort .Sprache' hat mehrere, mehr oder weniger technische Bedeutungen, und wir haben soeben zwei von diesen kennengelernt: einerseits die allgemeine Fähigkeit menschlicher Lebewesen, mittels verbaler Zeichen zu kommunizieren, andererseits die spezifischen Formen solcher Kommunikation, also die Einzelsprachen selber, wie etwa ,die deutsche Sprache', ,die englische Sprache' und so weiter.1 1

So unterscheidet z.B. Das Lexikon sprachwissenschaftlicher

Termini, hrg. von Rudi

2

Einleitung

Wir können auch von Gruppensprachen, technischen, regionalen und Klassensprachen sprechen, obwohl andere Bezeichnungen wie .Soziolekt', .Register', .Technolekt', ,Dialekt' und ,Stil' manchmal nützlicher sind. Die polyvalente Bedeutung von .Sprache' erklärt sich schon aus der Komplexität der Sprache selbst, die psychologische, physiologische und physikalische Aspekte aufweist. Ein psychisches Phänomen ist Sprache in mehrfacher Hinsicht. Erstens haben die Menschen eine vermutlich genetisch übertragene Fähigkeit, Sprache zu erlernen (dies, so ist behauptet worden, unterscheidet die Menschen von den Tieren, obgleich dieser Streit noch nicht entschieden ist). Zweitens müssen die Menschen sich die Muster und Modelle der Einzelsprache, die sie lernen, aus der Rede ihrer Mitmenschen konstruieren, und dies ergibt eine sich entwickelnde Sprachkompetenz, die von Individuum zu Individuum verschieden ist und die es dem Menschen gestattet, Äußerungen in seiner Sprache zu verstehen und zu bilden. Drittens ermöglicht (erst?) die Sprache es den Menschen, Gedanken zu formulieren. Physiologischen Charakter hat die Sprache, weil die Anatomie von Lungen, Rachen und Mund (höhle) auf Signale vom zentralen Nervensystem reagiert, was schließlich zu der physikalischen Substanz führt, durch die die Sprecher Sprache wahrnehmen, nämlich zur lautlichen Realisierung der Sprache, dem Sprechen. Wir werden im Folgenden erfahren, daß zwischen Sprache und Sprechen deutlich unterschieden werden muß. Wir sind uns der Sprache primär als etwas Linearen bewußt. Dieser Eindruck wird durch das andere Medium, durch das Sprache sich kundtut, nämlich durch das geschriebene Wort, noch verstärkt, wenn nicht gar erst geschaffen. Das geschriebene Wort, so meint man oft, sei minder gut, sekundär, eigne sich nicht dazu, das gesprochene Wort .graphisch' darzustellen, da es nicht sämtliche phonetischen Nuancen, Intonationskurven und Betonungen wiedergeben könne. 2 Aber die Schrift kann stattdessen zwischen Homonymen Conrad, VEB Bibliographisches Institut: Leipzig 1985, S. 217-8, fünf Bedeutungen: ,,1. natürliche Spr. in allen ihren Formen, d.h. aus den gesellschaftlichen Bedürfnissen, insbesondere der Produktionstätigkeit unter entscheidendem Antrieb der Arbeit, historisch entstandenes und sich entwickelndes, auf dem Material menschlicher artikulierter Laute aufbauendes System von Zeichen, das als grundlegendes Kommunikationsmittel in der Gesellschaft (kommunikative Funktion der S.) und als Mittel der Formierung des Ausdrucks von Gedanken und Bewußtseinsinhalten im Prozeß der Erkenntnis (kognitive Funktion der S.) dient ... 2. jedes beliebige Zeichensystem, das zu Kommunikationszwecken verwendet wird (z.B. Programmiersprachen, logische, mathematische und chemische Formelsysteme, Gebärdensprache, Flaggensignale usw.). 3. das Sprachsystem im Gegensatz zu seiner Realisierung in konkreten Sprechakten, t langue. 4. Sprachfähigkeit, Τ langage. S. besondere Ausdrucksweise, t Stil". Im Englischen kann man den Artikel gegebenenfalls weglassen, um zwischen der allgemeinen menschlichen Sprachfähigkeit und etwa der dt. Sprache oder einer bestimmten Sprache zu unterscheiden. Im Dt. ist diese Möglichkeit eingeschränkt, indem auch der bestimmte Artikel im abstrakten Gebrauch vorkommt. 2 Über Schwächen und Widersprüche in denjenigen Schulen der Linguistik, welche den .Skriptismus' ausdrücklich verwerfen - d.h. die Annahme, daß die Schrift eine idealere Form der Sprache darstellt als das Sprechen (.the assumption that writing is a more ideal form of linguistic representation than speech') - , siehe Harris (1980), bes. 6ff.

Sprache: Wesen und Analyse

3

(Wörtern und Formen, die gleich klingen) differenzieren, 3 sie ist viel regelmäßiger als das gesprochene Wort und gibt im Deutschen sogar grammatische Kategorien an, da zum gegenwärtigen Zeitpunkt Nomina (noch) mit Großbuchstaben geschrieben werden. Das geschriebene Wort ist dann nicht einfach eine Notation für das, was gesprochen wird (bzw. werden soll), sondern ein alternatives Vehikel für die Sprache - nichtsdestoweniger kann Geschriebenes Aufschlüsse über bestimmte Züge des gesprochenen Wortes geben, auch wenn sich Sprachhistoriker für gewöhnlich lange darüber den Kopf zerbrechen. Das Studium der Geschichte einer Sprache muß in der Regel fast ausschließlich von schriftlichen Zeugnissen ausgehen, und alles Wissen über das gesprochene Wort früherer Zeiten kommt nur indirekt zu uns: durch auffällige Schreibungen, durch Reimbildungen und, seltener, durch die (nicht immer genauen und zuverlässigen) Beobachtungen von Zeitgenossen über ihre Sprache. Leider ist das geschriebene Wort konservativer als das gesprochene Wort und versagt uns unmittelbaren Zugang zu den sprachlichen Veränderungen, die sich in der gesprochenen Sprache vollziehen; ohnehin ist frühe(re) Umgangssprache nur selten überliefert. Als Ausgleich - für das Deutsche zumindest - sind die Schreibungen in den früheren Epochen weniger fest und sagen uns daher mehr über die Aussprache, und überdies sind viele alte Texte in Versen geschrieben. Auch finden wir manchmal für die von uns angesetzten Formen in späteren oder heute noch bestehenden sprachlichen „Gegenstücken" - z.B. in Dialekten - , oder in Lehngut in oder aus Fremdsprachen Bestätigung, und die komparative Methode, die im neunzehnten Jahrhundert ausgearbeitet wurde, erlaubt es uns, anhand sorgfältiger Vergleiche zugrundeliegende (.archetypische') Formen zu konstruieren, die plausible Ausdeutungen frühen Sprachmaterials nahelegen können. Aber über Tonhöhe, Betonung und Intonation, die, zusammen mit den situationsbezogenen Merkmalen „ T e m p o " und „Lautstärke" stilistisch wichtig sein können, wissen wir wenig. 4 Nichts wäre leichter, als einen x-beliebigen Text aus der frühen Geschichte der deutschen Sprache aufzugreifen, um ihn mit einem Abschnitt aus einem Roman von heute zu vergleichen, etwa das Hildebrandslied mit Heinrich Bolls Frauen vor Flußlandschaft. Die sprachlichen Unterschiede, die dabei sofort ins Auge sprängen, gehen jedoch natürlich nicht alle nur auf die Wirkung des Zeitabstands zurück. Denn es sind besonders vier Faktoren, die sich auf die Sprache auswirken und die Art und Weise der gegebenen Kommunikation bedingen, nämlich Zeit, Ort, Funktion und die persönliche Beziehung bzw. das gesellschaftliche Verhältnis der Sprecher zueinander. 5 Der Sprachhistoriker befaßt sich mit einer bestimmten 3

4 5

Z.B. die Saite gegenüber die Seite, der gefangene Floh gegenüber der Gefangene floh, an einer Schönen Brust gegenüber an einer schönen Brust. Solche künstlich-kunstvollen Beispiele nehmen innerhalb der Diskussion um die Rechtschreibung einen ungebührlich breiten Platz ein: meistens legen Kontext und Wahrscheinlichkeit die richtige Interpretation nahe. Siehe Garbe (1978), neuerdings auch Nerius (1988). Siehe Labov (1978), 94 ff. Das Geschlecht kann wichtig sein: in gewissen Kulturen, zu bestimmten geschichtlichen Perioden und für bestimmte Zwecke gebrauchen Frauen manchmal eine andere Sprache

4

Einleitung

Sprache und ist bestrebt, diejenigen Veränderungen und Entwicklungen dieser Sprache zu beschreiben und zu erklären, die sich anscheinend im Laufe der Zeit ereignet haben. Aber damit solche Veränderungen deutlich sichtbar würden, müßten wir, genau genommen, die anderen Variablen kennen bzw. konstant halten können, so daß die Geschichte im Idealfall Verschiebungen in der Sprache einer bestimmten sozialen Gruppe von Sprechern aus einem bestimmten Dialektgebiet, die ihre Sprache für eine spezielle Reihe von Zwecken über eine festgesetzte Zeitspanne hin gebrauchten, aufzeichnete. Sodann müßten die persönlichen Aspekte der jeweiligen Kommunikation ausgeschaltet werden, damit wir zur überindividuellen Charakteristik der Sprachverwendung vordringen könnten, die dann in einen chronologischen Zusammenhang eingefügt und interpretiert werden müßte. In der Praxis gestatten die Textzeugen, besonders diejenigen aus früheren Zeiten, keinen so rigorosen Ansatz, und ein Wechseln der Perspektive ist daher unumgänglich. Darüber hinaus können die vier Faktoren stilistisch aufeinander einwirken, so daß ein Merkmal, das im täglichen Sprachgebrauch in den wichtigsten städtischen Zentren so gut wie ausgestorben ist, in der Poesie als Archaismus erhalten geblieben sein oder in einem oder mehreren Dialekten weiterhin gebraucht werden kann. Ja, manchmal können eventuelle chronologische Veränderungen als Dialekt, d.h. als räumliche Unterschiede weiterbestehen, z.B. die Veränderungen im frühen deutschen Konsonantensystem, als Zweite oder Hochdeutsche Konsonantenverschiebung bekannt (siehe Kapitel I und Anhang A). Während chronologische und geographische Sprachproben verhältnismäßig leicht identifiziert und analysiert werden können, bieten Beispiele technischer und sozialer Art Schwierigkeiten: so muß, wer irgendeine Sprache auf den Stil hin untersuchen will, unbedingt beurteilen können, welche Kommunikationsnormen in einer ganzen Reihe von Situationen und Kontexten akzeptabel sind, doch ist es schwierig, solche Normen für vergangene Zeiten festzustellen, besonders dort, wo keine Standardsprache existierte. Im Falle des Deutschen z.B., wie auch bei anderen europäischen Sprachen, verstrichen viele Jahrhunderte, bevor eine anerkannte Literatur- und geschriebene (gedruckte) Standardsprache entstand. Für die Zeit vor der Herausbildung dieser Standardsprache kann man sich darüber streiten, wie weit die frühen regionalen, funktionalen und sozialen Spielarten des .Deutschen' tatsächlich zu etwas so Hypothetischem wie der deutschen Sprache gehören, und die Entscheidung hierüber kann sehr wohl auch durch den Ausgangspunkt des Beobachters determiniert sein. So würde z.B. eine phonologische Studie über frühe deutsche Urkunden natürlich niederdeutsche Dialektformen

als Männer. Auch das Alter (wobei man zwischen biologischem und sozialem Alter zu unterscheiden hat) kann ein wichtiger mitbestimmender Faktor in der Sprachgestaltung sein: am auffälligsten ist wohl die Sprache der Jugend seit 1943, wo in bisher unerlebtem Ausmaß eine international aufgezogene und kommerziell ausgebeutete Jugendkultur entstanden ist, die sich durch Sprach- wie Kleider-Moden, durch Musik- und Drogenkonsum definiert und unterteilt. Siehe hierzu ,Die Neue Boheme, Jugend-Stil '82' in SPIEGEL 36, Nr. 17,26. April 1982,234-49; Lorelies Ortner, (1982) und Helmut Henne (1986).

Sprache: Wesen und Analyse

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von hochdeutschen trennen, 6 wohingegen eine Untersuchung über Syntax und Stil solche Unterschiede u.U. ignorieren und sich auf die allgemeinen Kennzeichen der mittelalterlichen Amts- und Verwaltungssprache konzentrieren würde. Aber selbst am anderen Ende der Geschichte des Deutschen, in der Neuzeit und der Gegenwart (von 1800 bis zur Gegenwart), wo es ja eine Standardsprache gibt, ist das Ideale und Künstliche dieser Hochsprache offenkundig, so daß sie für die meisten Menschen nicht die deutsche Sprache repräsentieren kann, sondern lediglich als Prestige-Variante für formale Zwecke existiert, die in Schulen gelehrt und von Ausländern gelernt wird. Die Standardsprache fungiert auch als Symbol nationaler Einheit, woraus sich erklärt, warum Versuche, die Orthographie des Standarddeutschen zu reformieren, heute mit der Politik verquickt sind - denn Deutsch gesprochen wird gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik, Österreich, Teilen der Schweiz, Liechtenstein und Luxemburg, sowie von Minderheiten in Frankreich, Italien und anderen Gegenden der Welt, z.B. in Rumänien und Pennsylvanien. Die Hegemonie der deutschen Standardsprache erstreckt sich (mit einigen Modifikationen) über die meisten dieser Spielarten des Deutschen, und sie lassen sich als .Deutsch' erkennen und werden wahrscheinlich von den Deutschsprechenden aus der Bundesrepublik, der Deutschen Demokratischen Republik und aus Österreich ohne allzu große Schwierigkeiten verstanden. So variieren also alle Sprachen zunächst einmal je nach den Menschen, die sie sprechen und gebrauchen und je nach den Zwecken, zu welchen sie benutzt werden. Doch wir müssen außerdem bedenken, daß, zumindest in der jüngsten Vergangenheit und heute die meisten Sprecher für ihre individuellen Umstände über mehrere Spielarten ihrer Sprache verfügen. Diese sprachlichen Varianten sind ebenfalls keine geschlossenen Systeme, ebensowenig werden sie im Gebrauch des Individuums konsequent voneinander getrennt - ja, der Einzelne vermischt diese Varianten unter Umständen zu stilistischen Zwecken. Einzelne Spielarten einer bestimmten Sprache verändern sich über Zeiträume hinweg, sie verändern sich selbst und in ihrem Verhältnis zueinander: das Zusammenspiel von Sprachvariationen und Sprachwandel zu untersuchen und die Untersuchungsergebnisse vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Sprecher zu interpretieren ist die Aufgabe der Sprachgeschichte. Bevor dieser Gedanke weiter entwickelt werden kann, ist es notwendig, einige Methoden der Sprachuntersuchung und deren Varianten zu beleuchten, da der Ansatz, den wir wählen, wie das Ziel, das wir vor Augen haben, den Gegenstand der Untersuchung mit bedingen muß.

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Für die Termini .Hochdeutsch' (Hd.) und .Niederdeutsch' (Nd.), siehe unten, Kap. I., S. 45 - 4 9 .

Einleitung

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Methoden zur Untersuchung von Sprache und Sprachwandel Der folgende Überblick über Methoden der Sprachforschung im 19. und 20. Jahrhundert berücksichtigt nur das für die Sprachgeschichte Wichtigste an ihnen, 7 denn unsere Ansicht über die Mechanismen der menschlichen Sprache wirkt sich unweigerlich auf unsere Beurteilung historisch bedingter Veränderungen in einer bestimmten Sprache aus. 6 Die einzelnen Schulen und Strömungen in der Linguistik lassen sich am leichtesten danach unterscheiden, wie sie spezifische Probleme behandeln. Deswegen stellen wir z.B. die vorstrukturalistischen, strukturalistischen und generativen Methoden für prähistorische und frühmittelalterliche Vokal- und Konsonantensysteme mit Bezug auf die Geschichte des Deutschen in Kapitel II und Anhang A dar, während andere Kapitel, vor allem Kapitel IX, soziolinguistische Fragen in der Variabilität der Sprache behandeln.

A. ,Vorstrukturalistische' Theorien Trotz der großen Fortschritte in der vergleichenden und historischen Untersuchung der indo-europäischen (ieur.) Sprachen im 19. Jahrhundert 8 ist die komparative Methode selbst nicht unbedingt an einen chronologischen Rahmen gebunden und liefert nur begrenzt(e) historische Information. Die rekonstruierten ieur. und germ. .Vorfahren' oder ,Elternsprachen' sind eigentlich sprachliche Archetypen oder Prototypen, die außerhalb der Zeit stehen und also als .metachronisch' bezeichnet werden können - sie sind überdies durch den Vergleich verwandter Dialekte hergestellt worden, für die das Material aus sehr weit auseinanderliegenden Perioden auf uns gekommen ist. Nichtsdestoweniger verstärkte die sogenannte Stammbaumtheorie - das komparativistische Stammbaummodell für genetische Sprachverwandtschaften - die Ansicht, daß Sprachen und Dialekte nicht nur miteinander verwandt, sondern voneinander abhängig sind, was also eine chronologische Entwicklung bedeutete, die sich besonders in ihrer Phonologie widerspiegelte.

7

Für eine ausführlichere Behandlung, siehe Bynon (1977); Robins (1979), bes. Kap. 7 und 8, S. 164ff.; Arens (1979) (bringt Auszüge aus dem theoretischen Schrifttum); Lyons (1981), bes. Kap. 7, S.217ff. Neuerdings die theoretischen Kapp, bei Besch et al. (1984, 1985), bes. Bd.I: §22, Stefan Sonderegger, .Sprachgeschichtsforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts', S. 3 0 0 - 3 3 1 ; §23. Wolfgang Putschke, .Die Arbeiten der Junggrammatiker und ihr Beitrag zur Sprachgeschichtsforschung', S . 3 3 1 - 3 4 7 ; §24, Reiner Hildebrandt, ,Der Beitrag der Sprachgeographie zur Sprachgeschichtsforschung', S . 3 4 7 - 3 7 2 ; §25, Herbert Penzl, .Sprachgeschichte in der Sicht strukturalistischer Schulen', S. 3 7 3 - 3 7 7 ; §26, Theodor Lewandowski, .Sprachgeschichte in der Sicht der funktionalen Grammatik', S. 3 7 8 - 3 8 7 . Diese Arbeiten konnten nicht mehr systematisch in unseren Text eingearbeitet werden.

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Siehe Lockwood (1969).

Sprache: Wesen und Analyse

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1. Die Stammbaumtheorie Der genetische und organische Ausgangspunkt, den diese Metapher andeutet, behandelte die sprachliche Entwicklung vermittels einzelner Dialekte, die sich von einem Hauptstamm abspalteten, weiter teilten und verzweigten. Gepaart mit dieser Vorstellung von einer Entwicklung war bisweilen der Gedanke eines Verfalls, der durch Veränderungen in den Sprachlauten gefördert würde. In einer weniger extremen Interpretation stellte das Baummodell Äquivalenz-Beziehungen für Laute und Formen in verwandten Sprachen und Dialekten dar, und dieser Ansatz behandelte den Baum im Grunde wie das Stemma in der Textkritik - als Mittel, um Prototypen zu konstruieren, anhand derer das wirklich vorliegende Sprachmaterial gemessen und klassifiziert werden konnte (siehe Kapitel I). In beiden Fällen blieben Veränderungen bei Lauten und Formen, ob sie nun als organisch oder .mechanistisch' angesehen wurden, außerhalb der Einflußsphäre des Sprechers; die Methode war allzu starr, beschäftigte sich gerne mit den .vorhistorischen' Prototypen und konzentrierte sich eher auf Unterschiede als auf Gemeinsamkeiten bei den Dialekten; weiter ignorierte sie die Kommunikation zwischen verschiedenen Zweigen des Sprachenbaumes, z.B. die sprachliche Entlehnung. Die vergleichenden Untersuchungen zur Phonologie und Morphologie bildeten natürlich die Basis für solche genetischen Studien, die sich nicht um das politische, soziale und kulturelle Leben der Sprecher kümmerten, sondern die historische Grammatik isoliert von diesen behandelte. Zwar stellten Wortschatzuntersuchungen manchmal Mutmaßungen über die Lebensumstände von Sprechern aus vorhistorischen Zeiten an, für die direktes Material fehlte. Jedoch setzen solche Mutmaßungen eine unmittelbare und einfache Korrelation zwischen Sprache und sozialer Wirklichkeit voraus. Jacob Grimm (1785-1863), August Schleicher (1821-1868) und Wilhelm Scherer (1841-1886) schrieben sämtlich über die Geschichte des Deutschen, aber sie befaßten sich hauptsächlich mit deren früheren .Lauten' und Grammatik, versuchten keine ernsthafte Darstellung von Veränderungen in der Sprache im Zusammenhang mit Veränderungen in den sozialen Gegebenheiten ihrer Sprecher: und vor allem behandelte keiner von ihnen das Deutsche jüngeren Datums, das eine Fülle von Material für eine solche Untersuchunge bot. Eine spätere Gruppe von Sprachforschern, die in Leipzig wirkte, zunächst etwas verächtlich als .Junggrammatiker' bekannt, brachten wissenschaftliche Strenge und Präzision in ihre Sprachstudien, ob sie nun frühere Stadien rekonstruierten oder detaillierte phonetische Beobachtungen anstellten. Hermann Osthoff (1847-1909) und Karl Brugmann (1849-1919) lehrten, daß Lautgesetze keine Ausnahem duldeten; Hermann Paul (1846-1921), Wilhelm Braune (18501926) und (Georg) Eduard Sievers (1850-1932) schufen vor allem Standardwerke in der historischen Grammatik für das Gotische, Alt- und Mittelhochdeutsche und das Angelsächsische, die deutlich die phonologischen und morphologischen Regelmäßigkeiten hinter dem heterogenen Textmaterial darlegten. 9 Die 9

Für Paul, Braune und Sievers, siehe Reis (1978), Fromm (1978), Ganz (1978).

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Einleitung

Junggrammatiker sahen die systematische Regelmäßigkeit, die sich in der Sprache findet, und suchten, Faktoren wie etwa Analogie und Entlehnung von Fremdsprachen zu isolieren, weil diese das Wirken von Lautgesetzen verzerrte: Paul beschäftigt sich sehr intensiv mit der Analogie, die sich selbst als ein komplexer, auch synchronisch wichtiger Mechanismus herausstellt, welcher grundlegend am Kommunikationsprozeß beteiligt ist und also nicht als bloße Not-Erklärung für den diachronen (geschichtlichen) morphologischen Umbau und dergleichen angesehen werden darf (siehe Kapitel IV). Trotzdem verfuhren die Junggrammatiker in gewissem Sinne ,atomistisch', indem sie sich mit phonologischen und grammatischen Einzelfragen befaßten und nicht so sehr zusammenhängende holistische Interpretationen bestimmter Stadien einer Sprache als eines Ganzen erbrachten; sie blieben positivistisch an dem begrenzten Zeugnis der frühen Texte kleben (die sie auch edierten). Es überrascht daher vielleicht gar nicht, daß sie es anderen überließen, Sprachgeschichten des Deutschen zu schreiben; anderen, die eine weniger strenge Denkweise hatten und in deren idealistischen sozio-kulturellen Darstellungen an Stelle einer konsequenten Diskussion über die Schwierigkeiten, die auftreten, wenn eine Beziehung zwischen sprachlichen Entwicklungen und der Geschichte der Sprecher hergestellt werden soll, eher patriotische und nationalistische Erklärungsmuster zu finden sind.10 Am Ende des 19. Jahrhunderts - und noch lange danach - wurden die .innere' und .äußere' Sprachgeschichte des Deutschen getrennt dargestellt.11 Doch waren auch zu dieser Zeit die Sprecher nicht gänzlich von Sprachuntersuchungen ausgeschlossen. Um die Strenge der Stammbaumtheorie auszugleichen, kam ein Schüler Schleichers, Johannes Schmidt, mit einem neuen Vorschlag, der Wellentheorie, die in der Dialektforschung eine große Rolle spielte.12 2. Die Wellentheorie und Dialektgeographie Schmidts Wellentheorie betonte die ursprüngliche geographische Kontinuität der ieur. Dialekte und schrieb die Ausbreitung einiger Formen auf Kosten anderer dem politischen, religiösen, sozialen oder einem anderen (z.B. technischen) Supremat der Sprecher eines Dialekts über ihre unmittelbaren Nachbarn zu. Prestige-Varianten einer Sprache mochten entlehnt oder durch sprachlichen Kontakt aufgezwungen sein, nahmen aber in ihrer Intensität ab, indem sie sich ausbreiteten, etwa wie kleine Wellen sich von einem Mittelpunkt aus ringförmig nach außen bewegen. Diese Ansicht liegt hinter mehreren Interpretationen der 10

Siehe z.B. die Sprachgeschichten von Kluge, Rückert und Socin, die in der Kurzbibliographie auf Seite 33f. aufgeführt sind. Kluge (1888), S. 126-7 zeigte sich dem romanischen Einfluß nur wenig zugeneigt, während Socin (1888), S. 519 kein Ohr für die städtische Umgangssprache seiner Zeit besaß. " Siehe etwa Lichtenberger (1895), vii und .Première partie, Histoire extérieure de la langue allemande', Kap. I - I V , 3 - 1 5 8 ; .Deuxième partie, Histoire intérieure de la langue allemande', Kap. V-X1I, S. 159-449. Die beiden Teile werden nicht auf einander bezogen, geschweige denn integriert. 12 Siehe Schmidt (1872), bes. 27ff.

Sprache: Wesen und Analyse

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Zweiten oder Hochdeutschen Konsonantenverschiebung, die ebenfalls vom Süden zum Norden hin schwächer geworden zu sein scheint, als sie die westmitteldeutschen (wmd.) Dialekte längs des Rheins beeinflußte (siehe Anhang A). Die Dialektgeographie wurde in Frankreich im späten 19. Jahrhundert von Jules Gilliéron (1854-1926) und in Deutschland von Georg Wenker (siehe Kapitel IX) entwickelt. Sprachliche Merkmale (phonologische, morphologische, lexikalische und syntaktische) werden auf Karten eingezeichnet, um ihre geographische Verteilung zu zeigen, die dann als Bewegung, Ausbreitung und Schwund interpretiert wird. Entlehnungen von anderen Sprachen können ähnlich auf Karten eingetragen werden und so gemischte, oder zweisprachige Zonen des Sprachkontakts und sprachlicher Interferenz zeigen. Während die Dialektgeographie sprachliche Veränderungen nicht .erklären' kann, kann sie sowohl die Struktur der Sprache als auch die soziale und politische Realität der Sprecher herausarbeiten, um Datum und Schnelligkeit ihrer Ausbreitung zu belegen. So wandte Theodor Frings, nachdem er einige Merkmale der Zweiten Lautverschiebung in ihrer Beziehung zu spätmittelalterlichen Territorialgrenzen interpretiert hatte, seine Aufmerksamkeit dem ostmitteldeutschen (omd.) Gebiet zu, wo seit dem zwölften Jahrhundert die Vermischung von Siedlern aus verschiedenen Gebieten Deutschlands eine neue Kolonialsprache geschaffen zu haben schien, die eine Mischung von Dialektmerkmalen aufwies und vielleicht die Grundlage für die moderne deutsche Standardsprache war (siehe Kapitel III).

B. Strukturalistische Theorien Im 20. Jahrhundert sind mehrere Schulen einer strukturalistischen Sprachtheorie entstanden. Wir werden uns an dieser Stelle jedoch nur mit gewissen historischen Folgen eines etwas weitergeführten Strukturalismus beschäftigen. Der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure (1857-1913), dessen Cours de linguistique générale (CLG) im Jahre 1916 veröffentlicht wurde, 13 lieferte die erste umfassende Darstellung einer strukturellen Auffassung der Sprache als eines Systems von Beziehungen, das zwischen Zeichen gilt, deren physikalische Natur, ob gesprochen oder geschrieben, letztlich sekundär ist. Saussure sah dieses Sprachsystem, das er .langue' nannte, als eigentlichen und autonomen Gegenstand sprachlicher Untersuchung an, und er unterschied es einerseits von einem angeborenen Sprachvermögen, das er mit .langage' bezeichnete, und andererseits von tatsächlichem Sprachverhalten oder ,Rede'/,Sprechen', von ihm .parole' genannt. 14 Saussures langage soll hier nicht besprochen werden: es scheint auf die Fähigkeit, 13

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Siehe die kritische Ausgabe des CLG von Tullio de Mauro (1967; frz. Ausgabe Payot: Paris, 1973). Bekanntlich wurde der CLG anhand von Aufzeichnungen der Schüler Saussures zusammengestellt. Siehe jetzt: F. de Saussure, Course in General Linguistics übersetzt von Roy Harris, Duckworth: London, 1983 und Roy Harris (1987). .Parole' in diesem technischen Gebrauch schließt sowohl das Geschriebene als auch das Gesprochene mit ein und ist also etwa mit .Output' gleichzusetzen - mit der Realisierung des abstrakten Sprachsystems (.Langue') in konkreten (.pragmatischen') Kontexten und Situationen.

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Einleitung

Sprachen zu erlernen, wie auch auf das Phänomen der Sprache im allgemeinen zu verweisen, und damit umfaßt es sowohl langue als auch parole, die sich auf die Struktur von Einzelsprachen und auf deren Gebrauch durch einzelne Sprecher beziehen. Das Saussuresche Sprachsystem (langue) besitzt sozialen und kollektiven Charakter: es enthält die Gesamtheit sprachlicher Strukturen und Muster, die den Angehörigen einer gegebenen Sprachgemeinschaft bekannt sind und von diesen benutzt werden. Folglich beherrscht kein einzelner Sprecher dieses Sprachsystem völlig. Und ein Individuum kann das System auch nicht verändern (von diesen Sprachmustern abweichen), ohne vielleicht mißverstanden zu werden, denn der .native speaker' muß die Strukturen seiner Sprache in seiner Kindheit von anderen Sprechern erlernen. Außerdem ist das sprachliche Zeichen selbst in seiner Beziehung zur .wirklichen Welt' großenteils willkürlich:15 sogar Formen, die einstmals vielleicht auf natürlich vorkommenden Lauten beruhten (d.h. onomatopoetische Formen) verlieren schnell ihre ursprüngliche Motivation. Gerade diese Willkürlichkeit schränkt ebenfalls die Fähigkeit des Sprechers ein, für sich allein Neuerungen vorzunehmen. Aber das sprachliche Gesamtsystem steht auch nicht direkt für eine Analyse zur Verfügung: sowohl Junggrammatiker als auch Strukturalisten sind sich darin einig, daß die regelmäßigen Merkmale der Sprache sich nur durch Beobachtung und Beschreibung tatsächlicher Rede oder des .output' feststellen lassen. Hermann Paul bereits hatte zwischen der sprechtätigkeit, womit die Tätigkeit der Individuen in ihrer mannigfaltigen täglichen Kommunikation erfaßt wurde, und dem sprachusus, der jene Tätigkeit steuert, unterschieden. Diese Begriffe kommen Saussures parole und langue nahe. 14 Während jedoch die Junggrammatiker sich in erster Linie mit den verschiedenen stilistischen, geographischen und vor allem chronologischen Manifestationen von Daten oder Output beschäftigten, interessierte sich der Strukturalismus mehr für die inneren Regelmäßigkeiten des Systems an sich, da schließlich die Sprecher nichts über die Geschichte ihrer Sprache zu wissen brauchen, um sich miteinander unterhalten zu können (CLG 171). Wie Antoine Meillet (1866-1936) sagte, jede Sprache ist ,ein rigoros durchorganisiertes System, wo alles ineinandergreift und seinen Platz hat'. 17 Saussure stellte der deskriptiven oder .statischen' Behandlung des Sprachsystems die historische, .evolutive' (sich entwickelnde), diachronische Behandlung gegenüber, die jene ergänzte und doch für die Sprecher in ihrem sprachlichen Umgang miteinander unnötig war: in einer berühmten Analogie verglich er Sprachtätigkeit (,le jeu de la langue') mit einer Partie Schach (CLG 15

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Für die semantischen Implikationen der Willkürlichkeit der sprachlichen Zeichen siehe Kap. X. Paul (1880/1968), 2. Ausgabe (1886), 21-34, bes. 22, 2 5 - 7 ; Saussure hat Pauls Arbeit gekannt (CLG 36f.), obwohl sich kein Exemplar der Principien in seiner Bibliothek nachweisen läßt. Siehe den Beitrag ,La linguistique et les savants allemands' in Meillet (1921-38), ii, 152-9, bes. 158: .chaque langue est un système rigoureusement agencé, où tout se tient' - etwa: ,jede Sprache ist ein streng durchorganisiertes [.artikuliertes'?] System, wo alles ineinander greift und seinen Platz hat'?

Sprache: Wesen und Analyse

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185ff.), bei der alle Figuren auf dem Brett zu jeder Zeit in Beziehung zueinander stehen. Ein einziger Zug ändert die Beziehungen zwischen den Figuren, also bedeutet das Spielen des Schachspiels eine Folge von verschiedenen Spielzuständen, die sich dann miteinander vergleichen lassen, um eine Geschichte der Partie in ihren zeitlich aufeinanderfolgenden Phasen herzustellen. Ähnlich würden sukzessive Beschreibungen von Zuständen eines Sprachsystems zu verschiedenen Zeiten eine Sprachgeschichte (oder richtiger: eine historische Grammatik) ermöglichen, als .diachronische Synchronik'. Allerdings hatte Saussure selbst hierfür kein allzu großes Interesse. Hermann Paul hatte die Begrenztheit einer historischen Behandlung solch chronologisch getrennter grammatischer sprachzustände bereits erkannt: als Abstraktionen sind sie jenseits des direkten Einflusses des tatsächlichen Sprachgebrauchs. Die descriptive grammatik verzeichnet, was von grammatischen formen und Verhältnissen innerhalb einer sprachgenossenschaft zu einer gewissen zeit üblich ist... Ihr inhalt sind nicht tatsachen, sondern nur eine abstraction aus den beobachteten tatsachen. Macht man solche abstractionen innerhalb der selben sprachgenossenschaft zu verschiedenen zeiten, so werden sie verschieden ausfallen ... aber über das eigentliche wesen der vollzogenen Umwälzungen wird man auf diese weise nicht aufgeklärt. Der causalzusammenhang bleibt verschlossen, so lange man nur mit abstractionen rechnet, als wäre eine wirklich aus der andern entstanden. Denn zwischen abstractionen gibt es überhaupt keinen causalnexus, sondern nur zwischen realen objecten und tatsachen. (Paul (1880/ 1968), 2. Aufl. (1886), 22).

Dem Historiker stellen sich zwei banalere Probleme, (1) die Schwierigkeit (die durch die Lückenhaftigkeit der Daten aus vergangenen Zeiten noch vergrößert wird), eine auch nur vereinfachte Darstellung der gesamten, ineinander verzahnten Struktur der diversen phonologischen, morphologischen, syntaktischen und semantischen Komponenten der Sprache zu liefern; und (2) die Schwierigkeit, passende Texte zu finden, welche die .sukzessiven Produkte / outputs' der .gleichen' Sprachgemeinschaft vertreten und sprachliche Kontinuität widerspiegeln könnten. Zur ,Datenreinigung' (um der zweiten Schwierigkeit zu begegnen) braucht es philologische Methoden (wie etwa Paläographie, Archivforschung, Textkritik) sowie literarische und stilistische Analyse, so daß Texte aus früheren Jahrhunderten datiert, lokalisiert und stilistisch beurteilt werden können. Dies alles hängt zum Teil mit Faktoren von außen zusammen, die bedingen, wie das Sprachsystem von Sprechern benutzt wird. Eben hier aber findet Sprachwandel statt, oder, wie Paul (1880/1968), 2. Aufl., es formulierte: „ D i e eigentliche Ursache für die Veränderung des usus ist nichts anderes als die gewöhnliche Sprechtätigkeit". Auch Saussure verbannte solche Veränderungen auf die Ebene der parole, da sie außerhalb seines Interessengebietes gelegen haben dürften (CLG 7 7 - 8 1 , 197f.). Die Schach-Analogie, die für das Sprachsystem zutrifft, paßt an diesem P u n k t nicht mehr, denn sie berücksichtigt weder neue Figuren, die in das Spiel eingeführt werden (durch sprachliche Entlehnung etwa) noch die Tatsache, daß eine Struktur durch analogen Wandel die Funktionen einer anderen übernehmen kann (ein Bauer hingegen kann Königin werden). In dieser Ansicht, daß das Sprachsystem völlig kohärent sei, daß alle Variation der parole zugeschrieben werden könne, steckt eine Schwäche der

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Einleitung

strukturalistischen Position. Spätere Strukturellsten der .Prager Schule', z.B. deren Gründer Nikolay Trubetzkoy (1890-1938), haben diese Voraussetzung in Frage gestellt. Für Trubetzkoy war die Sprache ,ein aus mehreren Teilsystemen zusammengesetztes Ganzes'. 18 Wiederum wurde postuliert, das Sprachsystem selbst neige aus rein strukturellen Gründen zu Verschiebungen, z.B. wenn seine Vokal- oder Konsonantensysteme irgendwie .unausgewogen' werden. Obwohl solche Verschiebungen von äußeren Faktoren (wie z.B. Entlehnung) ausgelöst werden können, mögen sie teilweise durch die Art des Systems selbst bedingt sein (siehe Kapitel II). Auf einer anderen Ebene deutet dann etwas anscheinend so Einfaches wie lexikalische Entlehnung auf Lücken im Wortschatz (siehe Kapitel VII), also in der lexikalischen Struktur. Der strukturalistische Ansatz liefert Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Elementen innerhalb des Sprachsystems and hat sich besonders der Untersuchung abstrakter Einheiten wie der Phoneme und Morpheme zugewandt (s. Kapitel II and IV); weiter regte die Saussuresche Behandlung des sprachlichen Zeichens die Bedeutungsforschung an (s. Kapitel X). Trotzdem — zum Teil, weil der Strukturalismus eine Reaktion auf den komparativen und historischen Positivismus der Junggrammatiker darstellte, - hat er meist das Sprachsystem und dessen einzelne Ebenen wie Phonologie, Morphologie etc. als vollständig, als in sich geschlossen und vor allem von den Sprechern getrennt behandelt. Deren Kommunikation aber bildet stets die Grundlage für eine historische Untersuchung. Es scheint für den Sprachhistoriker möglich zu sein, einen groben Abriß der Entwicklungen im Produkt/Output (parole) einer Sprachgemeinschaft über eine Zeitspanne hin vorzulegen, umstritten jedoch und abhängig von der Art der Beschreibung ist die Frage, inwieweit das Sprachsystem (¡angue) sich verändert. Während der strukturalistische Ansatz Sprachwandel via parole berücksichtigt und annimmt, daß Neuerungen von dort her in das Sprachsystem übernommen und ein Teil desselben werden, bleibt unklar, wann und wie dies stattfindet. Zum Beispiel kann Entlehnung aus anderen Sprachen zu alternativen Neben- oder Doppelformen führen und Wörter in bestimmte Sprechergruppen eindringen lassen, wo ihr Gebrauch je nach Zweck, Grad der Formalität und anderen stilistischen Faktoren lange schwankt. Wieder scheint hier die Vorstellung eines einzigen homogenen Systems zu einfach - und wir haben bereits die vielen Spielarten des Deutschen erwähnt (s.o., S. 4 - 5 ) . Schließlich könnte das Sprachsystem als nahezu gleichbleibend verstanden werden, während stattdessen in der Rede zu verschiedenen Zeiten verschiedene Strukturen aus diesem System in den Gebrauch kommen oder mehr oder weniger stark hervortreten - also für den Sprachhistoriker zugänglich werden. Eine solche Auffassung würde das Sprachsystem ganz und gar der Wirkung der Zeit entziehen. Das ist gewiß nicht wahrscheinlich, wenn man Lehnwörter betrachtet, von denen viele Jahrhunderte lang stilistisch und formal in der Sprache als .fremd' identifizierbar bleiben. Innerhalb der Lexis

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,Un ensemble de plusieurs systèmes partiels' - 'ein Gesamtes/Ganzes aus mehreren Teilsystemen'; siehe Trubetzkoy (1949), 4, und weiter Firth (1968), 43. Auch Firth zieht einen polysystematischen Ansatz bei der Sprachenanalyse vor.

Sprache: Wesen und Analyse

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(des Wortschatzes) sind das Aufkommen von Neologismen (.Neuwörtern') und die Aufnahme von Fremdwörtern also sicher willkürliche, .stochas tische' Prozesse, auf Grund der vielen Variablen nicht vorhersehbare Vorgänge. Wäre dem nicht so, müßte man ein immenses zugrundeliegendes System annehmen, das alle potentiell vorkommenden Formen zu enthalten vermöchte - ein eher religiöser Gedanke... Andererseits dürften bei der Lehnwortaufnahme bestimmte Bildungen bewußt oder unbewußt als strukturkonform vorgezogen werden: sind sie es nicht, so werden die Lexeme stets als Fremdkörper empfunden und oft im Laufe der Zeit ersetzt. C. Generative Theorien Die Generative Grammatik ist seit dem ersten Anstoß durch Noam Chomsky Ende der fünfziger Jahre 19 in viele Richtungen weitergeführt worden, doch im Mittelpunkt aller Ansätze, die lose als .generativ' bezeichnet werden können, steht die sprachliche Kreativität des Individuums, die die bekannte Dichotomie zwischen dem zugrundeliegenden Sprachsystem (der .Grammatik') und der Realisierung oder Manifestation dieses Systems in den tatsächlich vorkommenden Äußerungen ausnützt. Der Begriff dieser sprachlichen Kreativität bezieht bewußt das Vermögen des Sprechers/Hörers mit ein, in seiner Sprache akzeptable Sätze zu bilden, welche er vorher weder gehört noch hervorgebracht hat, sowie von anderen Sprechern gebildete Sätze, welche er nie zuvor gehört hat, zu interpretieren. Dies erreicht er kraft seiner internalisierten und mehr oder weniger unbewußten Kenntnis seiner eigenen Sprache, seiner Grammatik von dieser. Das Ideal wäre für die Generativisten vermutlich erreicht, wenn sie wüßten, wie der Geist in zeitgemäßerer Formulierung der Verstand - sprachliche Daten in jener Grammatik organisiert, denn damit hängt zusammen, wie Sprache erworben wird und wie sprachliche Strukturen gebildet und wahrgenommen, verstanden werden. In der Praxis können wir nicht feststellen, wie dieser Teil des Verstands funktioniert, und physiologische Untersuchungen des Gehirns können bislang noch wenig Aufschluß über diese ungeheuer komplexe Frage geben. Obwohl wir zwar die eigene Grammatik des Individuums von seiner Sprache (die die Generativisten dessen .Kompetenz' nennen) nicht untersuchen können, können Linguisten immerhin Modelle konstruieren, die seine Kompetenz darstellen sollen. Dieser Art sind die Grammatiken, deren formale Eigenschaften in generativen Theorien diskutiert werden.20 Das Verhältnis zwischen dem Modell und der .eigentlichen' Grammatik des Sprechers kann nicht genau bestimmt werden, und es läßt sich mehr als ein Grammatik-Modell ausdenken - wodurch sich ein Großteil der theoretischen Diskussion in den verschiedenen generativen Ansätzen erklärt. Nichtsdestoweniger lassen sich die miteinander konkurrierenden Modellgrammatiken für eine bestimmte Sprache bewerten, da jede Grammatik gewissen Anforderungen zu genügen hat, etwa Einfachheit, Angemessenheit, Allgemeinheit. " Siehe Chomsky (1957), bes. 49ff. und Chomsky (1965). Siehe King (1969), bes. 14.

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Einleitung

Kurz: Einfachheit sucht die schlichteste Grammatik, die (1) nicht nur irgendeine gegebene Reihe von Daten adäquat beschreibt, sondern auch neuen, für den Sprecher der Sprache annehmbaren Sätzen Rechnung tragen kann (d.h. der Angemessenheits-Forderung entspricht); und (2) eine Sprachtheorie verkörpern kann, die sich auch auf andere Sprachen als die gerade analysierte anwenden läßt (d.h. der Forderung von Allgemeinheit entspricht).21 Weiter ist zu bemerken, daß bei dem bescheideneren Ziel, dasjenige Grammatikmodell zu finden, das sprachliches Verhalten am adäquatesten beschreibt, die Bezeichnung .generieren' in einem besonderen Sinne gebraucht wird und in etwa .strukturell beschreiben' oder .eine strukturelle Beschreibung zuordnen' bedeutet: .Wenn wir davon sprechen, daß eine Grammatik einen Satz mit einer bestimmten strukturellen Beschreibung generiert, so meinen wir damit einfach, daß die Grammatik diese strukturelle Beschreibung dem Satz zuordnet'. 22

Dieses Wort wird also wie ein technischer Begriff in der mathematischen Logik verwendet. Linguisten postulieren grammatische Regeln, um eine Beziehung zwischen der zugrundeliegenden syntaktischen .Tiefenstruktur' der Modellgrammatik und deren .Oberflächenstruktur' herzustellen. Die Oberflächenstrukturen selbst sind nicht unbedingt die Äußerungen, sondern sie sind .subkutan' und bedürfen noch einer physikalischen Interpretation durch Anwendung phonologischer Regeln, genau wie die syntaktischen Tiefenstrukturen eine volle semantische Interpretation brauchen. Die Regeln, die zwischen Tiefen- und Oberflächen-Strukturen vermitteln, stellen Kodierungs- und Dekodierungs-Prozesse in den Modellgrammatiken dar, die als .Transformationen' bekannt sind.23 Folglich versteht die generative Theorie die menschliche Sprache als etwas Dynamisches; als ein funktionierendes System oder einen Vorgang, nicht so sehr als statischen Vorrat an systematischen Elementen, wie das in der Saussureschen Auffassung der Fall ist. Die Sprache als etwas Dynamisches zu behandeln (nämlich als eine Tätigkeit) war bereits von Wilhelm von Humboldt (1787-1835) vorgeschlagen worden:24 Die S p r a c h e , in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke V o r ü b e r g e h e n d e s ... Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie 21 22

23

24

Chomsky (1957), 49f. (Chomsky (1965), 9: .When we speak of a grammar as generating a sentence with a certain structural description, we mean simply that the grammar assigns this structural description to the sentence.' Hier wird .generieren' .explizit' gebraucht, um die Struktur aufzuzeigen; eine andere Bedeutung von .generieren' impliziert die Erzeugung von zukünftigen Sätzen - in diesem Sinne ist der Terminus .projektiv': siehe Franz Hundsnurscher LGL (1980), 211-42, - bes. 221-2. Die Regeln, die zwischen der syntaktischen Tiefen- und der Oberflächenstruktur vermitteln (d.h. diejenigen Regeln, die weder der phonologischen Realisierungsebene, noch der semantischen Ebene noch der obligaten Basisstruktur angehören) heißen ,Transformationsregeln', daher die Bezeichnung .generative Transformationsgrammatik', engl. TG. Siehe King (1969), 16ff. Siehe bes. Chomsky (1967), 17ff.; Chomsky (1965), 4.

Sprache: Wesen und Analyse

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ist nämlich die sich ewig wiederholende A r b e i t d e s G e i s t e s , den a r t i c u l i r t e n L a u t zum Ausdruck des G e d a n k e n fähig zu machen. 2 3

Humboldt erkannte ebenfalls, daß die Sprache .einen unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln' macht, was Generativisten unter anderem als Anwendung rekursiver Regeln interpretieren, welche es zulassen, daß gewisse Strukturen unendlich wiederholt oder kombiniert werden. 26 Chomsky setzt an Stelle der Saussureschen Kategorien langue und parole die Begriffe .Kompetenz' und ,Performanz' (.Leistung'): die Kompetenz ist die Grammatik oder Sprachkenntnis des Individuums, die in der Kindheit von jedem Sprecher erworben, also konstruiert worden ist, und Performanz der tatsächliche .Output', der als .Sprechen' durch diese internalisierte Grammatik in bestimmten Situationen und Kontexten hervorgebracht wird. Zu bemerken ist, daß, während die langue etwas Kollektives und Soziales ist, die Kompetenz an das Individuum gebunden bleibt, obwohl sie ebenfalls idealisiert wird: .Sprachtheorie befaßt sich primär mit einem idealen Sprecher-Hörer, in einer völlig homogenen Sprachgemeinschaft, der seine Sprache perfekt beherrscht ...* 27

Aber das Kompetenz-Modell des Linguisten schließt auch Sätze von kombinatorischen und rekursiven Regeln ein, die die syntaktischen Strukturen der Performanz erklären: in dieser Hinsicht scheint ein Teil des Saussureschen parole in der idealen Grammatik des Individuums aufgehoben zu sein. Zwar sind für die tatsächliche sprachliche Leistung ein begrenztes Gedächtnis, Irrtümer etc. charakteristisch, d.h. die Performanz wird durch .Realisierungsfehler' beeinträchtigt, andererseits bleiben aber soziolinguistische Faktoren wie stilistische oder regionale Variation unberücksichtigt, obwohl sie sehr stark die Kommunikation bedingen. Hierin liegt offensichtlich eine Schwäche der älteren generativen Theorie, besonders hinsichtlich der Sprachgeschichte; denn diese zeigt ja, wie das Ineinandergreifen von Spielarten einer Sprache deren Grammatik gestalten und umgestalten kann. Eine diachrone generative Untersuchung einer Sprache, die die dialektalen und soziologischen Einflüsse außer acht läßt, indem sie eine homogene Sprachgemeinschaft postuliert, führt unweigerlich zu einer idealisierten historischen Grammatik, nicht aber zu einer Sprachgeschichte, die sprachliche Veränderungen in und an der Sprachgemeinschaft und durch sie interpretiert. So konstruiert der historische Generativist für eine frühere Stufe einer Sprache eine Grammatik, G l , und vergleicht diese mit einer Grammatik, G2, die er für eine spätere, vielleicht moderne, Stufe derselben Sprache konstruiert hat: er muß dann die 25 26 27

Wilhelm von Humboldt (1836), S. lvii. Wilhelm von Humboldt (1836), S.cxxii; Chomsky (1967), 17. Chomsky (1965), 3: .Linguistic theory is concerned primarily with an ideal speakerlistener, in a completely homogeneous speech-community, who knows its language perfectly ...' Die Performanz schließt natürlich auch die in schriftlicher Form zugängliche Ausgabe der internalisierten Grammatik mit ein: ist sogar, wegen der vorgenommenen Idealisierung der Daten, so gut wie identisch mit ihr!

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Unterschiede zwischen den beiden Grammatiken erklären - gewöhnlich mittels Veränderungen in den Regeln, die die syntaktischen Grundstrukturen betreffen. Calvert Watkins formuliert das so: .Eine historische Folge von Texten ist eine Reihe von Outputs [.Ausgaben'] sukzessiver synchronischer Grammatiken - anders ausgedrückt, von Grammatiken, die zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen waren. Die Schwierigkeit liegt für den historischen Linguisten jedoch darin, zu bestimmen, wie eine Grammatik sich tatsächlich zu einer auf sie folgenden hin verändert.'28

Es tauchen jedoch mehrere Probleme auf. Erstens können wir, wenn wir Modelle für die Kompetenz früherer Sprecher konstruieren, nicht auf die .native speakers' zurückgreifen, um zu überprüfen, daß die Strukturen, die sie generieren, auch wirklich akzeptabel sind - und wir finden erst relativ spät in der Geschichte des Deutschen die ersten konkreten Bemerkungen zeitgenössischer Grammatiker (nämlich im späten sechzehnten Jahrhundert). Zweitens sind die historischen Texte oder Daten gewöhnlich das Ergebnis eines Aufeinandereinwirkens mehrerer Individuen, sie stellen nicht eine einzige Kompetenz dar, denn in Kloster und Kanzlei werden Texte übersetzt, von einem Dialekt in einen anderen übertragen, von Kopisten abgeschrieben und verbessert, und sie lassen sich oft schlecht datieren oder lokalisieren; frühe Drucke spiegeln auch noch die vereinten Anstrengungen von verschiedenen Druckern, Setzern und Korrektoren wider, die, wie die Mönche und Kanzleischreiber, jeder aus einer anderen Gegend und aus einer anderen Gesellschaftsschicht stammen können. Aber selbst, wenn wir Gl und G2 in groben Zügen aufstellen können, - eine Beziehung überhaupt zwischen ihnen herzustellen bringt eine dritte Schwierigkeit, die schwerer wiegt: die Grammatiken verknüpft keine wahre Kontinuität, denn wie Pauls abstrakte sprachzustände (siehe oben, S. 11) sind sie, nicht direkt, sondern nur über ihren Output aufeinander bezogen. Die Performanz losgelöst von Kompetenz zu behandeln ist indessen auch nicht möglich, denn der Output eines Individuums kann sich nicht auf den Output eines anderen Individuums beziehen oder diesen beeinflussen, es sei denn indirekt, über die Kompetenzen der Sprecher. Wenn es sich um Daten aus verschiedenen historischen Perioden handelt, so stehen diese Outputs natürlich nicht miteinander in Verbindung, außer im Vergleich des Sprachhistorikers. Überdies können Leistungen, die zwecks Analyse aus verschiedenen Zeiten gewählt wurden, unter Umständen noch nicht einmal irgendeiner hypothetischen Sukzession von Grammatiken zugeordnet werden: die moderne deutsche Standardsprache läßt sich zum Beispiel nur so weit zurückverfolgen, bis die Elemente, die sie heute ausmachen, in Zeiten, in denen keine 28

Watkins (1975), 88, ,A historical sequence of texts is a series of outputs of successive synchronic grammars - grammars, in other words, which were complete at a particular point in time. The problem of the linguistic historian, however, is to determine how one grammar actually changes into a succeeding one.' In diesem Zitat kann das Wort .complete' auch mit .vollständig' wiedergegeben werden: wesentlich ist in unserem Zusammenhang nicht so sehr die Geschlossenheit des jeweiligen Sprachsystems, sondern daß es von anderen zeitlich auseinanderliegenden Sprachsystemen abgekapselt ist.

Sprache: Wesen und Analyse

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Standardsprache existierte und somit alle Sprachen .Dialekt' waren, in einer Masse konkurrierender Sprachvarianten verschwinden. So ist es ein höchst fiktives Unterfangen, Einzelgrammatiken über die Jahrhunderte hin zu vergleichen. Diese Einwände entwerten freilich nicht den generativen Ansatz an sich, sondern sie zeigen nur seine Grenzen innerhalb der historischen Linguistik. Zwar liefert die formale Darstellung wohl keine völlig überzeugenden Modelle der besonderen Veränderungen, die stattgefunden haben, aber sie weist zumindest auf diejenigen Bereiche einer Sprache hin, die schwankend sind oder ehedem geschwankt haben, und solche, die so gut wie unverändert geblieben sind. Im Endeffekt wird G2 als das Ergebnis mehrerer Arten von Wandel interpretiert, die auf die frühere G l hätten einwirken müssen, u m den Output zu bewirken, von dem G2 konstruiert worden ist. Es kann sich dabei um Unterschiede diverser Art handeln, darunter (1) Hinzufügung von Regeln (um traditionelle Lautveränderungen zu erklären, siehe z.B. Kapitel II und Anhang A); (2) Regelverlust; (3) Neuordnung von Regeln; 29 und (4) Regelvereinfachung. Die drei letzten Typen der Regelveränderungen gehen o f t miteinander zusammen, lassen sich am leichtesten in ihren Auswirkungen auf morphologische Systeme beobachten (siehe Kapitel IV) und sind vielleicht typisch f ü r Veränderungen, die von einer Generation zur nächsten stattfinden. 3 0 Ein generatives Spracherwerb-Modell ist auf das Problem des Sprachwandels angewandt worden, 3 1 wobei wiederum ein früher geäußerter Gedanke deutlicher neuformuliert wurde. Das Kind (K) konstruiert vermutlich eine Grammatik (Kompetenz) des Outputs (der Performanz) des Erwachsenen (E). Die Analyse des Kindes ergibt jedoch keine Grammatik, die identisch ist mit der der Mutter; mit anderen Worten: GE and GK sind nicht isomorph. Vom Standpunkt des Linguisten aus hat das Kind die elterliche Grammatik vereinfacht oder sonst irgendwie neu strukturiert. Es konstruiert dann Formen und Sätze, die sich von denen der Performanz des Elternteiles unterscheiden können, z.B. in übergeneralisierten Formen wie denen des Präteritums: engl. *goed (anstatt ,went'); deutsch *schlafte (für .schlief'). Ein vereinfachtes Modell wäre das in A b b . 1 gezeigte. Die generative Theorie behauptet, daß die Kinder mit Grammatiken aufwachsen, die etwas anders sind als die ihrer Eltern, und daß sie dann ihrerseits die ältere Generation werden, deren Performanz wiederum die Grundlage f ü r die Grammatiken ihrer Kinder bildet, welche ebenfalls anders sind: so entwickelt die Sprache sich von Generation zu Generation.

29

30 31

Regelumstellung impliziert, daß die Regeln geordnet auftreten, was umstritten ist; siehe Vennemann (1977), 24-42. Für eine Diskussion der diachronischen generativen Regeln, siehe Bynon (1979), bes. 108ff. Siehe King (1969), 65. Siehe King (1969), bes. 71ff. und das Modell auf Seite 85. Zum Spracherwerb, siehe u.a. Els Oksaar, LGL (1980), 433 -440, mit dem Beispiel 'Großvater sitzte und leste.

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Einleitung

Kompetenz 1

Kompetenz des Elternteils = GE Perfonnanz

Kompetenz 2

grammatische Analyse des Kindes

Τ Kompetenz des Kindes = GK Perfonnanz

Abb. 1 N a t ü r l i c h ist dies alles S p e k u l a t i o n . V o n den vorgebrachten E i n w ä n d e n m a g hier n u r der a n g e f ü h r t werden, d a ß das Kind der P e r f o r m a n z einer ganzen Reihe v o n E r w a c h s e n e n u n t e r w o r f e n ist, einige V a r i a n t e n d a r u n t e r sind idiosynkratisch vor allem in der V e r e i n f a c h u n g der S p r a c h s t r u k t u r , etwa in der s o g e n a n n t e n .BabyS p r a c h e ' ( o d e r . A m m e n s p r a c h e ' ) . 3 2 W a s wichtiger ist: die ü b e r v e r e i n f a c h t e n F o r m e n *goed u n d *schla/te werden d u r c h sozialen Z w a n g a u s der G r a m m a t i k getilgt, da die A n a l y s e des Kindes, u n d folglich seine G r a m m a t i k , a n s c h e i n e n d revidiert wird. 3 3 Soziale F a k t o r e n sind a u c h der G r u n d f ü r die A u s b i l d u n g von G r u p p e n s p r a c h e n bei j u n g e n M e n s c h e n , z.B. der . S t u d e n t e n s p r a c h e ' , die in der deutschen S p r a c h e eine recht lange Geschichte hat. 3 4 W a s die G r u p p e n s p r a c h e 32 33

34

Siehe Aitchison (1981), 173-90. Aitchison (1981), 177 wendet dagegen ein, daß der Lautwandel eher die weniger geläufigen Formen tangiert, nicht die gewöhnlichen Formen, wie sie vom Kind erzeugt weiden. Andererseits werden vielleicht die Übergeneralisierungen des Kindes korrigiert, wo sie häufig sind, während die weniger gebräuchlichen unbemerkt durchgehen. Auch stellten bis vor kurzem wohl die Existenz einer mit Prestige besetzten Hochsprache und die von dieser abhängige soziale Mobilität der radikalen sprachlichen Veränderung Hindernisse in den Weg. Heute werden oft die schwachen schriftsprachlichen Leistungen in einer Gesellschaft gerügt, die sich eher vom Schriftlichen zum Audiovisuellen - daher weniger Überlegten - entwickelt hat: Fernsehen und Rundfunk, vor allem im Lokalbereich, wenden sich an die Durchschnittsbürger und verwerten für politische, unterhaltende und kulturelle Zwecke deren spontane und sprachlich meist ungefeilte und weder an die Schrift gebundene noch in der Schrift festgehaltene Beiträge. Durch diese Zustände dürfte eine gründliche Sprachveränderung wieder erst möglich geworden sein: ein heikles Thema, das jedoch außerhalb unseres Blickwinkels liegt. Siehe Götze (1928). Für die neuere Jugendsprache siehe Henne (1986) und die anderen Arbeiten, oben Anm. 5.

Sprache: Wesen und Analyse

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von Kindern anbetrifft, so ist diese oft an Institutionen gebunden, besonders an die Schule, wo sie sich erstaunlich lange hält und in einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung von einer Generation nach der anderen als ,lore' (.Brauchtum') weitergereicht, aber nicht ins Erwachsenendasein weitergetragen wird. Folglich kann das Erlernen von Sprache nur wenig spürbaren Einfluß auf die Sprachgemeinschaft als Ganzes haben; erst in der allerjüngsten Vergangenheit - seit 1945 - finden wir eine .Jugendkultur' im engeren Sinn, die teilweise auch kommerziell gefördert und ausgebeutet wird und die sogar international geworden ist.

D. Soziolinguistische Methoden Indem wir die Sprache im Wechselbezug mit ihren Benutzern untersuchen, erkennen wir das .Konventionelle' 35 an ihr sowie ihre diversen sozialen Funktionen, etwa die, (1) Informationen, Einstellungen und Meinungen mitzuteilen oder (2) Individuen und Gemeinschaften zu beeinflussen. Man hat sich gefragt, ob nicht der .soziolinguistische' Ansatz der einzig mögliche sei, wodurch sich die Verwendung dieses Adjektivs erübrigte. 36 Wahrscheinlich empfiehlt sich jedoch irgendeine definierende Bezeichnung zur Kennzeichnung von Versuchen, den Abstand zu überbrücken, der seit dem späten neunzehnten Jahrhundert zwischen Sprachuntersuchungen, die ganz von der Gemeinschaft der Sprachbenutzer absahen, und den mehr pragmatischen Ansätzen der Dialektologie und, jüngeren Datums, der Soziologie entstanden war. .Integrierende Linguistik' trifft vielleicht den Sachverhalt am besten. ,Als allererstes muß eine integrierende Linguistik erkennen, daß menschliche Lebewesen einen Kommunikationsraum bewohnen, der nicht säuberlich in Sprache und NichtSprache aufgeteilt ist.' 3 7

Vom diachronischen Standpunkt aus, der uns hier vor allem interessiert, würde ein solcher Ansatz bemüht sein, den Unterschied zwischen innerer (struktureller und grammatischer) Sprachgeschichte und äußerer Sprachgeschichte, die Veränderungen in der Sprache (gewöhnlich im Wortschatz) auf Veränderungen in der Sprachgemeinschaft bezieht, zu beseitigen. Natürlich ist die einfache Nebeneinanderstellung von Grammatik und Geschichte unbefriedigend. Die Verbindungen zwischen den beiden sind manigfaltig und wollen interpretiert sein, und erst 35

36 37

.Konventionell' bedeutet in diesem Zusammenhang ,für die Sprachgemeinschaft verbindlich': der Einzelne vermag nicht, aus Willkür die Konventionen seiner Sprache radikal zu verändern: sonst wird er mißverstanden. Immerhin: die sprachlichen Zeichen selbst sind willkürlich, außer in einigen wenigen Fällen, wie z.B. in der Lautmalerei, d.h. die Zeichen sind nicht Ausdruck einer logischen Beziehung zu der bezeichneten Wirklichkeit. Hierzu siehe bes. Kap. X. Labov (1978), p . X l X . Harris (1981), 165. .First and foremost, an integrational linguistics must recognise that human beings inhabit a communicational space which is not neatly compartmentalised into language and non-language.'

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Einleitung

dieser Interpretations-Prozeß macht die Sprachgeschichte faszinierend - und zu einer provokanten Aufgabe, die uns immer wieder freudeverheißende Qualen bereitet. Dazu kommt, daß die historische Sprachwissenschaft plötzlich wieder wichtiger wird; denn ihre umfassende Vorstellung von der Sprache muß Variabilität und Veränderung umfassen, und wenn ein entsprechendes Modell wirklich ausgearbeitet werden kann, läßt es sich eventuell auch auf das Funktionieren der Sprache anwenden. Denn wenn gezeigt werden kann, daß Veränderlichkeit die Entwicklung einer Sprache beeinflußt hat, so dürfen wir sie auch als einen wichtigen Faktor im Sprachgebrauch verstehen. Historische Untersuchungen einzelner Fälle über einen langen Zeitraum hin können vielleicht kurzfristige, aber mit feineren Mitteln operierende statistische Untersuchungen der heutigen Sprachverwendung ergänzen und untermauern. Während wir die Sprache als eine auf Regeln beruhende Tätigkeit behandeln, brauchen wir nicht ein zugrunde liegendes homogenes System, das selbst-regulierend ist (homeostatisch), zu postulieren. In einer Formulierung von Weinreich/Labov/Herzog: ,Es scheint uns ganz sinnlos, eine Sprachtheorie zu konstruieren, die als Input unnötig idealisierte und tatsachenwidrige Beschreibungen von Sprachzuständen akzeptiert. Lange bevor voraussagende Theorien von Sprachwandel in Angriff genommen werden können, ist es notwendig zu begreifen, die Sprache - sei es von einer diachronischen oder einer synchronischen Richtung her - als ein Objekt zu betrachten, das geordnete Heterogenität besitzt.'38 Die Sprache ist also für die genannten Wissenschaftler ein ,Systemoid\ u m f a ß t Untersysteme oder Varietäten, die durch Regeln determiniert sind, deren sich die Sprecher bewußt bedienen. Jedes Individuum verfügt über unterschiedliche soziale und dialektale Varianten. Das sind keine homogenen, invarianten Systeme, sondern sie selbst enthalten Variationselemente, wie Archaismen oder Innovationen, die als periphere Merkmale eine geraume Zeit fortbestehen können. Das Konzept einer Struktur-Variante ermöglicht es uns, sogar Schwankungen im Gebrauch als .systematische Schwankungen' aufzufassen, da Kontrolle und Wahrnehmung solcher Variation auch Teil der sprachlichen Kompetenz der Angehörigen einer Sprachgemeinschaft sind. Die Art, wie Individuen leben und miteinander kommunizieren, erklärt auch die Spielarten ihrer Sprache und die Zwecke, zu denen sie sie gebrauchen. Folglich werden Veränderungen in der Sozialstruktur und in den kommunikativen Bedürfnissen der Sprecher sich wahrscheinlich auf ihre Sprache auswirken, das gleiche gilt f ü r neue Transportmittel, die größere Distanzen überwinden, und neue Kommunikationsmedien, die es ihnen gestattet, miteinander zu sprechen, obwohl sie zeitlich und räumlich voneinander entfernt sind: ganz allgemein der 38

Weinreich, Labov und Herzog (1968), 100. ,1t seems to us quite pointless to construct a theory of change which accepts as its input unnecessarily idealized and counterfactual descriptions of language states. Long before predictive theories of language change can be attempted, it will be necessary to learn to see language - whether from a diachronic or a synchronic routage - as an object possessing orderly heterogeneity.'

Sprache: Wesen und Analyse

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Gebrauch der Schrift, dann der Buchdruck, das Telefon, Radio und Fernsehen, Kassettenrecorder für Ton und Bild etc. Dem Sprachhistoriker sind zwar all die sprachlich relevanten Sozialphänomene der Vergangenheit nicht zugänglich, aber er kann doch die wichtigsten in ihrer Wirkung beobachten: schließlich sind nicht alle historischen Ereignisse, etwa gewonnene Schlachten oder der Tod von Königen, sozial und sprachlich relevant. Kommunikationsbedürfnisse und die Transmissionsmedien dagegen haben immer einen Einfluß darauf, welche Art Daten fortbestehen. So sind z.B. aus den frühesten Perioden, für welche wir Texte besitzen, in erster Linie religiöse, juristische und poetische Spielarten des Deutschen überliefert. Wir besitzen aber nur die allerkürzesten Proben von einer vierten sprachlichen Varietät, die existiert haben muß, nämlich der täglichen Umgangssprache, und wir wissen wenig hinsichtlich des frühen technisch/fachsprachlichen Deutsch etwa für die Medizin, Landschaft oder Fischerei (außer in Glossen zu lateinischen Texten). Diese Sachlage ist bei anderen germanischen Sprachen nicht anders: schließlich waren Religion, Rechtsprechung und Dichtung in den frühen Gesellschaften meist eng miteinander verknüpft. Die begrenzt erhaltenen funktionalen Spielarten des frühen Deutschen erscheinen in .Dialektformen': und das Fehlen jeglicher geschriebener Standardsprache unterstreicht das Fehlen einer kulturellen und politischen Kohärenz. Die Texte weisen stark regionale Züge auf und sind sehr verschieden, was Einheitlichkeit und Geltung lokaler Schreibtraditionen anbelangt (s. Kapitel I). Im Vergleich dazu weist im neunzehnten Jahrhundert die ganze Vielfalt der Texte eine beträchtliche Standardisierung auf: der größte Teil des religiösen, juristischen und poetischen Schrifttums zeigt eine feste Bindung an eine Standard- und Literatursprache, das gleiche trifft für viele der verwaltungstechnischen und (natur)wissenschaftlichen Verwendungsformen des Deutschen zu. Obwohl die politische Zentralisierung erst gegen Ende des Jahrhunderts durchgesetzt wurde, hatte die sich entwickelnde Standardsprache schon lange davor so viel Prestige und symbolischen Status erlangt, daß sie geographische Unterschiede überwand (doch soziale wurden aufrecht erhalten - siehe Kapitel IX). Zudem hat jede technische Unterart wiederum funktional und formal variierende Realisierungsformen, von denen einige der gesprochenen Umgangssprache nahe stehen, die ja nun nicht mehr eng mit einem bestimmten Dialekt identifiziert werden kann. Wenn wir das Deutsch um 850 neben das Deutsch um 1850 stellen, dann finden wir unvergleichlich mehr verfügbare Daten, neue Formen fachlichen und sozialen Sprachgebrauchs, wie sie bis dahin weder aufs Pergament noch im Druck aufs Papier gelangt waren, einen allgemeinen Ρ restige-Verlust bei Dialekt- und regionalen Formen und eine dementsprechende Vorliebe für den Gebrauch des Standarddeutschen zu literarischen und allen anderen intellektuellen, Verwaltungs- und Repräsentationszwecken: Die Standardsprache ist überdies die Form von Sprache, für die sich Grammatiker und Lexikographen fast ausschließlich interessieren. 39 Dieser 39

Für die Rolle der G r a m m a t i k e r und Lexikographen, die künstlich einheitliche und finite sprachliche Systeme konstruiert haben, die von der tatsächlichen Sprachvielfalt absehen, siehe Harris (1980), bes. Kap. 6.

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Standard symbolisierte außerdem die Idee einer deutschen politischen Einheit: er lieferte ein vermeintlich einigendes Band für alle Deutsch sprechenden, zumindest die der sozialen Mittel- und Oberschicht. Die Vorrangstellung bestimmter Formen von Sprache läßt sich sowohl für eine soziale als auch für die politische Machtausübung benutzen. In der Terminologie des Feudalismus spiegelt die ganze Palette von Bezeichnungen für Dienst und Belohnung, Abhängigkeit und Respekt die Struktur des feudalen Gesellschaftssystems wider. Doch auf einer anderen Ebene ist gerade die Unangemessenheit solcher Sprache entscheidend für ihre Verwendung im Bereich der Höflichkeit: Adlige gleichen Status reden einander in Vasallenausdrücken an, die ihr soziales Verhältnis zueinander gerade nicht wiedergeben. Ein andermal erniedrigt ein Höhergestellter sich durch eine demütigende Geste, die unmöglich für bare Münze genommen werden kann, denn die Diskrepanz zwischen dem Rang des Herren und seinen öffentlichen Bekundigungen seiner Dienstbereitschaft ist zu groß. Gleichzeitig aber verleihen die Ausdrücke aus dem Dienstbereich der Stellung des Vasallen einen positiven Wert, und sie tragen vielleicht so zur Stabilität des sozialen Systems bei. Andererseits scheint die Verwendung des Dialekts damals nicht sozial disqualifizierend gewesen zu sein: eine volkssprachliche Standardsprache existierte noch nicht (diese Aufgabe erfüllte noch das Lateinische). Auch marxistische Sprachwissenschaftler argumentieren, daß die separate Betrachtung von äußeren (sprachexternen) und inneren (sprachinternen) Sprachveränderungen aufgegeben werden sollte, da die Sprache in das gesamte System sozialer Beziehungen integriert werden müßte. 40 Jedoch sind die marxistischen Theorien von sozioökonomischer gesellschaftlicher Entwicklung und Klassenkampf wohl zu allgemeiner Art, als daß sie überzeugend auf die sprachlichen Einzelheiten einer bestimmten Sprache bezogen werden könnten. Das sollten sie auch nicht, da die dazugehörenden Prozesse ebenfalls nicht für nur eine bestimmte Gesellschaft gelten. Mit anderen Worten: .Stammes-', .feudale' und .bürgerliche'/,kapitalistische' Systeme müssen weiter nach Klasse, Mobilität, Kohärenz und geschichtlicher Rolle in ihre mannigfaltigen Merkmale unterteilt werden, ehe ihnen spezifische sprachliche Merkmale zugeordnet werden können. Wenn dies nicht geschieht, liefern sie lediglich eine alternative ideologisch orientierte Aufteilung in Perioden, wie z.B. in der Geschichte des Deutschen von Joachim Schildt,41 in der sich eine prähistorische Phase indoeuropäischen und germanischen Stammestums vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. erstreckt, worauf eine Zeit des Feudalismus vom 5. Jahrhundert bis 1789 und dann eine Zeit der Bourgeoisie bzw. des Imperialismus von 1789 bis 1945 folgt. Freilich: Schildt unterteilt diese ungefügen Zeitbrocken weiter und erörtert die soziolinguistischen Faktoren, die in .bürgerlichen' Sprachgeschichten behandelt wurden. Wir werden später auf die wichtige und so verwickelte Periodisierung des Deutschen zurückkommen. Bis dahin wollen wir einige mögliche Quellen für den Sprachwandel aufspüren, die dann 40 41

Lerchner (1974). Schildt (1976).

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in einer Sprachwandeltheorie impliziert sind (ob wir diese Theorie nun .soziolinguistisch', ,integrativ', .pragmatisch' oder .marxistisch-leninistisch' nennen), welche die Sprache nicht als ein geschlossenes und monolithisches System, sondern eher als eine systembezogene Tätigkeit innerhalb sich verändernder sozialer Umstände behandelt.

Variabilität: Sprachwechsel und Sprachwandel Ist einmal die Existenz sprachlicher Variation innerhalb einer Gesellschaft akzeptiert, dann haben wir eine potentielle Quelle für sprachliche Neuerungen, da Formen einer Spielart sich ausbreiten und in die allgemein gesprochene Umgangssprache und vielleicht sogar in die Prestige- oder Standardform der Sprache aufgenommen werden. Fallstudien von Veränderungen, die in sozialen Umgebungen unserer Zeit vor sich gehen, lassen darauf schließen, daß dabei eher einige bereits existierende sprachliche Varianten verallgemeinert werden oder sich ausbreiten, als daß völlig ,neue' Formen spontan auftauchen. 42 Die sozial und geographisch bedingten Spielarten der Sprache wirken somit aufeinander ein und beeinflussen sich gegenseitig. Doch die einzelnen Spielarten der Sprache sind selbst einem Wandel unterworfen, da sie ebenfalls keine determinierten Systeme sind. Wir wissen zum Beispiel schon lange, daß benachbarte Dialekte nicht scharf voneinander geschieden sind, sondern meistens fließende Übergänge aufweisen, wie es beim Niederdeutschen und Niederländischen der Fall ist: folglich kann es sein, daß diese Abgrenzung eines Dialektgebietes nicht von einem .natürlichen Bruch' abhängt, sondern davon, welche Kriterien bei der Analyse angewandt werden. Technische und (natur)wissenschaftliche Varianten sind dem Einfluß anderer Provenienz offen, nämlich dem entsprechender Register in anderen Sprachgemeinschaften. Die modernen internationalen Normen wissenschaftlicher Einheiten und Nomenklaturen überwinden Schranken zwischen den Sprachen und errichten innerhalb einer gegebenen Sprachgemeinschaft neue Schranken zwischen Spezialisten und Nichtfachleuten. Diese internationalen Einflüsse auf technische Formen des Deutschen hat es auch in früheren Zeiten gegeben, in kleinerem Ausmaß und langsamer, aber nichtsdestoweniger deutlich erkennbar - zum Beispiel die internationale militärische Terminologie für Rang, Formation und Kriegführung im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert (siehe Kapitel VII). Die Entlehnung aus anderen Sprachen gibt viele Anstöße zu Erneuerungen und Entwicklungen im Wortschatz, außerdem, obwohl weniger stark, auch in der Morphologie und auf anderen Sprachebenen. Der Gründe und Wege solcher Innovationen sind viele, doch scheint ihre Übernahme in eine der sprachlichen Spielarten und danach Ausbreitung in die andern die nächstliegende Art der 42

Siehe bes. Labov (1972), bes. 296ff. und Labov (1978) - hierzu Aitehison (1981), bes. 53ff. Für dt. Verhältnisse, bes. in bezug auf den Dialektgebrauch, siehe: Hartig (1981 a) und Hartig (1981 è) und Mattheier (1980).

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Beeinflussung einer Sprache durch eine andere zu sein. Einige isolierte Entlehnungen werden jedoch gebräuchlich, ohne sich vorher in einem bestimmten speziellen Register oder im Gebrauch einer sozialen Gruppe einzunisten: in unserer Zeit liefern Presse, Radio und Fernsehen die Kanäle für sofortige und allgemeine Ausbreitung einer Fremdentlehnung, während die zunehmende wirtschaftliche und politische gegenseitige Abhängigkeit der Länder die sprachliche Wechselwirkung erklärt (eine Typologie solcher Entlehnungsprozesse wird ebenfalls in Kapitel VII versucht). Die einzelnen Ebenen der Sprache (Phonologie, Morphologie, Syntax und Wortschatz) sind keine in sich selbst determinierten, autonomen Systeme, denn sie greifen ineinander. Besonders Phonologie und Morphologie hängen eng miteinander zusammen, ebenso Morphologie und Syntax. Einige generative Theorien haben deshalb sogar auf eine eigene morphologische Ebene völlig verzichtet. Aber der Linguist m u ß auch die Bauelemente jeder Ebene feststellen, um seine Analyse durchzuführen, und diese sind ebenfalls nicht prädeterminiert oder invariant. So erscheint zum Beispiel auf der phonologischen Ebene der Laut als ein Kontinuum, das je nach dem, was f ü r die sprachliche Wahrnehmung wichtig ist, in genau unterschiedene Einheiten gegliedert werden muß: die Phoneme. Diese funktionalen Lauteinheiten einer Sprache entsprechen nicht irgendwelchen natürlich vorkommenden Abteilungen von .phonetischem oder akustischem R a u m ' , sie werden vielmehr durch mehrere Kriterien konstituiert, darunter ihre Fähigkeit, sprachliche Formen zu differenzieren. Die eigentliche phonetische Realisierung dieser grundlegenden Lauteinheiten jedoch ist von Sprecher zu Sprecher, und auch bei ein und dem selben Sprecher, recht verschieden (ein orthographisches System kann kaum mehr leisten, als lediglich die Fülle phonetischer Laute anzudeuten). Dramenautoren etwa weisen manchmal die Schauspieler an, sich einer bestimmten Aussprache zu bedienen, ohne d a f ü r aber eine präzise Notation geben zu können. 43 Solcherart stilistische Variation erstreckt sich auf alle Sprachebenen, obwohl die Variabilität am stärksten in den Unterschieden in Aussprache und Wortwahl, die von ein und demselben Sprecher mehr oder weniger bewußt in der bunten Mischung seiner tagtäglichen Kommunikation verwendet werden, hervortritt. Hier liegt deutlich eine Quelle f ü r Sprachwandel, die sehr viel wichtiger geworden ist, seitdem in modernen Gesellschaften die geographische und soziale Beweglichkeit und die Verbreitung der Massenmedien die Sprecher mit einem sehr breiten Spektrum von Stilen in Berührung gebracht haben. Wenn wir also überlegen, welche Mechanismen f ü r die Veränderungen, die auf die deutsche Sprache eingewirkt haben, möglich waren, dürfen wir nicht vergessen, daß alle Sprachformen variabel und nicht völlig determiniert und die Sprecher in ihrem Sprachgebrauch sehr flexibel und anpassungsfähig sind. Somit 43

So fordert Franz Xaver Kroetz ausdrücklich eine stärkere dialektale Färbung in der Aufführung seines Stücks Wildwechsel, als die Orthographie nahelegt: siehe die Ausgabe im Georg-Lenz Verlag, Wien, 1973, S.7. Für die Problematik einer Notation des Dialekts siehe Kap. IX.

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lägen die Bedingungen für die sprachliche Veränderung in der Zeit außerhalb der Sprachstruktur und innerhalb der Gesellschaft. Der Sprachwandel ginge aus der Zusammenwirkung von Sprachvarianten hervor und wäre also von den Sprechern einer Sprachgemeinschaft zuerst als Sprachwechsel erlebt worden. Somit können Sprachwandel und Sprachwechsel als eng zusammengehörend gesehen werden. Sprachwandel heißt also die .funktionell gesteuerte Evolution der Sprache, die den kommunikativen Bedürfnissen jeder Gesellschaft und ihrem Wandel entspricht'. 44

Die Periodisierung der deutschen Sprache Die sechs Perioden, in die das Deutsche im folgenden eingeteilt werden wird, bestimmen weitgehend den Aufbau des Buches; sie müssen an dieser Stelle ein wenig erörtert werden, obwohl Einzelheiten für die betreffenden Kapitel vorbehalten werden. Wie die Geschichte anderer Sprachen zerfällt auch die des Deutschen nicht natürlich und säuberlich in Perioden. Konkurrierende Einteilungsvorschläge spiegeln daher die verschiedenen Kriterien und Ziele der Sprachhistoriker wider. 45 Als erstes sollte jede Periodisierung die Analyse und Darstellung der Fakten erleichtern, ob diese Perioden nun auf literarischen, linguistischen, sozio-linguistischen, kulturellen, oder politischen Kriterien, oder auf Kombinationen von diesen beruhen. Zweitens kann das Schema, das man wählt, sich nicht über die bereits weithin akzeptierten traditionellen Periodisierungen hinwegsetzen. Kompromisse mit diesen sind daher als Vorbedingung unumgänglich. Die einzelnen hier vorgeschlagenen Perioden überlappen sich. Damit soll vermieden werden, daß sie ungebührlich Fixpunkten in der Zeit unterworfen sind. Periodisierungs-Kriterien sind auch nicht in allen Fällen fest, teils wegen der Grenzen, die das überlieferte Material vorgibt, teils, weil die traditionelle Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen ihre Perspektive verändert. Indem diese Perspektivenverschiebung hier absichtlich vorgenommen und explizit betont wird, wird eine selektive und ökonomische Unterbringung der Daten ermöglicht, während das Künstliche in ihrer Darstellung eher die interpretative 44

45

Coseriu (1958/1974) in der Darstellung von Klaus Mattheier, bei Besch et ai, (1984) Bd. 1, bes. S.722: ,Die Teleologie oder besser Finalität liegt dabei nicht in der Sprache an sich, sondern in den jeweils vorgegebenen neuartigen Anforderungen der Gesellschaft an das Kommunikationsmitte! Sprache.' Mattheier vergleicht ferner sprachinterne und sprachexterne Erklärungsmodelle mit der prägnanten Formulierung: .Für den innersprachlichen Wandel bzw. den Wandel aufgrund artikulatorisch-perzeptiver Variabilität wird ein kausales Erklärungsmodell, für den Wandel aufgrund der wechselnden kommunikativen Bedürfnisse in Sprachgemeinschaften wird ein finales Erklärungsmodell angenommen. ' Wolf (1971), Wellmann (1972), Schildt (1982) und neuerdings Besch et al., Bd. II (1985), der Artikel von Herbert Wolf, ,Die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte', S. 815-823. Sehr nützlich auch die Sammlung einschlägiger Aufsätze hrg. von Joachim Schildt (1982).

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Einleitung

als die deskriptive Behandlung des Stoffs unterstreicht. So weit wie möglich haben sprachliche und soziolinguistische Kriterien die chronologische Einteilung bestimmt, doch für die Neuzeit - etwa seit der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts - gehen die Meinungen darüber, wie die Rolle einzelner periodisierenden Faktoren zu bewerten sei, auseinander. Jacob Grimm schlug die berühmte Einteilung in folgende drei Stufen vor: Althochdeutsch, 46 ca. 750-1100; Mittelhochdeutsch, ca. 1100-1500; und Neuhochdeutsch, von 1500 bis zur Gegenwart (i.e., für Grimm, dem neunzehnten Jahrhundert). Diese glatte Trichotomie hatte eine durchgängige Terminologie, lehnte sich an seit dem Humanismus existierende historische Perioden an und eignete sich für einen großangelegten Vergleich der Hauptstadien aller germanischen und deutschen Dialekte, um deren fortschreitende, aber unterschiedliche Abweichung von alten, rekonstruierten ,Proto-Formen' zu zeigen. Grimms Terminologie und Periodisierung wurden von den Nachfolgenden übernommen, und es erschienen mehr oder weniger vollständige Grammatiken des ,Ahd.', ,Mhd.' und ,Nhd.'. Dieses Konzept erwies sich jedoch als unzureichend für detaillierte, sich jeweils auf kleine Teilbereiche beschränkende und trotzdem die ganze Zeitspanne der deutschen Sprachgeschichte umfassende Untersuchungen etwas, das Grimm nicht selbst in Angriff genommen hat. Als erstes wird eine zusätzliche Periode,,Frühneuhochdeutsch' genannt, jetzt allgemein zwischen das Mhd. und das Nhd. eingeschoben, obwohl seine zeitlichen Abgrenzungen weiterhin umstritten sind. 1350-1650, wie zuerst von Wilhelm Scherer47 vorgeschlagen, schien bis vor kurzem die bevorzugte Datierung zu sein. Diese Periode, deren Untergrenze quer durch Grimms mhd. Periode verläuft, ist durch eine Vielfalt von Texten in verschiedenen Dialektformen und verschiedensten Registern und Stillagen gekennzeichnet. Dies erschwert, ihre chronologische Ausdehnung auf Grund nur sprachlicher Kriterien festzustellen. Aus dem gleichen Grunde ist bisher keine vollständige Grammatik des Fnhd. geschrieben worden.48 Während die Texte dieses faszinierenden Zeitraums, der einen wie ein kunterbuntes Vexierspiel keine Ruhe läßt, zunehmend um ihrer selbst willen untersucht werden, haben manche Sprachhistoriker hartnäckig 135049 als Anfangspunkt verteidigt, z.T. mit dem alten unberechtigten Argument, daß sich bestimmte phonologische Entwicklungen, die die moderne Standardsprache kennzeichnen (besonders

44

,Hochdeutsch' benutzen wir hier im technischen Sinne für eine Art Deutsch, dessen Konsonantismus im allgemeinen demjenigen der modernen Standardsprache gleichgesetzt werden kann; siehe S. 45 - 4 9 . 47 Siehe Scherer (1878), 13-15. 48 Einen handlichen Abriß der fnhd. Grammatik von Betzinger, Bock und Langner bei Wilhelm Schmidt (1969), 281-358. Siehe auch die Kurzbibliographien zu den Kapp. V und VI. Zur Forschungslage des Fnhd. jetzt ZfdPh, Bd. 106 (1987) Sonderheft: Frühneuhochdeutsch. Zum Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung. Besorgt von Werner Besch und Klaus-Peter Wegera. "'So z.B. Hans Eggers (1963-77), III, 16-19, 56-62. Jetzt im zweiten Band der Neuausgabe: Bd. 1: DasAhd. und das Mhd. ; Bd. 2: Das Fnhd. und das Nhd., Hamburg 1986.

Sprache: Wesen und Analyse

27

Diphthongierung und Monophthongierung einiger betonter Silben) in der Schreibung von Dokumenten aus der kaiserlichen Kanzlei zu Prag finden, in einem östlichen Gebiet also, das seit mittelalterlichen Zeiten von Deutschsprechenden kolonisiert war. Ein .Kolonialdeutsch' ähnlicher Art (.Ostmitteldeutsch' - Omd.) wird seit langem als Quelle der modernen Standardsprache angesehen, und zwar aus eben diesen phonologischen Gründen. Jedoch sind die Verbindungen zwischen diesem und dem unmittelbar vorhergehenden Mhd. und den späteren Perioden der Geschichte des Deutschen relativ locker, wie wir sehen werden (Kap. III, S. 105-107). Zumindest hat gegenüber den mhd. Daten eine vielfache Veränderung des Standpunkts stattgefunden: während ,Mhd.' in seiner normalisierten (also bereinigten) Form, wie es in Grammatiken kodifiziert ist, auf belletristischer Literatur basiert, die für adlige Kreise hauptsächlich in den südlichen oder südwestlichen Teilen des deutschen Sprachgebiets geschrieben wurde, setzt die fnhd. Periode mit Verwaltungsurkunden in den ostmitteldeutschen Gebieten ein. Geographisch haben wir uns in neue .Kolonialgebiete' begeben, stilistisch zu einer anderen Art Sprache, und .teleologisch' auf die Suche nach den Ursprüngen eines Standarddeutsch. Eine etwas vagere Eingrenzung der Periode, vom vierzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert, dürfte sinnvoller sein. 50 Weiter und schwerwiegender spricht gegen dreiteilige wie vierteilige Strukturierung der deutschen Sprachgeschichte die Notwendigkeit, die Zeitspanne von 1650 bis zur Gegenwart zu unterteilen. Diese ,nhd.' Periode ist durch das Vorhandensein einer erkennbaren, wenn auch zuerst nicht allgemein anerkannten, ,Buch-Sprache' gekennzeichnet, die zunehmend kodifiziert und mit Erfolg gebildeten Sektoren der Bevölkerung in Schulen eingeimpft wurde. Gleichzeitig sind keine, Laut Veränderungen' oder andere radikale Änderungen an der Struktur dieser gepflegten .Kultursprache' mehr wahrzunehmen - stattdessen gehen die Änderungen stückweise vor sich, durch Auswahl und Verallgemeinerung dessen, was Grammatikern und Autoren als erstrebenswerte sprachliche Norm gilt ganze Generationen von Grammatikern ergeben eine bisweilen furchteinflößende Phalanx an Autorität. Jedoch stellen die Grammatiker als Schiedsrichter über den Sprachwandel und der Buchdruck als Vehikel dieses Wandels in gewisser Hinsicht einfach Verfeinerungen der kontinuierlichen Vorgänge einer Verallgemeinerung sprachlicher Varianten dar. Somit sind sie den früheren .Lautveränderungen' vergleichbar: das neue Medium, der Buchdruck, hat nur den Wandel

50

So in dem oben, Anm. 48, erwähnten Sonderheft zur Zeitschrift für dt. Philologie 106, Bd. (1987), S. 1. S. 2. In dem Aufsatz von Joachim Schildt ,Zum Verhältnis von Gesellschafts- und Sprachgeschichte. Periodisierungsprobleme', bei Schildt (Hrsg.) (1982), S. 38 kommt eine .Periode des frühneuzeitlichen Deutsch' vor, die dem Fnhd. entspricht: sie erstreckt sich von 1470 bis 1800. Auch die Reihe Bausteine zur Sprachgeschichte des Neuhochdeutschen, die von der Akademie der Wissenschaften der DDR herausgegeben wird, führt Titel auf, die syntaktische Umgestaltungen während der Zeitspanne von 1470 bis 1740 untersuchen: siehe Admoni (1980) und Guchmann und Semenjuk (1981) [Bausteine 56/4 und 56/5],

28

Einleitung

nach 1650 qualitativ anders als frühere Wandlungen erscheinen lassen (siehe besonders Kapitel V). Buchdruck und Grammatikographie gestatten uns, die Verallgemeinerungen von Variablen in den geschriebenen Überlieferungen des Deutschen zu überprüfen. Dieser Prozeß scheint .unordentlich', wohl gerade deswegen, weil wir ihn genauer als die früheren Wandlungen beobachten können, wo wir lediglich feststellen können, daß eventuelle einstige phonetische .Variablen' schließlich als vollintegrierte .Konstanten' übernommen werden. Eine in sich immer homogenere und gefestigtere gedruckte Sprache, die immer weitere Geltung bekam, mußte jedoch zugleich ein Hindernis für die tatsächlich gesprochenen Formen bedeuten. Sprechsprachliche Varianten wurden nun nicht mehr so leicht in die gedruckte Sprache aufgenommen. Ja, die Diskussionen über die deutsche Standardsprache bezogen sich zuerst vornehmlich auf Varianten in den regionalen gechriebenen (oder gedruckten) Traditionen. Wir können dies anhand der Grammatiken des achtzehnten Jahrhunderts in der Kontroverse über die DialektGrundlage der deutschen Buch- bzw. Standardsprache verfolgen - eine Angelegenheit, die zu jenem Zeitpunkt schon seit fast zwei Jahrhunderten überholt und irrelevant war, weil es sich damals um überlokale gedruckte Sprachformen, nicht mehr um Mundart handelte. Diesen Fragen werden wir später nachgehen; hier halten wir einfach fest, daß eine überwiegende Beschäftigung mit der Standardsprache noch viele interessante Entwicklungen in anderen Spielarten des Deutschen in den letzten Jahrhunderten verdeckt, die in manchen Bereichen, wie Dialekt, ungezwungener Umgangssprache und Technik, fortdauern. Paradoxerweise hat die geschriebene Standardsprache anscheinend an Boden verloren, seit sie im späten neunzehnten Jahrhundert in Orthographie und Aussprache kodifiziert wurde: denn neue Erfindungen - Telephon, Phonograph und Radio - kündigten das Ende des Monopols von Schriftlichkeit und Schriftsprache im öffentlichen Leben an, obwohl die Schriftsprache die erstrebte deutsche politische Einheit sowie die engen Verbindungen mit anderen Staaten, wie Österreich-Ungarn und der Schweiz, symbolisierte. Gleichzeitig begannen die Dramen des Naturalismus die Möglichkeiten einer nicht-Standardsprache für die Bühne auszunutzen (siehe Kapitel IX). Die Notwendigkeit, das Deutsche der späteren Jahrhunderte in Epochen zu unterteilen, führt uns außerdem auch noch in eine .terminologische' Verlegenheit, da die sich anbietenden näheren Attribute wie .früh' oder .spät' bereits belegt sind. Weil zudem einige formale Bereiche der historischen Grammatik (Phonologie, Morphologie und Syntax) in diesem Buch behandelt werden, wäre es schwierig, wenn nicht sogar irreführend gewesen, die althergebrachten üblichen Termini ahd., mhd. und (f)nhd. im ganzen Buch durch neue zu ersetzen. Daher werden der Einfachheit halber die alten Bezeichnungen weiterhin beibehalten, wenn Beispiele zitiert, grammatische Merkmale erörtert werden usw., während differenziertere Termini den sozio-linguistischen Entwicklungen vorbehalten sind. Die Bezeichnung ,vor/-prähistorisches Deutsch' bezieht sich auf die Jahrhunderte, aus denen nur isolierte deutsche Wörter, Namen oder Inschriften erhalten sind - die Vortextliche Periode. Darauf folgt die Frühdeutsche Periode

Sprache: Wesen und Analyse

29

vom frühen achten Jahrhundert bis 1100, mit der sich die Mittelalterliche Periode von 1050 bis 1500 überlappt, auf die ihrerseits eine Übergangszeit von 1450 bis 1650 folgt, - teilweise das Mhd. überlagernd - , in der die Auswirkungen des Buchdrucks zunehmend spürbar sind. Eine Frühmoderae Periode, etwa das siebzehnte und das achtzehnte Jahrhundert umfassend, überdeckt sich wiederum mit dieser Übergangszeit und läßt deutlich erkennen, wie die literarische Sprache zivilisiert(er) wird: auch die Grammatik wird damals literarischem Geschmack, nicht empirischer Beobachtung untergeordnet. Die Neuzeit oder Moderne Periode reicht von ca. 1800 bis 1950 und spiegelt vor allem die veränderten politischen Gegebenheiten der Sprecher wider. Die Ereignisse von 1789 (Französische Revolution), 1805 (Ende des Heiligen Römischen Reiches) und 1815 (Sieg über Napoleon) mochten je für sich einen Anfang gebildet haben; es bietet sich also das Jahr 1800 hier nicht aus zwingenden Gründen, sondern eher als eine Notlösung, der Einfachheit halber, als Datum an. Nach 1950 beginnt eine neue Periode, die als Zeitgenössische Deutsche Periode oder als Gegenwarts-Deutsch bezeichnet werden kann. Dieses Buch schließt sie nicht ein: es werden keinerlei sprachliche Entwicklungen nach 1945 erörtert werden, zum Teil, weil bisher über die deutsche Nachkriegssprache aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg sehr wenig gearbeitet worden ist. Die Umwälzungen infolge des Zweiten Weltkrieges veränderten das gesamte geographische, soziale, kulturelle und politische Leben Deutschlands und in geringerem Maße (oder zumindest mit Verzögerung) auch Österreichs. Die politische Aufspaltung in Bundesrepublik und Deutsche Demokratische Republik Deutschland fällt vielleicht als politische und soziale Veränderung am stärksten auf. Doch auch die Dialekte wurden infolge von Umzug, Flucht und Neuansiedlung der Sprecher in vielen Gegenden als Grundlage des Deutschen erschüttert; andere Gebiete wurden, besonders in ihren industriellen und städtischen Ballungsgebieten, durch einen Zustrom von Flüchtlingen aus anderen Gegenden betroffen. Die vollen Auswirkungen dieser Umwälzungen machten sich jedoch erst in den fünfziger Jahren bemerkbar, und es scheint, daß es unmittelbar nach dem Kriege eine kurze Episode literarischer, sprachlicher und .sozialer' Rückkehr zur Ära vor 1933 gegeben hat. Abb. 2 stellt das Verhältnis beider Konzeptionen zueinander dar. Die bestechende Einfachheit der alten Trichotomie mit ihren relativ gleichgewichtigen Zeitspannen für Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch steht einer soziolinguistisch aufgefächerten Einteilungsstruktur gegenüber, in der die Perioden immer kürzer, die zur Verfügung stehenden Varianten und Varietäten immer zahlreicher werden.

30

Einleitung n.Chr. 400

-

500 Vor-ahd. 600

Vortextliche Zeit

-

700 800 900 1000

-

_ Ahd.

Frühdeutsche Zeit

_ 1050 lìlììl/ìlllllììì/nìlllilllì/uiì/lllì

1100 1200 Mhd. 1300

-

1400

-

Mittelalterliche Zeit 1350

(Fnhd.) 1500 1600 1700 . _ -Nhd. 1800 1900

-

2000

-

1450 lllll/lllllll/ìllllllì/ìllìlllllllil/ll Übergangs-Zeit 1650 Illllillllllllllììlìlllìllllllllllliin Frühmoderne Zeit Moderne Zeit 1950 Gegenwarts-Deutsch/ .Postmoderne Zeit'

Abb. 2 Noch ist es zu früh, dem Gegenwartsdeutsch eine weitere sinnvolle Unterteilung abzugewinnen - etwa von einer .postmodernen' Periode sprechen zu wollen. 51 Auch sind wir um stichhaltige Periodisierungskriterien für das Deutsch der siebziger und achtziger Jahre verlegen. Unter den zu behandelnden neu hinzugekommenen bzw. stärker hervortretenden Spielarten des neuesten Deutsch sind neben der Jugendsprache auch die DDR-Variante, die Verwaltungssprache der Europäischen Gemeinschaft, die ebenfalls schon ihre Geschichte hat, die Gruppensprachen der Öko-Bewegung, von Feministinnen, Gastarbeitern und vor allem die ungeheuere Ausdehnung neuer Fachdisziplinen besonders innerhalb der biomedizinischen Wissenschaften, der Informatik und Datenverarbeitung, der Raumund Luftfahrt und der militärischen Technologie. Diese vielfältigen sprachlichen Varietäten treten dem Sprachbenutzer in der Politisierung oder Aktualisierung 51

Siehe hierzu Braun (1979), Clyne (1984), und Hugo Moser ,Die Entwicklung der deutschen Sprache seit 1945', bei Besch et al., II (1985), 1678-1707.

Sprache: Wesen und Analyse

31

durch die Massenmedien täglich entgegen und ergeben also eine zumindest stilistische Bereicherung, aus der mit der Zeit auch in der alles überdachenden standardsprachlichen Variante ein Sprachwandel bewirkt werden kann, vor allem dann, wenn die sprachliche Entwicklung einem allgemein empfundenen anhaltenden kommunikativen Bedürfnis entspricht.

Darstellung und Perspektiven Die Grenzen, die uns durch die vorhandenen Stoffmassen und durch die vorliegenden Untersuchungen über dieses Material gesteckt sind, führen dazu, daß sich Verschiebungen in der Perspektive wie diejenigen, die bereits erwähnt wurden (S.27), nur schwer vermeiden lassen, wenn ein einzelner eine Sprachgeschichte des Deutschen schreibt. Andere Probleme betreffen die Darstellung. Wie lassen sich Wiederholungen vermeiden? Mit einer Reihe von chronologischen Stufen zu beginnen wird lästig, wenn ein Überblick über Wandlungen gegeben werden soll, die alle Sprachebenen berühren (von der Schreibung bis hin zu Stil und Semantik). Vor allem wollen wir die Sprachveränderungen im Zusammenhang mit den auf sie einwirkenden sozialen Faktoren betrachten und vorstellen. Andererseits ermöglicht zwar eine separate Behandlung der einzelnen Sprachebenen eine gründlichere Erörterung dieser Ebenen, aber eben mit dem Ergebnis vermehrter Wiederholung im jeweiligen historischen Bezugsrahmen, was schließlich zu einer Reihe getrennter ,Sprachebenen-Geschichten' führt: einer Geschichte der Phonologie, einer Geschichte der Morphologie und so weiter. Außerdem wirken sich entgegengesetzte Ziele auf die tatsächliche Auswahl der darzustellenden Daten aus: soll die Evolution derjenigen sprachlichen Merkmale aufgezeichnet werden, die in der modernen Standardsprache oder in irgendeiner anderen sprachlichen Variante des heutigen Deutsch erhalten geblieben sind? Oder sollten die einzelnen Perioden anhand von Merkmalen dargestellt werden, die für die Sprache der jeweiligen Zeit und für deren eigene jeweilige Zwecke typisch sind? Wenn wir uns des ersten dieser Ansätze bedienen, könnten wir im Grunde mit dem Standarddeutschen unserer Tage beginnen und dessen Merkmale zurückverfolgen, bis diese sich in archetypischen Rekonstruktionen verlieren.52 In der Praxis wählen die meisten deutschen Sprachgeschichten allerdings stillschweigend die Entwicklungen aus, die in die moderne Zeit hin fortdauern, und sie konzentrieren sich vielleicht deshalb auch zu sehr auf Neuerungen, anstatt die konstanteren sprachlichen Elemente darzustellen, die die Kontinuität der Sprache garantieren. Hier werden die Probleme der Kontinuität, der Perspektivenverschiebung und der Darstellung angegangen (um nicht zu sagen, umgangen), indem nach einem bewußt künstlichen Plan verfahren wird: für die Darstellung jeder Periode wird jeweils eine andere Sprachebene gewählt. Es ist erstaunlich, wie das Material sich geradezu anbietet für diese einfache Methode, welche die Wiederholung vermeidet 52

Ein erfolgreicher und anregender Versuch dieser rückwärtsgewandten Verfahrensweise bei Barbara Strang (t) (1970).

32

Einleitung

und Raum für Erörterung und Analyse der einzelnen Sprachebenen schafft. Gleichzeitig läßt sich die Beziehung zwischen Sprachvarianten des Deutschen und deren Benutzern in einer bestimmten geschichtlichen Periode vielleicht leichter interpretieren, wenn wir unsere Beobachtung jeweils auf eine bestimmte sprachliche Ebene einschränken. Dabei gelten zwei Prämissen: (1) Das Verhältnis zwischen jeder Sprachebene und den Benutzern ist in jeder Periode anders, (2) Die Untersuchung der Beziehung interpretiert eher als daß sie beschreibt, da die Bestimmung und Auswahl der relevanten Daten notwendig bedeutet, daß sich auf eine Sprachtheorie festgelegt wird, die ihrerseits Kriterien liefert, auf Grund derer die .Tatsachen', auf denen die Untersuchungen basieren werden, determiniert sind. Die Kritik dieses Versuchs, innere und äußere Sprachgeschichte zu integrieren, trägt vielleicht auch ihr Scherflein zur derzeitigen Debatte über Möglichkeiten und Grenzen der diachronischen Linguistik bei. Kapitel I behandelt sowohl die prähistorische als auch die frühdeutsche Zeit sowie die Fragen der sprachlichen Rekonstruktion. Es werden Sprecher und Stämme identifiziert, und die sprachlichen Hauptvarianten werden herausgearbeitet. Die sozialen Bedingungen der frühdeutschen Schriftkultur, sowie Wesen und Ziele der Klosterschreibdialekte stehen dabei im Vordergrund. Der indoeuropäische, urgerm. und westgerm. Hintergrund wird nur begrenzt beachtet. Kapitel II erläutert anhand von Sonderproblemen vorstrukturalistische, strukturalistische und generative Ansätze zur ahd. Phonologie und stellt diese den rekonstruierten Phonologien der Proto-Sprachen gegenüber. Kapitel III erörtert die Hauptaspekte der mittelalterlichen Periode: die geographische Expansion, das Wachsen der Städte, die soziale Mobilität und die Verwendung der geschriebenen Sprache für neue administrative und technische Zwecke. Kapitel IV behandelt Entwicklungen in der mhd. Morphologie des gleichen Zeitraums. Es werden sowohl die funktionale Wechselwirkung nebeneinander bestehender Flexionsmuster in Paradigmen betrachtet, wie auch deren geographische Variation, die vornehmlich das anhaltende Fehlen einer Standardsprache reflektiert; außerdem auch andere Faktoren, z.B. die unterschiedliche Zusammensetzung des Kanzleipersonals und das „Herumreisen" der Landesherrscher samt ihren Regierungsapparaten. Die Übergangszeit (Kapitel V) ist geprägt durch die Auswirkungen von Buchdruck, Humanismus und Reformation, was sich anhand der nichtlateinischen Schriften Martin Luthers veranschaulichen läßt. Zur gleichen Zeit entstanden die ersten grammatischen Abhandlungen über das Deutsche, und es wuchs die Bedeutung der deutschen Sprache in den Schulen. Dies führte schließlich, dank dem Buchdruck, zu einer Standardsprache, insofern in den meisten Arten des gedruckten Deutsch die Varianten quantitativ reduziert wurden: zuerst, im breiteren Zusammenhang, zugunsten einer hochdeutschen Form, sodann im kleineren, in spezifischen Fällen in Orthographie, Phonologie und Morphologie. Kapitel VI erörtert syntaktische Entwicklungen im Frühneuhochdeutschen, indem es, wo immer möglich, die Beziehung zu Luther und Zeitgenossen und zu Aussagen der frühen Grammatiker herstellt. Die nächsten beiden Kapitel sind der frühmodernen Periode gewidmet: Kapitel VII bringt äußere und innere Geschichte zusammen, indem es den Wortschatz des siebzehnten

Sprache: Wesen und Analyse

33

Jahrhunderts (aber nicht dessen Semantik) vom Gesichtspunkt sprachlicher Entlehnung und der puristischen Reaktion darauf untersucht. Kapitel VIII begibt sich .außerhalb' der Sprache - also auf eine .metasprachliche' Ebene - , um die gegenseitige Beeinflussung von Grammatikern und Autoren im achtzehnten Jahrhundert zu beleuchten, indem Gottsched, Klopstock und Adelung und ihre Meinungen über das beste Deutsch den Mittelpunkt der Betrachtung bilden. Die letzten beiden Kapitel versuchen eine nähere Musterung soziolinguistischer und semantischer Verschiebungen in der Neuzeit von 1800 bis 1945: Kapitel IX begründet eine weitere Unterteilung für diese Zeitspanne und untersucht einige der verfügbaren Sprach- und Sprechvarianten des Deutschen, beginnt bei den Endphasen der Standardisierung in Aussprache und Schreibung, beurteilt sodann die relative Bedeutung und die Hauptcharakteristika von Dialekt, Umgangssprache, Fach- und Gruppensprachen. Kapitel X schließlich behandelt wiederum den Purismus jüngeren Datums und dessen nationalistische Inspiration, die sprachliche Auswirkung der politischen Emanzipation der Bevölkerung im neunzehnten Jahrhundert und des nationalsozialistischen Regimes im zwanzigsten. Diese Themen werden auch vom semantischen Gesichtspunkt her betrachtet, besonders, was die komplexen Beziehungen zwischen Sprache und Wirklichkeit anbetrifft. Die Frage von .Sprache und Wirklichkeit' ist natürlich eine, wenn nicht die Grundfrage für den Historiker jedweder Sprache; diese Relation genauer zu bestimmen, das Auswählen von Daten und Jonglieren mit deren Interpretationen, - aus solchem Zeug schaffen wir erst Sprachgeschichte.

Kurzbibliographie In der letzten Zeit ist erfreulicherweise ein erneutes Interesse an der Historiolinguistik festzustellen: wir konnten jedoch nur einiges Wenige in unsere Darstellung aufnehmen, sonst hätten wir ein völlig anderes Buch schreiben müssen. Außer den Werken, auf die in dieser Einleitung hingewiesen wurde, findet sich weitere Bibliographie zu allgemeineren theoretischen Fragen und zum Deutschen insbesondere bei Besch et al. (1984) Bd. i; 53 daneben verweisen wir auf die in der Allgemeinbibliographie am Schluß des Buches angeführten Arbeiten. In diesem Buch wurden die folgenden Sprachgeschichten des Deutschen benutzt:54

53

54

Besonders die Artikel von Klaus Mattheier: Besch et al., Bd. I (1984), §51, .Allgemeine Aspekte einer Theorie des Sprachwandels', 720-30; §56, .Sprachwandel und Sprachvariation', 768-779. Diese Liste erstrebt keine Vollständigkeit. Zu erwähnen sind noch neuerdings Günther Schweikle, Germanisch-deutsche Sprachgeschichte im Überblick, J. B. Metzler Verlag, Stuttgart, 1986. Leider waren mir die Arbeiten von Olga Iwanowna Moskalskaja, Deutsche Sprachgeschichte, Moskau/Leningrad, 1965, 2. Auflage 1969, 3. Auflage 1977, und K. Mollay, Einführung in die deutsche Sprachgeschichte, Budapest, 1977,

Einleitung

34 Adelung (1781¿>). Bach (1965, 1970). Becker (1944). Behaghel (1968). Besch et al. (1984, 1985). Chambers and Wilkie (1970). Coletsos Bosco (1977 -80). Eggers (1963 -67), 2. Ausg. (1986). Feist (1933). Frings (1957). Grimm (1848). Guchmann (1964-69). Henzen (1954). Hirt (1925). Rückert (1875). Scherer (1878). Schildt (1976). Schleicher (1869). Schmidt et al. (1969). Socin (1888). Sonderegger (1969) Sperber und Fleischhauer (1963).

Jungandreas (1947, 1949). Keller (1978), dt. (1986). Kirk (1923). Kleine Enzyklopädie (1969—70). Kleine Enzyklopädie (1983). Kluge (1918). Kluge (1920). Lichtenberger (1895). Lock wood (1965). Moser (1968). Moser (1969). Polenz (1978). Priebsch and Collinson (1968). Raynaud (1982). Strong and Meyer (1886). Tonnelat (1962). Tschirch (1966-69), 2. Ausg. (1971-5). Van Raad und Voorwinden (1973). Waterman (1966), 2. Ausg. (1976). Weithase (1961). Wolf (1981).

nicht zugänglich. Einige ältere Arbeiten zur deutschen Sprachgeschichte haben nur wissenschaftsgeschichtlichen Wert, so etwa A. Selss, A Brief History of the German Language, with five Books of the Nibelungenlied, Edited and Annotated, Longmanns, Green & Co. : London, 1885; sowie H.A. Strong und Kuno Meyer, Outlines of a History of the German Language, Swan Sonnenschein Le Bas & Lowrey: London, 1886.

KAPITEL

I

Die Anfänge des .Deutschen'

Wie auch bei anderen germanischen Sprachen sind die Textzeugen für das frühe Deutsch heterogen und fragmentarisch. Wer eine Grammatik schreiben will, muß hier mit chronologischen, geographischen und stilistischen Variablen jonglieren, um die Illusion einer kontinuierlichen, einheitlichen sprachlichen Entwicklung zu erzeugen. Derartige eingängige, regelhafte Abstraktionen lassen sich umso weniger auf die Geschichte der Sprecher beziehen, als es sich um einen Zeitabschnitt handelt, in dem so viel Geschichte im Dunkeln bleibt. Andererseits gibt es in den frühesten Perioden nicht nur eine Form des ,Deutschen', die unsere Aufmerksamkeit beansprucht; vielmehr finden wir unterschiedliche, wenn auch miteinander verwandte Dialekte. Und aus einigen von ihnen ging schließlich, im Rahmen komplexer historischer Prozesse, die moderne deutsche Standardsprache hervor. Dieses Fehlen eines einzigen sprachlichen Ausgangs- und Bezugspunkts erschwert die Aufgabe des Sprachhistorikers, da es ihn dazu zwingt, die Perspektive zu wechseln, je nachdem wie das Material aus verschiedenen Zeiten oder Gegenden es verlangt, und es ist wohl mit ein Grund dafür, daß in den alten Zeugnissen wie in den modernen europäischen Sprachen eine allgemein anerkannte Bezeichnung für .Deutsch' nicht existiert: frz. allemand bewahrt den Stammesnamen Al(l)emanni\ die engl. Bezeichnung German war einst der Name eines keltischen Teilvolkes; russ. némec (HéMeu) bezeichnete vielleicht den .sprachlosen Fremden' im Gegensatz zu dem sprachmächtigen Slawen ( < adj. nemój, HeMÓft ,stumm'); das dt. Adj. deutsch mag einst,beliebt', ,(all)gemein', .Volks-', .heidnisch',,nicht-lateinisch' bedeutet haben - das skand. tysk leitet sich von einer äquivalenten Form her, und ital. tedesco wie auch frz. tudesque ( = .altmodisch', .ungeschliffen' vgl. ehemal. .altfränkisch') kommen von latinisiertem theodiscus, während das afrz. tiois eher zu einem älteren peudisk/piudisk paßt. Zu der vieldiskutierten Herkunft und zu den Bedeutungen von deutsch und verwandten Namen' sei hier nur bemerkt, daß das Wort sich von einem germ. Adj. *piudisk zum fem. Nomen *peudö- .Leute', ,Volk', ahd. deot, deota herleitet. Neben einem got. Adv. piudisko ,wie ein Heide' ( e wird. Die neuen Umlautallophone dienen dann einem morphologischen Zweck, indem sie Sg. und Pl., Ind. und Konj. usw. voneinander trennen. In dieser Umstrukturierung der Morphologie sind Endungen rein fakultativ, i.e. sie hängen mehr oder weniger von anderen Elementen im jeweiligen Kontext ab, etwa von Partikeln wie Präpositionen, oder aber von der Wortstellung, was aber bedeutet: 3. Syntaktische Umformung der Sprache. Phonologische Abschwächung unbetonter Silben und die grammatische Funktionslosigkeit dieser Silben gehören zusammen, und der sich ergebende Synkretismus impliziert einen Umbruch der ahd. Syntax: in zunehmendem Maße werden schon in ahd. Zeit .analytische Konstruktionen' gebraucht, um Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen im Satz zu übermitteln, die vorher durch die Morphologie angezeigt werden konnten. Die Wortstellung war daher zu einem gewissen Grad schon im frühen Ahd. grammatisch relevant, weil in den meisten Unterklassen der Nominaldeklination die Nom.- und Akk.-Formen homonym sind und nur durch Wortstellung oder vorangehende a d j . oder pron. Partikel unterschieden werden können. Als analytische syntaktische Kennzeichen zu werten sind der Gebrauch etwa des bestimmten Art. / Dem.-Pron., oder der Präp. anstatt der reinen Kasusform, oder gewisse Verb-Umschreibungen zur Wiedergabe von Tempus und Modus, wie z.B. der Gebrauch des Part. Perf. + Hilfsverb an Stelle der synthetischen Verbform des Prät. (siehe Kap. VI).

' Die Endung -en (* < -jan) besaß kausative Funktion, die Endung -en war häufig durativ, die Endung -δη kennzeichnete Verben, die von Nomen gebildet worden waren. Näheres zum Aspekt siehe Kap. VI.

40

I. Die Anfänge des

.Deutschen'

4. Erweiterung des Reiminventars. Sprachhistorisch gesehen ist der Reim von besonderem Interesse, da er die Feststellung gleichlautender Wörter und Schreibungen ermöglicht. Während die Preisgabe der flexiblen Wortstellung das Reimen unvermeidlich erschwert, vermehrt der Zusammenfall von Flexionsendungen die Zahl der Homonyme, was wiederum den Reim tatsächlich erleichtert. Der reiche und rhythmische Vers der Dichtung des dreizehnten Jahrhunderts beruht gerade auf den vielen nichtflektierten Silben. So wichtig das sprachliche Kriterium der Endsilbenabschwächung für die Periodisierung des Frühdt. ist, ging diese doch nicht abrupt vonstatten. Schon Texte aus dem neunten Jahrhundert sind in ihren unbetonten Silben nicht fest, der ahd. Tatian etwa, oder Otfrid von Weißenburg, der manchmal die Grammatik dem Reim opfert, was auf einigen Spielraum im Gebrauch von Flexionen schließen läßt. 9 Um das Hd. dieser frühen Periode zu anderen germ. Sprachen und Dialekten in Beziehung setzen zu können, müssen die vor-dt. Zustände und die Problematik von deren Auswertung kurz umrissen werden.

Deutsch und die germanischen Sprachen Das Dt. und die germ. Sprachen gehören zur indoeuropäischen (auch .indogermanisch' genannten) Sprachenfamilie. Sie sind als Gruppe hauptsächlich dadurch erkennbar, daß ihr Konsonantensystem Veränderungen durchmachte, die als die Erste oder Germanische Lautverschiebung bekannt sind. Die ieur. Sprachen und die erstaunlichen geistigen Leistungen bei ihrer Erforschung sollen uns hier nicht beschäftigen,10 und auch die rekonstruierte germ. Ursprache dient uns als rein zweckmäßiger Bezugspunkt. Dabei darf nicht vergessen werden, daß diese Rekonstruktion, Urgermanisch (Urgerm.) oder ,Protogermanisch' genannt, eine archetypische Sprache und keine .wirkliche' Sprache darstellt: i.e. sie enthält sämtliche Merkmale, die gebraucht werden, um die Formen zu erklären, die in den ,Typen' tatsächlich belegt sind, aus denen sie rekonstruiert und abgeleitet worden ist; in dieser Hinsicht entspricht die Proto-Sprache dem Archetypus in der Textkritik, der von dem Original deutlich zu trennen ist.11 Als Modell unterscheidet sich also das Urgerm. von jeder wirklich gesprochenen Sprache und stellt eine so hochgradige Abstraktion dar, daß Datierungsversuche irrelevant sind, da es außerhalb der Zeit steht. Jedoch ist hier Vorsicht geboten, da sich die Sprachhistoriker über einzelne Merkmale des rekonstruierten Modells gar nicht

9

Wie zu erwarten, scheint die Abschwächung eher und radikaler in der gesprochenen Sprache vor sich gegangen zu sein, wie Schreibungen vom Wort- und Namengut in den Vorakten einiger Urkunden (aus dem frühen 9. Jahrhundert) aus St. Gallen bezeugen. Sonderegger (1961). 10 Siehe z.B. Lockwood (1972) und auch den Begleitband (1969). " Zur Ursprache und deren Problematik siehe Prokosch (1939); Krähe (1969; van Coetsem und Kufner (1972) und Markey et al. (1977-).

Deutsch und die germanischen Sprachen

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einig sind. Sie arbeiten daher mit verschiedenen chronologischen Stufen der Ursprache und vermuten, daß die Proto-Sprache daneben räumliche und soziale Varietäten enthalten haben muß. Im E f f e k t ist also das Urgerm. ein fiktives Modell, dem wir, wenn auch nur grob, Charakteristika einer natürlichen Sprache zuordnen können, nämlich Variabilität hinsichtlich von Zeit, Ort, Gesellschaft und Funktion. Diese eigenartige Mischung von Abstraktem und Wirklichem wird deutlich, wenn wir das Verhältnis zwischen den einzelnen Vertretern der germ. Gruppe näher betrachten. Da es uns hier primär auf eine Standortbestimmung von .Deutsch' ankommt, beschränken wir uns hauptsächlich auf die sogenannten .westgermanischen' Dialekte, ohne jedoch eine detaillierte Rekonstruktion einer westgerm. Proto-Sprache zu unternehmen. Leider stellen sich jeder Bemühung, nicht umstrittene Beziehungen zwischen den frühesten bezeugten Formen der germ. Dialekte herzustellen, große Hindernisse in den Weg, da das Material nicht ausreicht und aus weit auseinanderliegenden Zeiten stammt. Handbücher unterscheiden regelmäßig drei Untergruppierungen: (1) Nordgermanisch (Nordgerm.), womit die frühesten Formen skandinavischer Dialekte gemeint sind, die üblicherweise weiter unterteilt sind in das Ostnordische (Dänisch und Schwedisch) und das Westnordische (Norwegisch, Isländisch und Färöisch); (2) Ostgermanisch (Ostgerm.), das das Gotische umfaßt, das vornehmlich durch die (teilweise?) Übersetzung der Bibel, die dem westgotischen (oder .visigotischen') Bischof Wulfila aus dem vierten Jahrhundert zugeschrieben wird, jedoch in hauptsächlich ost- (oder .ostrogotischen') Manuskripten aus dem sechsten Jahrhundert erhalten ist, wie auch durch andere, äußerst dürftige sprachliche Überreste, wie Burgundisch, Vandalisch und Gepidisch; (3) Westgermanisch (Westgerm.) - auch Südgerm, genannt - (siehe Abb. 3, S.44) subsumiert das Altenglische (Aengl.); Altfriesische (Afries.); Altsächsische (Asächs.), das als Vorläufer der neuzeitlichen nd. Dialekte gilt; 12 bestimmte frk. Dialekte: eine nördliche Abart (Altniederfrk. genannt), die als Ursprung des modernen Holländisch und Flämisch (Neuniederländisch, Nnl.) angesehen wird, und eine südliche Abart, die wir zusammen mit dem Alemannischen, Bairischen und dem jetzt ausgestorbenen Langobardischen Althochdeutsch (Ahd.) nennen, wegen bestimmter Innovationen bei den Konsonanten (siehe S.45). Wir werden dieses dreiteilige Schema lediglich als taxonomisch behandeln, d.h. als für die Klassifizierung passend, nicht als ein Modell tatsächlicher .genetischer' Verwandtschaftsverhältnisse. Die nordgerm. Dialektgruppe zeigt tatsächlich über eine geraume Zeit hin eine relative Kohäsion und spaltet sich erst spät auf, aber ein Kennzeichen der ostgerm. Dialekte ist, daß sie ziemlich früh wandern und aussterben; außerdem besteht das Material f ü r die ostgerm. Gruppe, außer für das Got., zum großen Teil aus Namen, was jegliche definitive Klassifizierung verhindert. Wenn wir das Nordgerm. und das Ostgerm. vom Urgerm. fortnehmen, bleibt uns das .Westgerm.'. Über die Art und Einheit dieser Gruppierung hat es heftigste Kontroversen gegeben. Einerseits sind offensichtlich den westgerm. Dialekten mehrere sprachliche Kennzeichen gemeinsam, darunter drei, die sehr stark auffallen: 12

Nähere Definition des Nd siehe S. 47.

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I. Die Anfänge

1. Eine Tendenz, aus verstärkten (oder verdoppelten) urgerm.

des,Deutschen' Halbvokalen

Diphthonge zu entwickeln: 1 3 (ö) urgerm. -//- > -ddj-, nordgerm. -ggj- gegenüber westgerm. Diphthong, z . B . urgerm. *twaiio(n) (gen. pl.) ,νοη Zweien' > got. twaddje, anord. tveggja gegenüber .westgerm.' - aengl. Iwegfeja, asächs. tweio, ahd. zweio. (b) urgerm. -MM- > got. und anord. -ggw- gegenüber .westgerm. ' Diphthong, z . B . urgerm. *treuu-/triuui (Adj. .getreu' > got, triggwana (Akk. Sg.), anord. tryggvan (Akk.Sg.), gegenüber .westgerm.' - aengl. (ge)trêowe/(ge)trîewe,14 asächs. triuwi, ahd. (gi)triuwi. Die vermutlich übersegmentalen, prosodischen oder Akzentuierungsfaktoren, die diese verstärkte Artikulation von Halbvokalen, als ,Holtzmanns Gesetz* (oder .Verschärfung') bekannt, bedingten, sind weiterhin umstritten. 2. Konsonanten (außer /r/), die im Urgerm. einem /// und bestimmten anderen P h o n e m e n vorangehen, erscheinen gelängt, i.e. gedoppelt ( . W e s t g e r m . K o n s o nantengemination') cf. aengl. teliap, asächs. telieat, ahd. zellent gegenüber anord. telja, sämtlich hergeleitet von urgerm. *taljanf>i/ *taljandi .sie sagen, erzählen'. Spuren dieser Verdoppelung finden sich auch im A n o r d . bei Velaren / g / und /k/\

liggja,

hyggja.15

3. I m Westgerm. weist die zweite Person Sg. Ind. P r ä t . der starken Verben (siehe S . 173—9) die Wurzel des PI. P r ä t . und Reflexe einer Endung -/, die gegebenenfalls Umlaut verursacht, 1 6 während anord. und got. F o r m e n den Wurzelvokal des Sg. P r ä t . haben und a u f -t enden, cf. aengl. bœre, asächs. bàri ( = [be:ri]?) gegenüber anord. bart, got. barí ,du trugst'. S o m i t lassen sich für das Urgerm. zwei zugrunde liegende F o r m e n konstruieren, nämlich *bërez/

"barta.

Andererseits ist die postulierte westgerm. Gruppe gespalten: (a) in geographischer Hinsicht infolge Wanderung - Angeln, Sachsen und andere besiedeln vom fünften Jahrhundert an Britannien -

und auch (b) in sprachlicher Hinsicht, und

zwar vor allem durch die Veränderungen im Konsonantensystem, die als Zweite 13 14

15 16

Siehe Campbell (1959/1974), 4 5 - 9 , §§120ff. West-sächs. (ge)triewe, nicht-west-sächs. fgej trio we / (ge) Irèo we ; siehe Wright (1925), 52, §90; Campbell (1959/1974), 15f. §§37f. Gordon (1957), 282, §74. Umlaut beschreibt die Änderung in der Artikulierung einer (meistens) betonten Silbe in Richtung auf die Artikulation einer folgenden unbetonten Silbe. In diesem Falle also die Anhebung und Vorverlagerung eines langen /¿/-Vokals zu einem langen offenen e-Laut ([e]) unter dem Einfluß eines folgenden /'; die Veränderung hat sich diesmal nicht in der Schreibung niedergeschlagen. Näheres in Kap. II.

Deutsch und die germanischen Sprachen

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oder Hd. Lautverschiebung (siehe S.45) bekannt sind, die nur einige Dialekte erfaßt, und diese in unterschiedlichem Maße. Friedrich Maurer, 1 7 der auf enge Beziehungen zwischen den alem. und nordgerm. Sprachformen und Kulturen schloß, verwarf die Vorstellung irgendwelcher westgerm. sprachlichen Einheit, für die wir eine Urstufe konstruieren müßten, und nahm stattdessen an, daß die einzelnen Dialekte einst in so engem Kontakt zu einander standen, daß sie ihre gemeinsamen Merkmale von einander entlehnt hatten. Dies scheint plausibel; während jedoch Maurer die Verbreitung der gemeinsamen Merkmale der merowingischen .Hegemonie' (ca. 4 9 6 - 7 5 0 ) zuschreibt, kann sie statt dessen genausogut vom gegenseitigen Kontakt während der ersten zwei oder drei Jahrhunderte unserer Zeitrechnung her kommen, als die germ. Stämme sich ausdehnten, wanderten und sich miteinander vermischten. Eine Frühdatierung der sprachlichen Gemeinsamkeiten hätte den Vorteil, daß diese dann der angelsächsischen Kolonisierung der britischen Inseln vorausgingen. Immerhin muß der Kolonisierungsprozeß geraume Zeit gedauert haben, und die Verbindungen zum Festland werden nicht abgerissen sein, da Meere vereinen, nicht nur trennen. Folglich sind auch nach Anfang der Kolonisierung sprachliche Verbindungen zwischen Aengl. und Afries. oder Aengl. und Asächs. immer noch wahrscheinlich, ganz gleich, wie man der postulierten westgerm. Gruppierung gegenübersteht. Die übrigen kontinentalgerm. Dialekte lassen sich danach unterscheiden, ob und inwiefern sie die zweite Konsonantenverschiebung durchmachten. Andere Einteilungsversuche, die aus Tacitus' Germania18 entnommen sind, nämlich die in Ingwäonisch, Istwäonisch und (H)Ermi(n)onisch geben eigentlich eine Klassifizierung nach dem Kult der Söhne eines Gottes, Mannus, wider. Daneben ergeben archäologische Gruppierungen nach der geographischen Verteilung bestimmter .Kulturen' die Bezeichnungen ,Nordseegermanen', ,Weser-Rheingermanen' und .Elbgermanen' und andere. Jedoch müssen die drei Unterteilungen je nach sprachlichen, religiösen und archäologischen Gesichtspunkten keineswegs übereinstimmen, und es gibt keinen Beweis dafür, daß sie es tun. Da die Zeit der gegenseitigen Vermischung germ. Stämme, über die wir nur Vermutungen anstellen können und nichts Klares erkennen, so lange andauerte, können wir nicht erwarten, daß irgendwelche Gruppierungen, deutlich oder nicht, mehr als nur vorübergehend gültig gewesen waren. Infolgedessen ist es unwahrscheinlich, daß wir je eine .genetische' Matrix f ü r die germ. Dialekte werden herstellen können - womit wir im Grunde zugeben, daß wir die Gruppen von Menschen, deren Sprachen die .Vorfahren' der modernen germ. Sprachen sein wollen, die wir der westgerm. Sprachgruppe zuordnen, nicht genau identifizieren können - und dies trifft auch f ü r das Deutsche zu.

17

18

Maurer (1954). Germania, 2: .Manno tris filios assignant, e quorum nominibus proximi Oceano Ingvaeones, medii Herminones, ceteri Istvaeones vocentur.' Die hs. Formen Ingaevones, Hermiones, Istaevones und Varianten werden meistens verbessert. Siehe Schönfeld (1910). Die Germania wurde circa 98 AD verfaßt.

I. Die Anfänge des .Deutschen'

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In jüngerer Zeit haben sprachliche Merkmale, die dem Nordgerm, und dem Westgerm, gemein sind, zu der Forderung einer ,nord-west-germ.' Gemeinschaft oder Periode geführt, von der sich hernach einzelne Dialekte abgespalten haben, oder die sich schließlich in Nordgerm, und Westgerm, auflöste, je nachdem, wie man die Sache betrachtet. 19 Dieses .Nordwestgerm.' stimmt gut zu dem außersprachlichen Sachverhalt, daß die Goten schon früh in südöstliche Richtung abgewandert sind. • Westgermanisch .

t

Weser-Rhein-Germ. (Istwäonisch) t .Fränkisch

Nordseegerm. (Ingwäonisch)

•Westfrk.y

Elbgerm. (Herminonisch)

Thüringisch

'

y Aengl.

Afries.

Asächs.

Anfrk.'

Mfrk.

Rhfrk. OFrk. (Oberfrk.)

(Mitteldeutsch) fitteli I Altniederdeutsch (And.)

Abb. 3

Alem.

Bair.

Langobd.

(Oberdeutsch) Althochdeutsch (Ahd.)

Ein taxonomisches Modell des .Westgermanischen', das eventuelle .genetische' Verwandtschaft aufzeigt.

Anm. Die Richtung der Pfeile unterstreicht, daß Knotenpunkte dieses Diagramms von den noch vorhandenen sprachlichen Formen hergeleitet sind; sodann wurden ihnen historische/ geographische Bezeichnungen gegeben. Der Terminus Nd. trifft für einige .ingwäonische' und einige .istwäonische' Dialekte zu, die Mischung ist jedoch tiefgreifender, da das literarische Asächs. von Héliand und Genesis anscheinend frk. Einfluß zeigt und damit nicht der eigentliche sprachliche Vorläufer der modernen nd. Dialekte sein kann: für diesen müssen wir uns anderem, spärlicherem Material aus Glossen und Personennamen zuwenden. Hd. umfaßt die .herminonischen' und die übrigen frk. Dialekte. Das Thüringische ist für die Frühzeit wenig bezeugt, und das Langobardische weist nur unvollkommen die zweite Lautverschiebung auf, und kein fortlaufender Text ist in dieser Sprache auf uns gekommen. Am allerproblematischsten dürfte das Westfrk. sein, worunter hier die Sprache der frühen frk. Eroberer/Siedler Galliens verstanden wird (siehe S. 53-55). Die Sprache starb aus, als ihre Sprecher romanisiert wurden, doch spätere Zuströme rheinfrk. Sprecher, d.h. hd. Sprecher, erhielten die Kenntnisse der Sprache eine geraume Zeit lang im westlichen Teil des Frankenreichs am Leben. Wahrscheinlich war sie um das Jahr 850 im Aussterben begriffen. Spekulationen hinsichtlich einer karolingischen Hofsprache oder Versuche, das wesentlich rheinfrk. Ludwigslied (881 - 2 ) für das Westfrk. zu beanspruchen, entbehren des grundlegenden Beweismaterials. Eine Karte der ahd. Kloster-Schreib-Dialekte findet sich auf Seite 48; Proben und Hauptmerkmale der wichtigsten ahd. Schreibdialekte, sowie eine kurze Erörterung der hd. Konsonantenverschiebung werden in den Anhängen A und Β behandelt. 19

Siehe Antonsen (1965), 19-36; Kufner bei van Coetsem und Kufner (1972), 71-97; Bahnick (1973); Markey (1976a), Einleitung; ders. (1976Ò). Bei diesen Autoren wird auch das wichtigste frühere Schrifttum zu den .makrodialektalen' Beziehungen der germ. Sprachen behandelt.

45

Hochdeutsch Hochdeutsch

A l e m a n n i s c h , Bairisch, die Hauptunterteilungen des Fränkischen und das fragmentarische Material des Langobardischen, das aus N a m e n und vereinzelten W ö r t e r n in lat. T e x t e n besteht, werden in H a n d b ü c h e r n unter dem O b e r b e g r i f f Hochdeutsch

a u f g e f ü h r t . Ihnen sind Konsonanteninnovationen gemeinsam, die

sich irgendwann in der vor-literarischen Periode als Ergebnis der ,hd. K o n s o n a n tenverschiebung' entwickelten. 2 0 K r a f t der Verschiebung entwickelten vor-hd. stimmlose Verschlußlaute p, t, und k die A f f r i k a t e n - und Spiranten-Allophone pf,

ts, k% bzw. f f , 33, χ χ , 2 1 und diese Reihen wurden später unabhängige

P h o n e m e . Die hervorstechenden M e r k m a l e dieser

Konsonantenverschiebung

sind infolge von Vorgängen, die wir später betrachten werden (besonders Kap. III), in die moderne Standardsprache gelangt, so d a ß die Lautverschiebung sowohl synchronischen als auch diachronischen Wert besitzt: diachronisch spaltet sie die hd. Dialekte v o m urgerm. V o r f a h r a b und ermöglicht uns, frühe Lehnwörter mit verschobenen Konsonanten in jenen Dialekten zu erkennen; synchronisch gesehen unterscheidet sie die Konsonanten der modernen dt. Standardsprache von denen anderer germ. Standardsprachen und Dialekte: engl, pound, open ì tide, water > make )

Φ

Í dt. Pfund, offen / Zeit, Wasser | machen

Die Lautverschiebung hat auch etwas, das als .diatopischer' Wert bezeichnet werden kann, da sie Dialekte scheidet -

besonders die Dialekte des F r k . , die sie

verschieden stark aufweisen. D o c h die hd. Konsonantenverschiebung ist nicht das einzige M e r k m a l , das hd. v o n westgerm. Dialekten trennt, wie die folgenden Beispiele zeigen: 1. Phonologisches.

(a) H d . bewahrt vor stimmlosen Spiranten Nasale; nd.,

besonders ,ingwäonische' Dialekte, zeigen Nasalschwund mit ausgleichender L ä n g u n g des vorhergehenden V o k a l s : 20

21

Genannt auch .zweite Lautverschiebung' (oder, genauer: .zweite Konsonantenverschiebung'), um sie von der .ersten oder germ. Lautverschiebung' zu unterscheiden, die allen germ. Sprachen ihr charakteristisches Gepräge gibt und ihr Konsonantensystem von denen der anderen ieur. Sprachen trennt. O. Höfler behält .zweite Lautverschiebung' bei, da er einige Merkmale des Lautwandels auch bei anderen nicht-hd. germ. Sprachen entdeckt, z.B. beim Got., Vandalischen und Burgundischen (siehe Anhang A). Das primär onomastische Belegmaterial ist jedoch umstritten; auf jeden Fall betraf die Lautverschiebung die anderen germ. Dialekte weniger als das Hd. [Λχ] ist eine Verbindung von Verschlußlaut k und einem stimmlosen velaren Spiranten ähnlich dem ch in nhd. Ach, acht. Die Doppelspirans 33 unterschied sich von stimmlosem /ss/ (dorsal gegenüber apiko-alveolar ?), fiel aber später damit zusammen; vgl. Tatian uuts (nhd. .weise') und uuî3 (nhd. .weiß'); vgl. auch mhd. wajßer mit nhd. .Wasser'. Eine ausführlichere Behandlung der Lautverschiebung, inklusive der vielleicht davon abhängigen Verschiebung stimmhafter Verschlußlaute und Spiranten, findet sich in Anhang A .

I. Die Anfänge des .Deutschen'

46 ahd. fimf (nhd. fünf)

é aengl., asächs. ß f , nfrk. *ßf (nrA. vijf)

Doch N f r k . behält sonst fast alle Nasale bei: ahd. mund, uns, nnl. mond, ons Φ aengl. müd, üs; asächs., afries. müth, üs Φ ) Trotz allgemeiner Vokalabschwächung in unbetonten Silben scheinen einige späte ahd. Formen in dieser Stellung Langvokale aufzuweisen, so bei Notker: zugûn, lêrtôst, machón (nhd. Zungen, lehrtest, machen)21 2. Morphologisches. (a) Dritte Person Sg. Mask. Pron. ahd. er /her ¿ nd. hê/hi, asächs. hë, aengl. he. Dieser Unterschied ist ein gradmäßiger, denn es gibt isolierte Ae-Formen in ahd. Texten: Tatian, Ludwigslied und im Zweiten Merseburger Zauberspruch Ρ (b) Ahd. und N f r k . bewahren die älteren differenzierten Pl.-Endungen in den Verbparadigmen. Die .ingwäonischen' Dialekte, zum Teil wegen ihres ausgedehnten Nasalschwunds (siehe oben 1(a)), haben nur eine PI.-Form, die auf Dental ausgeht, denn die urgerm. Endung der 3. Person PI. hat den Nasal verloren: np -» -p; *beranpi *beraö. Cf. ahd. berumes, beret, berant, nl. baren, bar(e)t, baren Φ aengl. beraò, asächs. berad ,wir tragen, ihr tragt, sie tragen' 3. Syntax. Das Ahd. bewahrt die dritte Person des Reflexivpronomens im Akk. Sg. und PI. sih, und im Gen. Sg. sin. Andere westgerm. Dialekte benutzen die gebeugten Formen des Pron. der dritten Person als reziprokes und reflexives Pron. NB, im Ahd. können auch die Dat.-Formen einiger Pron. .reflexiv' gebraucht werden, nämlich Mask, und Neut. Sg. imu und die PI. im/in. 4. Lexikalisches. Der Wortschatz jeder Sprache steht fremdem Einfluß o f f e n und zeigt sprachliche Beziehungen, besonders zwischen eng verwandten Dialekten, nur unzuverlässig an. Einige Isoglossen, von denen behauptet wird, daß sie in modernen Dialekten eine nd. ¿ hd. Opposition darstellen, sind regional oder stilistisch so begrenzt, daß ihrem Fehlen im Ahd. nur wenig Gewicht beigelegt werden kann - etwa padde ,Kröte', .Frosch' oder kunte/kutte .weibliche Scham', .Vulva'. 24 Da sogar von der hd. Konsonantenverschiebung behauptet worden ist (vornehmlich von O t t o Höfler, 1957), daß sie andere germ. Dialekte erfaßt habe, müssen wir folgern, daß die Lautverschiebung und die anderen für das H d . charakteristischen Merkmale zwar nicht ausschließlich im H d . vorkommen, doch, da sie so häufig und zusammen auftreten, daß sie trotzdem dazu dienen können, das H d . zu definieren. 22 23 24

Schatz (1927), §§89, 63. Braune/Eggers (1975), 283 Anm.l(a), S.239-40. Frings/Lerchner (1966), 42.

Hochdeutsch

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Die Bezeichnung , H d . ' wird hier im technischen Sinne verwendet für .Sprache, die durch die hd. Konsonantenverschiebung gekennzeichnet ist', und der Gegensatz H d . έ Nd. gibt eine alte geographische Opposition zwischen den .Oberländern' der bergigen Gebiete im Süden und den .Niederländern' des nördlichen Flachlands wider. Die römischen Provinzen Germania superior und inferior und der moderne Landesname .Niederlande' (engl. .Netherlands') sind Beispiele d a f ü r . , N d . ' ist auch zweideutig, denn es kann sich im weiten Sinne auf jede nicht-hd. germ. Sprache beziehen - engl., holländisch oder dänisch, etc. - und eng genommen auf die heutigen nd. Dialekte innerhalb der Grenzen der Bundesrepublik und der D D R . Für die Frühdeutsche Periode setzt man ein And. an, das Asächs. und A n f r k . umfaßte, beides Mischdialekte: so zeigt z.B. das literarische Asächs. (Hëliand und Genesis) in seinem Vokalsystem gewisse hd., wohl frk., Züge. Diese gemischten .literarischen Dialekte' lassen sich überdies schwer voneinander unterscheiden, und wir können die Merkmale, die sie unterscheiden, auch nicht als .Isoglossen' geographisch verzeichnen, da unsere sprachlichen Kenntnisse aus Texten stammen, die in bestimmten, freilich nicht immer einwandfrei identifizierbaren Skriptorien gechrieben wurden: d.h. wir wissen nichts über die geographische Ausdehnung der frühen .Dialektgebiete', da unser Material im günstigen Fall örtlich begrenzt ist. Selbst heute, wo wir eher mit extensiven als mit .punktuellen' Informationen arbeiten können, gehen die Dialekte an der dt.-holländischen Grenze fast unmerklich ineinander über. Aus praktischen Gründen nimmt man als Dialektscheide zwischen den nl. (flämischen und holländischen) Dialekten im Westen und den nd. Dialekten im Osten eine morphologische Isoglosse, nämlich den Verb-PL: während das Nl. einen differenzierten Verbpl. hat (z.B. hebben .haben', Pl.: wij hebben, je hebt, zij hebben), zeigen nd. Dialekte f ü r alle drei Personen einen Einheitspl. (westlich der Elbe im allgemeinen - (e)t, so z.B. makt .wir machen, ihr macht, sie machen', östlich der Elbe sind Formen auf -(e)n vorherrschend: maken etc.) 25 - siehe auch Merkmal 2(b) oben. Ebensowenig ist es möglich, von Isoglossen, die südliche, hd. Dialekte von den nördlichen, unverschobenen nd. Dialekten trennen, anzugeben, wie sie in früheren Zeiten verliefen. Die traditionelle Grenze zwischen Hd. und Nd., die ,Benrather Linie', ist eine Isoglosse, die das mediale (inlautende) / k / im Norden von medialem / χ / (einem stimmlosen velaren Spiranten) trennt, wie es an nd. maken versus hd. machen deutlich wird. A m Ende des neunzehnten Jahrhunderts überquerte diese Demarkationslinie den Rhein bei Benrath, etwas südlich von Düsseldorf - siehe die Karte deutscher Dialekte ca. 1900 auf S.381, doch ihr Verlauf sowie die Verhältnisse bei anderen, die hd. Dialekte einteilenden Isoglossen, wie sie aus modernen dialektologischen Studien hervorgehen, lassen sich nicht ohne weiteres in die frühesten Perioden zurückprojizieren. 2 6 25

Lasch (1974), §419, S.226. Die heutigen nd. Dialekte werden auch , P l a t t - D t . ' genannt.

26

.Isoglosse' bedeutet in diesem Z u s a m m e n h a n g eine auf einer Karte eingezeichnete Linie, die Dialektgebiete umreißt und von einander abhebt, welche alle das gleiche sprachliche Merkmal teilen, und sei dies phonologischer, morphologischer, syntaktischer oder

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I. Die Anfänge des .Deutschen'

,Köln\ \

I / fränkisc

N ^ Ï S Fraktur? 1 Rhéinfrk. I i ¿ damberg.^ /. >φ Würzburg / Lorsch ¡ X ^ • ^ ^ ' \\Snpupr Speyerh^V'

\ Echternach ν \ te.

\

Ν Ostfränkisch \

^

^ - í - c O ' Südrheinfrk. V · / N ^A/issembourg / ^

Regensburg

\

StrasbaurJ"·^·-«

/ Alemannisch \Murbach

\

Karte 1

Die ahd. Kloster-Schreib-Dialekte und Hauptzentren (nach Sonderegger) Vgl. Dieter Geuenich bei Besch et al. Bd. II (1985), 987

In der obigen Karte wird keineswegs versucht, dergleichen Grenzen anzugeben; sie legt nur die Hauptzentren dar, aus denen dt. Material erhalten geblieben ist, und umreißt grob die Dialektgebiete. Es ist üblich, das Hd. aufzuteilen in lexikalischer Art. Die Benrather Linie ist jedoch nicht die nördlichste Hd. von Nd. trennende Isoglosse - noch nördlicher verläuft die /Ar/icA-Linie, die den Rhein bei Ürdingen überquert - aber die Benrather Linie dient als Basislinie, der sich die anderen Isoglossen anschließen. Das Alter der Benrather Linie sowie das der anderen Hd.-Isoglossen ist umstritten. Die Gelehrten des 19. Jahrhunderts sahen darin den erhaltenen Grenzverlauf ältester .Stammessitze', während die dialektgeographische Schule, allen voran Theodor Frings, die heutige Ausdehnung und Lage der Gebiete eher dem politischen und administrativen Einfluß großer kirchlicher und fürstlicher Territorien in der nachmittelalterlichen Zeit zuschrieb. Jedoch deutet nichts in dem ahd. Material auf eine gründliche geographische Verschiebung der Isoglossen seit den frühesten Zeugnissen hin.

Hochdeutsch

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.Oberdeutsch' (obd.), das Alem. und Bair. u m f a ß t , und .Mitteldeutsch' (md.), womit die (hoch)frk. Dialekte gemeint sind, die weiter in Ost-, Rhein-, Südrheinund Mittelfrk. (inklusive Moselfrk. und Ripuarisch) unterteilt werden können, obwohl die Unterschiede mitunter unerheblich und in der Frühzeit nicht gut belegt sind. Im späteren Mittelalter, vom zwölften Jahrhundert an, erlangen andere Dialekte zunehmend literarische und sprachliche Bedeutung: das Thüringische, Obersächsische (Osächs.) und das Schlesische. Die zuvor slawisch-sprachigen Gebiete, in denen diese Formen des Deutschen gesprochen wurden, waren erobert und besiedelt worden, und diese .Kolonialdialekte' werden mit .Ostmitteldt.' (Omd.) bezeichnet, während die frk. Dialekte hd. Typs, die in der frühdt. Periode vorherrschten, manchmal ebenso ,Westmitteidt. ' (Wmd.) genannt werden. Bei der Beschäftigung mit chronologischen und geographischen Faktoren, die die frühen Formen des Dt. beeinflußten, müssen wir stets bedenken, daß das Material für diese frühesten dt. .Dialekte' geschriebenes Material ist und sich somit substantiell von den Daten moderner Dialektforschung unterscheidet. Die obige Karte stellt modellhaft und vereinfachend .regionale' Unterschiede in den bezeugten F r ü h f o r m e n des H d . vor, die wir unter der Bezeichnung ,Kloster(schreib)dialekte' behandeln (siehe unten, S . 5 5 - 5 9 ) . Die Textzeugnisse aus den Skriptorien in diesen Gebieten sind außerdem zu verschiedenen Zeitpunkten entstanden und ergeben daher kein einheitliches Bild, erst recht nicht von den Zuständen in der unmittelbar vorausgehenden vortextlichen Zeit, sagen wir, im sechsten-siebenten Jahrhundert.

S t ä m m e und Sprechweisen Diese Frage stellt sich uns o f t : ,Wer waren also diese Franken, Alemannen, Bajuwaren und Sachsen, und wie sie alle heißen?' Eine einfache und umfassende Antwort gibt es nicht; die Namen selbst sind Symbole, 27 verhältnismäßig spät überliefert, und sie bezeichnen keine ethnisch geeinten, homogenen Gruppen. Anscheinend sind die frühen Franken und andere lose H a u f e n von Sprechern V e r b ü n d e t e ' (confederati) würde eine zu formale Bindung beinhalten - ja, der Name .Alemanni' (wenn wir darunter wirklich .alle M ä n n e r / M e n s c h e n ' verstehen sollen) legt genau dies nahe. Der Name .Franke' bedeutete vielleicht . k ü h n ' / , f r e i ' , dem modernen dt. frech, frank verwandt (Kluge, (1967)), und es bezog sich auf mehrere, heterogene Stämme, trotzdem behalten Sprachhistoriker diesen Terminus aus praktischen Gründen bei. Die Versuche der alten Franken selbst, einen Stammbaum herzustellen, enthüllen jedoch ebenfalls eine peinliche Unwissenheit hinsichtlich ihrer eigenen Herkunft. 2 8 Die Bezeichnung .Sächsisch', so wird 27 28

Wenskus (1961). Ihr erster König, Meroveus, war angeblich vom Meere hochgespült worden; manchmal versah man die Franken mit einem eponymen Heros, Francie (Isidor von Sevilla, Lib. Etym. IX, 2.101); Otfrid hatte gelesen, daß sie von Alexander abstammten (.Alexandres

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I. Die Anfänge des .Deutschen'

angenommen, kommt von einem kurzen gekrümmten Schwert her - dem scramasax - aber diese Waffen finden sich häufig auch in frk. Gräbern, neben der frk. Wurfaxt, der francisca. Die Baiern bieten besondere Probleme: sind sie Nachkommen der Markomannen oder der Suebi (Suevi?)? Eine Kompromißlösung faßt die Bajuwaren als einen,Makro- (oder Groß-)Stamm' auf, der sowohl Suebi als auch Markomanni umfaßte und sich im späten fünften Jahrhundert, wahrscheinlich auf dem Boden der römischen Provinz Pannonien entwickelte. Zudem mag das erste Element latinisierter Formen des Namens bajuvarii einen frühen illyrischen (?) Stamm, die Boii, auch in Bohemia (Böhmen) erhalten, erkennen lassen. All diese .Föderationen' deuten darauf hin, daß kleinere Stämme sich auf viele verschiedene Weisen zusammenschlossen. Die Namen dieser kleineren gentes sind uns vielfach von den Historikern des klassischen Altertums überliefert, so bei Cäsar (ca. 50 BC), Tacitus (98 AD) und dem älteren Plinius (1. Jahrhundert AD); in Inschriften; in Orts- oder Gebietsnamen wie Bardowick ( < Longobardi), Hessen ( < Chattil), Betuwe ( < Batavii), Schwaben ( < Suebi); in späterer epischer Dichtung (Beowulf, Wiösip); und bei den merowingischen Chronisten Gregor von Tours und (Pseudo-)Fredegar. Eine eingehende Erörterung der Großstämme würde also eine Reihe von Gleichungen ansetzen müssen, nach denen die früheren, kleineren Stämme, die von ihren entlegensten, wohl skandinavischen Heimatgebieten ausgezogen waren, sich zu solchen Konfigurationen zusammenschlössen, die brauchbare Ausgangsgruppen für unsere .Franken',,Baiern' und die anderen abgäben. Solche an sich faszinierenden und vielschichtigen Fragen sind jedoch für die Sprachgeschichte des Dt. im engeren Sinne peripher. Trotzdem gibt uns das Völkergemisch, das wir hinter der Masse fragmentarischer Einzelheiten zu erkennen glauben, die Grundstimmung für die .prähistorische' (also vortextliche) Periode des Dt. und anderer germ. Sprachen an. Das römische Reich war ein Wall, an dem sich eine Welle germanischer Eindringlinge nach der anderen brach - wörtlich, nachdem die Verteidigungsanlagen, oder limites am Oberrhein und in Rhätien errichtet worden waren - und wurden die Anstürme etwa zurückgeworfen, so gruppierten sich die Stämme zu immer neuen Kombinationen. So mögen das Römerreich vor ihnen und Druck hinter ihnen, sei es infolge klimatischer Veränderungen, Landmangels, oder Angst vor grimmigen Feinden wie den Hunnen und später den Awaren, die unmittelbar treibenden Kräfte dieses chaotischen Völkergemischs gewesen sein. Es empfiehlt sich, die Diskrepanz zwischen der relativen Homogenität der Protosprachen Urgerm. und Westgerm, und diesem ethnischen Wirrwarr zu unterstreichen. Dies verstärkt entweder den ahistorischen, .metachronischen', ideellen Status von ProtoSprachen, oder spricht für relativ kleine Differenzierungen zwischen germ. Dialekten in der prähistorischen Periode, je nach Standpunkt. Ferner muß slahtu', Evangelienbuch I, 1.88); oft sollten sie von Troja herstammen (Fredegarius) (vielleicht eine falsche Auffassung von Colonia Trajana ( = Xanten) am Rhein als .Colonia Trojana'?), and Trojanische Helden kommen manchmal in der frk. Namengebung vor, z.B. Antenerus (< Antenor) and Hector (Ebeling (1974), 57. 172).

Stämme und Sprech weisen

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beachtet werden, daß auch nicht-germ. Völker, z.B. Kelten, einen Teil dieser Mischungen bilden. Unsere drei .Hauptstämme' sind also erst im Entwicklungsprozeß begriffen, sie sind nicht ethnisch homogen, spiegeln wahrscheinlich nicht deutlich feststellbare Kultgruppierungen dar, sind archäologisch nicht sauber von einander zu trennen und sind schließlich sprachlich nicht einheitlich: Mischung und Vermischen charakterisieren jene Zeit und setzen sich über Jahrhunderte hin fort: auf Verschmelzen und Mischen folgen dann immer wieder Auseinanderfallen und Wandern - ein typisch organisches Modell. Ja, das Frankenreich selbst läßt sich als ein weiterer solcher Prozeß auf größerem Raum verstehen; kaum schuf sich ihm ein mehr als sonst übliches kohärentes Gefüge, da zerfiel es bereits in die Vorstufen der französischen und dt. Staaten.

Das Frankenreich und seine sprachliche Bedeutung Das Frankenreich dehnte allmählich seine Vorherrschaft über Alemannen, Baiern, Langobarden und andere Stämme aus und nahm das Christentum für die politische Verwaltung zu Hilfe. Hierbei retteten Missionare einiges an germ. Brauchtum und Dialekten vor dem Untergang, ähnlich wie ihre Kollegen es im neunzehnten Jahrhundert in den Kolonien Afrikas taten. Somit regte das Frankenreich, besonders in seiner Blütezeit unter Karl dem Großen, einen großen Teil des frühen ahd. religiösen Materials an; es brauchte auch Verwaltungsbeamte und förderte so die Ausbildung in Lesen und Schreiben unter den Leuten, wovon nicht nur die lat. Sprache profitierte, sondern mittelbar auch die jeweilige Muttersprache. Vor allem schenkte das Reich eine, wenn auch noch so illusorische, kulturelle Kontinuität, die die Menschen des neunten Jahrhunderts noch spürten und die Sprachhistoriker dankbar ausnutzen, um der ersten Hälfte des Frühdeutschen einen geschichtlichen Rahmen zu geben. Wir hören von den Franken zuerst im dritten Jahrhundert AD; es lassen sich zwei Gruppen im Norden und im Osten unterscheiden. Die nördlichen Salier (Salii), deren Name von dem des IJssel-Flusses (Isaia oder Sala) oder vom binnenländischen IJsselmeer kommen mag, waren in den Gegenden von Betuwe und Toxandrien im Jahre 358 als dediticii angesiedelt - Verbündete, die die römische Herrschaft anerkannten, wenn auch ohne festen Vertrag. Im späten fünften Jahrhundert ersetzten Salier die römische Verwaltung unter ihren Führern Childerich I (gest. ca. 482) und Chlodowech (frz. Clovis) (gest.511), und nach ihnen ist auch eine bedeutende Kodifizierung des germ. Gewohnheitsrechts, die Lex Salica genannt. Die östlichen Franken sind als Ribuarier bekannt, ein späterer Name, vielleicht eine hybride Bildung von lat. ripa .Flußufer' (des Rheins) + latinisiertem germ. .Suffix' varii etwa: .Leute, Menschen, Männer' (cf. auch Baiu + varii' .Bajuwaren', ,Baiern'). Manchmal finden wir auch Ostfranken innerhalb des Römerreichs als Verbündete (Joederati oder dediticii) oder als Bauern (coloni), und einige Franken bekleideten wichtige Posten, z.B. König Mallobaud, der ein comes domesticorum .Begleiter oder Graf des königlichen Haushalts' war, oder Arbogast, Graf von Trier. Die Ostfranken verteidigten auch gelegentlich das

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I. Die Anfänge

des

,Deutschen'

römische Reich gegen andere Germanen - sogar gegen Franken —, wie Arbogast es um 406/7 tat. Vom verfügbaren Material her ist es nicht möglich, auf Grund von Sprache oder Ortsnamen zwischen Nord- und Ostfranken zu unterscheiden, ja, es gibt hierfür nichts als den geographischen Kontext, in den die Geschichtsquellen sie jeweils setzen. Aber beide Gruppen unterhielten bis zu einem gewissen Grade freundschaftliche Beziehungen zu den Römern, denn die Lex Salica führt die Franken als Bauern vor, die Obstgärten, Getreidefelder, Bohnen- und Linsenfelder und Weingärten ihr eigen nennen, 29 während ihre Ortsnamen und Grabbeigaben von jahrhundertelangem Kontakt mit dem römischen Reich erzählen und Geschmack an römischen Dingen verraten. Daß das Frankenreich an die Stelle des Römerreichs trat, bedeutete keine Umwälzung, oder jedenfalls nicht überall: die Wörter, die in den Wortschatz der dt. Dialekte übernommen wurden, stützen diese Ansicht. Im Jahre 486 besiegte Chlodowech den letzten römischen Herrscher Syagrius und gelangte so praktisch in den Besitz von Nordgallien. Später (503?) wurde er katholischer Christ, und so dehnten er und seine Erben sowohl frk. Macht als auch den Katholizismus über andere germ. Stämme hin aus, von denen die meisten arianische Christen geworden waren. Für uns sind Niederlage und Unterjochung der Alemanni (496, 5 0 2 - 7 und 536) und der Baiern (536) von besonderem Interesse. Doch die ostgerm. Burgunder wurden ebenfalls besiegt, obwohl Chlodowech sich mit einer burgundischen Prinzessin, Chrodechildis vermählte: und ihre Macht wurde schließlich von den Söhnen Chlothar und Childebert im Jahre 534 gebrochen - Ereignisse, die zusammen mit der früheren burgundischen Niederlage im Kampf gegen die Hunnen im Jahre 437 in kunstvoller, jedoch geänderter Form in das mittelalterliche Nibelungenlied (um 1200) eingegangen sind. 555/6 wurden auch die Sachsen gezwungen, Tribut zu zahlen, obwohl sie erst 772-804 in Karls des Großen Feldzügen gegen sie unterworfen wurden. Im Jahre 774 wurde Karl der Große durch seinen erfolgreichen Einfall in Norditalien auch rex Langobardorum. Die Friesen und die Thüringer wurden allmählich durch eine Mischung aus Missionarstätigkeit und Gewalt in die frk. Herrschaft gewonnen. So erstreckte sich während der Zeit der Merowinger und Karolinger, vom späten fünften bis zum neunten Jahrhundert, die frk. Macht über die gesamten sog. ,westgerm.' Stämme, mit Ausnahme der Angelsachsen, und auch über einige Westgoten, deren Herrschaft über Südgallien im Jahre 507 durch den frk. Sieg bei Vouillé bis auf einen bloßen Küstenstreifen eingeschränkt worden war. So wurde der Annexions- und Eroberungsprozeß, der vielleicht ungezielt von den Merowingern begonnen worden war, unter ihren Nachfolgern, den Karolingern, zu Ende geführt. Es ergab sich keine integrierte politische Einheit, jedenfalls nichts, was zu sprachlicher Integration oder gar zur Entwicklung einer Standardsprache hätte führen können — diese Funktion erfüllte Latein noch auf lange Zeit hin. Ja, das karolingische Frankenreich fiel gerade im Augenblick 29

Siehe Wallace-Hadrill (1962), 2.

Das Frankenreich und seine sprachliche Bedeutung

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seiner Vollendung in die Anfänge Frankenreichs und Deutschlands auseinander. Doch es setzte ein Ideal, selbst nach seinem Zusammenbruch, und indem es die Kirche förderte, verhalf es Bildung und Gelehrsamkeit, Erbgut des römischen Reichs, zu weiter Ausdehnung. Unter Karl dem Großen wurde auch die einheimische Landessprache wichtig für die Verbreitung des Glaubens: die oft zitierte Admonitio generalis von 789 und andere Kapitulare setzen voraus, daß das gemeine Volk die wichtigen Glaubensgrundsätze des Christentums kennt und versteht, und bewirkten so, daß katechetische Schriften in die Volkssprache übersetzt wurden. Unter dem gemeinen Volk verstärkte die homiletische Tätigkeit der predigenden Mönche und Priester den Sinn ihrer eigenen Kulthandlungen, regte seit merowingischen Zeiten durch die Hagiographie den regionalen Heiligenkult an: das ahd. Georgslied (Text neuntes Jahrhundert, Handschrift zehntes Jahrhundert) ist ein frühes nichtlat. Beispiel hierfür, bezeichnenderweise in ziemlich barbarischer Orthographie. Frk. Mönchstum und seine christliche .Politik' mag die Entstehung und Verbreitung eines großen Teiles des erhaltenen ahd. Materials verursacht haben, aber leider läßt sich nicht zeigen, daß spezifische sprachliche Entwicklungen, wie die Ausbreitung der Diphthonge (siehe unten, S. 54) von dem zweifellosen Prestige des Frk. bedingt sind. Neben wichtigen lexikalischen Einflüssen, die unten erörtert werden (S.63f.), sind vier Gruppen miteinander verketteter sprachlicher Probleme mit dem Frankenreich verknüpft, und einige von diesen wirken sich auf das Ahd. und bestimmte ahd. Texte aus. 1. Wie dicht war der galloromanische Boden von den Franken besiedelt? Sehen wir einmal von Archäologie und Geschichtsschreibung ab, so ist das Material sprachlich: Personen- und Ortsnamen und einige wenige isolierte germ. Wörter in lat. Texten, einschließlich der korrupten Glossen der Lex Salica. Die Ortsnamen sind ein Zeugnis für die Symbiose zwischen Franken und Galloromanen, da sich hybride Typen finden, die einen germ. Personennamen und ein lat. oder keltisches Suffix aufweisen, z.B. Avricourt < *Eberhardi curtís Germ. Personennamen sind in Inschriften, auf merowingischen Münzen des siebten Jahrhunderts, in Verbrüderungsbüchern und in lat. Urkunden in solcher Fülle vorhanden, daß sie wahrscheinlich eine zeitweilige germ. Namenmode unter der romanischen Bevölkerung widerspiegeln, was durch die manchmal seltsame Ausartung der germ. Namenbildung auf romanischem Boden anscheinend bestätigt wird. Die Besiedlungsdichte ist später in Zeiten dt.-frz. Feindseligkeit regelmäßig ein politischer Zankapfel gewesen, doch nur wenige ernsthafte Forscher glauben heute an eine starke Besiedlung durch Franken. Statt dessen wurde eine ziemlich dichte Besiedlung nahe der gegenwärtigen Sprachgrenze allmählich dünner in Richtung Loire-Grenze im Süden: nur wenige Franken können sich südlich der Loire niedergelassen haben. 2. Wie sind die gegenwärtigen Sprachgrenzen im Norden und Osten zwischen frz. und dt.Dialekten überhaupt entstanden, und wo verliefen sie zur Zeit des

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I. Die Anfänge des

.Deutschen'

Frankenreichs? Diese Frage führt immer wieder zu Reibungen in Belgien und hat sich häufig auf die Elsaß-Lothringen-Frage ausgewirkt. Zweifelsohne verlief die Sprachgrenze im Norden etwas südlicher als heute, und in den nordfrz. départements Nord und Pas-de-Calais gab es bis zum Ende des Mittelalters germ. Enklaven. 3. Inwieweit ist das moderne Frz. Produkt einer Vermischung von galloromanischer Substratbevölkerung und frk. Siedlern/Erobern? Die Unterschiede zwischen Nordfrz. und dem Provenzalischen sind in den verschiedenen Mischungen von Galloromanisch mit Frk. einerseits und mit dem Got. andererseits begründet worden. Das Spätlat. des Römerreichs wies jedoch selbst beträchtliche DialektDifferenzierung auf. Große Verlegenheit erwächst uns daraus, daß wir praktisch nichts wissen über das Westfrk. und die ostgerm. Sprachen auf romanischen Boden - das Westgot. und das Burgundische. Ähnliche Fragen stellen sich uns über Existenz und Alter germ. Lehnwörter in frz. Dialekten, 30 und umgekehrt die Übertragung romanischer Entlehnungen in dt. Dialekte. Einige Sprachwissenschaftler sehen auch in den ahd. Diphthongen /ie/ und /uo/ den Einfluß des Galloromanischen; vergleiche die scheinbar parallelen Entwicklungen: Lat. pedem

> frz. pied

=

Lat. novem > afrz. nuef (frz. neuf)

lat. speculum > ahd. spiagel (nhd. Spiegel) lat. domus > ahd. tuom (nhd. Dom)

Doch läßt sich eine Kausalverbindung schwer nachweisen.31 4. Wie sah das Westfrk. aus, die Sprache der frk. Siedler und Eroberer des nördlichen Gallien? 32 Das fast ausschließlich onomastische Material (Personenund Ortsnamen) ist schwer zu interpretieren, weil es sich selten datieren und lokalisieren läßt, auch wegen der notorisch schwankenden Orthographie der lat. Texte aus der Merowingerzeit. Hinzu kommt, daß die merowingische Dynastie 752 von den Karolingern abgelöst wurde, was wahrscheinlich den östlichen, (austrasischen, sprich: .rheinischen') Einfluß in den westlichen Koloniallanden (Neustrien) vermehrte, weswegen wir zwei Perioden des,Westfrk.' unterscheiden sollten: (1) bis etwa 750; (2) nach 750, bis die Sprache ausstarb - vielleicht bereits schon im achten Jahrhundert, vielleicht erst um 900. Die Sprache aus den westlichen Teilen des Reichs in Periode (1) ist anscheinend nicht hd. gewesen, denn ihr fehlt die hd. Konsonantenverschiebung. Westfrk. Einfluß kann eventuell in gewissen orthographischen Zügen gesehen werden, die später in ahd. Schriften gebräuchlich waren, auffallend vor allem das Graph < g h > , das in westfrk. Personennamen der Periode (1) vor dem Graph < i > vorkommt, z.B. Ghiboino AD 693; Ghislemaro AD 688 30 31

32

Siehe vor allem Gamillscheg (1970). Siehe Rauch (1967). Sowohl die afrz. als auch die ahd. diphthongierten Formen sollen von vulgärlat. Formen abgeleitet sein, wo die Vokalaussprache von der des klassischen Lat. in qualitativer und quantitativer Hinsicht erheblich abwich. Siehe jetzt Jones (1979). Siehe Schützeichel (1962/76).

Das Frankenreich und seine sprachliche Bedeutung

55

(beide Personennamen aus merowingischen Originalurkunden). 3 3 Die Glossen der Lex Salica (sämtliche Hss. nach 750) sind leider so verderbt, daß sie nicht ausreichen, das Westfrk. von irgendeinem anderen westgerm. Dialekt zu differenzieren. Andererseits zeigen diejenigen Texte aus Periode (2), die angenommenermaßen Westfrk. sind, sämtlich Merkmale der hd. Lautverschiebung, und obwohl sie auf , f r z . ' Boden - also im Westen des Frankenreichs - abgefaßt sein mögen, können wir , r h f r k . ' Einfluß nicht von der H a n d weisen. Die meisterhafte IsidorÜbersetzung (ca. 800), die vermutlich von den höchsten geistigen Kreisen des karolingischen Hofes inspiriert gewesen ist, wurde vielleicht in Lothringen oder von einem dort ausgebildeten Schreiber geschrieben. 34 Das Ludwigslied (881/2) ist ebenfalls wahrscheinlich rhfrk., obschon es sicher auf neustrischem Boden abgeschrieben wurde und einen Sieg über die Normannen bei Saucourt in der Normandie behandelt. 3 5 Die Pariser Gespräche aus dem zehnten Jahrhundert sind das Werk romanischer Schreiber, die versuchten, einen hd. Dialekt zu transkribieren, sie sind aber nicht westfrk. schlechthin. Erst wenn das gesamte Material, besonders das für die Karolingerzeit, 36 vollständig analysiert ist, könnten wir mit mehr Aussicht auf Erfolg in dieses Wespennest hineinstochern.

Klöster: Althochdeutsches Sprachmaterial und Klosterdialekte Abgesehen von epigraphischem und onomastischem Material - Inschriften und Namen - findet sich der wichtigste ahd. Sprachstoff auf Pergament, von Schreibern und Archivaren f ü r uns bewahrt aus einer Zeit her, da Lese- und Schreibkundigkeit das Monopol der Kirche war: das galt f ü r die Verwaltung sowohl im Weltlichen wie im Kirchlichen. So ist die ahd. .Literatur' ein Erzeugnis des Klosterskriptoriums, und sie dient zum großen Teil katechetischen, homiletischen und erzieherischen Zwecken. Reichliche Glossierungen finden sich die ganze Periode hindurch, sie sind die frühen Wörterbücher und Spickzettel, die den Mönchen lat. Texte und Grammatiken, Autoren der Antike und vor allem die Bibel und exegetische Schriften zugänglich machen. Ein Katalog von Hss. mit ahd. und asächs. Glossen verzeichnet immerhin 1,023 Eintragungen, 3 7 und die bereits von Steinmeyer und Sievers veröffentlichten Glossen füllen bereits etliche dicke Bände. 3 8 Somit steht die Hauptmasse ahd. Materials, was Stil und Sprache anbetrifft, der Umgangssprache fern. Jedoch stellen einige Texte 33 34 35

36 37 38

Siehe Wells (1972). Matzel (1970); auch Haubrichs (1975). Die Hs. ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil sie - von gleicher Hand - auch die afrz. Eulalia-Sequenz bewahrt hat. Siehe Harvey (1945); Schützeichel (1966-7). Das spätere Namenmaterial ist vielversprechend; siehe Knoch (1969). Bergmann (1973). Steinmeyer/Sievers (1879-1922).

56

I. Die Anfänge des .Deutschen'

Sonderfälle dar: das Hildebrandslied (HL) und ein paar Zaubersprüche, vornehmlich die berühmten Merseburger Zaubersprüche, die in einer Hs. aus dem zehnten Jahrhundert auf uns gekommen, jedoch viel älter sind. Rechtswörter sind auch erhalten, meistens in lat. Texten, und wir haben das Fragment einer gekonnten ostfrk. Übersetzung der Lex Salica aus dem neunten Jahrhundert. Der große Lehrer, Notker III von St. Gallen, schuf in seinen Interpretationen lat. Autoren - Boethius, Martianus Capeila - die Grundlage für den dt. abstrakten, .philosophischen' Wortschatz: seine Schriften sind hauptsätzlich in der eigenartigen dt.-lat. Mischprosa abgefaßt, wobei die Flexion wohlbemerkt der dt. Syntax angepaßt wurde. Es ist gut möglich, daß eine gelehrte .Gruppensprache' (siehe Kap. IX) dieser Art in den Klöstern, wie auch später in den Gymnasien des sechzehnten Jahrhunderts tatsächlich gesprochen wurde Luther selbst gebrauchte sie in seinen Tischreden. Endlich machen auch christliche Texte stilistische Zugeständnisse an Traditionen einheimischer Dichtung, wie sich in der Wessobrunner Schöpfung und Gebet zeigt, oder in der stabreimenden Höllenfeuerpredigt Muspilli. Das Gleiche gilt für die ,Bibelepen' - das Diatessaron Tatian ca. 830, in ostfrk. Prosa geschrieben, vielleicht in Fulda; 39 das Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg, ca. 865-70, in südrhfrk. Versen, und den alliterierenden nd. Hëliand, in .literarischem Asächs.' in der ersten Hälfte des neunten Jahrhunderts verfaßt, vielleicht in Corvey. 40 Auch die Glossen bergen nicht ausschließlich Gelehrtenkram (.Tintenfaßvokabeln'), sondern sie bringen oft praktische Fachausdrücke für Botanik, Anatomie, Bauwesen usw., besonders die sog. .Sachgruppenglossare'. Überdies verschaffen uns die Kasseler Glossen und die verwandten Pariser Gespräche einzigartige und verlockende Einblicke in das ungenierte Alltagsdt., wie es im zehnten Jahrhundert gesprochen wurde. Und schließlich finden wir in christlicher Dichtung und Prosa, wenn Personen miteinander sprechen, weitere, obzwar indirekte, Hinweise für dt. Umgangssprache der Frühzeit. 41 Daß die Überlieferung dieses Materials in den Klöstern geschah, wirkt sich auch auf dessen sprachliche Analyse aus, da wir es nicht mit Dialekten im modernen Sinne zu tun haben, sondern vielmehr mit örtlich begrenzten orthographischen Traditionen, .Schreibdialekten' oder .Klosterdialekten', 42 wie sie manchmal genannt werden. Das schriftliche ahd. Material enthält selbstverständlich keine direkte Information über die komplexen Variationen bei der Realisierung 39

40

41 42

Dies bleibt jedoch unsicher: siehe Ganz (1969), aber Bernhard Bischoff (1971) schreibt den Text aus paläographischen Gründen der Schreibtradition in den Skriptorien von Mainz/ Fulda zu; Geuenich (1976) 2 6 0 - 2 , entscheidet sich wegen der Orthographie für Fulda. Das 1978 entdeckte Straubinger Fragment einer bisher ungekannten Heliand-Hs. (S) hat dem Rätselraten um die Herkunft des Gedichts erneuten Auftrieb gegeben. Nach Bernhard Bischoff, könnte Hs. M. in Corvey geschrieben worden sein; siehe Bischoff (1979b). Zur Edition des neuen Fragments, siehe Bischoff (1979c) und Taeger (1979); inzwischen auch die weiteren philologischen Untersuchungen von Burkhard Taeger in PBB (T) 103 (1981) 4 0 2 - 2 4 ; 104 (1982) 1 0 - 4 3 ; 106 (1984) 3 6 4 - 3 8 9 . Sonderegger (1971). Keller (1978), 140.

Klöster:

Althochdeutsches

Sprachmaterial

und

Klosterdialekte

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von Sprache in der Sprechform - Sprechmelodie, Tonhöhe, Betonung, Veränderungen in der Färbung einzelner Laute und Wörter je nach phonetischer Umgebung, und so weiter. Dazu kommt, daß die Orthographie der jeweiligen Skriptorien auf den orthographischen Traditionen des Lat. beruhen, nicht konsequent durchgeführt werden und nur teilweise .phonetisch' sind. Der heutige Leser schreckt zurück vor der anscheinend willkürlichen Rechtschreibung in vielen Dokumenten, deren Variation vielfach nicht dialektbedingt, sondern orthographisch ist. Den Schreibern unterlaufen Rechtschreibungs- und Abschreibfehler; es arbeiten unter Umständen Schreiber zusammen, die aus völlig verschiedenen Gegenden stammen oder in verschiedenen Skriptorien - und Schreibtraditionen ausgebildet worden sind; ein Text, der in dem einen Skriptorium hergestellt wurde, kann in den Konventionen eines anderen abgeschrieben oder teilweise umgeschrieben werden. Die sprachlichen Gepflogenheiten eines bestimmten Skriptoriums sind auch alles andere als fest: sie verändern sich im Laufe der Zeit, lassen mitunter Veränderungen in der Zusammensetzung des Personals erkennen, 43 während die im Kloster gebrauchte Sprache wiederum nicht die der umliegenden Gegend zu sein braucht, wenn die Schreiber etwa nicht aus dem Ort rekrutiert waren: das Kloster von Fulda z.B. lag auf rhfrk. Gebiet, doch im achten Jahrhundert kommen in seinem Skriptorium bair. und aengl. Merkmale, 44 im neunten ostfrk. Kennzeichen (z.B. p/und, apfel) vor (in der Tatian-Vbersetzung, falls sie in Fulda geschrieben wurde), und schließlich übernahm das Kloster rhfrk. Merkmale (z.B. pund, appel) aus der umliegenden Gegend. 45 Das Nebeneinander von alten und neuen Schreibgewohnheiten zeigt sich in der 7a//a«-Übersetzung, deren einer Schreiber, der Forschung als .Gamma' bekannt, 43

44

45

Man weiß herzlich wenig über die Zustände in frühdt. Kanzleien und Skriptorien. Während sich die Kanzleien hauptsächlich mit Rechts- und Verwaltungsdingen befaßt haben dürften, über verschiedene Dienstgrade beim Personal verfügten und einer Beamtentradition klassischen Zuschnitts folgten, waren die Klosterskriptorien primär Stätten der Gelehrsamkeit, deren Aktivitäten das Abschreiben von patristischen, geschichtlichen und biblischen Texten umfaßten, sowie die Herstellung von Glossaren. Aber auch die clerici für die weltliche Verwaltung werden teilweise in Klosterschulen ausgebildet worden sein, und Urkunden jeglicher Art wurden dort verfaßt und sogar mitunter gefälscht. Zur wichtigen Rolle Fuldas in der Sprachgeschichte des Dt. siehe Geuenich (1976), bes. 2 1 3 - 7 4 . Ohne Zweifel hatten Baiern in dem Kloster Schlüsselstellungen inne (unter anderen: der erste Abt, Sturmi, der vierte Abt, Eigil (ca. 8 1 8 - 2 2 ) , sowie mindestens vier Schreiber, Abraham, Asger, Vuolfram und Vueliman) aber ihre Arbeit zeigt wenig Abweichung von den Schreibtraditionen. In ähnlicher Weise scheinen sich der aengl. und der asächs. Einfluß auf einige PN beschränkt zu haben, die in Fuldaer Nekrologien (Totenbücher - kalenderartige Verzeichnisse der verschiedenen Brüder zur Verwendung in der liturgischen Fürbitte) Aufnahme finden. Nach Geuenich war die orthographische Änderung in der Schreibtradition weniger radikal als bisher angenommen: trotzdem bleibt auch ein abgeminderter Mischcharakter des ,Fuldaischen' bemerkenswert. Im Falle von St. Gallen, wo einige air. Hss. geschrieben wurden, war der Unterschied zwischen dem Sprachgebrauch innerhalb der Schreibstube und der Sprache der landschaftlichen Umgebung wohl am krassesten. Braune/Eggers (1975), §6 A n m . 2 , S. 10.

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I. Die Anfänge des ,Deutschen '

ein .veraltetes Fuldaisch' gebraucht. 46 Jedoch ist die Sprache von Gamma auch als alem.-beeinflußt verstanden worden; es ist also schwierig zu entscheiden, ob Schreibvariationen auf orthographischer Entwicklung beruhen, oder ob sie ihren Ursprung in Dialektverhältnissen haben. Bevor irgendeine phonologische Analyse vorgenommen werden kann, muß eine,graphemische' Untersuchung der Schreibweise geschehen, aber schwankende Formen und Mischungen diverser Art stehen dem im Wege: die meisten Texte sind .gemischt', allein schon dadurch, daß sie Abschriften sind. 47 Immerhin, die meisten frühen dt. Schreibsysteme verdienen diesen Namen und sind in hohem Maße regelmäßig und ausgefeilt, besonders im Vergleich zu der wirren Orthographie der Pariser Gespräche (siehe unten, S.71-3), die ohnehin der gesprochenen Sprache näher zu stehen scheinen. 48 Um unsere Kenntnis der eigentlichen Dialekte ist es also in dieser frühen Zeit schlecht bestellt: die Schreibweise der Texte ist oft mehrdeutig, das Personal des Skriptoriums stammt nicht aus der Gegend, und die sprachliche Information gilt sowieso nur für bestimmte Punkte auf der Landkarte, was uns nichts über die Ausdehnung von Dialektgebieten verrät, von denen einige in der ersten Hälfte der frühen Periode spärlich vertreten sind, z.B. das Alem. Weiter gehören die Dialekte, die bis zu einem gewissen Grade dem schriftlichen Material zugrundeliegen, recht lose zusammen, und sie ordnen sich noch keiner überregionalen Vulgärsprache unter: als diplomatische und administrative .Standard- oder Normalsprache' fungierte eben Lat. Aus praktischen Gründen ziehen daher die Sprachhistoriker meistens den ostfrk. Klosterdialekt als Bezugspunkt für die restlichen dt. Sprachzeugnisse heran, denn dieser ist durch einen umfangreicheren Text (den Tatian) vertreten und weist ein Konsonantensystem auf, das dem des modernen Standarddt. recht ähnlich ist. Auch die den Klosterdialekten zugeteilten Benennungen stellen ein Gemisch aus alten Stammesnamen und geographischen Bezeichnungen dar: inwiefern im achten bis elften Jahrhundert ethnisches Bewußtsein mit den jeweiligen dialektalen Sprachformen verknüpft wurde, vermögen wir im allgemeinen nicht zu sagen. Während wir über die frühen Sprachteilnehmer des ,Dt. ' nicht gut informiert sind, - ob es sich um die vordt. gentes oder um die Mönche handelt, die unsere 46 47

48

Moulton (1944). Ähnliche Probleme bei der Aufbereitung des Materials, um .bereinigte', d.h. homogene, Daten für die sprachl. Analyse zu erlangen, finden sich bei mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Kanzleiurkunden. Auch die Frühdrucke sind in ihrer sprachl. Gestalt von Herkunft und (Aus)Bildung der Verleger, Drucker, Setzer und Korrektoren beeinflußt - wie, natürlich, auch von der Sprache des jeweiligen Originals oder der Sprache der anvisierten „Verbraucher". Eine noch grundlegendere und recht heikle Frage wäre die, ob es denn auch beim Individuum je so etwas wie eine homogene, reine Sprache geben kann, oder ob diese nicht eher im Bereich des Idealen zu suchen ist? Die Gespräche weisen leider eine Phonetik auf, die in der Tradierung durch romanische Schreiber .gebrochen' ist: z.B. erscheint das Pron. der 1. Pers. Sg. .ich' ( = ahd. (ostfrk.) ih) in den Varianten E ~ Eh ~ Hi ~ Hiih ~ Ich und, (wenn es der Verneinungspartikel ne vorangeht) auch als Gne ~ En und vielleicht auch als in. Von einem anderen schwierigen Text, dem Georgslied, meinte Ruth Harvey einmal, daß er ,an die Dyslexie grenze'!

Klöster: Althochdeutsches Sprachmaterial und Klosterdialekte

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Texte bewahrten - gibt uns die Sprache selbst in ihrem Wortschatz einige Anhaltspunkte für die kulturellen Kontakte der Sprecher. Auch sind die erhaltenen ahd. .Textsorten' bei näherer Betrachtung überraschend vielfältig. So wenden wir uns als erstes den Stimuli von außen zu, den lexikalischen Entlehnungen, bevor wir abschließend die inneren, stilistischen Kräfte besprechen, die das Frühdt. gestalteten.

Lexikalische Entlehnungen und die äußere Geschichte des Frühdeutschen49 Lehnwörter bilden in mehreren Hinsichten ein wichtiges Vexierstück im frühdt. Puzzle. Historisch gesehen können sie kulturelle Kontakte aus Perioden, die arm an Aufzeichnungen sind, dokumentieren und sie manchmal ungefähr datieren. Aus solch sprachlichen .Zonen-Fossilien' in der chronologischen Schichtung des Wortschatzes tragen wir Sprachgeschichte zusammen: jedoch ist Vorsicht geboten, da die durcheinandergeworfenen prähistorischen (i.e. vor-textlichen) Schichten o f t rein zufällig zutage treten. Eine soziolinguistische Auswertung untersucht (a) den Stellenwert der Entlehnungen innerhalb der entlehnenden Sprache, etwa als Fachwortschatz, oder (è), ob sie stilistische Untertöne abgeben, oder (c) von besonderen Gruppen von Sprechern gebraucht werden. Linguistisch gesehen beschäftigen wir uns mit der formalen und semantischen Einpassung neuer Elemente in die entlehnende Sprache, was u.U. etwas über deren Phonologie, Morphologie und Bedeutungsstruktur aussagen kann - doch müssen wir dazu die Laute und Struktur auch der .Spendersprachen' einigermaßen kennen.

A . Vordeutsche Schichten Während des ersten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung wanderten germ. Stämme von Skandinavien und den Küstenregionen der Ostsee südwärts, kamen mit einer technisch überlegenen keltischen Zivilisation in Berührung, die Eisen benutzte (z.B. in den Kulturen von Hallstatt und La Tène). Während der langen Eisenzeit teilten vielleicht Kelten und Germanen die gleichen Institutionen, was sich in den auf uns gekommenen dt. Wörtern für politische und militärische Angelegenheiten niedergeschlagen haben mag, die vermutlich aus dieser Zeit 49

Eine ausführlichere Besprechung der Hauptentlehnungstypen in Kap. Vil, mit Bezug auf das 17. Jahrh. - vor allem Abb. 6, S.297. Weiter: Maurer/Rupp (1974) mit Bibliographie; inzwischen auch Splett bei Besch et al. Bd. II (1985) §§81 und 83, SS. 1029-38; 1043 -52. Zur etymologischen Deutung, zu ältesten belegten Formen usw., siehe vor allem Kluge (1883/1967). Nach Splett a.a.O., S. 1031 machen Lehnwörter etwa 3% des erhaltenen ahd. appellativischen Wortschatzes von rund 32000 verschiedenen Wortformen und Wörtern aus. Der Anteil der Lehnprägungen, darunter kontroverse Klassen wie Lehnschöpfungen und Lehnbedeutungen ist nach Splett mit 15% überschätzt worden.

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I. Die Anfänge des

.Deutschen'

stammen:50 Amt, Bann, Eid, Erbe, frei, Fehde, Geisei, Reich; Beute, Brünne (.Brustharnisch'), Eisen, Ger (.Speer'), Heer, und die ethnischen Bezeichnungen Germane und welsch (siehe oben, S.35-36) sind ebenfalls kelt. Unter den Wörtern wahrscheinlich kelt. Ursprungs, die ausgestorben sind, befinden sich ahd. magu-/mago- .Junge', .Verwandter' (cf. maguzogo .Tutor', .Erzieher'), wini, .Ehemann', .Geliebter', wig .Schlacht', sowie das Namenselement hadu- .Kampf' (vgl. .Hadubrand'). Frühe zweiteilige Personennamen zeigen auch auffällige Parallelität; cf. gallisch Catu-rîx = ahd. Hadu-rlh-, Catu-volcus = ahd. Hadu-walh·, gallisch *Teuto-rix = westfrk. Theude-ricus. Nur Reich und Amt haben deutliche phonologische Merkmale, die uns anzeigen, daß die Wörter auf dem Wege über das Kelt, überliefert wurden: so zeigt ahd. rihhi langes / ¡ / statt des langen / £ / . das wir erwarten (cf. lat. rêx, régis), während ahd. ambaht (zu mhd. ambet, ammet zusammengezogen, nhd. Amt) ein Element amb- zeigt, das wahrscheinlich die kelt. Präp. ambi enthält, wohingegen das Ahd. eine Form umbi kennt (nhd. (her)um).51 Mehrere der erwähnten Wörter - und fast sicher andere wie Tonne52 sind vielleicht durch das Römerreich oder gleich nach dessen Ende ins Dt. gelangt. Wenige Ortsnamen von zweifellos kelt. Ursprung finden sich auf dem rechten Rheinufer, was diese Ansicht unterstützen mag; Beispiele sind: Ortsnamen auf das Suffix -(i)acum (heute in -ach/-ich), wie Andernach (Andernacum), Jülich (luliacum), Zülpich (Tolbiacum)·, oder in -bona, wie Wien (Vindabona) und Bonn (Bonna); oder in -dünum (verwandt mit engl, town, nhd. Zaun), wie (Kirch-)Zarten (Tarodünum). bei Freiburg im Breisgau, wo ein kelt. Erdwall noch zu erkennen ist. Auch einige Flußnamen dürften kelt. sein: der Glan (kelt. glan ,hell', ,klar'), die Tauber (vgl. walisisch dubr .Wasser'), vielleicht auch die Donau (Dänuvius). In der nächsten wichtigen kulturellen Berührungsphase führte die Niederlassung von Germanen innerhalb des römischen Reiches und der Handel über dessen Grenzen zu Entlehnungen in folgenden Bereichen: Heim und (Gemüse-)Garten Estrich, Fenster, Kalk, Keller, Küche, Mauer, Schindel, Söller, Stube, Ziegel; Kohl, Minze, Pfeffer, Pflanze, Pflaume, Rettich, Zwiebel·, Maße und Gewichte Meile, Pfund, Unze\ Handel und Weinanbau: - Kaufmann (ahd. koufo, lat. caupo .Weinverkäufer'), Pferd, Zoll; Kelter, Most, Wein; und Medizin - Arzt, Büchse, Fieber, Pflaster.53 Die meisten dieser Wörter wurden erst lange nach der Entlehnung aufgezeichnet - oft in frühen Klosterglossaren - , aber einige Wörter erweisen sich als alt, weil sie die Wirkung der hd. Konsonantenverschiebung zeigen; z.B. Pferd, ahd. pférit ( < lat. paraverëdus; vgl. engl, palfrey) zeigt den 50 51

52

53

Siehe Krähe (1954), 122-43. Friihdt, ambaht kommt in zwei Formen vor: (1) als Mask., mit der schw. Nebenform ambahtio/ambahteo < schw. Verb ambahten ( = .dienen'); diese wurden später durch ambahtman; PI. ambahtliuti ( = ,Amtmann/-Ieute') ersetzt; (2) als N. ambaht ( = .Dienst', .Bestallung'); siehe Voetz (1977). Verwandt sind engl, ambassador, embassy, ombudsman, - letzteres aus dem Skand. entlehnt. Da dem wort Tonne die hd. Lautverschiebung abgeht, kann es genauso gut nach dieser entlehnt worden sein. Siehe Frings/Müller (1968), Bd. II, bes. S. 137-8.

Vordeutsche Schichten

61

Wandel von ρ > pf; Zoll ( < Vulgärlat. tolônêum ,Zoll-Haus') die Verschiebung von t>ts (geschrieben < z > ) . Nichtverschobene Formen wie Kalk (lat. calx, calcis) deuten darauf, daß entweder das Wort aus denjenigen frk. Dialekten, in denen die Lautverschiebung sich nicht vollständig durchsetzte, in die mod. Standardsprache gekommen ist (vgl. aalem. oder abair. chalcha mit Affrikaten [kx]) mit afrk. kalka mit Plosiven), oder aber, daß das Wort entlehnt wurde, nachdem die Konsonantenverschiebung abgeschlossen war und daß es daher von ihr nicht betroffen wurde. Geographische Verteilung kann die chronologische Schichtung verwischen; z.B. nebeneinanderbestehende lat. Namen für ,Weinpresse' 54 lassen dt. regionale Bezeichnung entstehen: (1) Kelter (fem.) (lat. calcatura < calcare .treten') ist vielleicht ein galloromanisches Lehnwort aus dem fünften Jahrhundert, obwohl es erst im neunten Jahrhundert als ostfrk. calcaturun (Tatian 124.1) bezeugt ist, das zusammengezogen die viel spätere Form Kelter ergibt, die sich jetzt in Franken an Rhein und Mosel entlang, wie auch in Teilen von Baden und Schwaben, und in Rumänien (Siebenbürgen) findet; (2) Torkel (fem.) ein Lehnwort von vulgärlat. torcular ( < lat. torculum < torqueo ,ich drehe'), ist ca. 1000 im Alem. bezeugt (Notker), war vielleicht aus Norditalien übernommen und wird in Bayern, Österreich, der Ostschweiz und Südschwaben weiterhin gebraucht; (3) eine weitere alem. Bezeichnung, Trotte, im neunten Jahrhundert als trota belegt (verwandt mit treten) ist eine Lehnübersetzung, die sich im Südwesten von der Schweiz bis nach Lothringen hin findet; (4) der allgemein übliche Name (Wein)presse (von lat. pressa) ist vielleicht ursprünglich auf frk. Gebiete beschränkt gewesen - Lorscher Glossen aus dem neunten Jahrhundert haben die Form pressiri (von vulgärlat. pressorium). Die Druckerpresse wurde später nach dem Muster der Wein- oder Hauspresse entwickelt, wie der Name verrät.

Deutsche Lehnwortschichten und das Christentum Der früheste christliche Einfluß auf den dt. geistigen und religiösen Wortschatz stammt aus vordeutscher Zeit und hängt vermutlich mit frühen christlichen Gemeinden im römischen Reich zusammen, etwa denen in Trier, Köln oder Augsburg. Entlehnungen dieser Stufe sind in westeuropäischen Sprachen weitverbreitet, sind ,griech.-lat. Typs', oft früh bezeugt, und sie haben, wo erwartet, die hd. Konsonantenverschiebung durchgemacht. Zum Beispiel Kirche, ahd. kirihha < lat. kyrica < griech. *kyri(a)kon N. eines Adj. (κυρι(α)κός) etwa ,(Haus) des Herrn'. Hier läßt die Verschiebung von inlautendem vor-ahd. k> hh an eine Datierung vor dem sechsten Jahrhundert denken (siehe S.45). Das griech. N., das in dieser Verwendung etwa im vierten Jahrhundert vorübergehend geläufig war, ist in den schwer datierbaren lat. Formen wie in den germ. Entlehnungen zum Fem. geworden. Ahd. kirihha taucht in dem Ortsnamen Chircunwillare, Chiricunvillare ( = Kirweiler im Elsaß) AD 718 auf. Ursprünge und Verbreitung 54

Siehe Frings (1957), 2 5 - 6 , und dessen Karte auf S. 111.

62

I. Die Anfänge des ,Deutschen'

dieses Wortes geben uns noch mehrfach Rätsel auf.55 Andere, vermutlich frühe Lehnwörter mit der hd. Konsonantenverschiebung sind: Bischof (ahd. bisc(h)of < vulglat. biscopu < lat. episcopus < griech. episkopos .Aufseher'; Kelch ( < lat. calix, calicis); Mönch (ahd. munih < vulglat. monicus < lat. monacus), und opfern (ahd. opfarön < vulglat. *opperare < lat. operäri .Almosen geben').56 Unter den in germ. Sprachen weit verbreiteten Lehnwörtern findet sich Almosen (ahd. alamuosa < griech.-lat. eleemosyna), Engel (ahd. angil/engil < griech.-lat. angelus), und Teufel (ahd. tiuval < griech. diabolos) - letzteres phonologisch schwer durchschaubar. Einige frühe christliche Entlehnungen griech.-lat. Typs und andere, die auf die süddt. Kirchensprache beschränkt zu sein scheinen, sind got. Missionaren zugeschrieben worden, obwohl in historischen Quellen keine solche Mission erwähnt wird. Wörter, die aus dem Got. oder durch got. Vermittlung stammen könnten, sind u.a. Engel (got. aggilus, wo den Lautwert [ng] hat); Teufel (got. diabaulus, wo den Lautwert [d] hat); Heide (got. haipns); P f a f f e (got. papan);57 taufen (got. daupjan); barmherzig (got. armahairts, = [ε]); weih- .heilig' vgl. Weihnachten (got. weihs, (Adj.); = [i:]); Pfingsten (got. paintekusteri). Andere, nicht unbedingt religiöse Wörter, sind vielleicht von got. oder langob. Kaufleuten eingeführt worden, z.B. Dult .Markt, Kirmes' (got. dulps (fem.)) und Maut ,Zoll(haus)' (got. mòta (fem.); ahd. muta) - der ON Mautern, an der Donau (im Nibelungenlied Str. 1329 Mätaren) könnte .bei den Zöllnern' bedeutet haben ( < got. Dat. PI. mötarjam < motareis .Zöllner'). Kennwörter des Südens (speziell des Bair.) sind ferner die Wochentage59 Ertag .Dienstag' und Pfinztag .Donnerstag'; allgemein 55

Masser (1966). Bei Bischof legen Verlust des anlautenden -e und Substitution des stimmhaften b- für ρ gallorom. Vermittlung nahe; vgl. auch Büchse < griech. pyxis (πυξίς), das Wort opfern war einst auf süddt. Dialekte beschränkt; andere germ, und rom. Sprachen bewahren die Reflexe eines nicht verwandten lat. Wortes offene mit der gleichen Bedeutung: frz. offrir; engl, offer·, afries. offria; an. offra. 57 NB, papa geht auf griech. papas (παπύσ) = .Priester', .Weltgeistlicher', mit Kürze in der ersten Silbe zurück, während griech. pipas (πδπας) mit langem Vokal in der ersten Silbe via lat. pipa zuerst die spätahd. und mhd. Form bâbes(t) ergibt, sodann durch Eingriff der Gelehrten zu nhd. Papst umgeformt und spätestens seit Adelung in dieser Form obligat wird. 38 Heute beschränkt sich weih- abgesehen vom Wort Weihnachten auf süddt. ON and Kirchennamen, z.B. Weihenstephan, Benediktinerabtei bei Freising; Weihenbronn bei Schwäbisch Hall; sonst ist das Lexem selten oder gewählt-ironisch; weihen, einweihen, entweihen, weihevoll etc.·, siehe unten, Anm.65. Auch Muspilli: stuatago = .Jüngster Tag', .Weltgericht' stammt vielleicht von einem got. Kirchen- und Rechtswort staua/ stöjan ab: siehe Freudenthal (1949), 86-90. 59 Im südtirolischen Pustertal etwa lauten die Wochentage: mçntà, çrtà, mitâ, pfinztà, freitä, sanstù. Herkunft und Bedeutung von Ertag bleibt umstritten: - kaum eine Vermischung des griech. AreOs hëmèra (,Tag des Kriegsgottes Ares') mit dem Namen des got. Bischofs Arius (gest. 636)? Sollte Pfinztag vom Griech. für .fünfter Tag' herstammen, so ist doch kein got. *pinte dags belegt (oder *painte dagsl vgl. paintekusteri). Desgleichen: geht Samstag auf vulgärgriech. *samboton zurück (anstatt gewöhnlichem sabbaton), so stimmt dies nicht zu der belegten got. Form sabbato dags; Formen mit Nasal sind jedoch in Gallien anzusetzen, woher frz. samedi. Siehe Knobloch (1961). 56

Lexikalische Entlehnungen des Frühdeutschen

63

südlich auch Samstag (statt nörd. Sonnabend oder regional Sater(s)dag) - auch sie könnten von Kaufleuten, oder gar von got. Siedlern (vgl. den ON Gossensaß) stammen. Mit dem Anwachsen frk. Macht unter den Merowingern und Karolingern verbreitete sich auch der christliche Wortschatz. Dieser Phase können Wörter zugeordnet werden, wenn sie in dem übrigen umfangreicheren historischen und kirchlichen Material bezeugt sind, wenn sie aber gleichzeitig nicht die hd. Konsonantenverschiebung aufweisen, was wahrscheinlich macht, daß sie nach deren Abschluß übernommen wurden - allerdings haben diese Kultwörter als etwas Heiliges, .Unantastbares' manchmal sprachlicher Veränderung widerstanden. Beispiele sind: Priester (nicht *pfriestar), ahd. priestar < lat. presbyter < griech. presbuteros ,(Kirchen)Ältester'. Probst (nicht *pfrobist), ahd. probis < vulglat. propositus < lat. praepositus .Vorgesetzter'. Zelle, ahd. cella < lat. cella. Hier gibt die dt. Aussprache die rom. Palatalisierung von c vor Vorderzungenvokalen wider: die Affrikate [te] < früherem t durch die hd. Konsonantenverschiebung kam diesem Laut im Dt. am nächsten also Lautsubstitution

Erhaltene Entlehnungen aus dieser Phase sind möglicherweise Chor, Kapelle, Kerker, Kloster, Kreuz, Küster, Marter, Münster,60 Nonne, Pilger, predigen, segnen. Außer dem Beitrag der frk. Kirche wissen wir von zwei in kultureller Hinsicht höchst wichtigen Wellen missionarischer Tätigkeit - derjenigen der irischen Mönche im späten sechsten und frühen siebten Jahrhundert 61 und derjenigen der angelsächsischen Mönche im achten Jahrhundert - die ebenfalls das Entlehnen lat. christlicher Termini gefördert haben müssen, aus völlig verschiedenen Gründen. Die Iren sprachen eine Sprache, die den von ihnen zum Christentum Bekehrten völlig fremd war, und sie können daher entweder die Ausbreitung lat. Lehnwörter vorangetrieben oder aber einheimischen dt. Wörtern eine besondere christliche Bedeutung verliehen haben (etwa durch .Lehnübersetzung' oder .Lehnbedeutung'): wie dem auch sei, nur einem einzigen Lehnwort wird allgemein irische Herkunft zuerkannt: Glocke < vulglat. ciocca < air. clocc. Irische Aussprache gilt als Ursache für die Form einiger dt. Entlehnungen aus dem Lat.: Feier (ahd. ftr(r)a φ lat. fèria), Kreide (ahd. krida Φ lat. krëta), Pein (ahd. pin Φ vulglat. péna < lat. poena), Speise (ahd. splsa φ vulglat. spésa < lat. expensa), die sämtlich ein langes / / / (und dessen nhd. Entwicklung /ei/) statt (vulg)lat. langem /ê/ zeigen. 60

61

Ahd. munistiri, vulglat. monisterium (im merowingischen Lat. belegt), griech.-lat. monasterium .Einsiedelei'. Die Bedeutung ändert sich und wird zu .Kloster', auch zu .Klosterkirche', .größerer Kirche'. Heute ist Münster im Sinne von .Kathedrale' eher auf Süddeutschland beschränkt, im Gegensatz zu nördlicherem Dom ( < lat. domus). Siehe Masser (1966), 13f„ 7 0 - 1 . Kolumbanus, Gallus und ihre Jünger gründeten die großen Klöster Luxeuil (590), Bobbio (612-13) und St. Gallen (613-14), und die Tradition irischer Klostergründung hielt sich bis ins 12. Jahrhundert, z.B. in Wien: das Schottenkloster.

64

I. Die Anfänge

des

.Deutschen'

Ähnlich weisen ahd. salm (nhd. Psalm) und salteri (von lat. psalterium) Schwund des anlautenden //?-/ auf, der sich auch in air. salm, saltair findet. 62 Irischer Einfluß bei der Ausbildung einer süddt. Kirchensprache bleibt nur eine reizvolle Hypothese. 63 Ebenso scheinen als Ergebnis der angelsächsischen Mission nur wenige Lehnwörter ins Dt. gelangt zu sein, aber in diesem Falle war dem Aengl., Adt., Afries. und Asächs. der gleiche germ. .Wort-Schatz' eigen. Die Rolle der Missionare muß katalytisch gewesen sein: 64 einheimische dt. Wörter, die den aengl. verwandt waren, konnten in ihrer Bedeutung leicht erweitert werden, um die neuen religiösen Inhalte zu erfassen. Gleichzeitig aber lassen sich durch die Ähnlichkeit des Wortschatzes aengl. Entlehnungen nur schwer eindeutig herauslesen. Erhaltener aengl. Einfluß ist vielleicht in nhd. der heilige Geist zu sehen: ahd. (ostfrk.) heilag geist (Tatian 7.4); cf. aengl. se háliga gást, im Gegensatz zu wihes atumes ((Gen. Sg.) aus den alem. Murbacher Hymnen des neunten Jahrhunderts). 65 Weiter: nhd. Heiland - durchweg die Übersetzung für ,Jesus' im Tatian - vgl. aengl. hœlend; auch Sonnabend (vgl. aengl. sunnanœfen) und möglicherweise Ostern (vielleicht von aengl. eastron). Dennoch waren damals die angelsächsischen Missionen in kultureller Hinsicht von recht großer Bedeutung. Nach Bischof Wilfrids von York sporadischen Versuchen, die Friesen 678/9 zu bekehren, genossen die angelsächsischen Missionare frk. Protektion. Weil die engen Beziehungen der englischen Kirche zu Rom (ersichtlich in der Karriere Willibrords, umbenannt Clemens (ca. 657-739) und Wynfriths, umbenannt Bonifatius (675-754)) für die Franken von politischem Vorteil waren, begegneten diese der Mission in Friesland, Thüringen, Hessen und Sachsen mit Wohlwollen; und auch in Bayern organisierte Bonifatius die Kirche neu. Doch nahmen viele weniger bekannte Mönche und Nonnen an diesen Missionsunternehmungen teil und verhalfen so der Lese- und Schreibkundigkeit und der damals blühenden geistigen Kultur in Großbritannien besonders in Nordhumbrien zu Verbreitung. 66 Alkuin von York (ca. 730-804) baute auf dieser Grundlage, als er 789 Mentor Karls des Großen wurde und eine .Renaissance' der Gelehrsamkeit herbeiführte; und sein Schüler Hrabanus Maurus (784-856) machte Fulda (744 von Bonifatius gegründet) zu einem der wichtigsten Kulturzentren 62 63 64 65

66

Weisgerber (1952). Reiffenstein (1958), 2 2 - 3 . Siehe Braune (1919). Stilistische und kontextuelle Überlegungen verstellen das Bild: einige ahd. Texte haben sowohl heilag als auch wih für lat. sanctus und sowohl geist als auch ätum (nhd. Atem) für lat. spiritus, z.B. der frk. Katechismus aus dem 9. Jahrhundert, der Weißenburg zugeschrieben wird: .Gilaubiu [ = ,ich glaube']... in heilenton Christ... ther intfangener [ = .empfangen'] ist fona heiligemo geiste ... gilaubiu in atum uuihan'. Das St. Galler Paternoster und Credo (alem., spätes 8. Jahrhundert) hat uuihan keist, während Notker spiritus sanctus mit heiligo geist übersetzt, dagegen spiritus gleich ,Atem' mit âtem wiedergibt; die Vorauer Hs. von Ezzos Gesang (bair., 12. Jahrhundert) zeigt umgekehrt der heilige atem, während ,Atem' mit geist übersetzt wird (Zeilen 412 und 73). Siehe Becker (1964), 139f. und Tschirch (1966-9), I, 136. Siehe Stenton (1971), Kapp. V und VI; Levison (1946).

Lexikalische

Entlehnungen

des

65

Frühdeutschen

in Deutschland, mit vielleicht sogar 600 Mönchen;67 Otfrid von Weißenburg war wiederum Hrabanus' Schüler. Einiges Aengl. muß in dt. Klöstern gesprochen und geschrieben worden sein, wie etwa in Echternach (ca. 700 von Willibrord gegründet), und es finden sich insulare orthoepische und paläographische Merkmale in ahd. Texten, z.B. der Gebrauch der wyn-Rune φ ) für /w/ oder /hw/\ oder das Symbol D, d (dem aengl. eth, ö nachgebildet?), meist für einen stimmhaften dentalen Konsonanten (z.B. im Hildebrandslied, der ahd. Lex Sa/z'ca-Übersetzung sowie im Wessobrunner Schöpfungsgedicht und Gebet), während eine für die britische Insel charakteristische Schrift im Skriptorium von Fulda anscheinend bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts beibehalten wurde. Anhaltende lexikalische Traditionen, die von den angelsächsischen Missionen herkommen können, sind außerdem in der ostfrk. 7ai/a/!-Übersetzung zu erkennen; sie hat mit dem Aengl., Asächs. und Afries. viele Formen gemein, die nicht ins moderne Dt. gelangt sind. Vergleiche die in Tabelle 1. aufgeführten Wörter. 68 Tabelle 1 Latein

(a) Gemeinahd.

(b) Tatian

(c)Altenglisch

misereri misericors humilitas abrogans ( = humilis) pati gaudere gratia evangelium claritas consolatio contristare dubitare

armèn (ir-bi-armen) armherz (bi-armherzig) deomuoti deomuot (deomuot-ig)

miltèn miltherzi odmuotì òtmuotig

miltsian mildheort éadméde éadmód

dulten freuuen gináda [verschiedene] scônî tròst trùrèn zwifalòn

tholên gifehan geba gotspel fagari fluobara truobèn zuéhòn

polian geféon giefu godspel* fœger (Adj.) frófor [asächs. drobian] twéogan

+

* NB, godspel war ursprünglich gódspel mit Langvokal (,gute Botschaft'); Tatian zeigt die gleiche Assozierung mit got = deus; vgl. andere ahd. Formen für diesen Begriff, wie cuatchundida (Benediktiner Regel) und diuri arunti (Otfrid). + Die Form fluobara zeigt vielleicht Dissimilierung r > I; bei der Dissimilation verändern einer oder zwei ähnliche (oder gleiche) Laute ihre Artikulationsart, aber gewöhnlich nicht die Artikulationsstelle. Siehe Paul (1968), 66.

Von Einzelheiten abgesehen werden die Wörter in Spalte (ä) zu erbarmen, barmherzig, Demut, demütig, dulden, sich freuen, Gnade, Evangelium, Schöne/ Schönheit, Trost, trauern, zweifeln, wohingegen die Wörter in Spalte (b) und (c) 67

68

Zu Fulda im Lichte der dort verewigten Mönchsnamen siehe K. Schmid et al. (1978); auch Geuenich (1976). Das Material stammt von Gutmacher (1914).

66

I. Die Anfänge des ,Deutschen '

im allgemeinen aussterben: im Engl, bleiben nur ,fair', .gospel' und ,mild-hearted'. Zudem kommen im Text mehrere Formen nebeneinander vor, z.B. geben anst (cf. nhd. Gunst), geba, ginäda, und huldt sämtlich lat. gratia wider. So können wir uns unsere Erklärung aussuchen, ob dies regionale Formen, eine Nord-SüdOpposition darstellend, oder aber stilistische Varianten oder etwa subtile Interpretationen feiner Bedeutungsnuancen sind. Den auf den ersten Blick aengl. Elementen im Γαί/'αη-Wortschatz müssen wir daher mit Vorsicht begegnen; sie stehen u.U. für eine lediglich besonders .konservative' Spielart des Mitteidt., die starke Affinität zum Norden zeigt'. 69 Die christlichen Einflüsse schufen also die Grundlage für einen abstrakten geistlich-geistigen Wortschatz des Dt., der sich am leichtesten in der eindrucksvollen Fülle an Wissen bei Notker von St. Gallen sehen läßt (gest. 1022), dem dritten dieses Namens, der das Dt. so gut kannte und es so liebte, daß er als .Notker Teutonicus' bekannt wurde. Dieser Wortschatz wurde weiter ausgebaut und verfeinert, zu einem wesentlichen Teil in Theologie, Scholastik und gelehrter Mystik, bis ins vierzehnte Jahrhundert hinein, und gelangte schließlich in die Universitäten: aber sonst, und besonders in der frühen Periode, ging er die breite Volksgemeinschaft wohl nur sehr mittelbar an - er stellt zugleich die höchste und weltfernste Entfaltung des Frühdt. dar. Wie raffiniert dieses Frühdt. sein konnte, läßt uns die Zs/cfor-Übersetzung aus dem achten Jahrhundert erkennen, und zwar dort, wo theologisch wichtige Unterscheidungen hinsichtlich der .wesentlichen' Ähnlichkeit oder Gleichheit oder Identität der Personen der Gottheit ins Dt. übertragen werden.70

Stilmittel des Frühdeutschen Die Vielseitigkeit des Frühdt. erschließt sich demjenigen, der die einheimischen poetischen, rechtlichen und .umgangssprachlichen' Register untersucht. 71 69 70

71

Bostock, King und McLintock (1976), 167. Z.B. chiliih ( = ostfrk. gilfch, nhd. gleich) gibt lat. ad similitudinem wieder, mit der Variante in chiliihhnissu, während anachiliih lat. ad imaginem übersetzt, wogegen anaebanchiliih den lat. Wendungen aequalem imaginem habere / una imago cum deo esse entspricht. (Zs/dor-Übersetzung, III, 4 - 5 ) . Die Trennung wird freilich nicht konsequent beibehalten, jedoch existiert durchaus schon das differenzierte Vokabular, um zwischen lat. similis und aequalis zu unterscheiden. Die Textsorten des Ahd. lassen sich manchmal schwer bestimmen: zwar besticht die Einteilung bei Alexander Schwarz, (,Die Textsorten des Althochdeutschen' bei Besch et al. Bd. 2 (1985), §84, 1052-60), der die Textsorten in 8 Bereiche unterteilt: (1) Schule (2) Gottesdienst (3) Lebenspraxis (4) Erbauung (5) Antiquarisches Interesse (6) Verwaltung (7) Politik (8) Traditionsbildung, doch können manche Texte gleichzeitig mehrere Funktionen erfüllen, bzw. mehrere Benutzer .ansprechen' oder mehrfachen Intentionen dienen. So fehlt den Verfassern bzw. Aufzeichnern der ahd. poetischen Denkmäler, wie sie von Schwarz unter (2), (4) und (5) aufgeführt werden, nicht unbedingt ein Sinn für ästhetische Werte. Vor allem die .Pariser Gespräche' fügen sich schlecht ein: es geht nicht an, sie einfach mit der vermeintlichen Intentionalität des Aufzeichners einzuordnen: primär

Stilmittel des Frühdeutschen

67

A. Einheimische poetische Traditionen Das Hildebrandslied (HL), unbekannten Datums und unbekannter Herkunft, ist das einzigartige Beispiel eines kontinentalgerm. Heldenliedes. Die Ereignisse, die erzählt werden, gehören ins fünfte/sechste Jahrhundert und sind in den Generationen mündlicher Überlieferung, die hinter der vorhandenen Hs. aus dem neunten Jahrhundert stehen, die vielleicht in Fulda oder Mainz hergestellt wurde, stark verzerrt worden. 72 Der .Dialekt' zeigt die partielle Transskribierung einer hd. Dichtung ins Nd., mit unverschobenen Konsonanten - möglicherweise ein Versuch zu archaisieren und eine vor-hd. gemeingerm. Dichtersprache wiederzugeben. 73 Daher eine .archaische' Morphologie und Syntax, wie etwa der Gebrauch des Instrumentalis ohne regierende Präposition: 74 cheisuringu gitan ,aus kaiserlicher Münze' (Z. 34); seal mih swertu hauwan ,soll/wird mich mit (seinem) Schwert hauen' (Z.53). Die dichterische und rechtssprachliche Diktion können eine Verbindung eingehen, z.B. im Gebrauch des Verbs gimahalen im HL ,eine formelle Rede halten', wie bei der Gesetzesversammlung oder mallum (siehe unten); zudem ist die Form im HL auch alt - spätere ahd. Texte haben malön; aber vergleiche mod. dt. Gemahl, vermählen. Mehrere hapax legomena (Wörter, die nirgendwo sonst im Ahd. bezeugt sind) finden sich in anderen germ, dichterischen Texten. Zum Beispiel: urhettun .Krieger', .Herausforderer', cf. asächs. urhetto, aengl. Oretta, hiltiu Dat. < "hiltia .Schlacht', cf. asächs. hildfi), aengl. hild, an. hildr. gimahalta .redete', cf. asächs. gimahalda, aengl. madelode. giweit < *giwltan .gehen', asächs. giwltan, aengl. gewltan. bure < *bür ,Saal', .Laube', cf. aengl. bür. gudhamun .Kampfhemden', vgl. die vielen Zuammensetzungen mit güp, die der aengl. Dichtung eigen sind, wie güp-cearu, güp-fana, güp-freca, güp-horn, güp-liop etc, an. gunnr, gudr in wit .Betrug', .Täuschung', cf. asächs., aengl. inwid. wewurt .Unglück', .schreckliches Schicksal', cf. asächs. wurd, aengl. wyrd .Schicksal', an. urdr. seeotantero < *sceotant .Schießer, Krieger', cf. aengl. seeotend.

Da das aengl. und an. Material frühestens ein Jahrhundert nach unserem Gedicht belegt wird, weil wir über germ, dichterische Tradition wenig wissen und weil

72 73

74

reflektieren sie schon irgendwie den (fingierten) täglichen gesprochenen Umgang; sekundär können sie wohl, mit Wehrli (1980), 27, ,,gedacht für einen Reisenden romanischer Zunge im deutschen Sprachgebiet" gewesen sein. Vergleiche auch die Behandlung unter dem Aspekt des gesprochenen Ahd. bei Sonderegger in: Besch et al. Bd. 2 (1985), §85. .Reflexe gesprochener Sprache im Althochdeutschen', 1060-68, bes. 1064. B. Bischoff, laut Fischer (1966), S.20. McLintock (1966). In einer Zeit der nationalen Begeisterung fand das Lied in der nüchternen Beurteilung Ludwig Thomas wenig Anerkennung: .poetisch nicht wertvoller als der Versuch eines Eskimo', .Hands Off', Gesammelte Werke, Achter Band, Ausgewählte Gedichte und Aufsätze, R. Piper & Co. Verlag, München, 1956, S. 385-6. Behaghel (1923-32), Bd.I, §§460-70, S. 663 - 7 4 . Der Instrumentalis wird zunehmend seltener und ist dann im 13. Jahrhundert nur in einigen Formeln erhalten.

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I. Die Anfänge des .Deutschen'

gattungsbedingte Unterschiede zwischen Heldenliedern und längeren, im Ahd. nicht erhaltenen Epen anzunehmen sind, ist leider die stilistische Einstufung heikel, ja, einige Wörter verstehen wir nur unvollkommen. Weiter stellen die alliterativen Formeln und Phrasierungen des HL auch eine Verbindung zu anderen germ, dichterischen Texten her, z.B. zum Aengl., wie in: ferahes frotoro (Z. 8) .erfahrener im Leben', cf. Battle of Maldon (317) le eom frOd feores ,Ich bin erfahren im Leben' ih imo ti banin werdan (Ζ. 54) ,Ich soll/werde sein Tod werden', cf. Beowulf (587) du ¡jJnum bröbrum to banan wurde ,Du warst das Ende deiner Brüder' dat man wie furnam (Z. 43) ,daß (die) Schlacht Männer (oder ,ihn' = inan?) verschlang', cf. Wanderer (80) sume wig fornöm .Schlacht verschlang einige* giwigan miti wabnum (Z.68) .gefochten mit Waffen*, cf. Battle of Maldon, wo wigan mid wâëpnum .Krieger mit Waffen' eine durch den Stabreim geschaffene Parallele aufweist. Zu bemerken ist ferner syntaktische Parallelität, wie der Gebrauch von *lätan + Inf. als Kausativ: do leiten se aerisi aseim scritan (Z. 63) ,dann ließen sie fliegen mit (eschenen) Speeren', cf. Battle of Maldon (108) Hi letón pt1 of folman fêolhearde speru ... flëogan .Dann ließen sie fliegen von ihren Händen feilenharte Speere'; vgl. auch (149) forlet ... fleogan. Das HL hält sich jedoch im Gebrauch von Synonymen zurück, und in ihm fehlen die ausdrucksvollen, verdichteten, zusammengesetzten Metaphern, als .Kenningar' bekannt, die im Beowulf und besonders im A n . häufig vorkommen und diese Dichtung manieriert und praktisch unübersetzbar machen. Eine Ausnahme ist, vielleicht, HL 65 staimbort, das eine Kenning sein kann (etwa: ,stein(besetzte) Bretter' - das Schiffsgrab von Sutton H o o brachte einen Schild mit CloisonnéArbeit zutage). Wir können jedoch mit der Kenntnis von Kenningar im Ahd. rechnen, da Appellative wie Ithhamo (nhd. Leichnam) .Körper', wörtlich: ,Lebens-Hemd' vorkommen. Tatsächlich könnte eine Vertrautheit mit dieser Metaphertradition einige Lehnübersetzungen lat. Wörter erklären, die der moderne Leser als unpassend oder lächerlich durchsichtig findet. Lihhamo selbst kennt viele Ableitungen, und Notker gibt sogar lat. incarnatio mit Ifhhamo-wortani wieder (wörtlich ,der Zustand, Fleisch geworden zu sein' - nhd. etwa .Leichnamworden'). Wie zu erwarten, beeinflussen bodenständige poetische Traditionen die ahd. Dichtung, selbst da, wo diese Dichtung christliche Intentionen hat und .moderne' F o r m aufweist, wie Otfrids Leben Christi mit seinen ausgeklügelten exegetischen und moralischen Interpretationen. Auch Otfrid benutzt Stabreim und bringt gelegentlich Wörter älteren Typs, z.B. itis . F r a u ' , .Herrin', und ungisaro ( = ,ungerüstet'), cf. HL sarò .Rüstung' und sogar Bildungen, die fast einer Kenning gleichkommen, z.B. die Synonyme für .Himmel': sunnunpad . P f a d der Sonne', sterrono straza .Straße(n) der Sterne', wega wolkono .Wege der Wolken' (Evangelienbuch 1.5). Die Murbacher Hymnen wiederum, im frühen neunten Jahrhundert im Kloster Reichenau am Bodensee geschrieben, scheinen auf den ersten Blick eine sklavische Wort-für-Wort-Übertragung der lat. Ambrosianischen

Stilmittel des Frühdeutschen

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Hymnen zu sein, zeigen aber alliterative Ausschmückung und älteren dichterischen Wortschatz, z.B. ortfrumo ,Schöpfer', sedelcanc .Sonnenuntergang', wörtlich , Thron-Gang'. 75 So können wir trotz aller gebotenen Vorsicht und unsicherer Faktoren eine Diktion bzw. einen Wortschatz ausmachen, der rückwärts gewandt ist und auf eine andere poetische Tradition horcht, die zweifelsohne älter ist und die in ihrer eigenen Art der Umgangssprache ebenso fern steht wie die christliche Gebrauchsliteratur. B. Die Rechtssprache Vereinzelte germ. ,Rechtswörter' sind in Runeninschriften erhalten, weiter in Stammes- und Personennamen und bei antiken Historikern, aber sie lassen sich nur schwer von der allgemeinen .politischen' Sprache trennen, die gesellschaftliche Institutionen widerspiegelt. Rechtssprachl. Wortschatz in einem juristischen Kontext ist in den faszinierenden, doch hoffnungslos korrupten frk. Glossen im lat. Text der Lex Salica76 auf uns gekommen, in den Malbergischen Glossen, so genannt, weil ihnen oft mal(bergo) voransteht, d.h. ,die Gerichtsversammlung betreffend', .gerichtlich'. Die Glossen selbst sind teilweise latinisiert, z.B. mallum .Gerichtshof' < germ, mapla-,77 mannire .vorladen', alodis .Besitzungen', ,Allod', fredum .Friedensgeld', mallare .Gericht halten', sunnis/sunnia .zulässiger Hinternisgrund, vor Gericht nicht zu erscheinen' (mhd. êhaftiu nôt; engl, essoin), uuadium .Pfand', .Bürgschaft'. Diese Termini werden für die romanischen Schreiber zunehmend unverständlich, und in den Revisionen unter Karl dem Großen (den Emendata und der Lex Salica Carolina) sind viele fortgelassen. Tatsächlich ließ sogar ein Schreiber der ursprünglichen Fassung im neunten Jahrhundert die germ. Wörter als ,verba Grecorum' (Ms. A3) aus - es war ihm alles griechisch! Wenn die Malbergischen Glossen wirklich .Westfrk.' darstellen, dann ist das Verhältnis dieses Dialekts zum Ahd. obskur: die Sprache war auf jeden Fall nd. (besser: ,vor-hd.'?), da keine verschobenen Konsonanten belegt sind. Andere leges barbarorum enthalten germ, und ,dt.' Wörter; einige, wie morgingeba ,Morgengabe', .Mitgift' sind weitverbreitet, und das Verhältnis der einzelnen Gesetzeskodices zu einander bietet viele Schwierigkeiten. In diesem Zusammenhang notieren wir jedoch, daß in einem Kloster mehrere Kodizes gefunden werden konnten: ein früher Bibliothekskatalog von 821/2 zeigt, daß Kloster Reichenau Exemplare der Lex Salica (ca. 507-11 ) besaß, ferner der Lex A lemannica (siebtes Jahrhundert), Lex Langobardorum (siebtes bis neuntes Jahrhundert), LexRibvaria 73 76

77

Sonderegger (1965Λ). Die maßgebende Ausgabe und weitere Bibliographie: Eckhardt (1953-7). Siehe bes. 1(1954), 93 and 179; und l l / l (1955), 7 3 - 8 9 . Siehe Kluge (1883/1967); urgerm. *mapla/maòla > ahd. mahal·, cf. an. mal, got. mapl. Das Wort steckt in ON, wie Detmold (im 8. Jahrhdt. Theotmalli - .Volksversammlung(sstätte)') und Mechelen/ Malines in Belgien.

I. Die Anfänge des .Deutschen'

70

(achtes/neuntes Jahrhundert) sowie diverse Kapitularien von Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen. Demnach waren Mönche mit Gesetzeskodices vertraut und konnten bei der Bibelübersetzung auf deren technische Termini zurückgreifen. So wurden Altes und Neues Testament selbst mit e, ewa .Gesetz' bezeichnet die Bibel beschäftigt sich viel mit Rechtsfragen; tatsächlich wurden ganze Teile der Gesetze Moses im dreizehnten Jahrhundert in nicht-lat. Kodifikationen aufgenommen, nämlich in den Sachsenspiegel und den Schwabenspiegel. In Tatian und Hêliand fällt dem modernen Leser der rechtssprachl. Wortschatz vielleicht stärker auf als einem Zeitgenossen des neunten Jahrhunderts. Sonderegger 78 führt Beispiele an: Latein praetorium rapina villicus iudicium, iudex

Tatian thinghQs ,Versammlungs-Haus' frtlhof,eingeschlossenes Versammlungshaus' nOtnumft ,Raub', .Vergewaltigung' schuldheizo .Schultheiß' tuom, tuomo .Urteil', .Richter'

Doch nehmen einige rechtliche Begriffe spezifisch christliche Bedeutung an (eine Art .Lehnbedeutung') und werden dabei o f t abstrakt, z.B. tröst hat sich von der Bedeutung .Unterstützung', .Hilfe' zu .Beruhigung', .Trost', . H o f f n u n g ' gewandelt; githingi .gerichtliche Gesetzesversammlung', ,Rat' wurde zu .Fürsprache', . H o f f n u n g ' (vgl. mhd. gedinge); suona .Gericht' (vgl. Muspilli suonatago .Verurteilung', .Richtspruch') wurde zu ,Buße', .Sühne', .Frieden'; scult .Debit' wurde zu .(moralischer) Schuld', .Vergehen'. Schließlich gelangen einige germ. Termini zu weiter Verbreitung, z.B. thing .Versammlung', .Gericht' (eine verwandte Bezeichnung ist das erste Element des Parlaments der Insel Man: das Tynwald) ergibt nhd. Ding; sahha .(Rechts-)Fall' wird nhd. Sache: sowohl Ding als auch Sache haben heute keine klar definierbare Bedeutung mehr außerhalb des jeweiligen Kontexts. Der rechtliche Wortschatz ist aber durch seinen gehobenen Stil auch f ü r die christliche Botschaft geeignet: der Wortschatz des germ. Gewohnheitsrechts ließ sich f ü r christliche Zwecke besser anpassen als der ältere - vorbelastete - germ, religiöse Wortschatz, der infolgedessen selten erhalten ist. Bestimmte ahd. Texte sind spezifisch rechtlicher Art: die Straßburger Eide von 842 bewahren ein Stück internationalen Vertragsrechts; und die fragmentarische Übersetzung der emendierten Lex Salica in den ostfrk. Dialekt aus dem frühen neunten Jahrhundert (aus Mainz?) wird geschickt mit dem Original fertig - zumeist mittels Paraphrase, z.B. Titel lxi, de chrenecruda (über die Übertragung von .wergild' auf wohlhabendere Verwandte) 79 wird einfach wiedergegeben mit: der, scazloos man, andran arslahit ,der (welcher), mittellos (seiend), einen anderen erschlägt'. Leider besitzen wir außer Bruchstücken aus der Vorladungspraxis, Hinweisen über Diebstahl von diversen Schweinearten und einigen 78 79

Sonderegger (1965a). Van Helten (1900), §163, 482ff., mit Baesecke (1935) grundlegend zur frühgerm. Rechtswortschatz; weiter Köbler ( 1971 ¿>).

Stilmittel des Frühdeutschen

71

wenigen Überschriften nichts mehr von diesem Text. Alliterierende und archaische Formeln lassen erkennen, wie altertümlich und feierlich dt. Rechtsgepflogenheiten waren - Jacob Grimm schrieb bekanntlich von der .Poesie im Recht*. Das Frankenreich hatte eine zweisprachige Verwaltung, wie schon die Malbergischen Glossen nahelegen; spätere Verwaltungsbeamte jedoch verzichteten auf die germ. Floskeln. Während ein Großteil der ahd. Schriftlichkeit sich aus der lat. Vormundschaft zu lösen scheint, ist beim Recht anscheinend umgekehrt zunehmende Latinisierung die Regel. Erst im dreizehnten Jahrhundert finden wir dt. geschriebene Gesetzbücher: zum Status des Gesetzes passend wurde dies zum Ressort der höchsten Regierungsbeamten, deren Sprache das Lat. war. Die ahd. (ostfrk.) Lex Salica beweist, daß einheimische Juristen geschickt waren, doch im zehnten und elften Jahrhundert müssen die Regierungsbeamten und ihre Herren so gebildet gewesen sein, daß sie ohne volkssprachliche Rechtstexte auskommen konnten vermutlich ein weiterer Aspekt ottonischer Bildung.

C. Umgangssprachliches Althochdeutsch? Merkwürdigerweise finden wir am deutlichsten die Spuren von gesprochenem Dt. ausgerechnet in Glossen. Bis dato haben Gelehrte Glossen ediert und datiert, ihre Herkunft und Textüberlieferung, wo möglich, festgestellt, doch selten das Material ausgewertet, als einen Kommunikationsprozeß, in dem Lat. und Dt. zusammen betrachtet werden müssen. 80 Zwei eigenartige Glossensammlungen mußten jedoch von jeher stilistisch analysiert werden und haben tatsächlich die Bezeichnung .Gespräche' erhalten. Die Kasseler Glossen (KG) aus dem neunten Jahrhundert und die Pariser oátr Ahd. Gespräche aus dem späten neunten/zehnten Jahrhundert ergänzen sich gegenseitig: die KG waren von einem Deutschen verfaßt worden, zeigen regelmäßige bair. Merkmale, aber auch ab und zu Übersetzungsfehler (Nr. 54 romanisch segradas = lat. secreta ,Abort', 'Örtchen' wurde falsch verstanden als sacrarium .Sakristei'!); die Pariser Gespräche wurden von romanischen Schreibern in einer Orthographie mit typisch romanischen Zügen niedergeschrieben, 81 wobei die Morphologie wenig beachtet, dafür in der phonetischen Genauigkeit Aufschlußreiches gebracht wird. Der Autor der KG gestattet sich eine Stichelei auf Kosten der Romanen, der oder die romanischen Schreiber (es sind vielleicht mehrere am Werk) der Pariser Gespräche geben sogar dt. Obszönitäten wieder. Beide Texte sind ungewöhnlich darin, daß sie Lat. benutzen, um das Dt. zu verstehen, statt umgekehrt. 82 80

81

82

Schwarz (1977) untersucht Otfrids Glossierungen von Priscianus' Institutiones Grammaticae im Zusammenhang mit deren schulischer Funktion. Ferner, siehe Schwarz zur Textsortenproblematik im Ahd. mit weiterführender Literatur bei Besch et al. Bd. II (1985); auch oben Fn. 71. Z.B. < q u > für germ, / w / , /hw/, vgl. quaren = waren; Gebrauch von ani. is-/es- für germ. ani. s + Kons., z.B. esconae = skoni .schön'; häufiger Verlust des ani. /A-/ (Aphärese); unregelmäßige Wiedergabe zweifellos verschobener Konsonanz, usw. Eine ausgezeichnete sprachl. Analyse des schwierigen Texts bei Huisman (1969). Wir wissen weder wo noch wann die Glossen aufgeschrieben wurde. Ihre Bezeichnungen

72

I. Die Anfänge

des

.Deutschen'

Der Kasseler Text behandelt Dinge aus der alltäglichen Lebenspraxis, den Besuch beim Barbier oder die Begegnung mit Fremden: Tundí meo capilli = skir min fahs; Radi me meo colli = skir minan hals; Radi meo barba = skir minan part; Onde es tu? = uuannapist du? Quis es tu? = uuerpist du?; (Jndeuenis? = uuanna quimis?; De quale patria pergis? = fona uuelicheru lantskeffi sindos [ = .gehst']? Die PG teilen einige Einträge mit den KG: Guane cumet ger, brothro? = unde uenis, frater?; Gueliche lande cumen ger? = de qua patria? Aber die Phonologie ist eindeutig umgangssprachlich: das Pron. ir (besser: gel) wird zu ger abgeschliffen, wie in einem Gossenidiom (vgl. das engl. .Cockney' 8 3 ); das auslautende -o an brothro ist als intensivierendes Suffix verstanden worden vergleichbar etwa den familiären Verkleinerungsformen. Die Morphologie schwankt erheblich: cumet (2. Pers.Pl.) alterniert mit cumen. In einer Reihe von Befehlen wird *gib mir zu gimer verschliffen: Gimer min ros, Gimer min schelt [.Schild'], Gimer min spera [.Speer'], Gimer min suarda [.Schwert']. Wir finden Beteuerungen und Kraftsausdrücke: Semergot elfe; Be gotta; en terue [mhd. entriuwen] - etwa: ,So helfe mir Gott! Bei Gott! Bei meiner Treu!' - wobei die nhd. Übersetzungen heute etwas gewählt klingen, im Gegensatz zur derben Entgegnung: Vndes ars in tino naso = canis culum in tuo naso (.ein Hundearsch in deiner Nase! '). Umgangssprachlich sind wohl auch die verstärkte Verneinungsform ne haben ne trophen ,Ich habe keinen Tropfen n i c h " 8 4 und die pleonastische Verwendung von Pronomen, z.B. Narra er sarda gerre = stultus uoluntarie fottit ,Ein Narr er fickt(e) gerne'. Das Vorkommen des seltenen wohl tabuisierten Verbs serten/serden ( = .ficken') ist bemerkenswert: bis zu den Fastnachtsspielen des fünfzehnten Jahrhunderts, wo Grobheit zur Manier wird, ist es kaum wieder bezeugt. In den PG erfüllt es eventuell praktische Bedürfnisse: Gauathere, latz mer serte ,Laß mich bumsen, Püppchen'. In einigen späteren mfrk. Terenzglossen, schließlich, wiederholt ein frustrierter und unreifer Glossator das Wort in zynischer Verwendung: faciam ut iusseris = (h)ich lazen thih serten; amatores mulierum = serdere [Nomen Agentis PI.]. Frühere Gelehrte haben in den PG die Wiedergabe tatsächlicher Gespräche gesehen, vielleicht während einer Reise aufgezeichnet, und sie haben sogar die mutmaßlichen Teilhaber an diesem Sprachverhalten durch ihre Sprechweise als .Edelleute', .Priester', .gemeine Knechte', .Schankwirte' oder .Klosterpförtner' identifiziert. Das ist unwahrscheinlich: die Glossen sind ohne erkennbare Reihenfolge am oberen Rand und oben an den Seiten des Abavus-Glossars aus dem neunten Jahrhundert eingetragen, und sie sind durch Zitate aus einer Tatian-Hs.

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84

tragen sie nach den derzeitigen Aufbewahrungsorten. Allerdings befindet sich ein Blatt der PG im Vatikan. Die lat. Lemmata der KG zeigen interessante romanische Färbung, die dt. Bestandteile ordnen sich unschwer in den Zusammenhang. Die PG können im Laufe des zehnten Jahrhunderts in das lat. /lòevuj-Glossar eingekritzelt worden sein. Bezeichnung von Leslie Peter Johnson, 'The German Language', in: Sir Malcolm Pasley (Hrsg.), Germany. A Companion to German Studies, Methuen: London, 1972, 1 - 6 0 , bes. 3 4 - 5 , Anm. 2. Vgl. sogar Otfrid, Evangelienbuch i, 5,28 drof ni zuivolo thu thes nhd. etwa: .Zweifel du keinen Augenblick dran!'; Gabriel wendet sich immerhin an die Jungfrau Maria!

73

Stilmittel des Frühdeutschen

von ähnlicher H a n d ergänzt worden. Diese 7c//'a«-Exzerpte sind deutlich Teil der PG: der Glossator stellte seinen dt. Sprachführer aus mehreren Quellen zusammen, und die Sätze aus Tatian veranschaulichen die Grammatik, erweitern den Wortschatz und den idiomatischen Ausdruck: zu diesem Behufe wurde auch die Anordnung der Wörter in dem lat. Text geändert, damit die dt. Syntax einleuchtender wurde: so wird der Ausdruck gaudio magno (Tatian 244.2) zu magno gaudio, damit er zum dt. mihilemo giuehen ,mit großem Jubel' paßt. Gerade die Trivialität und die ständigen Wiederholungen des Vokabulars bestätigen die systematischen Absichten des Glossators; gelegentlich flicht er Eigenes ein, z.B. in einer Serie, die sich mit .Schwert' befaßt, Tatian 185 mitte tuum gladium in uaginam = senti thin suert in sceidun; peribunt gladio = foruuerdent in suerte [.kommen um']; cum gladiis et cum fustibus - Ir mit suerton inti mit stangon. Sein .eigener' Ausdruck: nolo rogare meum fratrem suum gladium = Neguil bittan minan brother sin suert paßt gut hinein, ganz gleich woher er stammt. Doch die Verwendung eines literarischen Textes (Tatian) als Quelle für Gesprächsausdrücke und -idiomatik untermauert Sondereggers Ansicht, 8 5 daß sogar in der (kirchlichen) Literatur jener früher Periode gesprochenes Ahd. steckt.

Kurzbibliographie Allgemeine Arbeiten zur frühdt. Literatur und Sprache sind hier angeführt, zusammen mit Lesebüchern und Lexika. Grammatiken und phonologische Studien befinden sich am Schluß von Kap. II. Studien zur frühdt. Literatur und Kultur: Baesecke (1921-52). Besch et al. II (1985). Bertau (1972). Bostock, Kind, McLintock (1976). Brinkmann (1931).

de Boor (1949/1979). Ehrismann (1932). Geuenich (1985) - bei Besch et al. 982-93. Schlosser (1977). Sonderegger (1974).

Textsammlungen und Übersetzungen: Barber (1951). Müllenhoff/Scherer (1892). Braune/Ebbinghaus Schlosser (1970). (1874-5/1979). Steinmeyer (1916). Proben der frühdt. Klosterschreibdialekte siehe Anhang B. Faksimiles: Fischer (1966). 85

Sonderegger (1971), 176-92. Vorsicht ist jedoch bei der syntaktischen Auswertung von Differenzen zwischen dem dt. Text des Tatian und dessen mutmaßlicher lat. Quelle geboten. Wegen der komplizierten textkritischen Grundlage sollte man nicht voreilig in den Abweichungen die sich aus lat. Herrschaft emanzipierende dt. Volkssyntax erblicken; vgl. Ganz (1969).

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I. Die Anfänge des .Deutschen'

Allgemeine Studien zur frühdt. Sprache: Braune/Eggers (1886/1975). Naumann/Betz (1962). Braune/Ebbinghaus (1891/1977). Sonderegger (1973). Cordes (1980). Sonderegger (1974). Und neuerdings die Arbeiten von Geuenich, Greule, Schwarz, Simmler, Sonderegger und Splett bei Besch et al. II (1985), sowie die Sammlung einschlägiger Beiträge: Bergmann (1987). Lexika: Graff (1834-46) [Index von Massmann], (Nachdr. 1963). Karg-Gasterstädt und Frings (1952 - wird fortgesetzt). Köbler (1971). Schützeichel (1969), 3. Aufl. (1981). Starck und Wells (1972 - wird fortgesetzt). Lexikalische Studien: Maurer und Rupp (1974) [mit weiterer Bibliographie]. Splett bei Besch et al. II (1985) §§81-83; 1029-38; 1043 -52.

KAPITEL

II

Die Phonologie des Frühdeutschen (Ahd.)

Prolegomena Im vorigen Kapitel haben wir den Hintergrund für das früheste Deutsch beleuchtet: Periodisierung, Beschaffenheit des uns zur Verfügung stehenden sprachlichen Materials, die mutmaßliche Stellung des Deutschen unter den germanischen Sprachen, die wichtigsten Kloster-Schreibdialekte sowie äußere und innere Einflüsse auf die Sprache. Als nächstes wenden wir uns den Hauptmerkmalen des ahd. Lautsystems und dessen markantesten Entwicklungen zu, wobei wir stets bedenken sollten, daß unsere Beschreibung und Auswertung dieses Materials einerseits von den Gegebenheiten seiner Entstehung, andererseits von dem jeweils gewählten analytischen Ansatz abhängen. Unsere Behandlung des Materials wird zwangsläufig dadurch beeinträchtigt, daß es aus verschiedenen Gebieten stammt und in manchmal inadäquater Schreibweise zu verschiedenen Zeitpunkten und für verschiedene Zwecke aufgeschrieben wurde: mit diesen Variablen in Zeit, Ort und Stil zu jonglieren, wobei die Orthographie oft wie ein Schleier vor den Augen wirkt, erfordert ein gutes Stück Glauben und einiges Geschick. Wollen wir die ahd. Phonologie chronologisch interpretieren, müssen wir also voraussetzen, daß die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Ahd. in ein zeitliches Bezugssystem gerückt werden können, wobei die Textzeugen verschiedene Stufen in der Entwicklung der .gleichen' Sprache repräsentieren. Doch die Herkunft der vorhandenen Texte aus verschiedenen geographischen Gebieten kann nicht einfach ignoriert werden: ihr Konsonantismus reflektiert die hd. Konsonantenverschiebung verschieden stark, 1 und die Vokalsysteme zeigen Unterschiede in der Diphthongierung oder Monophthongierung, oder in den unbetonten Silben schwacher Nominal- und Adj.-Deklination, wie etwa die zwischen frk. Dialekten und denen des Obd. Das Dilemma läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Können wir die Sprache der frk. /s/ h spontan und allgemein ist, war es nötig, die bezeugten Formen in zwei Gruppen zu teilen, wobei die urgerm. Grundformen *hásan/*hazán je stimmlosen und stimmhaften Spiranten haben, je nach der Stellung des dynamischen Akzents (/), der im Urgerm. beweglich war und erst im späten Urgerm. auf die erste Silbe festgelegt wurde. Wir werden sehen, daß das Vorkommen von 5 oder ζ (das sich in der Folge zu r entwickelt) somit ein bedingter Lautwandel ist. Mehrere Spiranten waren im Urgerm. davon betroffen, und das erklärt die Variation im Konsonantismus verwandter Wörter und, im Falle der starken Konjugation, sogar die in der Morphologie desselben Verbs. Vielfach wird diese .Unregelmäßigkeit' im Laufe der Zeit beseitigt; die s ~ r-Alternation, die im Prät. des Verbs ,sein' im Ahd. vorkommt, ist im heutigen Deutsch durch Ausgleich zugunsten des r ersetzt worden: cf. ahd. ih was φ wir wärun. Im Englischen bleibt die Alternation in der Orthographie erhalten; was φ were — obwohl in der englischen Standardaussprache (.received pronunciation') das r in dieser Umgebung nicht realisiert wird, außer wenn das darauf folgende Wort mit einem Vokal anfängt. Karl Verner bemerkte die Korrelationen zwischen stimmhaften Reibelauten in den germ. Sprachen und der Stellung des dynamischen Wortakzents im Sanskrit und im Griechischen. Er erkannte, daß die Betonungsverhältnisse in der Ursprache den scheinbaren Ausnahmen von der ersten Konsonantenverschiebung zugrunde liegen müssen: wenn der urieur. dynamische Akzent, der beweglich war, im leur, einem einfachen stimmlosen Verschlußlaut unmittelbar vorausgeht, dann zeigt dieser Verschlußlaut im Germ, stimmlose spirantische Reflexe; wenn der dynamische Akzent aber nicht unmittelbar vorausgeht, kommen stimmhafte Spiranten vor, die meist im Ahd. (stimmhafte) Verschlußlaute werden." Zum Beispiel: Urieur.

Urgerm. Ahd

*bhräter

*P3tér

[Grk. fréter Skr. bhrátar]

(Grk. patir Skr. pitir]

Ι 1

I

*brOpar

*faöar

I

Ι

\

bruodar

\

fater

n/

k

//>/

/ö/

i

/t/

/d/

l

Als der bewegliche dynamische Akzent in den germanischen Sprachen fest wurde und auf der ersten Silbe lag, wurden die prosodischen Faktoren, die diesen Wechsel von stimmlosen und stimmhaften Spiranten bedingten, verdeckt. Es finden sich anderswo Parallelen zu den im Vernerschen Gesetz beschriebenen Konsonantenveränderungen, wenn stimmlose und stimmhafte Spiranten dem Betonungswechsel entsprechend alternieren. z.B. im Englischen execute ['ek$ikju:t] und executor [eg'zekjutçu]. 12 Das alternierende Betonungsmuster, " Die Alternationen im modernen Dt., die sich auf die Wirkungen des Vernerschen Gesetzes

zurückführen lassen, sind: f~b (Hefe, erhaben); d~ t (schneiden, geschnitten); h~ g (gedeihen, gediegen); s~ r (genesen, ernähren). Einzelheiten bei Kluge (1883/1967). 12 Vgl. auch frz. Konj.-Formen queje fasse φ nous faisions [s] Φ [ζ]. Die Alternation zwischen dt. Hannöver [ha'nofe] gegenüber Hannoveráner [hanove'ra:ne] ist auf Ablehnung gestoßen; siehe Hans Kuhn (1964).

81

Prolegomena

dessen konsonantische Auswirkungen im Vernerschen Gesetz beschrieben sind, führte zu durchgehenden morphologischen Komplikationen, besonders bei den starken Verben (siehe S. 175-8). Die Junggrammatiker also konzentrierten sich primär auf die Lautgeschichte, speziell auf die Vorgeschichte und die Entwicklung des Lauts; nur wenn der phonetische Kontext (i.e. der Laut in seinen linearen oder ,syntagmatischen' Beziehungen zu anderen Lauten) eine evidente Unregelmäßigkeit zu erhellen vermochte, beachteten sie die lautliche Umgebung. Sie stellten ihre Ergebnisse streng in tabellarischer Form dar und griffen dabei häufig auf das Urieur. zurück. Hier dienen uns nur die kurzen Vokale als Beispiel. Überall, wo Pfeile von einem früheren ,Laut' in der Tabelle abzweigen, haben bedingende Faktoren einen begrenzteren Wandel herbeigeführt - cf. die Entwicklungen von urieur. e, i, u.

>

S Urieur.

Urgerm.

o

a

[à (ε)] "e

Λ w IX I I I ÎHI \ I ι

magadi

hëlfan

\l/ «

Ahd. gast

Ά

gesti

ë

I

«j

i

["(")]+

&

mund/ubiri [nhd. über]

r

[o (ö)]

à

i

ú

boc/oliboum [nhd. ÖlbaumJ

•Hier sind auch einige Langvokale aufgenommen, da sie im Urgerm. durch Längung von Kurzvokalen zahlenmäßig zugenommen haben (siehe unten). + Die Umlautvokale in den Klammern sind in den frühen Texten nicht angezeigt, und das umgelautete ö ist ein später oder analogischer Umlaut, der in Lehnwörtern, z.B. oli (nhd. Öl) erscheint, oder in abgeleiteten Formen, z.B. böcklln (nhd. Böcklein) von boc (nhd. Bock), oder in der neuen Pluralbildung lohhir (neben luhhir) von loh (nhd. Loch/Löcher). Siehe Braune/Eggers (1975) §32. Das Problem ist folgendes: im Urgerm. waren / « / und / o / komplementär verteilt, / u / kam vor Hochvokalen / o / vor Nicht-Hochvokalen vor; infolgedessen sollte / o / nie vor Hochvokalen vorkommen und konnte somit nicht zu / ö / mutieren. Daß es dies tut, erklärt sich durch Analogie, obgleich diese nicht immer in Kraft trat, wie Paare wie ahd. gold und das dazugehörende Adj. guldln (nhd. Gold und, veraltet, gülden .golden') zeigen: beide leiten sich von der urgerm. Wurzel *gulf> her.

Der Umlaut stellt im Ahd. einen großen Teil der Fälle bedingten Lautwandels dar, obwohl die Orthographie in den Texten dieser frühen Periode dies meistens nicht erkennen läßt. Wenn wir im Tatian die 2. Pers.Sg.Prät. thü gibuti und später mhd. dü gebüte (in den Hss. etwa gebáté) ,du gebot(e)st' vergleichen, so sehen wir in der 7a//a/i-Orthographie nichts, was auf ein umgelautetes ü hinwiese, aber einiges spricht dafür, daß der Laut nichtsdestoweniger umgelautet war. Die ahd. Langvokale ä, /, ü sind auch teilweise das Ergebnis bedingten Lautwandels:13 wenn im Urgerm. Kurzvokale einem Nasal + velarem Spiranten 13

Das neue / à / fällt mit einem anderen langen /«/-Phonem < urgerm. / œ f (manchmal auch als /&/ bezeichnet) zusammen; cf. got. nêmun gegenüber ahd. nämun, nhd. ,sie nahmen'.

II. Die Phonologie des Frühdeutschen (Ahd.)

82

[χ] vorausgingen, wurde der Vokal nasaliert und gelängt, während der nasale Konsonant selbst verschwand; dann verlor der Vokal seine nasale Qualität: kurzer Vokal + Nasal + [χ] > langer V + [χ]. Dies erklärt die ahd. Präteritalformen von .bringen' und .denken', nämlich ahd. brähta, dähta, wo die früheren Längen im Nhd. gekürzt worden sind (brachte, dachte), man vergleiche auch engl, brought, thought;14 auch die ahd. Formen fähan, hâhan zu den analogisch umgestalteten nhd. Verben .fangen', .hangen/hängen' gehören hierher ( < urgerm. *fan%an, hanxan). Der große Beitrag der Junggrammatiker liegt darin, daß sie sich gerade auf das Regelmäßige konzentriert haben. In ihren Grammatiken werden die diachronischen Entwicklungen klar dargestellt, und es wird außerdem die Plausibilität der phonetischen Basis des jeweiligen Lautwandels untersucht. Das Standardwerk f ü r die ahd. Grammatik von Wilhelm Braune führt die Phonologie auch heute noch (etwa in der von H a n s Eggers besorgten 13. Auflage, 1975) unter den einzelnen urgerm. Vokalen und Konsonanten auf. Zudem können wir, wenn wir die Entwicklung einzelner Laute ganz an den A n f a n g stellen, alle noch vorhandenen Texte der ahd. Zeit in einen chronologischen Rahmen einfügen, nach ihren progressiven Merkmalen, i.e. nach Lauten, die schließlich in spätere mhd. Dialekte oder in die moderne Standardsprache aufgenommen werden, oder nach ihren konservativen Merkmalen, nämlich Lauten, die auf ältere Texte beschränkt oder rekonstruierten Ursprachen näher sind. Vorstrukturalisten und Junggrammatiker mußten sich mit ewigen Problemen der Philologie auseinandersetzen der Sammlung und Darbietung von Daten - , bevor sie über die Sprache theoretisieren konnten. Es macht ihrer peinlichen Genauigkeit Ehre, daß das von ihnen zusammengetragene vorstrukturalistische Material noch heute immer wieder aufs neue interpretiert wird.

B. Strukturalistische Ansätze 1. Das phonemische

System

.Woher wissen wir eigentlich etwas über den Klang der dt. Sprache in den verschiedenen Stadien ihrer Geschichte?' Diese Frage hören wir oft. Anhaltspunkte für eine Antwort hierauf gibt es schon, etwa in Untersuchungen über Schreibungen und Akzente in den Hss. (Notker z.B. verwendet ein raffiniertes Akzentsystem), Reimstudien, vereinzelte Bemerkungen der Autoren (etwa Otfrids orthoepische Bemerkungen in seinem Brief an Erzbischof Liutbert) und auch die späteren Entwicklungen in den Dialekten; der Strukturalist jedoch antwortet, daß wir den Klang nie genau werden bestimmen können, - diese Frage ist für ihn ohnehin nicht so wichtig. Denn ihn interessieren die beziehungsmäßigen Aspekte der Sprache, die langue, während die phonetischen Probleme der Realisierung von .Phonemen' (siehe unten S. 8 3 - 5 ) in den Äußerungen f ü r ihn von sekundärer 14

Aengl. pencan /¡>Ohte\ Campbell (1959/1974), §753 (6) (5).

Methodische Ansätze

83

Bedeutung sind. Saussure hat die strukturellen Beziehungen in einer Sprache zu einer bestimmten Zeit mit dem Spielstand in einer Schachpartie verglichen.15 Eine andere Metapher beschreibt die historische Phonologie wie einen mittelalterlichen Bildteppich: die Farben der Fäden (= die phonetischen Werte, .Laute') mögen so ausgeblichen sein, daß sie für immer dahin sind, doch die Hirschjagd oder das erotische Stelldichein ersteht noch für uns aus dem Verlauf der Fäden, die das Gewebe - die Struktur des Bildes (= das phonemische System) ausmachen. Wir können sogar das Bild wieder nacharbeiten, indem wir in Farben, die uns richtig erscheinen, neue Fäden einsetzen, d.h. wir können eine .moderne' phonetische Interpretation liefern. (Während die strukturelle Phonologie dies nicht verlangt, wird es jedoch für die Generativisten sehr wichtig.) Indem wir die Metapher etwas strapazieren: wir haben gewisse Details des Bildes verloren, wo diese allein durch Farbwechsel, nicht durch die Richtung der Fäden übermittelt wurden: in ähnlicher Weise haben wir es mit schriftlichem Material zu tun, das nicht alle Oppositionen erkennen läßt, die wir für die gesprochene Sprache ansetzen müssen, - die .suprasegmentalen Merkmale' wie Intonation oder stilistische und .pragmatisch-situative' Aspekte.16 Der Strukturalist untersucht denn die Regelmäßigkeiten und Beziehungen hinter dem sprachlichen System - ¡angue oben (S.9-10). Diese lassen sich nur über die Realisierungsformen oder .Substanzen' der Sprache, nämlich über Rede und Schrift, wahrnehmen. Der Sprachhistoriker muß also das Verhältnis von gesprochener zu geschriebener Sprache, und das Verhältnis jeder dieser beiden zum Sprachsystem, langue feststellen, da Rede und Schrift selten .isomorph' sind,17 d.h. sie entsprechen einander nicht genau. Ehe wir das phonemische System irgendeines ahd. Textes oder Klosterdialektes erstellen, müssen wir entscheiden, welche geschriebenen Zeichen (Graphe) strukturelle Grundeinheiten (Grapheme) sind, und welche bloß orthographische Varianten (Allographe) sind. Wir erwarten schon, daß Grapheme und Phoneme einander weitgehend, obwohl nicht völlig entsprechen, z.B. wird in vielen ahd. Texten nicht zwischen dem dentalen Spiranten [ß]18 und der dentalen Affrikata [ts] unterschieden, obwohl die dahinter stehenden Laute vermutlich verschieden waren: vergleiche Tatian gi-sezzan (nhd. setzen) und gi-mezzan (nhd. gemessen), wo das gleiche Graph < zz > sowohl [ts] als auch [ß] vertritt, und Isidor dhiz (mhd. ditze, nhd. dieses) und dhazs (mhd. sa3, nhd. das), wo < z > - und -Graphe zu einander in 13 16

17 18

Saussure (1916/1973), 125ff. (Originalausgabe: S. 186ff.). Die verschiedenen Textsorten des Ahd. beruhen nicht alle auf der alltäglichen Sprechwirklichkeit: es gab vermutlich formale, kirchliche und verwaltungsmäßige orale Verwendungsweisen, .Deklamations- oder Proklamationsmodalitäten'. Dies wiederum erschwert die Hinwendung zu der phonetischen Realisierung und läßt eine strukturalistische Methodik attraktiver werden. Lyons (1968), 60. [ß] repräsentiert einen stimmlosen dentalen oder alveolaren Spiranten, der von /s/ verschieden ist, vielleicht wegen seiner Fortisartikulation. In den Ausgaben mhd. Dichtung, obwohl selten in den Hss. wird es mit dem Graph < 3 > angezeigt, z.B. mhd. w , das nur in gewählter Aussprache vorkommt und unterschiedlicher Herkunft ist; vgl. die Minimalpaare:

23

86

II. Die Phonologie des Frühdeutschen

(Ahd.)

die Aufstellung von Kurz- und Langvokalsystemen und Diphthongsystemen. Die Konsonanten werden je nach der Artikulationsstelle (labiale Konsonanten nach den Lippen, dentale palatale, velare nach den Zähnen, hartem bzw. weichem Gaumen usw.) und je nach der Artikulationsart (Verschlußlaute, Spiranten (Reibelaute), jeweils stimmhaft oder stimmlos, Affrikaten, Liquide usw.) eingeteilt und angeführt. Die sich ergebenden Lautsysteme sind statisch, zeigen nicht die Häufigkeit des Vorkommens oder Verteilung der Phoneme an, und sie sind .monosystematisch'. Die phonemische Analyse behandelt gewöhnlich Vokal- und Konsonantenphänomene und oft sogar Kurz- und Langvokalsysteme getrennt. Schließlich sind die phonetischen Werte der Laute annähernd, so daß Allophone nicht dargestellt werden, obwohl mehrere der Lautveränderungen zwischen einem Stadium der Sprachentwicklung und dem darauffolgenden allophonische Anfangsphasen haben. Allophone lassen sich jedoch in die Modelle aufnehmen, wie wir anhand der Vokalsysteme des ahd. Tatian sehen können, die in Tabelle 2 in drei ,Vokalparallelogrammen' dargestellt sind, nach den Koordinaten: vorne φ hinten; hoch f- nicht-hoch; tief φ nicht-tief. Normalerweise setzt man Phoneme zwischen Schrägstriche, die jedoch hier zur Erleichterung der graphischen Darstellung weggelassen sind. Die zusammengehörigen Allophone sind in Kästen gesetzt: während sie im Ahd. weitgehend phonetische Varianten waren, sollten sie später eine wichtige Rolle in der Morphologie spielen, wie aus Moultons Beispielen klar hervorgeht, da sie in Pl.-, Modal- und Ableitungszusammenhängen vorkommen; bis zur ,mhd.' Periode sind diese Allophone dann .phonemisiert' worden, wobei sie durch Oppositionen grammatische Formen auseinanderhalten, also morphologisch relevant sind (siehe Kap. IV). Die Allophone jedes Phonems sind durch das gleiche orthographische Symbol wiedergegeben, zu beachten ist jedoch, daß das inlautende von geste (Pl. von gast, nhd. Gäste) den Wurzelvokal orthographisch mit dem /e/-Phonem verknüpft, obwohl späteres Reimmaterial zeigt, daß die beiden Laute zu verschiedenen Phonemen gehörten. 2. Die Grundmuster phonemischen

Wandels

24

Unter anderen haben die Strukturalisten William Moulton (1961), Paul Valentin (1969) und Herbert Penzl (1971) die Veränderung des Dt. in .Diasystemen' untersucht, indem sie phonemische Systeme verglichen, die von den hauptsächlichen ahd. und späteren literarischen Dialekten konstruiert wurden. Es lassen sich mehrere Arten von Veränderungen erkennen: sie können hier nicht vollständig erörtert werden, aber wir sollten festhalten, daß sie wahrscheinlich sämtlich als ,subphonemische', i.e. als allophonische Veränderungen beginnen. Die Haupttypen sind:

24

wäre φ wehre; gäbe / gebe; Àhre Φ Ehre. Im normalisierten Mhd. werden jedoch die verschiedenen kurzen /e/-Phoneme durch den Gespanntheitsgrad auseinandergehalten: in der modernen Standardsprache werden alle Kurzvokale einheimischer Abstammung offen und ungespannt ausgesprochen; siehe unten, zum .Umlaut', S.96ff. Zur Einführung in die strukturelle und generative Beschreibung des älteren Dt., siehe die Kurzbibliographie am Ende dieses Kapitels und neuerdings die Bibliographie bei Simmler (1985).

Methodische Ansätze

87

β °

3

3 O

O :3 3 O 130 w

ä

.2

'a

u

-S

δ

s

'S

Β

a a

δ

ε e

>

.2

i

3 4-1 CO

2 Κ.

3

' S :tS

•3 X

Λ

e> it -ι

o

t> j

s

se 3 Ν

BO

00 : 3

>e

I

c •C

S

co

//. Die Phonologie des Frühdeutschen

88

(Ahd.)

(i) Phonemersatz, oder .Rephonologisierung'. Hier liegt keine Veränderung in der Struktur des Lautsystems, sondern Wandel des Systems als Ganzen vor: alle Allophone eines Phonems in Stadium A sind weiterhin in Opposition zu den Allophonen anderer Phoneme in Stadium B. Geändert hat sich lediglich die Oppositionsart, also die phonetische Realisierung der Phoneme in der Äußerung, nicht ihre Stellung innerhalb des Systems. Zunächst einmal können wir Penzls ((1974),24) Beispiel der ahd. Reflexe der urgerm. stimmlosen Spirans //>/ zitieren, die sich in den Kloserdialekten allmählich über stimmhafte Spirans zu stimmhaftem Verschlußlaut entwickelt, ohne ihre Opposition zu anderen dentalen Konsonanten zu verlieren. Wenn wir z.B. einfach den Anlaut betrachten, finden wir, daß die verschiedenen ahd. Dialekte die folgenden Oppositionen bewahren: urgerm. p ? d ? t: *pingaz (nhd. ,Ding'), *duhter (nhd. .Tochter'),

*tiòi, (nhd. .Zeit') ahd. d φ t φ z(= [ts]): ahd. (aalem.) ding, tochter, zit

Eine schematische Tabelle der ahd. Dialekte, die nur Anlaut und Inlaut behandelt, zeigt deutlich, wie die Phoneme auseinandergehalten werden (Tabelle 3). In der Tabelle ist zu beachten, daß das Symbol / ß / die dentale Spirans darstellt, die sich aus der zweiten Lautverschiebung ergeben hat, im Gegensatz zu der Affrikata [ts], geschrieben < z > . Im zehnten und elften Jahrhundert erscheint auch in rhfrk. und mfrk. Texten < t h > als < d > . Wenn, wie oft behauptet wird, die Lautverschiebung und der Wechsel von //>/ zu I d i beide im Süden beginnen und sich schrittweise nach Norden fortbewegen, dann vertraten die verschiedenen Dialektsysteme auch verschiedene chronologische Stadien, wobei die südlichen Dialekte eine neuere Phonologie aufwiesen, und die mehr nördlichen konservativ wären. Solche Modelle, die zeitliche Vorgänge an gebietsmäßiger Verteilung vorführen, sind ein weiteres Beispiel für den engen Zusammenhang zwischen den Dimensionen Zeit und Raum. Tabelle 3:

.Dentale' Phoneme im An- und Inlaut im späten neunten Jahrhundert 2 5

Urgerm.

/{)/ ani.

ini.

th-

-th-

Nord·. Nd.

Asächs.

Idi ani.

ini.

d-

-d-/-ö-

th-

'

th-

25

ani.

ini.

t-

-t-z-/[ß]

ι

-ζ-m /[β]

Ostfrk.

th d-

-d-

t-

-t-

zz--

-ζ-/[β]

Bair.

d-

-d-

t-

-t-

zz--

-ζ-/[β]

Alem.

d-

-d-

t-

-t-

zz--

-ζ-/[β]

Lgbd.

t-

-t-

d-/t-

-d-

z-

—z—/ss

{ Süd:

Iti

- ζ -

Ausführlicher zur dialektalen Distribution dieser drei Phoneme bei Sonderegger (1974),

Methodische Ansätze

89

(ii) Phonemzusammenfall. Allophone eines Phonems lassen sich nicht mehr von den Allophonen eines anderen unterscheiden, und daher fallen die Phoneme zusammen, entweder völlig, d.h. in allen Umgebungen, oder teilweise: dies scheint im Alem. des späteren Teils dieses Zeitraums geschehen zu sein, wenn wir ostfrk., z.B. Tatian (etwa 830), mit Notker (um 1000) vergleichen: Ostfrk.

Φ

(Nhd.

hier / tior hier, Tier)

Alem. < î e >

hier, tier26

(iii) Phonemspaltung. Einige Allophone eines Phonems werden selbst Phoneme und haben sich somit von den Phonemen, zu denen sie ursprünglich gehörten, abgespalten. Diese .Phonemisierung' von Allophonen wird sichtbar, wenn die sie bedingende phonetische Umgebung sich ändert. Der klassische Fall aus dem Ahd. ist der assimilatorische Wandel, der unter verschiedenen Namen als .Umlaut', 2 7 oder seltener als .Mutation', .Modifikation' bekannt ist. Im phonemischen System des Tatian (Tabelle 2, S. 87) sehen wir diverse umgelautete Allophone in Umgebungen, wo ein / folgt, z.B. zugi, holzir, noti, hati. Es findet sich keine Veränderung in der ahd. Graphie, aber mit dem dreizehnten Jahrhundert werden in den meisten Fällen die Umlautallophone durch verschiedene Symbole bezeichnet: sie sind offensichtlich phonemisiert worden, und gleichzeitig sind die unbetonten Silben, die den mutierenden Faktor enthalten, in diesem Falle den hohen Vorderzungenvokal / / / , zu einem kurzen ungespannten Vokal mittlerer Höhe / a / geworden (geschrieben < e > ) , der die Wurzelvokale wohl nicht so leicht ändert: ahd. not, noti > mhd. nôt ψ nœte zug, zugi > zuc φ züge (iv) Phonemverlust. Der völlige Schwund eines Phonems ist selten, und die in Grammatiken angeführten Beispiele lassen sich fast immer als Zusammenfall

26

27

159, 162, 172. Allerdings bedürfen herkömmliche Darstellungen der Korrektur nach den hochdifferenzierten Studien Franz Simmlers (1981), der, z.B. u.a. mit einer verfeinerten Distributionsanalyse überzeugend für Otfrids Srhfrk. auch ein Phonem /fc>/ in intervokalischer Position ansetzt, mit den Allographen < th > , < tth > (letzteres 4 mal in der Hs. P: Athesuuaz etc.) Simmler (1981), 287-9 und 380-1. An der in den ahd. Schreibdialekten bewahrten oppositionellen Verteilung der Reflexe unserer drei verschiedenen urgerm. Dentalphoneme ändert dies anscheinend wenig. In diesem Buch bedeutet ein darüber gesetzter Strich (.macron') Vokallänge, außer (1) wo der Zirkumflex dazu verwendet wird, wie in einigen ahd. Hss., z.B. bei einigen Diphthongen bei Notker, und im normalisierten Mhd., (2) in den Tabellen, wo zur Erleichterung der Graphik gelegentlich ein nachgesetzter Doppelpunkt Phonemlänge angibt, vgl. S.91. Klopstock gebraucht Umlaut als Terminus technicus sowohl für Abwandlungen der Flexionsmorphologie, wie Strom/Ströme (= .bestirnter Umlaut'), als auch für die Apophonie (oder den .Ablaut') bei den starken Verben, z.B. singen/sang (= .unbestimter Umlaut'); siehe S. 173-5. Klopstock (1774), in der Ausgabe von 1855, Bd. VIII, 169; siehe auch Baudusch-Walker (1958), 60ff.

90

II. Die Phonologie des Frühdeutschen (Ahd.)

mit einem anderen Phonem erklären, so verschwand z.B. urieur. /ä/ völlig infolge Zusammenfalls mit urieur. / ö / und ergab germ. / ö / . Im Ahd. verschwinden einige Allophone von / χ / (stimmloser velarer Spirant, < h > geschrieben), nämlich diejenigen im Anlaut vor Konsonanten; aber andere in vor-vokalischer Stellung im Anlaut bleiben erhalten; vergleiche: ahd. hlahhen h was hntgan aber: hant

> lahhen (nhd. lachen) > wa3 (nhd. was) > nfgan (nhd. neigen) > hant

(nhd. Hand)

Soweit die Veränderung von Einzelheiten im phonemischen System. Die Fortschritte gegenüber der Phonologie der Junggrammatiker finden wir in der Behandlung von Veränderungen im System selbst. Zwei Voraussetzungen sind hier wichtig: daß Lautsysteme eine begrenzte Anzahl von Phonemen haben und daß diese in ihrer Verteilung im System symmetrisch oder ausbalanciert sind. Sparsamkeit (.Ökonomie') und Ausgewogenheit liefern die Basis für ein konstantes Phoneminventar, und die .Überbelastung' irgendeiner phonemischen Opposition, oder das Vorhandensein mehrerer Phoneme, die phonetisch einander zu ähnlich sind, können eine Änderung des Systems verursachen. Unter .Sparsamkeit', .Überbelastung' und .Ausgewogenheit' in einem Lautsystem mögen wir verschiedene Dinge verstehen, aber Ausdrücke dieser Art können benutzt werden, um Veränderungen zu interpretieren, wenn diese bereits geschehen sind. Allerdings sollten wir sie nur mit größter Vorsicht gebrauchen, um eine Veränderung vorauszusagen. Zu betonen ist ebenfalls, daß diese rein sprachinterne Methode andere Faktoren des Sprachwandels, wie z.B. Veränderungen in der materiellen Welt der Sprechenden, nicht berücksichtigt. Auch reicht die Ausgewogenheit anscheinend nicht, um Veränderungen aufzuhalten, denn wenn wir von den umgelauteten Allophonen im Ahd. (ostfrk. Typs) absehen, finden wir ein .ausbalanciertes' Vokalsystem, das fünf Monophthonge, entweder kurz oder lang, und sechs Diphthonge, vier relativ hoch und zwei nicht-hoch, enthält: (-)

(-)

//•/

/u/

/iu/

/uo/ /ie/ /io/

(-)

(-)

/e/

/0/

/ei/

/ou/

(-)

/a/ Die Phonemisierung der Umlautallophone verursachte eine Unausgewogenheit im ahd. System, besonders dadurch, daß drei e-Phoneme geschaffen und im Monophthong-System das binäre System des Kontraste von vorne φ hinten in ein .Dreier'-System umgewandelt wurde, in dem zwei Vorderzungenphoneme durch Lippenrundung opponiert wurden, z.B.

Methodische

91

Ansätze

Vorne ahd. Langvokale

//;/

Hinten ? /«:/

ahd. sigan í sügis, sügan ahd. Kurzvokale

///

ψ /u/

Vorne

Hinten

>

mhd. / / : /

>

mhd. stgen ψ siuges(t) ψ sûgen

>

mhd. / / /

ahd. kinde ψ kundf, kunda >

t /«:/ t /«/

mhd. kinde ψ künde

t /«·'/ ψ tu/ ψ

künde28

Die manifeste Symmetrie des ahd. Systems wurde im Mhd. anscheinend zugunsten eines .schiefen' Systems aufgegeben. Während wir schwer sagen können, worin die .Ausgewogenheit' eines Vokal- oder Konsonantensystems liegt, können wir bisweilen Lücken im Muster sehen und die Auswirkungen einer radikalen Störung auf das System beobachten, wenn wir diese auch nicht voraussagen können. Von André Martinet 29 stammt der Gedanke, daß Lücken in einem Phonemsystem als Vakuum wirken und Allophone eines benachbarten Phonems anziehen können, so daß ein neues Phonem entsteht. Dies bezeichnet er mit chaîne de traction (dt. ,Sog'), und es ruft durch das ganze Phonemsystem hindurch eine Kettenreaktion hervor. Wenn, umgekehrt, neue Elemente in ein stabiles System eingeführt werden, können sie dem System die Stabilität nehmen, sich als Schub auf weitere Phoneme auswirken und veranlassen, daß diese ihre Realisierung verändern: dies wiederum kann auf weitere Phoneme wirken. Martinet nennt dies eine chaîne de propulsion (dt. ,Schub'). Der ,Schub-Effekt' erklärt sich durch (unbewußtes) Vermeiden von phonemischem Zusammenfall auf Seiten der Sprecher, da Phonemzusammenfall zum Verlust wichtiger phonemischer Oppositionen führen kann, derart, daß viele Wörter gleich lauten, d.h. homonym werden.30 Was nun eigentlich die Entstabilisierung des Systems ausgelöst hat, läßt sich gewöhnlich nicht feststellen. Moulton (1961), 19, stellt ein vordt. (,urdt.') Langvokalsystem auf, um zu zeigen, wie die Monophthongierungen einen Druck auf bestehende Vokale ausübten:

28

29 30

Triadische Oppositionen sind bei den Langvokalen im Mhd. schwer auffindbar: ahd. srgan = .sinken' vgl. nhd. seihen, Seiger; ahd. sügan, sügis = .saugen', ,du saugst'. Die kurzvokalischen Oppositionen sind häufiger: kinde = Dat. Sg. von kind ; kundî,Künde' (vgl. ahd. gotkundî = lat. divinitas); kunda = Sg. Prät. von kunnan; nhd. können. Immerhin sind die Dreierreihen nicht aus der Beschreibung der Vokalsysteme des älteren Dt. wegzudenken - sie spielen auch bei der ,nhd. Diphthongierung' noch eine Rolle (siehe Kap. III), auch wenn die binäre Opposition zwischen Phonemen grundlegend bleibt. Die meisten dt. Dialekte haben z.B. - schon zu mhd. Zeit, wie Reimstudien zeigen - die drei kurzen /^/-Phoneme des mhd. Lautsystems vereinfacht - die moderne Standardsprache bewahrt nur ein kurzes /e/-Phonem in der Tonsilbe einheimischer Wörter, geschrieben < e > und < ä > . Siehe weiter unten. Martinet (1955), 59-62. Ganz so homonymfeindlich sind manche Sprachen nicht, da Homonyme durch den Kontext meistens geschieden werden: das Frz. duldet z.B. ô, haut, hauts, eau, eaux, au, aux, aulx, o (= der Buchstabe) - alle mit der Aussprache [o].

92

II. Die Phonologie des Frühdeutschen Vor-ahd. Langvokalentwicklungen:

\ ai

J

ü

è

/ o

(Ahd.)

,Schub' oder ,Sog'?

uo

Ν

au

Die Monophthongierung von /ai/ und /au/ schafft neue Langvokale, und die bereits existierenden langen / £ / und / ö / diphthongieren. Die abstrakten Verschiebungen im System mögen mit äußeren Faktoren zusammenhängen: ihre mutmaßliche Ausbreitung läßt sich kartographisch darstellen und eventuell mit fremdem Einfluß verknüpfen. Dialektgeographie und Sprachgeschichte werden so von der diachronen Phonologie herangezogen, um die ahd. Diphthongierungen zu .erklären'. Während ein solches Erklärungsvorhaben problematisch bleiben muß, wird uns dadurch bewußt gemacht, daß die Geschichte einer Sprache das Verhalten der Sprachgemeinschaft wiederspiegelt. Moulton glaubt, daß die Monophthongierung vom Norden her kommt und sich nach Süden hin ausbreitet, da sie sich weniger auf die ahd. Dialekte auswirkt als auf das nördlichere Aengl., Asächs.: denn im Ahd. haben sich beide ,alten' Diphthonge aufgespalten, wie in den folgenden Formeln beschrieben wird: ...

.

f £ vor Irl, Ihl urgerm. / χ / , und im Auslaut ei sonst urgerm. *maiz- > ahd. mër, urgerm. *hail- > ahd. heilant; vgl. asächs. mér; heliand ; nhd. mehr; Heiland

,„. , 0 vor Dentalen, urgerm. / χΛ / , und im Auslaut B (2) au—ζ . ^ ou sonst urgerm. *brauda- > ahd. bröt; urgerm. *baum- > ahd. boum; vgl. asächs. brOd; böm ; nhd. Brot; Baum

Aber die alten Langvokale diphthongieren in dem Maße, wie die /ai/- und / a u / Diphthonge monophthongieren - soweit die Texte uns dies erkennen lassen. Diachronisch gesehen haben diese ,alten' Langvokale / ¿ / und 1 0 / sehr verschiedenen Ursprung, aber sie machen parallele Entwicklungen durch - und auch das moderne Dt. hat in beiden Fällen langen Monophthong: z.B. / / : / , / « : / : hieß, gut. Eine Interpretation im Sinne der ,Schub'-Theorie läßt sich jedoch nicht leicht mit den sprachexternen Gegebenheiten in Einklang bringen: wir haben im Kapitel I schon gesehen, daß der lexikalische Einfluß des Aengl. auf das Ahd. nur sehr gering ist, und es scheint kein deutlicher asächs. Einfluß vorzuliegen (eher umgekehrt: Einfluß des Frk. auf das Asächs.): warum sollte die Monophthongierung von diesen Dialekten her ,sich südwärts bewegt' haben? Welches war denn das natürliche Ausbreitungsvehikel? Das Aengl. verfährt mit den urgerm. Diphthongen /ai/ und /au/ ohnehin anders: sie entwickeln sich zu / ä / , bzw. lèal. Überdies sehen wir in literarischem Asächs. ( H ë l i a n d y 1 vielfach 31

Münchener Hs.

93

Methodische Ansätze

einen Zusammenfall von urgerm. /ai/ und / £ / > / £ / und von urgerm. /au/ und / ö / > /fl/. Man denke an den Gegensatz von: asächs. mër, hêliand, hêt vs. ahd. mër ψ heilant ψ hie¡ (nhd. hieß) bròd, bòm, mòdar bröt ψ boum ? muoter (nhd. Mutter) Man könnte auch versucht sein, an eine Verbindung von ,afrz.' und ahd. Diphthongierung zu denken (siehe oben S.54). Zwar erscheint das eine Monophthongierung bezeugende Material zuerst in den Texten, doch ließe sich argumentieren, daß wir, wenn irgendein gallo-romanischer Einfluß auf und durch die frk. Dialekte vorläge, ein Beispiel für ,Sog' haben würden. Nach dieser These hätten die älteren Monophthonge / £ / und / ö / infolge Diphthongierung Lücken im Langvokalsystem hinterlassen, welche die Diphthonge /ai/ und /au/ dann mit einigen ihren Allophone wieder ausfüllten. Weiter umgeht diese Interpretation die Notwendigkeit, einen nicht nachgewiesenen asächs. Einfluß auf sämtliche ahd. Schreibdialekte anzunehmen, wohingegen frk. Einfluß auf das Alem., Bair. und vor allem auf das Asächs. - ohnehin historisch plausibel - tatsächlich festgestellt worden ist. Wie dem auch sei: weder die ,Schub'- noch ,Sog'-Lösungen der so rätselhaften ahd. Diphthongierung überzeugen voll und ganz. Doch die strukturalistische Ansicht, daß Neuordnungen innerhalb eines Lautsystems aus der Veränderung auch eines Teils dieses Systems herrühren, gestattet wenigstens eine zusammenhängende Darstellung der Auswirkungen von Lautwandeln, selbst wenn diese noch nicht deren Ursachen ausmacht. Wenn wir also nicht genau sagen können, wie diese ahd. Diphthongierung und Monophthongierung zusammenhängen, so können wir doch sehen, daß ihre parallele Entwicklung sich stark auf die Morphologie der starken Verben auswirkt (S. 175-9). Die strukturelle ,Schub-Sog-Kette' kann auch auf das ahd. Konsonantensystem angewandt werden (Penzl (1975), 84-6). Als die vor-ahd. stimmlosen Verschlußlaute /p, t, k/ infolge der zweiten Lautverschiebung Spiranten oder Affrikaten werden (siehe Anhang A), entstehen Lücken im System. Die stimmhaften Verschlußlaute /b, d, g/ in den südlichen Dialekten, Alem. und Bair., verschieben sich in einigen Umgebungen zu stimmlosen.32 Dies kann, im Falle von Dentalen zur Weiterverschiebung von urgerm. /p/ zu /d/ führen. Wenn wir wieder die Tabelle für die dentalen Phoneme (Tabelle 3, S. 88) betrachten, können wir die Veränderungen folgendermaßen darstellen: (1) vor-ahd. t

7

\

tS

33

(2) daher vor-ahd. d~* t (3) dann

d.

Jedoch scheint es zunächst, daß solche gegenseitige Abhängigkeit in den frk. Dialekten fehlt, denn sowohl das Mfrk. als auch das Rhfrk. verschieben im 32

Der Wandel von /p, t, k/ zu Spiranten und Affrikaten hob vermutlich gleichzeitig die Stimmhaftigkeitskorrelation auf und ermöglichte dadurch die Änderung der stimmhaften Verschlußlaute.

94

II. Die Phonologie des Frühdeutschen (Ahd.)

späten ahd. p > d, führen somit einen Zusammenfall mit Allophonen des bereits vorhandenen !d/ (von urgerm. /Ô/) herbei. Nichtsdestoweniger vertritt Penzl (1975), 86, die Ansicht, daß in diesen beiden Dialekten und im Südrhfrk. ein Druck bestehe, die < t h > geschriebene Spirans zu beseitigen, weil die dentalalveolare Artikulationsstelle überbelastet ist, mit Spiranten und Affrikaten von der zweiten Lautverschiebung, sowie mit Reflexen der urgerm. Spirans /s/, was die folgenden phonetisch dicht bei einander liegenden Phoneme ergibt: /th/, /ts/, / ß / , /s/. Die nd. Dialekte, denen die Affrikaten und Spiranten natürlich fehlen, behielten das spirantale /th/ länger, da auf diesem Teil des Systems kein so starker Druck bestand. So könnten wohl Sog für hd. und Schub für die md. Dialekte eine sprachinterne Erklärung der Konsonantenverschiebungen herstellen: in beiden Fällen führt die Entwicklung der zweiten Lautverschiebung vor-ahd. stimmloser Verschlußlaute zu einer Neuverteilung der Konsonantenphoneme in den Lautsystemen der ahd. Klosterdialekte.

C. Ansätze der generativen

Grammatik

Vertreter der generativen Grammatik untersuchen, wie Äußerungen hervorgebracht und interpretiert werden, entsprechend zugrunde liegenden Grundmustern oder .Tiefenstrukturen' und den Regeln für diese. Der historische Generativist theoretisiert über Veränderungen in den Regeln und in der Tiefenstruktur, muß jedoch seine Hypothesen auf das begrenzt verfügbare Material an Oberflächenstrukturen beschränken. Für das Ahd. ist solches Material quantitativ und vor allem qualitativ begrenzt: denn wir haben keinen Zugang zur sprachlichen Intuition (Sprachgefühl) des Ahd.-Sprechenden. Überdies sehen die Frühformen der generativen Theorie von der sprachl. Variation ab, die sich aus geographischen und sozialen Faktoren ergibt, was die geschichtliche Anwendbarkeit dieses Ansatzes erheblich beeinträchtigt. Insbesondere die Merkmalsmischung vieler früher Texte gehört in eine mehr pragmatische Analyse der Sprache, und sie läßt sich nicht in strenge generative Regeln fassen. Voyles (1976), 17f. greift zu unverbindlichen oder »fakultativen Regeln' (.optional rules'), um zu erklären, warum wir es mit gemischten Texten zu tun haben und inwiefern die zweite Lautverschiebung in verschiedenen Dialekten unterschiedlich verteilt sein kann. Aber das bezieht Verschriftlichungs- und Abschreibefaktoren nicht mit ein, wie etwa den bewußten Gebrauch von .Kompromißschreibungen', die über ein weiteres Gebiet hin verstanden werden konnten als nur lokal begrenzte es wären. Eine strukturalistische Theorie ist dagegen deutlicher deskriptiv und stellt gemischte Merkmale transparenter dar, weil sie sich nicht unbedingt auf sprachinterne Erklärungen beschränkt. 33

33

Um die Schwierigkeit der Datenbereinigung kommt keine Analyse des Ahd. herum; so spiegelt die Inadäquatheit der generativen Studien gegenüber etwa Dialekt, Stil oder sprachexternen Modalitäten die Vorliebe der meisten Generativisten für eher logische oder philosophische Fragestellungen als für Pragmatisches wider.

95

Methodische Ansätze

Hier können und sollen nicht alle Grammatikmodelle und deren Verfeinerungen (vor allem in der generativen Transformationstheorie) erörtert werden, ebensowenig die Sprachwandelmechanismen, mit denen dort am häufigsten operiert wird, nämlich: Regelhinzufügung, Regelverlust und Umstrukturierung der Tiefenstruktur. Die Grundeinstellung der generativen Methode zur Phonologie jedoch ist hier wichtig. Während der Strukturalist, wie wir gesehen haben (S. 82-6), seine Phoneme nach den distinktiven, sie charakterisierenden Merkmalen in Systeme einteilt und einordnet, verlegt der Generativist den sprachlichen Oppositionsmechanismus in die distinktiven Merkmale selbst, also auf subphonemische Ebene. Daß die distinktiven Merkmale gebündelt als Phoneme des Strukturalisten auftreten können, ist völlig sekundär: z.B., wo der Strukturalist zwischen Notkers scado (nhd. Schaden) und scato (nhd. Schatten) durch die Phonemopposition zwischen /d/ φ /t/ unterscheidet, sieht der Generativist die Hauptopposition als [+ stimmhaft] vs. [ - stimmhaft]; die anderen distinktiven Merkmale (etwa: [+ konsonantisch], [+ anterior], [+ koronal] etc.) sind von zweitrangiger Bedeutung. Die in Äußerungen vorkommenden Segmente, oder die dahinter stehenden Abstraktionen, können als ein Inventar von distinktiven Merkmalen aufgeführt werden, wie von Voyles (1976), 30f. gezeigt wird, aber praktisch werden nur die Merkmale beschrieben, die bei der Anwendung einer bestimmten Regel relevant sind. Daß Veränderung in nur einem distinktiven Merkmal sich auf Segmente in Wörtern und Wortgruppen auswirken kann, wird an einfachen Beispielen wie men Φ bed oder meine Beine Φ beide, beide deutlich: wir brauchen nur die Nasalität zu tilgen - etwa infolge des guten alten Schnupfens - , um das eine in das andere zu verwandeln. Formaler ausgedrückt lautet die generative Formulierung: [+ nasal]

• [ - nasal] / ... jin Umgebung x, y, z j

Die generative Phonologie liefert somit ein besseres Modell für den Artikulationsprozeß, der bei der Kommunikation mit im Spiele ist, und in dieser Hinsicht scheint sie weniger künstlich als die strukturellen Lautsysteme. Außerdem lassen sich die Unterscheidungen zwischen Vokal- und Konsonantensystemen beseitigen, indem mit distinktiven Merkmalen operiert wird, von denen einige, wie Stimmhaftigkeit, beiden gemein sind. Auch im diachronen Zusammenhang lassen sich Lautwandel durch Veränderungen in einzelnen distinktiven Merkmalen, die sich auf mehrere .Phoneme' (im Sinne von ,Merkmalbündel') auswirken, überzeugend .erklären'; ein frühes Beispiel für diesen Ansatz findet sich in Jean Fourquets Arbeit über die erste und zweite Lautverschiebung.34 Den Vor-Strukturalisten, sofern sie überhaupt schwierige Themen, wie Intensität, Intonation und Tonhöhe, die sich auf Wortgruppen auswirken können, berücksichtigten, unterlief auch nicht der Fehler, die Phonologie als ein autonomes, geschlossenes System aufzufassen, das unabhängig von höheren Ebenen wie Morphologie und Syntax wäre. Auch in einer anderen Hinsicht kehren die Generativisten zur vorstrukturalistischen Linguistik zurück, denn, weil sie sich auf distinktive Merkmale konzentrieren, 34

Fourquet (1948).

96

II. Die Phonologie des Frühdeutschen (Ahd.)

müssen sie sich mit phonetischen Werten beschäftigen. Sie gehen von einer Reihe von .kanonischen', i.e. universalen distinktiven Merkmalen aus, die für Lautsysteme in verschiedenen Sprachen sowie für die Lautsysteme einer und derselben Sprache auf verschiedenen Entwicklungsstufen gelten. Diese induktive Methodik setzt die historischen Generativisten dem Vorwurf aus, sie würden sich mit ihrer Argumentation im Kreise bewegen - bestimmte distinktive Merkmale den Elementen auf beiden Seiten ihrer Gleichungen willkürlich beilegen, um Verschiebungen an Lauteinheiten aufzuzeigen, deren tatsächlichen phonetischen Wert sie nicht kennen können. Für den Sprachhistoriker ist ein tiefergehender Vorbehalt dem Generativismus gegenüber der, daß er unterschätzt, wie sehr die Sprecher sich der Einheiten bewußt sind, die verwandt, wenn nicht sogar identisch mit Phonemen sind, welche die Basis für die Schreibungen abgeben, die den Ausgangspunkt der historischen Analyse markieren. Zugegeben, selbst im Hinblick auf die moderne gesprochene Sprache kann argumentiert werden, daß die Art und Weise, wie die Sprache funktioniert, nicht mit dem, was der Sprecher sich diesbezüglich vorstellt, übereinzustimmen braucht. Aber während die generativistische Darstellung phonologischen Wandels rigoros ist und eine quasi mathematische Transparenz besitzt, bleibt sie doch meistens letztlich auf die alten junggrammatischen philologischen Daten angewiesen, und ihre Erklärungen sind oft bloß Beschreibungen. In solchen Beschreibungen leisten die sehr künstlichen strukturellen Modelle mehr. Die Erkenntnisse der Generativisten erinnern uns jedoch daran, daß die Sprache ein Prozeß (nach Humboldt eine Tätigkeit - vgl. oben, Einleitung, S. 14-15) ist, und dazu einer, in dem die Phonologie die Handlangerin höherer Ebenen ist, nämlich der Syntax und der Semantik. Bisher haben wir einige Probleme der ahd. Phonologie im Lichte verschiedener methodischer Ansätze gesehen: es ist aufschlußreich, kurz die drei Ansichten über eine Reihe wichtiger Veränderungen, nämlich über den ahd. Umlaut, einander gegenüberzustellen. D. Verschiedene Behandlungen des ahd. Umlauts 35 1. Vor- oder nicht-strukturalistische

Ansätze

Umlaut, die Umänderung eines Vokals, ist in vor-strukturellem Sprachgebrauch ein kombinatorischer Lautwandel, der die teilweise oder völlige Assimilation eines Vokals an einen Laut in einer folgenden Silbe bezeichnet. Im Ahd. kommt der Wandel von a > e (ein geschlossener, ziemlich hoher Laut) vor den palatalen Lauten von langem und kurzem i/r und j in bestimmten Umgebungen in den frühesten Texten und in allen hd. Dialekten vor: es bedeutet, daß das a höher und weiter vorn artikuliert wird - eine .Palatalisierung' 36 und läßt sich vereinfachend 35 36

Braune/Eggers (1975), §51, S . 5 4 - 6 . Zu den vor-strukturalistischen Erklärungen des Umlauts im einzelnen siehe Sonderegger (1959). Neuerdings zum Umlaut im Hinblick auf das Mhd.: Simmler (1985) §96, 1129-38, bes. 1131-2. Stricto sensu beinhaltet .Palatalisierung' die Vorverlagerung der

Methodische Ansätze

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als assimilatorische Veränderung auffassen: ob nun primär psychisch oder physisch, eine artikulatorische ,Hürde' wird genommen, indem die Zungenbewegung von tiefem a zu hohem i etc. der Folgesilbe schon beim Artikulieren der Tonsilbe vorweggenommen wird, d.h. vor-ahd. *falljan > ahd. feilen (nhd. fällen)·, vor-ahd. *tragit > ahd. tregit (nhd. trägt). Die ältere Forschung bezeichnete diesen Wandel mit .Primärumlaut'. 37 .Sekundärer' Umlaut ist der anscheinend spätere Wandel des α-Vokals zu einem anderen offeneren (tieferen) e-Laut in jenen Umgebungen, wo i / j (1) nicht unmittelbar, sondern erst in der übernächsten Silbe folgte, z.B. ahd. magadi, frafali (nhd. Mägde, Frevel (PI.)); oder (2) nach bestimmten Konsonantenverbindungen folgte - insbesondere Velaren (etwa -hs, -ht) - , die der palatalisierenden Wirkung der hohen Laute entgegenwirken, z.B. ahd. wahsit, mahtl. Bis zur ,mhd. Zeit' war das /a/ in diesen Umgebungen ebenfalls, obwohl ein viel offeneres, /e/ [ε] geworden, das in normalisierten Grammatiken als < ä > geschrieben wird, z.B. mägede (nhd. Mägde), vrävel (nhd. Frevel), wähset (nhd. wächst), mähte (nhd. Mächte), während die Hss. oft einfach ein Graph < e > zeigen, weniger häufig < ae > oder < â > . Auf eine andere phonetische Qualität dieses sekundären Umlauts des / a / wird aus Reimstudien, späteren Dialektuntersuchungen u.a.m. geschlossen. Die anderen ahd. Vokale, nämlich o, u, langes ö, ü, ä und die Diphthonge uo, ou zeigen im späten Ahd. und im Mhd. 38 ebenfalls Umlaut, angefangen mit Notkers

37

38

Artikulation in den Bereich des harten Gaumens gerade hinter dem Zahndamm (Zahntaschen oder Alveolen). Die Vokale dieser Artikulierungsstelle sind hoch und geschlossen, die palatalisierten Konsonanten sind meistens mehr oder weniger affriziert. So hat man auch gemeint, die auf den Umlautvokal folgende Konsonanz würde zuerst palatalisiert, was sich dann auf den vorangehenden Vokal übertrüge. Auch die romanischen Sprachen zeigen palatalisierten Konsonanten vor hohen Vokalen, was wiederum an katalytische Beeinflussung in der Beziehung zwischen dem Romanischen und dem Dt. denken ließe. Der Umlaut bezeichnet auch andere Assimilationsprozesse, wie z.B. die Senkung eines Vokals in der Tonsilbe vor tiefem Vokal der Folgesilbe. So soll dem Verlust des urieur. kurzen o in den germ. Sprachen (wo er zu a wurde) durch den Umlaut wieder abgeholfen worden sein: z.B. urgerm. *wulfaz > ahd. wolf; urgerm. *duxtir > ahd. tohter (nhd. Tochter). Auch bei dem Primärumlaut schwanken die Hss. sehr zwischen den Graphen < e > und < a > : siehe Schatz (1927), §§47-50. Störfaktoren, die der rein phonetisch-phonematischen Entwicklung entgegenwirken, sind u.a.: (1) traditionelle Schreibung - damit verbunden auch die Schwankung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache; (2) dialektale Variation - der Umlaut ist in süddt. Dialekten weniger entwickelt; (3) paradigmatische Analogie - nicht-umgelautete Formen eines Verb- oder Nominalparadigmas ersetzen die zu erwartenden Umlautformen, z.B. wird ahd. Gen. Sg. henin > hanin, vielleicht durch Analogie mit dem Nom. Sg. hano (nhd. Hahn). Manchmal wird auch für den Diphthong iu eine umgelautete Form angenommen (etwa liuti, so von Moulton: vgl. oben Tabelle 2. (S.87), z.B. in liuti = nhd. Leute). Es gibt aber keine orthographischen Hinweise auf einen solchen Laut im Ahd., noch spielen umgelautete Formen des Vokals bei der Umgestaltung des Lautsystems eine eindeutige Rolle: außer sie erleichterten den Zusammenfall des .alten' Diphthongs iu mit den Reflexen des .neuen' umgelauteten langen ü:, der ja in mhd. Hss. auch mitunter mit dem Graph < i u > wiedergegeben wird.

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hiuser < hüsir, PI. von hüs (nhd. Haus), wo das Graph < iu > langes umgelautetes ü (phonetisch [y:]) bezeichnet - diese diphthongierte Schreibung entsteht, weil der alte Diphthong iu anscheinend im späten Ahd. monophthongiert und mit dem neuen umgelauteten ü zusammengefallen ist, so konnte das Schriftbild des ehemaligen Diphthongs für den neuen umgelauteten Langvokal übernommen werden. Trotz der bezeugten Schreibungen überzeugen Versuche, zwei Umlautperioden, eine primäre und eine sekundäre, aufzustellen, aus verschiedenen Gründen auch weiterhin nicht. Erstens waren bis zum dreizehnten Jahrhundert die Umlautfaktoren //, î, j/ in unbetonten Silben sämtlich in den meisten Schreibdialekten zu einem ungespannten mittleren zentralen .Murmelvokal' (,Schwa') abgeschwächt, der oft mit dem Graph < e > geschrieben wird. Es ist von vornherein weniger wahrscheinlich, daß dieser sich ergebende mittlere zentrale Murmelvokal Umlaut hervorgerufen hätte, als daß die hohen Vorderzungenvokale i/I, bzw. der präpalatale, mediodorsale j, die er ersetzte, dies bewirkten; denn seine Artikulation war weniger extrem als zuvor. Zweitens geben späte Lehnwörter aus anderen Sprachen ein sehr unsicheres Zeugnis für eine kontinuierliche, oder sekundäre Umlautphase ab, da ihre Lautung der dt. angeglichen wird; Grenze, im dreizehnten Jahrhundert aus dem Slawischen entlehnt, zeigt weder Umlaut noch die zweite Lautverschiebung. 39 Die Annahme, daß die Schreiber sich erst in der späteren mittelalterlichen Periode eine passende Umlautnotation ausdachten, überzeugt nicht: denn zum Beispiel im ahd. Isidor oder in Notkers Schriften haben wir es mit ausgefeilten Rechtschreibungssystemen zu tun. Aber das Zugeständnis, daß Umlaut in größerem Ausmaß in der ahd. Zeit vorhanden gewesen sein kann, war ein guter Ansatz, der von den Strukturalisten weiter entwickelt wurde. 2. Die strukturalistische Ansicht Dem phonemischen Ansatz zum Umlaut zufolge40 hatten alle betonten Vokale außer dem palatalen /i, î (j)/ gehobene oder palatalisierte Allophone, aber diese zeigen sich in den Texten nur, wenn sie Phoneme geworden, also .phonemisiert worden' sind. Für die meisten Vokale heißt das: wenn die unbetonten Silben, die Umlaut bedingende Faktoren enthalten, zu Schwa ([a]) abgeschwächt sind. Also spiegelten gerade zu der Zeit, als die Oppositionen zwischen Phonemen in unbetonten Silben - die wichtig waren, da sie Informationen über Kasus- oder Modus-Formen oder Personenendungen enthielten - neutralisiert wurden, die betonten Silben kraft der neuen Umlaut-Phoneme doch noch einige Oppositionen wider. Diese neuen Umlautphoneme signalisierten gleichzeitig tiefgreifende morphologische Entwicklungen in der mhd. Periode und danach (siehe Kap. IV). 39

40

Waterman (1966), 86, führt dieses Beispiel an, aber es handelt sich eher um den .Lautersatz': das Lehnwort stammt aus dem Polnischen (graniCa). Grenze weist in der ersten Silbe < e > auf, um den unbetonten poln. a wiederzugeben und < z > für poln. i. Mit der Übernahme des Worts ins Omd. verlagerte sich die Betonung auf die erste Silbe. Twaddell (1938); Penzl (1949).

Methodische

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Ansätze

Das kurze lai unterscheidet sich jedoch von anderen Phonemen insofern, als es drei Gruppen von Allophonen besitzt: (1) e vor Ii, ι, jl: vor-ahd. 'gasti > ahd. gesti (mhd. geste) (2) ä vor Ihsl, Ihtl, oder dazwischen stehende Silbe + Ii, i, jl·. ahd. wahsit > *wähsit (mhd. wehset); ahd. magadi > mägädi (mhd. megede, nhd. Mägde) (3) a anderswo: ahd. magad (mhd. maget, nhd. Magd)

Die geschlossenen p-Allophone des Phonems l a i wurden alsdann dem Phonem lei zugeordnet, welches sonst nur offene Allophone hatte (in den Grammatiken oft < ë > geschrieben). Urgerm. kurzes lei wurde entweder vor palatalen Lauten (/, j, Nasal +

Kons.)

zu / / / gehoben oder es blieb sonst vor mittleren und tiefen Vokalen la, o, e/. Das bedeutet, daß das vor-ahd. kurze /¿/-Phonem vor den Umgebungen, die Allophone von lai zu lei heben, gewöhnlich nicht vorkommt, also nichtkontrastiv verteilt ist. urgerm.

*nëmandi > ahd. nëmant ,sie nehmen' *nëmisi > nimis ,du nimmst'

aber: vor-ahd. *lambir

>

lembir .Lämmer'

Daher sind ahd. lèi und das umgelautete Allophon ç < lai nie in Opposition und können als in komplementärer Verteilung, i.e. zum gleichen Phonem gehörend, angesehen werden. 41 Jedenfalls ist es klar, daß die frühe .Phonologisierung' (i.e. Phonemisierung) von lai > lei im Ahd. nicht so sehr auf dem Schwinden der Umlautbedingungen beruht, da diese in den Endsilben oft noch sichtbar sind, z.B. tregit, lembir (nhd. trägt, Lämmer),*1 sondern vielmehr auf phonetischer Ähnlichkeit mit den Allophonen des /¿/-Phonems. Zudem mag Symmetrie eine Rolle gespielt haben, da ahd. lai das einzige Phonem mit drei AllophonGruppen gewesen wäre; alle anderen haben eine umgelautete und eine nicht umgelautete Gruppe. So sind vielleicht Ähnlichkeit mit dem /¿/-Phonem, praktisch 41

42

Ahd. lei tritt auch vor Iii auf: felis, gëstirn, ëbin (nhd. Fels, gestern, eben), jedoch resultiert dies zumeist aus morphologischer Interferenz in der Phonologie; z.B. ahd. sëhs (nhd. sechs) mit der flektierten PI.-Form sehsi, mit gespanntem, geschlossenem [e] (Paul (1881/1969, 18 Anm. 3); siehe auch Marchand (1956), bes. 86. Auch weisen Lehnwörter e vor Iii der Folgesilbe auf, obwohl sie, wie wir gesehen haben, für die Phonologie nicht unbedingt zuverlässige Information abgeben; z.B. ahd. belliz < mlat. pellicia .Pelzmantel'. Wenn solche Lehnwörter höhere und geschlossenere Allophone aufwiesen als diejenigen, die normalerweise das /¿/-Phonem vertreten, hätte dies den Zusammenfall der gehobenen lei-Allophone von lai mit dem /ë/-Phonem noch wahrscheinlicher gemacht. Ein handliches Minimalpaar (zwei sprachl. Formen, die durch nur eine Phonemopposition auseinandergehalten werden), das den Primär- und Sekundär-Umlaut veranschaulicht, ist: vor-ahd. *salida (.Herberge') — » ahd. selida > mhd. selde *sälida (.Seeligkeit, Heil') • ahd. salida > mhd. scelde Das Graph < a e > gibt einen langen, offenen umgelauteten [e.]-Vokal an.

II. Die Phonologie des Frühdeutschen

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(Ahd.)

komplementäre Verteilung und Unausgewogenheit im Allophoninventar u.a. die Gründe dafür gewesen, daß einige Allophone von ahd. / a / sich in der vorliterarischen Periode dem /ë/-Phonem anschlossen. Insoweit als dies die früheste orthographisch erkennbare strukturelle Veränderung ist, die durch die Phonologisierung der Allophon-Varianten von ahd. Phonemen verursacht wurde, kann es tatsächlich .primärer Umlaut' genannt werden.43 Doch da, nach Antonsen, 44 kein Grund vorliegt, warum die allophonischen Werte, die durch palatale Laute bedingt sind, nicht bereits im Urgerm. existiert haben sollten, ist der Primärumlaut selbst vielleicht ein Beispiel für einen späten Strukturwandel, der aus Umlaut-Allophonen resultiert. Umlaut findet sich in den meisten germ. Dialekten (abgesehen vom schwer interpretierbaren got. Material), aber die Phonologisierung des Umlauts findet in unterschiedlichem Maße und zu verschiedenen Zeiten statt. Dies gilt auch für die drei Hauptschreibdialekte, die die Grundlage unserer Kenntnisse des Frühdt. bilden - das Frk., Alem. und Bair. Sekundärer und anderer Umlaut ist in süddt. Dialekten selbst heute viel weniger stark vertreten - vergleiche Formen wie schlaft (schläft), halt(et), (hält), tragt (trägt), drucken (drücken), oder ON wie Bruck (an der Mur), Innsbruck - etwa im Gegensatz zum Nomen Brücke oder zu den nördl. ON Saarbrücken, Osnabrück, Brügge. In Teilen der Schweiz (hochalem.) behalten die Endvokale auch heute noch verschiedene Qualitäten, und das könnte ein Grund für den dort weniger verbreiteten Umlaut sein - er hat nicht in gleichem Umfang die Rolle der Flexionsendungen ersetzt.45 Das mhd. Phoneminventar unterscheidet sich von dem des Ahd. hauptsächlich in der Phonologisierung der Umlautallophone, was zu einem deutlich asymmetrischen Vokalsystem füht. Das Vokalsystem des normalisierten Mhd. besitzt neun kurze Vokale, darunter drei nach dem Öffnungsgrad verschiedene /e/-Phoneme, acht lange Vokale und sechs oder sieben Diphthonge: Kurz vokale /// e-Phoneme:

43

44

45

/ü/

/«/

Langvokale //:/

/ü:/()

/