Deutsch als Fremdsprache: 2. Halbband [Reprint 2011 ed.] 9783110194234, 9783110169409

"Es ist ein grundlegendes, aufwendiges Werk, ein würdiges Glied der HSK-Reihe." Erzsébet Jenkei-Molnár in: Spr

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Deutsch als Fremdsprache: 2. Halbband [Reprint 2011 ed.]
 9783110194234, 9783110169409

Table of contents :
X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Theorie und Empirie
80. Der Faktor „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts (Krumm)
81. Der Faktor „Lehren“ im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts (Schmitt)
XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II: Die Planung von Deutsch als Fremdsprache-Unterricht
82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache (Neuner)
83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache (Barkowski)
84. Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den Unterricht (Schifko)
85. Verfahren der Unterrichtsplanung (Piepho)
XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III: Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts
86. Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache (Henrici)
87. Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache (Luchtenberg)
88. Zur Rolle der Fertigkeiten (Faistauer)
89. Vermittlung der Phonetik (Hirschfeld)
90. Grammatikvermittlung (M. Rall)
91. Wortschatzvermittlung (Köster)
92. Hörverstehen (Solmecke)
93. Leseverstehen (Lutjeharms)
94. Mündliche Sprachproduktion (Schreiter)
95. Schriftliche Sprachproduktion (Bohn)
96. Landeskundliches Lernen und Lehren (Simon-Pelanda)
97. Textarbeit (Mummert, Krumm)
98. Übersetzen (Königs)
99. Berufsbezogener Deutschunterricht – Deutsch als Fremd- und Zweitsprache für den Beruf (Funk)
100. Interkulturelles Lernen (Pommerin-Götze)
XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV: Leistungskontrolle und Leistungsmessung
101. Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und -therapie (Kleppin)
102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle (Perlmann-Balme)
103. Sprachstandsdiagnosen (Gogolin)
XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V: Materialien und Medien
104. Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts (Schwerdtfeger)
105. Lehrwerkproduktion, Lehrwerkanalyse, Lehrwerkkritik (Krumm, Ohms-Duszenko)
106. Regionale Lehrwerke und Lehrmethoden (Breitung, Lattaro)
107. Deutschunterricht in den Massenmedien (Eichheim)
108. Wörterbücher (Neubauer)
109. Grammatiken (Götze)
110. Textsammlungen (Tuk)
111. Hörmaterialien (Krumm)
112. Audiovisuelle Medien (Ehnert)
113. Elektronische Medien (Boeckmann)
XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI: Lehrerinnen und Lehrer
114. DaF-Lehren als Beruf (Witte)
115. Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Inhalte und Formen (Krumm, Legutke)
116. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse (Krumm)
XVI. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik
117. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der europäischen Auslandsgermanistik (Rosier)
XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte
118. Geschichte und Konzepte der Landeskunde (Veeck, Linsmayer)
119. Fremdbilder und Fremdwahrnehmung (Althaus)
120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung (Wolf)
121. Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde (Pommerin-Götze)
122. Informationsorientierte Landeskunde (Hackl)
123. Sprachbezogene Landeskunde (Bettermann)
124. Interkulturelle Landeskunde (Müller-Jacquier)
125. Landeskunde aus österreichischer Sicht (Fischer)
126. Landeskunde aus schweizerischer Sicht (Frischherz, Langner)
XVIII. Landeskundliche Gegenstände II: Texte
127. Texte als Träger von landes- und kulturwissenschaftlichen Informationen (Bettermann)
128. Auswahlkriterien für Fach- und Sachtexte im Deutschunterricht (Kühn)
XIX. Landeskundliche Gegenstände III: Spezifische Inhalte
129. Geschichte und Landeskunde (Koreik)
130. Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeographie und Landeskunde (Buchholt)
131. Politik und Landeskunde (Steinig)
132. Alltagskultur und Landeskunde (Baumgratz)
133. Geistes- und Sozialwissenschaften und Landeskunde (Koreik)
XX. Landeskunde in der Auslandsgermanistik
134. Landeskunde in der europäischen Auslandsgermanistik (Byram)
135. Landeskunde in der außereuropäischen Auslandsgermanistik (Kußler)
XXI. Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen Deutschunterrichts
136. Literarische Texte im Deutschunterricht (Ehlers)
137. Fragen des literarischen Kanons (Ackermann)
138. Migrantenliteratur: Entwicklungen und Tendenzen (Rösch)
XXII. Sprachenpolitik und Institutionen
139. Sprachenpolitik und Fremdsprachenunterricht (Bosch)
140. Die Verbreitung des Deutschen in der Welt (Ammon)
141. Institutionen für Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache in Deutschland (Ortmann)
142. Institutionen für Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache in Österreich (Koliander-Bayer)
XXIII. Deutschunterricht und Germanistikstudium im fremdsprachigen Ausland
143. Deutschunterricht und Germanistikstudium in den USA (James, Tschirner)
144. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Kanada (Hufeisen, Prokop)
145. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Mexiko (Fandrych)
146. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Brasilien (Sartingen)
147. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Argentinien (Bein)
148. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Chile (Cziesla)
149. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Grossbritannien (Rösler)
150. Deutschunterricht und Germanistikstudium in der Republik Irland (Fischer, Schewe)
151. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Norwegen (Lundin Keller)
152. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Finnland (Liefländer-Koistinen, Koskensalo)
153. Deutschunterricht und Germanistikstudium in den Niederlanden (Tuk)
154. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Belgien (Duhamel)
155. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Frankreich (Thimme)
156. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Italien (Ponti)
157. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Spanien (Keim)
158. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Portugal (Dreischer)
159. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Polen (Grucza)
160. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Ungarn (Paul)
161. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Bulgarien (Dimova)
162. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Russland (Domaschnew)
163. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Griechenland (Kiliari)
164. Deutschunterricht und Germanistikstudium in der Türkei (Tapan)
165. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Indien (Rekha Kamath Rajan)
166. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Korea (Grünert)
167. Deutschunterricht und Germanistikstudium in China (Hess)
168. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Japan (Sugitani)
169. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Indonesien (Setiawati Darmojuwono)
170. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Ägypten (Arras)
171. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Südafrika (Kußler)
172. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Kamerun (Ngatcha)
173. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Nigeria (Witte)
174. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Ghana (Bemile)
175. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Mali (Traoré)
176. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Marokko (Arras)
177. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Australien (Truckenbrodt, Kretzenbacher)
178. Deutschunterricht und Germanistikstudium in der Bundesrepublik Jugoslawien (Djukanović)
179. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Dänemark (Falster Jakobsen)
180. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Rumänien (Stănescu)
181. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Kroatien (Žepić)
182. Deutschunterricht und Germanistikstudium in Estland (Mohr)
Namenverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis

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Deutsch als Fremdsprache HSK 19.2

w

Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer

Herausgegeben von / Edited by / Edités par Armin Burkhardt Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand Band 19.2

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

Deutsch als Fremdsprache Ein internationales Handbuch Herausgegeben von Gerhard Heibig · Lutz Götze · Gert Henrici Hans-Jürgen Krumm 2. Halbband

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2001

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Deutsch als Fremdsprache : ein internationales Handbuch / hrsg. von Gerhard Heibig .... — Berlin ; New York : de Gruyter (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft ; Bd. 19) Halbbd. 2. - (2001) ISBN 3-11-016940-1

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Arthur Collignon GmbH, Berlin Druck: WB-Druck, Rieden/Allgäu Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin Einbandgestaltung und Schutzumschlag: Rudolf Hübler, Berlin

Inhalt 2. Halbband X. 80. 81.

Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Theorie und Empirie Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts (Krumm) Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts (Schmitt)

XI.

Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II: Die Planung von Deutsch als Fremdsprache-Unterricht

82.

Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache (Neuner) Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache (Barkowski) Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den Unterricht (Schifko) Verfahren der Unterrichtsplanung (Piepho)

83. 84. 85.

XII. 86. 87. 88. 89. 90. 91. 92. 93. 94. 95. 96. 97. 98. 99. 100.

777 785

797 810 827 835

Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III: Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache (Henrici) . . . Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache (Luchtenberg) Zur Rolle der Fertigkeiten (Faistauer) Vermittlung der Phonetik (Hirschfeld) Grammatikvermittlung (M. Rail) Wortschatzvermittlung (Köster) Hörverstehen (Solmecke) Leseverstehen (Lutjeharms) Mündliche Sprachproduktion (Schreiter) Schriftliche Sprachproduktion (Bohn) Landeskundliches Lernen und Lehren (Simon-Pelanda) Textarbeit (Mummert, Krumm) Übersetzen (Königs) Berufsbezogener Deutschunterricht — Deutsch als Fremd- und Zweitsprache für den Beruf (Funk) Interkulturelles Lernen (Pommerin-Götze)

841 854 864 872 880 887 893 901 908 921 931 942 955 962 973

VI

Inhalt

XIII.

Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV: Leistungskontrolle und Leistungsmessung

101.

Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und -therapie (Kleppin) Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle (Perlmann-Balme) Sprachstandsdiagnosen (Gogolin)

102. 103.

XIV.

Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V: Materialien und Medien

104.

Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts (Schwerdtfeger) Lehrwerkproduktion, Lehrwerkanalyse, Lehrwerkkritik (Krumm, Ohms-Duszenko) Regionale Lehrwerke und Lehrmethoden (Breitung, Lattaro) Deutschunterricht in den Massenmedien (Eichheim) Wörterbücher (Neubauer) Grammatiken (Götze) Textsammlungen (Tuk) Hörmaterialien (Krumm) Audiovisuelle Medien (Ehnert) Elektronische Medien (Boeckmann)

105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. 112. 113.

XV.

Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI: Lehrerinnen und Lehrer

114. 115.

DaF-Lehren als Beruf (Witte) Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Inhalte und Formen (Krumm, Legutke) Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse (Krumm)

116.

XVI.

Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik

117.

Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der europäischen Auslandsgermanistik (Rosier)

XVII.

Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

118. 119. 120. 121.

Geschichte und Konzepte der Landeskunde (Veeck, Linsmayer) . . . Fremdbilder und Fremdwahrnehmung (Althaus) Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung (Wolf) Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde (Pommerin-Götze) Informationsorientierte Landeskunde (Hackl)

122.

986 994 1007

1018 1029 1041 1053 1061 1070 1078 1086 1093 1100

1112

1123 1139

1151

1160 1168 1179 1194 1204

Inhalt

VII

123. 124. 125. 126.

Sprachbezogene Landeskunde (Bettermann) Interkulturelle Landeskunde (Müller-Jacquier) Landeskunde aus österreichischer Sicht (Fischer) Landeskunde aus schweizerischer Sicht (Frischherz, Langner) . . . .

XVIII.

Landeskundliche Gegenstände II: Texte

127.

Texte als Träger von landes- und kulturwissenschaftlichen Informationen (Bettermann) Auswahlkriterien für Fach- und Sachtexte im Deutschunterricht (Kühn)

128.

XIX.

Landeskundliche Gegenstände III: Spezifische Inhalte

129. 130. 131. 132. 133.

Geschichte und Landeskunde (Koreik) Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeographie und Landeskunde (Buchholt) Politik und Landeskunde (Steinig) Alltagskultur und Landeskunde (Baumgratz) Geistes-und Sozialwissenschaften und Landeskunde (Koreik) . . . .

XX.

Landeskunde in der Auslandsgermanistik

134. 135.

Landeskunde in der europäischen Auslandsgermanistik (Byram). . . Landeskunde in der außereuropäischen Auslandsgermanistik (Kußler)

XXI.

Literatur als Gegenstand des fremdsprachlichen Deutschunterrichts

136. 137. 138.

Literarische Texte im Deutschunterricht (Ehlers) Fragen des literarischen Kanons (Ackermann) Migrantenliteratur: Entwicklungen und Tendenzen (Rösch)

XXII.

Sprachenpolitik und Institutionen

139. 140. 141.

Sprachenpolitik und Fremdsprachenunterricht (Bosch) Die Verbreitung des Deutschen in der Welt (Ammon) Institutionen für Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache in Deutschland (Ortmann) Institutionen für Deutsch als Fremd- und als Zweitsprache in Österreich (Koliander-Bayer)

142.

XXIII.

Deutschunterricht und Germanistikstudium im fremdsprachigen Ausland

143.

Deutschunterricht und Germanistikstudium in den USA (James, Tschirner) Deutschunterricht und Germanistikstudium in Kanada (Hufeisen, Prokop)

144.

1215 1230 1234 1241

1253 1262

1273 1278 1285 1294 1308

1313 1323

1334 1346 1353

1361 1368 1381 1411

1424 1431

VIII

145. 146. 147. 148. 149. 150. 151. 152. 153. 154. 155. 156. 157. 158. 159. 160. 161. 162. 163. 164. 165. 166. 167. 168. 169. 170. 171. 172. 173. 174. 175. 176. 177. 178.

Inhalt

Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Rosier) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Fischer, Schewe) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Lundin Keller) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Liefländer-Koistinen, Koskensalo) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Tuk) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Thimme) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Domaschnew) Deutschunterricht und Germanistikstudium (Kiliari) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Rekha Kamath Rajan) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Setiawati Darmojuwono) Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium Deutschunterricht und Germanistikstudium (Truckenbrodt, Kretzenbacher) Deutschunterricht und Germanistikstudium Jugoslawien (Djukanovic)

in in in in in

Mexiko (Fandrych) Brasilien (Sartingen) Argentinien (Bein). . Chile (Cziesla) . . . . Grossbritannien

1438 1445 1450 1457 1464

in der Republik Irland 1471 in Norwegen 1480 in Finnland 1487 in den Niederlanden in Belgien (Duhamel) . in Frankreich in in in in in in in

Italien (Ponti) . . . . Spanien (Keim) . . . Portugal (Dreischer) Polen ( G r u c z a ) . . . . Ungarn (Paul) . . . . Bulgarien (Dimova) Russland

1491 1498 1502 1509 1516 1523 1528 1544 1551 1556

in Griechenland in der Türkei (Tapan) . in Indien in in in in

Korea (Grünert) . . . China (Hess) Japan (Sugitani) . . . Indonesien

in in in in in in in in

Ägypten (Arras) . . . Südafrika (Kußler) . Kamerun (Ngatcha) Nigeria (Witte) . . . . Ghana (Bemile) . . . Mali (Traoré) Marokko (Arras) . . Australien

1561 1565 1570 1575 1579 1586 1594 1602 1609 1619 1624 1631 1635 1642 1651

in der Bundesrepublik 1659

IX

Inhalt

179. 180. 181. 182.

Deutschunterricht und (Falster Jakobsen) Deutschunterricht und (Stánescu) Deutschunterricht und Deutschunterricht und

Germanistikstudium in Dänemark 1666 Germanistikstudium in Rumänien Germanistikstudium in Kroatien (Zepic). . . Germanistikstudium in Estland (Mohr) . . .

1671 1677 1683

Namenverzeichnis

1691

Stichwortverzeichnis

1712

Abkürzungsverzeichnis

1721

1. Halbband Vorwort

I.

V

Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet I: Konzeptionen 1. 2. 3. 4.

II. 5. 6. 7. 8.

9.

10.

11.

Die Struktur des Faches (Heibig, Götze, Henrici, Krumm) Linguistischer Ansatz (Götze, Heibig) Didaktisch-methodischer Ansatz: Die lehr- und lern wissenschaftliche Perspektive (Neuner) Landeskundlicher Ansatz (Simon-Pelanda)

1 12 31 41

Deutsch als Fremdsprache als spezifisches Lehr- und Forschungsgebiet II: Geschichte Entwicklungen des Unterrichts in Deutsch als Fremd- und Zweitsprache in Deutschland (Reich) Entwicklungen des Deutschunterrichts in nicht-deutschsprachigen Ländern (Ammon) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in Deutschland (Blei, Götze) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in Österreich (Muhr) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache und des Deutsch als Fremd- und Zweitsprache-Unterrichts in der Schweiz (Langner) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in nichtdeutschsprachigen Ländern I: Europäische Perspektive (Altmayer) Entwicklungen des Faches Deutsch als Fremdsprache in nichtdeutschsprachigen Ländern II: Außereuropäische Perspektive (D. Rail)

56 68 83

97

108

124

140

X

Inhalt

III. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.

IV. 20. 21. 22.

V. 23. 24. 25. 26.

VI. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 37. 38. 39. 40.

Linguistische Gegenstände I: Das Sprachsystem Das deutsche Lautsystem (Kelz) Die Standardaussprache des Deutschen (Stock) Arten und Typen von Grammatiken (Heibig) Linguistische und didaktische Grammatik (Götze) Kontrastivität in der Grammatik (Brdar-Szabó) Wörterbücher (Barz) Kontrastivität in der Lexik (Grimm) Kontrastivität in der Phraseologie (Korhonen, Wotjak)

152 162 175 187 195 204 214 224

Linguistische Gegenstände II: Der Sprachgebrauch Sprachsystem und Sprechhandlungen (Koch) Sprechhandlungen und unterrichtsspezifische Sprachtätigkeiten (Portmann) Übersetzen und Deutschunterricht (House)

236 248 258

Linguistische Gegenstände III: Texte aus linguistischer Sicht Text, Texttypen, Textsorten (Thurmair) Textsorten der gesprochenen Sprache (Hess-Lüttich) Textsorten der geschriebenen Sprache (Heinemann) Linguistische Analyseverfahren von Texten (Willkop)

269 280 300 314

Linguistische Gegenstände IV: Kontraste zwischen Einzelsprachen Kontrastive Analysen Deutsch-Englisch: eine Übersicht (König). . . Kontrastive Analysen Deutsch-Niederländisch: eine Übersicht (Wilmots) Kontrastive Analysen Deutsch-Schwedisch: eine Übersicht (Nikula) Kontrastive Analysen Deutsch-Dänisch: eine Übersicht (Zint-Dyhr) Kontrastive Analysen Deutsch-Norwegisch: eine Übersicht (Askedal) Kontrastive Analysen Deutsch-Französisch: eine Übersicht (Greciano-Grabner) Kontrastive Analysen Deutsch-Italienisch: eine Übersicht (Auer) . . Kontrastive Analysen Deutsch-Spanisch: eine Übersicht (Zurdo) . . Kontrastive Analysen Deutsch-Rumänisch: eine Übersicht (Stánescu) Kontrastive Analysen Deutsch-Russisch: eine Übersicht (Gladrow) Kontrastive Analysen Deutsch-Polnisch: eine Übersicht (K^tny). . . Kontrastive Analysen Deutsch-Tschechisch/Slowakisch: eine Übersicht (Simecková) Kontrastive Analysen Deutsch-Serbisch/Kroatisch: eine Übersicht (Engel, ¿iletic) Kontrastive Analysen Deutsch-Bulgarisch: eine Übersicht (Dimova)

324 331 337 343 351 358 367 375 377 385 392 394 403 410

Inhalt

41. 42. 43. 44. 45. 46. 47. 48. 49.

VII. 50. 51. 52. 53. 54. 55. 56. 57. 58. 59.

VIII. 60. 61. 62. 63. 64. 65.

XI

Kontrastive Analysen Deutsch-Griechisch: eine Übersicht (Winters-Ohle) Kontrastive Analysen Deutsch-Ungarisch: eine Übersicht (Brdar-Szabó) Kontrastive Analysen Deutsch-Finnisch: eine Übersicht (Hyvärinen) Kontrastive Analysen Deutsch-Türkisch: eine Übersicht (Ilkhan) . . Kontrastive Analysen Deutsch-Arabisch: eine Übersicht (Blohm unter Mitarbeit von Nahed El Dib) Kontrastive Analysen Deutsch-Japanisch: eine Übersicht (Kaneko) Kontrastive Analysen Deutsch-Chinesisch: eine Übersicht (Qian Wencai) Kontrastive Analysen Deutsch-Koreanisch: eine Übersicht (Lie) . . . Kontrastive Analysen Deutsch-Madegassisch: eine Übersicht (Bergenholtz, Rajaonarivo)

422 429 436 444 451 458 463 470

Linguistische Gegenstände V: Sprachliche Varietäten des Deutschen Das Deutsche in Österreich (Wiesinger) Das Deutsche in der Schweiz (Sieber) Das Deutsche in Deutschland und seine regionalen Varianten (Protze) Soziale Varianten und Normen (Dittmar, Schmidt-Regener) Fachsprachen (Hoffmann) Geistes- und sozialwissenschaftliche Fachtexte (Wiese) Naturwissenschaftliche und technische Fachtexte (Fluck) Texte in Medizin-orientierter Kommunikation (Mentrup) Wirtschaftstexte (Reuter) Juristische Fachtexte (Kühn)

482 491 505 520 533 544 549 565 573 582

Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Begriffe und Konzepte Lehren und Lernen (Aguado) Typen und Konzepte des Spracherwerbs (Klein) Deutsch als Fremdsprache — Deutsch als Zweitsprache (Baur). . . . Bilingualismus-Mehrsprachigkeit (Apeltauer) Theorie und Empirie (Redder) Deutsch als Tertiärsprache (Hufeisen)

IX.

Lernen als didaktisch-methodischer Gegenstand II: Erklärungsansätze für den Zweitsprachenerwerb und das Fremdsprachenlernen

66.

Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung I: der behavioristische Ansatz (Kuhberg) Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung II: Der kognitivistische und nativistische Ansatz (Riemer)

67.

416

595 604 617 628 638 648

654 663

XII

68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 75.

76. 77. 78. 79.

Inhalt

Zweitsprachenerwerb als prädeterminierte Entwicklung III: der sequenzielle Ansatz (Bahns, Vogel) Zweitsprachenerwerb als Lerneraktivität I: Lernersprache — Lernprozesse — Lernprobleme (Apeltauer) Zweitsprachenerwerb als Lerneraktivität II: Lernstrategien Kommunikationsstrategien - Lerntechniken (Westhof!) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess I: Neuropsychologische Ansätze (List) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess II: Biologische und neurophysiologische Grundlagen (Schönpflug) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess III: kognitive Faktoren (Riemer) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess IV: Affektive Variablen (Rost-Roth) Zweitsprachenerwerb als individueller Prozess V: Sozioökonomische, politische, soziokulturelle und andere Umgebungsvariablen (Rohman, Su-Yon Yu) Zweitsprachenerwerb als Interaktion I: Interaktiv-kommunikative Variablen (Henrici) Zweitsprachenerwerb als Interaktion II: Interaktion und Kognition (Redder) Pädagogisch-didaktische Lernkategorien I: Typen von Lernern und Lerntypen (Aguado) Pädagogisch-didaktische Lernkategorien II: Organisationsformen von Lernen (Kerschhofer-Puhalo)

670 677 684 693 701 707 714

722 732 742 751 761

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I: Theorie und Empirie 80. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefiige des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Einleitung Der Stellenwert des Faktors „Lehren" im Selbstverständnis des Faches Modellierung des Lehrprozesses Die Erforschung des Faktors „Lehren" Die Sicherung der Lehrqualität Ausblick Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

Lehren ist ein Sammelbegriff, unter dem all das gefasst werden kann, was die gezielte Steuerung von Lernprozessen betrifft. Dazu gehören die gesellschaftlichen Bedingungen und Institutionen, die Lehren veranlassen, vorschreiben und veranstalten (Schul- und Unterrichtsgesetze, Schulen, Hochschulen, Volkshochschulen), dazu gehören die das Lehren steuernden Richtlinien (Curricula und Lehrpläne), dazu gehören dann insbesondere die für das Lehren zuständigen Personen (Schulinspektoren, Lehrerinnen und Lehrer). Mit Lehren ist also nicht nur ein Faktor im Rahmen der unterrichtlichen Faktorenkomplexion gemeint, es ist vielmehr ein Bündel aus institutionellen, fachlichen und personalen Faktoren angesprochen. Gleichzeitig wird die Bezeichnung ,Lehren' (im engeren Sinne) benutzt, wenn gezielt der Prozess des Unterrichtens gemeint ist, wobei dann insbesondere die Lehrperspektive, also das, was der oder die Lehrende veranlasst, steuert etc., in den Blick kommt (vgl. Bausch u. a. 1986). In diesem Sinne steht Lehren für Instruktion und Unterricht, wobei dann wiederum die Lehrpersonen, die Unterrichtsoder Lehrmethoden und die Lehrmaterialien als konkrete Steuerungsfaktoren ins Zentrum rücken. Wenn vom Lehren des Deutschen als Fremd- oder Zweitsprache (vgl. auch Art. 81) die Rede ist, schwingt die Vielfalt dieser Di-

mensionen und Faktoren immer mit, auch wenn durchweg ,Lehren im engeren Sinne' (der Unterrichtsprozess) im Zentrum der jeweiligen Überlegungen und Untersuchungen steht. Die von Mackey (1965) vorgelegte Analyse stellt einen frühen Versuch dar, systematisch alle relevanten Faktoren des Unterrichtsprozesses zusammenzutragen, wobei er sie zu Faktorenbündeln (Sprache, Methode, Lehrprozess) zusammenfasst. Stern (1983) knüpft daran an, ordnet die einzelnen Faktorenbündel zu Grunde liegenden theoretischen Prämissen zu und versucht eine Bestandsaufnahme vorliegender Forschung; er unterscheidet concepts of language, concepts of society, concepts of language learning und concepts of language teaching als den Lehrprozess strukturierende Dimensionen. Mit dem Analyse- und Planungsmodell der berliner Schule' (Heimann, Otto, Schulz 1964) liegt für den deutschen Sprachraum ein einflussreiches pädagogisches Modell für die Analyse der Einflussfaktoren des Lehrens vor, das Achtenhagen (1969) für den Fremdsprachenunterricht adaptiert hat (vgl. Abschnitt 3). Unter Forschungsaspekten setzt sich Königs (1983) mit der Vielfalt der Faktoren des fremdsprachlichen Lehr- und Lernprozesses auseinander, wobei er darauf hinweist, dass der Stand der Forschung eine detaillierte Kenntnis aller relevanten Faktoren nicht erlaube, daher je nach Forschungsperspektive unterschiedliche Faktoren in den Blick zu nehmen, aber auch immer wieder an das Problemfeld „in seiner Gesamtheit" rückzubinden seien. Die Kapitel Χ—XVI des vorliegenden Bandes entfalten die Vielschichtigkeit der Lehrperspektive im einzelnen. Einleitend wird an dieser Stelle eine Ortsbestimmung der Lehrperspektive im Kontext der anderen zentralen Faktorenbereiche des Lehrens und Lernens von Deutsch als fremder Sprache versucht.

778

2.

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

Der Stellenwert des Faktors „Lehren" im Selbstverständnis des Faches

In der Kontroverse um die Struktur des Faches Deutsch als Fremdsprache (vgl. Art. 1, Kap. 3) werden im Zusammenhang mit dem Lehren immer wieder die folgenden Akzente als alternative Orientierungen des Faches hervorgehoben: Sprache vs. Lehren/Lernen und Lehren vs. Lernen. 2.1. Der Faktor „Sprache" und der Faktor „Lehren" werden als alternative strukturbildende Momente gesehen. Da es im Unterricht um die Vermittlung der deutschen Sprache geht, sei diese — so die Position ζ. B. bei Glück (1998) - der Kern des Faches. Das Lehren, die didaktische Perspektive, ergibt sich aus der Sicht der Fachwissenschaften im Anschluss an eine fachliche Durchdringung des Gegenstandsbereiches quasi von selbst: „Kein seriöser Sprachwissenschaftler kann annehmen", schreibt Glück, „daß beispielsweise die Tempusmorphologie des deutschen (...) Verbs von der Frage berührt ist, wie (und ob) das Deutsche (...) von Sprechern anderer Sprachen erworben wird." (Glück 1998, 5) Aus einer Lehrperspektive spielen die Auswahl und Anordnung der sprachlichen Mittel je nach Lerngruppe, Lernziel und Lernort durchaus eine Rolle. Was von der Tempusmorphologie in einer didaktischen Grammatik, in einem Lehrbuch auftaucht, wie die Erläuterungen und Übungen aussehen, ob dabei kontrastiv oder metasprachlich gearbeitet werden kann, das sind zentrale Fragestellungen unter dem Aspekt des Lehrens. Die Sprachlehrforschung hat daher stets die Gleichgewichtigkeit der Faktoren „Lehren" und „Sprache" in der Untersuchung des unterrichtlich gesteuerten Lehrens und Lernens von Fremdsprachen betont (vgl. Bausch/Krumm 1995). Die Entwicklung des Faches Deutsch als Fremdsprache hat ihre Ursprünge in der Unterrichtspraxis, in der Suche nach für das Unterrichten der deutschen Sprache optimalen Lehrverfahren, qualifizierten Lehrkräften und geeigneten Lehrmaterialien. Die Lehrperspektive gehört zu den konstitutiven Merkmalen des Faches - aus ihr richten sich Fragestellungen an die Sprache als Lehr-und Lernobjekt. Viele Entwicklungen in der modernen Sprachwissenschaft verdanken sich Fragen aus dieser Lehrperspektive: die kon-

trastive und die Fehlerlinguistik zum Beispiel (vgl. Art. 101). ,Lehren' stellt daher für das Fach Deutsch als Fremdsprache eines der zentralen Forschungs- und Ausbildungsfelder dar, wird gelegentlich sogar als das dominante Strukturprinzip des Faches betrachtet (vgl. Art. 1 und die differenzierte Analyse der Studiengänge bei Henrici/Koreik 1994). 2.2. Der Lehrperspektive wird häufig die Lernperspektive gegenübergestellt. Insbesondere die Zweitsprachenerwerbsforschung (vgl. Art. 60; 61 sowie Kap. IX) ging - gestützt auf Krashens Unterscheidung von learning (Lernen) und acquisition (Erwerben) - zunächst davon aus, dass unterrichtliches Sprachenlernen für den Erwerb fremdsprachlicher Kommunikationsfahigkeit nicht viel beitragen könne und daher den ,ungesteuerten Spracherwerb' nachbilden müsse (vgl. Krashen 1981, Krashen; Terell 1988); Clahsen, Meisel und Pienemann (1983) betonen allerdings mit besonderer Berücksichtigung des Spracherwerbs von Arbeitsmigranten, also einer Zweitspracherwerbssituation „die sehr begrenzten Möglichkeiten" unterrichtlicher Sprachvermittlung. Insbesondere kognitionspsychologische Erkenntnisse bestärken seit Beginn der 90er Jahre die Position, nach der integrierte Wissens- und Könnens-Modelle, die ein In- und Miteinander von gesteuertem Lehren und möglichst authentischem Input erfordern, Sprachfahigkeit in einer Fremdsprache angemessen beschreiben und modellieren können (vgl. TönshofF 1992, Kap. 4 und 8). 2.3. Die Isolierung einzelner Elemente wie z. B. des Lehrens gegenüber dem Lernen oder des Faktors Sprache ist in forschungsmethodischer Hinsicht oder, um gezielt einzelne Elemente in der Ausbildung zu vermitteln, gelegentlich notwendig, verkürzt jedoch gleichzeitig die Komplexität des unterrichtlichen Geschehens und bedarf der Rückbeziehung auf den ,Gesamtvorgang Unterricht' (vgl. Königs 1983, 17 ff.). Je nach Betrachtungsweise kommen dabei unterschiedliche Disziplinen und forschungsmethodische Zugriffe ins Spiel: die Erziehungswissenschaft betrachtet Lehren zum Beispiel unter institutionellen Gesichtspunkten und rückt damit die Bildungseinrichtungen, die gesellschaftliche Legitimation von Unterricht und die institutionell festgelegten Rollen der Lehrenden (im Kontrast zu denen der Lernenden, der Eltern, der Bildungsverwaltung etc.) in den

80. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts

Mittelpunkt, sie akzentuiert den Lehrprozess, die Lehrziele, Lehrmethoden und Resultate. Bei der Entwicklung von Curricula und Lehrmaterialien, bei der Frage der Sozialformen des Unterrichts u. ä. sind daher erziehungswissenschaftliche Erkenntnisse mitzuberücksichtigen (vgl. Meyer 1995). Die Sprach- und Lernpsychologie betrachten den Lehrprozess unter dem Aspekt des Ermöglichens oder Verhinderns von Kommunikationschancen. Die Kommunikationswissenschaft analysiert Lehren und Lernen als Formen institutioneller Kommunikation, in der die Kommunikationsrollen und -chancen durch die LehrLernsituation vorgeprägt sind (vgl. Art. 7 6 77). Die Sprachwissenschaft schließlich trägt unter der Lehrperspektive bei zu einer Analyse der sprachlichen Gegenstände im Hinblick auf Lehren und Lernen: etwa unter dem Aspekt der didaktischen Grammatik (vgl. Art. 15 und 90), der Lehr- und Lernschwierigkeiten der deutschen Sprache im Kontrast zu den Erstsprachen der Lernenden (Art. 16). Damit ist nicht gesagt, dass für das Lehren von Deutsch als Fremdsprache Erkenntnisse anderer Disziplinen einfach übernommen werden können. Unter den Bedingungen des fremdsprachlichen Lehr-Lernprozesses sind sie vielmehr auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. Das heißt aber auch: Die Lehrperspektive erfordert durchweg eine interdisziplinäre Ausrichtung des Faches Deutsch als Fremdsprache.

3.

Modellierung des Lehrprozesses

Im Mittelpunkt des Faches Deutsch als Fremdsprache steht das Lehren vor allem dann, wenn es um die Planung von Unterricht, die Entwicklung von Curricula und Lehrmaterialien und die Ausbildung von Lehrenden geht (vgl. Art. 82-85 und 105-106). Sprachdidaktik hat sich lange als ,Planungswissenschaft' verstanden und Modelle der Unterrichtsplanung entwickelt, die eine zielgerichtete Durchführung und Evaluation des Unterrichts erlauben. In diesem Sinne wurden — in Anlehnung an frühe geisteswissenschaftliche Überlegungen zur Denkentwicklung etwa bei Comenius oder Herbart (vgl. hierzu im einzelnen Meyer 1987, Bd. I, Lektion 4) - sogenannte Stufen- oder Phasenschemata entwickelt (vgl. Art. 79; 85), mit denen der Unterrichtsgang strukturiert werden kann. In dieser Tradition steht Zimmermann (1988), wenn er ein ,Lehrphasenmodell'

779

für den fremdsprachlichen Grammatikunterricht entwirft und damit begründet, es solle Antworten geben „auf die Frage, wie im Fremdsprachenunterricht gelehrt werden sollte, damit Schüler möglichst effektiv lernen" (Zimmermann 1988, 100). Sein Modell strukturiert Unterricht in fünf Phasen: 1. 2. 3. 4. 5.

Präsentation Einübung Kognitivierung Transfer Anwendung.

Dabei plädiert Zimmermann im Gegensatz zu früheren Phasenmodellen für eine flexible, frühe Kognitivierungsphase (je nach Lerngegenstand auch schon im Rahmen der Präsentation). Mit dem Analyse- und Planungsmodell der ,Berliner Schule' (Heimann/Otto/Schulz 1965) wurde ein Planungsinstrument entwikkelt, das insbesondere die Lehrerausbildung in den 60er und 70er Jahren geprägt hat: Ausgehend von einer didaktischen Theorie des Unterrichts sieht dieses Modell zwei unterrichtliche Bedingungsfelder vor, auf die Lehren Bedacht zu nehmen hat: 1. die anthropogenen Voraussetzungen auf Seiten der Lernenden (Alter, Geschlecht etc.), 2. die sozial-kulturellen Voraussetzungen (zu denen auch Lern- und Texterfahrungen zu rechnen sind), sodann vier Entscheidungsfelder, mit denen Unterricht — unter Berücksichtigung der Bedingungsfelder — geplant werden kann: 1. Intentionalität (Lernziele, aber auch Dimensionen wie Interkulturalität), 2. Thematik (hierher gehören grammatische ebenso wie landeskundliche und literarische Inhalte), 3. Methodik (die Entscheidung für kommunikative, kognitivierende o. a. Unterrichtsverfahren), 4. Medienwahl (Lehr- und Lernmittel). Die Verfasser gehen von einer Interdependenz dieser sechs Strukturmomente aus, so dass Unterrichtsplanung und auch eine Unterrichtsanalyse sie jeweils in ihrer Wechselwirkung berücksichtigen muss (vgl. zur Anwendung auf den Fremdsprachenunterricht Achtenhagen 1969). Die stärkere Orientierung des Unterrichts an den Bedürfnissen der Lernenden, die Entwicklung schülerzentrierter und autonomie-

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X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

fördernder Unterrichtskonzepte haben dazu geführt, dass solche Planungs- und Stufenmodelle als zu starr und lehrerzentriert kritisiert wurden und offeneren Planungsmodellen Platz gemacht haben, in denen eine dynamische Entwicklung der Lehrer-Schüler-Interaktion im Mittelpunkt steht. Projekt- und Gruppenunterricht, offene Methodenkonzeptionen und ein erfahrungsbezogener Unterricht stehen im Zentrum der sprachdidaktischen Diskussion (vgl. Legutke/Thomas 1991; Bausch/Christ/Krumm 1993); in der Unterrichtspraxis jedoch dominieren nach wie vor eher geschlossene Methodenkonzeptionen, vielfach auch dort, wo es um sogenannte alternative Methoden geht (vgl. Ortner 1998). 4.

Die Erforschung der Faktors „Lehren"

Angesichts der Vielzahl von für das Lehren relevanten Faktoren hat die Forschung je nach aktuellen Fragestellungen unterschiedliche dieser Faktoren herausgegriffen (vgl. auch Art. 60 und 64). Unter dem Praxisdruck der Lehrerausbildung dominiert in der Erforschung des Lehrens bis heute die Frage nach den guten/besten Lehrmethoden und Lehrverhaltensweisen, der Versuch, unterrichtliches Handeln theoretisch und empirisch zu begründen und damit wegzukommen von einer präskriptiven Sprachdidaktik, die unbegründet Lehrverfahren setzt. In den 60er Jahren standen bei der Erforschung des Lehrens die Unterrichtsmethoden im Mittelpunkt des Interesses; der Vergleich der Effekte unterschiedlicher Lehrmethoden und die Suche nach einer „besten" Methode bestimmen die großen Methodenexperimente im Bereich des Fremdsprachenunterrichts — Flechsig kommt in seiner Bestandsaufnahme empirischer Fremdsprachenforschung 1971 lapidar zu dem Ergebnis, dass sie nicht mehr als „die ziemlich banale Schlußfolgerung stützen, daß Schüler im großen und ganzen (wenn überhaupt etwas) dasjenige lernen, was ihnen beigebracht wird ..." (Flechsig 1971, 3184). Der Aktualisierungsspielraum der Lehrenden bei der Umsetzung eines methodischen Ansatzes sowie die Komplexität situations- und lerngruppenspezifischer Faktoren haben eine überzeugende empirische Absicherung von Methoden bisher verhindert; das hat sich in den 90er Jahren erneut bei der Kritik an den Versuchen gezeigt, die Überlegenheit der sog. ,alternativen Methoden' empirisch nachzu-

weisen (vgl. Ortner 1998). Seit den 70er Jahren hat sich das Forschungsinteresse überwiegend wegbewegt sowohl von der Konzentration auf Unterrichtsmethoden als auch von dem Anspruch, Aussagen über ,guten Unterricht' machen zu können. Sprachlehrforschung versteht sich zunehmend als „klinische Wissenschaft", die zur Aufhellung unterrichtlicher Wirklichkeit und als Handlungsforschung auch zur begründeten Veränderung von Praxis beitragen will. Dabei herrscht durchaus Skepsis in der Einschätzung, mit Hilfe von Forschung das Lehren des Deutschen als Fremdsprache über Teilbereiche hinaus nachhaltig und direkt prägen zu können (vgl. Krumm 1996a). Mit der Lernerorientierung haben sich auch die Schwerpunkte der Erforschung verändert: die Lernenden und ihre unterrichtlichen Interaktionen sind in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt, so dass inzwischen ein Fülle von Erkenntnissen über Sprachlern- und Sprachverarbeitungsprozesse vorliegen (vgl. Kap. VIII und IX). Für die Lehrperspektive bleibt hier ein Forschungsdefizit zu konstatieren. Das umfangreiche Projekt zur Ermittlung von Lehrschwierigkeiten für Deutsch als Fremdsprache, das das Goethe-Institut in den 70er Jahren durchgeführt hat (vgl. Götze u. a. 1979), ist nicht aufgegriffen und weitergeführt worden. Kontrastive Analysen, die für Deutsch als Fremdsprache relativ zahlreich vorliegen (vgl. Kap. VI), beziehen nur im Ausnahmefall die Lehrperspektive ein, sie liefern in der Regel die Analyse von Sprachkontrasten, ohne die Spezifika der Lehr-Lern-Situation mitzubedenken (vgl. Bausch/Raabe 1978). Lässt sich also insgesamt für Deutsch als Fremdsprache ein Forschungsdefizit in Bezug auf die Lehrperspektive feststellen, so zeichnet sich eine Intensivierung lehrbezogener Forschung in folgenden Forschungsfeldern ab: a) Lehrmaterial war bislang zwar vielfach Gegenstand von theoriegleiteten Analysen, doch fehlten Untersuchungen zur Wirksamkeit von Materialien. Der Beirat Deutsch als Fremdsprache des Goethe-Instituts fordert daher in seinen Thesen (Beirat 1997, These 17) eine „empirisch begründete Erforschung der Wirkungen von Lehrmaterialien und -medien" (vgl. auch Art. 105). b) Bezogen auf die Grammatikvermittlung hat sich am ehesten ein kontinuierlicher Forschungsprozess entwickelt, wobei vielfach

80. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts

Fragen nach dem Instruktionsdesign (Verhältnis Beispiel-Regeln, Gebrauch von Metasprache u. ä.) nicht nur bezogen auf Deutsch als Fremdsprache, sondern im Unterricht verschiedener Fremdsprachen im Zentrum des Forschungsinteresses stehen, so ζ. B. Zimmermann 1990 (vgl. auch Art. 90). c) Die Fehlerkorrektur gehört gleichfalls zu den intensiver untersuchten Bereichen (vgl. Art. 101). d) Erst in den 90er Jahren hat sich die Forschung den Spezifika des Lehrens und Lernens von Deutsch als zweiter oder dritter Fremdsprache zugewandt; insbesondere die Konstellation , Deutsch nach Englisch' findet sich immer häufiger, so dass sich die Frage stellt, wie weit der Deutschunterricht die vorhergehende Erfahrung der Lernenden mit dem Erlernen des Englischen im Sinne eines zeit- und lernökonomischen Vorgehens nutzen kann (vgl. Art. 65). e) Ein Stiefkind der Forschung waren auch die Lehrenden und ihr Lehrverhalten: in der Vergangenheit hat sich die Einschätzung der Effizienz und Qualität von Lehrenden vielfach am Schulerfolg der Lernenden orientiert. In Studien zum ,guten Fremdsprachenlehrer' (vgl. Krumm 1995) geht es dann auch um die konkrete unterrichtliche Interaktion und die Frage, wie Lehren erlernbar ist (vgl. Art. 115). Nach wie vor stehen aber Untersuchungen darüber aus, welcher Fähigkeiten Lehrende bedürfen, um erfolgreich zu unterrichten. f) Prüfungen und das Notengeben machen einen zentralen Teil der Lehrfunktionen aus: während zu den unterrichtsunabhängigen Zertifikaten und Tests eine Reihe von Studien vorliegen (vgl. Art. 84), stellt der Bereich der Notengebung im Rahmen des Deutschunterrichts einen in Forschung wie Lehrerausbildung vernachlässigten Bereich dar (vgl. Altmeyer/Domisch 1998). Insgesamt gilt bis heute, dass im Bereich des Lehrens von Deutsch als Fremdsprache - diese Aussage gilt wohl auch für andere Unterrichtsfacher — Forschungsergebnisse relativ wenig zur Veränderung der Unterrichtspraxis beitragen. Diese „mißlingende Ankunft" der Forschung in der Praxis (Krumm 1996a) liegt auch am Beharrungsvermögen der Institutionen wie ζ. B. dem vorgegebenen Zeitschema, den juristischen Bestimmungen und Bedingungen (Aufsichtspflicht, Lehren als Verwaltungsakt), ist aber auch darin begründet, dass bei der Erforschung des Lehrens bislang organi-

781

sationssoziologische Aspekte zu wenig berücksichtigt wurden. Insgesamt kann die Forschung die Frage, was ,guter Unterricht' und wann Unterricht gut sei, auf Grund der Vielfalt von Einflussfaktoren bis heute nicht beantworten. Gage (1979) beantwortet die Frage, ob Unterrichten ,Kunst oder Wissenschaft' sei, damit, dass es für Unterricht ein wissenschaftliches Fundament gebe, dessen Umsetzung in konkretes Unterrichten aber - neben der Kenntnis der wissenschaftlichen Grundlagen — auch einer gewissen Kunstfertigkeit der Lehrenden bedürfe: „Das wissenschaftliche Fundament für die Kunst zu lehren besteht in der Regel aus Aussagen über den Zusammenhang zwischen zwei Variablen, der Interaktionseinflüssen niederer Ordnung ausgesetzt ist. Interaktionen höherer Ordnung zwischen vier und mehr Variablen fordern die Kunstfertigkeit des Lehrers auf den Plan" (Gage 1979, 10). An dieser Stelle setzen Verfahren der Praxisoder Handlungsforschung ein, die darauf zielen, die Handlungsfähigkeit der Lehrenden durch ihre Mitwirkung in Unterrichtsforschung und Unterrichtsreflexion zu erhöhen (vgl. Altrichter/Posch 1990).

5.

Die Sicherung der Lehrqualität

Nachdem die Lehrperspektive mit der Lernerorientierung in Sprachdidaktik und Sprachlehrforschung in den 70er und 80er Jahren an den Rand des Interesses von Sprachlehrforschung und Sprachdidaktik geraten war, rückt sie unter dem Aspekt der Qualitätssicherung von Unterricht wieder ins Zentrum. Mit der Übertragung von Verfahren der Qualitätssicherung und des Qualitätsmanagements aus der Wirtschaft auf Unterricht wird seit Beginn der 90er Jahre ein neuer Begriff von ,gutem Unterricht' etabliert. Zunächst in der Produktion von Waren entwickelte Verfahren der Festsetzung und Überprüfung von Produktqualität lassen sich auch auf Dienstleistungsprozesse wie Kundendienst und Wartung übertragen und haben seit Beginn der 90er Jahre Eingang in den Bildungsbereich gefunden — auch Lehren lässt sich als Dienstleistung' interpretieren. Dabei wurde zunächst versucht, die in der Wirtschaft entwickelten Verfahren der Qualitätsmessung zu adaptieren, so vor allem die Norm DIN/ISO 9000 ff. (vgl. Gnahs 1996, 40ff.). Es hat sich jedoch rasch gezeigt, dass die Qualität von Bildungsprozessen mit solchen Maßstäben nicht adä-

782 quat gefasst werden kann, so dass für einzelne Bildungsbereiche wie den Fremdsprachenunterricht eigene Verfahren der Qualitätsmessung und -Sicherung entwickelt werden, die der Komplexität fremdsprachlicher Lehr- und Lernvorgänge besser gerecht werden. Um dem ,Kunden' die Gewähr zu geben, dass die versprochenen Qualitätsstandards nicht nur auf dem Papier stehen, haben die anbietenden Institutionen und Sprachenschulen Agenturen gegründet, die regelmäßige Qualitätsüberprüfungen (Inspektionen) durchführen und das jeweilige Gütesiegel verleihen. Als wichtigste europäische Organisation hat sich im Kontext der Sprachenprojekte des Europarats die European Association for Quality Language Services (EAQUALS) etabliert. EAQUALS entwickelt Standards, nach denen geschulte Inspektoren Sprachkursanbieter überprüfen und zertifizieren. Zu den Grundsätzen, auf die sich die bei EAQUALS zusammengeschlossenen Sprachanbieter verpflichten, gehören etwa: ein strukturiertes und gestuftes Kursangebot, regelmäßige Leistungsmessung und Leistungsfeedbacks für die Teilnehmer, angemessene Räumlichkeiten, Einstufungstests, aber auch „effektive Unterrichtsmethoden, bezogen auf die Ziele der Lernenden" (http://www.eaquals.org/frcronten.htm). Auf nationaler Ebene ist 1996 die Interessengemeinschaft Qualität Deutsch als Fremdsprache e. V. (IQ Deutsch) entstanden, die sich die Erarbeitung von Qualitätsmaßstäben sowie die Förderung und Sicherung der Qualität des Deutschunterrichts bei Sprachanbietern im deutschsprachigen Raum zum Ziel gesetzt hat. Zu den Qualitätskriterien gehören: — Unterrichtsqualität - Qualität der Lehrkräfte — Qualität der Verwaltung und Organisation - Wahrhaftigkeit von Werbung und Information. Die Qualitätskontrollen werden von externen Gutachtern vorgenommen. Für die Sicherung der Qualität von Sprachtests existiert eine eigene Dachorganisation, die Association of language testers in Europe (ALTE). Bei ALTE handelt es sich um einen Zusammenschluss von Testanbietern, die für die Durchführung von Sprachtests Leitlinien entwickelt haben. Auch die Qualifikation der Lehrenden (bzw. bei ALTE: ausreichend ausgebildeter Prüfer) bildet einen Schwerpunkt solcher Verfahren der Qualitätssicherung. Dabei werden Ausbildung und regelmäßige Fortbildung als Indika-

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

toren einer hinreichenden Lehrqualität angesehen, Inspektionen schließen aber auch Hospitationen ein. In verschiedenen Ländern (Dänemark, Frankreich, Großbritannien) existieren nationale Zentren, die Unterrichtsqualität überprüfen und zertifizieren. Mit einem „Europäischen Siegel für innovative Sprachinitiativen" zeichnen die EU-Staaten seit 1998 Projekte aus, die der Förderung der Sprachlernmotivation dienen. Qualität der Lehre wird in all diesen Verfahren der Qualitätssicherung durch externe Inspektoren beurteilt, um ein objektives Urteil und eine gewisse Einheitlichkeit der Standards zu erreichen. Im Zuge der Diskussion um Qualität haben aber auch die Bemühungen um eine interne Qualitätssicherung zugenommen. Zu ihr gehört vor allem die Orientierung des Unterrichts an die Wünsche der Lernenden. Das führt dazu, dass Befragungen der Kursteilnehmer über ihre Lernerwartungen und ihre Zufriedenheit mit dem Unterricht zum festen Bestandteil der Lehrpläne werden - so etwa in den Sprachkursen der Goethe-Institute in Deutschland. Der Deutsche Volkshochschulverband hat für seine Sprachkurse „Leitlinien zur Sicherung und Weiterentwicklung von Qualität" erarbeitet (Arbeitskreis 1997), in denen die Teilnehmerorientierung eine zentrale Rolle spielt. Weiter heißt es dort: Volkshochschul-Kursleiterlnnen werten ihren Unterricht regelmäßig aus. Sie sind an der Qualitätssicherung durch die Volkshochschule unmittelbar beteiligt und unerstützen alle angemessenen Evaluationsverfahren - z. B. Hospitationen, gegenseitige Unterrichtsbesuche, Auswertungsgespräche im Fachbereich und schriftliche Befragungen der Teilnehmerinnen. (Arbeitskreis 1997, 71) Diese interne Form der Qualitätssicherung basiert auf der Reflexion des Unterrichtsgeschehens durch die Lehrenden und auf Rückmeldungen der Teilnehmer (vgl. Art. 116). Indem Qualitätssicherung sich nicht nur auf Lehrverhalten und unterrichtsinterne Faktoren bezieht, sondern organisatorische und rechtliche Fragen ebenso wie die Lehrpläne und Prüfungen, die Lernberatung, die Raumausstattung u. ä. umfasst, wird ,Lehren im weiteren Sinne', in der Wechselwirkung institutioneller, organisatorischer und didaktischer Aspekte, wieder zu einem zentralen Thema für das Fach Deutsch als Fremdsprache.

80. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts

6.

Ausblick

Aus der Vielfalt von Entwicklungen, die das Lehren von Deutsch als Fremdsprache verändern, seien herausgegriffen (vgl. insgesamt Beirat 1997): a) die Tatsache, dass sich Deutsch insbesondere im Schulbereich als zweite oder dritte Fremdsprache, vielfach nach Englisch als erster Fremdsprache, etabliert. Das hat unterrichtsmethodische Konsequenzen, die in den 90er Jahren Gegenstand sowohl der Erforschung als auch der didaktischen Diskussion geworden sind (vgl. Art. 65, vgl. Krumm 1997); b) die zunehmende Nutzung elektronischer Medien stellt neue Anforderungen sowohl an die technische Ausrüstung der Unterrichtsräume, als auch an die Fähigkeiten der Lehrenden, den Lernenden Zugang zu authentischen Dokumenten zu eröffnen, sie zu eigener Recherche im Internet zu befähigen, bietet aber auch neue Möglichkeiten der Klassenkorrespondenz und der direkten Kontakte mit der Zielsprache; Lehren bedeutet nicht mehr, vor allem Informationen zu präsentieren, sondern den Umgang mit der Informationsflut bewältigen helfen (vgl. Tschirner 1997, vgl. Art. 113). c) In diesem Zusammenhang erhalten Forderungen nach Lernerautonomie eine konkrete Grundlage. Die Vermittlung von Lerntechniken (vgl. Art. 70) gewinnt an Bedeutung. d) Mit der Globalisierung und der europäischen Vereinigung verändern sich auch die Ziele und Inhalte von Sprachunterricht: die Forderung nach Mehrsprachigkeit führt zu verstärkter Nachfrage nach frühem Fremdsprachenunterricht; der direkte Berufsbezug fordert neue Formen der Sprachanwendung bereits während des Sprachunterrichts: die Verwendung von Deutsch als Unterrichtssprache in anderen Fächern (Deutsch als Arbeitssprache, vgl. Art. 99). Auch die neuen Medien verlangen neue Fähigkeiten und Fertigkeiten wie das Recherchieren, den Umgang mit Mehrsprachigkeit im Internet u. ä. e) In Zeiten der Globalisierung steigen außerdem die Anforderungen an die Fähigkeit zu interkultureller Kommunikation. Hier müssen Wege gesucht werden, die verschiedenen Lehr- und Lerntraditionen unterschiedlicher Kulturen im Deutschunterricht fruchtbar zu machen. f) Für das Lehren von Deutsch als Fremdsprache haben sich mit dem Fall des Eiser-

783

nen Vorhangs' wichtige Parameter geändert: die deutsche Vereinigung, die anstehende Osterweiterung der Europäischen Union haben landeskundliche und sprachenpolitische Aspekte in den Vordergrund gerückt sowie in großem Umfang Lehreraus- und Lehrerfortbildung nötig gemacht. Hier ist ein Potential an Erfahrungen und Unterrichtsmodellen entstanden bzw. zugänglich geworden, das es zu nutzen gilt (vgl. Krumm 1996b). Wenn ,Lehren' als gewichtiges Faktorenbündel bei der Gestaltung von Lernprozessen gesehen wird, so kommt der Qualifikation der Lehrenden eine zentrale Rolle zu. Sie verfügen gegenüber den institutionellen und curricularen Vorgaben (Richtlinien, Lehrpläne, Lehrmaterialien, Methoden) über einen großen Aktualisierungsspielraum; auch die Schaffung von Bedingungen für autonomes Lernen hängt zum Teil von den Lehrenden ab. Die Lehreraus- und Lehrerfortbildung steht daher seit Beginn der 90er Jahre im Fach Deutsch als Fremdsprache erneut im Zentrum der Bemühungen, den Deutschunterricht weiterzuentwickeln (vgl. Art. 115). 7.

Literatur in Auswahl

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81. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts

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81. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Didaktische Konstellation und Lehrhandeln Didaktische Positionen und professionelle Rollenausübung Zweitsprachendidaktik und pädagogische Autonomie Didaktisches Baukastensystem — das „Freiburger Modell" als Beispiel Differenzierte Anwendung — Varianten pädagogischer Tätigkeit Literatur in Auswahl

Didaktische Konstellation und Lehrhandeln

Die didaktische Konstellation des Zweitsprachenunterrichts (ZwU) unterscheidet sich von der des Fremd- und Muttersprachenunterrichts und ähnelt ihr: Die Zweitsprache ist zwar eine fremde Sprache, aber sie wird im alltäglichen Sprachumfeld erlernt, der Sprachunterricht findet im Zielland statt und ist nicht Vorbereitung für später und anderswo. Lernhelfer und Medien stehen tendenziell immer zur Verfügung. Allerdings müssen der Arbeitsmigrant, Aussiedler und Flüchtling und ihre Kinder, die sogenannte Zweite Generation, mit Fehlersanktionen, Vorurteilen hinsichtlich ihrer Intelligenz und Diskriminierung rechnen. Günstig ist es, wenn sie eine solche Sprachkompetenz in der Zweitsprache erwerben (die nicht fehlerfrei sein muss), dass diese den Eingesessenen Anerkennung abringt. Die Zweitsprache übernimmt wie die Mutter- oder Erstsprache (hinfort immer: Erstsprache) Bildungsfunktion im nationalstaatlich verfassten Schulwesen. Die Zweitsprachenkompetenz ist wesentliche Voraussetzung für Qualifikation und berufliche Integration, mangelnde Fähigkeiten ziehen Ausgrenzungsprozesse (Sonderschule, Arbeitslosigkeit) nach sich. Der Zweitsprachenerwerb von Migrantenkindern vollzieht sich im Dilemma zwischen Integrationsansinnen und Anpassungsdruck durch die Schule und die eingesessene Mehrheit bei gleichzeitiger Zurückweisung der Erstsprache und der in ihr gewonnenen (Lern-)Erfahrungen. Die Diskrepanzen zwischen der Migrantenfamilie und der einsprachig-nationalen Schule werden desto stärker, je weniger die Erstsprache der Kinder einbezogen wird und je mehr die Eltern auf Assimilation drängen. Unterricht sollte im Interesse der Kinder die strukturelle

Assimilationsgewalt der Institution Schule durch zumindest phasenweises Aufgreifen der Erstsprache und durch interkulturelles Lernen mildern helfen. Die Einrichtung der Vorbereitungsklassen bzw. -kurse ist wegen der segregierenden Wirkung umstritten ebenso wie die direkte Eingliederung in die Regelklasse mit der zu befürchtenden Überforderung der Lerner. In den allermeisten Fällen, hochintelligente und psychisch kaum belastete Migrantenkinder abgesehen, sind ein psychisches Moratorium, besondere pädagogische Zuwendimg und methodische Anstrengungen nötig, die Möglichkeiten zum Zweitsprachenerwerb und zur Verarbeitung der Migrationsursachen und -erfahrungen geben. Lerngruppen mit Migrantenkindern sind durch hohe Fluktuation und große Heterogenität gekennzeichnet. Aufgrund der verschiedenen Herkunftskulturen und -sprachen, unterschiedlicher schulischer Sozialisation und Lernerfahrungen, unterschiedlichen Leistungsstandes und der häufig sehr geschlechtsspezifischen Rollenerziehung, aber auch wegen der sehr unterschiedlichen Reaktionen der Migrantenkinder auf die Tatsache der Migration (ζ. B. Traurigkeit oder Überspielen, Rückzug oder Überanpassung) ist der Lehrer auf einerseits differenzierende und andererseits kooperative Unterrichtsformen angewiesen. Lernergruppen bei Erwachsenen weisen oft geschlechtsspezifische Unterschiede auf, Frauen sind als Gruppe leichter organisierbar. Der Lernprozess selbst wird durch die Unsicherheit der Asylanerkennung oder Duldung oder die sich wiederholende, immer wieder aufgeschobene Rückkehrankündigung bei den Kindern emotional gestört. Aussiedler sind als faktische Deutsche durch von der Arbeitsverwaltung verantwortete Kurse privilegiert. Hausaufgabenhilfegruppen sind für Kinder von hoher Bedeutung. Bei lebensweltlich zweisprachigen Migrantenkindern besteht die Gefahr der doppelseitigen Halbsprachigkeit (Semilinguismus): Keine der beiden Sprachen wird logisch durchgliedert beherrscht, wie es für Schul- und Ausbildungserfolg unabdingbar ist. Einer Untersuchung in Berlin zufolge sind 20 Prozent der türkischen Kinder sogar als nahezu sprachlos zu bezeichnen. Eine Untersuchung in Bremen weist nach, dass die Schule durch

786 die erzwungene Einsprachigkeit den Leistungsrückstand zu Ende des zweiten Grundschuljahres selbst bewirkt. Ihrer Sprachmöglichkeiten werden diejenigen Kinder beraubt, die in einer Ghettosituation leben, auf traditionelle Werte und das Ziel der Rückkehr hin festgelegt werden, deren Eltern beide berufstätig sind und vermutlich zu wenig kommunikative Zuwendung geben. Ausgeglichene Zweisprachigkeit weist die Gruppe von Kindern auf, die in einer Klasse mit hohem Ausländeranteil zusammen mit deutschen Kindern unterrichtet werden, in einem sprachlichen Mischgebiet wohnen, deutsche Freunde haben und eine klare geschlechtsspezifische Rollenerziehung bei flexibler Rollenorientierung genießen. Zur Assimilation gedrängte Kinder durchlaufen eine „Metamorphose mit Kratzern". Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (Ausländer-, Asylrecht- und -politik, Diskriminierung von Fremden aus ökonomisch schwachen Weltregionen) und institutionelle Regelungen wie Schulpflicht bzw. Zulassung zum Unterricht, Lehrmittelfreiheit und Organisation der schulischen Eingliederung von Migrantenkindern sind von Lehrern höchstens über die Berufsverbände und im politischen Engagement beeinflussbar, lediglich auf die möglicherweise negativen konkreten schulischen Rahmenbedingungen (ungünstiges Klassenzimmer, unzureichende Lehrmittel, Fremdenfeindlichkeit im Kollegium, Ignoranz der Schulaufsicht und Kultusverwaltung) kann er mit Maßen einwirken. Der Faktor „Lehren", personales, intentionales und organisiertes Lehrhandeln, ist das vom Lehrenden zu verantwortende Element (vgl. auch Art. 80). Unterricht kann (zu) allgemein verstanden werden als „Weg" zwischen dem „Ist" der Ausgangssituation und dem „Soll" des zu erreichenden Ziels (Kybernetisches Modell). Im Berliner Modell (Heimann/Otto/Schulz) wird er als Faktorenkomplexion von Thema, Intention, Medium und Methode gesehen, zu berücksichtigen sind die soziokulturellen und anthropogenen Voraussetzungen der Lerner, die Lernergebnisse sind Ausgangspunkt einer neuen Lernsequenz. Thema und Intention verknüpfen sich zur Zieldimension. Von besonderer Bedeutung ist, dass im Zweitsprachenunterricht (ZwU) die Zweitsprache gleichzeitig Medium (Lernmittel und Verständigungsmittel) und Thema (Lerngegenstand) sein kann. Im bildungstheoretischen Modell wird der Primat des Zieles (hier: Handlungsfähigkeit, zwei-

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

sprachige Kommunikationsfahigkeit und Reflexionsfahigkeit) gefordert, dem sich die Methoden logisch nachordnen oder dem gegenüber sie zumindest widerspruchsfrei sein müssen (Klafki). In der kritisch-konstruktiven Didaktik ist jeder Unterricht, also auch der mit Migrantenkindern, an den epochalen Schlüsselproblemen wie Frieden, Umwelt, Dritte Welt, soziale Ungleichheit und auch Migration zu orientieren (Klafki). Eine solche Zielsetzung darf nicht vorschnell zugunsten sprachlicher Lernziele reduziert werden. Die von der Curriculumforschung (Robinsohn) zu Recht erhobene Forderung der Orientierung an der Bewältigung von Lebenssituationen, der Umsetzung in Unterrichtstätigkeiten (Operationalisierung) und der angemessenen Bewertung der Lernleistungen (Evaluation) hat auch zur Verbesserung von Deutsch als Zweitsprache-Lehrwerken beigetragen. Letztlich müssen Lehrer und Lernende aber aufgrund der jeweils besonderen Lernvoraussetzungen ihr Curriculum selbst erstellen.

2.

Didaktische Positionen und professionelle Rollenausübung

Angesichts der schwierigen Situation und fehlender oder unzureichender Lehrplanvorgaben geben die Schulleitungen den Lehrern meist freie Hand. Engagierte Lehrer, zu dieser meist ungeliebten Aufgabe gedrängt, entdecken sehr bald die pädagogische Gestaltbarkeit und erreichen hohe Berufszufriedenheit, sofern sie die relative Freiheit nutzen können. Der Unterrichtsbeamte allerdings, der sich auf pädagogische Kreativität nicht einlässt, wird sich überfordert fühlen. Zwischen verschiedenen didaktisch-pädagogischen Positionen ist zu wählen. Naiv und wenig tragfähig ist die Annahme, Zweitsprachenunterricht bestehe in der Vermittlung von Vokabeln und grammatischen Regeln. Der behavioristische Ansatz, dass Sprechen Verhalten sei, das eingeschliffen werden müsse (pattern drill) greift ebenso zu kurz wie der idealistische, dass sich aus der Behandlung von Texten, gar Gedichten, schon der Geist der Sprache erschliessen lasse. Sprechen ist soziales Handeln in Kommunikationssituationen, letztlich gar gesellschaftliches Handeln, im Falle der Migranten auch zur Darstellung ihrer Situation und zum Einfordern von Solidarität und (Menschen-) Rechten (pragmatische und politisch bewusste Position).

81. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts

Je nach didaktischer Position (oder Einstellung zum Beruf) wird der Lehrende mehr oder weniger angemessen handeln und die schwierige Aufgabe bewältigen können. Desto größere Schwierigkeiten und Fluchttendenzen wird er verspüren, je weniger er zu originellen Problemlösungen neigt, je weniger er seine Aufgabe als gesellschaftspolitische versteht und je weniger er es wertschätzt, durch die alltägliche Konfrontation mit dem epochalen Schlüsselproblem Migration ganz im Hier und Jetzt zu leben. Der engagierte Lehrer von Migrantenkindern wird immer mehr die Rolle des pädagogischen und bisweilen auch gesellschaftlichen Anwaltes von Migranten(kindern) übernehmen, im wohlverstandenen Sinne und mit der notwendigen Rollendistanz. Eine reformpädagogische Orientierung, die rein methodisch die Verbindung von sprachlichem Handeln und Tätigkeit im Auge hat, reicht ebensowenig hin wie die Orientierung nur am Toleranzgebot oder die folkloristische Einbeziehung der Herkunftskulturen der Migranten beim Schulfest. Solidarische Rollenausübung vollzieht sich im Bewusstsein, auf der Seite gesellschaftlich schwacher Minderheitengruppen zu stehen und historisch gewordenen ökonomischen Ungleichheiten und Abhängigkeiten zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Weltregionen entgegenzuarbeiten. Bei der Einrichtung von Förder-Massnahmen, Belegung von Räumen und dem Einsatz von Lehrmaterialien trägt er die Interessen der Migranten(kinder) vor. Im Kollegium kommt er nicht umhin, aufklärend gegen Fremdenfeindlichkeit im Sinne interkultureller Bildung einzutreten. Die Eltern(mit)arbeit ist ein wesentliches Element seiner Integrationsarbeit. Die Zusammenarbeit mit Sozialarbeitern und Hausaufgabenhelfern ist gefordert. Aus diesen Kontakten und Kooperationen erhält er zwar wesentliche Hinweise für seine Unterrichtsgestaltung. Der zusätzliche Zeitaufwand sollte aber auf das Lehrdeputat angerechnet werden.

3.

Zweitsprachendidaktik und pädagogische Autonomie

Die Lehrwerke sind mittlerweile einem pragmatischen Konzept verpflichtet, aber gesellschaftlich oft naiv. In den 70er Jahren wurde zwar mit dem Konzeptbegriff der Kommunikativen Kompetenz (Piepho) der Fremdsprachenunterricht sowohl der Grammatik-Über-

787

setzungs-Methode als auch der der lernpsychologisch behavioristischen audio-lingualen und audio-visuellen Methode überwunden. Allerdings wurde der ökonomisch-gesellschaftliche Konflikt zwischen Eingesessenen und Zuwanderern, der in der Fremdenfeindlichkeit der Gründerkrise der dritten deutschen Republik Anfang der 90er Jahre offenkundig wurde, meist nur wenig eingearbeitet. Einerseits ist der Bezug auf Kommunikationssituationen mit der Pragmalinguistik unerlässlich, andererseits macht die Soziolinguistik darauf aufmerksam, dass Interessenund Machtstrebungen zu Missverständnissen und Kommunikationsstörungen führen. Die Soziologie mit ihrem Zweig der Migrationssoziologie konstatierte auch für europäische Einwanderungsgesellschaften die Unterschichtung der eingesessenen Mehrheitsbevölkerung durch aus Migranten-Ethien neu entstehende Minderheiten und übernahm aus amerikanischen Forschungen Hinweise auf die Abfolge von Integrationsphasen. In der Vorurteilsforschung konnten sozialpsychologische Wissensbestände genutzt werden, mittlerweile entwickelt sich international die Rassismusforschung zu einer auch für den Deutsch als Zweitsprache-Unterricht wichtigen Disziplin. Die Sprechakttheorie (Austin/ Searle) legt ihr Augenmerk auf die kleinsten Redeeinheiten wie Argumentieren, sich Verteidigen oder Diskriminierung zurückweisen. Von den Grammatiken ist gerade auch die funktionale Grammatik (Wilhelm Schmidt) von Relevanz, die darauf aufmerksam macht, dass eine sprachliche Form in verschiedener Funktion verwendet werden kann (vgl. ruhig!, aufgehört!, aufhören!). Grammatische Erklärungen und Übungen sind nach dem ersten Abschluss des Erstsprachenerwerbs mit 10 bis 12 Jahren aus lernökonomischen Gründen sinnvoll. Fremd- und Deutsch als Zweitsprache-Unterricht dürfen nicht auf Lernen durch Imitation und am Modell beschränkt werden. Lernen durch Einsicht, Problemlösen und Probehandeln (Rollenspiel) und Reflexion von Sprachhandeln sind auch zur kognitiven Förderung angebracht. Die Benennung grammatischer Phänomene bringt im Sprachunterricht mit eingesessenen Lernern Reputation und Anerkennung. Mit der Sozialisationsforschung — in der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft entstanden — ist bei Migrantenkindern nicht ein Mangel, sondern die Andersartigkeit der Prägungen und Lernerfahrungen zu sehen

788

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

(Differenz- statt Defizithypothese!). Es ist davon auszugehen, dass sich jeder Mensch mit seinen formbaren Potenzen, durch sein Umfeld angeregt und herausgefordert, einerseits lebenslang entwickelt, dass er andererseits durch die Gesellschaft auch geprägt und festgelegt wird. Sozioökonomische, kulturspezifische, schichtenspezifische und historische Sozialisationsforschung sind neben der familiären (ζ. B. hinsichtlich Geschwisterkonstellationen) und schulischen (z.B. hinsichtlich Motivation/Interesse und Schulerfolg) zusammen mit der sprachlichen (ζ. B. Soziolekt/Dialekt, elaborierter oder restringierter Code) von besonderem Interesse. Mit der historischen Sozialisationsforschung wird die Wanderung von der ländlichen zur Stadtkultur, werden Vertreibung und Flucht aus Kriegserfahrungen, Einwanderung und Auswanderung und Traumata auch aus den Holocausterfahrungen verständlich. Aus sozioökonomischer Sicht wird Bildung als Kapital (Bourdieu) gesehen, das Zuwanderer und unterschichete Minderheiten sich für ihren Aufstieg aneignen wollen und Eingesessene und dominante Mehrheit gegen die Zudringlinge verteidigen. Der Etikettierungsansatz (Goffman) des Symbolischen Interaktionismus, Anomietheorien der Sozialpsychologie (Merton/Dreitzel) und psychoanalytische Traumaforschung (Riedesser/Fischer) tragen zum Verständnis von Devianz (ζ. B. Konsumschock, Kriminalisierung) und Krankheit (z.B. Bettnässen, Stottern und Suizidversuche) bei. Der Symbolische Interaktionismus hebt mit den Begriffen Situation und Bezugsgruppe vor allem auch die Bedeutung signifikanter Bezugspersonen und die Entstehung des Selbst im Wechselspiel mit dem Anderen hervor. Für die Sprachdidaktik ist die Erkenntnis wichtig, dass Geste und Mimik den Übergang zwischen tierischer und menschlicher Kommunikation markieren. Von besonderer Relevanz sind Sprachpsychologie

und Bilinguismusforschung

(BilF).

Sprachlernen ereignet sich neurologischer Forschung zufolge eben nicht nur in der linken Gehirnhälfte mit dem Sprachzentrum, sondern in Zusammenarbeit mit der rechten Hemisphäre (Hören, Motorik, Tätigkeit) und mit dem limbischen System, ältester Teil und Tiefenschicht des Gehirns, das „emotional" Angst- und Freudegefühl verarbeitet. Auch deswegen verspricht ganzheitlicher, handlungs- und erlebnisreicher, emotional positiv getönter Zweitsprachenunterricht den höchsten Lerneffekt. Er spricht die verschiede-

nen Lernertypen (auditiv, visuell, haptisch) an. Medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse stützen damit die russische Theorie der Sprechtätigkeit, derzufolge Denken verinnerlichtes Sprechen ist (Galperin/Leontjew) und Sprache ein Instrument zum Lösen von (Überlebens-)Problemen. Die neuere Bilingualismusforschung (BilF) hat die Auffassung, dass Bilinguismus schwachsinnig mache und im Bewusstsein zur schizophrenen Weltdoppelung führe, als nationalistisch-rassistisch entlarvt. Dagegen ist eine umfassende menschliche Kommunikationsfahigkeit anzunehmen, die sich parallel in mehreren Einzelsprachen zu äußern vermag. In der frühen Kindheit ist Sprachmischung zu meiden und in zweisprachigen Familien dem Prinzip „Eine Person - eine Sprache!" zu folgen. Die Zweitsprache rückt in der Regel aufgrund der gesellschaftlichen Machtverhältnisse in die Position der dominanten (starken) Sprache, die Erstsprache in die der subordinierten (schwachen) ein. Der Schwellenniveau-Hypothese zufolge stellt die bilinguale Situation für kognitiv gut entwikkelte Kinder oberhalb einer bestimmten Schwelle eine positive intervenierende Variable dar, unterhalb eines bestimmten Niveaus ist Semilinguismus zu erwarten. Die Interferenz-Hypothese besagt, dass die Fehler beim Erwerb der Zweitsprache aus dem Kontrast zwischen Ausgangs- und Zielsprache zu erklären seien. Allerdings sind die in einer Sprache selbst liegenden Schwierigkeiten (z.B. Formen des Präsens bei bestimmten Modalverben im Deutschen) nicht zu verkennen. Fossilierungen (versteinerte Fehler) können sich festsetzen, wenn sie kommunikativ funktional sind, zum Erfolg führen und nicht sanktioniert werden. Die Sprachlehrforschung, die mit einigen Lehrwerken primär die Kompetenzbereiche Hören - Sprechen — Lesen — Schreiben im Auge hat, liefert zwar wichtige Erkenntnisse für den Mikrobereich der unterrichtlichen Tätigkeit (ζ. B. lautreines Sprechen), verstellt sich mit ihrem eingeschränkten Erkenntnisinteresse jedoch komplexe sprachphilosophische und -pädagogische Einsichten. 3.1. Didaktisch-curiculare Entscheidungen und pädagogisch-methodische Konzeptionen Lehrwerke, pädagogische Konzepte und Unterrichtsgestaltung sind zu bedenken — im Hinblick auf pragmatische Orientierung an Kommunikations- und Lebenssituationen,

81. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts

- nach dem Fortgang des sozialen Kennenlern-, psychischen Verarbeitungs- und Zweitsprachenerwerbsprozesses (einschließlich sprachlich-grammatischer Progression), - nach dem Zusammenhang von kommunikativer Tätigkeit und Lernen, - nach der Beziehung von Bildern und Texten, - nach der Möglichkeit von Individualisierung und Differenzierung für verschiedene Lernergruppen, - und nach Anregungen zu entdeckendem und selbstbestimmten Lernen. Die Gruppenpädagogik aus den multikulturel-

len USA (Pragmatismus, William James/ John Dewey) ist am Gruppenwachstum und der Rolle des Gruppenpädagogen interessiert. Der Gruppenpädagoge soll, gruppenpädagogischen Leitsätzen zufolge, dort anfangen, wo die Gruppe steht, sich mit der Gruppe in Bewegung setzen, Hilfen durch Programmgestaltung geben, mit den Stärken des Einzelnen arbeiten, Zusammenarbeit vor Wettbewerb stellen und sich selbst überflüssig machen. Größere Lernergruppen werden in Primärgruppen von ca. 5 Mitgliedern gegliedert, phasenweise auch nach Herkunftssprachen, Fortgeschrittene können als Gruppensprecher und Tutoren fungieren. Nach dem Konzept des Offenen Curriculum orientieren sich Lehrende an allgemeinen Lenrzielen wie Mündigkeit oder Emanzipation, sind Lernziele nicht um jeden Preis einzuhaltende Sollziele, sondern revidierbare Vermutungen über Lernbedürfnisse, sind Lernmaterialien nicht auswendig zu lernende Verordnungen, sondern Anregungen zu Lernaktivitäten. Der Lehrende ist nicht Dompteur und Überwacher, sondern Animateur und Moderator von Lernaktivitäten. Nur zum Teil steuert er Lernaktivitäten über Lernziele, zum wesentlichen anderen Teil auch durch sein Lehrverhalten, das bestimmten Standards folgt. Offener Unterricht ist tendenziell immer Sozialisationseingriff, weil neue Einsichten, Techniken, Methoden, Haltungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verinnerlichen sind. Der Deutsch als Zweitsprache-Lehrer muss bei älteren Lernern und Eltern aus traditionellen und autoritär-sozialistischen Herkunftskulturen aufgrund ihrer kognitiv-memorierenden Lernerfahrungen mit Ängsten und Unmutsäußerungen gegenüber industriegesellschaftlich-liberalen reformpädagogischen

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Unterrichtskonzepten problemlösenden und spielerischen Lernens rechnen. Eine äußerst bedeutsame Konzeption ist die Methode Paulo Freire, v o n i h m z u r A l p h a -

betisierung von Landarbeitern in Brasilien entwickelt. Die Probleme der Bevölkerung werden erhoben und in Schlüsselwörtern erfasst, die netzartig verbunden („generativ") das „thematische Universum", Lebenswelt und Bewusstsein, ausmachen. Die Probleme (z.B. favela/Hütte für Wohnen) werden in Bildern dargestellt („enkodiert"), „visualisiert" und mit der Lerngruppe im Dialog besprochen („dekodiert"). Der gesellschaftliche Kontext wird hergestellt und Handlungsmöglichkeiten werden gesucht. Daran erst schließt sich die Lese- und Schreiblernphase mittels einer Entdeckungskartei (Phonemfamilien) an. Abgelehnt wird das „Bankierskonzept" der Bildung, das Einlagen in die Köpfe der Lerner macht, ohne sie zu Selbstund Mitbestimmung führen zu wollen. Im Dialog der Gruppe und mit großer Lernenergie gelangen die Lerner von einem naiven, „intransitiven" oder halbnaiven, „semi-intransitiven" zu einem weltofifen-kritischen, „transitiven" Bewusstsein. Dem sprachphilosophischen Konzept zufolge unterscheidet sich der Mensch als Gattungswesen vom Tier durch Sprache (Wort), planvolles Handeln (Aktion) und Reflexionsfähigkeit (Bewusstwerdung), entwickelt im Problemlösen der menschlichen Gruppe bei der Auseinandersetzung mit der Umwelt und in der Gruppe. Die Dreiheitsbeziehung Wort-Aktion-Bewusstwerdung, bezogen auf das Problem (von mir Trialektik genannt), macht den erfolgreichen Lernprozess aus. Die allgemeinen, als verbunden gedachten Lernziele Handlungsfähigkeit, Kommunikationsfahigkeit (in unserem Fall zweisprachig) und Reflexionsfähigkeit sind sowohl Reflexions- als auch Planungskriterium für Zweitsprachenunterricht (evaluativ und heuristisch): Sind die Lerner in der abgelaufenen Unterrichtssequenz handlungsfähiger, kommunikationsfahiger und reflexionsfähiger geworden, wie können sie es in der nächsten Sequenz werden? Der französische Lehrer Celéstin Freinet, der Arbeiterbewegung verpflichtet, entwikkelte in den 20er Jahren mit Erkundungen, freien Texten und Druck der Texte mittels einer Handpresse eine eigene Pädagogik. Das Lehrerpodest wurde entfernt. Lernkartei und Material für eigenständige Lernversuche, Lektüre von Leseheften aus der Klassenbibliothek, Malen und Spielen treten anstelle

790 des Frontalunterrichts. „Spielarbeit" ist der zentrale Konzeptbegriff der Freinet-Pädagogik: selbstbestimmte, ernsthafte, nicht entfremdete Tätigkeit des Kindes. Für den Sachunterricht machen je zwei Schüler Erkundungen und tragen die Ergebnisse in Wort und Skizze oder Bild vor. Leistungen (auch lautes Lesen und Aufsatzschreiben) werden auf Wandkartons mit Listen registriert. Aufsätze können je nach individueller Planung und Tagesverfassung individuell geschrieben werden. Durch Korrespondenz mit anderen Klassen werden Informationen eingeholt. Die Arbeit der Klasse wird in Wochenplänen festgelegt und reflektiert. Diese sprachaktive Pädagogik bietet Individualisierungs- und Differenzierungsmöglichkeiten und vermeidet Überforderung. Um den Aspekt des Zweitsprachenerwerbs und interkulturellen Lernens erweitert, eignet sie sich hervorragend auch für den Unterricht mit Migrantenkindern. Die Projektmethode wurde wie die Gruppenpädagogik in der Einwanderungsgesellschaft der USA nach der Jahrhundertwende entwickelt (Pragmatismus - Kilpatrick/Dewey) und eignet sich besonders auch zum Zweitsprachenunterricht mit Jugendlichen. Mit Interesse und Engagement arbeiten sie auf ein konkretes Produktziel hin. Dabei benutzen sie die Zweitsprache als Verständigungssprache (Lingua Franca). Beim Projekt „Fahrrad" beispielsweise wurden vom Sperrmüll defekte Fahrräder besorgt und in der Werkstatt der Schule fahrtüchtig gemacht. Das Projekt besteht im einzelnen in den Schritten — Ideenfindung (Brainstorming) und Zielbestimmung, — Klassenrat/Beschlussfassung, — Arbeiten in Gruppen nach eigenem Zeitplan, — Zielerreichung, Anwendung (hier: Fahrradtour), Fest und Reflexion des Projekts. Die Zweitsprache wird verwendet beim Planen (Wort), Arbeiten (Aktion) und Nachdenken (Reflexion), bisweilen pragmatisch verkürzt (ζ. B. „Schraubenschlüssel, schnell bitte!"). Fachbegriffe werden erworben und bedacht (ζ. B. Zieht der „Schraubenzieher" Schrauben?). In Projekten werden Interessen ausgehandelt, das Fremde und Eigene in Bezug gesetzt, Konflikte bearbeitet und Kompromisse geschlossen, Frustrationen und Misserfolge werden ertragen, Ausdauer wird verlangt, kurzfristige Bedürfnisse werden zu-

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

gunsten langfristiger Ziele aufgeschoben. Persönliche Qualifikationen werden trainiert, die über die sprachlichen hinausgehen, für das gesellschaftliche und berufliche Leben aber von hoher Bedeutung sind. Sprachliche Informations-, Reflexions- und Ubungsphasen können in Kurzeinheiten eingeschoben werden. Theaterprojekte sind zum Zweitsprachenerwerb besonders geeignet.

4.

Didaktisches Baukastensystem das „Freiburger Modell" als Beispiel

Ein didaktisches Baukastensystem für den Deutschzweitsprachenlehrer, handlungsleitend auf einer mittleren didaktischen Ebene, „Freiburger Modell" genannt (Henrici 1986), wurde im Rahmen eines Modellversuchs in einer Freiburger Vorbereitungsklasse in der Hauptschule in fünfjähriger Unterrichtspraxis erarbeitet. Es besteht aus folgenden miteinander korrespondierenden Elementen: a) Situationsanalyse in Stichwörtern zur schwierigen Lebenssituation von Migranten(kindern): Der Lerner, im Schnittbereich der vier Situationsfelder Familie, Schule, deutscher Alltag und Arbeit/Beruf, ist widersprüchlichen Erwartungen ausgesetzt. Devianz und Krankheit sind vorhersehbar, falls die Erwartungsdiskrepanzen vom Subjekt nicht mehr verarbeitet werden können. b) Allgemeine oberste Lernziele - Handlungsfähigkeit, - Kommunikationsfahigkeit (zweisprachig) und - Reflexionsfähigkeit, die, sondierend auf die Situationsfelder gewendet, Kommunikationssituationen/Themen auffinden lassen. c) -

Themenkatalogfür Unterrichtseinheiten wie Kennenlernen, In der neuen Schule, Wir erkunden unsere Stadt, Deutschlernen: immer mehr und besser, Im Straßenverkehr, Beim Arzt, Winterschlussverkauf, Fastnacht, Frühling, Warum sind unsere Eltern so streng? Projekt Fahrrad, Im Schwimmbad.

81. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts

Mit der Abfolge von (austauschbaren) Themen wird das Jahrescurriculum in Tertialen festgelegt. d) Pragmalinguistische Bestimmung von Kommunikationssituationen nach — thematischen Inhalten, — Rollen der Kommunikationspartner, — ihren Absichten und Interessen, — üblichen und nützlichen Kommunikationsstrategien, — Kommunikationsmustern, Sprechakten und sprachlichen Regularien. Zum Thema „Im Straßenverkehr" sind Kommunikationssituationen Verkehrsunfall/Kontrahenten im Gespräch/Unfallmeldung mit Telefon. Der eingesessene Kontrahent beschimpft den ausländischen wegen vermeintlich mangelnder Fahrkompetenz. e) Grammatikleitfaden: Er macht den Lehrenden vollends vom Lehrwerk unabhängig. Gefasst ist er als Tableau mit Spalten zum Verb (Formenlehre, haben/sein, Modalverben, Perfekt, Passiv, Tempora, Konjunktiv), zum Nomen und seiner Anwendung (Singular/Plural, Kasus, Adjektiv, Präpositionen, Pronomina) und zur Syntax (Haupt-, Frageund Nebensatz). f) Merkmal-Liste Ausländerdeutsch'. Mit dieser soll der Lehrende von vornherein auf erwartbare Fehler aufmerksam gemacht werden: Weglassungen (z. B. von Artikeln, Präpositionen, Hilfsverben und Personalpronomina), Vereinfachungen (z.B. „gehen" statt „fahren"), Übergeneralisierungen (z. B. „gehen" für alle Präsensformen dieses Verb), falsche Wortstellung (keine Erststellung des Verbs im Fragesatz), kreative, aber unübliche Wortschöpfungen wie „andere Platz" für „anderswo". g) Ein Schema für den typischen Verlauf einer Unterrichtseinheit rät zu folgender Schrittigkeit: (1) Visualisierung von drei Problem- bzw. Kommunikationssituationen (nonverbaler Impuls); (2) Freie Äußerungen der Lerner, provoziert mit den Fragen: Was passiert denn da? Habt ihr das schon einmal erlebt? (3) Dialogisches Sprechen und Rollenspiel mit Stockmasken und Dialogtabellen: Der Lehrer führt mit den Stockmasken die Szene mit verschiedenen Rollen vor, gibt die Stockmasken (Rollen) an Schüler ab und soufliert bei deren Rollenspiel.

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(4) Angeleitete Textproduktion: Unter starker Lenkung des Lehrenden wird an der Tafel ein Text mit wenigen Sätzen erstellt und anschließend mehrmals gelesen. (5) In der Phase der „grammatischen Schleife" werden sprachliche Regularien mit Hilfe von visuellen Markierungen erarbeitet. (6) In der „sachunterrichtlichen-interkulturellen Schleife" werden Sachverhalte im interkulturellen Vergleich erarbeitet (z. B. Schwimmengehen und Schwimmbad). (7) In der Anwendungsphase wird geübt, gefestigt und produziert (z. B. Lückentexte, Satzdomino, freie Textproduktion, Partnerlesen und -diktate). (8) In der abschliessenden Reflexion der Unterrichtseinheit (freudiges und enttäuschtes Schemabild eines Kopfes, Symbole oder Sätze für die abgelaufenen Aktivitäten, Erhebung zufriedener und enttäuschter Stimmen) kommen die Lerner über gemeinsame Lernerfahrungen zu Wort. (h) Standards des Lehrverhaltens steuern den Unterricht mit und sind zu beobachten: — in kommunikativ-sprachlicher Hinsicht (z. B. Mimik und Gestik bewusst einbeziehen!) — in sozialer Hinsicht (z. B. Sich als relevante Bezugsperson einlassen!) — in Hinsicht auf zweisprachige Kompetenz (z. B. Erstsprache bei der Gruppenarbeit einsetzen!) — in Hinsicht auf schulische und gesellschaftliche Vorgänge (z. B. Verbindung zu Eltern und Sozialarbeitern halten).

5.

Differenzierte Anwendung — Varianten pädagogischer Tätigkeit

Vorbereitungsklasse/Regelklasse/Förderkurs: Der didaktische Baukasten ist für den Unterricht in der Vorbereitungsklasse in der Hauptschule entwickelt worden. Die Schrittigkeit im Unterrichsverlauf, im typisierenden Verlaufsschema gefasst, und die Bildungs-, Sprachphilosophie und problem- und lernorientierte Methode nach Paulo Freire bilden den Kern. Diese Zweitsprachenerwerbskonzeption ist grundlegend für jeden handlungsorientierten Lernprozess. Beim Unterricht in der Regelklasse sollte der Lehrer im Interesse von Migranten(kindern) (und zugunsten auch eingesessener benachteiligter

792 Lerner) die Lerninhalte möglichst auf Verwendungssituationen (sozialer Handlungskontext) beziehen und Lernergebnisse in Tafelprotokollen mit kurzen Sätzen festhalten. Rein mündlich gestalteter Unterricht überfordert zugewanderte (und benachteiligte eingesessene) Lerner. Der Förderkurs, der parallel zum Regelunterricht in vielen Fällen angebracht ist, hat die Aufgabe, spezifische Lernprobleme aus dem Regelunterricht aufzunehmen, nötigenfalls andere Lernzugänge zu schaffen und die Lerner in ihren schwierigen Situationen auch psychisch-emotional zu stützen. Arbeit mit Texten: Texte, die den Lerner zu überforden! drohen, sollten didaktisch, etwa als Kopien aus dem Lehrwerk mit breitem Rand, präpariert werden. Markierungen können als „advance organizer" Hinweise für die fortlaufende Darstellung (ζ. B. Abfolgen: zuerst, dann später, schließlich) angebracht werden. Bedeutungen können mit Bildsymbolen oder Varianten und Umschreibungen (Synonymenlexikon) erklärt werden. Unbekannte oder schwierige Formen können in ihrer Systematik (z.B. „kann" in der Konjugationsreihe des Präsens) unten stehend aufgeführt werden, Hinweise zur Wotbildung gegeben werden (ζ. B. Bund - binden - Verband). Zur Erschließung von Texten kann von der Überschrift auf den Inhalt hin gefragt werden, zentrale Wörter können gesucht, Textabschnitte mittels untergliedernder Überschriften bzw. Inhaltsangaben in Beziehung gesetzt werden. Die freie Textproduktion ist eine hervorragende, den Lerner herausfordernde Methode (s. Freinet-Pädagogik), die mit Hilfen oder Wörterbuch zur Erweiterung des Wortschatzes und zu grammatischen Fragestellungen führt. Fehler sind als Lernanlässe im fortschreitenden Lernen zu nutzen. Kinder — Jugendliche — Erwachsene: Der didaktische Baukasten dient zum Deutsch als Zweitsprache-Unterricht in allen Altersstufen. Im Kindergarten werden Bilder betrachtet, Rollenspiele gemacht, Spiele gespielt, Lieder gelernt und Gegenstände hergestellt. Die Schriftlichkeit weggedacht, bietet der Freiburger didaktische Baukasten gerade mit seiner Schrittigkeit des Lernprozesses auch dafür Hinweise. Das Rollenspiel stellt als Motivationsfaktor und Übungsmöglichkeit einen zentralen Punkt dar. Auch spielungewohnte Jugendliche und Erwachsene lassen

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

sich aufgrund der sozialen Ansteckung und dem offensichtlichen Anwendungsnutzen ins Spiel hineinziehen. Gerade die Problemorientierung der Kommunikationssituationen ist für sie ein hoher Lernanreiz. Bei Lernaufgaben, die nicht realitätsgerecht sind, sind dagegen Lernbarrieren und -blockaden vorprogrammiert. Visualisierung und andere Initialimpulse: Die Visualisierung, ein non-verbaler komplexer Impuls, der Handlungs-, Kommunikations- und Denkherausforderungen an Problemen und Kommunikationssituationen aus der Lebenswelt der Lerner (Dekodierung von Enkodierungen) bietet, ist der Ausgangspunkt jedes sprachhandelnden Lernprozesses. Mit drei Bildern kann ein Thema focusiert werden (ζ. B. Post: Briefträger an der Wohnungstüre, Abholschalter/Schalterhalle, Telekommunikation). In ihnen sind bereits relevante Lernaufgaben angedeutet (Dialog, angeleitete Textproduktion, Grammatik). Der Lehrende sollte sich nicht scheuen, solche Problembilder mit Strich- oder Klischeefiguren erst vor der Lerngruppe zu malen. In der Regel sind die Schülerinnen sehr gespannt, was da entsteht, und helfen dem Lehrenden, sich visuell verständlich zu machen. Initialimpuls kann auch die Pantomime sein (ζ. B. Lehrerin im Arztkittel mit Stethoskop), die Simulation (ζ. B. Unfallhergang mit Spielzeugautos), das Kabinett (z.B. Wühltisch und Lautsprecheransage im Kaufhaus) oder Material zum Bauen (z.B. zum Bau eines Flachenxylophons oder einer Marimba). Rollenspiel, Stockmasken, episches Theater: Das Rollenspiel, gestützt etwa mit schriftlichen Dialogtabellen, ist eine bevorzugte Lernform im Deutsch als Zweitsprache-Unterricht. Eine Variante hierzu ist die kommentierte szenische Darstellung nach Brechts epischem Theater: Der Verkehrsunfall wird nachgespielt und dabei kommentiert, ein Märchen (ζ. B. Die Bremer Stadtmusikanten) wird zum Spiel mit Pappfiguren erzählt. Als Übergang von der Dialogskizze zum Rollenspiel dienen Stockmasken in einfacher Form aus Pappe (z.B. Briefträger und Kind zu Hause), hinter denen sich die Spieler/Sprecher verstecken und an denen sie sich in ihrer Unsicherheit festhalten können. Das Sprachspiel ist dabei noch um Gestik und Mimik entlastet. ErstlesenlErstschreiben: In dem Unterrichtsschema des didaktischen Baukastens können schreibunkundige Lerner

81. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts

bis zur angeleiteten Textarbeit mittun. Parallel zur Schreibphase können illiterate Lerner und solche, die das lateinische Alphabet lernen müssen, mit Arbeitsblättern schreiben lernen. Die Ganz-Wort-Methode bietet sich an: Bedeutsame Wörter aus der laufenden Unterrichtseinheit oder aus der Lebenswelt der Lerner (z.B. Eis, Auto, Rad, fahren, Fahrrad) werden in Buchstaben zerlegt und wieder zusammengesetzt nach Modellvorgaben mehrmals geschrieben. Im handlungsreicheren Unterricht und im Gespräch werden die Lerner dann wieder in den Unterricht eingebunden. Vokabeltrainer: Jeder Lerner hat seinen Vokabeltrainer, einen Kasten oder eine Kladde mit sieben Fächern, in dem jeden Tag Wortkästchen mit Symbolen oder Übersetzungen auf der Vorderseite, wenn die Bedeutungen gewusst wurden, ein Fach weiter wandern. Ist die Wortkarte im sechsten Fach angekommen, stellt sich der Lerner einem Lernhelfer zur Lernkontrolle. Vom siebten Fach wird die Wortkarte alphabetisch in die Wortkartei eingereiht, die nun als Lexikon dient. Einrichtung des Klassenzimmers: Nach der Freinetpädagogik wird das Klassenzimmer in ein Lernatelier umgestaltet (mit Druckecke, Schreibmaschine oder gar Computer, Bücherregal, Materialschrank, Spieleregal, Theaterkiste und Malsachen). Als Sitzordnung für „frontale" Unterrichts- und Gesprächsphasen empfiehlt sich das Hufeisen: Für das Nachsprechen ist eine Reihenfolge vorhanden, die Lerner können sich auf den Mund schauen, für das szenische Spiel besteht eine Bühne. Umgruppierungen zum Gegenübersitzen in Arbeitsgruppen sind schnell vorgenommen. Lern- und Sprachstandbestimmung: Es gibt keine für alle Lerngruppen gleichermaßen geeignete Lernstand- und Sprachtests. Nach dem didaktischen Baukasten sind Problembilder Impulse zu freier Textproduktion (produktive Kompetenz), werden Lückentexte nach dem grammatischen Leitfaden eingesetzt (grammatische Kompetenz) und Textverständnis (rezeptive Kompetenz) erhoben (Verständnis Überschrift-Text, Textabschnitte, multiple choice-Fragen). Für die Bewertung der mündlichen Kompetenz können Tonaufzeichnungen gemacht und ausgewertet werden.

793

Lern- und Übungsformen: Verschiedentlich sind Typologien und Muster von Übungsformen vorgelegt worden (vgl. Neuner/Krüger/Grewer 1981). Es werden Sozialformen des Unterrichts (Einzelarbeit, Partnerarbeit, Kleingruppenarbeit, Arbeit in der Großgruppe/Plenum) ebenso genannt wie Methoden zur Entwicklung von Verstehensleistungen (etwa durch Textvereinfachung und Zuordnung Bilder-Text), Methoden zur Grundlegung von Mitteilungsfahigkeit (ζ. B. Satzschalttafeln, Satz- und Dialogergänzungen oder Textproduktion mittels eines Flussdiagramms) und zur Entfaltung von freier Äußerung (Redemitteltabellen). Propädeutischer Sach- und Fachunterricht: Beim Thema „Winter" können in der „sachunterrichtlich-interkulturellen Schleife" die verschiedenen Aggregatzustände des Wassers phänomenologisch und die Jahreszeiten aus dem Stand von Sonne und Erde mit Schaubild erklärt werden. Beim Thema „Arzt" können biologisch-menschenkundliche Sachverhalte bearbeitet werden. Beim Bau einer Marimba kommt die Tonleiter und Chromatik der europäischen Musik im Unterschied etwa zur arabesken Musik zur Sprache. Zeugnis und Übergang in die Regelklasse und auf weiterführende Schulen: Der Deutsch als Zweitsprache-Unterricht ist eine Übergangsphase bei der schulischen Eingliederung. Die Schüler drängen von sich aus in die Regelklasse. Zur Information des aufnehmenden Kollegen dient eine schriftliche Lernstandbeschreibung zur Kommunikativen Kompetenz im Deutschen (mündlich/ schriftlich), zum sozialen und Leistungsverhalten und eine prognostische Einschätzung zum erwartbaren Lernfortschritt. Schullaufbahn- und Bildungsberatung: Häufig werden Migrantenkinder vorschnell und in wohlmeindender pädagogischer Absicht der Hauptschule zu- oder gar in die Sonderschule überwiesen. Der Sprachstand in der Zweitsprache ist keine hinreichende Begründung. Im Zweifel sind Befunde zur Motivation und Intelligenz (erweisbar etwa auch im Mathematikunterricht) höher zu gewichten. Gerade auch für Mädchen, die auf dem Lehrstellenmarkt besondere Schwierigkeiten haben, bieten die Fachklassen in der Berufsschule mit Vollzeitunterricht eine gute Möglichkeit, Sprach- und Fachkompetenz zu erweitern. Nach einem guten Abschluss der

794 Berufsausbildung könnte das Berufliche Gymnasium besucht werden. Das dreigliedrige Schulsystem der deutschsprachigen Länder (mit der vierten Schulart Sonderschule) ist den Eltern aus ihren Herkunftsländern mit Stufenschulsystem nicht bekannt, was zu vielfaltigen Missverständnissen und Fehlentscheidungen führen kann. Häufig haben ausländische Eltern ein (zu?) hohes Anspruchsniveau. Motivation und Unterstützung seitens der Eltern sind hoch einzuschätzen. Auch bei den Mädchen setzt sich immer mehr der Wunsch nach einer Berufsausbildung durch. Die Eltern sollten bei der Vorwegnahme der Zukünfte ihrer Kinder und bei Rückkehrorientierung die Jugendarbeitslosigkeit und die zunehmende Emnazipation der Frau auch in den Herkunftsregionen bedenken. Eltern(mit)arbeit und Beratung: Die Eltern sollen Verständnis gewinnen für die Vorzüge problemlösender reformpädagogischer Lernkonzepte. Sie benötigen Unterstützung bei Überlegungen zum widersprüchlichen Integrations- und Erziehungsprozess, zur bilingualen Sprachförderung und Beratung zum Aus-Bildungscurriculum, sind Partner im Erziehungsprozess und beim Eintreten für eine chancengerechte Schulorganisation. Vor dem Elternabend ist ein Hausbesuch angebracht. Im Elternabend muss die Verständigung der Eltern gesichert werden (etwa auch mittels problemformulierender Bilder, Gruppengesprächen und Gruppensprechern/ Dolmetschern). Elternmitarbeit ist erwünscht bei Schulfesten, sollte aber darüber hinausgehen (ζ. B. Einladung als Experten in den Unterricht). Gemeinsame Ausflüge können zum Kennenlernen der Region und geselligen Bekanntwerden dienen. Elternvertreter können ad hoc bei der Durchsetzung der Bildungsinteressen ihrer Kinder und geeigneter Maßnahmen (ζ. B. Förderkurse) mitwirken. Fachsprachenerwerb und Berufsausbildung: Fachsprachenerwerb und Fachkunde einerseits, die Kommunikation mit Kunden, Kollegen und Ausbilder andererseits sind wesentliche Dimensionen der Berufsausbildung. In ausbildungsbegleitenden Hilfen erhalten ausländische Jugendliche ergänzend zur Berufsschule Stützunterricht und sozialpädagogische Begleitung. Die Gesprächs- und Beratungsfahigkeit der Friseurin beispielsweise bedingt ihren Berufserfolg entscheidend mit. Von Auszubildenden wird in der Leistungsgesellschaft aktives Interesse und Verhalten er-

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

wartet. Gravierende Missverständnisse entstehen, wenn der Auszubildende in Erwartung des traditionellen südlichen Patron-Klientel-Verhältnisses eine zögerliche, in den Augen des Ausbilders untätige, Haltung einnimmt. Ausbildungsabbruch droht. Für die Fachkunde und den Fachsprachenerwerb ist der didaktische Baukasten zu modifizieren (vgl. Schmitt 1989). Von Problemen aus (ζ. B. Vergaser defekt) ist Handlungswissen in beruflichen Handlungsakten, technisches und Werkstoff-Wissen und schließlich wissenschaftlich-systematisches Grundlagenwissen zu erwerben — in dieser Reihenfolge, nicht umgekehrt, wie es in Fachkundebüchern dargeboten wird. Die Fachsprache ist in ihrer Wortbildung (der „Vergaser" ist ein Zerstäuber) und an geeigneten Modellen (hier: Blumenspritze), den Wortzusammensetzungen (Haare sind „handtuchtrocken") und ihrem nominalistischen Stil („nach Herausdrehen des langborstigen Haarwicklers") zu erfassen, die Betriebssprache zu berücksichtigen (ζ. B. „Muffe X" für einen „Pol" der Autobatterie). Der Handlungsakt Dauerwellenbehandlung reicht von der Kundenberatung bis zur Geschichte der Dauerwelle, Haarwäsche und Wellmitteleinsatz bis Fixieren, Nachbehandlung, Entkrausen und Heimdauerwelle. Bei der Erklärung der Handlungsakte wird Grundlagenwissen erarbeitet und immer wieder überlernt (ζ. B. Haaraufbau, Hautfunktionen, pH-Wert und Wirkung von Säuren und Laugen). Lernziel Zweisprachigkeit!Bilinguale Methode: Der Zweitsprachenunterricht soll bei lebensweltlich zweisprachigen Lernern möglichst auch zur Entwicklung von Äquilinguismus beitragen. Konzeptionelle Regeln sind zu überprüfen, die im Einwanderungsland USA in bilingualen Lerngruppen entwickelt wurden (Dodson): (1) Häufiger Wechsel zwischen Zeit- und Erstsprache; beide sind Unterrichtssprachen; das Umschalten zwischen den beiden Sprachen wird trainiert. (2) Die Vermittlung der Schreibtechnik wird in der Erstsprache empfohlen. (3) Einleitung in das Thema mittels der Sprache A, Unterricht mittels der Sprache Β - in der nächsten Unterrichtssequenz umgekehrt. (4) In der Schrittfolge Imititation - Interpretation Substitution/Erweiterung unabhängige mündliche Produktion - umgekehrte Interpretation - Festigung von Fragemustern Fragen und Antworten — FremdsprachenKonversation bei der Bearbeitung von TextLektionen sollen die Interpretationsphasen in

81. Der Faktor „Lehren" im Bedingungsgefüge des Deutsch als Zweitsprache-Unterrichts

der Erstsprache erfolgen. (5) Erst- und Zweitsprache sind jeweils eigene Denkkonzepte, Wort-für-Wort-Übersetzung mit Regelanwendung als Selbstzweck würde nur das spontane Umschalten stören. (8) Auszugehen ist von der unterschiedlichen Relevanz der beiden Sprachen in den verschiedenen Sprachdomänen wie Familie und Öffentlichkeit. (7) Grundlegend ist die volle Anerkennung der in der Erstsprache erworbenen Kultur. Einbeziehung alternativer Methoden: In den alternativen Methoden zur Fremdsprachenvermittlung Community Language Learning (CLL), Silent Way (SiL) und Suggestopädie (SugP) soll ausdrücklich die ganze Person des Lerners einbezogen werden. Total Physical Response (TPhR) und Natural Approach (NatA) nutzen Erkenntnisse zum Erstsprachenerwerb (vgl. Thomas 1987 passim). Bei CLL mit ihrem humanistischen Anspruch ist zentral die Wertschätzung der menschlichen Gruppe („Community") und ihres genuinen Lernpotentials und ihrer Gruppendynamik. Der Counselor/Berater ist ein „entgöttlichter und entthronter" Lehrer, warm reflektierender und unterstützender Moderator, der den Lerner mit der Gruppe in sprechtätigen Bezug bringt. Der Lerner wendet sich mit seinen Lernbedürfnissen an die Gruppe. Zunächst wird in einfachen Sätzen gesprochen, später erst in komplexeren Strukturen. Ein Chromacord-Apparat verdeutlicht sprachliche Strukuren. Erst wenn genügend Sicherheit erworben ist, interveniert der Counselor/Lehrer bei grammatischen und Aussprachefehlern direkt, noch später erst bietet er Idiome und Satzkonstruktionen an. Für SiL ist zentral der „Geist der Sprache", Sprachmelodie und Sprachstruktur, nicht im grammatischen, sondern im kulturellen Sinn, zu erfassen nur in zielsprachlicher Umgebung, die nötigenfalls simuliert werden muß. Schlüsselfunktion hat der Begriff der „inneren Kriterien" Richtigkeit, Korrektheit und Angemessenheit. Lernen wird als kreativer, höchst eigenständiger Prozess beim Lerner verstanden. Wichtigstes Mittel, eigenständiges Lernen zu wecken, ist das Schweigen. Anders als in CLL setzt der Lehrende strikt den Rahmen für die Aktivitäten, bestimmt er die Inhalte und lenkt er das Unterrichtsgeschehen, allerdings in weitgehend schweigender Steuerung, kaum mit eigenen Sprachbeispielen und unter äusserster Beschränkung

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der Korrekturen. Sprache wird kaum emotional, sondern besonders zur Schärfung der Intelligenz und zum Aufbau kognitiver Prozesse eingesetzt. Hoch wird der Wert des Schlafes eingeschätzt. Mit einem Minimalvokabular wird ein Höchstmaß an sprachlichem Bewusstsein erzeugt. Aussprache, Intonation, funktionaler Wortschatz und grundlegende grammatische Strukturen werden zunächst in einem eng abgesteckten Rahmen erlernt. Später erst kommt die Bewältigung von Kommunikationssituationen und die Beschäftigung mit Literatur hinzu. Entdeckungsmaterial (Lauttafeln, Wortlisten und die Arbeit mit Stäbchen verschiedener Form und Farbe zum Symbolisieren sprachlicher Strukturen) stützt den Lernfortgang. In der SugP werden die Gesetzmäßigkeiten der Suggestion und „unterschwelliger" Wahrnehmung, auch mit Hilfe von Musik und Kunst, nutzbar gemacht. Schulisch-kognitives Lernen wird als eher einschränkend gewertet. Hohe Lehrerautorität und Bereitschaft zur Infantilisierung und zum Spiel beim Lerner, Sensibilität für nonverbale Kommunikation, Intonation und Rhythmus und die Ritualisierung des Unterrichtsverlaufs tragen nach dieser Auffassung erheblich zum ganzheitlichen Lernerfolg bei. Im dritten Schritt, der „Séance", werden nach der Entspannung durch Barockmusik die Lerner bei geschlossenen Augen mittels Text oder Spielszene eher unterschwellig angegangen. Die suggestopädische Variante „Superlearning" konzentriert sich noch stärker auf die Wortschatzvermittlung. Hier setzt man auf Entspannung, Atemtechnik, Intonation und Musik, wodurch sich Gehirntechnik und Lernvermögen um das fünf- bis fünfzigfache steigern sollen. In der „Supermemory-Sitzung" werden mittels Tonkonserve Sprachhäppchen vermittelt. Die deutsche Variante „Psychopädie" arbeitet mit stärkerer Aktivierung durch Dialoge, Mimik, Gestus und Handlung. TPhR verfolgt mit gehirnpsychologischer Begründung ein kinetisches Vermittlungskonzept mit Körperbewegungen und Lernen am Modell (Aufstehen! - Setzen! - Gehen! — Halt!). Unterricht ist im Krashen'schen Sinne emotiver und rationaler Erwerb (acquisition) und bewusstes methodisches Lernen (learning). Vokabeln werden in Dreiergruppen vorgestellt und internalisiert. Fragen und grammatische Strukturen kommen hinzu, dann werden bekannte Methoden eingesetzt.

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NatA ist eine reine Sprachvermittlungsmethode. Mit Bezug auf Krashen werden methodische Hinweise aus dem Erstsprachenerwerb gewonnen (nachrangiger Stellenwert des Lernens, bewusstes Regellernen als Störfaktor), seine Monitor-Theorie wird übernommen. „Unbewusstem" Spracherwerb in realen Kommunikationssituationen wird der Vorzug gegeben. Der Monitor übt im Nachgang und unter notwendiger Weise erheblichem Zeitaufwand Kontroll- und Korrekturfunktion aus. Der Monitor-„overuser" wird durch ängstliche Regelbeachtung bei der Sprechtätigkeit eher behindert, der „underuser" ist an grammatischer Richtigkeit eher uninteressiert. Der „Natural Order"-Hypothese zufolge gibt es eine quasi natürliche Reihenfolge beim Erwerb sprachlicher Strukturen. Die „Input"-Hypothese geht von der Vorrangstellung des Hörverstehens und Lesens im Unterricht aus. Man vertraut auf den Drang zur sprachlichen Mitteilung, „teacher talk" wird als bester möglicher Input gewertet. Die „Affektiv Filter"-Hypothese wird vertreten, dass nämlich gerade die affektiven Faktoren unbewussten Spracherwerb und methodisches Lernen entscheidend beeinflussen. Spiele:

Lernen im Spiel ist ganzheitliche, selbstbestimmte, lustvolle, nicht entfremdete Tätigkeit. Spielen hat, sofern Sprechen durch eine Regel nicht ausgeschlossen ist, immer auch Sprachanteile. Einer Typologie der Spiele entlang kann nach der Relevanz für (Zweit-)Sprachenlernen gefragt werden: Kennenlernspiele, Kreisspiele, Partner- und Gruppenspiele, Posten- und Hindernislauf, Lauf-, Ball- und Würfelspiele, Spiel mit und ohne Material, Brettspiele, Kimspiele zur Schulung der Sinne, Pantomime und szenische Spiele bis hin zu Sprach- und Ratespielen wie etwa Beruferaten. Die Einbeziehung von Spielen ist auch angebracht, um die Migranten(kinder) zum Mitspielen zu befähigen. Verschiedene Kulturen und Gesellschaften haben unterschiedliche Spiele. Spiele können also auch zum Gegenstand interkulturellen Lernens werden. Lieder:

Gängige Lieder mit ihrem Wortschatz und ihren Satzstrukturen können in hervorragender Weise das (Zweit-)Sprachenlernen unterstützen. Je mehr sie sprachlich exemplarisch für die heutige Sprache und je mehr ihre sprachlichen Mittel für gesprochene Sprache stehen können, desto geeigneter sind sie. („Rösser",

X. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand I

die der Bauer „im Märzen" einspannt, z. B. müssen als Pferde erklärt werden.) Liedmelodien können mit eigenen erfundenen Texten (auch zum Unterrichtsthema) unterlegt werden. Melodien und Texte können neu erfunden werden (Rollenspiel als Musical?). Medien:

Grundsätzlich eignen sich alle Medien als Impulse oder Gegenstände für (Zweit-)Sprachenunterricht. An ihnen kann konkreter Wortschatz erworben werden, nicht jedoch abstrakter (z. B. Begriff Wahrheit). Die Printmedien, Funk und Fernsehen können und sollten, sprachdidaktisch aufgearbeitet, einbezogen werden, z. B. mit problemorientierter Einleitung, Erklärung zentraler Kernstellen und Verständniszusammenfassung in Abschnitten. Zeitungsmeldung, Bilderfolge, Bilderbuch, Photoroman, Comics, Dia-Reihe und Film oder Hörspiel sind vor ihrem Einsatz sorgfältig didaktisch zu analysieren auf die Verständlichkeit aus dem Kontext, auf den Zweitsprachenerwerb und auf notwendige Hilfen hin. Die Produktion solcher Medien (Kriminalstory, Photoreportage, Hörszene, Videofilm) im projektorientierten Unterricht bietet für fortgeschrittene Lerner günstige Motivation und Anlässe zur Erweiterung der Zweitsprachenkompetenz.

6.

Literatur in Auswahl

Henrici, Gert (1986): Studienbuch: Grundlagen für den Unterricht im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache (und anderer Fremdsprachen). Paderborn. Lörcher, Gustav Adolf/Schmitt, Guido (1985): Aufnahmeunterricht für „Seiteneinsteiger". Tübingen: Deutsches Institut für Fernstudien. Neuner, Gerhard; Michael Krüger; Ulrich Grewer (1981): Übungstypologie zum kommunikativen Deutschunterricht. Berlin und München. Pommerin, Gabriele (1977): Deutschunterricht mit ausländischen und deutschen Kindern. Bochum. Schmitt, Guido (1989): Der didaktische Baukasten - Konzept für die Förderung ausländischer Jugendlicher in der Zweitsprache und in der Fachkunde. In: Deutschlernen 2/3. Thomas, Uwe (1987): Alternative Fremdsprachenvermittlungsmethoden. Berlin. Guido Schmitt, Freiburg (Deutschland)

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II: Die Planung von Deutsch als Fremdsprache-Unterricht 82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

1.

Einführung: Zum Stand der Lehrplanforschung Zur Funktion von Lehrplänen Kriterien der Lehrplangestaltung Zur Begriffsbestimmung von: Lehrplan — Rahmenrichtlinien — Curriculum Warum müssen Curricula immer wieder überarbeitet bzw. neu gestaltet werden? Unterschiedliche Arten von Lehrplänen Curriculumentwicklung als Prozess Elemente von Curricula: Was gehört in ein Curriculum? Curricula und Prüfungsbestimmungen Curriculum—Lehrwerk—Unterricht Lehr- und Lernziele Literatur in Auswahl

Einführung: Zum Stand der Lehrplanforschung

In der Einführung zum Themenheft „Lehrplan und Prüfungsordnung" der Zeitschrift Die Neueren Sprachen (1/1982, 2) wird angemerkt, dass der Bereich Lehrpläne/Richtlinien in der fremdsprachendidaktischen Literatur zu den am wenigsten behandelten Themen gehöre. Lehrplanforschung ist bis heute für die Fremdsprachendidaktik im allgemeinen und für das Fach Deutsch als Fremdsprache im besonderen ein Desiderat: in der Fachliteratur für Deutsch als Fremdsprache findet man - wenn man von den „Katwijker Empfehlungen zur Curriculumentwicklung" (1993) absieht — kein nennenswertes Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Thema „Lehrplan/Curriculum". Wer sich in das Thema einarbeiten will, muss entweder englischsprachige Veröffentlichungen zu Rate ziehen (u. a. Clark/Hamilton 1984; Nunan 1988a und 1988b; van Ek 1976; White 1988; Wilkins 1976; Yalden 1983 und 1987) oder auf die spärlichen Aufsätze aus der Didaktik der neusprachlichen Unterrichtsfacher zurückgreifen - neben dem genannten

Themenheft der Neueren Sprachen 1/1982, einem Themenschwerpunkt in Derfremdsprachliche Unterricht (H. 15, 1981) Einträgen zu „Rahmenrichtlinien" (Brockmeyer) und „Curriculum" (Heuer) im Reallexikon der englischen Fachdidaktik, hrsg. v. Schröder/Finkenstaedt (1977) und „Lehr- und Lernziele" (Doye), „Lehr- und Lernziele, Curriculumforschung" (Achtenhagen), „Das sprachliche Curriculum" (Zimmermann) im Handbuch Fremdsprachenunterricht (hrsg. v. Bausch/ Christ/Krumm 1995) ist vor allem der Sammelband Forschungsgegenstand Richtlinien (hrsg. v. Bausch/Christ/Hüllen/Krumm 1985) zu nennen - bzw. auf allgemein gehaltene Ausführungen — oft älteren Datums — zum Thema zurückzugreifen (u. a. Hesse/ Manz 1972; Robinsohn Hrsg. 1972; Westphalen 1985). Dass im Bereich Deutsch als Fremdsprache die „Katwijker Empfehlungen zur Curriculumentwicklung" (1993) keine intensive Beschäftigung mit dem Thema Lehrplanentwicklung ausgelöst haben, ist angesichts des praktischen Bedarfs an Handreichungen und Hilfestellungen, die sich aus der Entwicklung neuer Curricula zum Deutschunterricht in vielen Ländern - vor allem im Bereich der Länder Mittel- und Osteuropas und der GUS — seit dem Anfang der 90er Jahre ergibt, erstaunlich. Es lassen sich eine Reihe von Gründen anführen, die dafür verantwortlich sein könnten: „Im überkommenen Denken sind Lehrpläne behördliche Vorgaben, an denen man besser nicht herumkritisiert. Ein weitverbreitetes, wiederum traditionelles Argument ist auch, dass der Neusprachler angesichts der zu observierenden sprachinhärenten Progression zumindest im Unterricht der Sekundarstufe I ohnehin gebunden sei, dass letztlich das Lehrbuch als „stiller Lehrplan" fungiere. Eine dritte Meinung ist schließlich die, dass

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XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

der gute, nämlich pädagogisch begabte und erfahrene Lehrer keinen Lehrplan brauche. Das letztgenannte Argument ist bis zu einem gewissen Grad stichhaltig. Denn zum einen spiegelt selbst der seriöseste Lehrplan die jeweiligen fachdidaktischen und fachmethodischen Diskussionsstände nur in verkürzter Form, zum anderen wirkt der jahrelange, mehr oder minder reflektierte Kontakt mit der Unterrichtswirklichkeit in einem Maße handlungsprägend, wie dies kein noch so feingliedriger Lehrplan vermag" (Schröder 1982, 2). Dass die Forschung im Fach Deutsch als Fremdsprache sich mit dem Thema „Lehrplan/Richtlinien/Curriculum" nicht eingehender beschäftigt hat, mag auch daran liegen, dass Lehrplanentwicklung als „Spezialistenwissen" eingeschätzt wird, das nur für wenige Fachleute von Bedeutung ist. Dasselbe gilt übrigens auch für die Erforschung der Lehrwerkentwicklung (vgl. Art. 105).

2.

Zur Funktion von Lehrplänen

Lehrpläne sind Vorgaben der staatlichen Schulaufsichtsbehörden für den Fachunterricht. Sie sollen eine Reihe von Aufgaben erfüllen: a) die Vergleichbarkeit der Leistungen und Erträge des Unterrichts sicherstellen b) den Lehrkräften Handlungshilfen für eine zeitgemäße Gestaltung ihrer täglichen Arbeit vermitteln c) Grundlagen für die Erstellung von Lehrmaterialien bieten (Piepho 1985, 119).

3.

Kriterien der Lehrplangestaltung

Um diese Aufgaben zu erfüllen, müssen Lehrpläne eine Reihe von Kriterien erfüllen (Sauer 1985, 131 f.): a) Vergleichbarkeit Sie betrifft die Einheitlichkeit der Anforderungen hinsichtlich der Unterrichtsziele und -inhalte, etwa im Hinblick auf bestimmte Schulformen bzw. Niveaustufen. b) Ausgewogenheit der Ansprüche Sie betrifft gesellschafts- und bildungspolitische Aspekte. In der Lehrplanerstellung wirken Schulaufsicht (einschließlich der Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen), Wissenschaftler und Lehrer zusammen, um gesellschaftliche, fachliche, pädagogische und personale Ansprüche zu sichern und a b z u gleichen.

c) Wissenschaftlichkeit Lehrpläne müssen einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten. Lernziele, Lerninhalte und Vorschläge zur Durchführung des Unterrichts müssen im Einklang stehen mit fachlichen und didaktischen Erkenntnissen. d) Praktikabilität Lehrpläne müssen so verfasst sein, dass sie nicht nur eine gründliche theoretische Fundierung bieten, sondern auch auf konkrete, auf Unterricht bezogene Entscheidungen anwendbar sind. Sie müssen deshalb auch konkrete Hilfen zur Umsetzung im Unterricht geben. e) Verständlichkeit Lehrpläne müssen so angelegt und abgefasst sein, dass sie von den Lehrer/innen in der Praxis verstanden, angenommen und umgesetzt werden. „Das erfordert eine klare, jargonfreie und konkret auslegbare Sprache und eine anschauliche Verknüpfung verschiedener theoretischer und konzeptioneller Aspekte, etwa von linguistischen Auswahl- und Progressionsprinzipien mit übergeordneten sprachpädagogischen Wert- und Normenkomponenten, von methodischen Übungs- und Aufgabentypologien mit inhaltlich-thematischen Gesichtspunkten, von bindenden und freisetzenden Handlungsanweisungen" (Piepho 1985, 119).

4.

Zur Begriffsbestimmung von: Lehrplan — Rahmenrichtlinien Curriculum

In der Fachdiskussion werden viele Bezeichnungen nebeneinander und z. T. synonym gebraucht, deren Abgrenzung jedoch oft nicht deutlich ist, z.B. Bildungsplan, Lehrplan, Curriculum, curricularer Lehrplan, Richtlinien, Rahmenrichtlinien, etc. „Was Lehrpläne, Richtlinien und Curricula wesensmäßig unterscheidet, sind nicht ihre Inhalte, nicht die didaktischen Kategorien, nach denen sie geordnet sind (Lernziele, Lerninhalte, Lernorganisation, Erfolgskontrolle), auch nicht die didaktischen Prinzipien, nach denen die Strukturierung des Unterrichts erfolgen sollte (z. B. Anschaulichkeit, Exemplarität, Wissenschaftsorientierung), sondern vor allem — die Funktion die sie als Baupläne und Bausteine des Unterrichts erfüllen sollen,

82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache

- die Entscheidungskriterien und Prozesse, nach denen sie entstanden und aus denen sie hervorgegangen sind, - der Grad der Verbindlichkeit, den sie beanspruchen" (Westphalen 1985, 12). Nach diesen Kriterien - Funktion; Entscheidungskriterien und -prozesse der Entstehung; Verbindlichkeit - kann man eine Abgrenzung in der Begriffsbestimmung von Lehrplan/Richtlinien/Curricula vorzunehmen versuchen. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, dass die begriffliche Unterscheidung von den Verfassern solcher Dokumente nicht immer eingehalten wird und dass die Übergänge - insbesondere zwischen Richtlinien und Curricula - fließend sind. a) Lehrpläne „Lehrpläne sind generelle Planungsinstrumente von Unterricht. Sie werden in der Regel von staatlicherseits berufenen Kommissionen entworfen und von der staatlichen Schulaufsicht erlassen. Sie beanspruchen traditionell ein hohes Maß an Verbindlichkeit, was die Orientierung an den erklärten allgemeinen Bildungszielen und die Berücksichtigung der obligatorisch oder fakultativ verordneten Unterrichtsinhalte anbetrifft" (Westphalen 1985, 13). In ihrer knappsten Form regeln Lehrpläne die Verteilung des Lehrstoffes über einen festen umrissenen Zeitraum (z.B. Festlegung der Lehrpensen der Grammatik nach dem Prinzip „vom Einfachen zum Schwierigeren/ Komplexen" und Abstufung (Progression) nach Schuljahren). In ihrer erweiterten Form enthalten sie neben dem Stoffverteilungsplan Aussagen zu übergreifenden Bildungszielen, die auch für den Fachunterricht in der Fremdsprache gelten (oft in der Form von Präambeln vor den Hinweisen zu den einzelnen Unterrichtsfächern), d. h. sie formulieren die allgemeinen und fachspezifischen didaktischen Grundlagen des Unterrichts und sie geben Hinweise zu den Prinzipien und Verfahren der Unterrichtsgestaltung (Methodik). b) Richtlinien „Richtlinien unterliegen gleichen oder ähnlichen Entstehungsbedingungen wie Lehrpläne, erheben grundsätzlich gleichrangige Ansprüche auf Rechtsverbindlichkeit und Allgemeingültigkeit, sind ebenfalls globale Steuerungsinstrumente für das Schulwesen eines Landes. Der mehr graduelle Unterschied zu den Lehrplänen liegt vor allem

799

darin, dass sie (...) weniger „dogmatische und dirigistische Festlegung" intendieren, weniger „Verordnung von Inhalten" vornehmen." (Westphalen 1985, 13) Richtlinien werden deshalb nicht für einzelne Jahrgangsstufen verfasst, sondern sie beziehen sich auf übergreifende Stufen im Schulsystem (z.B. Grundschule; Orientierungsstufe; Sekundarstufe I, Sekundarstufe II) bzw. auf Stufen der Sprachbeherrschung (vgl. die Einteilung der Sprachkurse des Goethe-Instituts in Grundstufe, Mittelstufe, Oberstufe, etc.). Lehrziele, Lehrstoffe und Inhalte werden dabei nicht auf die einzelnen Jahre verteilt (Progression), sondern in der Form von Anforderungen zum Erreichen des jeweiligen Niveaus angegeben. Häufig geschieht dies in Richtlinien in der Form von Listen zu den unterschiedlichen Qualifikationsbereichen (ζ. B. Liste der grammatischen Phänomene; Wortschatzliste; Liste der Themen; Situationen; Textsorten; Sprechintentionen; etc.) bzw. in einer genaueren Bestimmung der allgemeinen, fachbezogenen Lehrziele, die — etwa im Bereich der sprachlichen Fertigkeiten - mit dem bestimmten Niveau erreicht werden sollen. Im Vergleich zu Lehrplänen haben Richtlinien weniger eine Steuerungs- als eine Orientierungsfunktion für eine bestimmte Lehrstufe. Sie geben deshalb Lehrer/innen und Lehrwerkautor/innen mehr Freiräume bei der Entscheidung über die Didaktik und Methodik des Unterrichts. c) Curriculum Zu unterscheiden sind enger und weiter gefaßte Begriffsbestimmungen. Engere Begriffsbestimmung: „Das Curriculum als Planungsinstrument begegnet dem Lehrer in der Praxis nicht so sehr als Bauplan, sondern als konkretes Produkt, als Baustein also, insbesondere in Form von Planungsbeispielen, Reihen- und Stundenkonzepten, didaktisch aufbereiteten Unterrichtsmaterialien. Deren Produzenten können nicht nur staatlicherseits einberufene Kommissionen, sondern z.B. auch wissenschaftliche Institute, Verlage, Lehrerteams sein. Allgemein- und Rechtsverbindlichkeit kommt ihnen nur zu, soweit sie durch die staatliche Schulaufsicht verordnet oder zur Verwendung im Unterricht zugelassen sind." (Westphalen 1985, 13). Weiter gefasste Begriffsbestimmungen: Beispiel 1: „Als Curriculum wird heute in der pädagogischen Fachsprache das gesamte System von

800

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Unterrichtsinhalten zu ihrer Aneignung und Einübung und Tests zu ihrer Kontrolle bezeichnet. Curricula unterscheiden sich von Lehr- und Bildungsplänen dadurch, dass sie von klar definierten und damit überprüfbaren Lernzielen ausgehen. Sie enthalten alles, was dem Erreichen des Lernziels und seiner Kontrolle dient." (Bildungsbericht '70 der Bundesregierung, 130; zitiert nach Westphalen 1985, 14) Beispiel 2: „Das Curriculum ist die Darstellung des Unterrichts über einen bestimmten Zeitraum als konsistentes System mit mehreren Bereichen zum Zwecke der Planung, der optimalen Realisierung und Erfolgskontrolle des Unterrichts". (Frey 1972 zitiert nach Westphalen 1985, 14) Als Merkmale von Curricula kann man festhalten: — Ausgangspunkt sind nicht Festlegungen im Bereich der Lehrstoffe oder der Organisation von Lehrprozessen sondern die Bestimmung und Begründung von Lehrzielen, sowohl der facherübergreifenden als auch der fachspezifischen Zielsetzungen. — Sie machen den inneren Zusammenhang von Lehrzielen, Lehrmethoden und Lernkontrollen deutlich (Unterrichtsmethoden werden in Abhängigkeit von definierten Zielsetzungen entwickelt; Prüfungen spiegeln in ihrem Inhalt die Lehrziele und in ihren Formen die Lehrverfahren wieder. Sie geben aber auch Aufschluss darüber, wie klar und sinnvoll die Lehrziele formuliert sind). — Das Curriculum geht nicht nur theoretisch auf diese inneren Zusammenhänge ein, sondern macht auch an Modellen, Beispielen, Entwürfen von Unterrichtssequenzen deutlich, wie die Umsetzung erfolgen könnte. 5.

Warum müssen Curricula immer wieder überarbeitet bzw. neu gestaltet werden?

Lehrpläne sind - ähnlich wie Lehrwerke „Kinder ihrer Zeit". Sie entstehen aus einem Bedingungsgefüge heraus, das sich verändern kann. Man kann mehrere, hierarchisch gestufte Ebenen unterscheiden, auf denen sich Entscheidungsprozesse vollziehen bzw. Faktoren verändern können, die auf die Lehrplanarbeit Einfluss nehmen:

a) b) c) d)

die übergreifende gesellschaftliche Ebene die institutionelle Ebene die fachliche Ebene die unterrichtliche Ebene

zu a) Übergreifende gesellschaftliche Ebene Lehrpläne als Vorgaben staatlicher Behörden spiegeln die „jeweils herrschenden" bildungspolitischen Vorstellungen zu den Aufgaben und Zielen der Schule bei der Vorbereitung der nachkommenden Generation auf das Leben. Sie können als Konsens und Kompromiß divergierender gesellschaftlicher Gruppierungen in einer pluralistisch verfaßten Gesellschaft entstehen oder als Manifestation der Macht einer Gruppe, die ihre „Weltanschauung" formuliert. Lehrpläne werden deshalb nach jedem gesellschaftlichspolitischen „Machtwechsel" besonders rasch revidiert. Das ist nicht verwunderlich. „Die wesentlichste und gemeinsame Aufgabe von Lehrplänen, Richtlinien und Curricula ist, dass sie Entscheidungen über die Ziele und Inhalte von Unterricht mitteilen. Was eine Gesellschaft für wertvoll, wichtig, unverzichtbar und relevant hält, um ihre Kultur zu tradieren und gesellschaftliche Regeneration zu ermöglichen, fasst sie zu einem Kanon von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen, die in ihren Schulen vermittelt werden sollen ... Offensichtlich muss hierfür eine Auswahl aus dem gesamten Erfahrungssatz getroffen werden. Und es erheben sich Fragen wie: - worin besteht das Rohmaterial, das als Bausubstanz dieses Kanons gelten kann? - Nach welchen Kriterien und zu welchen spezifisch schulischen Zwecken wird daraus ausgewählt? - Wie stellt sich der didaktische Begründungszusammenhang für die Auswahl der Struktur dieses Kanons und für die Organisation der Lehr- und Lernprozesse dar?" (Westphalen 1985, 14) Anstöße zur Neugestaltung von Lehrplänen, Richtlinien und Curricula für den Fremdsprachenunterricht können aber nicht nur von innerstaatlichen Veränderungen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse ausgehen, sondern auch von der Veränderung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Besonders deutlich lassen sich die Auswirkungen dieser innerstaatlichen und zwischenstaatlichen Veränderungen seit dem Ende der 80er Jahre für den fremdsprachlichen Deutschunterricht in den ehemaligen „Ostblockländern" verfolgen.

82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache

Anstöße zu Veränderungen der curricularen Grundlagen des Fremdsprachenunterrichts gehen aber auch von der Entfaltung der technischen Medien (etwa: Entwicklung der Möglichkeiten der Sprachspeicherung und -wiedergäbe; Rundfunk; Fernsehen; Computertechnologie) aus, die eine immer enger werdende globale Vernetzung von Information und Kommunikation über Länder- und Sprachgrenzen hinweg mit sich bringen. Sie beeinflussen nicht nur die Inhalte des Fremdsprachenunterrichts (etwa im schnellen Zugriff auf aktuelle landeskundliche Information, die in den Lehrbüchern nicht enthalten ist), sondern können auch die Lehrmethoden nachhaltig verändern (ζ. B. im Einsatz auditiver und visueller Medien in der audiolingualen/audiovisuellen Methode). zu b) Institutionelle Ebene Gesellschaftspolitische Konstellationen wirken sich nachhaltig auf die institutionelle Ebene der Schule aus. Sie beeinflussen etwa die Stellung und das Gewicht, das das Schulfach Deutsch im Fächerkanon der Schule einnimmt und die Wertschätzung, die es bei Lehrenden und Lernenden erfahrt. Sie wirken sich aber auch auf die Formulierung allgemeiner, facherübergreifender Leitvorstellungen zu Bildung und Erziehung, auf die Auswahl und Perspektivierung der Inhalte des Fachunterrichts und auf die Vorstellungen, wie man „richtig" unterrichten soll, aus. Traditionelle Lehrpläne formulieren die gesellschaftlichen und institutionellen Grundlagen nicht explizit, sie setzen den Konsens zu den Fragen von Bildungszielen und Erziehungsnormen vielmehr voraus bzw. formulieren diesen Konsens in der Form von bildungspolitischen Setzungen. Sie konzentrieren sich vielmehr auf die Formulierung von Hinweisen zur fachlichen Ebene (Lehrstoffe) und unterrichtlichen Ebene (Unterrichtsmethoden). Curriculare Lehrpläne versuchen dagegen, eine Begründung für die Formulierung fachübergreifender und fachspezifischer Ziele aus der Diskussion der gesellschafts- und bildungspolitischen Grundlagen zu geben und dadurch die Voraussetzungen für curriculare Entscheidungen offenzulegen. Zu c) Fachliche Ebene Anstöße zur Revision der Lehrpläne können sich auch aus dem Erkenntniszuwachs der unmittelbaren Bezugswissenschaften des Faches Deutsch als Fremdsprache ergeben: — der Literaturwissenschaft — der Sprachwissenschaft — der Landeskunde.

801

Eine systematische Erforschung der historischen Entwicklung der Lehrpläne für den fremdsprachlichen Deutschunterricht im Schulbereich steht noch aus. Aber schon ein oberflächlicher Blick in die Lehrpläne verschiedener Epochen lässt erkennen, dass sie insbesondere in der Auswahl und Formulierung ihrer Inhalte im Bereich von Literatur und Landeskunde - wenngleich immer mit einer gewissen Zeitverzögerung — die Trends und Befunde der jeweiligen fachwissenschaftlichen Diskussion widerspiegeln, und dass Neuansätze in der Sprachbeschreibung des Deutschen — zu verweisen ist etwa auf Strukturalismus, Pragmalinguistik und DependenzValenz-Grammatik — nicht nur zu einer Neuorientierung im Bereich des „Wissens über die deutsche Sprache", sondern auch zur Formulierung neuer übergreifender didaktischmethodischer Konzepte des Deutschunterrichts geführt haben (etwa in der Ausformulierung der audiolingualen Methode oder in der Entwicklung der Kommunikativen Didaktik, vgl. Neuner/Hunfeld 1993). Kennzeichnend für die fachliche Ebene der Lehrplangestaltung sind deshalb in traditionellen Lehrplänen die Aussagen über den sprachlichen und landeskundlichen Lehrstoff und seine Abstufung bzw. in Curricula die Formulierung fachbezogener Lehrziele im kognitiven, affektiven und pragmatischen Bereich (vgl. Kap. 11). Ein weiteres Merkmal von Curricula ist auch die Ausarbeitung von Vorschlägen einer Zuordnung von (verbindlichen) Lehrzielen, zu Lehrinhalten, Unterrichtsverfahren und Lernzielkontrollen. Zu d) Unterrichtliche Ebene Zu den festen Bestandteilen von Lehrplänen, Richtlinien und Curricula gehören nicht nur Aussagen zu Lernzielen und -inhalten, sondern auch Hinweise zur Unterrichtsgestaltung. Diese können in der Form von allgemeinen Prinzipien zur Unterrichtsmethodik formuliert sein (ζ. B. Ausführungen zum Prinzip der Anschaulichkeit), sie können die Unterrichtsplanung betreffen (ζ. B. Eingehen auf Sozialformen des Unterrichts) oder die unterrichtliche Umsetzung einzelner Aspekte betreffen (z.B. Entfaltung der sprachlichen Fertigkeiten - etwa: Methoden der Entwicklung des Hörverstehens — oder der Sprachsysteme - etwa: Grammatik-, Wortschatz-, Ausspracheschulung; Einsatz von technischen Medien; Verfahren der Textarbeit; etc.). Gelegentlich werden nicht nur theoretische Empfehlungen formuliert, sondern es werden Unterrichtsverfahren an konkreten

802

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Zum Themenbereich Umwelt, Natur und Technik Themenbereich

Umwelt, Natur, Technik

Thematische Aspekte Jahrgangsstufe 1

Jahrgangsstufe 2

• Lieblingsplatz, -gegenständ

• Forschung, • Ökologie, Technik, alternative Ener„Jugend forscht" gien, globale Probleme • Ökologie, • Wohnen, ArchiNaturschutz tektur (z. B. • Bedrohte TierHundertwasser) arten, Tierquälerei, Tierschutzvereine

• Tiere, Haustiere • Wetter, Jahreszeiten

Jahrgangsstufe 3

Jahrgangsstufe 4 • Erfindungen und Erfinder • Science-fiction: Vision und Wirklichkeit • Mensch, Technik, Fortschritt (Verführungen und Gefahren des Fortschritts)

Abb. 82.1 : A2: Beispiele längerfristiger Unterrichtsplanung.

Themenbereich: Umwelt, Natur, Technik Themenaspekte Lieblingsplatz, -gegenständ.

Kommunikative Tätigkeiten u. Aufgaben Schüler beschreiben Bilder verschiedener beliebter Plätze Sie Lesen Text - Aussagen - über Lieblingsplätze. Schüler berichten über ihre Lieblingsplätze/-gegenstände. Schüler nennen Lieblingsplätze und raten, welche(r) Mitschüler(in), Politiker, Schauspieler usw. am ehesten dazu paßt (Rate-/ Zuordnungsspiel). Sie befragen ihre Mitschüler — machen ein Klassen-/ Jahrgangs-/Stufeninterview; erstellen eine Hitliste der beliebtesten Plätze. Sie berichten, evtl. mit Kommentar, vor dem Plenum, teilen die Ergebnisse der Intervies mit.

Jahrgangsstufe 1 Sprachliche Schwerpunkte Bild beschreiben, berichten Lesen Wortschatz zum Thema Erzählen Schreiben Interview, Bericht Nebensätze Sprachmittel: Ich weiß, daß ... Ich erfuhr, daß ... Ich stellte fest, daß ... Ich wußte nicht, daß ... Mir war nicht bekannt, daß ihr/sein Lieblingsplatz ..., weil.

Materialien/ Medien OHPFarbfolie JUMAMagazin Fotos oder Zeichnungen Pinnwand

Quelle: Plucinski, Grzegorz; u.a. (1995): Curriculum Deutsch als Fremdsprache für fortgeschrittene Lerner der Gymnasialstufen 1—4, Warschau, S. 15 Abb. 82.2: Beispiele von Planungsskizzen für die Jahrgangsstufen 1 und 2. Beispielen — z. B. der Entwicklung von Arbeitsblättern, der Vorstellung von Übungen und Aufgaben - vorgestellt. 6.

Unterschiedliche Arten v o n Lehrplänen

In der Strukturierung von Lehrplänen lassen sich zwei grundsätzlich voneinander verschie-

dene Vorgehensweisen unterscheiden (Wilkins 1976, 2 f.), die auf unterschiedlichen Vorstellungen von ihrer Funktion beruhen: a) Analytisches Verfahren Dieses Verfahren konzentriert sich auf die Darstellung der einzelnen Bereiche von Lerninhalten (etwa zu den Grammatikpensen; zum Wortschatz; zu den Themen; etc.). Es überläßt ihre Integration den Lehrbuchauto-

82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache

ren bzw. der konkreten Unterrichtsplanung und -gestaltung durch den Lehrer. In dieser Art sind die traditionellen Lehrpläne angelegt, deren fachliches Ziel in der Entfaltung einer „Sprachlehre des Deutschen" besteht. b) Synthetisches Verfahren Es ist lernzielorientiert, d. h. es integriert die verschiedenen Aspekte der Lerninhalte unter übergreifende Lernzielkategorien, etwa die Entwicklung fremdsprachlichen Könnens — in der Entfaltung der sprachlichen Fertigkeiten oder - in der Angabe von abgestufen Aufgabenstellungen. So sind häufig Curricula angelegt, die von einer Analyse der fremdsprachlichen Bedürfnisse ausgehen und als übergreifendes fachliches Ziel „Befähigung zur Kommunikation in der Fremdsprache" haben (vgl. Kap. 11).

7.

Curriculumentwicklung als Prozess

Begreift man Schule und Fachunterricht als integrale Teile von gesellschaftlich-politischen, institutionellen und fachspezifischen Systemen, die sich beständig verändern (weil die Menschen die Welt, in der sie leben, verändern), dann wird verständlich, warum auch Curricula immer wieder neu verfasst werden müssen. In den Ausführungen von Kap. 4 wurde deutlich, dass es a) unterschiedliche Legitimationen zur Veränderung gibt und b) dass die Faktoren, die eine Veränderung bewirken, unterschiedlich weit reichende Auswirkungen zeitigen. Zur Entwicklung von Curricula müssen eine Reihe von Arbeitsschritten durchlaufen werden: „1. Aufstellung von Hypothesen über sinnvolle und nötige Lernziele der Schule, 2. Bestimmung der Ziele (aims and objectives) durch Konsens, 3. Wahl der Mittel und Verfahren auf diese Ziele hin, 4. Entwicklung und Erprobung der konkreten Unterrichtsvorgänge, -Situationen und -materialien, 5. Rückkoppelung der Erfolge an die Zielbestimmung und deren Korrektur" (v. Hentig 1970, 24).

803

Curriculumentwicklung hat ihren Ausgangspunkt also in der Erkundung der „Lebenspraxis". Auf die Frage, was die nachkommende Generation „fürs Leben" lernen soll, gibt es unterschiedlich begründete Antworten. Sie können etwa in der Tradierung bestehender Wertvorstellungen wurzeln (Wie soll man die Welt sehen und sich in ihr orientieren lernen) oder sich auf pragmatische Erwägungen beziehen (Wozu braucht man das, was man lernt?). Daraus ergeben sich unterschiedliche Hypothesen zum Sinn, zur Schwerpunktsetzung und zur Gestaltung des Lernens in der Schule. Curriculumentwicklung besteht vor allem bei einem Ansatz, der von der Analyse pragmatischer Bedürfnisse ausgeht, nicht nur in der Formulierung und Festsetzung von Lehrzielen, sondern auch in der Überprüfung dieser Vorgaben an der Praxis, die ihrerseits wieder zu einer Veränderung der Zielsetzungen führen kann. Dieses Verständnis von Curriculumentwicklung als Prozess, der in den jeweils vorgegebenen übergreifenden Rahmenbedingungen als Regelkreislauf von Zielen, Methoden und Kontrollen und als Wechselspiel von Theorie und Praxis permanent weitergeführt werden muß, unterscheidet Curricula von Lehrplänen, die Setzungen vornehmen, und einen „Sollzustand" beschreiben, auf den sich die Unterrichtspraxis hin entwickeln soll. In diesen Entwicklungsprozess sind auch Lehrmethoden und Lehrwerke einbezogen: sie verändern sich im selben Maß wie sich die Rahmenbedingungen und die Zielsetzungen verändern. So wird verständlich, warum auch die Entwicklung von Lehrmethoden und Lehrmaterialien kein linearer Prozess ist, an dessen Ende eines Tages die „perfekte Lehrmethode" und das „optimale Lehrwerk" stehen, sondern dass die Entwicklung von Lehrmethoden und Lehrwerken eher als Prozess der Anpassung an die sich verändernden Bedingungen des Lehrens und Lernens zu sehen ist.

8.

Elemente von Curricula: Was gehört in ein Curriculum?

Als charakteristisch für einen Lehrplan wurden die folgenden Elemente herausgestellt: a) Festlegung übergreifender Bildungsziele b) Festlegung und Abstufung der Lehrstoffe c) Hinweise zur Unterrichtsmethodik.

804 Für Curricula lassen sich die folgenden Elemente angeben: a) Benennung der Zielgruppe und des Lernbereichs bzw. der Lernstufe, für die das Curriculum erstellt wird b) Benennung der Arbeitsgruppe (Personen und Institutionen, die sie vertreten), die das Curriculum erstellt hat c) Verdeutlichung der fachübergreifenden und fachspezifischen Hintergründe, die Anlaß und Auslöser für die Curriculumarbeit sind d) Formulierung der übergreifenden und fachspezifischen Zielsetzungen und Aufgaben des Unterrichts im Fach Deutsch als Fremdsprache im Rahmen der veränderten Bedingungen e) Formulierung der Inhalte Inhalte werden in Curricula oft in der Form von Katalogen bzw. Listen für den betreffenden Lernbereich bzw. die Lernstufe verfasst. Sie können sich u. a. beziehen auf: — Rollen, die sprachlich gemeistert werden sollen — Gesprächssituationen — Sprechakte (Intentionen für mündliche und schriftliche Mitteilung) — Themen — Textsorten (z. B. relevante Hör- und Lesetexte; Textsorten für schriftliche Mitteilungen) — Inventare von Sprachmitteln z. B. — Wortschatzliste — Übersicht zur Grammatik — Hinweise zu Aussprache und Rechtschreibung Für den Bereich des elementaren Deutschunterrichts mit Erwachsenen bietet etwa die von Baldegger/Müller/Schneider verfasste Kontaktschwelle Deutsch als Fremdsprache (1980), die im Rahmen der threshold-level-Auftragsarbeiten des Europarats entwickelt wurde, ein gutes Modell zur Beschreibung inhaltlicher Kategorien. f) Hinweise zur Unterrichtsgestaltung Sie können als methodische Prinzipien formuliert sein. Sie können sich aber auch auf konkrete Arbeitsbereiche des Unterrichts beziehen (z.B. Entfaltung der sprachlichen Fertigkeiten des Hörens/Lesens/Sprechens/ Schreibens oder der Sprachsysteme (Grammatik, Wortschatz-, Aussprache- und Rechtschreibschulung), Einsatz der verschiedenen technischen Medien; Umgang mit dem Lehr-

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

werk; Sozialformen des Unterrichts; Gestaltung der Einführungs-, Übungs- und Anwendungsphase; Übungsformen; Entfaltung von Lerntechniken und -Strategien etc.). g) Lernkontrollen Hinweise können sich beziehen u. a. auf die Funktion von Lernkontrollen; Testerstellung; Leistungsbeurteilung, Testdurchführung. h) Planungs- und Gestaltungshilfen An konkreten Beispielen wird z. B. gezeigt - wie Unterrichtsplanung entwickelt wird (längerfristig, etwa auf eine ganze Schulstufe oder eine Jahrgangsstufe bezogen, oder auf einen kürzeren Abschnitt, etwa eine Unterrichtssequenz oder Unterrichtsstunde bezogen). - wie methodische Prinzipien bzw. Einzelaspekte der Unterrichtsgestaltung (z.B. Ausspracheschulung; Textarbeit; Entwicklung von Arbeitsblättern; Projektarbeit; etc.) verwirklicht werden können. 9.

Curricula und Prüfungsbestimmungen

In der Festlegung der fachlichen Lernziele und der inhaltlichen Anforderungen ergeben sich Überschneidungen von Curricula und Prüfungsbestimmungen, die sich auf ein bestimmtes Abschlussniveau beziehen, etwa zum Abschluss der Grundstufe durch das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache (Deutscher Volkshochschulverband/Goethe-Institut) oder zum Abschluss der Mittel- oder Oberstufe (Goethe-Institut) oder weiterführender Niveaustufen (etwa: Kleines und Großes Deutsches Sprachdiplom). Es liegt auf der Hand, dass die Anforderungen zu solchen Abschlussprüfungen - sie sind oft in der Form von Handreichungen ausführlich beschrieben - für die Phase der Prüfungsvorbereitung eine Art Lehrplan-Ersatzfunktion haben und auf die Gestaltung der Unterrichtspraxis nachhaltiger einwirken können als es Curricula vermögen. 10. Curriculum — Lehrwerk — Unterricht Es ist kritisch angemerkt worden, dass „... Lehrpläne in der Regel keinen direkten Einfluß auf das konkrete Unterrichtsgeschehen ausüben ..." (Freudenstein 1985, 47) und daß es eigentlich die Lehrwerke sind, die das

82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache

Unterrichtsgeschehen nachhaltig beeinflussen. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass über die Lehrplanung auch eine ridige Kontrolle über die Lehrmaterialien ausgeübt werden kann. „Nur jene Materialien werden zugelassen, die mit den teilweise außerordentlich detaillierten Kanonisierungen der Lehrpläne übereinstimmen. Gerade damit aber wird der Lehrplan in einem bisher ungekannten Maße zum politischen Steuerungsinstrument" (Schröder 1982, 2). Nicht selten ist in der Praxis auch eine Konstellation anzutreffen, bei der die Autoren der Curricula auch diejenigen sind, die die zu diesen Curricula passenden Lehrwerke erstellen, da in einem Land der Personenkreis fachlich versierter Experten begrenzt ist bzw. nur ein „Einheitslehrwerk zum Einheitslehrplan" konzipiert werden soll (Neuner 1979, 34f.). Wahrend das Curriculum den didaktischmethodischen Rahmen des Fachunterrichts absteckt, ist es die Aufgabe der Lehrwerke, diese Rahmenkonzeption für den Unterricht handhabbar zu machen. Sie müssen - unter Beachtung der übergreifenden und fachspezifischen Zielsetzungen - eine Auswahl, Abstufung (Progression) und Verschränkung der Lehrinhalte vornehmen und sie unter Berücksichtigung der für die Unterrichtspraxis konstitutiven Aspekte von Unterrichtsgliederung (Phasen, Unterrichtsformen (Sozialformen), Unterrichtsmedien und Unterrichtsorganisation unter Beachtung der im Lehrplan angegebenen Prinzipien der Unterrichtsmethodik aufbereiten (Neuner 1994b, 8; vgl. auch Art. 107). Das Lehrwerk macht also ein Angebot zur Gestaltung des Unterrichts — im Hinblick auf die Lehrstoffe - im Hinblick auf grundlegende Lehrmethoden. Es gibt Lehrwerke, die nicht mehr sind als eine strukturierte Lehrstoffsammlung und die dem Lehrer weitgehend Freiheit in der konkreten Umsetzung des Lehrstoffs in ein Unterrichtskonzept lassen, es gibt aber auch Lehrwerke, die das Vorgehen im Unterricht in sehr genau festgelegten „kleinen Schritten" vorschreiben und dem Lehrer kaum noch einen Handlungsspielraum lassen. Wenn das Lehrwerk genau auf den Lehrplan und die Lehrbedingungen für eine bestimmte Schulform, Schulstufe bzw. Lerngruppe abgestimmt ist, kann der Lehrer sich

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bei der Unterrichtsplanung und -gestaltung weitgehend „an das Buch halten". Wenn dies nicht der Fall ist, muss er das Angebot des Lehrbuchs und die Lehrmethoden verändern, ergänzen oder er muss den Unterricht ohne das Lehrbuch ganz neu gestalten. Das Lehrbuch ist also nicht gleichzusetzen mit dem Unterricht! Jede Lehrerin/jeder Lehrer hat schon die Erfahrung gemacht, dass eine Lektion, die in einer Klasse „gut geht", im Parallelkurs „ganz anders laufen" kann. Das Lehrwerk ist nur ein Faktor, der das konkrete Unterrichtsgeschehen bestimmt. Weitere wesentliche Faktoren sind — die Lehrperson selbst jeder Lehrer macht aus denselben Vorgaben im Lehrbuch einen anderen Unterricht - die Lerngruppe Faktoren: Alter; Zusammensetzung der Gruppe/Dynamik innerhalb der Gruppe; Lernstand; Interesse am Fach bzw. am Lernstoff; Verhältnis zum Lehrer; momentane Befindlichkeit einzelnen Gruppenmitglieder; etc. Festzuhalten bleibt, dass die Lehrwerke in der alltäglichen Unterrichtspraxis weit mehr und unmittelbarer das Unterrichtsgeschehen beeinflussen als die Curricula, die nur indirekt wirksam werden können. Man hat sie deshalb auch als die „heimlichen" oder „stillen Lehrpläne" bezeichnet (Schröder 1982, 2).

11. Lehr- und Lernziele In der Fachdiskussion wird häufig keine Unterscheidung zwischen Lehrzielen (durch die Bildungsinstanzen festgelegte Vorstellungen und Vorschriften zu der Frage, was im Unterricht gelehrt werden soll) und Lernzielen (Vorstellungen, die von einer Analyse pragmatischer Bedürfnisse der Fremdsprachenverwendung ausgehen bzw. die die Lernenden selbst von dem entwickeln, was sie als sinnvoll ansehen und erreichen wollen) getroffen. Dass auch heute noch der Ausdruck „Lernziel" für den gesamten Komplex der Beschreibung der Zielsetzungen gebräuchlich ist, ist im traditionellen Verständnis von institutionalisiertem Unterricht begründet, der auf normativen Vorgaben beruht und in erster Linie die Lehr- und Lernstoffperspektiven berücksichtigt: Lernziele sind das, was Schüler lernen sollen.

806 „Lernende können jeweils ganz andere Ziele vor Augen haben als diejenigen, die sie etwas lehren wollen, und Lehrende verstellen sich durch die Verwendung des Ausdrucks „Lernziele" für ihre eigenen Intentionen den Blick dafür, dass die von ihnen gesetzten Ziele durchaus nicht im Sinne der Lernenden zu sein brauchen (Doye 1995, 161). Die Beschäftigung mit Fragen der „Lernorientierung" und den Möglichkeiten einer lernerorientierten Curriculumentwicklung (vgl. Nunan 1986) ist in der Fachforschung noch relativ neu. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Entfaltung der Kommunikativen Fremdsprachendidaktik seit der Mitte der 70er Jahre, die von einer Bestimmung der fremdsprachlichen Bedürfnisse der Lernenden her konzipiert und begründet wird, und der Ausweitung des Angebots an Fremdsprachenunterricht über den Bereich des gymnasialen Fremdsprachenunterrichts hinaus, ζ. B. im Bereich der Erwachsenenbildung und der beruflichen Bildung, für die andere übergreifende Bildungsziele formuliert werden müssen. Eine lernerorientierte Bestimmung der Unterrichtsziele setzt an bei einer Untersuchung der pragmatischen Bedürfnisse, die eine bestimmte Gruppe von Lernenden hinsichtlich des Gebrauchs der Fremdsprache hat und ihren Interessen hinsichtlich des Fremdsprachenlernens (Motivation). Sie leitet aus der Analyse der sozialen Domänen, der fremdsprachlich zu meisternden Rollen und Situationen (Kommunikationsräume) etc. Hinweise zum Aufbau und zur Gewichtung der sprachlichen Fertigkeiten und Systeme ab (vgl. Baldegger/Müller/Schneider 1980). 11.1. Taxonomie der Lernziele Aus der Fachliteratur der Erziehungswissenschaften (u. a. Bloom 1956; Mager 1965) sind wir mit einem Ansatz vertraut, der Lehrziele in der Form von Taxonomien beschreibt. So lassen sich gemäß den in Kap. 5 erwähnten Ebenen — der gesellschaftlichen, der institutionellen, der fachlichen oder der unterrichtlichen Ebene — Lehrziele unterschiedlicher Reichweite formulieren, die einander hierarchisch zugeordnet sind: Ebenen 1 und 2: gesellschaftliche und institutionelle Ebene Formulierung allgemeiner, fachübergreifender Lehrziele zu den für Schule als Institution geltenden allgemeinpädagogischen und -di-

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

daktischen Leitlinien von Bildung und Erziehung. Dazu gehören etwa Aussagen zu den Wertvorstellungen, auf die sich Erziehung insgesamt bezieht. Ebene 3: fachliche Ebene Formulierung von allgemeinen, fachbezogenen Lernzielen (Richtzielen), die für den Unterricht des Faches Deutsch als Fremdsprache als Leitlinien gelten. Dazu gehören etwa generelle Aussagen — zur Bedeutung von Literatur oder Landeskunde — zur Entfaltung sprachlicher Fertigkeiten — zur Entwicklung von Haltungen gegenüber der fremden Welt (vgl. Kap. 11.2.). Ebene 4: Unterrichtliche Ebene Auf dieser Ebene ist zu unterscheiden zwischen — speziellen fachbezogenen Lehrzielen (Grobzielen). Dazu gehören etwa Aussagen zur mittelfristigen Planung des Unterrichts — ζ. B. zur Auswahl und Abstufung von Lehrpensen der Grammatik für bestimmte Jahrgangsstufen, genauere Angaben zur Entwicklung und Abstufung der sprachlichen Fertigkeiten und Systeme; zur Auswahl landeskundlicher Inhalte bzw. zur Textauswahl etc. — Lehrzielen, die sich auf einzelne Unterrichtsabschnitte und -Sequenzen beziehen (Feinziele). Dazu gehören etwa Lehrzielangaben zu einer Unterrichtsstunde oder zu einem bestimmten Stundenabschnitt — ζ. B. Angaben zu einem bestimmten Wortschatzbereich, der eingeführt werden soll; zu einem bestimmten Aspekt der Ausspracheschulung; zum Einsatz eines ganz bestimmten Textes, anhand dessen bestimmte Fähigkeiten im Bereich des Leseverstehens entwickelt werden sollen. 11.2. Die Bestimmung und Hierarchisierung fachspezifischer Lehrziele Gemäß der in 11.1. skizzierten Taxonomie kann man die Lehrziele für die einzelnen Ebenen zu präzisieren versuchen. Ebenen 1 und 2: Allgemeine, fachübergreifende Zielsetzungen Die Formulierung von Leitvorstellungen, die für Bildung und Erziehung insgesamt als verbindlich angesehen werden, ist geprägt von den Vorstellungen derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die in Curriculumkommissionen dominieren.

82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache

Die Formulierung übergreifender Leitvorstellung bezieht sich im allgemeinen auf zwei Bereiche: a) Aussagen zu pädagogischen Zielen Sie betreffen einerseits die Entwicklung der personalen Identität des Lernenden (Förderung der kognitiven, kreativen, ästhetischen, sozialaffektiven und sprachlichen Fähigkeiten), andererseits die Entwicklung seiner sozialen Identität (Förderung der Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln im Umgang mit anderen Menschen in der eigenen Gesellschaft und international). b) Aussagen zu pragmatischen Zielen Sie beziehen sich auf allgemeine Qualifikationen zu privater oder beruflicher Lebensgestaltung (Robinsohn 1971). Sie können als sog. „Schlüsselqualifikationen" wie Kooperationsfahigkeit (Teamfahigkeit), Kommunikationsfahigkeit; Eigeninitiative und Selbständigkeit; Verantwortungsfähigkeit; Einsatzbereitschaft und Ausdauer; etc. formuliert werden. Ebene 3: allgemeine fachliche Richtziele Sie sind je nach ihrer Orientierung stärker an den übergreifenden pädagogischen bzw. pragmatischen Vorgaben ausgerichtet. So war die Fomulierung des übergreifenden Lernziels der „Kommunikativen Kompetenz" für den Fremdsprachenunterricht in den 70er Jahren (vgl. Piepho 1974) deutlich geprägt von der Frage, welchen Beitrag der Fremdsprachenunterricht zur Gesellschaftserziehung (Achtenhagen 1995, 464) leisten kann, während sich die Diskussion des vergleichbaren übergreifenden Zieles — „communicative competence" im angelsächsischen Bereich eher auf pragmatische Zielsetzungen bezog. In der gegenwärtigen Diskussion gilt als Richtziel für den Fremdsprachenunterricht „Interkulturelle Kommunikationsfahigkeit", die beide Aspekte zu integrieren versucht. Es umfasst drei grundlegende Dimensionen (Bloom 1976): - die pragmatische Dimension (Entwicklung von sprachlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten) - die kognitive Dimension (Vermittlung von Kenntnissen) - die emotionale Dimension (Entfaltung von Haltungen und Einstellungen) 11.2.1. Pragmatische Dimension Sie erstreckt sich auf die Fähigkeit zum aktiven Gebrauch und zum Verstehen der

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Fremdsprache (Lernziel: Kommunikationsfahigkeit) und erfüllt sich im Vollzug sprachlichen Handelns in der Entfaltung und im Wechselspiel der vier sprachlichen Fertigkeiten (Teilkompetenzen der Kommunikationsfahigkeit): -

Hörverstehen Leseverstehen Sprechen Schreiben.

Man gruppiert sie in Fertigkeiten, die dem Verstehen dienen (Hören/Lesen) und Fertigkeiten, die der sprachlichen Äußerung dienen (Sprechen/Schreiben) bzw. in Fertigkeiten, die sich auf mündliche (Hören/Sprechen) oder schriftliche (Lesen/Schreiben) Kommunikation beziehen. Sprachliche Fertigkeiten entfalten sich im Zusammenspiel und im Aufbau der Sprachsysteme: - des Wortschatzes (lexikalisch-semantisches System) - der Grammatik (grammatisch-strukturales System) - der Aussprache und Intonation (phonetisch-phonologisches System) - der Rechtschreibung (orthographisches System). Es ist strittig, ob man die Sprachsysteme zu separaten untergeordneten Lehrzielen machen soll, d. h. etwa Wortschatz- oder Grammatikarbeit, Aussprache- oder Rechtschreibschulung als eigenständige Ziele des Fremdsprachenunterrichts ausweisen soll. Die Konzentration auf diese Teilbereiche als zeitweilige Maßnahme des Unterrichts wird jedoch als sinnvoll angesehen (Feinziele), wenn sichergestellt ist, dass sich diese Arbeit an den sprachlichen Systemen nicht verselbständigt, sondern durch entsprechende Lehrverfahren in die Ganzheit einer kommunikativen Kompetenz integriert wird (Doyé 1995, 162). Pragmatische Lehrziele können unterschiedlich formuliert werden: a) Lehrziele als sprachliche Differenzierung der einzelnen Fertigkeitsbereiche Dabei wird der Grad der Komplexität der zum Einsatz kommenden Sprachsysteme genauer beschrieben. Beispiel: „Sprechfertigkeit

Ausbildung einer Sprechfertigkeit, die dazu befähigt, sich zu kürzeren, nicht fachspezi-

808

fischen, alltäglichen Mitteilungen möglichst regelgerecht und im Ausdruck angemessen spontan auszudrücken, und zwar in einer das Verständnis sichernden Aussprache" (Zertifikat Deutsch als Fremdsprache 1972, 8) b) Lehrziele als Beschreibung sprachlicher Handlungen Lehrziele wurden auf diese Weise insbesondere im Rahmen der Kommunikativen Didaktik in der Rezeption der Sprechakttheorie formuliert, u. z. für alle Fertigkeitsbereiche (vgl. Baldegger/Müller/Schneider 1981, 24f.). Der unter a) zitierte Bereich der Sprachfahigkeit wurde deshalb bei der Überarbeitung des Zertifikats Deutsch als Fremdsprache in seinen Formulierungen entsprechend angepaßt: „Lernziel Mündlicher Ausdruck Erreicht werden soll eine mündliche Ausdrucksfahigkeit, die den Lernenden befähigt, -

seine Bedürfnisse, Wünsche, Meinungen und Gefühle in Situationen aus dem alltäglichen Bereich, einschließlich seines persönlichen Lebens- und Erfahrungsbereichs, verständlich und im Ausdruck angemessen zu äußern. - auf Aufforderungen, Bitten und Fragen in Situationen aus dem alltäglichen Bereich durch Erklärungen, Mitteilungen, Beschreibungen sprachlich angemessen zu reagieren und - sich an Gesprächen zu Themen aus dem alltäglichen Bereich mit Erklärungen, Mitteilungen, Beschreibungen der Meinungsäußerungen zu beteiligen" (Zertifikat Deutsch als Fremdsprache 1992, 13)

c) Lehrziele als Beschreibung von Aufgabenstellungen (vgl. Nunan 1988a, 44ff.; Candlin/ Murphy 1987; Legutke 1989). Lehrziele, die als Aufgaben formuliert sind, gehen von einer Analyse pragmatischer Betätigung bei der Fremdsprachenverwendung aus (vgl. Kap. 11) und formulieren diese als Arbeitsvorhaben für den Unterricht. Beispiel: Einkaufen im fremden Land -

herausfinden, wo man in einer Stadt bestimmte Wären bekommt - Angebot und Preise vergleichen - etc. Aufgabenorientierter Unterricht verfolgt jedoch nicht nur ein pragmatisches Ziel, er will auch die Lernenden zu geistiger Aktivität und zu kooperativem Handeln anleiten. Aufgaben sollten deshalb so formuliert werden, daß

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

-

-

-

ein klares Ziel angegeben wird (Was ist zu tun?) ein vorzeigbares Lernergebnis definiert wird (Was soll dabei herauskommen?) Materialien (Texte; Bilder) eingesetzt werden (Was brauchen wir dazu?) die Lernenden den Prozess der Erarbeitung der Aufgabe absprechen (Wie gehen wir vor?) die Lernenden die Sozialformen des Lernens selbst bestimmen (Wie arbeiten wir zusammen?) die Lerngruppe abschließend Verlauf und Ergebnis der Bearbeitung der Aufgabe bespricht (Was haben wir gemacht? Wie sind wir vorgegangen?) (vgl. Neuner 1994c).

11.2.2. Die kognitive Dimension In der historischen Entwicklung der Fremdsprachendidaktik und -methodik konzentrierte sich die Diskussion kognitiver Zielsetzungen auf die Bereiche „Sprachwissen" und „landeskundliches Wissen". Die neuere Fachliteratur fasst beide Dimensionen unter dem Begriff „deklaratives Wissen" zusammen und erweitert die kognitive Dimension um den Bereich „prozedurales Wissen" (WolfT 1990), das sich auf das Wissen um die effiziente Organisation des Lernprozesses (Zugriff auf Information; Lehrtechniken und -Strategien) bezieht (vgl. Bimmel 1993; Rampillon 1995; Bimmel/Rampillon 1996). Bei der näheren Bestimmung des „Sprachwissens" stehen in den älteren Konzepten zur Unterrichtsmethodik (etwa: GrammatikÜbersetzungs-Methode) unter der Zielsetzung der Vermittlung einer „Sprachlehre" Kenntnisse der Baugesetze und Regeln der deutschen Sprache im Vordergrund. Unter dem Einfluß pragmatisch orientierter Entwürfe treten Kenntnisse von Sprachfunktion und Sprachgebrauch dazu (etwa: Kommunikative Didaktik). Bis heute wird die Frage nach dem Verhältnis von „Sprachkönnen" und „Sprachwissen" kontrovers diskutiert. Auch die Frage nach der Bedeutung landeskundlicher Kenntnisse beim Fremdsprachenerwerb wurde in der historischen Entwicklung der Fremdsprachendidaktik ganz unterschiedlich beantwortet. Landeskundliches Wissen kann als eigenständiges Ziel definiert sein (etwa in der Grammatik-Übersetzungs-Methode; ansatzweise auch im Interkulturellen Ansatz neuester Prägung), sie kann aber auch unter sprachpraktische Ziele subsummiert erscheinen (etwa im Konzept

82. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Fremdsprache der Audiolingualen Methode und in den ersten Entwürfen zur Kommunikativen Didaktik; vgl. Pauldrach 1987; Neuner 1994b). 11.2.3. Die affektive Dimension Dass die für den Fremdsprachenunterricht charakteristische Begegnung mit fremden Ländern, Kulturen und Menschen, die Lernenden auch emotional berührt, ist selbstverständlich. Auch ist aus der Vorurteilsforschung bekannt, dass vorgeprägte Haltungen und Einstellungen das Verhalten der Menschen im Umgang miteinander nachhaltiger beeinflussen können als „abstraktes" Wissen. Als besonders wichtige Ziele werden deshalb Offenheit, Toleranz und Kommunikationsbereitschaft genannt (Doyé 1995). Sie bleiben allerdings in ihrer näheren Bestimmung ziemlich vage. Kognitives und affektives Lernen sind im Fremdsprachenunterricht untrennbar miteinander verbunden (Hermann 1981): wie Wissen ausgewählt, perspektiviert und wie es den Lernenden angeboten wird, hat Auswirkungen auf ihre Haltung der fremden Welt gegenüber. Von dieser Erkenntnis her versucht die Interkulturelle Fremdsprachendidaktik die Begegnung mit der fremden Welt im Fremdsprachenunterricht als offenen Prozess von Wahrnehmung und Bedeutungshandlung bewußt zu gestalten (Rollendistanz; Empathie; Ambiguitätstoleranz als Qualifikationen des Umgangs mit dem Fremden) (Neuner 1994a).

12. Literatur in A u s w a h l Achtenhagen, Frank (1995): Lehr- und Lernziele. Curriculumforschung. In: Bausch/Christ/Krumm (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, 3. Aufl., 461-466. Baldegger, Markus; Martin Müller; Günther Schneider (1981): Kontaktschwelle Deutsch als Fremdsprache. München (Strassburg: Europarat 1980). Bausch, Karl-Richard; Herbert Christ; Werner Hüllen (Hg.) (1985): Forschungsgegenstand Richtlinien, Tübingen (Arbeitspapiere der 5. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterricht). - ; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.) (1995): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen/Basel (3. Aufl.). Bimmel, Peter (1993): Lernstrategien im Deutschunterricht. In: Fremdsprache Deutsch 8, 4—11. — ; Ute Rampillon (1996): Lernerautonomie und Lernstrategien. München (Fernstudieneinheit).

809

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810

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

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(Deutschland)

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Deutsch als Zweitsprache: zur Sprachregelung Die historische und soziale Dimension des Themas: eine Einleitung Deutsch als Zweitsprache/Erwachsene Kinder und Jugendliche Kontakte Literatur in Auswahl

Deutsch als Zweitsprache: zur Sprachregelung

Der Begriff Deutsch als Zweitsprache wird bekanntlich in unterschiedlichen Kontexten und Konnotationen verwendet und kann d a n n so unterschiedliches bedeuten wie: (1) das konkrete lernern',

Deutsch von

Zweitsprachen-

(2) das Unterrichtsfach, das die Vermittlung des Deutschen an Zweitsprachenlerner zum Gegenstand hat (vgl. Art. 5); (3) die (Teil-)Disziplin der Wissenschaften vom Lehren und Lernen der Sprachen, die sich mit dem Erwerb des Deutschen durch Zweitsprachenlerner sowie mit dessen unterrichtlicher Vermittlung beschäftigt. Gelegentlich wird dabei Deutsch als Zweitsprache zudem in allen drei Kontexten synonym mit Deutsch als Fremdsprache gebraucht, analog zum Verständnis des Terminus German as a Second Language im englischsprachigen Raum. Im folgenden Text wird Deutsch als Zweitsprache v. a. in der Bedeutung (3) gebraucht; die Verwendungen (1) und (2) werden ggf. explizit gemacht. Andere als die in ( l ) - ( 3 ) formulierten Varianten entsprechen dagegen

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache

ausdrücklich nicht dem terminologischen Verständnis dieses Handbuchs (vgl. dazu auch II., IX. und XII.). Eine zweite Vorbemerkung: der Begriff Entwicklung im Titel dieses Beitrags wird zum einen in seinem diachronischen Sinne verstanden als historische Entwicklung, zum anderen in der Bedeutung des je aktuellen Entwickeins konkreter gruppenbezogener Curricula, womit beide für das Thema wichtigen Aspekte angesprochen werden sollen.

2.

Die historische und soziale Dimension des Themas: eine Einleitung

Wenn wir terminologisch zwischen Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache unterscheiden, so könnten hinter den Begriffen durchgängig voneinander abgegrenzte und abgrenzbare Areale menschlichen Spracherwerbs vermutet werden mit entsprechend unterschiedlichen wissenschaftlichen Fragestellungen und Empiriebereichen und ebenso unterschiedlicher Ausprägung der Lern-/Lehrprozesse und -materialien. Eine weitere Annahme, zu der die Symmetrie der Begrifflichkeiten einlädt: Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache seien gleichgewichtige Bereiche wissenschaftlicher und unterrichtlicher Praxis. Tatsächlich treffen beide Annahmen nicht zu. Zum einen lassen sich unter dem Aspekt des Spracherwerbs und seiner unterrichtlichen Förderung neben vielen markanten Unterschieden auch zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache feststellen (s. Rosier 1995), wie übrigens in einigen Hinsichten auch zum Muttersprachenerwerb (vgl. Klein 1984, 27). Zum anderen ist die Entwicklung von Deutsch als Zweitsprache — und dies trifft für Deutsch als Fremdsprache sicher nicht zu — in sehr eigentümlicher Weise von den Lebensbedingungen, wie sie für die große Mehrheit seiner Klientel, also: Arbeitsmigrant/inn/ en und deren Kinder, Flüchtlinge und Aussiedlerfamilien, charakteristisch waren und sind. Dies gilt fraglos bis hinein in die Lehr-/ Lernzieldiskussion und curriculare Entwicklungen bzw. Empfehlungen, wie sie in diesem Kapitel zu besprechen sein werden. Ein wesentliches Merkmal dieser Lebensbedingungen ist die soziale, kulturelle und politische Unterprivilegierung seitens der deutschen

811

Mehrheitsgesellschaft, verbunden mit deren fehlender Bereitschaft, andere als assimilatorische Integrationsmodelle zu unterstützen und ausreichend finanzielle Mittel, und sei es nur zur Förderung des Erwerbs der Zweitsprache Deutsch, bereitzustellen. Verglichen mit diesen Einschränkungen, die in beschämender Weise von der weitreichenden gesellschaftlichen Vernachlässigung und Diskriminierung der genannten Personengruppen Zeugnis geben, sind die Defizite, wie sie durchaus auch für Deutsch als Fremdsprache zu konstatieren sind — Defizite etwa in der grundlagenwissenschaftlichen Theoriebildung und empirischen Forschung — lediglich typische Begleiterscheinungen einer vergleichsweise jungen akademischen Disziplin. Es kann dagegen nicht verwundern, dass die Beschäftigung mit Aspekten von Deutsch als Zweitsprache zu keinem Zeitpunkt die Breite erreichte, die für Deutsch als Fremdsprache insgesamt anzutreffen ist. Stattdessen fand notgedrungen eine starke Fokussierung auf die jeweils als vorrangig erachteten Fragestellungen statt und auch diese konnten zu keinem Zeitpunkt mit dem erforderlichen Nachdruck und Aufwand - zeitlich, kräftemäßig, finanziell — verfolgt werden. Gleichwohl ist Deutsch als Zweitsprache nicht konturlos geblieben, sondern konnte in einigen Bereichen markante Orientierungen und Teilerkenntnisse erarbeiten, die für das Fach im ganzen bedeutsam waren und sind. Im folgenden werde ich versuchen, diese Orientierungen und Teilerkenntnisse in ihrem historischen und sozial-konnotierten Entstehungsprozeß nachzuzeichnen, soweit sie Fragen der Entwicklung von Curricula und Lehrzielen betreffen (zu weiteren Aspekten s. II., IX. und XII.). Dabei werde ich, wegen der unterschiedlichen institutionelllen, sozialen und entwicklungspsychologischen Kontexte in der Darstellung zwischen den Gruppen „Kinder" bzw. „Erwachsene" unterscheiden. Unter „Erwachsene" werden — im Sinne von jungen Erwachsenen — dabei i. f. auch jene Jugendlichen gezählt, die bereits im vorberuflichen oder beruflichen Ausbildungsbzw. Arbeitsverhältnissen stehen. Jugendliche Schüler werden hingegen im Abschnitt 4 mitberücksichtigt. Diese Scheidung der Jugendlichen in zwei Gruppen empfiehlt sich wegen ihrer sehr unterschiedlichen Betroffenheit in Sachen Zweitsprachenerwerb und -Vermittlung.

812

3.

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Deutsch als Zweitsprache/ Erwachsene

3.1. Als Deutsch als Zweitsprache noch Deutsch für ausländische Arbeiter hieß — zu den Anfängen curricularer Entwicklungen Die „Entdeckung' jenes besonderen Lerntyps, der seine ersten Erfahrungen mit einer Fremdsprache nicht in Unterrichtsräumen, sondern auf der Straße macht und der ein Klassenzimmer erst zu einem Zeitpunkt betritt, wo er längst — wenn auch in der Regel äußerst eingeschränkt und selten normgerecht — in dieser Fremdsprache kommuniziert, datiert ziemlich genau auf den Beginn der 70er Jahre. Ungefähr so lange hat es gedauert, bis die ersten der nach 1961 immigrierten Arbeitskräfte aus den sog. Anwerbeländern sich in Sprachmittlerinstituten einfanden, weil sie festgestellt hatten, dass ihre neue Sprache unter den Bedingungen und mit den Instrumenten außerunterrichtlichen Spracherwerbs offensichtlich nicht auf ein Niveau gebracht werden konnte, mit dem sie für die Kommunikationsbedürfnisse an ihrem neuen Lebensort auf Dauer hinreichend ausgestattet waren. Es zeigte sich nun sehr schnell, dass das Fach Deutsch als Fremdsprache, zu jener Zeit ohnehin in weitreichendem methodisch-didaktischen Umbruch begriffen (s. dazu Π.7.), für diesen Lernertyp zunächst keine angemessenen Angebote bereithielt: herkömmliche Fremdsprachenlerner haben Abitur, gehören zur beruflichen Intelligenz oder zielen einen dahin führenden Studienabschluss an; ihren Fremdsprachenunterricht beginnen sie auf dem sog. Null-Niveau; der Umgang mit grammatischer Fachsprache ist ihnen meistenteils vertraut und sie verfügen in der Regel über vielfaltige Lernerfahrungen, den Erwerb von Fremdsprachen einschließend. Ihre thematischen Interessen bewegen sich im Spektrum des schon weitgehend kulturenübergreifenden Dialogs der .internationalen Intelligenz'. Auf eben diesem Hintergrund hatten sich bislang das methodisch-didaktische Fachwissen entwickelt, an dieses Publikum waren Lern- und Lehrmaterialien adressiert. Anfangliche Versuche, den neuen Lernertyp mit diesem Angebot zu versorgen, führten zu frustrierenden Erfahrungen bei Lehrerinnen und Lernern. Unzulänglich erwies sich dieses Angebot auf nahezu allen entscheidenden Ebenen der Zubereitung von Unterricht:

- der inhaltlichen Auswahl (Themen, Dialogsituationen und -muster, Landeskunde); - der Grammatikprogression; - der methodischen Präsentation des Lernstoffes. Gänzlich an Erfahrung fehlte es zudem im Umgang mit den deutschsprachlichen Vorkenntnissen der Arbeitsmigranten, ihren Lernervarietäten, anfanglich noch unter der Bezeichnung „Gastarbeiterdeutsch" diskutiert (vgl. dazu die Diskussion in Meisel 1975). Als deren schon ohne wissenschaftliche Untersuchung ersichtliches Merkmal fielen die starken Abweichungen vom zielsprachlichen Standard auf, häufig verbunden mit einer hohen kommunikativen Agilität. Da sich also mit den herkömmlichen Lernangeboten bei der neuen Klientel keine Lernfortschritte einstellten und viele der Ursachen dafür auf der Hand lagen oder doch wenigstens zu liegen schienen, ging man daran, Konzepte für einen speziellen Sprachunterricht, zunächst für die Gruppe der Arbeitsmigranten, zu entwickeln. In diese Zeit fälllt auch die Gründung des „Sprachverbands Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V.", in dessen Zeitschrift „Deutsch lernen" sich übrigens seit 1975 die fachliche Diskussion kontinuierlich spiegelt. Weitere Zweitsprachenlernergruppen — Aussiedler und Flüchtlinge - sollten später dazukommen und ab den 80er Jahren zunehmend wichtiger werden. In der Folge verlief die Entwicklung neuer Lehr-/Lernmaterialien zeitlich parallel zu verschiedenen Versuchen, den Eigenheiten der neuen Lernergruppe auch auf dem Wege wissenschaftlicher Untersuchungen näherzukommen. Nachstehend wird es zuerst um diese Eigenheiten als Basis neuer Konzeptionen gehen. Ein Überblick zur Entwicklung und Gegenwart der Materialiensituation schließt sich an. 3.2. Die bildungssozialisatorischen Voraussetzungen der Lerner Eine besondere Rolle für die Curriculagestaltung unterrichtlicher Zweitspracherwerbsförderung spielen die bildungssozialisatorischen Voraussetzungen der Lerner. Soweit diese nicht ähnliche Schul- und Fremdsprachenerwerbskarrieren mitbringen wie durchschnittliche Deutsch-als-Fremdsprachenlerner sind ihnen viele Prozeduren und Sprachregelungen, wie sie im herkömmlichen Fremdsprachenunterricht gebräuchlich sind, unbekannt und unvertraut.

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache

Dazu gehören Übungs- und Testformen wie Lückentexte oder multiple choice ebenso wie das Reden über Grammatik mittels fachsprachlicher Begriffe, aber ggf. auch der Umgang mit kommunikativen Lernaufgaben wie dem Rollenspiel und dem freien Schreiben von Texten. Möglicherweise ist überhaupt jede schriftlich zu bewältigende Lernaufgabe für den einen oder anderen Lerner eine angstbesetzte Tätigkeit, die er nur unter Mühen in Angriff nimmt und die in seinem sonstigen Leben kaum eine Rolle spielt. Wer eine 5-jährige Grundschule ohne Fremdsprachenunterricht als einzige Lernerfahrung in den Unterricht mitbringt, was ζ. B. für viele der türkischen Arbeitsmigranten in den Zeiten der Anwerbeverträge — die sog. „1. Generation" — zutraf, ist auf Angebote angewiesen, die neben den unmittelbaren sprachlichen Lerngegenständen wie Syntax, Lexikon, Sprachhandlungsmustern usw. das Instrumentarium effektiven Sprachlernens selbst zum Lerngegenstand machen und dieses mit den Lernern zusammen voraussetzungslos entwickeln. Aus dieser Sicht ist das Lehren und Lernen des Lernens nicht mehr nur ein methodisches Problem, sondern Teil des Curriculums und mit dessen anderen Lerngegenständen eng verknüpft, wie in den folgenden Abschnitten immer wieder angesprochen werden wird. Vorab und übergreifend lassen sich dazu folgende Makrolehr- bzw. -lernziele benennen: — Vermittlung!Erwerb von Sprachbewusstsein und Sprachlernbewusstsein; — Vermittlung!Erwerb von Elementen einer Metasprache, mit deren Hilfe Sprache(n) und Sprachenlernen kommentierbar werden; — Vermittlung!Erwerb von Instrumenten der Ökonomisierung, Effektivierung und Automatisierung von Sprachlernprozessen. Die Antwort auf Defizite ist somit nicht, Unterrichtsangebote für Zweitsprachenlerner zu infantilisieren und in behavioristische Lehr-/Lernaufassungen zurückzufallen, sondern vorgefundene Defizite auszugleichen, um auch diese Lernergruppe auf allen Ebenen ihrer kognitiven, interaktiven und sensorischen Lernpotentiale anzusprechen. 3.3.

Elemente der sprachwissenschaftlichen Fundierung curricularer Entscheidungen 3.3.1. Die zweitsprachlichen Lernvarietäten Jede Curriculumplanung im Fach Deutsch als Fremdsprache erfordert Kenntnisse über

813

die sprachlichen Voraussetzungen der Lerner, ihren „Sprachstand". Im herkömmlichen Sprachunterricht wird dabei die Niveauzuweisung weitgehend über ein aufeinander aufbauendes Kurssystem geregelt. Im Normalfall beginnt man auf dem Niveau des Anfangers (Null-Stufe) und „steigt" kontinuierlich „ a u f . Seiteneinsteiger werden über spezielle Einstufungstests ebenfalls in dieses Kurssystem integriert, was voraussetzt, dass die Maßstäbe der Einstufungstests, das Kurssystem und die Vorkenntnisse der Seiteneinsteiger miteinander kompatibel sind. Für die Gruppe der Arbeitsmigranten stellte sich bald heraus, daß diese Voraussetzung nicht zutrifft. Tatsächlich ist das Kompetenzprofil von Zweitsprachenlernern nur schwer auf herkömmliche Progressionen des Fremdsprachenunterrichts abzubilden. Der außerunterrichtliche Spracherwerb nimmt offensichtlich einen anderen Verlauf und führt zu anderen (Zwischen-)Ergebnissen als der unterrichtliche, seine „Annäherungen an die Zielsprache" unterscheiden sich von den geordneten Stufen, wie sie ein Kurssystem abbildet. Der deutlichste Indikator dafür ist das Verhältnis von grammatischer Regelkompetenz und Sprachhandlungskompetenz beim einzelnen Lerner. Während bei Zweitsprachenlernern letztere in der Regel deutlich besser ausgebildet sind als erstere, bewegen sich bei Fremdsprachenlernern beide Kompetenzbereiche idealiter auf parallel ansteigenden Niveaus, im ungünstigeren Fall wird die höhere Kompetenz eher in der Grammatik erreicht. Im Prinzip hätte dies für eine Curriculumplanung von unterrichtlichen Zweitsprachenlernprozessen zur Konsequenz, dass man (i) den Sprachstand einer Lernergruppe ermitteln müßte, bevor man ein niveauentsprechendes Curriculum zusammenstellt, dass man (ii) dafür ein spezielles Instrument benötigen würde, das die Spezißka von zweitsprachlichen Lernervarietäten berücksichtigt und dass dazu wiederum (iii) eben diese Spezißka bekannt sein müssten. Trotz einiger richtungweisender Arbeiten, insbesondere zum Zweitsprachenerwerb von Arbeitsmigranten (vgl. dazu HPD 1975, Clahsen/Meisel/Pienemann 1983, Dittmar 1988 u. 1994, Barkowski 1996; einen guten Überblick bietet demnächst Apeltauer 1993/1997), ist die Befundlage sicher nicht ausreichend, um darauf etwa ein Niveaustufenmodell zu begründen, wie es für Deutsch als Fremdsprache vorliegt.

814 Dass sich die Zweitspracherwerbsforschung bislang weder nach Umfang noch Aussage zu einem hinreichenden Fundus für curriculare Entscheidungen entwickelt hat, liegt zum einen an der Komplexität des Gegenstandes und des Aufwandes, der damit verbunden ist, sich mit diesem Gegenstand empirisch-wissenschaftlich auseinanderzusetzen; zum anderen an den speziellen foci der Untersuchungen, die in den seltensten Fällen mit didaktischen Fragestellungen rückgekoppelt waren (anders z. B. Ahrenholz 1995), und zum dritten an der geringen materiellen Ausstattung dieses Forschungssegments, die durchaus mit der Diskriminierung der Betroffenengruppe korrespondiert. Andererseits erlauben die Ergebnisse der Zweitsprachenerwerbsforschung durchaus, einige prinzipielle Forderungen zu formulieren, die in Curricula für den Zweitspracherwerb bedacht und, soweit möglich, berücksichtigt werden sollten: — die Lernvarietäten sind nicht als Fehlersammlung zu interpretieren, sondern als Dokumentationen von Spracherwerbsverläufen und Annäherungen an die Zielsprache; — Unterricht sollte an diese Annäherungen anknüpfen; dies erfordert seitens der Unterrichtenden u. a. (i) eine besonders große Bereitschaft zur Toleranz im Umgang mit Abweichungen von der zielsprachlichen Norm und (ii) Empathie und Sensibilität gegenüber den Mitteilungsintentionen der Lernenden in Fällen eigenwilliger bis unzureichender sprachlicher Enkodierung; — weiterhin gefordert sind sensible und konstruktive Korrekturstrategien·, wo dies möglich ist und nach Art einer Aweichung plausibel erscheint, unter sprachkonfrontativer Einbeziehung der Lernermuttersprache (s. dazu auch III. 18., 19. und VI).

Allerdings ist gleichzeitig zu beachten, dass die Interpretation von Abweichungen nicht ausschließlich auf der Basis der Kontrastivitätshypothese erfolgt, da sich einige typische Normabweichungen (z. B. im Bereich der Kopulaverwendung und der Pronominalisierungen) in der Zweitsprachenerwerbsforschung als sprachfamilienübergreifend und unabhängig von den vergleichbaren Eigenschaften der Lernermuttersprachen erwiesen haben. — Sprachlichen Erscheinungen, die offensichtlich dem außerunterrichtlichen Spracherwerb schwer zugänglich sind, ist insbesondere unterrichtliche Aufmerksamkeit zu widmen·, dazu gehören — bezogen auf ein Grundstufenzertifikatsniveau (s. XI.86): das Genusmarkierungssystem; die Stellungsvarianten mehrteiliger Verbparadigmen in Hypo-

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II taxe und Parataxe (zusammengesetzte Zeitformen, Kompositaverben, Passiv); „sein" als Kopulaverb; präpositionale Verbindungen (P) in unterschiedlichen Funktionen und Zusammensetzungen (Verb + Ρ, Ρ + Nomen, Nomen + P, Ρ + Adverb, Adverb + P); Pronominalisierungen.

3.2.2. Sprachstandserhebung und Binnendifferenzierung Während im vorangegangenen Abschnitt allgemeine Charakteristika der Resultate außerunterrichtlichen Spracherwerbs von Arbeitsmigranten vorgestellt wurden, geht es im folgenden um den Umgang mit konkreten Lernergruppen und deren Vorkenntnissen bei Eintritt in den Unterricht. Wie die erwähnten Untersuchungen zum außerunterrichtlichen Zweitspracherwerb gezeigt haben, variiert das je erreichte Sprachniveau der Sprecher erheblich, desgleichen der Umgang der Lerner mit dem außerunterrichtlichen Sprachinput bzw. mit der je erreichten Kompetenz in der Sprachproduktion (Regel- bzw.

Korrekt-

heitsorientierung vs. Orientierung am Erwerb vornehmlich kommunikativer Kompetenz und erfolgreicher Performanzstrategien; dazu

besonders Clahsen/Meisel/Pienemann 1983, 265 fT.). Für den Unterricht bedeutet dies, dass man es eigentlich nie mit niveauhomogenen Lernergruppen zu tun hat und zu Beginn eines Kurses nicht einmal das Durchschnittsniveau einer konkreten Gruppe kennt. Dem Unterricht jeweils eine seriöse Zweitsprachenerwerbsstudie vorzuschalten, um dem abzuhelfen, steht aufgrund des erwähnten Aufwandes selbsredend nicht zur Wahl. So verlassen sich Kursleiter bei der Niveaueinschätzung zumeist auf Erfahrung und Intuition und versuchen, bei den ersten Kursterminen den Lernern deren Sprachstand „abzulauschen". Gelegentlich mag dies einigermaßen glücken, besonders verlässlich ist dieses Verfahren natürlich nicht. Als ein Mittelding zwischen Intuition und Zweitsprachenerwerbsstudie bietet sich eine Vorgehensweise an, wie sie in Barkowski/Harnisch/Kumm (1978b) entwickelt wird. Danach lassen sich grundsätzlich zwei Typen von Erhebungen unterscheiden, die als einander ergänzend zu werten sind, nämlich eine globale Erfassung des Gruppensprachstandards zu Beginn eines Kurses und — je nach Bedarf — verschiedene lehr-/lernzielorientierte im Kursverlauf. Die Globalanalyse basiert auf einem gelenkten Gespräch und dient der Elizitierung allge-

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache

meiner Daten zur Grammatikkompetenz im Hinblick auf einige grundlegende Eigenschaften des Deutschen (Verbsyntax, -morphologie, Genus, Numerus, Tempora, Präpositionalanalgaben u. ä.). Die lernzielorientierten Teilanalysen sollen herausfinden helfen, welche sprachlichen Mittel zur Bewältigung ganz bestimmter kommunikativer Aufgaben/Mitteilungsintentionen — ζ. B. zur Mitteilungsintention „spekulative Gedanken versprachlichen"— den Lernern überhaupt schon zur Verfügung stehen, um entscheiden zu können, welcher Lernstoff neu vermittelt werden soll, um das Lernerrepertoire diesbezüglich auszustatten bzw. zu erweitern. Für diesen zweiten Erhebungstyp eignen sich sprachliche Rollenspiele mit präzise formulierten Kommunikationsaufgaben. In jedem Fall sind die Lerneräußerungen per Tonband zu protokollieren und dann hinsichtlich dessen, was man erfahren will, wenigstens informell auszuwerten (erneute Anhörung des Audioprotokolls; Strichlisten/Notizen anlegen). Die genannten Verfahren erbringen ausreichende Informationen bei vertretbarem Aufwand. Zwar ist kritisch anzumerken, dass sich diese Vorschläge ausschließlich auf die grammatische Stoffauswahl und -progression orientieren, aber dies geschieht immerhin aus einer Perspektive, in der die Ausdrucksfunktionen mitgedacht sind. Allerdings ist das Problem des heterogenen Niveaus innerhalb einer konkreten Lernergruppe allein mit den Sprachstandsbefunden noch nicht gelöst. Will und/oder kann man angesichts ermittelter Heterogenität nicht an die Solidarität mit den unteren Niveaus appellieren oder ein mittleres Niveau ansteuern — von dem dann erfahrungsgemäß nur Lerner dieses Niveaus und der darunter liegenden profitieren — wäre idealiter mit Binnendifferenzierung - s. auch IX.81 — zu reagieren (vgl. Göbel 1992). 3.3.3. Aspekte der Grammatikvermittlung Ausgehend von den bildungssozialisatorischen Voraussetzungen vieler Zweitsprachenlerner - und sicher auch beeinflusst von der methodischen Dauerdiskussion im Bereich Deutsch als Fremdsprache („Wieviel Grammatik braucht der Mensch?") — gehören Fragen des unterrichtlichen Umgangs mit den grammatischen Eigenschaften des Deutschen zu den frühen und prominenten Themen der Lernziel- und Methodenreflexion in der Zweitsprachenvermittlung Deutsch. Tenden-

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ziell setzten sich dabei die Auffassungen durch, die - mit übergreifendem Anspruch — schon bekannt wurden und für den Grammatikunterricht konkret bedeuten, — dass die Vermittlung grammatischen Lernstoffes keineswegs nur auf die Lernwege Imitation und Induktives Automatisieren setzen darf sondern kognitive Lehr-ILernstrategien zur Ökonomisierung und Effektivierung des Lernprozesses nutzen muss; — dass dazu u. a. Regelzusammenhänge gemeinsam geklärt und verbalisiert werden sollten; — dass die zur Verbalisierungen benötigte Metasprache im Unterricht zu allererst erlernt werden muss, wobei die Vermittlung grammatischer Begriffe und der durch sie vertretenen Sachverhalte Hand in Hand zu erfolgen hat. Ein weiteres Prinzip der Gestaltung des Grammatik-Curriculums begründet sich aus den besonderen Verhältnissen des Zweitspracherwerbs, v. a. der Art und Weise, wie sie die Vorkenntnisse der Lerner prägen und deren Erwartungen an Unterricht präformieren. So sehr Zweitsprachenlerner durchaus ein Bewusstsein haben von ihren Defiziten und Normabweichungen, gerade auch im Bereich der Grammatik (vgl. Barkowski/Harnisch/Kumm 1977), so wenig leicht fallt es ihnen gleichwohl, sich mit ihrem Sprachstand und -standard auseinanderzusetzen, der sich ja häufig genug über Jahre, wo nicht gar Jahrzehnte in der Alltagskommunikation bewährt, vielleicht sogar als hinreichend erwiesen hat. Es kommt deswegen darauf an, in Auswahl und Präsentation grammatischer Lerngegenstände nachzuweisen, dass deren Erwerb die Sprachhandlungsfähigkeit, gemessen an den jeweiligen Vorkenntnissen, erweitert und nicht etwa nur zu einem höheren Grad von Korrektheit verhilft. Bedauerlicherweise liegt bislang noch keine umfassende Beschreibung der Grammatik des Deutschen vor, die konsequent eine kommunikativ-funktionale Perspektive einnähme und so, neben anderem, den eben geforderten Nachweis erbrächte. Allerdings lassen sich einige Grammatiken (z.B. Häussermann/Kars 1988, Eisenberg 1989, Götze/Hess-Lüttich 1989, Helbig/Buscha 1993), Grammatikkonzeptionen (Barkowski 1986) und Lehr-/Lernmaterialien (Barkowski/Harnisch/Kumm 1986; Meese 1984; Engel/Tertel 1993) als Informationssteinbruch im Sinne der genannten Perspek-

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tive schon jetzt verwenden. Ein konkreter Progressionsentwurf zur Gestaltung eines Grammatikcurriculums aus kommunikativ-funktionaler Sicht wurde für die Gruppe der Aussiedler erarbeitet (s. Goethe-Institut 1991). Ein dritter Schwerpunkt in der curricularen Gewichtung sollte solchen grammatischen Erscheinungen des Deutschen gelten, die dem außerunterrichtlichen Spracherwerb besonders schwer zugänglich sind, ggf. korrigiert um Erkenntnisse, wie sie sich aus dem Sprachstand einer konkreten Lernergruppe ergeben - zu beiden s. genauer 3.3.1. Es liegt auf der Hand, dass die Beachtung solcher Vorkenntnisse im Prinzip die Verfügung über flexibel einsetzbare, „mobile" grammatische Lernbausteine erfordert, die je nach Bedarf zu einem Curriculum kombiniert werden können. Dies impliziert vor allem den Verzicht auf die übliche formal begründete Progressionsstruktur „vom Einfachen zum jeweils Komplexeren". Ein konkreter Versuch, diesen Forderungen methodisch-didaktisch zu entsprechen, wurde mit den Zusatzmaterialien der KORKMAZLAR unternommen (Barkowski/Schulze 1990 - zu den KORKMAZLAR s. auch 3.4.3.). Übrigens widerspricht die Einbeziehung von weniger die Ausdrucksseite der Sprache als deren formale Organisation betreffenden Lerngegenständen allenfalls auf den ersten Blick dem gerade diskutierten Prinzip einer Vorgehensweise nach kommunikativ-funktionalen Prinzipien. Bei genauerem Hinsehen leistet die formale Organisation einerseits selbst — trotz mancher Redundanzen - Unverzichtbares für den Sinnaufbau, wie Eisenberg (a. a. O. S. 23-32) sehr überzeugend ausführt, zum anderen bewirkt Inkompetenz gegenüber zentralen formalen Gestaltungsmitteln einer Sprache Verunsicherung beim Sprachbenutzer und unterstützt bzw. erhöht ggf. auch dessen soziale Stigmatisierung seitens der Mehrheitsgesellschaft und deren Bereitschaft zum Nicht- und Missverstehen, was sich fraglos beides auf die Sprachhandlungskompetenz negativ auswirkt. Alle drei genannten Prinzipien der Gestaltung von Grammatik tragen gemeinsam dazu bei, die Lerner in ihrem Lernprozess zunehmen autonomer werden zu lassen und so zu befähigen, auch ihren außerunterrichtlichen Spracherwerb aktiv (er) mitzugestalten und voranzubringen. Beispiele dafür finden sich wiederum in Barkowski/Harnisch/Kumm 1986 und in den KORMAZLAR-Zusatzmaterialien.

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

3.3.4. Aspekte der Vermittlung thematischinhaltlicher und pragmatischer Sprachhandlungskompetenz Dem Abschnitt ist voranzustellen, dass die Verfügung über die formalen Mittel der Sprache natürlich als Teil einer umfassenden Sprachhandlungskompetenz zu sehen ist, zumal bei einem Verständnis von Grammatik, das diese Mittel — wie in 3.3.3. dargestellt — unter dem Aspekt ihrer kommunikativ-funktionalen Leistungen beschrieben und vermittelt wissen will. Insoweit dient die hier vorgenommene, eher konventionelle Scheidung der formalen von den lexikalischen und pragmatischen Mitteln verbaler Kommunikation ausschließlich Zwecken der Übersichtlichkeit in der Darstellung, zielt auf den Komfort der Leser/ Benutzer dieses Handbuchs. Auf die Verwendung des von Habermas über Piepho (1974) auf die Fremdsprachendidaktiken überkommenen Begriffe der Kommunikativen Kompetenz, der historisch zweifellos einen wichtigen Impuls für die Abwendung von überholten methodisch-didaktischen Konzeptionen (s. dazu u . a . Christ/Hüllen 1995,568) bedeutete, werde ich dabei bewusst verzichten, da dieser Begriff im Laufe seiner - inflationären — Verwendung sehr unterschiedliche theoretische wie praktische Deutungen und Umsetzungen erfahren hat, mit denen sich auseinanderzusetzen hier nicht der Platz ist. Für curriculare Entscheidungen stellen sich aus lexikalischer und pragmatischer Sicht besonders folgende Fragen: — Wieviel Deutsch benötigen Zweitsprachenlerner? — Welche Varietät des Deutschen ist zu vermitteln? — Welche Themen, Situationen und Sprechakttypen sind auszuwählen? — Welche Sprachsorten sind vorrangig von Belang? Aus guten Gründen sind die Antworten darauf eher allgemein und reflektieren wiederum die Lebenssituation von Zweitsprachenlernern. Per definitionem leben diese im Land ihrer Zielsprache. Im Falle Deutschland ist diese Zielsprache Deutsch und in der Regel zugleich die einzige Sprache, die Mehrheiten und Minderheiten gemeinsam haben. Im Interesse uneingeschränkter Kommunikationsbedürfnisse — dies allerdings wäre die Voraussetzung — benötigten Zweitsprachenlerner tendenziell eine Sprachkompetenz im Umfang einer Mutter- bzw. Erstsprache.

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache

Dazu gehörte ggf. neben der hochsprachlichen Standardvarietät eine dialektale. Beide Varietäten müssten mindestens rezeptiv zur Verfügung stehen, nur eine der beiden produktiv. Welche die produktive sein wird, entscheidet der Lerner, sofern er nicht im außerunterrichtlichen Spracherwerb längst von der Dialektvarietät geprägt wurde. Prinzipiell gibt es also keinen Grund, Zweitsprachenlernern Teile der Zielsprache vorzuenthalten oder gar eine Art Minimalcurriculum („Überlebensdeutsch") unter Vernachlässigung von Korrektheitsansprüchen zu entwickeln, wie dies zu Beginn der Curriculumsdebatte anfangs der 70'er Jahre durchaus - und häufig in wohlmeinender Absicht — diskutiert wurde. Andererseits ist zu bedenken, dass jegliches Unterrichtsangebot nur ein Angebot begrenzter Reichweite sein kann, insbesondere, wenn die organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen an eine langfristige Unterrichtsteilnahme gar nicht denken lassen wie etwa im Fall der Arbeitsmigranten, deren Zweitsprachenerwerb zu keinem Zeitpunkt anders als unter Verzicht auf Teile des Feierabends geschehen konnte. Auch die von Unterhaltszahlungen begleitete, derzeit 6-monatige Sprachförderung für Aussiedler reicht natürlich nicht aus, „die ganze Sprache" zu vermitteln. Es gilt also eine Aswahl zu treffen, und dazu bedarf es Kriterien und Verfahrensweisen. Anders als im Fall der Grammatik - s. dazu 3.3.1. und 3.3.2. - liegen zu den Kompetenzen und Defiziten im lexikalischen und pragmatischen Bereich nahezu keine systematisch erhobenen Analyseergebnisse vor und lassen sich für je aktuelle Lernergruppen derzeit auch nicht ermitteln, jedenfalls nicht mit ähnlich unaufwendigen Methoden, wie sie in 3.2.2. für die Fundierung von Grammatikcurricula vorgestellt wurden. Glücklicherweise sind die Lerner selbst und dies wiederum gilt für Fragen der grammatischen Kompetenz nicht in vergleichbarem Maße - zuverlässige Informanten hinsichtlich ihrer vorrangigen thematischen Interessen und Mitteilungsbedürfnisse, woraus sich folgende erste Empfehlungen ableiten lassen: — Situationen erfragen, in denen die Lerner nach eigener Aussage sprachlichen Handlungsbedarf und Defizite haben; — Themen erfragen, die die Lerner interessieren und hinsichtlich deren sie ihre sprachli-

che Kommunikationskompetenz wollen.

817 verbessern

Beides kann, um die Auswahl nicht allein spontanen Einfallen zu überantworten, eventuell durch Themenlisten unterstützt werden. Diese Listen könnten unter anderem Themen enthalten, die — aktuell oder langfristig — für das Leben der Teilnehmer von besonderer Bedeutung sind, sollten sich aber keinesfalls auf solche Angebote beschränken, sondern unbedingt und gleichgewichtig den kommunikativen Alltag widerspiegeln, also neben Themen wie ζ. B. Schul- und Berufsausbildung der Kinder oder Erlebte Ausländerfeindlichkeit auch solche wie Urlaubspläne, Umtausch und Verabredung enthalten. Der kompetente Umgang mit frei wählbaren Curriculumanteilen setzt allerdings voraus, dass die Lehrenden über einen guten Überblick, die in Lehrwerken bereits berücksichtigten Themen und Situationen betreffend, verfügen, vorhandene Materialien somit als Steinbruch nutzen können; Datenbanken, wie die von Rösler/Skiba (dies., 19922) begonnene, in der sich verschiedene Lehrwerke entsprechend ausgewertet finden, sind dazu ggf. eine gute Hilfe. Darüber hinaus sollten Lehrer, die so arbeiten wollen, in der Lage sein, authentische Materialien zu weiteren Themen/Situationen methodisch-didaktisch aufzubereiten. Ein weiterer, flexibel einsetzbarer Curriculumbaustein wurde von Barkowski u. a. in enger Anlehnung an die pragmalinguistische Diskussion, insbesondere die Sprechakttheorie (Searle, Wunderlich) entwickelt; es handelt sich dabei um passe-partout-Dialoge, die frequente Versatzstücke menschlichen Sprachhandelns enthalten und in unterschiedlichen Zusammenhängen angewandt werden können. Einige davon sind in Barkowski/Harnisch/Kumm 1986 (S. 69, 295, 302) dokumentiert. Die dialogischen Versatzstücke wurden dabei ausgewählt mit der Intention, zu übergeordneten Kommunikationsbedürfnissen geeignete Sprachmittel bereitzustellen. Als solche übergeordneten Kommunikationsbedürfnisse macht die Autorengruppe, inspiriert durch Watzlawick u. a. (1969), aus: „ Typ 1: Eine gleichberechtigte Beziehung herstellen. Typ 2: Eine gleichberechtigte Beziehung klären. Typ 3: Eine gleichberechtigte Beziehung entwickeln. " (Barkowski/Harnisch/Kumm 1986, 60)

818 Im Prinzip ließe sich vermutlich auf der Basis der Sprechakttheorie und in Anlehnung an weitere konversations- und kommunikationsanalytische Ansätze der hier eingeschlagene Weg in Richtung auf einen Thesaurus vielseitig verwendbarer Sprachhandlungsmuster weiterverfolgen und man käme damit dem Ziel, Unterrichtscurricula adressatenspezifisch nach dem Baukastenprinzip konzipieren zu können, ein weiteres Stück näher. Zwar zielen die in 3.3. bislang referierten Überlegungen und Orientierungen in erster Linie auf die allgemeinsprachlichen Kompetenzen von erwachsenen Zweitsprachenlernern, sind aber durchaus auch für berufsbzw. ausbildungsbezogene Lernangebote, in denen die Sprachförderung immer einen zentralen Anteil ausmachte, von Bedeutung. Darüber hinaus kommen in solchen Lernangeboten natürlich aus methodischer und didaktischer Sicht Überlegungen und Lehrstrategien zum Tragen, wie sie für Zusammenhänge der fachsprachlichen Deutschvermittlung — s. dazu VII 57 — entwickelt wurden und werden (s. dazu auch 3.4.3.). 3.4. Lehr- und Lernmaterialien 3.4.1. Vorbemerkung Die folgende Übersicht zum Angebot an Lehr- und Lernmaterialien beschränkt sich im wesentlichen auf Titel, die über Buchhandel und Bibliotheken zugänglich sind. Da nur wenige Materialien zur Verfügung stehen, die explizit für Zweitsprachenlerner entwickelt wurden, werden Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache in die Empfehlungen einbezogen. Generell, auch in Hinblick auf die Gestaltung wahlfreier und adressatenspezifischer Curricula, lässt sich das Angebot wohl am vorteilhaftesten als „Steinbruch" auffassen und nutzen. 3.4.2. Kriterien zur Beurteilung und Produktion von Lernmaterialien Bereits 1978 wurde ein erster Kriterienkatalog zur Beurteilung und Produktion von Lernmaterialien für Arbeitsmigranten entwikkelt (Barkowski/Harnisch/Kumm 1978a), gefolgt von einem Lehrwerksgutachten, das die gleiche Lernergruppe im Auge hatte und weitgehend auf dem gen. Katalog basiert (Barkowski/Fritsche/Göbel u. a. 1986). Leider wurde dieses Gutachten seit 1986 nicht mehr aktualisiert, so dass für spätere Lehrwerke derzeit keine Bewertung nach dem erwähnten Kriterienraster vorliegt.

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Einschränkend ist ferner anzumerken, dass das Gutachten ausschließlich im Hinblick auf Arbeitsmigranten, vor allem aus den sogenannten Anwerbeländern, konzipiert wurde. Seit 1990 gibt es einen weiteren Kriterienkatalog, der unter Federführung des „Sprachenverbands Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V." (s. 3.5.) entwickelt wurde (veröffentlicht in Deutsch lernen 1/1990, 49-58). Der Katalog berücksichtigt Veränderungen in der Klientel — erwähnt werden insbesondere Frauen- und Analphabetenkurse - und fragt differenziert nach der Eignung der Lehr-/Lernmaterialien für je verschiedene Lernergruppen. Berücksichtigt man beide Kriterienauflistungen mit ihren Anliegen und bezieht man weitere Zweitsprachenlernergruppen wie die der Aussiedler und Flüchtlinge ein, so sollten sinngemäß die folgenden Elemente in Lehr-/ Lernmaterialien berücksichtigt bzw. anzutreffen sein: a) die Lebenswelten von Einwanderern unter dem Aspekt „Identität und Migration" auf der Basis einer dynamischen Konzeption von Kultur und Entwicklung von Individuen; b) ein Sprachhandlungsangebot, das sich an den Bedürfnissen des kommunikativen Alltags orientiert und im wesentlichen umgangssprachliche und vielseitig einsetzbare Sprachbausteine bereitstellt; c) weitere Sprachhandlungsangebote, die spezifische Weiterbildungs-, Freizeit- oder Emanzipationsinteressen durch bedarfsgerechte Curricula und Organisationsformen bedienen; d) ein angemessener Umgang mit den Besonderheiten des Zweitspracherwerbs ( vgl. 3.3.1.-3.3.4.); e) das Eingehen auf die Lernerfahrungen und -fähigkeiten der speziellen Lernergruppe(n); f) Offenheit für binnendifferenzierende Lehr-/ Lernprozesse; g) die Berücksichtigung des Weltwissens von Erwachsenen durch eine entsprechende ästhetische Gestaltung; die dazu ausgesuchten Fotos, Zeichnungen, Collagen u. ä. sollten sich auf dem Niveau von Printmedien für Erwachsene bewegen und herkunftskulturelle Gestaltungsmuster einbeziehen. 3.4.3. Lehr-/Lernmaterialien Lehrwerke: Es gibt nur wenige Zweitsprachenlerner-spezifische Lehrwerke; die Mehrzahl von ihnen

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache

wurde - zwischen 1975 und 1982 - für Arbeitsmigranten entwickelt und ist im o. g. Gutachten besprochen. Den Gutachtenkriterien genügten in wesentlichen Hinsichten nur drei von ihnen: der Feridun, Das Deutschbuch und Deutsch hier. Der Feridun ist bedauerlicherweise, aber auch aus guten Gründen nicht mehr im Buchhandel erhältlich — bedauerlicherweise, weil er einige vorbildliche Merkmale aufweist, aus guten Gründen, weil er den Prozess des Emigrierens der sog. 1. Generation türkischer Arbeiter von der Anwerbung bis zur Ankunft in Deutschland zum Inhalt hat und somit „Geschichte" geworden ist. Die vorbildlichen Merkmale: der Feridun bezieht auf der textlichen, der Erklärungs- und der Übungsebene die Muttersprache der Lerner ein, experimentiert gar mit sprachlichen Mischformen und brilliert mit treffsicheren satirischen Texten und Zeichnungen. Das Deutschbuch eignet sich aufgrund einer Fülle niveauverschiedener Texte besonders gut für binnendifferenzierenden Unterricht und enthält viele Versatzstücke sprechüblicher Alltagskommunikation als Lernangebot. Allerdings fehlt es an Anregungen zum unterrichtlichen Umgang mit dem Lernbereich Grammatik. Dies ist in Deutsch hier anders: anknüpfend an die methodisch-didaktische Diskussion präsentiert das Lehrwerk zahlreiche gelungene Angebote zur Unterstützung eines systematischen und kognitiven Umgangs mit grammatischen Lerngegenständen, durchaus unter weitgehender Berücksichtigung der Voraussetzungen seiner Adressaten. Einen vergleichsweise späten Versuch, den Arbeitsmigranten der 1. Generation ein Sprachlern(motivations)angebot zu machen, stellen die KORKMAZLAR dar. Die Korkmazlar sind eine Spielfilmserie, in deren Mittelpunkt das Leben einer gleichnamigen türkischen Familie steht. Teil der Filmhandlungen sind dabei auch einige deutschsprachliche Kommunikationsprobleme. Filme und Zusatzmaterialien (ein Sprachlernmagazin und Tonkassetten) wenden sich ursprünglich an Selbstlerner, sind aber auch in Unterrichtszusammenhängen einsetzbar; eine dazu entwikkelte Lehrerhandreichung (Barkowski 1994) sowie alle anderen Printmaterialien sind beim erwähnten Sprachverband erhältlich, die Filme und Audiokassetten über den Münchner Verein „Kassettenprogramme für ausländische Mitbürger" (s. u. 5. Kontakte).

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Von den speziell für Aussiedler entwickelten Lehrwerksangeboten knüpft noch am ehesten Mit uns leben an den Standard der fachdidaktischen Diskussion an. Darüber hinaus liegt eine detaillierte Curriculumbroschüre für die Gestaltung eines sechsmonatigen Intentivkurses für diese Adressatengruppe vor (Goethe-Institut 1991), dazu ein halbdokumentarisches Video - Familie Wagner - und ein Materialienbuch für den Unterricht, sämtlich bei der Münchner Zentrale des Goethe-Instituts erhältlich. Das somit eher schmale Angebot an adressatenspezifischen Materialien, das zudem der hochdifferenzierten Klientel immer nur in Teilen angemessen ist, machte es immer schon sinnvoll, auch solche Materialien und Lehrwerke für den Deutsch-als-Zweitsprachen-Unterricht zu empfehlen, die zwar primär für Deutsch-als-Fremdsprachen-Kurse entwickelt wurden, aber wenigstens in Teilen auch für Zweitsprachenlerner eingesetzt werden können. In erster Linie sind dies die alten und neuen Versionen von Themen, Deutsch aktiv und Sichtwechsel, neuerdings auch Moment mal! unter dem Vorbehalt, dass auch eine Nutzung dieser Lehrwerke sich an den in 3.4.2. vorgestellten Kriterien orientieren sollten. Übrigens gilt dies auch für den Einsatz „grauer" und „hausgemachter" Materialien. Neben dem auf allgemeinsprachliche Kompetenz ausgerichteten Deutsch-als-Zweitsprachenunterricht nimmt der berufsbezogene Unterricht in den Angeboten für erwachsene Lerner seit je eine zentrale Rolle ein und ist dabei in der Regel Teil umfassenderer sozialintegrativer bzw. fachunterrichtlicher Programme. Bis 1988 lag die Betreuung auch für diesen Unterricht in der Verantwortung des Sprachverbands und war v. a. verknüpft mit der Kürzel MBSE, den „Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung" junge Ausländer, in deren Kontext unter anderem das einzige explizite Lehrwerk für diese Klientel, „Deutsch für Jugendliche anderer Muttersprache" entstanden ist. Dass es das einzige blieb, hat vor allem damit zu tun, dass die unterschiedlichen berufsspezifischen sprachlichen Anforderungen, wie sie sich aus der Branchenvielfalt ergeben, eher auf der „Materialienebene" abgedeckt werden können. So stellen etwa Klein/Leray (1990) nicht mehr ein Lehrwerk, sondern ein Curriculum mit beispielhaften Unterrichtseinheiten vor, übrigens noch durchaus mit dem Anspruch, allgemeinsprachliche An-

820 Forderungen und fachspezifische gleichermaßen zu berücksichtigen. Einen interessanten innerbetrieblichen Ansatz der fachlichen, sprachlichen und sozialen Integration entwikkelte die BMW AG mit der „Lernstatt" (s. dazu Markert 1985). Vor allem seit der Vereinigung der ehemals beiden deutschen Staaten und dem nachfolgenden Druck auf den Arbeitsmarkt „boomt" die Nachfrage nach beruflicher Weiterqualifizierung auch seitens der nichtdeutschen Arbeitnehmer merklich und hat den Sprachverband motiviert, eine kommentierte Bibliografie zum berufsbezogenen Deutsch-als-Zweitsprachen-Unterricht zu erarbeiten (s. Sprachverband ... 1993). In übereinstimmender Tendenz betont dabei die Mehrzahl der facherübergreifenden Beiträge, daß die besonderen Anforderungen, die v. a. Fachtexte an die zweitsprachlichen Komponenten ihrer Leser- bzw. Lerner/innen stellen, methodisch-didaktisch Berücksichtigung finden sollten (s. dazu u. a. Beer-Kern 1992, Hoberg 1993; Funk u. a. 1991). Daneben enthält die Bibiliografie zahlreiche Beiträge zum fachspezifischen Sprachunterricht verschiedenster Branchen sowie Angaben zu diesbezüglich vorliegenden Unterrichtsmaterialien. Seit 1988 wird der gesamte Bereich der berufsbezogenen Förderkurse, einschließlich seiner Sprachförderungsanteile, von der Bundesanstalt für Arbeit (Nürnberg) koordiniert, wobei die segregative Orientierung früherer Maßnahmen - mit speziellen Angeboten für nichtdeutsche Arbeitnehmer — integrativen Angeboten gewichen ist, in denen deutsche und ausländische Arbeitnehmer im Grundsatz gemeinsam gefördert werden; eventuelle Sprachdefizite auf Seiten der nicht-deutschen Teilnehmer sollen im Programm allerdings gesondert Berücksichtigung finden (vgl. dazu zuletzt das „Dienstblatt der Bundesanstalt für Arbeit", im Literaturverzeichnis unter Bundesanstalt für Arbeit 1996 zu finden). Im folgenden werden, ζ. T. im Text schon erwähnte, Hilfen für die Curriculaplanung Deutsch als Zweitsprache aufgelistet, wo nötig auch kurz kommentiert. Einschränkend ist dabei anzumerken, dass die geringe Institutionalisierung und Professionalisierung des Zweitsprachenunterrichts u. a. mit einer starken Regionalisierung der Materialentwicklung im Bereich der „grauen Materialien" einherging und -geht, so dass es vieles geben mag, das erwähnt zu werden verdiente, aber ungenannt bleibt. Um dem wenigstens ansatzweise entgegenzusteuern, werden in 5.

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

(Kontakte) Adressaten genannt, unter denen u. a. weitere Materialien angefragt werden können. Handbücher zur Methodik!Didaktik: Neben dem Gutachten zu ausgewählten Lehrwerken (Barkowski/Fritsche/Göbel u. a. 19863) und den oben besprochenen Lehrwerken haben sich einige an die Lehrer adressierte Handbücher zu Standardwerken für den Deutsch-als-Zweitsprache-Unterricht entwikkelt. Es sind dies das Handbuch für den Deutschunterricht mit Arbeitsmigranten (Barkowski/Harnisch/Kumm 19862) sowie ein weiteres Handbuch für den Deutschunterricht mit ausländischen Frauen: Aus Erfahrung lernen (Gürkan/Laqueur/Szablewski 1982). Die Handbücher entstanden im Kontext des Arbeitsmigrantenunterrichts, enthalten aber auch zahlreiche Anregungen für andere Lernergruppen bis hin zu Deutsch-als-Fremdsprachenlernern.

4.

Kinder und Jugendliche

4.1. Die Ausgangssituation Setzt man 30 Jahre Arbeitsmigration als Hintergrund an, so ist dies gerade im Hinblick auf die nachwachsenden Generationen eine lange Zeit, die die unterschiedlichsten Zweitspracherwerbssituationen kennt bzw. entstehen ließ. Noch immer ist der wohl unkomplizierteste Typ darunter, das zweisprachige Aufwachsen im Sinne eines bilingualen Erstspracherwerbs, in der Gruppe der Zweitsprachenlerner nicht die Regel, sondern die Ausnahme, und zwar auch bei den Kindern, die in Deutschland geboren werden. In ihrer Mehrheit lernen sie als erste die Familiensprache, günstigenfalls im Kindergarten und in der Vorschule dann Deutsch als Zweitsprache, vom dem eingeschränkten sprachlichen Repertoire einmal abgesehen, das im Straßenkontakt erworben wird. Die qualitativ wie quantitativ intensivste Phase des Zweitsprachenerwerbs fallt somit für die meisten in die ersten Jahre der Schulzeit und ist geprägt von einer Mischung aus unterrichtlich gesteuertem und außerunterrichtlichem Erwerb. In manchen Fällen - bei Kindern, die zum Zeitpunkt der altersgemäßen Einschulung nahezu kein Deutsch können — durchlaufen die Kinder in sog. Vorbereitungsklassen eine Phase, in der sie zweitsprachlich, aber auch fachlich auf die Integration in die Regelklassen vorbereitet wer-

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache

den (sollen). In der Mehrheit wird die zweitsprachliche Kompetenz der Kinder als ausreichend eingeschätzt, um im muttersprachlich gemischten Klassenverband die Schulkarriere beginnen zu können. Ein Fach „Deutsch als Zweitsprache" gehört nicht zum Fächerkanon der Schule, ebensowenig eine grundständige Ausbildung von Lehrern für dieses Fach. Das Resultat: von Jahr zu Jahr weisen die Schulabschlussstatistiken aus, dass Kinder nichtdeutscher Muttersprachen dem ungleichen Wettbewerb nicht gewachsen sind und in erheblich höheren Anteilen die Schulabschlüsse verfehlen als deutsche Kinder, und zwar in allen Abschlusstypen. Fraglos ist dies die Folge eines bildungspolitischen Cocktails aus Diskriminierung, Dilettantismus und Verantwortungslosigkeit, wobei kurzsichtige politische Etatentscheidungen schon immer eine prominente Rolle spielten. Diesen Hintergrund vor Augen, darf es nicht verwundern, dass von Curricula Deutsch als Zweitsprache für Kinder nicht einmal in Ansätzen die Rede sein kann, geschweige denn von einem Angebot, das der Variationsbreite kindlicher Sprach- und Begriffsentwicklung, den sozialisations- wie altersbedingten Phasen und dem hierzu jeweils verlangten methodisch-didaktischen Instrumentarium genügen würde. So unbefriedigend dieses Fazit ausfällt, sieht man die Zweitsprachvermittlung für sich an, so notwendig ist es, anzumerken, dass zum Gesamtkomplex Schule und Migration durchaus eine detaillierte und umfängliche Diskussion geführt wurde/wird, allerdings vornehmlich im Bereich von Schule, Gewerkschaft und Erziehungswissenschaften. Zwar spielt der Zweitsprachenerwerb auch in dieser Diskussion eine wichtige Rolle, ist aber eingebunden in umfassendere Konzepte: das der Zweisprachigkeit und das der multikulturellen bzw. Interkulturellen Erziehung (s. dazu im Literaturverzeichnis Auernheimer, Auernheimer/ Gstettner und Borrelli). Es ist nun ganz unmöglich und auch nicht Aufgabe eines Handbuchs Deutsch als Fremdsprache, alle diese Konzepte, und sei es nur in kurzen Aufrissen, hier wiederzugeben. Ich werde mich deswegen darauf beschränken, (i) die Kontexte und Modelle darzustellen, in denen die unterrichtliche Zweitsprachenförderung als Element vorkommt, und (ii) einige zentrale Forderungen an die Gestaltung zweitsprachenunterrichtlicher Angebote zu skizzieren.

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4.2. Zweitsprachenförderung im Kontext unterschiedlicher Beschulungsformen und -modelle Unter schulorganisatorischem Blickwinkel spielen die folgenden Kontexte und Modelle eine prominente Rolle: Bi- bzw. multikulturelle Vorschulerziehung — Vorbereitungsklassen — Gemischte Regelklassen — Nationalklassen/-schulen („Bayrisches Modell") — „Krefelder Modell" — Zweisprachige Alphabetisierung bzw. Zweisprachige und interkulturelle Erziehung — Begegnungssprachenmodell (Nordrhein-Westfalen) - Europaschulen. Die unterrichtliche Förderung des Zweitsprachenerwerbs hat im Rahmen dieser Modelle sehr unterschiedliche Voraussetzungen und Ausrichtungen, die ebenso unterschiedlichen Anforderungen an die Curricula nach sich ziehen. Für den erstgenannten Typ, der die vorschulische Kindheit betrifft, ist das Zweitsprachenerwerbscurriculum, wenn man es denn überhaupt so bezeichnen will, geprägt von der Organisationsweise vorschulischer Einrichtungen. Das angemessenste Angebot für einen kleinen Menschen ist dabei fraglos eine Situation, in der Muttersprache und Zweitsprache, Familienkultur und Mehrheitenkultur gleichberechtigt anwesend sind, in beiden Sprachen und Kulturen gespielt, getröstet, Welt erfahren wird. Dies verweist auf eine Überlegenheit bikulturell-bilingualer Einrichtungen - Krippe, Kindergarten, Vorschule - gegenüber mehrsprachig-multikulturellen, in denen die Zweitsprache schnell zur lingua franca wird, sich eventuell sogar schneller entwickelt als in der bilingualen Situation, dies aber auf Kosten der muttersprachlichen Entwicklung geschieht. Natürlich haben es auch bilingual-bikulturelle Einrichtungen mit pädagogischen Gestaltungsaufgaben zu tun, aber ein spezielles Curriculum Deutsch als Zweitsprache brauchen sie dazu so wenig wie ein Muttersprachler in der Zeit seines frühkindlichen Erstspracherwerbs: der kommunikative Alltag ist das Curriculum. Das „Bayrische Modell" benötigt am ehesten eine Deutsch-als-Fremdsprachen-Konzeption für Kinder, vergleichbar etwa den Auslandsschulen, muss aber — anders als diese - den außerunterrichtlichen Zweitspracherwerb und seine Resultate methodisch-didaktisch berücksichtigen. Die soziokulturelle Situation ist künstlich: (i) die Spra-

822 che der Schule ist nicht die Sprache der dominanten Umgebungsgesellschaft und umgekehrt; (ii) in der Schule ist die Alltagssprache Fremdsprache, außerhalb der Schule Zweitsprache; (iii) die natürlichen Kommunikationspartner für diese Fremd- bzw. Zweitsprache schließlich kommen in der Schule nicht vor. Den wohl nachhaltigsten Versuch, sprachlich bedingte Nachteile in der Schulkarriere durch kompensatorische Programme abzufedern und auszugleichen, stellt das „Krefelder Modell" dar mit seinen verschiedenen Schulversuchen zwischen Kindergarten und Berufsschule (1975-1994). Es berücksichtigte dabei vor allem auch die Herkunftssprachen der Schüler mit dem Ziel, deren Funktion zunehmend durch die Zweitsprache zu ersetzen (s. dazu im Literaturverzeichnis: Stadt Krefeld 1993). Im Gegensatz zum Bayrischen Modell war es auch im Fall nationalsprachlicher Klassenzusammensetzungen auf allen Ebenen integrationsorientiert. Der dritte Beschulungstyp, der im Prinzip ein Deutsch-als-Zweitsprache-Curriculum benötigt, ist der der „Vorbereitungsklasse". Grundsätzlich wäre vorstellbar, dass Kinder hier eine effiziente sprachliche Förderung in der Zweitsprache erfahren, die sie sehr schnell befähigt — und dies ist immerhin das erklärte Ziel dieses Beschulungstyps —, am deutschsprachlich geführten Unterricht der Regelklassen teilzunehmen. Faktisch hat die Vorbereitungsklasse damit zu kämpfen, dass ihre Schülerschaft sehr unterschiedliche Zweitsprachenniveaus mitbringt, mitten im Schuljahr Neuzugänge integriert werden müssen, es an binnendifferenzierenden Materialien fehlt und das Lehrpersonal in der Regel weder hinreichend ausgebildet ist, noch im nötigen Umfang zur Verfügung steht. Ein weitgehend ausgereiftes Konzept liegt mit der „Zweisprachigen Alphabetisierung" vor. Begonnen 1985 als Berliner Modellversuch, wurde es nach 10 Jahren als Option im Schulangebot festgeschrieben und wird derzeit an 14 Berliner Grundschulen in mehr als 60 Klassen praktiziert. Im Prinzip ist das Konzept vernetzt mit dem weitergehenden Modell einer Interkulturellen zweisprachigen Erziehung, das - in Anlehnung an einschlägige internationale Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte (vgl. zusammenfassend Karajoli/Nehr 1996) - mindestens die ersten sechs Schuljahre umfasst und nicht nur den Schriftspracherwerb im Auge hat, sondern

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

den gesamten Zeitraum der Begriffs- und Identitätsentwicklung in dem dafür hochsensiblen Alter von sechs bis zwölf Jahren. Interkulturelle zweisprachige Erziehung orientiert sich dabei am Curriculum der Regelklassen, reichert dieses um eine Perspektive an, die vielleicht mit dem Begriff „Kulturen im Dialog" zutreffend beschrieben ist und sieht für die bilingualen Kinder eine zusätzliche Förderung in ihren beiden Sprachen vor (s. dazu unter 4.3. das Stichwort „Zweisprachige Materialien für den Sachunterricht" sowie unter 5. Kontakte: Spreewaldschule). Die Konzepte „Begegnungssprachen" (Nordrhein-Westfalen — s. dazu Haenisch/ Thürmann 1994) und „Europaschule" (verschiedene Bundesländer) sind im Erprobungs- bzw. Initiativen-Stadium und können derzeit aus curricularer Sicht noch nicht beschrieben, erst recht nicht kommentiert werden, jedenfalls nicht im Hinblick auf deren Deutsch-als-Zweitsprache-Anteile. Gar kein Modell, für viele Schüler nichtdeutscher Muttersprache stattdessen der Beginn einer von Frustration und Erfolglosigkeit geprägten Schulkarriere, ist der gemeinsame Unterricht auf Deutsch in der Regelklasse: die Förderung nicht-deutscher Muttersprachen, insbesondere ihre Weiterentwicklung in allen Bereichen, die im Familienund Peer-Kontext keine Rolle spielen, entfallt und der Deutschunterricht für Muttersprachler ist kein Ersatz für ein Deutsch-als-Zweitsprachenangebot: schließlich setzt ersterer ein Niveau voraus, das Zweitsprachenlerner in der Regel erst erwerben müssen. Anders als bei der vor allem in Kanada praktizierten Immersion ist dies ein Sprachbad, in dem die Hineingeworfenen in großen Zahlen untergehen, was der fachliche Terminus Submersion (s. dazu genauer Fthenakis u. a. 1985) durchaus mit andeutet. Gleichwohl hat es verdienstvolle Bemühungen gegeben, sich wenigstens mit dem Aspekt des multikulturellen Klassenzimmers, der Begegnung von Kulturen auseinanderzusetzen und Ideen für interkulturelle thematische Curricula zu entwickeln, dokumentiert u. a. in der Reihe „Interkulturelle Erziehung in der Grundschule" (s. Literaturverzeichnis). Potenziert wird die Untauglichkeit des zuvor besprochenen Beschulungstyps, wenn gar sog. „Ausländer-Regelklassen" ohne deutsche Muttersprachler gebildet werden, wie dies z. B. in Berlin in Schulen mit besonders hohen Anteilen von Schülern nichtdeutscher Muttersprachen (> 50%) geschieht, um für

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache

deutsche Kinder die schulpolitisch festgelegte Quotenregelung zu erfüllen, dergemäß ihnen Klassen, in denen Kinder anderer Nationalität die Mehrheit bilden, nicht zuzumuten (!) seien. 4.3. Zentrale curriculare Bausteine und Orientierungen Zwar haben auf die Zweisprachigkeit, interkulturelles Lernen und schulische Integration ausgerichteten Modelle, wie zuvor ausgeführt, keine Deutsch-als-Zweitsprachen-Curricula angestrebt, wohl aber wurden in ihrem Kontext einige wichtige Orientierungen entwickelt, die auch für die Gestaltung der Zweitsprachenvermittlung von Bedeutung sind. Danach sollte der Unterricht — sich an den Lebenswelten der Lerner orientieren, — den interkulturellen Dialog stimulieren und voranbringen (Barkowski 1995a), — die Einsicht in den formalen Bau und die kommunikativen Leistungen von Sprachen fördern und dabei u. a. den Sprachvergleich praktizieren, — den schriftlichen Ausdruck und das Leseverstehen ins Curriculum einbeziehen, da diese als zentrale Kompetenzen im Umgang mit Fach- und Sachthemen gerade in (Aus-)Bildungszusammenhängen von besonderer Wichtigkeit sind (Harnisch 1991). Eine besondere Rolle in der Diskussion pädagogischer Orientierungen für die Schule in der Migrationsgesellschaft spielten und spielen dabei Auseinandersetzungen um den Begriff der Interkulturellen Erziehung, seiner Prämissen und Implikationen. Das Meinungsspektrum dabei bis hin zur strikten Ablehnung des Konzepts, dem seinerseits diskriminierende Praxen vorgeworfen werden — so etwa Radtke (1994). Die Mehrheit der Befürworter des Konzepts setzt dagegen auf seine emanzipatorischen Ziele in Hinblick auf eine Veränderung der einsprachigen und monokulturellen, wo nicht nationalistischen Orientierung der Schule (vgl. etwa stellvertretend Gogolin 1988). Einige zentrale Prinzipien Interkulturellen Lernens und Lehrens für Deutsch-als-Zweitsprachen-Zusammenhänge sind zusammengefasst in Barkowski 1992, darunter die vergleichsweise unbestrittenen Forderungen nach Berücksichtigung der Familiensprache der Migrantenkinder und ihrer Lebenswelten. Eine sensible und - für den fachlichen Streit

823

— programmatische Analyse für die Bedeutung der Sprachenfrage(n) in Migrationzusammenhängen findet sich in Stölting-Richert (1996). 4.4. Lehr- und Lernmaterialien Der Stand der Entwicklung von Lehr- und Lernmaterialien Deutsch als Zweitsprache für Kinder und Jugendliche spiegelt weitgehend die Ratlosigkeit von Autoren und Verlagen angesichts einer hochkomplexen und vielfältig zu differenzierenden Bedarfssituation auf Seiten der potentiellen Lernenden wider, ohne dass diese Bedarfssituation im organisierten (Aus-)Bildungsbetrieb angemessen Berücksichtigung fände. Da es in solchen Verhältnissen sowohl an einem beschreibbaren Markt fehlt als auch an Möglichkeiten, Materialien in einer Vielzahl von Lernergruppen zu prüfen und adressatengerecht weiterzuentwickeln, liegt es nahe, aus der Fülle potentiell zu bedenkender Fälle den vertrautesten und überschaubarsten auszuwählen: den der Lernanfänger. Anfängermaterialien wurden für alle in der Schule anzutreffenden Altesklassen entwickelt; selbst die besseren darunter sind zwar aus methodischer Sicht auch eher Materialien für den Deutsch-als-Fremdsprachenunterricht, berücksichtigen aber immerhin die lebensweltliche Situation von Zweitsprachenlernern. Dazu gehören: — Für Fatma, Jannis und Branko, Mein Freund Ali und Eule; die beiden letztgenannten sind Erstlese- und -schreiblehrgänge, das erstgenannte wendet sich sogar schon an Kindergarten- und Vorschulkinder; — Einstiegskurs Deutsch, Deutsch in Deutschland, Die Kinder aus der Brunnenstraße, alle drei Lehrwerke wenden sich an sogen. „Seiteneinsteiger", also Kinder- bzw. Jugendliche, die bereits in ihrem Herkunftsland zur Schule gegangen sind und lesen und schreiben können. — Lediglich dasda, für Jugendliche zwischen 12—16 Jahren konzipiert, verspricht konzeptionell auf den außerunterrichtlichen Zweitsprachenerwerb als zu berücksichtigenden Unterrichtsfaktor einzugehen und damit auch methodisch die Deutsch-alsFremdsprachen-Perspektive zu überwinden, lag aber bei Abfassung des Artikels noch nicht vor (Verlagsankündigung Klett). Einige weitere Lehrwerke wenden sich an Lerner beider Erwerbssituationen (Deutsch

824 als Fremd- und Zweitsprache, Inland und Ausland) wie ζ. B. Mina und Otto, Pingpong und Sowieso. Weitere Lehr-/Lernmittel finden sich in der regelmäßig erscheinenden Bibliographie „Arbeitsmittel für den Deutschunterricht an Ausländer" (s. Literaturverzeichnis) dokumentiert. Allerdings darf das Vorhandensein dieser Lehrmittel nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit Anfangermaterialien die Zweitsprachenlerner in ihrer großen Mehrheit - mitsamt ihren erwerbstypischen Merkmalen und Problemen — gar nicht erreicht werden. So ist es meistens engagierten Lehrer/inne/n vorbehalten, im Rahmen von Fach- und Förderunterricht wenigstens gelegentlich auf die zweitsprachlichen Defizite von Kindern und Jugendlichen nichtdeutscher Muttersprachen einzugehen und durch geeignete Zusatzmaterialien die multikulturelle und herkunftssprachliche Vielfalt ihrer Lernergruppen zu berücksichtigen, mithin den Unterricht „interkulturell" zu gestalten (s. dazu auch die Veröffentlichungen in „Interkulturell'VLit.verz.). Vorbildliches zweisprachiges Material (Türkisch-Deutsch) zum Sachkundeunterricht, das den Sprachförderaspekt mit dem des interkulturellen Dialogs verbindet, wurde und wird im Rahmen eines Schulversuchs zur Zweisprachigen interkulturellen Erziehung an der Berliner Spreewaldschule entwickelt, und zwar bislang zu den Themen: Zeit, Kleidung, Wasser, Liebe und Berlin-, die Materialien sind über das BIL (s. Kontakte) erhältlich. Eine Bibliografie zu weiteren interkulturellen Materialien findet sich bei Huth 1997. Unter den gegebenen schulorganisatorischen Bedingungen sind solche Materialien im Prinzip der richtige Ansatz, Zweitsprachenförderung und Regelcurriculum miteinander zu verbinden und sollten ergänzt werden um entsprechende Angebote für Lernergruppen mit mehreren verschiedenen Herkunftssprachen, wofür allerdings erst noch ein Konzept zu entwickeln ist. Ein anderer wichtiger Ansatz ist die Verbindung von Zweitsprachenförderung mit dem Erstlese- und -schreibunterricht, wie sie für die Berliner Modelle zur zweisprachigen Alphabetisierung (Türkisch-Deutsch) charakteristisch ist; in dem einflussreichsten darunter: dem Nürtingen-Modell (s. dazu Nehr u. a. 1988) wurden zweisprachige Fibeln und Arbeitsmaterialien entwickelt (Birnkott-Rixius u. a., o. J.).

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Diese letztgenannten Ansätze und Materialien dokumentieren noch einmal deutlich, dass die Zweitsprachenförderung bei Kindern und Jugendlichen aus entwicklungspsychologischen Gründen (s. dazu Fthenakis u. a. 1985 sowie Cummins 1984) nach Möglichkeit mit der Förderung der Familiensprache einhergehen sollte. 5.

Kontakte

Angesichts der diffusen institutionellen Verortung von Deutsch als Zweitsprache und mit Rücksicht auf die Tatsache, dass zahlreiche Materialien und Konzepte trotz hoher Qualität nicht den öffentlichen Medienmarkt erreichen, werden im folgenden einige Kontaktadressen benannt, an die man sich ggf. mit entsprechenden Nachfragen wenden kann. Die getroffene Auswahl beruht dabei auf Erfahrungswerten des Autors und versteht sich als Angebot, das erste Zugänge ermöglicht, über die sich nach dem Prinzip von Netzwerken weitere kompetente Quellen auffinden lassen. Im Prinzip lassen sich bei allen genannten Adressen Hilfestellungen zu den verschiedensten Teilaspekten des Faches erwarten, und sei es nur, dass man entsprechend seinem Anliegen an jeweils noch kompetentere Anlaufstellen verwiesen wird. Ich werde deswegen i. f. nur markieren, ob ein Kontakt eher in Hinblick auf Erwachsene oder auf Schule ergiebig zu sein verspricht; wo beides zutrifft, wird auf eine Markierung verzichtet; ebenso verzichtet wird, aus Platzgründen, auf genaue postalische Angaben, soweit diese leicht zu ermitteln sind. Hochschulen und Universitäten: •

• • • •

• • • •

Freie Universität Berlin, FB 12, Institut für Interkulturelle Erziehung — Vorschulische Einrichtungen, Schule Technische Universität Berlin FB'e Erziehungsund Unterrichtswissenschaften, Germanistik Universität Bern, Institut für Pädagogik Universität Erlangen-Nürnberg, Erziehungswissenschaftliche Fakultät Universität Gesamthochschule Essen, IMAZ (= Institut für Migrationsforschung, Ausländerpädagogik und Zweitsprachendidaktik) Universität Freiburg, Fakultät I (PH) Forschungsstelle Migration und Integration Universität Hamburg Fachbereich Erziehungswissenschaft Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Auslandsgermanistik/DaF u. DaZ Gesamthochschule Kassel Universität FB Germanistik/Deutsch als Fremd- und Zweitsprache

83. Curriculumentwicklung und Lehrziele Deutsch als Zweitsprache • • •

Universität Koblenz-Landau, Institut für Interkulturelle Bildung (Marktstr. 46, 76829 Landau) Universität Köln Erziehungswissenschaftliche Fakultät Universität Wien Germanistik/Deutsch als Fremdsprache

Einrichtungen der Lehrerfortbildung'. Bayern:

Akademie für Lehrerfortbildung Ref. Ausländerpädagogik Interkulturelle Erziehung (89407 Dillingen a. d. Donau — Schule Berlin: BIL (= Berliner Institut für Lehrerfortbildung und Schulentwicklung; Uhlandstr. 97, 10715 Berlin) - Schule Hessen: Hessisches Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung (Bodenstedtstr. 7,65189 Wiesbaden) - Schule NRW: Landesinstitut für Lehrerbildung und Unterricht (Paradieser Weg 64, 59494 Soest) - Schule Italien: Istituto Pedagogico Provinciale per la scuola in lingua italiana, Viale Duso 1, 1-39100 Bolzano Österreich: ÖDaF (= Österreichischer Lehrerverband für Deutsch als Fremdsprache) (Liechtensteinstr. 155, A-1090 Wien) Schweiz: Erziehungsdirektion des Kantons Zürich Pädagogische Abteilung, Bereich: Interkulturelle Pädagogik (Walchestr. 21, CH-8090 Zürich)

außerdem: — die RAA's (= Regionale Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule) in verschiedenen Bundesländern vertreten); als stellvertretende Kontaktadresse: RAA Brandenburg e. V., August-Bebel-Str. 88, 14482 Potsdam — Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V. (Raimundistr. 2, 55118 Mainz) — Erwachsene — Kassettenverein für ausländische Mitbürger e. V. (Görlitzer Str. 22, 80993 München) N. B.: Bei Institutionen, deren Namen keinen eindeutigen Hinweis auf eine entsprechende Spezialisierung enthalten, sollte man der Adresse den Zusatz: Bereich Interkulturelle ErziehunglDeutsch als Zweitsprache beifügen.

6.

Literatur in Auswahl

Ahrenholz, Bemt (1995): Lehrwerkanalyse zum Modalfeld auf der Folie der Zweitsprachenerwerbsforschung. In: Norbert Dittmar; Martina Rost-Roth (Hg.): Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Methoden und Perspektiven einer akademischen Disziplin. Frankfurt/M. u.a., 165-193. Apeltauer, Ernst (Hg.) (1987): Gesteuerter Zweitspracherwerb. Voraussetzungen und Konsequenzen für den Unterricht. Ismaning.

825

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826 Borelli, Michele (Hg.) (1992): Zur Didaktik Interkultureller Pädagogik. Teil I und II. Baltmannsweiler. Bundesanstalt für Arbeit (1996): Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit. Dienstblatt-Runderlaß 42/96. Christ, Herbert; Werner Hüllen (1995): Geschichte des Fremdsprachenunterrichts seit 1945. In: Bausch/Christ/Krumm (Hg.) (1995): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen und Basel, 565-572. Clahsen, Harald; Jürgen M. Meisel; Manfred Pienemann (1983): Deutsch als Zweitsprache. Der Spracherwerb ausländischer Arbeiter. Tübingen. Cummins, James (1984): Zweisprachigkeit und Schulerfolg. Zum Zusammenwirken von linguistischen, soziokulturellen und schulischen Faktoren auf das zweisprachige Kind. In: Die deutsche Schule 3, 187-198. Deutsch lernen. Zeitschrift für den Sprachunterricht mit ausländischen Arbeitnehmern. Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V. (Hg.). Mainz, seit 1975 (noch). Dittmar, Norbert (1988): Ordering Adult Learners according to Language Abilties. In: Sascha W. Felix u. a.: Second Language Development. Tübingen, 205-231. — (1995): Das lernt der Lerner und warum? Was ,DaF'-Lerner schon immer über den Zweitspracherwerb wissen wollten. In: Norbert Dittmar; Martina Rost-Roth (Hg.): Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Methoden und Perspektiven einer akademischen Disziplin. Frankfurt/M. u. a., 107— 139. Eisenberg, Peter (1989): Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart. Engel, Ulrich; Rozemaria K. Tertel (1993): Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache. München. Fremdsprache Deutsch — Berufsbezogener Deutschunterricht mit Jugendlichen. 1992 (Sondernummer). Fthenakis, Vassilios E.; Sonner; Thrul u. a. (1985): Bilingual-bikulturelle Entwicklung des Kindes. München. Funk, Hermann; Udo Ohm; Birgit Feldmeden (1991): Handreichung Fachsprache in der Berufsausbildung — Zur sprachlichen Förderung von jungen Ausländern und Aussiedlern. Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (Hg.). Bonn. Göbel, Richard (1992): Kooperative Binnendifferenzierung im Fremdsprachenunterricht. 4. Aufl. Mainz. Goethe-Institut (Hg.) (1991): Curriculum zur Gestaltung eines sechsmonatigen Sprachlehrgangs für Aussiedler. München. Götze, Lutz; Ernest W. B. Hess-Lüttich (1989): Knaurs Grammatik der deutschen Sprache. München.

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827

84. Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den Unterricht Meisel, Jürgen (1975): Ausländerdeutsch und Deutsch ausländischer Arbeiter. Zur möglichen Entstehung eines Pidgin in der BRD. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 18. Nehr, Monika; Karin Birnkott-Rixius; Leyla Kubat u. a. (1988): In zwei Sprachen Lesen lernen — Geht denn das? Erfahrungsbericht über die türkischdeutsche Alphabetisierung. Weinheim/Basel. Piepho, Hans-Eberhard (1974): Kommunikative Kompetenz als übergeordnetes Lernziel im Englischunterricht. Dornberg-Frickhofen. Radtke, Frank O. (1994); Multikulturalismus. Ein postmoderner Nachfahre des Nationalismus? In: Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrepublik Deutschland (= Aktuell/Kontrovers 1994, Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung. K. J. Bade (Hg.), Hannover. Rosier, Dietmar (1995): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In: Norbert Dittmar; Martina Rost-Roth (Hg.): Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. Methoden und Perspektiven einer akademischen Disziplin. Frankfurt/M. u. a., 149-160. — ; Romuald Skiba (1992): Datenbank für den Sprachunterricht. Ein Lehrmaterial-Steinbruch für Deutsch als Fremdsprache. 2. Aufl. Mainz. Searle, John Rogers (1972): Sprechakte. Frankfurt/M.

Sprachverband Deutsch für Ausländische Arbeitnehmer e. V. (1990): Fragen zur Beurteilung von Lehrwerken in Kursen, die vom Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V. gefördert werden. In: Deutsch lernen 1. Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V. (1993): Berufsbezogener Deutschunterricht. Bibliografìe mit Anmerkungen. Stadt Krefeld, Der Oberstadtdirektor (1993) (Hg.): Veröffentlichungsverzeichnis zur schulischen und außerschulischen Integration ausländischer, ausgesiedelter und asylsuchender Kinder und Jugendlicher in Krefeld. Stölting-Richert, Wilfried (1996): Die Sprachlichkeit von Menschen in der Migrationsgesellschaft und die Interkulturelle Pädagogik. In: Deutsch lernen 3/96, 238-248. ule unterrichten erziehen. (Themenheft). Interkulturelle Erziehung 5/1994. Watzlawick, Paul; Janet Beavin; Don de Avila Jackson (1969): Menschliche Kommunikation. Bern/ Stuttgart/Wien. Zimmer, Jürgen (1988—1990): Interkulturelle Erziehung in der Grundschule. 11 Bde. Hans Barkowski, Jena

(Deutschland)

84. Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den Unterricht 1. 2.

6. 7.

Einleitung Intemationalisierung und Professionalisierung des Prüfungswesens Testfunktionen Anwendungsbereiche von Sprachtests Backwash — Rückwirkungsmechanismen von Sprachtests Schlussbemerkung Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

3. 4. 5.

Gesamteuropäisch ist ein Trend zur Globalisierung und Professionalisierung des Prüfungs- und Zertifikatswesens in den Fremdsprachen feststellbar. Als Folge des damit verbundenen steigenden Stellenwerts von Prüfungen wird verstärkt der Frage nachgegangen, welche Aus- und Rückwirkungen Sprachtests bzw. die Nutzung und Interpretation von Testergebnissen sowohl auf Verfahren und Einstellungen im Unterricht (Mikro-

ebene) als auch im weiteren auf das curriculre Umfeld, das Bildungssystem und die Gesellschaft insgesamt (Makroebene) haben bzw. haben können. Die Beschreibung und Analyse dieses Rückkoppelungsphänomens in seinen positiven und negativen Facetten stehen im Zentrum des folgenden Artikels.

2.

Intemationalisierung und Professionalisierung des Prüfungswesens

Die grundlegenden Veränderungen in der politischen Landschaft Europas in den letzten Jahren — die Öffnung des europäischen Ostens, die Erweiterung der Europäischen Union, nicht zuletzt die durch Krieg verursachten Umwälzungen im ehemaligen Jugoslawien - haben speziell in den deutschsprachigen Ländern (neue Rolle des Deutschen

828 als frühe bzw. erste Fremdsprache in Mittelund Osteuropa), aber auch gesamteuropäisch zu einer Neubelebung bzw. Neuorientierung der Sprachpolitik geführt. Im deutschsprachigen Raum ist es ein wesentlicher Aspekt dieser Sprachpolitik — neben einem erhöhten Angebot an Sprachkursen, intensivierter Lehreraus- und -fortbildung u. a. durch die Einrichtung von DaF-Lehrstühlen und -Lehrgängen, Entsendung von Lektoren, Bildungsberatern, etc. in die Reformländer - in verstärktem Maße Einrichtungen zu schaffen, die auf professioneller Ebene mit der Überprüfung und Evaluierung von Sprachkenntnissen befasst sind. Sichtbarer Ausdruck dieses Trends sind einerseits die Gründung neuer nationaler Zertifikatsinstitutionen (wie ζ. B. das Österreichische Sprachdiplom), die Entwicklung neuer Prüfungen speziell für den berufsbezogenen Bereich (wie das deutsche Zertifikat Deutsch für den Beruf oder das österreichische Diplom Wirtschaftssprache Deutsch) oder die breit angelegte Revision bereits bestehender Zertifikatsprüfungen (wie der des Goethe-Instituts, die ζ. T. bereits als Gemeinschaftsprodukt aller drei deutschsprachigen Länder auf dem Prüfungsmarkt angeboten werden sollen), andererseits die Zusammenschlüsse nationaler Prüfungsanbieter zu internationalen „Prüfungsagenturen" [federführend die Association of Language Testers in Europe, ALTE; weiters Language and Credits (LangCred), das Consortium of the European Certificate of Attainment in Modern Languages (ECL ) und die International Certificate Conference (ICC)], deren Ziel es ist, die Prüfungssysteme, Testkonzeptionen und Sprachbeherrschungsstufen der einzelnen Mitgliedsländer zu standardisieren und damit den von ihnen lizensierten Prüfungen zu möglichst weiter Anerkennung zu verhelfen. Motor dieses Trends zu Vergleichbarkeit und Kompatibilität von Prüfungsverfahren ist in erster Linie die ökonomische und bildungspolitische Notwendigkeit, Fremdsprachenqualifikationen auf einem von zunehmender Mobilität und Freizügigkeit gekennzeichneten europäisierten Arbeits- und Ausbildungsmarkt transparent und möglichst unbürokratisch transferierbar zu machen. Als Basis und Ressource für die Festlegung der Testspezifikationen, Lernzielund Stufenbeschreibungen dienen den Prüfungsorganisationen u. a. großangelegte Sprachbeschreibungsprojekte, wie sie seit Beginn der 70-iger Jahre vom Europarat verfolgt wurden (z.B. Threshold Level 1975 u.

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

1990, Ways tage 1990, Common European Framework of reference for language learning and teaching 1996) mit dem Ziel, die Ausbildungssysteme der europäischen Länder im Bereich Fremdsprachenunterricht zu modernisieren und auf einen annähernd vergleichbaren Standard zu bringen. In der Zwischenzeit sind auch die Prüfungsagenturen selbst bemüht, ihr Know-how und ihre Erfahrungswerte zu dokumentieren und so die Diskussion in Gang zu halten bzw. die Professionalisierung des Prüfungswesens in Europa weiter voranzutreiben (vgl. etwa die ALTE-Publikationen „Can-do" Statements und Glossary of Testing Terminology). 3.

Testfunktionen

Mit der Feststellung: „Testing of abilities" has always been intended as an impartial way to perform a political function - that of determining who gets what." (Cronbach 1984, 5 Hervorhebung im Original) wird die zentrale gesellschaftspolitische Funktion von Tests und Prüfungen angesprochen: Sie sind allgemein akzeptierte, institutionalisierte Verfahren, mittels denen über die Qualität von menschlichen Leistungen und Fähigkeiten entschieden wird. Die solcherart getroffenen Entscheidungen sind wiederum Grundlage für bestimmte Zuweisungen zu schulischen und nachschulischen Bildungseinrichtungen, beruflichen Positionen, Ämtern, etc. Wenn auch diese Steuerungsfunktion historisch betrachtet durchaus progressiven Charakter hat - bis ins 18. Jh. wurden Positionen und Ämter weitgehend nach Geburt und Status vergeben und erst die infolge der Französischen Revolution sich herausbildende Staatsbürgergesellschaft erkor die individuelle Leistung zu einem ihrer obersten Prinzipien und eröffnete so allen denjenigen Chancen, „... für die eine überprüfbare Leistung der einzige Weg zum gesellschaftlichen Aufstieg war" (Kraul 1996, 129) - darf keinesfalls übersehen werden, dass Testverfahren immer die Wertvorstellungen, Normen und Rangordnungen einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur transportieren, so dass auch im Falle von standardisierten, institutionalisierten Tests die behauptete Objektivität und Unparteilichkeit — trotz oft keimfreier psychometrischer Verpakkung - höchstens intendiert sein kann. Die in unserer leistungsbetonten, dem Konkurrenzprinzip verpflichteten Gesellschaft dominierende Steuerungsfunktion verdeckt oft

84. Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den Unterricht

eine zweite, im Hinblick auf Lernende und Lehrende, das Unterrichtsgeschehen und das curriculare Umfeld besonders wichtige Funktion, nämlich die, Lernentwicklungen in regelmäßigen Abständen durch Bestandsaufnahmen zu resümieren und daraus Rückschlüsse für die Veränderung oder Optimierung unterrichtlicher Verfahrensweisen zu gewinnen. Vor allem diese Entwicklungsfunktion von Tests und Prüfungen ist Gegenstand der aktuellen Diskussion über Rückkoppelungsmechanismen von Sprachtests, wie sie in Abschnitt 5 ausführlich behandelt werden. Lange Zeit verharrten auch Sprachprüfungen (und ζ. T. tun sie es noch) in einer Art „splendid isolation", und ihre Ersteller fühlten sich weder für die Endnutzung der Zertifikate noch für die Unterrichtsverfahren, die zu ihrer Erlangung eingesetzt wurden, verantwortlich. Aber bestimmten curricularen, methodischdidaktischen und letztlich sogar ethischen Implikationen können sich auch Sprachtests nicht entziehen. Sie fungieren als curricularer Kreuzungspunkt zwischen Sprachaneignung (im Unterricht) und Sprachanwendung (im realen Leben) und sollten idealerweise einen positiven Konnex zu beiden Bereichen herstellen: Examinations usually stand at the crossroads of the curriculum. Looking backwards, they reflect the classroom learning that has taken place; looking forwards, they give us an idea about how the candidate will be able to use the language for the purposes for which he or she has learnt it. The ideal examination would, therefore, have both a positive relationship with classroom methods and a sensitivity to the future language needs of the candidates." (Carroll 1991, 61)

4.

Anwendungsbereiche von Sprachtests

Bachman (1990, 54ff u. 1996, 96ff.) definiert zwei große Anwendungsbereiche für Sprachtests: (a) als Entscheidungsgrundlage im Rahmen von Ausbildungsprogrammen (im weitesten Sinn); (b) als Indikatoren für Untersuchungsgebiete, die für weitere linguistische, spracherwerbstheoretische und methodischdidaktische Forschungen von Interesse sind. Der für unseren Kontext relevante erste Anwendungsbereich lässt sich weiter differenzieren, je nachdem, für welche Art von Entscheidung die Testergebnisse die Grundlage bilden. Dabei spielt es zunächt keine Rolle, welche - bzw. ob überhaupt eine — Theorie der Sprachbeherrschung dem Test zugrunde-

829

liegt, ob er stärker performanz- oder systembezogen ist, ob er direkte oder indirekte Formate einsetzt, ob die Bewertung norm- oder kriteriumsbezogen erfolgt, etc. (für eine Klärung dieser Begriffe vgl. die Abschnitte 5.1.3. und 5.1.4.); eine Übereinstimmung von Testanwendung mit einem bestimmten Testtyp läßt sich nur tendenziell feststellen. Im Rahmen von Ausbildungsprogrammen dienen Sprachtests hauptsächlich folgenden Zwekken (vgl. auch Grotjahn/Klein-Braley 1992, 373f. u. Alderson/Clapham/Wall 1995, 11 ff.): (a) Selektion: Diese Testanwendung ist in ethischer Hinsicht am brisantesten, ζ. B. wenn entschieden wird, ob ein nicht-muttersprachlicher Student in Anbetracht seiner Sprachkenntnisse zum Studium an einer Universität zugelassen wird, oder wenn Arbeitgeber einen Sprachtest als Teil der Einstellungsprozedur für Jobbewerber verwenden. Entscheidungen dieser Art können die Biographie eines Individuums nachhaltig beeinflussen, speziell dann, wenn der Test die einzige Entscheidungsgrundlage darstellt. Diese Art von Tests sind meistens sog. Qualifikationstests (engl, proficiency tests) mit dem Ziel, allgemeine (ζ. B. Überlebensbasis, erweiterte Alltagskommunikation, etc.) Sprachkompetenz als Voraussetzung für zukünftige Verwendungssituationen zu überprüfen. Qualifikationstests basieren in der Regel nicht auf Lehrwerken oder Lehrplänen, sondern auf allgemeinen Stufenbeschreibungen (wie ζ. B. Ways tage, Threshold, etc.) oder — wie häufig bei fachsprachlichen Prüfungen — auf Analysen kommunikativer Bedürfnisse in einem Berufsfeld. (b) Einstufung (engl, placement tests): Einstufungstests kommen dort zur Anwendung, wo im Rahmen von Sprachprogrammen die Notwendigkeit besteht, eine Vielzahl von Lernern unterschiedlicher Herkunft, Muttersprache, Vorbildung, etc. in ihrem Sprachstand angemessene Kurse einzustufen. Aus Gründen der Praktikabilität sollen Einstufungstests schnell durchführ- und auswertbar sein und auf der Basis größtmöglicher Streuung reliable Einstufungen ermöglichen (vgl. Albers/Bolton 1995, 62fF.). Dazu eignen sich sprachsystembezogene discrete point-Tests (mit Zuordnungs- oder Ergänzungsaufgaben vom Typ multiple choice oder multiple matching) oder reduced redundancy-Formate (Cloze- und C-Test-Varianten) aufgrund ihrer Interpretationsobjektivität besser als offenere Aufgabenstellungen. Zugleich muss man sich

830 darüber klar sein, dass dieser Testtyp nicht dazu geeignet ist, die Fähigkeit zu komplexer Sprachanwendung - was ζ. B. auch pragmatische oder kommunikationsstrategische Fertigkeiten miteinschließen würde - zu überprüfen. (c) Lernfortschritt (engl, progress test bzw. achievement test)·. Zu dieser häufigsten aller Anwendungen zählen die tagtäglich an Schulen zur Leistungskontrolle durchgeführten Klassenarbeiten und Klausuren ebenso wie die regelmäßigen Zwischen- und Abschlusstests an privaten Sprachschulen, studienbegleitenden Universitätssprachkursen, etc. In der Regel lassen sich Inhalte und Formen dieser Tests direkt aus den jeweiligen Lernzielkatalogen oder kurstragenden Lehrwerken ableiten. Lernfortschritttests fungieren als Taktgeber des Unterrichts und sollten die oben angesprochene Entwicklungsfunktion (vgl. Abschnitt 3) besonders berücksichtigen, d. h., dass der Test für Lerner wie für Lehrer ein konstruktives Feedback über den Lernfortschritt in einem festgelegten, überschaubaren Zeitraum gibt, auf dessen Basis die weitere unterrichtliche Vorgehensweise geplant, modifiziert, beschleunigt, etc. werden kann. Leider wird das motivierende Potential gut konzipierter Lernfortschritttests im Unterrichtsalltag noch zuwenig genützt. Gründe dafür sind, dass Lehrende in der alltäglichen Praxis kaum Hilfestellungen bekommen, wie sie ihre Tests professioneller erstellen, durchführen, bewerten und eventuell auch validieren können. Es fehlt - im Großen und Ganzen betrachtet - sowohl an einschlägigen Fortbildungsveranstaltungen. Prüfungs- und Korrekturtätigkeiten werden außerdem in der Regel als Teil des Unterrichts betrachtet und nicht extra honoriert, ein weiterer Grund, den dafür notwendigen Arbeitsaufwand so gering wie möglich zu halten. (d) Diagnose (engl diagnostic test): Diagnostische Tests dienen dem Zweck, Stärken oder Schwächen in der Sprachkompetenz eines bestimmten Lerners zu identifizieren, um auf der Basis des Testresultats remediale Kurse oder Lernaktivitäten empfehlen zu können. Diagnostische Sprachtests werden im deutschsprachigen Raum eher selten entwickelt bzw. eingesetzt; weitaus häufiger kommen sie in amerikanischen Sprachprogrammen zur Anwendung, was an der in den USA noch anhaltenden strukturalistisch-behavioristischen Tradition liegen mag, Sprachbeherrschung strikt in Fertigkeitsbereiche

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

und isoliert zu vermittelnde und zu lernende Klein- und Kleinstkompetenzen zu zerteilen (vgl. Bachman/Palmer 1996, 98).

5.

Backwash Rückwirkungsmechanismen von Sprachtests

Im Unterschied zu den angelsächsischen Ländern, die durch den Status des Englischen als Weltsprache auf eine bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. sich etablierende Prüfungstradition zurückblicken können (UCLESCambridge gegründet 1858; College BoardTOEFL gegründet 1899) wurde in der Fremdsprachendidaktik des deutschsprachigen Raums die Frage nach der Art und Weise, wie Sprachtests und Sprachunterricht aufeinander rückwirken, bislang weitgehend negiert oder höchstens nebenbei erwähnt. Für ein gesteigertes Interesse an diesem Gegenstand auch in Deutschland zeugen aber Publikationen wie z. B. das Friedrich Jahresheft 1996, das unter dem Titel Prüfen und Beurteilen die Themen Leistungsbeurteilung und -Überprüfung in zahlreichen Facetten und Implikationen für den deutschen Schulalltag diskutiert. In der einschlägigen Fachliteratur hat sich für das Rückkoppelungsphänomen Test-Unterricht der Begriff Backwash (in der britischen Angewandten Linguistik auch Washback, mit identer Bedeutung) durchgesetzt. Der Begriff ist zunächst neutral aufzufassen und bedeutet in seiner allgemeinsten Form, dass jeder (Sprach)-Test Rückwirkungen — positive oder negative — auf den ihm vorausgehenden Unterricht hat, wobei dieser „Rückstromeffekt" in der Regel weder vom Lerner noch vom Lehrer bewusst wahrgenommen oder reflektiert wird. Während in den 50-iger und 60-iger Jahren vor allem die negativen Auswirkungen standardisierter Tests (Einengung oder Verzerrung des Curriculums und die damit verbundene teaching to the test — Problematik; vgl. Alderson/Wall 1993, 115) betont wurden, rückten als Folge der kommunikativen Wende des Sprachunterrichts stärker die nutzbringenden Aspekte in den Vordergrund. Morrow (1986, 6) erweiterte die Liste der Validitätstypen um den der „washback validity" und forderte, dass in Hinkunft die Qualität öffentlicher Prüfungen an dem Grad, in dem sie positive Auswirkungen auf den Unterricht haben, zu messen sei. Hughes (1988) demonstrierte am Beispiel einer Englisch-Eintrittsprüfung an einer türki-

84. Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den Unterricht

sehen Universität, welch positiven Auswirkungen die Neukonzeption eines Tests auf Lehrplandesign, Auswahl der Lehrbücher, Leistungsniveau der Studenten, etc. haben kann. Trotz oftmaliger Beschwörung und vereinzelter empirischer Belege bleibt der Begriff des Backwash insgesamt vage, wie Alderson und Wall (1993), in einer ausführlichen Durchleuchtung des Konzepts, kritisieren. Sie warnen vor einer zu deterministischen bzw. simplizistischen Interpretation des Konzepts (ein gut konzipierter Test hat automatisch einen positiven Effekt auf den Unterricht) und geben zu bedenken, dass hier auch (schwer zu messende) Faktoren wie Motivation, Prüfungsangst, Stressverhalten, Persönlichkeitsstruktur (ζ. B. Extro- oder Introvertiertheit), etc. auf der Lernerseite sowie Vermittlungskompetenz, Verstehen der dem Test zugrundeliegenden Prinzipien, die in einem Schul-/Ausbildungssystem zur Verfügung stehenden Ressourcen, etc. auf der Lehrerseite nicht übersehen werden dürfen; eine ernsthafte Diskussion des Backwash-Konzepts müßte demnach Forschungsergebnisse und daraus resultierende theoretische Positionen aus Fachgebieten wie Motivations-, Streßsowie Lehr- und Lernforschung auf jeden Fall mitberücksichtigen. In Anbetracht der Komplexität und unterschiedlichen Bedingtheit der ÄzdcwaiA-Mechanismen lassen sich folgende Hypothesen formulieren bzw. in bezug auf ihren Wirkungsbereich voneinander abgrenzen (in Anlehnung an Alderson/Wall 1993, 118f. und Bachman/Palmer 1996, 2 9 35): (a) Je höher der Status und je gewichtiger die Konsequenzen eines Tests, desto stärker ist sein Backwash-Effekt (statusbezogener Aspekt). (b) Tests haben Auswirkungen auf die Gestaltung von Sprachkursprogrammen, d. h. auf zugrundeliegende Lehrpläne, auf Lernzielkataloge, auf die Gestaltung und/ oder Auswahl von Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien (curricularer Aspekt). (c) Tests haben Auswirkungen darauf, was und wie Lehrer unterrichten, und darauf, was und wie Lerner lernen (didaktischmethodischer bzw. lernstrategischer Aspekt). (d) Tests haben Auswirkungen auf Einstellungen zu den Inhalten und Methoden von Unterricht und Lernen (motivationspsychologischer Aspekt).

831

(e) Tests haben Backwash-Effekte für bestimmte Lerner und Lehrer, aber nicht für alle (individualpsychologischer Aspekt). 5.1. Wie lässt sich positiver Backwash erreichen? Die skizzierten Mechanismen können sich nun im jeweiligen Wirkungsbereich positiv oder negativ äußern, je nachdem, welche Merkmale in einem bestimmten Test aufgrund seiner spezifischen Anwendungsintention dominieren. In der Literatur werden eine Reihe von Charakteristika genannt, die ein auf positiven Backwash abzielender Sprachtest aufweisen sollte (vgl. Hughes 1989, 4 4 47). Einige dieser Merkmale hängen in Bezug auf ihre Realisierungsmöglichkeit davon ab, ob Unterrichtender oder Testersteller einund dieselbe Person sind. Während dies bei Lernfortschritttests die Regel ist, werden pestigeträchtige Qualifikationsprüfungen oder Tests mit starken selektivem Charakter fast ausschließlich von professionellen oder zumindest semiprofessionellen Testerstellern ausgearbeitet, für die die testvorbereitenden Aspekte einer Prüfung keinerlei Priorität haben. Die aus unserer Sicht relevantesten Aspekte von Tests bzw. das Prüfungsumfeld, die potentiell positiven Backwash bewirken können, sind: — Vertrautheit und Transparenz der Anforderungen (Testfairness) — Repräsentative, unvorhersagbare Auswahl — Direktes Testen — Kriteriumsorientiertheit — Unterstützung und Anleitung für Lehrer 5.1.1. Vertrautheit und Transparenz der Anforderungen (Testfairness) Im Falle von Lernfortschritttests ist eine der Voraussetzungen für positiven Backwash eine möglichst weitgehende Übereinstimmung von Methoden und Inhalten des Unterrichts mit jenen des Tests. Lerner in der Testsituation mit völlig unbekannten Inhalten, Aufgabenstellungen und Abfragetechniken zu konfrontieren, wird als äußerst demotivierend und unfair empfunden werden. Auch bei der Bewertung ist darauf zu achten, dass Punktoder Prozentwerte aussagekräftig sind, d. h. dass es möglich sein sollte, den numerischen Wert zu einer qualitativen Beschreibung der Prüfungsleistung in Beziehung zu setzen. Auch andere Testanwendungen wie ζ. B. Zertiflikatstests, die nicht notwendig an vorbereitenden Unterricht gekoppelt sind, sollten

832 diesen Aspekten Rechnung tragen, indem sie potentiellen Kandidaten Modelltests und andere prüfungsrelevante Informationen bzgl. Prüfungsablauf, Bewertung, erlaubte Hilfsmittel, etc. zur Verfügung stellen. 5.1.2. Repräsentative, unvorhersehbare Auswahl Ein jedem Test notwendigerweise inhärentes Prinzip ist es, dass er ein Ersatz für ein umfassenderes Verfahren ist (vgl. Baker 1989, 4). Auch im Falle von Sprachtests ist der Ersteller gezwungen, aus einem großen Korpus möglicher Sprachelemente oder Sprachhandlungen die für das jeweilige Testzel relevantesten auszuwählen Diesem Prozess des Auswählens (engl, sampling) kommt also besondere Bedeutung zu, und es erhöht die Repräsentativität eines Tests (und damit seine Inhaltsvalidität), wenn für die Testkonstruktion auf einen detaillierten Lernzielkatalog (mit Angaben zu Sprachfunktionen, Strukturen, Wortschatz etc.) zurückgegriffen werden kann. Umgekehrt ist negativer Backwash zu befürchten, wenn der Testinhalt aufgrund eines eingeschränkten Spektrums in hohem Ausmaß vorhersagbar ist und der Unterricht daher gezwungenermaßen zu sehr zu einem teaching to the test wird. Gleiches gilt auch für die Testmethoden: je unterschiedlicher die Formate, die in einem Test zum Einsatz kommen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass der Test eine bestimmte Methode oder einen bestimmten Lernertyp bevorzugt. Größtmögliche Varianz von Uberprüfungsformen reduziert die Vorhersagbarkeit eines Testformats und damit das Einüben spezifischer Bearbeitungsstrategien. 5.1.3. Direktes Testen In Lernfortschritttests sowie in Qualifikationstest mit stark selektivem Charakter sollten im Hinblick auf positiven Backwash direkte Aufgabenstellungen dominieren. Der Begriff direkt bezieht sich hierbei auf das Ausmaß, in dem die Merkmale einer Testaufgabe mit den Merkmalen einer realen Sprachhandlung übereinstimmen. Sehr indirekte Formate wären demnach Aufgabenstellungen, bei denen der Zusammenhang zwischen der Testhandlung und der textexternen Sprachanwendungsdomäne nur durch einen Abstraktions- und Analyseprozeß hergestellt werden kann. So verstanden, subsumiert der Begriff direkt gängigere Bezeichnungen für an Realsituationen angelehnte Aufgabenstellungen wie z. B. authentisch, integrativ, oder kommunikativ. Möchte man z. B. (etwa im

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II Rahmen einer Zulassungsprüfung zum Studium) die Fähigkeit ausländischer Studenten überprüfen, einen wissenschaftssprachlichen Text in seinem wesentlichen Informationsgehalt zu rezipieren, kann man zu diesem Zweck verschiedene Testmethoden einsetzen. Ein Verfahren ist, den betreffenden Text bzw. Ausschnitte daraus als C-Test (Tilgung der zweiten Hälfte jeden zweiten Worts) zu präsentieren und die Textlücken ergänzen zu lassen. Dieses Format hat den Vorteil, sehr ökonomisch und objektiv auswertbar zu sein (hohe Réhabilitât, d. h. sehr zuverlässige Messung), andererseits den gravierenden Nachteil, dass der Bezug zwischen Testhandlung und Überprüfungsziel (kursorisches Leseverstehen) sehr indirekt ist und nachgewiesen werden muss, dass die Fertigkeiten und Strategien, die zur Lösung des C-Tests eingesetzt werden, mit jenen des Konstrukts „kursorisches Leseverstehen" weitgehend ident sind. Dass dies eher nicht zutrifft, legen CTest-Studien nahe, die feststellen, dass sich Kandidaten bei der Bearbeitung von C-Tests „vor allem auf den unmittelbaren Kontext der C-Test-Lücken konzentrieren und dass höhere Verstehensprozesse eine vergleichsweise geringe Rolle spielen." (Grotjahn 1992,10; vgl. auch Alderson/Clapham/Wall 1995, 44). Weiteres ist anzunehmen, dass C-Tests aufgrund ihres puzzleartigen Erscheinungsbilds Lerner mit andersartiger oder gestörter Textwahrnehmungsdisposition (z. B. arabische Muttersprachler, Legastheniker, Personen mit geringer formaler Schulbildung) benachteiligen bzw. eine geringe Augenscheinvalidität (engl, face validity) aufweisen und somit a priori affektive Barrieren aufgebaut werden (vgl. Freese 1994, 307). Eine zweite häufig angewandte Methode ist, Aussagen zum Text zu formulieren und die Kandidaten entscheiden zu lassen, welche der Aussagen in Bezug auf den Text zutreffend bzw. nicht zutreffend sind. In diese Kategorie gehören Formate wie multiple choice, multiple matching (eine Variante von multiple choice, die das starre Einleitungstext-LösungDistraktoren-Schema aufbricht) oder sog. dichotomische Aufgaben (falsch—richtig). Diesen Abfragen ist gemeinsam, dass die Antworten „vorgefertigt" sind und vom Testteilnehmer nur richtig identifiziert werden müssen, war zwar für die Auswertung eine ähnliche Ökonomie und Réhabilitât wie beim CTest bringt, zugleich aber bedeutet, dass der Leser mit zusätzlichem Input konfrontiert wird und somit die Möglichkeit besteht, dass Schwierigkeiten beim Textverständnis nicht

84. Prüfungen, Zertifikate, Abschlüsse als Planungskategorien für den Unterricht

833

bekommt, in der neben der inhaltlichen Relevanz meist auch die Sprachrichtigkeit bei der Bewertung eine Rolle spielt. - Die relative Offenheit der Lösungen, die entweder wortwörtlich oder sinngemäß geliefert werden können, lässt Raum für kreativen, unvorhersagbaren Sprachgebrauch. Zur Reliabilitätssicherung erfordert diese Aufgabe allerdings einen gut ausgearbeiteten Lösungsschlüssel sowie geschulte und sprachsensible Bewerter.

auf den Text selbst, sondern auf eine schlecht konzipierte Abfrage zurückzuführen sind. Es besteht weiters die Gefahr, dass Kandidaten für diese Art von Abfrage spezielle Bearbeitungsstrategien und Kniffe entwickeln, mit denen sie ihr Ergebnis „künstlich" verbessern können (erhöhte Ratewahrscheinlichkeit aufgrund von test-wiseness). Nicht zuletzt ist die Validitität des multiple cAo/ce-Formats als Messinstrument für Sprachbeherrschung überhaupt in Frage zu stellen; das Bearbeiten von multiple choice-Aufgaben ist eine äußerst unauthentische Form der Sprachverarbeitung, da man in realen Kommunikationssituationen selten drei oder vier Antwortalternativen präsentiert bekommt, von denen eine ausgewählt werden muß, wenn man Verständnis signalisieren möchte (vgl. Weir 1990, 44f.). Schließlich gibt es die Möglichkeit, die Abfrage danach auszurichten, was Leser tun, wenn sie einen Text sinnentnehmend lesen und diese Information auch in irgendeiner Form festhalten wollen. Dies passiert normalerweise durch Markieren oder Exzerpieren jener Textpassagen, die im Hinblick auf ein Thema oder einen zentralen Begriff als besonders relevant und aussagekräftig erachtet werden. Am authentischsten und damit am direktesten wäre also eine Aufgabe, die die Kandidaten anweist, die Hauptinformation des Textes in Form von stichwortartigen Notizen wiederzugeben. Da die Abfrage in dieser Offenheit aber erfahrungsgemäß zu sehr heterogenen und schwer vergleich- und bewertbaren Lösungen führt, ist eine Steuerung des Lese- bzw. Exzerpiervorganges unumgänglich. Diese erfolgt einerseits in Form von Schlüsselwörtern und Leitfragen, an denen sich der Kandidat im Leseprozess orientiert, andererseits durch die Vorgabe von räumlich begrenzten Rastern, Tabellen, etc., in die der Kandidat seine Lösungen einträgt. Dieses Abfrageformat weist gegenüber den oben skizzierten Methoden deutlich mehr Merkmale von Direktheit auf:

5.1.4. Kriteriumsorientiertheit Im Sinne positiver Rückwirkungen auf den Unterricht sollte die Beurteilung von Prüfungsleistungen speziell bei Lernfortschritttests kriteriumsorientiert erfolgen, d. h. die individuellen Leistungen der Teilnehmer werden nicht zueinander oder zu einer Parallelgruppe - also normorientiert - sondern zu einem auf der Basis von Stufen- oder Lernzielbeschreibungen a priori festgelegten Fähigkeitsgrad in Beziehung gesetzt und erst dann in eine quantitative (numerisch) oder qualitative (verbal) Bewertung umgelegt. Normorientierte Tests zielen darauf ab, in einer Lernergruppe Rangordnungen zu etablieren und die Leistungsunterschiede zwischen den individuellen Teilnehmern zu maximieren, was u. a. zur Folge hat, dass Aufgabenstellungen danach ausgewählt werden, wie präzise sie zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Teilnehmern diskriminieren. Demgegenüber versucht ein kriteriumsorientierter Lernfortschritttest Kandidaten nach dem Ausmaß zu evaluieren, in dem sie ein bestimmtes Lernpensum bewältigt oder einen bestimmten Fertigkeitsgrad in einer Sprachanwendungsdomäne erreicht haben, und — falls der Vergleich zwischen Prüfungsleistung und Kriterium negativ ausfallt - gezieltes und nachvollziehbares Feedback zu geben, auf der Basis dessen Defizite und Fehlleistungen behoben werden können (vgl. Bachman 1990, 72ff.).

- Zwischen Lesetext und Lösung wird weniger bzw. ausschließlich relevanter Abfragetext geschaltet, wodurch sich der Methodeneffekt geringer halten lässt als bei anderen Verfahren. — Die elliptischen Frageformen und der begrenzte Platz animieren zu prägnanten, stichwortartigen Formulierungen, wie sie für die Sprachhandlungen „Exzerpieren" oder „Notizen machen" typisch sind. Dadurch wird auch verhindert, dass die Aufgabe den Charakter einer Schreibaufgabe

5.1.5. Unterstützung und Anleitung für Lehrer Häufig findet man unter Fremdsprachenlehrern falsche Vorstellungen und unrealistische Erwartungen in Bezug darauf, was Tests leisten können und wie sie konzipiert sein sollen. Auch wird oft geglaubt, professionelle Sprachtestersteller würden über magische Prozeduren und Formeln verfügen, mittels denen hochreliable und -valide Tests „herbeigezaubert" werden können. Diese Falschannahmen und Mysterien erzeugen in Personen,

834

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

die in ihrem Tätigkeitsbereich Sprachtests einsetzen wollen oder müssen, oft starke affektive Barrieren. Um diese abzubauen und zugleich das Wissen über den Gegenstand zu vertiefen, wäre es nötig, in Ausbildungsprogramme für Fremdsprachenlehrer verstärkt testtheoretische und -praktische Fragestellungen zu integrieren. Dabei sollten Fragen des Testdesigns, Möglichkeiten der Konstruktund Inhaltsvalidierung sowie die Erarbeitung von Beurteilungskriterien eher im Vordergrund stehen als aufwendige psychometrische Verfahren, für deren Implementierung an Sprachkursinstitutionen in der Regel sowohl die Zeit als auch die maschinellen Voraussetzungen (Hard- und Software) fehlen. Auch kann positiver Backwash nur erreicht werden, wenn Lehrer, die einen Test administrieren sollen, über dessen Anforderungen genauestens informiert sind und ihnen Testspezifikationen, Beurteilungskriterien und modellhafte Aufgabenstellungen zugänglich gemacht werden.

6.

Schlussbemerkung

Auch wenn vieles für das Vorhandensein von Rückkoppelungseffekten zwischen Test und Unterricht sowie auch dem weiteren curricularen und edukativen Umfeld spricht, bleibt das Phänomen „Backwash" aufgrund fehlender empirischer Belege vage und relativ schwer greifbar. Von einer allzu deterministischen Auslegung des Konzepts ist daher zum momentanen Zeitpunkt abzuraten. Positiv ist zu vermerken, dass die Diskussionen tun die Backwash-Problematik dazu beigetragen haben, die Funktion und den Status von Prüfungen und Tests im curricularen Zirkel neu zu hinterfragen. Aber auch staatliche und halbstaatliche Prüfungsinstitutionen, die lange Zeit in einer splendid isolation-Position verharrten, sind dadurch in Zugzwang geraten, die Gültigkeit und Relevanz ihrer Prüfungskonstrukte zu überdenken und gegebenenfalls Revisionen vorzunehmen.

7.

Literatur in Auswahl

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Graz (

Language

Österreich)

85. Verfahren der Unterrichtsplanung

835

85. Verfahren der Unterrichtsplanung „Ich hatte mir manches zu arbeiten vorgesetzt, daraus nichts geworden ist, und manches getan, woran ich nicht gedacht hatte; das heißt also ganz eigentlich das Leben leben." Goethe an Friedrich August Wolf am 16. 12.1807. „Weichliche Naturen machen gerne energische Programme von weit ausgreifendem Umfang und erschöpfen im Programm ihren momentanen Enthusiasmus." Berthold Auerbach

Planung erscheint für den Fremdsprachenunterricht eine selbstverständliche Voraussetzung zu sein. Immerhin haben Kurs und Curriculum beide etwas mit dem lateinischen Verb currere = laufen zu tun. Unterricht ist ein „in einer bestimmten Richtung eingeschlagener Weg", ein „Laufen nach dem Ziel" (Herkunfstwörterbuch Orbis Verlag, München 1993). Bei genauerem Hinsehen wird Planung jedoch abhängig von einer Reihe von Vorentscheidungen, die bestimmen, nach welchen Gesichtspunkten sie vorgenommen wird: nach einer Progression der sprachlichen Mittel, nach dem Faktor Zeit, nach einem offenen, aber relational zuordnenden Lehrplan, ausschließlich nach dem Lehrwerk, mit dem Ziel einer differenzierenden Nutzung unterschiedlicher Lernervoraussetzungen, in themenzentrierter Interaktion, nach den Prinzipien des Fremdsprachenwachstums, erfahrungs- und berufsanwendungsbezogen etc. Zur Planung gehört die Berücksichtigung der Faktoren, die Kursstruktur und Kursteilnehmer/innen beeinflussen (Abb. 85.1). Planung von Fremdsprachenunterricht ist ein Nachweis professioneller Bewusstheit und Zielgerechtheit und muss mindestens drei Anforderungen genügen: • Sie muss auf die Annäherung und das Erreichen von subjektiven (Bedürfnisse) und objektiven (Bedarf) Fertigkeits-, Handlungsund Urteilsprofilen ausgerichtet sein und individuelles und gemeinsames Sprachwachstum eines Kurses oder einer kleinen Lerngruppe erzeugen und strukturieren. • Sie muss alle subjektiven und objektiven, alle mentalen (Kognition, Gefühle, Attitüden, Motive) und materiellen (Sprachsystem und Lernsystematik, Zuwachs und Kontrolle der Wortklassen und Bedeutungen, der Syntax und Morphologie, der Phoneme und Prosodie, der hermeneutischen Zugangs- und

Zugriffsmöglichkeiten zu Texten, Text-BildEnsembles, Übersichten, Aufgaben- und Übungstypologie) Faktoren des Spracherwerbs, Sprachlern- und Sprachverwendungsprozesse so arrangieren, organisieren und aufbereiten, dass die Kursteilnehmer/innen der speziellen Zielgruppe ihren Erwartungen und den Anforderungen gemäß in einer bestimmten Zeit zu den gewünschten und notwendigen Ergebnissen gelangen und das deutlich und nachweisbar als Erfolg erfahren und erkennen. • Sie muss den/die Kursleiter/in entlasten (etwa von der kurzatmigen Suche nach Inhalten und Aufgaben für die jeweils nächste Stunde, vom Stress des omnipräsenten Frontalunterrichts, von der krampfhaften Suche nach dem jeweils optimalen Einstiegs-, Präsentations- oder Erklärungsverfahren für den gesamten Kurs) und freisetzen (etwa für die Beobachtung und Förderung individueller Möglichkeiten und Entwicklungen, für die kundige und unhastige Intervention in individuelle oder kollektive Arbeitsprozesse, die Präsenz als Adressat und Partner von Gesprächen, die sofortige Durchsicht und Nutzung von Arbeitsergebnissen für das Übungsgeschehen, für Rücksprachen mit einzelnen Lernenden oder Gruppen über deren Hypothesen und Deutungsmuster zu kulturgenerierten oder eigensprachlich bestimmten Phänomenen) und das für jeden Lehrberuf unerlässliche Gefühl von Erfolg, Akzeptanz und professioneller Weiterentwicklung sichern. Planung ist eine berufliche Tätigkeit mit hohen Ansprüchen an die emotionale, intellektuelle und organisatorische Präsenz der einzelnen Kursleiter/innen, aber auch an die andragogische, didaktische, betriebswirtschaftliche Qualität und Kompetenz des jeweiligen Instituts und seiner Verantwortlichen. Diese Bedingungen lassen sich an Merkmalen ablesen, um deren Beschreibung und Integration zu einem Gesamtbild sich seit längerem Zertifizierungsgremien bemühen. Für den Aspekt der Planung sind dabei etwa die folgenden Voraussetzungen wichtig: -»• regelmäßige Stufenkonferenzen und Entwicklungs- und Evaluationstreffen der Lehrer/innen; ein gut strukturiertes, leicht zugängliches und nutzbares Ressourcenzentrum mit Bibliothek, Mediathek und „self-access" Stationen für Lehrende und Lernende;

836

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Φ institutionelle Vorgaben Prüfungsbestimmungen, Auflagen von Vergabeinstanzen, Stundentafel und -Verteilung, Kompakt-, Abendkurs, Teilnehmerzahl, Fluktuation

©

0 didaktische Vorentscheidungen

ethnokultu relie Vorgaben

Mutter- und Lernsprache, Zusammensetzung, Lerngewohnheiten, Erfahrungs- und Überzeugungswissen, Lebensschicksale und -aussichten der Gruppe

Kursplanung und -design

Lehr- und Lernmaterial, lineare vs. hermeneutische Inhalte, offenes vs. progressionales Vorgehen, relationaler Ergebnisbezug

Q) pädagogischandragogische Zielsetzungen Selbsttätigkeit und -bestimmung, Portfolio als Lerntagebuch, Interaktion und Prinzip „voneinander Deutsch lernen", Binnendifferenzierung Abb. 85.1

Kursräume, in denen interaktive, veranschaulichende, lernleitende und -begleitende, differenzierte prozess- und produktorientierte Tätigkeiten möglich sind, deren sichtbare Ergebnisse vorzeigbar und ständig präsent gemacht werden können. Wo für diese Umstände und Ziele die Voraussetzungen eingeschränkt sind, muss die Leitung im Benehmen mit den Kursleiter/innen reduzierte, aber kontinuierlich ausbaufähige Lösungen finden, die eine Annäherung an qualifizierte und qualifizierende Kursmerkmale und -designs sicherstellen. In diesem Sinne ist Planung nicht mehr nur eine subjektive Bemühung der einzelnen

„Lehrkraft", sondern ein Ausweis der Professionalität der betreffenden Bildungseinrichtung und — das sei nachdrücklich herausgestellt — des Stellenwertes, den eine Gesellschaft und ihre verantwortlichen Vertreter/innen in Verwaltung, Industrie, Wirtschaft und Ministerien der Vermittlung und Beherrschung fremder Sprachen zumessen. Die Planung kann, wie begründet, nicht ohne Entscheidung über die päd- und andragogischen, fremdsprachendidaktischen und methodischen Prioritäten der Kursgestaltung gelingen. Die lineare, stark lehrerzentrierte und -bestimmte Vorgehensweise hat Lehrer/innen

85. Verfahren der Unterrichtsplanung

nicht nur verleitet, sondern geradezu genötigt, die jeweiligen Gruppen mindestens hypothetisch zu „homogenisieren" und auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, Abweichungen „nach oben und unten" einzukalkulieren, aber im übrigen anzunehmen, dass von allen Teilnehmer/innen zur selben Zeit die gleichen Lerninhalte, -ergebnisse und -methoden erwartet werden können/müssen. Der hermeneutische Ansatz rechnet dagegen ausdrücklich mit individuellen Unterschieden der Zugänge, Verarbeitungsmodi, des Zeitpunktes, der Ergebnisse und Reaktionsweisen, kurz dem subjektiven und kooperativen Entwicklungsstand und der jeweiligen persönlichen Qualität der Sprach-, Lern- und Ausdruckskompetenzen und will erreichen, dass jede/r im Kurs aus seiner Art und Befähigung heraus lernt, immer besser und intensiver zu arbeiten, sich präziser und wirksamer mitzuteilen und sich selbst im Spracherwerbsprozeß zu beobachten und zu akzeptieren. Kognitiv-rationale Zugänge und Verarbeitungsweisen sind dabei ebenso wichtig wie affektiv oder expressiv, eher intuitiv bestimmte. Aus den Unterschieden erwächst im guten Kurs auch die Einsicht, dass unter Umständen Kooperation nützlicher ist, als von der Kursleitung gelenkt und geführt zu werden. Andererseits muss Planung auch berücksichtigen, dass manche Lerner autoritätsgläubig gerade das lehrerbestimmte Training wünschen und würdigen.

837

Prinzipiell sei an die Methodik der jüdischen Rabbinerschulen erinnert. Dort erarbeiten stets jeweils zwei Studierende ein Kapitel und diskutieren es so lange, bis sie sich vorbereitet fühlen, das Gespräch mit dem Rabbi zu suchen. Das erhöht die Qualität der selbstbewusst geleisteten Denkarbeit und des anschließenden Diskurses mit dem Lehrer. Unterschiede der Deutung und der Schlussfolgerung werden nicht als Mängel oder Schwächen beurteilt, sondern geradezu als notwendige und bereichernde Qualitäten, die das Gespräch symmetrisch und konstruktiv werden lassen. Im fremdsprachlichen Lern- und Entwicklungsprozess ist dieses Vorgehen außergewöhnlich fruchtbar, auch und gerade für Menschen, die durch ihre Deutschkenntnisse als Schlüsselqualifikation Sicherheit im Auftreten in einer Gesellschaft mit fremden Wertvorstellungen und Regeln gewinnen müssen. Was auf den ersten Blick wie ein sehr hoher Anspruch erscheint, stellt sich gerade in Kursen mit Flüchtlingen, Asylanten, Arbeitslosen und ausländischen Hausfrauen als äußerst wirksam und nach einer gewissen Gewöhnungsphase hoch motivierend heraus. Unabhängig davon, wie man die Wirkung der Rahmenbedingungen auf die Kursplanung beschrieben hat, sind für die Artikulation gewisse Planungsentscheidungen möglich. Unter„Artikulationen" verstehe ich Phasen, die zwangsläufig in jedem Kursunterricht

Tabelle. 85.1: Ein Planungsraster als Organisationsmodell für Ideen- und Materialsammlungen könnte so aussehen. Einstiegspulse:

Themenkerne:

Aufgaben und Texte:

Ergebnisse:

Sprachlicher Zuwachs:

Vorwissen, Weltwissen, Erfahrungsinhalte

Sachverhalte im Lehrwerk im Leben der Adressaten

entdeckendes Lernen zu den Inhalten des Lehrmaterials

Textproduktion, Landeskunde

formal und kognitiv

strategisch, expressiv und kommunikativ

Assoziogramme, Begriffsrosen, Wortsammlungen, spontane Äußerungen, zu Reizbegriffen oder Sentenzen

Herstellen von thematischen Äußerungen zu den vorhergehenden Notizen, Hypothesen zu Überschrift, Bildern, Stichworten aus den Lehrwerksinhalten

Erarbeiten und sinnstiftendes Deuten der Texte und anderer Informationen, hermeneutische Teilerkenntnisse aufgabengeleitete Stellungnahmen und Inhaltsangaben

Festhalten von Ergebnissen in Wandzeitungen, Postergestaltungen, Projektberichten, Nachfragen zu Hintergründen und Kontrasttexten

Grammatik, Wortschatz, Textschemata und -Schablonen, Sach- und Kulturwissen: Hintergrund, Orientierung, Vergleich, Erklärung

Arbeitstechniken und Erschließungsstrategien, Äußerungsmuster, Deutungsmuster, rhetorische Mittel, Textredaktion (editing), Fixierung von Erkenntnissen und Einsichten

838

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

Tabelle 85.2 Phase

Intention/Inhalt

Maßnahme

Sozialform

Begrüßung Eröffnung

Entspannung erzeugen, Lern/Arbeitsklima schaffen, Umschalten auf Zielsprache

persönliche Bemerkungen, Anknüpfen an Alltag oder letzte Sitzung, „small talk"

lockeres Plenargespräch

Einstieg ins Thema

Assoziationen zu einem Wort-, Satz-, Bildimpuls, Vorwissen aktivieren, Arbeitsplan vorstellen oder Ertrag der letzten Sitzung rekonstruieren

visueller oder sprach!. Denkanstoß ggf. mit Zusatzimpuls; aktuelle Zeitungsmeldung, brainstorming, auch Mutmaßungen zu Ton/Videoausschnitt

aus Partnergesprächen Tafelbild mit Stichworten, einander befragen, assoziative Gedanken in Gruppen erörtern

Organisieren des Vorwissens

Klärung von Zusammenhängen, Schaffen von kleineren Sinneinheiten, Erläutern der Stichworte

Gruppenaufgaben sichten, ordnen, bewerten (positiv, negativ, überraschend) „wie passt das alles zusammen? Was passt zueinander?"

Gruppenaufgaben (kurz) mit sofortiger Erörterung der Ergebnisse und Vorschläge in Planung

Nach Überfliegen Hypothesen zu Sinn und Botschaft der Lektion/ des Themendossiers/der Unterrichtseinheit

überfliegende Sichtung des Lehrmaterials, Vermutungen aufgrund von Bildelementen, Überschriften, erste Eindrücke, Schlussfolgerungen

Denkanstoß, Austeilen des Textmaterials, Hinweis auf Lehrbucheinheit durch Überschriften/Bilder, Hypothesen auf Kartonkarten

Einzel- und Partnerarbeit, Erörterung im Plenum

Aufgabengeleitetes Entdecken und Erschließen

Erarbeiten von Teilaspekten der Inhalte und deren Deutung im Sinne selektiven Suchens und Verknüpfens, Voraussetzung für vertiefenden und klärenden Gedankenaustausch schaffen

Aufgaben stellen und anbieten, Gruppen, Partner, Einzelteilnehmer/innen wählen ihren Bearbeitungsauftrag und bereiten geeignete Formen der Ergebnisdarstellung (Kurzreferat, Text-BildEnsemble, Wandzeitung, Thesen) vor

Gruppen-, Partner-, Einzelarbeit, auf Wunsch ggf. auch Kleingruppe mit Lehrer/in; u. U. auch Moderator/ in benennen

Prüfung, Vergleich, Vertiefung und Verknüpfung der neuen Wissensbestände

Sichten und Erörtern der Ergebnisse, Befunde und Thesen, Einordnen in einen Deutungs- und Bedeutungszusammenhang, Vergleich mit Vor-, Welt- und Sozialwissen, Klären und Formulieren haltbarer Einsichten, Herausarbeiten offener Fragen

moderiertes Plenargespräch mit Protokollanten, Notieren: „Das wissen wir jetzt. Das ist noch offen. Wie finden wir Antworten?" (Fachliteratur, Fachleute/lehrer befragen, electronic mail)

Plenargespräch mit klärenden Notizen

Anwendung und Ausformulierung des Erkannten und Gelernten

Zusammenfassen der Einsichten unter Beachtung von Konventionen und ggf. auch von Prüfungsbestimmungen, Textproduktionen unter Verwendung von bekannten und neu entdeckten Schemata, Schablonen und Sprachmitteln

Vertextungsaufgaben und -auftrage, Erinnerung bzw. Erarbeitung: Schemata, Schablonen, Sprachmittel, Analysen der Textvorlagen unter diesem Aspekt

Einzel- und Partnerarbeiten, u. U. TeamKleingruppenarbeit in festen Kooperationsverbänden mit Aufgabenteilung

85. Verfahren der Unterrichtsplanung

839

(Forts. Tabelle 85.2) Phase

Intention/Inhalt

Maßnahme

Sozialform

Redaktion und Veröffentlichung

Sichtung der Ergebnisse, Selbst- und Fremdredaktion als „editing", ggf. noch Korrektur, Vorbereitung der Publikation als Aushang, Ausstellung, in den Schülerlogbüchern oder -ordnern

Benennen von Redakteuren und Korrektoren, Vorstellen und kritisches Erörtern der Textproduktionen, Vorschläge zu deren Gestaltung und Illustration

Einzel-, Gruppen- und Plenararbeit

Einschätzung des Lerngewinns und -Zuwachses

Kritische Rückschau, Einordnen der lexikalischen, grammatischen, idiomatischen und stilistischen Mittel und der Textschemata

verteilte Aufträge, den Sprachgewinn zu sichten, zu sortieren und bewußt zu machen, ggf. Transferübungen

Gruppenarbeit, Plenarwertung, Einzelarbeit zur Integration des sprachlichen Zugewinns

wiederholt und in dieser Reihenfolge auftauchen und didaktisch reflektiert und geplant werden sollten. Überhaupt sollte sich die Planung eng an dem Kursverlauf orientieren und darauf hinauslaufen, dass man als Kursleiter/ in für jede Lerneinheit ein Dossier zur Verfügung hat, in dem an dann auch die Anmerkungen zu dem sammelt, was gelungen oder eher mißlungen ist, aber auch das, was die Kursteilnehmer/innen an unvorhergesehenen Reaktionen gezeigt haben. Erst eine solche kumulative Dokumentation gestattet auf die Dauer ein planvolles, selbstkritische Vorgehen (Tab. 85.1 u. 85.2). Dies ist selbstverständlich kein schematisches Verlaufsmuster für Kursstunden oder -einheiten, aber eine Entscheidungsvorlage für die Planung von Unterricht. Für jede mögliche Phase einer Themeneinheit, die ggf. durch das Lehrwerk vorgegeben ist, kann sich die einzelne Kursleiterin oder das Lehrerteam Notizen, Texte, Bilder, Aufgaben, Impulse, Ergebnisse aus früheren Gruppen zurechtlegen und ein Planungsdossier schaffen. Auf jeden Fall gehört zur Planung eine Antwort auf die folgenden Fragen, damit am Schluss der jeweiligen Einheit, aber auch darüber hinaus solide Kenntnisse und Fertigkeiten für alle Teilnehmer/innen verfügbar und geläufig geworden sind: - Was kann der/die Kursteilnehmer/in sagen, erkannt haben, aufschreiben, erfragen, wenn der Kursbaustein erarbeitet ist? — Wo kann er/sie im Verlauf des Lehrgangs diese Sprachmittel erneut vorfinden, anwenden und erweitern?

— Welche anderen sprachlichen Formen, Mittel, Strukturen und Funktionen bauen auf dem hier erworbenen Wissen auf? - Welche Überlegungen und Aufgaben erscheinen für die zyklische und individuelle Festigung und Geläufigmachung besonders geeignet? Planung durch materielle Vorbereitungen ist notwendig, weil nur so die vorgegebenen Inhalte des Lehrwerkes mit der Kursdauer, den Kurszielen und dem handelnden Lernen aus der Teilnehmerperspektive in Einklang zu bringen sind. 0 Erfahrungsinhalte und wahrscheinliche Interessen der KL; [> Denk- und Redeanlässe auf die Bucheinheiten hin und als Ergebnis ihrer Bearbeitung; C> Dossiers der Kursleiter/innen und für die differenzierende Aktivierung der Teilnehmer/innen; [) Aufgaben unter Berücksichtigung verschiedener Lernertypen und unterschiedlicher Zugänge, etwa über Bildimpulse, durch kommentiertes Vorlesen in der Kleingruppe, durch Vorentlastung; 0 Stränge des Wachstums im monologischen und dialogischen Reden und im kreativen und rhetorischen Schreiben; 0 aktivierende Wiederholungen und Anwendungen; C> formale Regelerkenntnis und abstrakte „systematische" Übersichten, auch kontrastive Analysen; i) Wortschatzsicherung in konzentrischen Kreisen mit Sinnbettung der jeweiligen Na-

840

men in bekannte Wortfamilien, -bündel und -felder; 0 Stufen der Selbsteinschätzung (Portfolio); C> Exkursionen, Explorationen, Spurensuche, Begegnungen als Anwendung und Erweiterung der im Kurs erworbenen Sprachmittel und -Strategien, auch der Inhalte und Themen; [) Projekte; c> Schlüsselqualifikationen wie Fragehaltungen und -techniken, Präsentations- und Moderationsformen, rhetorische Mittel und Strategien, Kooperations- und Urteilsbereitschaft, hermeneutische Beharrlichkeit, Sicherung von Wissen; Ç> Relevanz für Annäherung an Zertifikate und Diplome, Zwischentests, Logbücher, Dokumentation des persönlichen Sprachwachstums; i> Nachhilfe in bestimmten Fertigkeitsbereichen, etwa der mündlichen Mitteilungsfahigkeit, der grammatischen Kognition, der Textplanung der Lesetechniken; [> visuelle Erinnerungshilfen für bestimmte fehlerträchtigen Sprachbereiche als Aushänge oder Kartontafeln; ί> Bereitstellen und Einübungsmaßnahmen zu einem Referenz- und Handapparat. Es ist hoffentlich aus den verschiedenen Planungsempfehlungen ersichtlich, dass es nicht um starre Stoffsammlungen und Festlegungen geht, sondern im Gegenteil um befreiende Klärungen und Bereitstellungen, die am Ende die Entscheidungen für die Vorbereitung auf den Unterricht mit einer bestimmten Gruppe erleichtern und eine flexible, lernerperspektivische Gestaltung des Kursgeschehens fördern. Unter keinen, auch nicht den widrigsten Umständen darf man sich durch Planung unter Zeitdruck setzen, denn allzu leicht wird dann zuviel durchgenommen und zu wenig gelernt. Dennoch ist natürlich auch der Zeitfaktor zu bedenken. Der wird dann relativiert, wenn in jeder Stunde alle Teilnehmer/ innen ständig aktiviert und mit ihrem gezielten und planvollen Sprachwachstum auf motivierte Weise beschäftigt sind. Das geschieht am ehesten, wenn das Kursgeschehen einerseits die einzelnen Teilnehmer/innen durch Aufgaben und die Arbeit an eigenen mündlichen und schriftlichen Äußerungen und Beiträgen, auch deren Redaktion und „Publikation" handelnd lernen lässt, wenn andererseits ein abwechslungsreicher Rhythmus dafür sorgt, dass zwischen Bindung an gemeinsame Tätigkeiten, Klärungen und Erörterungen und Freisetzung für eigenständiges und

XI. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand II

partnerschaftliches ein zielgruppengerechtes Verhältnis besteht. Und noch einmal die Begründung: Eine solide und durchdachte Planung mit didaktisch und methodisch gut reflektierten Materialien, Impulsen, Aufgaben, Alternativtexten usw. für jeden erkennbaren Zweck befreit für eine lebendige, einfallsreiche offene Kursgestaltung, die Geplantes bestätigt oder außer Kraft setzt, neue Ideen erzeugt und für den nächsten Kurs andere Akzente nahelegt. Nur das sichert die Entwicklung der Persönlichkeit des/der Planenden hin zu einer souveränen professionellen Reife der spontanen Entscheidung im Kurs und der Unterrichtsgestaltung. L i t e r a t u r in Auswahl Bleyhl, Werner (1996): Der Fallstrick des traditionellen Lehrens und Lernens fremder Sprachen. Vom Unterschied zwischen linearem und nicht-linearem Fremdsprachenunterricht. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 43/4, 339—347. — (1997): Fremdsprachenlernen als dynamischer und nicht-linearer Prozeß oder: weshalb die Bilanz des traditionellen Unterrichts und auch die der Fremdsprachenforschung „nicht schmeichelhaft" sein kann. In: Flut 26, 219-238. Diehl, Erika (1994): Probieren geht über studieren. Individuelle Varianten im Fremdsprachenerwerb. In: Deutsch als Fremdsprache 31/3, 138-147. Hunfeld, Hans (1991): Zur Normalität des Fremden. In: Der fremdsprachliche Unterricht 3, 50-52. — (1997): Zur Normalität des Fremden: Voraussetzung eines Lehrplanes für interkulturelles Lernen. In: FIFE — Ideen und Materialien für interkulturelles Lernen. BMW AG, München, 1 — 10. Keller, Gottfried (1997): Didaktik des Fremdverstehens aus neurobiologisch-konstruktivistischer Sicht. In: FMF, Mitteilungen der Landesverbände Hessen und Thüringen, Nr. 12, 10/1997, 8 - 3 0 . Meisel, Klaus et al. (1997): Kursleitung an Volkshochschulen. Frankfurt/M. Pinker, Steven (1994): The Language Instinct. The new science of language and mind. Harmondsworth. Wendt, Michael (1996): Konstruktivistische Fremdsprachendidaktik. Tübingen. Weskamp, Ralf (1995): Üben und Übungen. Zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels im Fremdsprachenunterricht. Iru Praxis des neusprachlichen Unterrichts 42/1, 121 — 126. — (1996): Pädagogisierung des Fremdsprachenunterrichts. Schritte in Richtung eines zeitgemäßen Lernens. In: Praxis 43/4, 347—356.

Hans-Eberhard Piepho, Garching (Deutschland)

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III: Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts 86. Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache 1. 2.

5. 6.

Einleitung Abgrenzungsversuche: Methode, Ansatz, Technik u. a. Kriterien der Beschreibung von Methoden Methoden in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik Prinzipien statt Methoden Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

3. 4.

Die bis in vergangene Jahrhunderte zurückreichende Geschichte der Fremdsprachendidaktik ist geprägt von Auseinandersetzungen um die „richtige" bzw. „beste Methode" zur Vermittlung von fremden Sprachen, sei es hinsichtlich globaler Methodenkonzepte, sei es in Bezug auf Entwicklungen in einzelnen gegenstands- oder fertigkeitsbezogenen Bereichen (Grammatik, Wortschatz, Landeskunde; Hören, Sprechen, Lesen u. a.)· In diesem Artikel geht es um die Darstellung von „fächerübergreifenden" Methoden, wie sie sich im Laufe der Zeiten unter den wechselnden Einflüssen von Referenzwissenschaften wie Psychologie, Linguistik, Pädagogik u. a. entwickelt und in allen fremdsprachlichen Fächern etabliert haben, auch im Fach Deutsch als Fremdsprache. In Art. 87 werden spezifische Methodenentwicklungen für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) dargestellt. Die folgende Darstellung stützt sich u. a. auf themenspezifische Arbeiten des Autors (Henrici 1986, 1994, 1996).

2.

Abgrenzungsversuche: Methode, Ansatz, Technik u. a.

Einer der am häufigsten verwendeten Begriffe im Zusammenhang mit Unterricht ist der Begriff der Methode. Die Auffassungen darüber, was eine Unterrichtsmethode ist, d. h. welchen Bedeutungsumfang, welche Reichweite sie hat, gehen in der Fremdsprachendi-

daktik weit auseinander. Sowohl in mehr theoretischen als auch in praktischen Kontexten besteht oft keine Klarheit darüber, was mit Methode genau gemeint ist. Globale Methodenbeschreibungen wie die folgende sind weit verbreitet: „Unterrichtsmethoden werden als Lehrverfahren verstanden, mit denen die Fremdsprache und die mit ihr verknüpfte Kultur und Literatur den Lernenden vermittelt wird." (Heuer 1989, 419) Die in Deutschland geführten Abgrenzungsdebatten zwischen dem, was eine Didaktik, was eine Methodik umfasst/umfassen sollte, sind hinreichend aus der allgemein-didaktischen Diskussion bekannt. Verlässliche, theoriegeleitete und auf empirischen Befunden gründende Erkenntnisse sind dabei kaum herausgekommen. Vielau gehört zu den zahlreichen Autoren/ Autorinnen, die den Versuch unternommen haben (vgl. auch Bausch/Christ/Hüllen/ Krumm 1986), eine gewisse Ordnung in den Definitionswirrwarr zu bringen. Unter Didaktik versteht er, „wenn es um Theorie und Ideologie des Fremdsprachenunterrichts, die gesellschaftlichen Funktionen, das fachlich/ fachübergreifende Ideengerüsst, die Ziele usw. geht", unter Methodik, „wenn auf der Basis bestimmter didaktischer Prämissen ein faktorenübergreifendes Handlungskonzept des Lehrens und Lernens entwickelt wird" und unter Unterrichtstechnik, „wenn auf der Basis bestimmter didaktischer und methodischer Prämissen konkrete Unterrichtsprozesse und Lehr-/Lernstrategien (ζ. B. „Einsprachigkeit", „pattern practice" usw.) thematisiert werden." (Vielau 1985, 10) Nach Vielau unterscheidet sich eine richtig verstandene Methodik von einer Unterrichtstechnik/einem Rezept u. a. durch ihren exemplarischen Charakter, durch ihren Abstraktheitsgrad und durch ihre Theoriebezogenheit, durch breitere und flexiblere Anwendungsmöglichkeiten, dadurch dass sie argumentativ und verallgemeinernd offen verfährt. Bei Desselmann/Hellmich (1981) wird

842 „Unterrichtsmethode im engen Sinn" von einem Verständnis von „Unterrichtsmethode im weiten Sinn" unterschieden. Letztere entspricht grob der Kennzeichnung von Didaktik bei Vielau. Die Unterrichtsmethode im engen Sinn soll „das Wechselverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden widerspiegeln" und umfasst die „Komplexe von Lehr- und Lernverfahren" (38 f.) was teilweise der Kennzeichnung von „Methodik", teilweise der Kennzeichnung von „Unterrichtstechnik" bei Vielau entspricht. Wenn in der „westlichen" Fremdsprachendidaktik als der ,Wissenschaft von der Theorie und Praxis des Lehrens und Lernens' von Fremdsprachen über Methoden/ methodische Konzepte gesprochen wird, liegt meistens ein weites Verständnis des Begriffs zu Grunde, das auch unterrichtsbegründende und -bestimmende Faktoren enthält wie pädagogische Konzepte, körperliche und kognitive Entwicklungsprozesse, psychologische Dispositionen, soziologische Voraussetzungen, durch den Staat oder sonstige Institutionen verordnete Richtlinien, in denen allgemeine und fachliche Lernziele, Inhalte usw. fixiert sind. D. h. Methode/Methodik wird verstanden als System von Unterrichtsverfahren in einem Beziehungsgeflecht von Unterrichtsdeterminierenden Einflussfaktoren (vgl. ein entsprechendes Schaubild bei Neuner/Hunfeld 1993, 9). Wird Methode in einem engen Sinne gebraucht wie ζ. B. bei Mackey (1967), werden darunter eher die Auswahl und Menge der Lerngegenstände (selection), die Reihenfolgen in der Behandlung von Gegenständen (grading), die einzelnen Schritte der Vermittlung (presentation) zur Erreichung bestimmter Ziele, Fähigkeiten, Fertigkeiten in bestimmten Bereichen (z.B. Grammatik, Lexik) verstanden. In Amerika sind es vor allem zwei größere Arbeiten, die wesentlich zur Klärung des Begriffs Methode beigetragen haben und teilidentisch mit Konzepten in der deutschsprachigen Fachliteratur sind (vgl. Anthony 1963; Richards/Rogers 1986). Sie verwenden als unterschiedliche Begriffe Ansatz (approach), Methode (method) und (technique) bzw. Ansatz (approach); Konzeption (design) und Vorgehensweise (procedure) als zentrale Bestandteile einer Methode, die Aussagen über die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis macht. Sie stellen unterschiedliche Ebenen einer hierarchischen Strukturierung dar.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

3.

Kriterien der Beschreibung von Methoden

In der langen Geschichte der Fremdsprachendidaktik sind zahlreiche differierende, aber sich auch überschneidende Methoden zur Lenkung des gesteuerten Zweitsprachenerwerbs entwickelt, modifiziert und wieder verworfen, teilweise Methoden ungerechtfertigt als neu propagiert worden (vgl. ζ. B. die Anleihen der audiolingualen Methode bei der ein halbes Jahrhundert früher entwickelten direkten Methode, vgl. Kap. 4.2. und 4.3.). Trotz der besonders von Seiten der Zweitsprachenerwerbsforschung geäusserten Meinung (z.B. von: Felix 1981; Knapp-Potthoff; Knapp 1982), die Beschäftigung mit Methoden stehe auf wackligen Füßen, solange die empirische Forschung keine abgesicherten Ergebnisse über Determinanten und Verlauf des Fremdsprachenerwerbsprozesses vorweisen könne, ist es notwendig, die zukünftigen Fremdsprachenlehrenden mit den wesentlichen geschichtlichen Entwicklungen und den Problemen der Debatte um fremdsprachendidaktische Methoden vertraut zu machen. Dies wird nicht zuletzt deshalb als gerechtfertigt angesehen, weil Lehrende bei ihren Entscheidungen in der Praxis ständig mit methodischen Fragen im weiteren und engeren Sinn (vgl. Kap. 2) konfrontiert sind. So sehr es aus wissenschaftlicher Sicht zu bedauern ist: Die gängigen Lehrbücher orientieren sich nach wie vor am Stand und an der von Plausibilitäten geprägten Diskussion von Methodenkonzeptionen in der Fremdsprachendidaktik, nicht an sich zunehmend verfestigenden Ergebnissen der Zweitsprachenerwerbsforschung (Ausnahmen: Krashen; Terrell 1983; Scarcella; Oxford 1992). Die Darstellung und Diskussion einzelner Methoden in Kap. 4 ist auf solche konzentriert, die auf die Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts einen starken Einfluss ausgeübt haben und zu Teilen auch heute noch haben. Dieser Einfluss zeigt sich besonders in den Lehrmaterialien (vgl. Art. 105; 106), die nach wie vor entscheidend den Ablauf des Unterrichts bestimmen. Auf Methoden, die eine vergleichbar nachhaltige Wirkung bislang nicht ausgeübt haben, wird mit resümierenden Anmerkungen und Literaturangaben (ζ. B. in Kap. 4.2.; 4.8.; 4.9.) hingewiesen. Eine vergleichende Beschreibung und Bewertung einzelner Methoden ist nur dann möglich, wenn einheitliche Beurteilungskriterien zu Grunde gelegt werden. Solche verglei-

86. Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache

chenden Beschreibungen von Methoden auf der Basis von ausgewählten Kriterienrastern und teilweise chronologisch angeordnet lassen sich in einer Vielzahl von Methodendarstellungen finden. Die im nächsten Kap. 4 erfolgende Methodendarstellung ist relativ knapp gehalten, beschränkt sich auf die Beschreibung nach einigen ausgewählten Kriterien und orientiert sich dabei an ausführlichen systematischen Darstellungen (vgl. Schilder 1985; Henrici 1986; Heyd 1990; Bachmayer 1993; Edmondson/House 1993; Neuner/Hunfeld 1993; Rosier 1994; Brown 1994; Henrici 1994). Die hier zu Grunde gelegten Kriterien sind: — Ziele und Mittel des Fremdsprachenunterrichts (soziale, kognitive, kommunikative, sprachliche ... Fähigkeiten, Fertigkeiten; Lernbereiche; Lerninhalte; Aussprache, Textauswahl, Textbehandlung ...) — erziehungswissenschaftlich-didaktische Grundlage (Unterrichtsprozesse: Stile, Phasierungen ...; Unterrichtsorganisation: Sozialformen, Differenzierungen ...) — sprachwissenschaftliche Grundlage (Beschreibungsmodell; Spracherwerbshypothesen; Kontrastivität; Terminologie; Progression: sprachlich, situativ, intentional...; Grammatik; Bedeutungserwerb, Semantisierung: einsprachig, zweisprachig...) — lernpsychologische/lerntheoretische Grundlage (behavioristisch, kognitiv ...)

4.

Methoden in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik

4.1. Die Grammatik-Übersetzungsmethode (GÜM) Bis zur sog. Reformmethode, die gegen Ende des 19. Jhs. eine radikale Gegenbewegung einleitete (vgl. Vietor 1882), war die nach dem Muster des Lehrens von alten Sprachen konzipierte GÜM die vorherrschende Methode. Auch vor und nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sie eine starke Position und auch heute noch ist sie als Ganzheit oder in Elementen in der Welt in unterschiedlichen institutionellen Kontexten vertreten, nicht zuletzt auf Grund ihres durchsichtigen Aufbaus, der Lehrenden und Lernenden eine klare Orientierung und das Gefühl von Sicherheit vermittelt. Ziele und Mittel: Die Beherrschung der Sprache wird über die Kenntnis von Wörtern und grammatischen Regeln erreicht, die in der Muttersprache

843

präsentiert und erklärt sowie zu Teilen auswendig gelernt werden. Sie wird sichtbar an der Fähigkeit, schriftliche, vorwiegend literarische Texte aus der Muttersprache in die fremde Sprache und umgekehrt zu übersetzen. Mündliche Fähigkeiten und Fertigkeiten wie Hörverstehen und Sprechen sind nachrangig. Sprachgebrauch in der Kommunikation findet nicht statt. Die Orientierung am Lehrwerk spielt eine zentrale Rolle. Es macht präzise Vorgaben für den unterrichtlichen Ablauf. Er präsentiert Übungssätze und -formen in Lückentexten, Umformungen und Reproduktionen von vorgegebeben Texten. Die konstruierten Übungssätze sind inhaltlich verbunden aneinandergereiht und geben vielfach einen überholten Sprachgebrauch wieder. Der Prototyp eines in dieser Weise konzipierten Lehrbuchs für Deutsch als Fremdsprache ist das Lehrwerk „Deutsche Sprachlehre für Ausländer" (Schulz/Sundermeyer 361978). Erziehungswissenschaftlich-didaktische Grundlage: Sprachlernen dient der formalen geistigen Schulung der Menschen und der Formung ihrer Persönlichkeit. Der Unterrichtsablauf ist deduktiv-stereotyp und frontal-lehrerzentriert organisiert. Die Lernenden werden als Lernobjekte behandelt. Sprachwissenschaftliche Grundlage: Die sprachlichen Regeln werden mit Mitteln der lateinischen Grammatik formuliert, was zu einer hohen Anzahl von Ausnahmeregeln führt. Die Regeln erfassen nur solche grammatischen Kategorien und Erscheinungsformen, die aus den alten Sprachen bekannt sind. Viele grammatische Phänomene werden gar nicht oder unangemessen erfasst. Synchronische und diachronische Betrachtungsweisen werden vermengt. Phonetische Phänomene bleiben unerklärt. Die Mündlichkeit von Sprache und ihre Einbettung in dialogische, situative Kontexte spielen keine Rolle. Lernpsychologisch-lerntheoeretische Grundlage: Es liegt ein striktes kognitives Lernkonzept zu Grunde, das allerdings kaum begründet wird. Sprachlernen ist ein geeignetes Mittel zur Herausbildung von Fähigkeiten zum abstrakten/logischen Denken. Fremdsprachenlernen findet über das Medium der Muttersprache statt. Probleme der Motivierung für das Sprachlernen werden nicht explizit diskutiert.

844

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

4.2. Die direkte Methode (DM) Schon früh gab es einzelne kritische Stimmen gegenüber der dominierenden GÜM u. a. von der im privaten Kontext gepflegten „Sprachmeistermethode". Anfang des 19. Jhs. nahm die Kritik zu, ohne dass sich daraus ausgearbeitete Methodenkonzepte entwickelten. Man forderte die Abschaffung von Grammatikund Übersetzungsunterricht und plädierte für einen natürlichen Weg des Fremdsprachenlernens, so wie er bei Kindern zu beobachten ist, die ihre Muttersprache lernen. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, nicht zuletzt durch Vietors aufsehenerregende Schrift „Der Sprachunterricht muss umkehren" (1882) fanden diese Ideen eine grössere Verbreitung. Sie wurden auch in die Praxis umgesetzt. Es formierte sich die sog. neusprachliche Reformbewegung, die Postulate unterschiedlichster Provenienz aufnahm, z.B. „Beginn des Sprachunterrichts mit dem Lesen einfacher Texte", „induktive Vermittlung von Grammatik nur in einer fortgeschrittenen Lernphase", „Sprachlernen durch Spiel und Bewegung", „Förderung der Mündlichkeit von Sprache", „Lernen der Umgangssprache in der Konversation". Erst allmählich wurden übergreifende, die natürlich-direkte Methode kennzeichnende Prinzipien deutlich, die bei der folgenden Entwicklung von Methoden weiter diskutiert wurden, sei es dass sie strikt abgelehnt oder nachdrücklich befürwortet wurden: — Der Unterricht wird ausschließlich in der Fremdsprache durchgeführt, — nur die Alltagssprache wird gelehrt, — mündliche Fähigkeiten werden in einer genau festgelegten Abfolge in Form von Frage, Antwort-Sequenzen unterrichtet, — Grammatik wird — wenn überhaupt — induktiv behandelt, Kognitivierungen von sprachlichen Sachverhalten werden ausgeschlossen, — neue Kenntnisse sollten durch praktisches Handeln erworben werden, — konkretes Vokabular soll über Demonstrationen, Gegenstände, Bilder vermittelt werden, Abstrakta durch Assoziationen, — Nachsprechen und Hörverstehen stehen im Vordergrund, — die korrekte Aussprache, unterstützt von Phonetikern wie Sweet, Sievers, Klinghardt, hat einen zentralen Platz im Sprachunterricht (vgl. u. a. Richards; Rodgers 1986,9f.; Edmondson/ House 1983, 109 f.).

Besondere Beliebtheit und Akzeptanz fand die direkte Methode, die auch als Vorläuferin der audio-lingualen Methode gekenzeichnet wird (Neuner/Hunfeld 1993, 33) in privaten

Sprachschulen, in denen die Lernenden hochmotiviert sind und von Muttersprachlern unterrichtet werden. Der bekannteste unter den Propagandisten der direkten Methode ist zweifelsfrei Berlitz (1887) gewesen, der ohne den Namen Direkte Methode zu verwenden, sie in Form der Berlitz-Methode in der ganzen Welt etablierte. Sie wird - zwar in modifizierter Form - noch heute angewendet. Im öffentlichen Schulwesen hat die direkte Methode kaum Fuß gefasst, nicht zuletzt auf Grund restriktiver Bedingungen wie z. B. großer Klassen, nicht immer motivierte Schüler, wenig individuenbezogene Aufmerksamkeit, Unterricht „in Häppchen". Dass die Methode nach einem relativ hohen Zuspruch Anfang des Jahrhunderts in der Folge schnell an Bedeutung verlor, liegt sicherlich auch daran, dass ihr die wissenschaftliche Fundierung fehlte und in der praktischen Anwendung sich viele Fremdsprachenlehrende überfordert fühlten. Sie bevorzugten lieber Methoden, die besser beherrschbar waren, was auch zu einer Wiederbelebung der GÜM führte. 4.3. Die audiolinguale Methode (AM) Die sog. AM wird verschiedentlich auch als „Army Method", „New Key Method", „Pattern Method", „Habit-Formation Method" oder „Oral Approach" bezeichnet. „Army Method" bzw. „GL Method" deshalb, weil die Angehörigen der US-Armee während des Zweiten Weltkriegs möglichst schnell und effektiv eine fremde Sprache lernen sollten. Ziele und

Mittel:

Spracherwerb erfolgt nicht auf der Grundlage der Kenntnis von grammatischen Regeln, sondern geht von der Aneignung stark steuernder, zu imitierenden Mustersätzen („patterns") aus, die nicht erklärt, sondern durch ständiges Wiederholen („drills") und Überlernen („overlearning") zu festen Gewohnheiten („habits") und eingeprägt werden sollen. Die musterhaften Sätze bleiben in ihrer Satzstruktur gleich, sie sind in ihrer Lexik unterschiedlich. Fehler sind zu vermeiden, wenn sie auftauchen, müssen sie sofort verbessert werden. Ausgangspunkt des Lernens sind authentische Sprachmuster, die es nachzuahmen gilt. Sie sind dialogisch aufgebaut und werden in Alltags-Situationen eingebettet. Der Mündlichkeit der Sprache wird Vorrang eingeräumt. Der Erwerb der Fertigkeiten Hören/Sprechen hat Vorrang vor Lesen/Schreiben. Induktive Grammatikarbeit

86. Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache

und muttersprachliche Erklärungen können eingesetzt werden, wenn die Aneignung über Nachahmungen und Wiederholungen der Mustersätze auf Schwierigkeiten stößt. Die Mustersätze werden durch verschiedene Übungstypen variiert (u. a. Substitutionen, Ergänzungen) und in ihrer Komplexität progressiv erweitert. Das Vokabular ist streng begrenzt und wird in Kontexten gelernt. Die Aussprache hat einen hohen Stellenwert. Erziehungswissenschaftlich-didaktische Grundlage: Fremdsprachenlernen dient dazu, sich mit Menschen anderer Muttersprache verständigen zu können. Die unterrichtliche Durchführung orientiert sich an festgelegten Prinzipien und Reihenfolgen, die von den Lehrenden exekutiert werden: Präsentation, Übung (Erklärung, Mustersätze), Anwenden der Mustersätze in neuen Kontexten. Sie erfolgt mit technischen Medien wie Tonband, Cassette, u. a. im Sprachlabor. Sprachwissenschaftliche Grundlage: Die audio-linguale Methode geht auf den Strukturalismus zurück, wie er von einer Anzahl von amerikanischen Linguisten entwikkelt worden ist, besonders von Fries (1945). Die Linguisten des Strukturalismus beschrieben Muster von fremden Sprachen, indem sie die Muttersprachensprecher als Informanten benutzten. Anschließend fertigten sie kontrastive Beschreibungen von Mutter- und Fremdsprachen an. Diese dienten dazu, eine Basis für die Auswahl und Stufung der Muster zu schaffen, die gelehrt werden sollten. Darauf aufbauend wurden entsprechende Materialien konzipiert. Lernpsychologisch-lerntheoretische Grundlage: Spracherwerb wird mit Überlegungen aus der behavioristischen Psychologie erklärt (u. a. Skinner 1957), die das Verhalten des Menschen auf den mechanischen Ablauf von Reizen und Reaktionen von Vor- und Nachmachen reduziert, und damit die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen auf ein Minimum beschränkt und kaum Raum für aktive psychische Prozesse lässt. Lernen erfolgt durch Analogiebildung und nicht durch kognitive Tätigkeiten. Die Methode, die sich vorwiegend in den sechziger Jahren großer Beliebtheit erfreute, verlor nicht zuletzt auf Grund zunehmender Einflüsse der kognitiven Wissenschaften (u. a. der Psycholinguistik), aber auch auf

845

Grund von praktischen Erfahrungen der Lernenden und Lehrenden (u. a. stereotyper Ablauf, Langeweile, Monotonie, Reglementierung) schnell an Boden. 4.4. Die vermittelnde Methode (VM) Darunter versteht man eine Methode, die Prinzipien und Elemente aus geschlossenen, strikten Methodenkonzepten auswählt und miteinander mischt. Bei der Auswahl spielen die Kriterien der Anwendbarkeit und Bewährung in der Praxis eine zentrale Rolle. Dabei wird in Kauf genommen, dass Begründungen und Ableitungen für Teilziele und Teilbereiche des Sprachunterrichts nicht stimmig sind und sich teilweise widersprechen (z. B. kognitive Begründung des Spracherwerbs/ ausschließliche Verwendung von imitativen Übungsformen oder Erklärung des Zweitsprachenerwerbs in Analogie zum Muttersprachenerwerb/Verwendung zweisprachiger Erklärungsverfahren und Übungen). Standards der vermittelnden Methode, die sich besonders im gymnasialen Fremdsprachenunterricht herausgebildet haben und sich u. a. in staatlichen Richtlinien und Unterrichtsempfehlungen sowie den daran orientierten Lehrwerken zeigen, sind u. a. — Orientierung an geistig-formalen Bildungskonzepten („simples Kellner-Deutsch reicht nicht aus") — hoher Stellenwert des Grammatikunterrichts („nur über Wissen kann Können erreicht werden"), („vom Beispiel zur Regel"). Der Grammatikunterricht verläuft in zyklischen Progressionen („vom Elementaren zum Spezifischen") — hoher Stellenwert des Literaturunterrichts („Textanalyse"/„Reflexion über Texte") — Orientierung an pragmatischen Lernzielen („wichtig ist die Verständigung in Gesprächen") — Betonung von dialogischer Kommunikation („Alltagskommunikation") — Beachtung des Prinzips der aufgeklärten Einsprachigkeit („das Verstehen muss gesichert werden") — Bevorzugung frontaler Unterrichtsformen („der Lehrer muss Könnens- und Wissenserwerb kontrollieren") — Berücksichtigung von die Selbständigkeit der Lernenden fördernden Unterrichtsformen („die Eigentätigkeit des Lernenden muss gestützt werden")

4.5. Die audio-visuelle Methode Die audio-visuelle Methode, die im Rahmen einer jugoslawisch-französischen Kooperation im CREDIF (Centre de Recherches et d'Etudes pour la Diffusion du Français. Ecole Normale Supérieure de Saint-Cloud.

846 Paris) unter der Leitung von Guberina und Rivenc entwickelt worden und von ihnen selbst auch als „globalstrukturale Methode" (Rivenc 1957, Guberina 1965) bezeichnet worden ist, beruht auf ähnlichen Prinzipien wie die audio-linguale Methode. Globale Beschreibung: Wie der Name der Methode ausdrückt, wird die audio-linguale Komponente durch visuelle Elemente (Dias, Diarollen, Figurinen) besonders in der Anfangsphase beim elementaren Bedeutungs- und Strukturerwerb ergänzt. Hinsichtlich der Ablehnung der Grammatik-Übersetzungsmethode, der Betonung der Hör- und Sprechfertigkeiten gegenüber den Lese- und Schreibfertigkeiten sowie dem Vorrang des sprachlichen Könnens vor dem sprachlichen Wissen gibt es kaum Abweichungen zur AM. Unterschiede sind vor allem bei der theoretischen Begründung und der Gewichtung bestimmter Prinzipien festzustellen. Während das globaldialogische Situationsprinzip, das Kommunizieren über Inhalte in der audio-lingualen Methode keinen bzw. einen eher untergeordneten Stellenwert hatten, werden sie in der audio-visuellen Methode als Ausgangspunkte des Sprachlernens eingesetzt, die einen möglichst hohen Grad an Authentizität vermitteln sollen. Schloss das Lernen über pattern-drills die Einsicht in sprachliche Strukturen mit Hilfe grammatischer Erklärungen nicht aus, zumindest nicht am Ende eines Lernprozesses, werden grammatische Erklärungen, besonders dann, wenn sie einer isolierenden Beschäftigung mit sprachlichen Problemen dienen, ausdrücklich in Guberinas Ursprungsfassung abgelehnt. Ähnlich ridige schließt er den Gebrauch der Muttersprache aus. Kontrastive Prinzipien werden nicht berücksichtigt. Auf Grund des Vorrangs des Mündlichen wird zunächst ein ein bis zu sechs Monaten dauernder schriftloser Unterricht durchgeführt, was mit der Ausschaltung von Interferenzen zwischen mündlicher und schriftlicher Sprache begründet wird. Diese lange schriftlose Zeit wird allerdings in der Folge auf Grund von negativen Erfahrungen im Unterricht erheblich reduziert. Besonders auf Grund der Zurückhaltung gegenüber expliziten sprachlichen Erklärungsverfahren erfasste die sich massiv verstärkende Kritik an der Pattern-Methode Ende der 60er Jahre auch die audio-visuelle Methode, die nicht zuletzt deshalb im schuli-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

schen Fremdsprachenunterricht scheiterte, weil den fortgeschrittenen Lernenden trotz einer Reihe von Verbesserungen keine ausreichend geeigneten/motivierenden und altersspezifischen Textmaterialien geboten wurden und eine den Lernenden entmündigende Pädagogik (z. B. durch rigorose Unterrichtsphasierung) keine wesentlichen Erfolge brachte und sich damit als nicht durchsetzbar erwies. 4.6. Die kognitive Methode Obwohl auch die Meinung vertreten wird (Edmondson/House 1993, 113; Rosier 1994, 103), es gäbe eigentlich diesen „Ansatz", diese „Methode" nicht, der/die häufig mit der GÜM verglichen werde, so hat er/sie doch international als „cognitive code learning" als Gegenbewegung zum „audiolingual/-audiovisual learning" in vielen Ländern von Ende der 60er Jahre/bis in die 70er Jahre einen beachtlichen Stellenwert gehabt, der/die eine Beschreibung rechtfertigt. Ziele und Mittel: Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist der kreative Umgang mit der Fremdsprache. Ausgehend von den bereits vorhandenen muttersprachlichen Strukturen wird dies über Erwerb, Organisation und Erweiterung des fremdsprachlichen Regelsystems, der stets aktivierbaren kognitiven Struktur des Lernenden erreicht. Der Weg zum automatischen sprachlichen Können führt über bewusst gemachtes Wissen. Erziehungswissenschaftlich-didaktische Grundlage: Der Lehrende ist „Orientierungshelfer" auf dem Weg zum sprachlichen Können, indem er Situationen und Hilfen anbietet, um das sprachliche Wissen zu aktivieren und den Hypothesenbildungs- und Überprüfungsprozess beim Lernen zu ermöglichen und zu erleichtern. Dieses kann innerhalb von genau geregelten Unterrichtsphasen geschehen (vgl. u. a. die Etappisierungen des Unterrichts in Anlehnung an tätigkeitsorientierte Konzepte: Galperin 1969; Wygotzki 1971; Leont'ev 1974). Sprachwissenschaftliche Grundlage: Das grammatische Beschreibungsmodell, das eine Reihe von Fremdsprachendidaktik-Theoretikern als Verfechter des Lernens durch Einsicht Ende der 60er Jahre und Anfang der 70er Jahre für die Verwendung im Unterricht propagierte, war die von Chomsky (1961) in verschiedenen Etappen entwickelte Generative

86. Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache

Transformationsgrammatik (GTG). Die Hinwendung zu Chomsky und seinem Grammatik-Modell fand nicht zuletzt deshalb statt, weil damit eine intensive Auseinandersetzung mit der behavioristischen Position Skinners einherging, den Spracherwerb zu erklären (Chomsky 1959). Er tat dies allerdings mit dem von vielen Didaktikern übersehenen Hinweis, dass weder die Linguistik noch die Lernpsychologie genug über die Natur des sprachlichen Lernprozesses wüßten, um dem Sprachlehrer konkrete Hilfestellungen zu geben. Die Frage nach der angemessenen Methode beim gesteuerten Spracherwerb auf der Basis von Erklärungen durch Spracherwerbsund Lerntheorien wurde zu großen Teilen überdeckt von Versuchen, die GTG als das geeignete Beschreibungsmodell für den Grammatikunterricht zu empfehlen und sie durch vereinfachende Darstellungen zu didaktisieren. Vielfach in der Praxis des Fremdsprachenunterrichts realisiert sind im Rahmen von kognitiven Methodenkonzepten auch andere grammatische Beschreibungsmodelle wie traditionelle Grammatik, VerbDependenz-Grammatik, funktionale Grammatik. Lernpsychologisch-lerntheoretische Grundlage: Kognitive Methoden beziehen sich auf psychologische Modelle, die das Lernen und das Behalten von Gelerntem über kreative, verarbeitende Prozesse erklären und den Lernprozess als ganzheitliches Geschehen betrachten (vgl. zur Gestaltungspsychologie u. a. Kofïka 1963). Zu den bewusstmachenden Methoden zählen ζ. B. Verfahren wie Erklären und Systematisieren über Analyse und Synthese (u. a. Klassifizieren, Hierarchisieren). Dadurch soll der Lernende Einsicht in die Regelhaftigkeit der zu erlernenden Sprache gewinnen. Auf den Erklärungsversuch Chomskys, dass der Spracherwerb auf einem allgemeinen angeborenen Spracherwerbsmechanismus beruhte und relativ unabhängig von Umgebungsfaktoren erfolge, beruft sich immer noch ein großer Teil der Zweitsprachenerwerbsforscher, die Erstsprachenerwerb und natürlichen Zweitsprachenerwerb als quasi identisch ablaufende Spracherwerbsprozesse erklären. Versuche, mit der „cognitive code learning" Methode auch die GTG als alleiniges sprachliches Beschreibungsmodell einzuführen, stießen auf massiven Widerstand der

847

Fremdsprachenpraktiker, die die von ihnen — allerdings ζ. T. falsch — empfundene Linguistisierung des Sprachunterrichts strikt ablehnten. Schon bald wurden kognitive von kommunikativen Orientierungen im Fremdsprachenunterricht überdeckt. 4.7. Die kommunikative Methode (KM) Bereits Anfang der 70er Jahre wurde die „kommunikative Wende" in England mit der Bezeichnung „Notional-Functional Syllabus" (Wilkens 1976) eingeleitet und durch die Arbeiten des Europarats (van Ek; Alexander 1975) verbreitet. Das Zauberwort „kommunikative Kompetenz" als oberstes Lernziel des Fremdsprachenunterrichts hat etwa Mitte der 70er Jahre vor allem unter dem Einfluss von Piepho (1974) auch Einzug in die Fremdsprachendidaktik der BRD gehalten und bis heute einen gewichtigen Platz eingenommen. Ziele und Mittel: Ziel des Fremdsprachenunterrichts ist die Fähigkeit der Lernenden, in verschiedenen Lebenssituationen sprachlich angemessen handeln zu können. Sprachliche Erklärungen und Systematisierungen können dabei eine Hilfe sein. Die zu erwerbenden Redemittel werden jedoch immer in ihrer Funktion zur Erreichung bestimmter Redeabsichten in Situationen mit Gesprächspartnern gesehen. Angestrebt wird ein möglichst authentischer Gebrauch der Sprache. Der mündliche Gebrauch von Sprache hat Vorrang vor der Schriftlichkeit, was sich in der Dominanz von Hörverstehens- und Sprechübungen unter Verwendung von Medien wie Cassette und Video zeigt. In den Lehrwerken schlägt sich die „kommunikative Wende" deutlich nieder. Die Lehr- und Lernprogression orientiert sich an der leitenden Kategorie „Redeabsichten/-intentionen." Ihr sind weitere Kategorien wie „Situation", „Thema", „Grammatik" zuund nachgeordnet (vgl. ζ. B. die Lehrwerke Deutsch aktiv von Neuner/Schmidt/Wilms u. a. 1979ff., Themen von Aufderstraße; Bock/ Gerdesu. a. 1983ff.). Erziehungswissenschaftlich-didaktische Grundlage: Die Orientierung an emanzipatorischen, erziehungswissenschaftlichen und philosophischen Konzepten ist deutlich (vgl. Habermas 1971, Mollenhauer 1972). Die in vielen fremdsprachen-didaktischen Methoden üblichen frontalen - von manchen als autoritär

848 bezeichneten — Unterrichtsformen werden aufgegeben. An ihre Stelle treten Unterrichtsformen, die den Diskurs fördern, sozial integrativ sind und bei denen die Lernenden Unterrichts- und Übungsformen wie Gruppenunterricht, Projekt, Rollenspiel, Simulation, Planspiel mitbestimmen (vgl. ζ. B. Schifflers Konzept eines interaktiven Fremdsprachenunterrichts 1980). Sprachwissenschaftliche Grundlage: Auch das Konzept des kommunikativen Fremdsprachenunterrichts geht wie andere fremdsprachendidaktische Methoden auf Entwicklungen im Bereich der linguistischen Theoriebildung zurück. Im Unterschied zu vorher diskutierten linguistischen Beschreibungs- und Erklärungsansätzen (strukturalistische, kognitive Linguistik) stellte die kommunikative Linguistik (die linguistische Pragmatik) u. a. den Anspruch, über die Beschreibung und Erklärung von Strukturen und Regelsystemen der Sprache hinauszugehen und Funktionalität und Intentionalität von Sprache in konkreten Kommunikationssituationen mit in ihre Analyse einzubeziehen. Diese neue Betrachtungsweise innerhalb der linguistischen Forschung, bei der Sprechen als Form menschlichen Handelns definiert und analysiert wurde, hatte ihre Auswirkungen auf die Fremdsprachendidaktik. Mit der Rezeption des in der Linguistik entwickelten Begriffs „kommunikative Kompetenz" (Hymes 1972) fallt die Rezeption des gleichen in der Sozialphilosophie durch Habermas (1971) entwickelten Begriffs zusammen, dessen sich eine Reihe von Pragmadidaktikern bedienen (z.B. Piepho 1974). Das „Gemenge" von linguistischer und sozial-philosophischer Herleitung des Begriffs „kommunikative Kompetenz" und sein Gebrauch in der Fremdsprachendidaktik können nicht überzeugen (Melenk 1977). Lernpsychologisch-lerntheoretische Grundlage: Deutliche Aussagen von kommunikativen Fremdsprachendidaktikern sind nicht zu finden. Der häufig verwendete Begriff der „Lernorientierung" lässt vorsichtige Rückschlüsse auf lernpsychologisch-lerntheoretische Orientierungen zu. In natürlichen Spracherwerbssituationen beobachtete Handlungsweisen, rezeptive und produktive Strategien von Lernenden werden als Orientierungen für den gesteuerten Fremdsprachenunterricht benutzt. Sieht man sich die Übungstypologien in den

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

gängigen Lehrwerken an, lässt sich an behavioristische Konzepte denken. Ein Blick auf die Darstellung der Grammatik und auf Empfehlungen zum Umgang mit Grammatik lässt auf eine kognitive Orientierung schliessen. Eine gewisse Eindeutigkeit lässt sich in den Konzepten finden, die sich auf die Tätigkeitstheorie berufen. In ihnen wird die kognitive Orientierung deutlich und auch begründet. In den 80er und 90er Jahren hat sich die kommunikative Methode mit unterschiedlichen Akzentuierungen weiterentwickelt. Eine dieser Ausrichtungen ist unter dem Namen „kommunikativ-kognitive Methode" bekannt geworden, die Edmondson/House (1993, 115) mit dem Sammelbegriff „bewusste" Methode benennen, die „(zusammen mit einer generell kommunikativen Ausrichtung) vor allem für die ehemalige DDR, die ehemalige Sowjetunion und die übrigen osteuropäischen Länder kennzeichnend [sind]" und schon früh und parallel zur Entwicklung der kommunikativen Methode in westlichen Ländern konzipiert wurden. In ihnen — und das zeigt sich besonders deutlich in der zeitweise sehr umstrittenen „praktisch-bewussten Methode" Beljajevs, die u. a. von Leont'ev (1974) sprachpsychologisch und lerntheoretisch begründet und präzisiert wurde waren von Anfang an Bewusstmachungsprozesse auch unter Beachtung muttersprachlicher Strukturen ein fester Bestandteil innerhalb kommunikations-orientierter Vorgehensweisen, eine Einsicht, die westlichen Vertretern der kommunikativen Methode erst relativ spät kam, nachdem negative Erfahrungen mit einem rein kommunikativen Vorgehen gemacht worden waren, das vielfach Ähnlichkeiten mit Verfahren der direkten und audiolingualen Methode zeigte. Zu den sog. „postkommunikativen" Ausrichtungen (vgl. Scarcella; Oxford 1992; Wolff 1993, 1994) gehören u. a. auch konstruktivistisch und konnektionistisch begründete Ansätze, die von fremdsprachenerwerbsspezifischen Untersuchungen gestützt (vgl. auch Kap. 5) und bereits in Lehrwerken dokumentiert werden (vgl. „Die Suche" von Eismann/ Enzensberger/van Eunen u. a. 1993 ff. und „Moment mal" von Müller/Rusch/Scherling u. a. 1996). 4.8. Die interkulturelle Methode (IM) Nach Auffassung nicht weniger ist das Sprechen und Schreiben über eine interkulturelle Methode obsolet. Außer der Hervorhebung

86. Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache

der gezielten Betrachtung von Unterrichtsprozessen und -inhalten aus der Fremd- und Eigenperspektive bedeutet die interkulturelle Methode nichts grundsätzlich Neues. Dies trifft ζ. B. auf folgende Kennzeichnung zu: Besondere Bedeutung wird dem Verstehen beigemessen, was sich in der Ausarbeitung von Hör- und Leseverständnisstrategien niederschlägt; das Reden - über wird gleichberechtigt behandelt mit dem Reden - mit; fiktionale Texte werden, im Gegensatz zur Alltagsorientierung einiger Spielarten des kommunikativen Ansatzes, wieder Teil des Unterrichts; der thematische Vergleich - anstelle des intuitiven Vergleichens, das bei jedem Umgang mit Fremdem stattfindet —, der gerade nicht die Suche nach direkten Äquivalenten in der Ausgangskultur anstrebt, sondern Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausfindig machen will, erhält einen besonderen Stellenwert (Rosier 1994,197). Die interkulturelle Perspektivierung ist eine Fortsetzung der kommunikativen Methode mit der genannten Spezifik und reiht sich somit auch in die bisher wenig systematisierten postkommunikativen Ausrichtungen ein. Die theoretischen Begründungen sind bis auf die linguistischen eher vage und modisch aufgeputzt (zum Einstieg: Knapp-Potthoflf/Rnapp 1990; Buttjes 1991). DaF-Lehrwerke, die Fremdund Eigenperspektive beim Lernen explizit zusammenzubringen versuchen, sind ζ. B. „Sprachbrücke" von Mebus/Pauldrach/Rall u. a. 1987ÍT. und „Sichtwechsel" von Hog/ Müller/Wesseling 1984 ff. 4.9. Innovativ-alternative Methoden (iaM) Im Unterschied zur weitgehend kriterienorientierten Darstellung „klassischer" fremdsprachenspezifischer Methoden sollen die sog. innovativ-alternativen Methoden global charakterisierend und kritisierend auf der Basis einer mittlerweile umfassenden Literatur beschrieben werden, die auch reich an zusammenfassenden Darstellungen ist (u. a. Blair 1982; Bleyhl 1982; Königs 1983; Schwerdtfeger 1983; Müller 1989; Dietrich 1990; Henrici 1996). Neben anderen werden als „innovative" bzw. „alternative Methoden" immer wieder genannt: -

Comprehension Approach (CA) (u. a. Postowsky 1981; Winitz 1996) - Total Physical Response (TPR) (u. a. Asher 1977; Lovik 1996) - Natural Approach (NA) (u. a. Krashen/Terrell 1983; Tschiraer 1996)

849

— Community Language Learning (CLL) (u. a. Curran 1976) — Humanistic Approach (HA) (u. a. Galeyan (1977) — Sprachpsychodramaturgie!Psychodramaturgie linguistique (ΡDL) (u. a. Dufeu 1996) — Silent Way (SW) (u. a. Gattegno 1976) — SuggestopMielSuperlearning (SS) (u.a. Lozanov 1978; Ostrander/Schroeder 1982; Baur 1990, 1993, 1996) — Lernen durch Lehren (LdL) (u. a. Martin 1996) — Neurolinguistic Programing (NLP) (u.a. Hager 1996) — Freinet Pädagogik (FP) (u.a. Dietrich 1979; Schlemminger 1996) — TANDEM (vi. a. Herfurth 1996)

Neben der in der Literatur am häufigsten verwendeten Bezeichnung iaM gibt es eine Vielzahl weiterer Benennungen: unkonventionell (non-conventionelle), unorthodox, holistisch, ganzheitlich, neu, parallel (parallèle), komplementär, ergänzend, im angelsächsischen Raum: fringe, New Age, designer, new, revolutionary, spirited (zur Verwendung des Begriffs Methode in Abgrenzung zu anderen Begriffen vgl. Kap. 2). Kennzeichnungen: Angesichts der Vielzahl der einzelnen Ansätze und ihrer Varianten fallt es schwer, eine angemessene allgemeine Charakterisierung alternativ-innovativer Ansätze zu geben. In der einschlägigen Literatur finden wir durchgehend als übergreifende Kennzeichnungen: — Ganzheitlich („whole person"): Integration und Koordination von kognitiven kommunikativinteraktiven, emotionalen, körperlich-praktischen Lernaspekten und -bedürfnissen. — humanere Gestaltung des Fremdsprachenerwerbsprozesses durch „Erweiterung der Subjekt-Objekt-Beziehungen um die Dimension Subjekt-Subjekt, Subjekt-Umgebung und Subjekt-Lehrer, ein Anspruch, der hergeleitet wird aus humanistischer Philosophie und Psychologie sowie aus der integrativen, gestaltpsychologisch orientierten Pädagogik und vor allem durch Galeyans Confluent Education-Ansatz auf den Fremdsprachenunterricht in konkreter Form (Lehrkonzepte und Materialien) übertragen wird (Galeyan 1977), sich auch in der SS, im SW und im CLL-Ansatz wiederfmdet, — mit einer wirklichen Ausnahme (NA) und mit Einschränkungen (dem TPR-Ansatz) werden sprachwissenschaftlich-spracherwerbliche Begründungen nicht berücksichtigt (bzw. in naiver Form gegeben) zugunsten weltanschaulicher (SW), esoterischer (PDL), neurophysiologischer (SS), tiefen- und gruppenpsychologisch-dynamischer (SS, PDL, CCL) Begründungen. Betont werden u. a.: die Autonomie der menschlichen Persönlichkeit, seine Entfaltung und Erfüllung,

850 didaktisch: Ein schülerzentrierter Unterricht, nicht festgelegte sprachlich-interaktive Progressionen und Inhalte. — Schaffung eines vertrauensvollen Lernklimas, einer positiven die Kreativität der Lernenden fördernde, entspannte Lernatmosphäre (vgl. Stichworte wie „Lehrer als Helfer", als „fascilitator", „councellor": CCL, SW, SS), die Beseitigung von Lernhemmungen, verursacht durch negativ wirkende Affekte (z.B. Angst) oder durch Zwang zum frühen fremdsprachlichen Sprechen (vgl. dazu u. a. die Verstehensmethode CCL, TPR und auch den NA mit starken Bezügen zum LI-Spracherwerb. — Einbeziehung von non-verbaler und para-verbaler Elemente im Fremdsprachenunterricht: Gestik, Mimik, Suprasegmentalia, Musik, Entspannungsübungen, Räumlichkeit, spezifische Visualisierungen, ζ. B. in der Suggestopädie, im TPR, NA, Silent Way. Kritische Bewertungen: Die weiterhin anhaltende kritische Rezeption und Diskussion „alternativ-innovativer Methoden" ist nach wie vor geprägt von globalen und an einzelne Ansätze gerichteten Einwänden. Folgende kritische Punkte werden immer wieder genannt, ζ. T. auch auf bekannte im schulischen und ausserschulischen Kontext etablierte fremdsprachendidaktische Ansätze/ Methoden zutreffen: — Die Begriffe alternativ, innovativ sind unscharf und irreführend, weil sie als Abgrenzung zu den bekannten traditionellen Methoden untauglich sind. — Der Begriff Methode ist ungeeignet zur Kennzeichnung von Vorschlägen zur Verbesserung und Effektivierung des gesteuerten Fremdsprachenerwerbs, die nur Einzelelemente und Prinzipien von Unterricht betreffen, — mangelnde theoretische Begründungen gekoppelt mit unpräziser, teilweise kaum/nicht nachvollziehbarer „nebulöser" Begrifflichkeit innerhalb von vage formulierten Konzepten, — mangelnde empirische Überprüfungen und Evidenzen, eine Bewertung, die für einzelne Ansätze im Jahr 2000 nicht mehr gültig ist. — Proklamation von Neuheiten, die bereits vor/ um/nach der Jahrhundertwende intensiv diskutiert wurden, fremdsprachendidaktische Binsenwahrheiten sind und ζ. T. anders verpackt als brandneue Erkenntnisse angepriesen werden. Stichwort: „Alter Wein in neuen Schläuchen". Viele Vorschläge zu konkreten Vorgehensweisen im Unterricht sind weder innovativ noch alternativ. Sie sind aus der institutionalisierten Fremdsprachendidaktik und -methodik bekannt. — Streng genommen können allenfalls als innovativ bezeichnet werden: Unterstützung des Lernprozesses durch Musik, Entspannungsübungen und Raumgestaltung (SS), helfende Ubersetzer

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III (CLL), PDL, spezifische Lernmaterialien (SW), non-verbale Verständnissicherung (TPR), kooperatives/-selbstinitiiertes Lernen (Tandem, FP). — Die Reichweiten der Ansätze sind teilweise begrenzt: Beschränkung auf Intensivunterricht, Anfangsunterricht, ausserschulische Anwendungen, Kleingruppen, sprach-/kulturhomogene Lerngruppen. — Hervorhebung und Verabsolutierung von unterrichtsrelevanten Teilaspekten, die die institutionalisierte Fremdsprachendidaktik phasenweise vernachlässigt hat. — Mit Verweisen auf Paulo Freire/Freinet (vgl. Dietrich 1979) wird Kritik an der Beliebigkeit und Gehaltlosigkeit der Inhalte des Fremdsprachenlernens und der damit häufig einhergehenden Ausblendung gesellschaftlicher Probleme und naiven Vorstellungen von institutioneller Macht kritisiert. — Infantilisierung der Lernenden als Auslieferung an die Autorität des Lehrers verbunden mit „exotisch-abenteuerlichen Retzeptologien" (Müller 1989, 6) und manipulativ suggestiven Beeinflussungen des Unterbewusstseins der Lernenden (bes. ausgeprägt in SS: „positiv autoritärer Lehrer", TPR, SW), — naiv-beliebiger Umgang mit Normen auf den verschiedenen sprachrelevanten Ebenen. Damit verbunden: Verniedlichungen des Lernens von Fremdsprachen als einem komplexen, langfristigen Arbeitsprozess durch die Schlagworte wie: „Lernen im Schlaf, „Lernen leicht gemacht" u. ä., unter Vernachlässigung von Effizienzkriterien. Stichwort: „Schmusepädagogik" (G. H.). — Erweckung des falschen Eindrucks, es gäbe die Methode an Stelle von seriösen Hinweisen und Begründungen für die Beachtung von geprüften Prinzipien (vgl. dazu u. a. Brown 1994). — Propagierung von Methoden als Wundermittel, die sich gut verkaufen lassen und eine üppige Rendite erbringen (SS als Selbstlernprogramm), Methoden, die z. T. eher Rückfalle hinter didaktisch-methodische Errungenschaften bedeuten. Dieser Propagierung liegt eine „Sündenbock"Darstellung des herkömmlichen Fremdsprachenunterrichts zu Grunde. — Widersprüche und Ambivalenzen zwischen der Konzeptionsdarstellung und der Realisierung in der Praxis, — Gefahr der Generalisierung von Einzelbeobachtungen an Stelle von systematischen empirisch geprüften Ergebnissen. — Gefahr der Überschätzung von Lerneraktivität und -selbsttätigkeit. — Vernachlässigung von gründlichen kommunikativ-sprachlichen Analysen z. B. zu Lernproblemen. Bilanzierung·. Versucht man vor dem Hintergrund der vielen Einzeldarstellungen und entsprechender kritischer Einwände eine vorsichtige Bilanz zu ziehen, scheint es mittler-

851

86. Methodische Konzepte für Deutsch als Fremdsprache

weile allgemein akzeptiert zu werden, bestimmte Elemente und Prinzipien, die von den sog. iaM propagiert werden, in die gängigen didaktisch-methodischen Konzepte des Fremdsprachenlernens und -lehrens zu integrieren und damit „Zwei-Welten-Theorien" aufzugeben.

5.

Prinzipien statt Methoden

Die Geschichte der Fremdsprachendidaktik hat gezeigt, dass die Anwendung geschlossener Methodenkonzepte in der Praxis immer wieder gescheitert ist. Auch die Versuche, Methoden auf ihre Überlegenheit gegenüber anderen Methoden zu untersuchen, sind fehlgeschlagen — u. a. deshalb, weil weder die im Lernenden ablaufenden Prozesse noch die zwischen Lehrenden und Lernenden sich ablaufenden Interaktionen bei diesen Untersuchungen von Interesse waren. Nach Auffassung der Sprachlehrforschung und affiner Disziplinen sollte das Bemühen fremdsprachendidaktischer Forschung deshalb eher darauf gerichtet sein, diese Prozesse theoriegeleitet und empirisch zu untersuchen, als ohne ausreichende Grundlage weiterhin mehr oder weniger plausible „methodische" Vorschläge zu machen. Wenn diese trotzdem als unverzichtbar erachtet werden, sollten sie mit den entsprechenden Vorbehalten versehen und nicht als Wahrheiten verkauft werden. Als realistischer, d. h. auch einer wissenschaftlichen Überprüfung zugänglicher, wird eine Vorgehensweise angesehen, die bestimmte eingeschränkte und definierbare Verfahren beim Fremdsprachenerwerb vergleichend überprüft, die in der Praxis zu beobachten sind und Probleme bereiten. Aus diesen Überprüfungen, die Erkenntnisse aus den für den Fremdsprachenerwerb relevanten Wissenschaften mit einbeziehen müssen, und aus deren Ergebnissen werden Prinzipien abgeleitet, die als Orientierungen für Vorgehensweisen im Fremdsprachenunterricht gelten können. Beispielhaft seien genannt: lerner-, erfahrungs-, bedürfnis-, realitäts-, reflexions-, handlungs-, prozessorientiert, kooperativ, interaktiv, inhalts-, aufgabenbezogen, ganzheitlich, kognitiv-bewusst, autonom-individuell (vgl. dazu u. a. Henrici/Herlemann 1986, 290ff.; Brown 1994, 80-83; Wolff" 1994, 423-427). Diese Prinzipien haben durch ihren hohen Allgemeinheitsgrad den Vorzug, an spezifische Lernsituationen angepasst werden zu können. Dass diese Prinzi-

pien so allgemein gefasst werden müssen eine Debatte um „Prinzipien" und „Methoden" ist nicht neu (vgl. z. B. Butzkamm 1982; Sauer 1982) - liegt in der Tatsache begründet, dass es bisher kaum gesichertes Wissen darüber gibt, was in einzelnen Bereichen des Fremdsprachenunterrichts mehr oder weniger zuverlässig empfehlenswert wäre. Die Formulierung von Prinzipien ist auch deshalb von Interesse, weil sie den jeweiligen, massgeblich durch die aktuell relevanten Referenzwissenschaften bestimmten, Wissensstand wiedergeben.

6.

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(Deutschland)

854

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

87. Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache 1. 2.

5. 6.

Vorbemerkung Methodische Konzepte im vorschulischen und schulischen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache Methodische Konzepte im außerschulischen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache Methodische Konzepte im Unterricht Deutsch für ausländische Arbeitnehmer Übergreifende methodische Konzepte Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkung

3. 4.

Die Ausführungen zu den methodischen Konzepten Deutsch als Fremdsprache (vgl. Art. 88) gelten in ihren grundsätzlichen Angaben und Definitionen weitgehend auch für den Bereich Deutsch als Zweitsprache, da sie Teil einer allgemeineren Sprachlehrforschung sind. Dennoch ist es nötig, methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache hiervon abzugrenzen, die für unterschiedliche Arbeitsgebiete in Deutsch als Zweitsprache in der im Vergleich zu Deutsch als Fremdsprache deutlich kürzeren Geschichte dieser Disziplin entwickelt wurden, ohne hier jedoch die einzelnen Schritte von der GrammatikÜbersetzungs-Methode bis zur kommunikativen Methode, die Deutsch als Zweitsprache mit Deutsch als Fremdsprache teilt, noch einmal darzustellen. Deutsch als Zweitsprache wird in diesem Artikel (vgl. Art. 62); vgl. auch Rosier (1994, 5 ff.) begrenzt auf Unterricht in der deutschen Sprache für Lernende anderer Muttersprachen im deutschsprachigen Gebiet (vorwiegend aus der Bundesrepublik Deutschland). Wir halten es zwar für gerechtfertigt, auch in bilingualen Sprachprogrammen mit Deutsch im nichtdeutschsprachigen Ausland bzw. in Grenzregionen oder zweisprachigen Gebieten den Begriff Deutsch als Zweitsprache zu verwenden, klammern solche Konzeptionen jedoch weitgehend aus. Der Unterricht in Deutsch als Zweitsprache ist nach dieser Definition nicht auf den Unterricht in der Schule begrenzt, sondern bezieht sowohl den vorschulischen Bereich wie auch außerschulische Bildungsarbeit wie Hausaufgabenhilfen oder Jugendarbeit ein. Ein wesentliches Kriterium zur Abgrenzung zu Deutsch als Fremdsprache ist der langfristige Lebensmittelpunkt im deutschsprachigen Raum. Die von Glück (1991, 12 ff.) gezogene Trennlinie zwischen Deutsch für Nichtdeutsche im Inland und im Ausland ist im Er-

wachsenenbereich schwieriger zu ziehen als im Schul- und Jugendbereich, da Deutsch als Fremdsprache traditionellerweise den Unterricht in Deutsch für ausländische Studierende umfasst wie auch die meisten Erwachsenenkurse, z.B. die von Goethe-Instituten, den Deutschen Volkshochschulen oder privaten Sprachschulen angebotenen. Lediglich ein Sektor aus dem Erwachsenenbereich nimmt eine Sonderstellung ein und wird in seinen methodischen Ansätzen hier behandelt werden: Deutsch für ausländische Arbeitnehmer (DfaA). „Methodische Konzepte" verstehen wir hier ausschließlich als solche eines institutionellen Unterrichts, auch wenn dieser sehr unterschiedliche Organisationsformen haben kann, beziehen jedoch natürlichen Spracherwerb, für den Lernende ja durchaus auch Konzepte und Methoden entwickeln können, nicht ein.

2.

Methodische Konzepte im vorschulischen und schulischen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache

Deutsch als Zweitsprache für Kinder nichtdeutscher Muttersprache ist ein aus der Praxis entstandenes Fach, das - oft auch unter der irreführenden Bezeichnung Deutsch als Fremdsprache — durch die zunehmende Einschulung von Kindern aus Arbeitsmigrantenfamilien ab Ende der 60er Jahre nötig wurde. Demzufolge blieb zunächst kaum Zeit, eigene Konzepte zu entwickeln, so dass es zur Übernahme von Konzepten sowohl des Muttersprachlichen Deutschunterrichts wie auch des Fremdsprachenunterrichts kam bis schließlich eine Abgrenzung und die Entwicklung eigener Methoden erfolgte (vgl. auch Reich 1980, 152ff.). Insbesondere in den frühen Vorbereitungsklassen (vgl. unten) fanden Lehrkräfte eine Lehrsituation vor, die wenig durch Lehrpläne, Konzepte oder Materialien vorstrukturiert war, so dass sich gerade in diesen Freiräumen kreativer Umgang mit der neuen Situation ergab, durch den beispielsweise projektorientiertes Lernen, Lernen in realen Situationen durch Lerngänge und eigenständiges Lernen weiterentwickelt wurde (vgl. Bohn 1982 für ein Beispiel; zur Thematik insgesamt vgl. auch 5.). Der Unterricht in Deutsch als Zweitsprache gehört wie der Unterricht in der

87. Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache Erstsprache der Kinder nichtdeutscher Muttersprache zu den Zusatzangeboten, die zusätzlich zum regulären Unterricht oder anstelle eines Teils dieses Unterrichts erteilt werden. Mit beiden wird einer EG-Richtlinie von 1977 (Der Rat der Europäischen Gemeinschaft 1977) Genüge geleistet, die - wie mehrere Europarats-Empfehlungen — für die Kinder von Migranten sowohl die volle Teilhabe am Schulunterricht des Aufnahmelandes wie auch die Möglichkeit der Pflege der Herkunftssprache und -kultur fordert. Da in der Bundesrepublik Deutschland die deutsche Sprache weitgehend unhinterfragt Unterrichts- und Schulsprache ist, kommt der Förderung des Zweitsprachenerwerbs entsprechende Bedeutung zu, die damit zugleich weitgehend auf die Teilhabe am deutschsprachigen Schulunterricht ausgerichtet ist und mögliche andere Ziele wie beispielsweise die Ausbildung von Zweisprachigkeit — in Koordination mit dem Erstsprachenunterricht — wenig beachtet. Unterricht in Deutsch als Zweitsprache wird für Seiteneinsteiger und Kinder mit geringen Deutschkenntnissen erteilt sowie für Schüler und Schülerinnen, die aufgrund ihrer geringen Deutschkenntnisse Schwierigkeiten im deutschsprachigen Regelklassenunterricht haben. Dabei handelt es sich im Allgemeinen um Kinder von Migranten- wie auch aus Aussiedlerfamilien (vgl. Glumpier 1992, 10 ff. zu Unterrichtsangeboten für Aussiedlerkinder). Die Entwicklung und Übertragung von methodischen Konzepten für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache ist unmittelbar von der Organisationsstruktur dieses Unterrichts beeinflusst worden, der in vielen Fällen deutlich von einer Klassenverbandsstruktur abweicht, indem in den Förderunterricht ebenso wie in Intensivunterricht Schüler aus mehreren Klassen geschickt werden oder indem mit Vorbereitungsklassen in Schulen ebenso wie in beruflich-sozialen Eingliederungskursen völlig neue Organisationsstrukturen entstanden, in denen soziales Lernen neben dem sprachlichen eine große Rolle spielt(e), so dass Lernformen ebenfalls gelehrt wurden. Auch für den Gebrauch und die Rolle der Herkunftssprache der Lernenden war die Organisationsform nicht unbedeutend, denn kontrastive Konzepte konnten beispielsweise vorwiegend nur in sprachhomogenen Gruppen entwickelt werden (vgl. auch 5.7.). Eine zweite Einflussgröße ist die im Vergleich zum Fremdsprachenunterricht unge-

855 wohnte Lernsituation, die einerseits sofortige sprachliche Handlungsfähigkeit erfordert und andererseits einen erheblichen vom Sprachunterricht nicht beeinflussten Spracherwerb mit sich bringt. Hieraus ist zum einen die Handlungsorientierung ebenso zu erklären wie die Entwicklung situativer Unterrichtskonzepte und zum anderen die Entwicklung von Konzepten zur Einbeziehung ungesteuerten Sprachlernens (vgl. Luchtenberg 1991, 66ff.). Hinzu kommt das Unterrichtsziel als Einflussgröße, das in möglichst kurzer Zeit die Teilnahme am Regelunterricht in Deutsch vorsieht und infolgedessen auch Fachunterricht und Fachsprache einbeziehen muss (vgl. z.B. Fluck 1992, 142fT.; Luchtenberg 1989 sowie schon Funk 1983, 7fT.). Konzepte fachsprachlicher Sprachvermittlung in Deutsch als Zweitsprache haben allerdings vor allem im Berufsschulsektor und Maßnahmen zur beruflich-sozialen Eingliederung von jugendlichen Seiteneinsteigern Bedeutung gewonnen, in denen bevorzugt projekt- und handlungsorientiert unterrichtet wird (vgl. StitzAVeber 1985, 50ff.). 2.1. Organisation und Methoden: Schulfach und Förderunterricht Der Unterricht in Deutsch als Zweitsprache leidet nach wie vor darunter, kein etabliertes Schulfach zu sein, sondern organisatorisch unzureichend in den Unterricht integriert und inhaltlich zwischen schneller Hinführung auf den Regelunterricht und „Nachhilfe" angesiedelt zu sein (vgl. Neuner/Glienicke/ Schmitt 1998). Dies lässt sich an seiner Bedeutung für die Beurteilung von Schülern ebenso wie an der Lehrwerkssituation ablesen oder daran, dass es in den meisten Bundesländern eine Lehrbefahigung in Deutsch als Zweitsprache nur in einem Zusatzstudium, nicht aber in einem Fachstudium erworben werden kann. Zugleich sollte aber nicht übersehen werden, dass eine solche offene Organisationsform auch Chancen einräumt, da aufgrund der vielfältigen Unterrichtsformen für Deutsch als Zweitsprache nur zum Teil Lehrpläne vorhanden sind bzw. vorhandene Lehrpläne nur allgemeine Rahmenbedingungen und Grobziele abstecken. Die Möglichkeiten, Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten, sind demzufolge vielfaltig. Insbesondere der Unterricht in Intensivkursen und im Förderunterricht kann nach Stundenzahl, Organisationsform und Inhalt unterschiedlich angelegt sein. Eckstunden als Zusatzunterricht werden oft als Unterrichts-

856 begleitender Unterricht in Form eines antizipierenden oder nachbereitenden Förderunterricht erteilt, wobei die enge Orientierung am Deutschunterricht der Regelklasse häufig auch zu einer Übernahme der Methoden des muttersprachlichen Deutschunterrichts führt (vgl. Sandfuchs 1987, 12ff.). Anstelle eines in die Eckstunden verlegten Förderunterrichts werden die Kinder zum Teil auch aus dem regulären Unterricht herausgenommen und entweder in einem parallelen Deutschunterricht oder aber anstelle von Fächern, die als weniger relevant angesehen werden, in Deutsch als Zweitsprache unterrichtet. Dieses Pull-Out Verfahren erfordert in noch stärkerem Maße als der unterrichtsbegleitende Förderunterricht eine Orientierung am Regelklassenunterricht, wenn er parallel zu Deutsch stattfindet, so dass auch hier Methoden des muttersprachlichen Deutschunterrichts dominieren. Damit wird deutlich, dass eine systematische Vermittlung des Deutschen als Zweitsprache aus organisatorischen Gründen vorwiegend in Intensivkursen und Vorbereitungsklassen stattfindet, jedoch auch im Förderunterricht möglich ist, wenn er sich weniger unterrichtsbegleitend versteht. Eine weitere Form von unterrichtsbegleitendem Unterricht als Zweitsprachenunterricht ist TeamTeaching, das jedoch in Deutschland im Gegensatz zu Großbritannien oder auch Österreich kaum versucht wird (vgl. Peklo 1986, 545ff.). Hier können beide Lehrkräfte den Unterricht gemeinsam gestalten und durch Rollenspiele oder Aufgabenteilungen im mediengestützten Unterricht das Lernen der zweiten Sprache unterstützen. Die Klassen können auch geteilt werden, so dass Kleingruppenarbeit möglich wird; es können insbesondere in Phasen der selbständigen Schülerarbeit Hilfestellungen geleistet werden oder die Zweitsprachenlehrkraft kann mit einem oder zwei Schülern individuell den Unterrichtsstoff durcharbeiten. Zu beachten ist hier, dass TeamTeaching in der Regelklasse stattfindet, während alle anderen Formen von Deutsch als Zweitsprache ausschließlich von nichtdeutschen Schülern besucht werden (vgl. 2.2.). In Vorbereitungsklassen findet sich eine Reihe unterschiedlicher Methoden des Unterrichts, die von einem projekt- und handlungsorientierten Unterricht und Formen Offenen Unterrichts bis hin zu einem lehrbuchgeleiteten Unterricht reichen. Trotz des in kurzer Zeit zu erreichenden hohen Lernziels erlaubt

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

es der weitgehend gegebene Freiraum der Gestaltung engagierten Lehrkräften, Konzepte auszuprobieren und weiterzuentwickeln. 2.2. Integrativer Deutschunterricht/ Interkultureller Deutschunterricht Aus Sicht der Schüler nichtdeutscher Muttersprache ist auch der Regelklassenunterricht in Deutsch Zweitsprachenunterricht. Demnach sind Methoden integrativer Konzepte für Deutsch als Zweitsprache anzustreben, was jedoch erst in einigen Aufsätzen aufgegriffen wurde und der weiteren didaktischmethodischen Umsetzung bedarf. Das von Hegele/Pommerin (1983) entwickelte Konzept eines verständigungsorientierten und erfahrungsentfaltenden Deutschunterrichts hat eine Reihe von Impulsen gesetzt, zumal verdeutlicht wurde, dass deutsche Kinder von einem solchen Unterricht ebenfalls profitieren, da sich ihr Sprachwissen erhöht. Auch in diesem Ansatz wird davon ausgegangen, dass Situationen eine grundlegende Größe im Sprachunterricht darstellen müssen, wobei für jede Situation eine Vielzahl kommunikativer Strategien wie Sprachmittel nötig und möglich sein können. Im Mittelpunkt dieses Konzepts stehen authentische Texte, die in der gemischten Lerngruppe besprochen und mit Hilfe von operationalen Verfahren sprachlich und inhaltlich erweitert werden. Diese Konzeption findet sich ansatzweise in den Methoden des kreativen Schreibens in gemischten Klassen wieder, in denen nicht nur das fertige Produkt zum Ausgangspunkt für sprachliches Lernen genommen wird, sondern vielmehr der Produktionsvorgang, das Schreiben sowie auch das Erzählen ζ. B. zu einem Bild, im Mittelpunkt stehen (vgl. Pommerin 1996). Beide Konzeptionen zeichnen sich dadurch aus, dass für die Schüler zunächst der Inhalt im Vordergrund steht, zu dem das Sprachlernen nur das nötige Rüstzeug vermittelt. Dies gilt auch für das von Steinig (1988, 372ÉF.) vorgeschlagene partnerschaftliche Lernen im Zweitsprachenunterricht, in dem Schüler sich über ein — meist von der Lehrkraft vorgegebenes Thema, ein Bild oder eine Geschichte — unterhalten und dabei auch sprachliche Fragen klären, die aber aus Schülersicht zum Inhalt gehören. Partnerschaftliches Lernen lässt sich nach Steinig (1988, 393ÍT.) in unterschiedlichen Sprachlernkonstellationen anwenden, aber die je besonderen Bedingungen müssen von der Lehrkraft sorgfaltig bedacht und angeleitet werden.

87. Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache

Integrativer Deutschunterricht ist zur Zeit noch kein fest gefügtes und etabliertes Konzept, sondern besteht aus unterschiedlichen Versuchen, der Tatsache gerecht zu werden, dass der Deutschunterricht für die Schüler nichtdeutscher Muttersprache Zweitsprachenunterricht ist und daher besonderen Bedingungen unterliegt (vgl. Luchtenberg 1998). Neben differenzierenden Maßnahmen finden sich vor allem Versuche, den Lehrplan Deutsch so umzusetzen, dass auch die Lernbedingungen der Zweitsprachenlerner berücksichtigt werden, indem zum Beispiel sprachliche und kulturelle Fragen geklärt werden, Grammatikregeln nicht nur aus Sicht von Muttersprachlern vermittelt werden oder kontrastive Aspekte einbezogen werden. Hierzu können auch Versuche des spielerischen Umgangs mit Grammatik gezählt werden, indem Lieder oder Poesie einbezogen werden (vgl. etwa Belke 1999). Besondere Anforderungen stellt der Anfangsunterricht in Deutsch, in dem Lesen und Schreiben gelehrt und gelernt werden soll, wenn er zugleich integrativer Deutschunterricht ist. Zwar werden in verschiedenen Bundesländern hier auch andere Konzepte der zweisprachigen Alphabetisierung - erprobt, doch bleibt in den meisten Grundschulanfangsklassen die Aufgabe bestehen, Kinder mit heterogenen Deutschkenntnissen und unterschiedlichen Erstsprachen in der deutschen Sprache lesen und schreiben zu lehren. Auch hier werden methodische Konzepte betont, die durch ihre Handlungsorientierung die Funktion des Lesens und Schreibens in den Mittelpunkt rücken, die in beiden Sprachen gegeben ist. Zwar ist die Bedeutung der Fachsprachen wohl inzwischen weitgehend bekannt, doch führt dies nicht ohne weiteres zu einer Veränderung des Unterrichts dahingehend, dass einerseits bereits in der Grundschule Fachsprachenförderung einsetzt (vgl. Luchtenberg 1989) und andererseits im Fachunterricht der Sekundarstufen auch Sprachunterricht erfolgt. Im Gegensatz zu Deutsch als Zweitsprache, in dem die Verbindung von Sachund Sprachlernen durchaus thematisiert wird, fehlen hierfür allerdings bis auf das Konzept der Textentlastung auch didaktischmethodische Ansätze für den Regelunterricht und ihre Verbreitung in Lehreraus- und -fortbildung. Textentlastung ist ein methodisches Prinzip nicht nur des Deutsch- oder Fachunterrichts, sondern in allen Fächern anwendbar. Die Grundidee ist zunächst die der

857 Vereinfachung von Texten, die im Unterricht vorkommen; hierzu dient eine Fülle von Methoden wie unterschiedliche Formen der Vorinformation bzw. der Aktivierung des Vorwissens durch Gespräche, Medien oder Diagramme zum Thema; Markierungen des Originaltexts; Gliederungen des Originaltexts; vereinfachte Paralleltexte; Tabellen oder Worterläuterungen; Visualisierungen oder Tabellen zur Erläuterung des Inhalts, etc. So nützlich diese Erleichterungen sich auch erwiesen haben, so drängend bleibt doch das Problem, dass letztlich alle Schüler mit dem Originaltext arbeiten können sollen, so dass insbesondere die weiteren Aufgaben von Bedeutung sind, mit deren Hilfe die Lernenden zur Selbsthilfe angeleitet werden sollen (vgl. Neuner/Krüger/Grewer 1981,47 ff.). Erst die jüngeren Konzeptionen eines integrativen Unterrichts in Deutsch als Zweitsprache haben zur Überwindung einer vermeintlichen Aufteilung zwischen ausländerpädagogischen Aufgaben in Deutsch als Zweitsprache (das heißt Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Migrantenkindern) und interkulturellem Lernen im Regelklassenunterricht (das heißt Aufgreifen von sprachlichen und kulturellen Aspekten entsprechend der Erfahrungen aller Kinder) geführt, wobei eine solche Aufteilung keine Begründung in Interkultureller Erziehung findet, nach der vielmehr interkulturelles Lernen in jedem Unterricht - also auch in Deutsch als Zweitsprache — möglich ist und in kindorientierter Vorgehensweise auch Sprachförderung Teil des interkulturellen Regelunterrichts ist. Interkultureller Unterricht versucht dies in Regelklassen durch verschiedene methodische Konzeptionen zu verwirklichen: Sprachsensibilisierung (Language Awareness, vgl. 5.8.); Einbeziehung von Migrantenliteratur (vgl. Rösch 1995); Berücksichtigung von unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Vorerfahrungen (vgl. Luchtenberg 1995, 97ff.). Hierzu ist auch der von Oomen-Welke (1991, 6ff.) entwickelte Ansatz zu zählen, in dem von der bestehenden Deutschdidaktik ausgegangen wird, diese jedoch offener gestaltet wird im Sinne einer differentiellen Didaktik, die vor allem durch eine thematische Erweiterung, die auch Sprache einbezieht, interkulturell verändert wird. In der Weiterentwicklung ergibt sich hieraus durch Berücksichtigung der sprachlichen Vielfalt ein Konzept der Mehrsprachigkeitserziehung im Deutschunterricht.

858 2.3. Fächerübergreifender Unterricht Integrativer Unterricht in Deutsch als Zweitsprache kann auch als Versuch gewertet werden, der Tatsache gerecht zu werden, dass aus Sicht der Schüler, die Deutsch als zweite Sprache lernen, jeglicher Unterricht neben Fachunterricht auch Unterricht in Deutsch als Zweitsprache ist. Allerdings gilt dies natürlich nicht nur für das Fach Deutsch, sondern für alle anderen Fächer im gleichen Maße. Der Deutschunterricht zeichnet sich lediglich dadurch aus, dass er die gleichen oder ähnliche Inhalte wie der Unterricht in Deutsch als Zweitsprache vermittelt und zudem didaktisch-methodisch dem Zweitsprachenunterricht ohne Zweifel näher steht als Sport oder Physik. Bereits Deppner (1989, 216 ff.) hat die Forderung erhoben, dass der Charakter aller Fächer als Zweitsprachenunterricht in der Lehrerausbildung ebenso wie in den Lehrplänen berücksichtigt werden müssen, so dass etwa Konzepte der Textentlastung, der Wortschatzvermittlung, des Gebrauchs von Wörterbüchern oder des Sprachvergleichs auch Teil der jeweiligen Fächer werden würden. Über dieses überaus anstrebenswerte Ziel hinaus lässt sich jedoch dann noch nach Möglichkeiten eines fächerübergreifenden Konzepts fragen, in dem Sprachen- und Sachlernen besser miteinander koordiniert werden als dies bislang der Fall ist. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei einerseits die Möglichkeiten der Kooperation zwischen den Sprachfachern untereinander und andererseits die einer facherübergreifenden Fachsprachenvermittlung (vgl. auch Fluck 1992, 33ff.). Sprachunterricht zu koordinieren bedeutet der Spracherwerbssituation der Kinder zu entsprechen, für die ihr Spracherwerb Deutsch nicht auf den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache begrenzt ist, die aber auch im Englischunterricht auf die anderen ihnen bekannten Sprachen zurückgreifen. Wenn in Nordrhein-Westfalen beispielsweise versucht wird, den Muttersprachlichen Ergänzungsunterricht mit dem Deutschunterricht zu koordinieren, so könnte dieses Konzept durch die Einbeziehung des Unterrichts in Deutsch als Zweitsprache, aber auch der weiteren Sprachfacher wie Englisch zu einem solchen facherübergreifenden methodischen Konzept der Sprachvermittlung werden (vgl. auch Böcker/Thürmann 1991, 70ff.). 2.4. Bilinguales Lernen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache wird in der Bundesrepublik fast ausschließlich als

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Unterricht in der einen Sprache Deutsch angeboten, jedoch kaum in konzeptioneller Verbindung mit der Erstsprache als bilinguales Lernen. Auch das - auslaufende - sogenannte Bayrische Modell der zweisprachigen Erziehung ist kaum koordiniert und kann daher nicht als bilinguales Konzept angesehen werden (vgl. auch schon Boos-Nünning 1981, 40ff. zur Kritik hieran). Dies ist jedoch nicht grundsätzlich in einer Methodik des Zweitsprachenunterrichts angelegt wie einerseits die Beispiele aus der Vorschulerziehung (vgl. 2.6.) belegen, aber andererseits auch an vielen Beispielen aus dem Ausland zu erkennen ist (vgl. beispielsweise für die EU Reich/ Reid 1992, 134ff.). Es gibt allerdings auch einige neuere Ansätze in der Bundesrepublik, die als bilinguale Erziehung mit einem Anteil in Deutsch als Zweitsprache gewertet werden können. Hierzu gehören die Konzepte zweisprachiger Alphabetisierung vor allem in Berlin sowie weitere Modellversuche zu zweisprachigem Unterricht in Berlin (vgl. z.B. Harnisch 1993, 63ff.). In beiden Bereichen wird versucht, bilinguale Erziehung nicht als ein separates Schulmodell für Migrantenkinder zu verstehen, sondern in den Regelklassenunterricht zu integrieren (vgl. Art. 63). 2.5. Lehrwerke Unterrichtsmaterialien für den Unterricht in Deutsch als Zweitsprache gab es zu Beginn der ersten Einschulungen von Migrantenkindern bekanntlich ebenso wenig wie eine Didaktik oder Methodik, so dass zunächst Lehrbücher für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache im Ausland adaptiert wurden. Die unbefriedigende Situation auf dem Lehrbuchmarkt wie auch die Heterogenität der Klassen und Lerngruppen dürfte die Entwicklung lehrereigener Unterrichtsmaterialien stark unterstützt haben, die ζ. T. auch als „Graue Materialien" oder über Zeitschriften Vorbereitung fanden. Auch die Landesinstitute, andere pädagogische Einrichtungen und Organisationen brachten Unterrichtsmaterialien heraus, die sich leichter als Lehrbücher der jeweiligen Unterrichtssituation anpassen ließen. Die meisten Lehrbücher im Bereich Deutsch als Zweitsprache erwiesen sich demgegenüber als weitaus weniger flexibel, da sie - überwiegend bei Null-Kenntnissen ansetzen, während die meisten Schüler/innen über einige Deutschkenntnisse verfügen - weitgehend die Einbeziehung außerhalb des Unterrichts erworbener Kenntnisse nicht vorsehen

859

87. Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache

— überwiegend nicht auf die Herkunftssprachen der Kinder eingehen - oft eine sehr geringe Progression aufweisen und nicht oder kaum auf Fachsprache hinarbeiten, die wiederum im Schulunterricht eine ausschlaggebende Größe für Erfolg ist. Außerdem fanden die in Deutsch als Fremdsprache entwickelten Lehrbücher, die eine kommunikativ-pragmatische Präsentation mit anspruchsvoller Grammatikprogression verbinden, kaum Entsprechungen in Deutsch als Zweitsprache, so dass die meisten Lehrbücher hier einerseits inhaltlich weitgehend trivial in Alltagskommunikationen verhaftet bleiben, aber diese oft in einer nicht kommunikationsüblichen Weise grammatikbezogen präsentieren. 2.6. Deutsch als Zweitsprache im Kindergarten Da der Kindergartenbesuch freiwillig ist und daher nur von einem Teil der Kinder nichtdeutscher Muttersprache wahrgenommen wird (bzw. wahrgenommen werden kann), liegt der Schwerpunkt der institutionellen Unterweisung in Deutsch als Zweitsprache für Kinder in der Schule. Die Vorschulerziehung hat jedoch einen beachtlichen Beitrag zur - auch methodischen - Entwicklung von Deutsch als Zweitsprache geleistet. Hier lassen sich drei Schwerpunkte erkennen: Deutschlernen als Teil von Zweisprachigkeitserziehung, Deutschlernen zusammen mit deutschen Kindern und schließlich situationsorientiertes Deutschlernen (vgl. hierzu Heuchert 1989,69ff.; Puhan-Schulz 1984, 65ff.; Staatsinstitut für Frühpädagogik 1985, 43 ff.). Insbesondere mit der Einsicht, dass Unterricht in Deutsch für Kinder nichtdeutscher Muttersprache ein Weg zur Zweisprachigkeit bedeutet, der allerdings einer auch konzeptionellen Förderung bedarf, war die Vorschulerziehung der schulischen Erziehung voraus. Bilinguale und bilingual-bikulturelle Modelle versuchen, diesen Weg strukturell zu ebnen, indem einerseits Kinder einer Sprachgruppe den Kindergarten zusammen mit deutschen Kindern besuchen und andererseits eine Erzieherin aus dieser Sprachgruppe die Kinder zusammen mit der deutschen Erzieherin betreut. Im Mittelpunkt der gezielten Sprachförderung steht hier die Herkunftssprache der Migrantenkinder, die teilweise auch den deutschen Kindern gelehrt wird. Die Vermittlung des Deutschen als Zweit-

sprache ist eher kommunikativ und handlungsorientiert in Situationen angesiedelt (vgl. auch Staatsinstitut 1985, 23ff. für die bayerische Variante). Hier liegt zum Teil die Vorstellung zugrunde, dass der frühe Zweitspracherwerb dem Erstspracherwerb angeglichen werden soll, so dass methodische Konzeptionen für die Vermittlung des Deutschen als Zweitsprache vorrangig in der Sicherstellung eines sprachanregenden Umfelds und der konsequenten sprachlichen Förderung in allen Aktivitäten des Kindergartenlebens besteht, nicht jedoch in unterrichtsähnlichen Phasen (vgl. Heuchert 1989, 90).

3.

Methodische Konzepte im außerschulischen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache

Außerschulisch spielt Deutsch als Zweitsprache vor allem in der Jugendarbeit und in verschiedenen Fördereinrichtungen eine Rolle, von denen Kindertagesstätten und Hausaufgabenhilfen zwar mit dem schulischen Unterricht eng verknüpft sind, da sie auf ihn hinarbeiten, aber andererseits in ihren Methoden freier sind. Ein gewisses Problem ist die zum Teil fehlende Professionalität der Betreuer, die die Möglichkeiten der vielfaltigen Wahl an Methoden unter Umständen wieder einschränkt, da diese gar nicht bekannt sind eine Problematik, die auch für Deutsch als Zweitsprache im Kindergartenbereich zum Teil zutrifft, da Erzieher im Allgemeinen nur über eine geringe sprachdidaktische Ausbildung verfügen, die aber im Rahmen der Institution Kindergarten leichter durch Fortbildung aufgehoben werden kann als im außerschulischen Bereich. Eine Ausnahme stellt etwa das Förderkonzept der Universität Essen dar, in dem die Ausbildung angehender Lehrkräfte mit dem Förderunterricht, der auch Deutsch als Zweitsprache umfasst, verbunden ist (vgl. ζ. B. Kalaitzidou 1996). Ein Beispiel für ein umfassendes Förderprogramm für Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache ist das Denkendorfer Modell, in dem ausgehend von einem aus der Gemeinde Denkendorf erwachsenen Konzept der sprachlichen Förderung in ganz Baden-Württemberg Sprachhelfer nach einer kurzen Ausbildung vor allem in Kindergärten, Schulen und Hausaufgabenhilfen tätig waren. Als methodischer Leitfaden diente der situative Ansatz aus der Kindergartenpädagogik. Hausaufgabenbetreuung war in weiten Teilen eine von

860

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Initiativgruppen übernommene Arbeit, die sich neben Sprachvermittlung vor allem auch sozialpädagogischen und politischen Zielen verpflichtet wissen. Die methodischen Konzepte von Schule und Initiativgruppen können daher nicht immer übereinstimmen (vgl. Wurm-Steffen/Steffen 1981, 209ff.). Außerschulischer Unterricht in Deutsch als Zweitsprache ist auch Bestandteil der Hauptschulabschluss-Lehrgänge, die vor allem für Jugendliche nichtdeutscher Muttersprache in Volkshochschulen angeboten werden. Auch hier finden wir die Situation, dass schulische Bedingungen - der Hauptschulabschluss den Kurs zwar prägen, ihm aber zugleich wesentlich mehr methodische und didaktische Möglichkeiten belassen, da er im außerschulischen Kontext angesiedelt ist. Dies zeigt sich etwa in der Lebens- und Arbeitsweltorientierung — also einer situativen Methode ebenso wie integrativer sozialpädagogischer Arbeit (vgl. Meisel 1983, 56 ff.). Deutsch als Zweitsprache wird hier als facherübergreifendes Prinzip verstanden, in dem Methoden wie Textentlastung, Verwendung audiovisueller Medien, Vermittlung von Arbeitstechniken, aber auch eine bewusste Sprachverwendung der Lehrkräfte dominant sind.

4.

Methodische Konzepte im Unterricht Deutsch für ausländische Arbeitnehmer

Von solchen außerschulischen Maßnahmen, die vorwiegend für Jugendliche konzipiert wurden, unterscheiden sich Lehrgänge in Deutsch für erwachsene Sprecher nichtdeutscher Sprachen, die oft erst nach vielen Jahren ungesteuerten Spracherwerbs im Alltag und bei der Arbeit einen Sprachkurs besuchen. Auch für den Unterricht in Deutsch für ausländische Arbeitnehmer (DfaA) gilt, dass die organisatorischen Bedingungen eines Kurses nicht ohne Bedeutung für die methodischen Konzepte sind wie etwa ein Blick auf die Ausstattung mit Medien oder vor allem auch die Frage der Lehrerqualifikation klarmacht, auch wenn gerade in der Lehrerausbildung in den letzten Jahren große Verbesserungen erreicht worden sind (vgl. Art. 115). Methodische Konzepte für den Unterricht in Deutsch für ausländische Arbeitnehmer (DfaA) sind durch verschiedene Faktoren geprägt: Heterogene Vorkenntnisse der Lernenden, vor allem im kommunikativen Bereich (vielfach als Gastarbeiterdeutsch); Unver-

ständnis gegenüber schulischen Lernformen wie Lückentexte; fehlende sprachsystematische Kenntnisse; heterogene Gründe für den Besuch des Sprachkurses (vgl. auch Barkowski/Harnisch/Kumm 1980, 17 ff.). Die methodischen Konzepte für diesen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache sind einerseits von der Notwendigkeit geprägt, den Einblick in Sprachsystematik zu vermitteln, der im ungesteuerten Spracherwerb nicht möglich war, und andererseits handlungsorientiert zu arbeiten, wie es der Gewohnheit der Sprachverwendung entspricht. Dies hat etwa zur Entwicklung von Konzepten geführt, nach denen Regeln der Sprachverwendung im Rahmen einer kommunikativen Grammatik vermittelt werden (Barkowski 1982, 72ff.). Neben den beiden konzeptionellen Schwerpunkten — systematische Sprachvermittlung und handlungsorientierte Sprachvermittlung - erforderte auch die hohe Heterogenität in den Sprachkursen die Entwicklung neuer Konzepte der BinnendifFerenzierung, die ansonsten eher ein methodisches Merkmal schulischen Unterrichtens ist (vgl. Göbel 1981, 89fF.). Auf Frauen als eine besondere Lerngruppe unter den erwachsenen Arbeitsmigranten in Deutschkursen und die sich daraus ergebenden methodischen Ansätze wie Verbindung mit Fachkursen, Alphabetisierung oder als Teil von Stadtteilarbeit kann hier nur verwiesen werden (vgl. beispielsweise Rohrer 1983, 215 ff.). Auch in den Unterricht Deutsch für ausländische Arbeitnehmer werden zunehmend Methoden interkulturellen Lernens integriert, die auch der Erhöhung interkultureller kommunikativer Kompetenz dienen sollen.

5.

Übergreifende methodische Konzepte

Für Deutsch als Zweitsprache wurden in Abhängigkeit von den institutionellen wie lernergegebenen Bedingungen methodische Konzepte entwickelt, denen jedoch gemeinsam ist, dass sie die besondere Sprachlernsituation im L2-Land und die damit verbundenen Ziele berücksichtigen. Dies unterscheidet sie auch von solchem Unterricht in Deutsch im Ausland, an dem Kinder deutschsprachiger Einwanderer teilnehmen (vgl. beispielsweise Imberger 1986, 112ff. für Australien). In diesem Abschnitt soll nun auf einige der Methoden vertieft eingegangen werden, die für alle Zielgruppen geeignet und auch im Unterricht verwandt werden.

87. Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache

5.1. Sprachstandsdiagnostik und Fehleranalyse Orientierung am Sprachstand erwies sich wegen der hohen Heterogenität in den Lernergruppen in allen Bereichen des hier behandelten Unterrichts in Deutsch als Zweitsprache als eine grundlegende Maßnahme, durch die sich Deutsch als Zweitsprache auch deutlich vom üblichen Fremdsprachenunterricht abgrenzte (vgl. Art. 101; 103; vgl. auch Reich 1980, 162 f. sowie Kupfer-Schreiner 1994, 276f.). Orientierung am Sprachstand enthält eine Reihe methodischer Implikationen, denn die Voraussetzung einer solchen Orientierung ist die Kenntnis des Sprachstandes, so dass die Diagnostik des Sprachstandes schnell zu einem wichtigen Bestandteil von Deutsch als Zweitsprache wurde, für den unterschiedliche Test- und Diagnoseverfahren, aber auch Methoden der Sprachbeobachtung entwickelt wurden (vgl. Luchtenberg 1984, 25ff.; Luchtenberg 1988, 120ff.). Die Grundvorstellung war tatsächlich die der Medizin entlehnte diagnostische Vorgehensweise, auf die dann eine Therapie in Form eines auf den individuellen Sprachstand möglichst genau zugeschnittenen Unterrichts erfolgen sollte. Zwischen Diagnose und Therapie angesiedelt ist dann die Fehleranalyse, in der die festgestellten Abweichungen von der erwarteten Norm erklärt werden sollen. Mit der Fehleranalyse gut zu verknüpfen ist das von Hegele/Pommerin (1983) vorgestellte Verfahren, in dem Kinder deutscher und nichtdeutscher Muttersprache gemeinsam Texte besprechen und dabei die unverständlichen Stellen klären. Eine nicht immer unumstrittene Verbindung ist auch zwischen Diagnostik und Fehleranalyse einerseits und kontrastiver Methode andererseits zu sehen, da viele Fehler als Interferenzfehler verstanden werden, die eher einer plurikausalen Erklärung bedürfen, so dass eine Erklärung des Kontrastes zwischen deutscher und muttersprachlicher Form den Schülern in solchen Fällen wenig nützt (vgl. Kuhs 1987, 173 fT.). 5.2. Situatives Lernen Schon Reich (1980, 159 f.) betont die Bedeutung von Situativität für den Zweitsprachenunterricht in Deutsch mit der Begründung der sprachlichen Handlungsfähigkeit, was in allen Bereichen von Deutsch als Zweitsprache eine Rolle gespielt hat und spielt, auch wenn die ebenfalls von Reich (1980, 159 f.) betonten Einschränkungen des grammatischen Lernens zu einer methodisch-di-

861 daktischen Antinomie zwischen angestrebter Situativität und kommunikativer Handlungsfähigkeit einerseits und der Bewusstmachung der Systematik von zum Teil gerade in ungesteuerten Sprachverwendungssituationen erworbenen Sprache geführt hat. Dieser Widerspruch zwischen den beiden Methoden wird auf unterschiedliche Art und Weise aufgefangen, indem systematische Unterrichtsanteile zur Aufarbeitung in ansonsten an lebensweltlichen Situationen ausgerichteten Unterrichtseinheiten eingebaut werden. 5.3. Sachorientiertes Sprachlernen/ Projektorientiertes Lernen Nach Untersuchungen in Australien hat sich sachorientierte Sprachvermittlung insbesondere in Klassen mit Schülern bewährt, deren sprachliche Heterogenität von Muttersprachenkenntnissen bis zu Nullkenntnissen reicht (vgl. Clyne/Jenkins/Chen u . a . 1995, 161 ff.). Auch hier ergibt sich die Notwendigkeit in der bundesdeutschen Zweitsprachlernsituation, systematische Sprachvermittlung als zweite Aufgabe stets mitzubedenken. Sachorientierte Sprachvermittlung findet sich in den projektorientierten Lernformen des situativen Ansatzes, könnte aber auch Teil des Fachunterrichts in der Regelschule sein. 5.4. Lehrbuchorientiertes Lernen Trotz aller Methodendiskussion basieren viele Kurse - schulisch wie außerschulisch auf einem Lehrbuch, das jedoch nicht selten durch eigene Materialien ergänzt wird. Lehrbuchorientierter Unterricht ist ein Grund für die methodische Nähe von Deutsch als Zweitsprache zu Deutsch als Fremdsprache, da nicht selten — zumindest für Jugendliche und Erwachsene — gleiche oder in Anlehnung entwickelte Lehrbücher verwandt werden. 5.5. Multimedia: Video, Computer Medien haben in den methodischen Konzepten für Deutsch als Zweitsprache immer eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, was natürlich auch mit den anfanglichen Methoden audiolingualen bzw. audiovisuellen Lernens zusammenhängt, auf deren Einfluss es wiederum zurückzuführen ist, dass von Anfang an viele Lehrwerke für Deutsch als Zweitsprache medienunterstützt waren. Zu den im Unterricht des Deutschen als Zweitsprache konzeptionell verankerten Medien gehören in jüngerer Zeit auch Video und Computer (vgl. auch Computerunterstütztes Lernen 1992).

862

Insbesondere durch die Arbeit mit dem Computer wird auch selbständiges Arbeiten bzw. Arbeiten in Gruppen- oder vor allem Partnerarbeit angeregt. Einschränkend ist allerdings die bislang noch geringe Verfügbarkeit dieser Medien zu erwähnen. Durch multimediale Vernetzung wird es zunehmend möglich, authentische Texte beispielsweise aus dem Fernsehen in Spracharbeit einzubinden, so dass hierdurch eine Synthese von situationsorientiertem Lernen und systematischer Sprachvermittlung möglich ist, die allerdings zur Zeit weitgehend von Lehrkräften selbst geleistet werden muss. Mit Videos sind unterschiedliche Methoden umsetzbar: Es können durch Aufnahmen aus dem Fernsehen oder selbstgedrehte Filme unterschiedliche Gesprächsanlässe geschaffen werden, in einem projektorientierten Unterricht können die Lernenden selbst Videofilme drehen, oder es können auch Sprachkurse per Video in die Klasse oder den Kurs eingebracht werden bzw. auch den Lernenden alternativ oder in Ergänzung — auch zum Selbststudium - angeboten werden. 5.6. Sprachlernspiele Der Unterricht in Deutsch als Zweitsprache braucht in allen Altersgruppen auch Übungsphasen, die im situations- oder projektorientierten Unterricht beispielsweise in Phasen eingebaut werden, in denen Handlungen wie etwa ein Zoobesuch durch Fotos, Malen oder Erzählen auch sprachlich wiederholt werden. Eine andere Methode, Üben von sprachlichen Mustern ohne Rückgriff auf Pattern Drill oder Grammatikübungen in den Unterricht einzubeziehen, sind Sprachspiele, mit deren Hilfe nahezu alle Sprachphänomene geübt werden können. Sprachspiele erlauben zusätzlich unterschiedliche soziale Arbeitsformen wie Partner- und Kleingruppenarbeit, so dass sie eine überaus flexible Methode im Sprachunterricht darstellen (vgl. Spier 1981, 7 ff. für Beispiele). 5.7. Kontrastive Methoden Das Prinzip der Einsprachigkeit beherrscht die meisten Sprachlehrprogramme - unabhängig von der zu vermittelnden Sprache. In Deutsch als Zweitsprache wird dieses methodische Konzept noch dadurch unterstützt, dass dieser Unterricht oft in sprachheterogenen Klassen oder Gruppen stattfindet, in denen Deutsch auch Lingua Franca für die Teilnehmer ist. Dennoch haben Untersuchungen zur Sprachentwicklung von Kindern nicht-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

deutscher Muttersprache immer wieder auf die Bedeutung der Herkunftssprache hingewiesen, so dass es für homogene Lerngruppen eine starke Tradition kontrastiver Methoden gibt, die insofern auch Eingang in die Lehrerausbildung in Deutsch als Zweitsprache gefunden haben, als in vielen Zusatzoder Aufbaustudiengängen nicht nur Didaktik und Methodik des Deutschen als Zweitsprache vermittelt wird, sondern auch der Erwerb einer der Migrantensprachen verlangt wird. Kontrastive Methoden sind Teil der Sprachstandsdiagnostik und Fehleranalyse, aber auch des Unterrichts selbst, wenn den Schülern das Deutsche in seinen Übereinstimmungen und Abweichungen von der Muttersprache erläutert wird. Kontrastive Methoden sind zugleich auch solche der bewussten kognitiven Beschäftigung mit Sprache, da der Vergleich zwischen Ausgangsund Zielsprache im Mittelpunkt steht (vgl. Meyer-Ingwersen/Neumann/Kummer 1977, 149ff. für eine frühe Darstellung). 5.8. Language Awareness Luchtenberg 1994, 5 ff. hat die Möglichkeit dieses Ansatzes für Deutsch als Zweitsprache untersucht und ist dabei zu folgenden Ergebnissen gekommen, was die Umsetzung in methodische Konzepte betrifft: Zwar ist Language Awareness kein Sprachlehrprogramm, doch kann die Anregung metasprachlicher und metalinguistischer Kommunikation sowie der angestrebte Sprachvergleich auf allen Ebenen den Spracherwerb unterstützen. Language Awareness ist jedoch keine ausschließlich kognitiv angelegte Methode, sondern bezieht auch emotionales und soziales Lernen ein. Language Awareness steht interkulturellem Lernen nahe und ist durch die Verbindung von Sprache und Kultur auch wesentlicher Bestandteil von Kursen zur Vermittlung interkultureller Kommunikation. Im Fazit ergibt sich Methodenvielfalt für den Unterricht des Deutschen als Zweitsprache, die allerdings vielfach von den strukturellen Bedingungen des Unterrichts bestimmt wird. Die Nähe zu Deutsch als Fremdsprache ist im methodischen Bereich nicht dominant, da neben den gemeinsamen Methoden sich durch die besonderen Bedingungen von schulischem und außerschulischem Lernen, der Sprachlernsituation im Land der Zielsprache mit hohem Anforderungsprofil und durch die Offenheit für neue Konzepte diese Methodenvielfalt herausbilden konnte. Allerdings bleibt für die wei-

87. Methodische Konzepte für Deutsch als Zweitsprache

tere Entwicklung von Deutsch als Zweitsprache auch eine Reihe von Desiderata im methodischen Bereich bestehen: Hierzu zählen Methoden zur Integration von Deutsch als Zweitsprache in den Regelunterricht, die Verbindung von Zweitsprachenlernen und Interkulturellem Lernen (insbesondere auch zum Erwerb interkultureller kommunikativer Kompetenz), Language Awareness, Aufarbeitung des Verhältnisses zu Deutsch als Fremdsprache, Deutsch als Muttersprache sowie den übrigen Sprachenfächern in bezug auf Methoden sowie auch die Weiterentwicklung von Methoden, die situatives Lernen mit systematischer Sprachvermittlung verbinden.

6.

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864

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Reich, Hans H. (1980): Zum Unterricht in Deutsch als Fremdsprache. In: Manfred Hohmann (Hg.):

Sigrid Luchtenberg, Essen

(Deutschland)

88. Zur Rolle der Fertigkeiten 1. 2. 3. 4. 5.

Zum Begriff der Fertigkeit Historisch-methodengeschichtliche Entwicklung und Einordnung der vier Fertigkeiten Die Fertigkeiten aus lernpsychologischer Sicht Zu Rolle und Funktion der vier Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht Literatur in Auswahl

1.

Zum Begriff der Fertigkeit

Sprechen wir von den Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht, so verstehen wir in der Regel die „klassischen" vier Fertigkeiten das Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben. Wenn Schwerdtfeger (1989) vom Sehen als eigenständiger fünfter Fertigkeit spricht (in

865

88. Zur Rolle der Fertigkeiten

der Kombination von Hören und Sehen), so bedeutet dies, dass es sich beim gleichzeitigen Hören und Sehen nicht um bloß bebildertes Hören, sondern um doppelsinniges Verstehen handelt. „Die klassischen vier Fertigkeiten des Sprachunterrichts bezeichnen die grundsätzlich möglichen Weisen, einen sprachlichen Ausdruck und einen Sinn, eine Intention miteinander zu verbinden" (Portmann 1993, 96). Die Fertigkeiten sind auch im heutigen Fremdsprachenunterricht das „tragende" Moment. Wer eine Fremdsprache erlernt, muss sich normalerweise — außer er/sie erlernt die Fremdsprache in bezug auf bestimmte Schwerpunkte - diese vier Fertigkeiten aneignen. „Aneignen bedeutet aber nicht, zu einem Wissen über sie zu gelangen, sondern zum praktischen Können". (Huneke/ Steinig 1997, 90). Da das menschliche Wesen auch dadurch bestimmt ist, was es kann, ist der Begriff der Fertigkeit auch mit dem Begriff der Tätigkeit verwandt. Beide umfassen sowohl konkrete als auch geistige Handlungen. In der Literatur, vor allem in wissenschaftlichen Publikationen der ehemaligen DDR ist daher der Begriff Fertigkeit auch als Sprachtätigkeit oder Zieltätigkeit oder sprachlichkommunikative Grundtätigkeit zu finden, was auch mit dem Einfluss der sowjetischen Tätigkeitstheorie zu tun hat. (Desselmann/ Hellmich 1981). Auch nach Butzkamm sind Fertigkeiten „erlernte, durch Übung erworbene Willkürhandlungen. Sie sind also nicht funktionsbereit vorhanden wie etwa das Saugen, Schlukken, Atmen. Fertigkeiten äußern sich im Tun, im Ausführen und Ausüben. An ihrem Zustandekommen sind (a) Wahrnehmungen, deren (b) Verarbeitung und Verbindung mit (c) ausführender Motorik beteiligt." (Butzkamm 1993, 78) Die vier Fertigkeiten werden bestimmt durch den Charakter der sprachlichen Tätigkeit (produktiv versus rezeptiv), das Medium (akustisch versus graphisch) und den Zeitpunkt des Erwerbs (gleichzeitig versus versetzt). Darüber hinaus werden die Fertigkeiten auch in mündliche und schriftliche Fertigkeiten eingeteilt. Dies zeigt sich durch die Verbindung von mündlicher Kommunikation als Sprechen und Hören, dem die schriftliche Kommunikation als Schreiben und Lesen gegenübergestellt ist. Die Unterscheidung mündlich versus schriftlich bezieht sich auf die Beziehung zwischen Partnerinnen, mögli-

chem Korrekturverhalten und Verständigungshilfen. Direkte Kommunikation verlangt eher Sprechen und Hören, indirekte Kommunikation eher Schreiben und Lesen. Die vier Fertigkeiten lassen sich, wie gezeigt wurde, offenbar in doppelter Weise einteilen. So stehen einerseits die rezeptiven Fertigkeiten des Hörens und Lesens den produktiven des Sprechens und Schreibens gegenüber, andererseits handelt es sich einmal um gesprochene einmal um geschriebene Sprache. Nach Hunecke/Steinig (1997, 91) lässt sich dies graphisch folgendermassen veranschaulichen: rezeptive Sprachverarbeitung

produktive Sprachverarbeitung

gesprochene Sprache

Hören

Sprechen

geschriebene Sprache

Lesen

Schreiben

Parallelen sind hier aber vor allem beim Erwerb festzumachen. (Siehe Kap. 3.) 2.

Historisch-methodengeschichtliche Entwicklung und Einordnung der vier Fertigkeiten

Den vier Fertigkeiten ist in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik unterschiedlicher Wert beigemessen worden. Dies liegt zum einen in den Prinzipien der jeweiligen Methodenkonzepte, zum anderen aber auch in Entwicklungen und Erkenntnissen der verschiedenen Bezugswissenschaften. Nach Königs (1993, 203) wurden die Fertigkeiten meist isoliert betrachtet, eine Fertigkeit wurde in Teilfertigkeiten zerlegt, „das Primat einer bestimmten Fertigkeit ergab sich aus dem jeweiligen vermittlungsmethodischen Konzept und den entsprechenden didaktischen Strömungen". In der

Grammatik-

Übersetzungsmethode

soll die Beherrschung der Sprache über Kenntnis der Wörter und der grammatischen Regeln erreicht werden. Sprachbeherrschung bedeutet Sprachwissen. Sprachenlernen wird als kognitiver Prozess angesehen und dient vor allem der formalen geistigen Schulung des Menschen und der Erziehung zu ordnendem Denken. Geschriebene, literarisch geformte Sprache ist Grundlage der Sprachbe-

866 Schreibung. Textsorten sind vor allem literarische, schöngeistige Texte. Im Vordergrund stehen daher die schriftsprachlichen Fertigkeiten Lesen und Schreiben: die Lernenden sollen in der Lage sein, (literarische) Texte zu lesen - wobei das Leseverstehen nicht als Sinnentnahme geübt wird - zu übersetzen und selbständig kleinere Texte (Aufsätze) zu verfassen. Das Aufsatzschreiben (und das Abfassen von Diktaten) dient aber vor allem dazu, durch die Reproduktion korrekter Sätze die gelernten Grammatikregeln anzuwenden, d. h. Schreiben ist immer Instrument und hat Kontrollfunktion. Mündlichkeit, d. h. die Einbettung der Sprache in situative Kontexte spielt keine Rolle, dem Hören und Sprechen wird nahezu kein Stellenwert eingeräumt. Aus diesem Grund spielt das Lehrwerk, das dem Lehrer genau vorschreibt was, wie und wieviel er zu unterrichten hat, eine zentrale Rolle. Der Lernerforg wird u. a. durch das Übersetzen festgestellt. Bis heute ist die Frage nach der Rolle der Übersetzung im Zusammenhang des lexikalischen Transfers der Verständnissicherung aktuell. Bei der Direkten Methode, die sich aus methodischer Sicht verstehen lässt als Reaktion auf die Grammatik-Übersetzungsmethode, wird der lebende Charakter einer sich ständig wandelnden Sprache betont. Wesentlich ist das sich Zurechtfinden in Alltagssituationen im Zielsprachenland, eine vor allem gesprochene Alltagssprache sollte den Lernenden daher vermittelt werden. Hervortretendes Unterrichtsprinzip ist die Einsprachigkeit (Erkenntnisse der Phonetik spielen eine Rolle), der Gebrauch der Muttersprache ist ausgeschlossen. Fremdsprachenlernen wird nicht als bewusster Prozess des „Einsichtnehmens" in die Regeln der Sprache verstanden, sondern erfolgt über Nachahmung sprachlicher Vorbilder. Als grundlegende Fertigkeiten gelten daher die mündlichen Fertigkeiten, Hören und (Nach)Sprechen. Hörtexte sind hierbei in erster Linie kleine (Alltags)dialoge (meist visuell aufbereitet). Gespräche und Frage-Antwort-Sprachmodelle, die vor allem der mündlichen Nachahmung dienen. Diese werden meist im Konversationsstil präsentiert. Ausspracheschulung soll vor allem durch nachahmendes Sprechen geübt werden. Neben den mündlichen Fertigkeiten wird (lautes) Lesen von Anfang an gefördert. Dieses dient vor allem der Sprachschulung. Schreiben wird hier bewusst als die letzte der vier Fertigkeiten angesehen und dient immer nur als Hilfsmittel.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

In der Audio-lingualenlAudio-visuellen Methode ist das Ziel des Fremdsprachenunterrichts das Sprachenkönnen und die vor allem mündliche Verständigung mit Menschen anderer Muttersprachen. Fremdsprachenlernen wird vor allem als mechanischer Prozess der Gewohnheitsbildung gesehen. Ausgangspunkt dabei sind authentische Sprachmuster, die dialogisch aufgebaut und in Alltagssituationen als Modell für Alltagsgespräche eingebettet sind. Sachtexte, die landeskundlich orientiert sind, ergänzen das Textsortenangebot. Es geht vor allem um die Beherrschung von Alltagswissen und alltäglichen Kommunikationssituationen, die praktisch verwertbar sind. Die vier sprachlichen Fertigkeiten werden in ihrer „natürlichen" Reihenfolge gelehrt: die mündlichen (Hören und Sprechen) vor den schriftlichen (Lesen und Schreiben), die rezeptiven vor den produktiven. Das Hören wird als notwendige Voraussetzung für das Sprechen angesehen. Gehört werden vor allem Alltagsdialoge, die durch Mustersätze (patterns) und ständigen Drill zu fester Gewohnheit werden sollen. Die gesprochene Sprache hat Vorrang vor der Schriftsprache und muss zuerst beherrscht werden. Schreiben wird als Hindernis beim Erlernen der gesprochenen Sprache gesehen. Anfangs wird daher ein schriftloser Unterricht durchgeführt, wo die Lernenden zunächst nur hören und nachsprechen sollen. Visuelle und akustische Reize werden miteinander verbunden, durch Wiederholung sollen Dialoge und Texte vor allem auswendig gelernt werden. Wesentlich ist das Prinzip der Einsprachigkeit, wobei eine „echte" und natürliche Aussprache wichtig ist. Lesen und Schreiben werden erst im späteren Verlauf des Unterrichts miteinbezogen. In den Anfangen des Kommunikativen Ansatzes steht die kommunikative Kompetenz und mit ihr Können statt Kennen, Sprachhandeln statt Sprachbetrachtung im Vordergrund. Dieser kommunikativen Kompetenz wird alles untergeordnet. Das führt zu einem engen Verständnis von Authentizität und Alltagskommunikation. Was die Fertigkeiten betrifft, so wird Lesen und Schreiben vernachlässigt und die gesprochene (Alltags-)Sprache überbetont. Gleichzeitig wird aber eine verstärkte Hinwendung zum Lernenden vorgenommen, der Lernende wird das „Subjekt" des Lernprozesses. Der Lernprozess selbst steht im Mittelpunkt. Fremdsprachen werden erlernt, um sich im Zielsprachenland zurechtzufinden, d. h.

88. Zur Rolle der Fertigkeiten

Fremdsprachen werden in erster Linie für die Alltagskommunikation gebraucht. Neben dieser pragmatischen Orientierung wird in (Rahmen)lehrplänen das übergreifende Lehrziel, die „Befähigung zur Kommunikation", die Kommunikative Kompetenz, festgeschrieben. Neue Erkenntnisse der Bezugswissenschaften der Fremdsprachendidaktik wirken sich ebenso auf den Fremdsprachenunterricht aus. Pragmalinguistik und Soziolinguistik lösen die vorherrschenden strukturalistischen Themen ab. Fremdsprachenlernen wird als bewusster (kognitiver) und kreativer Vorgang gesehen. Sprache ist kein System von sprachlichen Formen, sondern ein Aspekt menschlichen Handelns, ein Mittel der Verständigung. Kommunikation bedeutet, miteinander mit der Sprache etwas tun. Im Sinne der Verknüpfung des Redens über die Probleme des Redens weist der kommunikative Ansatz über die Direkte Methode hinaus. Insofern als Sprache und die Veränderung der Wirklichkeit über Sprache möglich sein könnte, ist er auch als emanzipativer Ansatz zu verstehen. Ein Sprecher muss über kommunikative Kompetenz verfügen, d. h. er muss die Fähigkeit haben, Äußerungen in verschiedenen Kommunikationssituationen adäquat zu verstehen und zu erzeugen. Lernende sind mit einem kreativen Potential ausgestattet und eignen sich die Sprache nicht mehr passiv, sondern aktiv an. (Unter dieser Perspektive wurden Hören und Lesen lange Zeit fälschlicherweise als „passive" Fertigkeiten, Sprechen und Schreiben als „aktive" bezeichnet). Sprache muss daher möglichst authentisch sein: Die sprachlichen Feinziele sind nicht das Beherrschen von sprachlichen Strukturen und Wortschatzinventaren, sondern die Verwirklichung von Redeabsichten. Auch in der Fortführung der Kommunikativen Didaktik kommt der Fertigkeit Sprechen, vor allem dem Dialogisieren, daher ein ganz hoher Stellenwert zu. Hören wird als Vorstufe zum Sprechen gesehen. Das Textmaterial wandelt sich, es werden „authentische" Texte eingesetzt. Themen, die mit der Realität der Lernenden zu tun haben, werden im Unterricht behandelt. Lesen wird zur aktiven Auseinandersetzung mit dem Text, mit Vorwissen wird an Texte herangegangen. Sinnentnahme und Interpretation stehen im Mittelpunkt.

867 In Übungssequenzen („Vom Verstehen zur Äußerung") wird das Verstehen eines Textes entwickelt und schriftliche und mündliche Äußerungen vorbereitet. Bei der Verbreitung der Lehrwerke in alle Welt, die sich am pragmatisch-funktionalen Ansatz orientieren, wird erkannt, dass nicht alle Unterrichtsverfahren für alle Menschen in gleicher Weise anwendbar sind. Aus diesem Grund werden Lernziele, Themen, Lernverfahren und auch die Rolle der Fertigkeiten neu bestimmt. Basierend auf der Erkenntnis, dass es Unterschiede im Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben und Sehen gibt, die auf bestimmten eigenkulturellen Traditionen aufbauen, werden Prinzipien, Theorien und Elemente vorhandener Unterrichtskonzepte aufgegriffen und mit universellen Lebenserfahrungen der Lernergruppen verbunden. Der Vergleich spielt eine wesentliche Rolle, wobei sich das Vergleichen nicht nur auf den Vergleich von Kulturen (der eigenen mit der/den anderen) beschränkt, sondern auch immer den Sprachvergleich miteinschließt. Da die Welt der Zielsprachenländer zumeist nicht unmittelbar, sondern nur über Medien erfahrbar ist, muss eine spezifische Verstehensdidaktik entwickelt werden. Elemente der Rezeptionsforschung und der Textlinguistik werden hier miteinbezogen. Textverständnis wird zur Grundlage des Interkulturellen Deutschunterrichts. Im konkreten Unterricht bedeutet dies vor allem Betonung des Leseverstehens, wobei dem Lesen von literarischen und fiktionalen Texten eine besondere Bedeutung zukommt. Auch das Sprechen unterliegt einer Bedeutungsveränderung. Sprechen beschränkt sich nicht mehr auf das Dialogisieren, sondern wird erweitert um die Komponenten: Sprechen mit Sprechen über. Besonderes Augenmerk wird dem Erzählen geschenkt. Die Kommunikative Didaktik hat sich aber nicht nur in ihrer „Außenperspektive" gewandelt, auch in der „Innenperspektive" können wir von einer postkommunikativen Situation sprechen. Zusammenfassend gesagt bedeutet dies in Hinblick auf Methoden, dass wir heute nicht mehr von einer vorherrschenden Methode, sondern von Prinzipien für den Unterricht ausgehen. (Faistauer 1997) In Bezug auf die Fertigkeiten bedeutet dies: alle vier Fertigkeiten sollen von Anfang an geübt werden, mit einer anfänglich stärkeren Betonung der rezeptiven vor den produktiven Fertigkeiten.

868

3.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Die Fertigkeiten aus lernpsychologischer Sicht

Die Aufteilung in die sogenannten vier Grundfertigkeiten dürfte einer psycholinguistischen Realität entsprechen. Die früher bestehende Annahme fest zu lokalisierender „Sprachzentren" und ihren dazugehörigen Funktionen ist durch neuere Forschungsergebnisse relativiert und heute nicht mehr anzunehmen (Götze 1995). Sehr wohl kann aber auch, aus der Perspektive unserer Gedächtnisleistung gesehen, von Spezialisierungen für die einzelnen Fertigkeiten gesprochen werden, wobei enge Beziehungen zwischen dem Hören/Sprechen und dem Lesen/Schreiben anzunehmen sind. Diese einander stützenden und beeinflussenden polysensorischen Prozesse, die zwischen den Fertigkeiten Wechselwirkungen herstellen, sind Grundlage des Sprachgebrauchs. Die Zentren, die beim Sprechen im Gehirn aktiviert werden, werden auch beim Hören aktiviert. „(...) die Produktion und Rezeption des Sprechens (sind) - notwendigerweise (...) eng aufeinander abgestimmt" (Miller 1993, 85). Daten für diese Beobachtungen stammen vor allem aus der Neuropathologie, dem Bereich der Gehirnforschung, der sich mit Erkrankungen des Gehirns beschäftigt. Aphatiker können entweder die lautliche oder die visuelle Ebene der Sprache oder beides verlieren, ein Indiz dafür, dass die beiden in gewissem Ausmaß unabhängig voneinander organisiert sind. Im Prozess des Erwerbs der Sprachfahigkeit sehen wir Zusammenhänge der mündlichen und schriftlichen Fertigkeiten untereinander: Sprechen und Hören als die mündlichen Fertigkeiten sind die primären Sprachleistungen, die im Zuge des Erstspracherwerbs und von Sprecherinnen jeder Sprache auf vollzogen werden. Beide Fertigkeiten haben ihr Fundament vor allem in der Phonologie und sprechen das phonologisch organisierte Lexikon an, also die lautliche Repräsentation der Sprache. Lesen und Schreiben sind die beiden Seiten der schriftsprachlichen Kommunikation und die Fertigkeiten, die eng an kulturelle Gegebenheiten gebunden sind und nur bewusst erworben werden können. Beide Fertigkeiten haben ihr Fundament vor allem in der Orthographie und sprechen

das graphisch organisierte Lexikon an, also die visuelle Repräsentation der Sprache. Schreibfähigkeit kann nur zusammen mit Lesefähigkeit erworben werden. Lesen ist ständige Begleit- und Kontrollinstanz des Schreibens und beeinflusst daher teilweise auch dessen Qualität. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zu beiden Arten der Sprachverwendung nicht nur unterschiedliche Konventionen, Normen und Bedingungen gehören, sondern dass auch die psycholinguistischen Prozesse, die sowohl beim Verstehen und Hervorbringen von Äusserungen als auch bei der Verarbeitung gesprochener und geschriebener Sprache ablaufen, jeweils spezifisch sind. Darüber hinaus sind sie hochkomplex und längst nicht abschliessend erforscht. Auf Grund dieser Tatsachen liegt es nahe, die vier Grundfertigkeiten im Sprachunterricht getrennt voneinander zu betrachten, „jede dieser Fertigkeiten hat ihre spezifischen Eigenheiten, die sie von der anderen unterscheidet und die Betonung ihrer Eigenständigkeit und die Forderung nach deren Berücksichtigung im Unterricht nötig macht." (Solmecke 1993, 8). Die Relation zwischen den produktiven Fertigkeiten (Sprechen/Schreiben) und den rezeptiven Fertigkeiten (Hören/Lesen) wurde früher oft durch die Adjektive „aktiv"/„passiv" bezeichnet, was aber auf Grund der hohen Verstehensleistung bei den rezeptiven Fertigkeiten als unzulänglich anzusehen ist. Bei den Fertigkeiten Hören und Lesen geht es selten darum, auf den Text nur zu reagieren, ohne diesen auch zu verstehen und zu verarbeiten. Prozesse, die beim Hörverstehen und Leseverstehen ablaufen, sind zum Teil identisch und weisen Parallelen auf (vgl. Wygotski 1974: „inneres Sprechen"). Verstehen ist nicht etwas, das nur in eine Richtung funktioniert (vom Text zum Hörer/ Leser), sondern der Hörer/Leser kommuniziert mit dem Text und nimmt nicht nur passiv auf. Der Hörer muss Geräusche, d. h. akustische Signale, die an sein Ohr dringen identifizieren, segmentieren und als sprachliche Einheiten erkennen. Der Leser muss Schriftzeichen, d. h. optische Signale aufnehmen und den syntaktischen Aufbau und die Bedeutung des Textes erkennen. Dies zeigt, dass der Verstehensprozess als Interaktionsprozess abläuft: Informationen gehen sowohl vom Text zum Hörer/Leser (bottom-up oder datengesteuerter, aufwärts gerichteter Pro-

869

88. Zur Rolle der Fertigkeiten

zess) als auch trägt der Hörer/Leser Wissen an den Text heran (top-down oder erwartungsgeleiteter, hypothesenbildender, abwärts gerichteter Prozess). Es werden Hypothesen gebildet, die auf dem Vorwissen, d. h. verallgemeinerter Wissensstrukturen (Schemata, Skript, Frame) und den Erwartungen der Hörer/Leser basieren. Je höher die Fähigkeit eines Hörers/Lesers zu ganzheitlichem Verstehen ist, desto größer ist seine Fähigkeit zu antizipieren (...) und zu inferieren (...). Hörverstehen und Leseverstehen bedeutet immer auch, eigene Haltungen, Erfahrungen und Vorstellungen mit Neuem zu kombinieren und daraus Schlüsse zu ziehen. Grundlage dieses Verstehensprozesses ist das Mobilisieren von sprachlichem und außersprachlichem Wissen, wobei das sprachliche Wissen zwar eine notwendige aber noch keine genügende Bedingung für das Verstehen darstellt. Schwierigkeiten in Bezug auf Hörverstehensund Leseverstehenstexte für den Fremdsprachenunterricht entstehen aus verschiedenen Gründen: Kenntnis der Sprache, fehlendes „Welt"wissen, ungenügende Verstehensstrategien. Ob ein Text daher leicht oder schwer zu verstehen ist, hängt nicht nur an ihm selbst, sondern ebenso am Rezipienten. Verstehen ist daher immer auch eine sehr persönliche individuelle Angelegenheit, was vor allem bei nicht „eindeutigen" oder stark kulturgeprägten Texten sichtbar wird. Die Textschwierigkeit hängt aber auch davon ab, „was man mit einem Text machen will", also an den Aufgaben- und Übungsgestaltungen. Generell kann gesagt werden, dass schriftlich fixierte Texte den Vorteil haben, dass den sprachlich-kognitiven Prozessen mehr Zeit zur Verarbeitung zur Verfügung steht und man im Text immer wieder „zurückgehen", korrigieren und das Tempo der „Entschlüsselung" selbst bestimmen kann. Defizite beim Hörverstehen sind begleitet von Defiziten beim Leseverstehen, ebenso wie die Schulung des Hörverstehens positive Wirkungen auf das Leseverstehen hat (und umgekehrt). In jedem Fall erfolgt ein besseres Behalten, wenn Sprachmaterial sowohl auditiv als auch visuell dargeboten wird. Zusammenfassend ist zu sagen, dass Hör- und Leseprozesse in bezug auf die Ebene des Dekodierens verschieden, in Bezug auf die Ebene des Verstehens prinzipiell gleich sind. Bei den produktiven Fertigkeiten, dem Sprechen und Schreiben stimmen die Erzeugungsprozesse grundsätzlich überein. Das

Schreiben beeinflusst das Sprechen positiv, da sowohl visuelle, artikulatorische als auch motorische Komponenten in den Schreibprozess eingebunden sind und das Schreiben von (inneren) Artikulationsbewegungen begleitet wird.

4.

Zu Rolle und Funktion der vier Fertigkeiten im Fremdsprachenunterricht

Die Fertigkeiten stellen immer sowohl das Ziel als auch das Mittel des Fremdsprachenunterrichts dar, d. h. sie haben im Fremdsprachenunterricht eine Doppelfunktion: sie sind einerseits Mittel des Sprachlernens, andererseits Mittel der Verständigung und Weisen des Sprachgebrauchs, der Sprachtätigkeit. Die Fertigkeiten sind also unter dem Gesichtspunkt der Sprachverwendung wie auch der Sprachverarbeitung zu betrachten. In dieser Gegenüberstellung ergibt sich ein jeweils anderer Stellenwert der vier Fertigkeiten. Was den Spracherwerb betrifft (die Fertigkeiten als Mittel des Sprachlernens, der Sprachverarbeitung), muss von einer „natürlichen" Priorität der rezeptiven Fertigkeiten (Hören/Lesen) gesprochen werden: Wesentlich ist hier das eigenständige Verstehen und die Verarbeitung des Verstandenen. Verstehen muß vor dem Produzieren kommen. Neben dem wesentlichsten Grund, dass es ohne Verstehen kein Produzieren, also ohne Verstehen kein Sprechen und Schreiben gibt, fallen auch Unterrichts- und lernzielbestimmte Gründe ins Gewicht: • die stärkere Betonung rezeptiver Fertigkeiten könnte den früheren Einsatz anspruchsvoller Texte ermöglichen; • Frustrationen, nicht früh genug produzieren zu können, könnte entgegengearbeitet werden; • und vor allem bei Unterricht in Nicht-Zielsprachenländern wäre die vor allem inhaltsbezogene Beschäftigung mit Texten sicher zielführender. Hören ist im alltäglichen Leben die wichtigste Fertigkeit. Sie steht mit 42% vor dem Sprechen mit 32%, dann kommt das Lesen mit 15% und erst am Ende mit 11% das Schreiben (Barber 1971, 3). Nach Heyd (1991,108) stehen insgesamt die rezeptiven zu den produktiven Fertigkeiten im Verhältnis 5 : 2 und nach Wandruszka (1981) kann man das Verhältnis des Verwen-

870 dens zum Verstehen sogar mit 1:1000 beziffern. (21) Butzkamm (1993, 173) deutet den Vorsprung des Verstehens vor allem in grammatischer und lexikalischer Hinsicht. Bestimmte grammatische Phänomene und lexikalische Einheiten können verstanden werden, bevor sie in eigenen Äußerungen vorkommen. Werden die Fertigkeiten als Mittel der Verständigung angesehen (Sprachverwendung), im Sinne einer kommunikativen Zielsetzung des FU (Ausbildung einer Kommunikativen Kompetenz, Ausbildung der Kommunikationsfähigkeit in einer Fremdsprache), und ist die Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts die ständige Weiterentwicklung der Sprachkompetenz, ist die Ausbildung aller vier Fertigkeiten erforderlich, alle vier Fertigkeiten sollten (gleichermaßen) gefördert und trainiert werden. Hören und Lesen, Sprechen und Schreiben sollten im Unterricht gemeinsam und integriert, behandelt werden. Die Schulung der einzelnen Fertigkeiten erfolgt mit dem (Teil-)lernziel, die Lernenden zum Verstehen gesprochener und geschriebener Texte zu befähigen und sie zu eigener mündlicher und schriftlicher Textproduktion hinzuführen. Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben werden hierbei allerdings als eigenständige Fertigkeiten betrachtet (d. h. Hören und Lesen nicht als Grundlage von Sprechen oder Schreiben, sondern als Teilfertigkeit einer allgemeinen Verstehenskompetenz). Wenn Unterricht intensive Lernerfahrungen ermöglicht, und diese im schriftlichen Bereich leichter zu erreichen sind als im mündlichen, sollte den schriftlichen Fertigkeiten angemessener Platz eingeräumt werden (Portmann 1993, 97). Vor allem die Arbeit mit Lesetexten bringt den Vorteil des autonomen Lernens, denn Wahl der Texte in Bezug auf Thema/Inhalt, Länge und Anzahl kann frei erfolgen. Schreiben hat im Ensemble der vier Fertigkeiten wahrscheinlich die integrativste Rolle, denn im Schreiben sind Teile aller anderen Fertigkeiten integriert und es kann daher zur Verbesserung der Entwicklung von Sprechen, Leseverstehen und Hörverstehen beitragen (Bohn 1987; Faistauer 1997). Neben der Rolle, die die rezeptiven Fertigkeiten beim Erwerb der Fremdsprache spielen, wird von der Didaktik und Sprachlehrforschung immer mehr die Integration aller Fertigkeiten und der Aufeinanderbezug der Fertigkeitsbereiche im Fremdsprachenunter-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

richt verlangt. Lernen wird hier verstanden, im Gegensatz zu einem additiven Lernkonzept, bei dem sich Lernen ergibt aus dem Nacheinander von unterschiedlichen Sprachverwendungsmustern, als Integration von neuen Informationen in schon vorhandenes Wissen. Begründet wird dies aber auch vor allem mit dem „realen Leben", wo man abwechselnd hört und spricht, wo man hört bzw. liest und darüber spricht oder sich Notizen macht. Wenn Unterricht auf den Alltag vorbereiten soll, so kann er das nur, „wenn er den richtigen Mittelweg zwischen gezielter Schulung von Teil- und Einzelfertigkeiten und ihrer Integration in die Gesamtheit der sprachlichen und außersprachlichen Tätigkeit geht" (Solmecke 1993, 31). Begründet wird dies aber auch durch fremdsprachenpsychologische Momente: unterschiedliche Arten des Sprachgebrauchs ermöglichen unterschiedliche Lernchancen für unterschiedliche Lerntypen. Zur genaueren Gewichtung der Fertigkeiten innerhalb des Lernziels Kommunikationsfähigkeit (Kommunikative Kompetenz) müssen vor allem außerunterrichtliche Kommunikationssituationen aufgeführt werden, in denen sich Lernende bewegen werden, wie z.B. Situationen, in denen Lernende direkt oder indirekt mündlich und/oder schriftlich kommunizieren, als Hörer und Sprecher, als Rezipienten schriftlicher und mündlicher Nachrichten, als Verfasser bestimmter Textsorten usw. (Solmecke 1993, 31). Für die jeweils konkrete Unterrichtssituation sollte sich daneben die Könnensentwicklung der einzelnen Fertigkeiten an den jeweiligen Anforderungen der Zielgruppen (zielgruppenspezifische Notwendigkeiten), bzw. deren Interessen bezüglich Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben orientieren, ebenso wie vorgegebene Lernzielkataloge, persönliche Vorlieben u. a. m. Ein weiteres Ziel im Fremdsprachenunterricht, das über die Aktivierung und das Training der vier Fertigkeiten hinaus geht, ist der in den letzten Jahren in die Diskussion gebrachte Begriff des bewussten Umgehens mit der Sprache und den eigenen Lerngewohnheiten, dem Bewusstwerden der eigenen (Lern)strategien. Dies kann im Umgang mit allen vier Fertigkeiten thematisiert werden. Nach Portmann (1993, 98 f.) werden im Bereich der Didaktik der Rezeption und der Didaktik der Produktion folgende Dimensionen unterschieden:

871

88. Zur Rolle der Fertigkeiten

Im Bereich der Rezeption hängen definierte Verstehensziele (Verstehensprozesse werden durch die Lernenden selbst gesteuert, Ermöglichung von Selbstkontrolle und expliziter Wahrnehmung von Schwierigkeiten), Kontrolle des Verständnisses (Lernende testen autonom und gegenseitig ihr Verständnis) und Spracharbeit (wird im Zusammenspiel von Aufgabe und jeweiliger Lernerkompetenz entwickelt) zusammen. Wenn die Produktion den reinen Übungscharakter überschreiten soll, dann ist folgendes nötig: thematische Öffnungen (den Lernenden wird die Chance gegeben, eigene und neue Informationen, Gedanken und Standpunkte einzubringen), adäquate Äußerungsmöglichkeiten (es gibt für die Lernenden die Möglichkeit, ihre Äußerungen veständlich, ohne Zeitdruck zu gestalten) und ein Publikum. Auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Repräsentation in Lehrmaterialien werden Hören, Lesen, Sprechen und Schreiben als die vier Grundfertigkeiten angesehen. Da Lehrwerke meist bestimmte Methoden repräsentieren, werden je nachdem bestimmte Fertigkeiten betont. So dominiert in Lehrwerken der ersten kommunikativen Phase die Sprechfertigkeit, während neuere Lehrwerke auch die anderen Fertigkeiten stärker berücksichtigen. Generell kann gesagt werden, dass Aufgaben und Übungen zum Hörverstehen bis heute nicht den gebührenden Stellenwert, der ihnen vor allem beim Fremdsprachenerwerb zukommt, einnehmen. Auch das Schreiben wird noch immer vernachlässigt. Zwar gewinnt das Schreiben seit Ende der achtziger Jahre in der Forschung an Bedeutung, aber sowohl in Lehrwerken, Curricula als auch im Bewusstsein von Lehrenden und Lernenden steht schriftlicher Sprachgebrauch bis heute hinter mündlichem. Es fehlt ein systematischer Aufbau von Schreibkompetenz, eine für den Unterricht brauchbare Schreibtypologie und variationsreiche Übungen. Das Fehlen einer systematischen Übungstypologie gilt allerdings auch für das Sprechen, wenngleich im Unterricht selbst dem Sprechen höhere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Was die Überprüfung der vier Fertigkeiten betrifft, so ist von einer Beschreibung von Bewertungsmaßstäben auszugehen und danach zu fragen, was die Qualifikationen, die im Bereich der vier Fertigkeiten angestrebt werden, zu sein haben.

5.

Literatur in A u s w a h l

Barber, Larry (1971): Listening Behavior. London. Bohn, Rainer (1987): Schreiben — eine sprachliche Haupttätigkeit im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. In: Deutsch als Fremdsprache 24/4, 233— 238. Butzkamm, Wolfgang (1993): Psycholinguistik des Fremdsprachenunterrichts. Natürliche Künstlichkeit. Von der Muttersprache zur Fremdsprache. Tübingen. Desselmann, Günther; Harald Hellmich (1981): Didaktik des Fremdsprachenunterrichts. Deutsch als Fremdsprache. Leipzig. Faistauer, Renate (1997a): Wir müssen zusammen schreiben! Kooperatives Schreiben im fremdsprachlichen Deutschunterricht. Innsbruck. - (1997b): Prinzipien statt Methoden. In: de Cillia; Fischer; Anzengruber (Hg.): Lehren und Lernen fremder Sprachen in Osterreich. Schulheft 88, 21 — 29. Götze, Lutz (1995): Lernt oder erwirbt man eine Fremdsprache? In: Deutsch als Fremdsprache. An den Quellen eines Faches. Festschrift für Gerhard Heibig zum 65. Geburtstag. München, 649—658. Heydt, Gertrude (1991): Deutsch lehren. Grundwissen für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache. Frankfurt/M. Huneke, Hans-Werner; Wolfgang Steinig (1997): Deutsch als Fremdsprache. Eine Einführung. Berlin. Königs, Frank G. (1993): Wie fertig sind wir mit den Fertigkeiten? Psycholinguistische und lernpsychologische Überlegungen. Im Deutsch als Fremdsprache 30/4, 203-210. Miller, George A. (1993): Wörter. Streifzüge durch die Psycholinguistik. Heidelberg/New York. Neuner, Gerhard; Hans Hunfeld (1993): Methoden des fremdsprachlichen Deutschunterrichts. Eine Einführung. Berlin/München. Portmann, Paul (1993): Rezeptive und produktive Fertigkeiten. Im Deutsch als Fremdsprache 30/2, 96-99. Schwerdtfeger, Inge C. (1989): Sehen und Verstehen. Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin/München. Solmecke, Gert (1992): Zusammenbringen was zusammengehört. Hören und Lesen. In: Info DaF 19/1, 82-89. — (1993): Texte hören, lesen und verstehen. Berlin/ München. Wandruszka, Mario (1981): Die Mehrsprachigkeit des Menschen. München. Wygotski, Lew S. (1964): Denken und Sprechen. Berlin.

Renate Faistauer, Wien (Österreich)

872

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

89. Vermittlung der Phonetik 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Vorbemerkung Aussprache und Kommunikation Stellenwert der Phonetik im Unterricht Schwierigkeiten beim Ausspracheerwerb in der Fremdsprache Anforderungen an den Lehrenden Grundfragen der Aussprachevermittlung Differenzierung der Lernziele Festlegung von Unterrichtsschwerpunkten Lehr- und Lernmethoden Hilfsmittel und -methoden Ausblick Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkung

Der hier verwendete Begriff Phonetik ist nicht gleichzusetzen mit der Bezeichnung des Wissenschaftsgebietes Phonetik, das sich mit den messbaren (akustischen, physiologischen) Eigenschaften der Sprache sowie den psychophysischen und apparativ-technisch nachgestalteten Vorgängen bei der Sprachverarbeitung und der Sprachproduktion beschäftigt. Er bezieht sich auch nicht direkt und ausschließlich auf die linguistische Disziplin Phonologie, die die Funktion lautsprachlicher Zeichen im Sprachsystem untersucht. In Bezug auf den Fremdsprachenunterricht ist Phonetik als Einheit phonologischer, phonetischer und didaktischer Aspekte (im Sinne von Ausspracheschulung, d. h. der Entwicklung von Hör- und Aussprachefertigkeiten) zu verstehen.

2.

Aussprache und Kommunikation

Die Bedeutung der Aussprache für die Kommunikation wird oft auf die Gewährleistung von Verständlichkeit reduziert. Phonetische Abweichungen, die die Verständlichkeit nicht direkt beeinträchtigen, werden bagatellisiert. Bei einer solchen pauschalen Sichtweise wird nicht berücksichtigt, dass die Aussprache eines jeden Menschen ein wesentliches, nach außen wirksames Persönlichkeitsmerkmal ist und dass man - auch - nach der Aussprache sozial auf- oder abgewertet und als Kommunikationspartner entsprechend behandelt wird. Aussprachekorrekturen in der Fremdsprache dienen nicht nur der Verbesserung der Verständlichkeit sondern auch der sozialen Akzeptanz. Abweichungen im gewohnten Sprachklang, wie sie von Deutschlernenden, aber auch von

Dialektsprechern oder Sprachgestörten hervorgebracht werden, haben also sehr vielfaltigen Einfluss auf die mündliche Kommunikation (vgl. Hirschfeld 1994). Ebenso können sich fehlende phonetische Grundlagen - Fertigkeiten im phonetischen Hören und Aussprechen, Regelkenntnisse - auf den Lernenden selbst negativ auswirken, wenn er ζ. B. Äußerungen nicht oder falsch versteht (erwähnt sei der französische Student, der statt einhundertfünfzig einundfünfzig Mark verstanden hat und für drei Nächte im Hotel unerwartet viel bezahlen musste). Echte Missverständnisse dieser Art sind sicher relativ selten, aber Irritationen auf beiden Seiten, die zum Verlust inhaltlicher Informationen führen, sind häufiger als man gemeinhin annimmt - zumal bei Lernenden der Anfangs- und Mittelstufe der lexikalisch-grammatische Kontext ebenfalls fehlerhaft ist. Beim muttersprachigen Hörer treten Konzentrationsstörungen auf, beim Deutschlernenden kommt es nicht nur zu Verstehensproblemen, sondern, aufgrund der Reaktion seiner Gesprächspartner, auch zu Unsicherheiten bis hin zu Sprechhemmungen.

3.

Stellenwert der Phonetik im Unterricht

Der Stellenwert der Phonetik hat sich in den letzten 30 Jahren mehrfach geändert (vgl. Malmberg 1970, Kelz 1976, Stock 1993). Bis in die 70er Jahre hinein war eine gute, „normgerechte" Aussprache ganz selbstverständlich ein ausgewiesenes Lernziel, viele Lehrwerke enthielten Übungen, teilweise sogar „Phonetische Vorkurse", das Sprachlabor schien für Ausspracheübungen prädestiniert. Der Ausspracheunterricht beschränkte sich allerdings in der Regel auf Nachsprechübungen, er war methodisch eintönig, es wurde oft uninteressantes und unrelevantes Übungsmaterial verwendet und es gab keine Verbindung zum übrigen Lernprozess. Mit der kommunikativen Orientierung des Unterrichts änderte sich die Situation grundsätzlich. So wurden in den 70er und 80er Jahren die Lernziele herabgesetzt („verständliche" Aussprache), spezielle Ausspracheübungen wurden in den Lehrbüchern nicht mehr angeboten. In deutschen Verlagen erschienen so gut wie keine Zusatzmaterialien. In der didaktischen Forschung und Diskussion wie in

89. Vermittlung der Phonetik

der Lehrerausbildung wurde das Fach Aussprache stark vernachlässigt, in Westdeutschland und Westeuropa mehr als in Ostdeutschland und Osteuropa. Der in der Literatur mehrfach verwendete Begriff „Stiefkindstatus" (vgl. Göbel/Graffmann 1977, Reschen 1987) charakterisiert diesen Zustand recht anschaulich. Eine erneute „Wende" ist seit Beginn der 90er Jahre zu beobachten. Das Interesse an Aussprachefragen und -materialien nimmt bei Lernenden, Lehrenden, Lehrbuchautoren, Didaktikern und Verlagen deutlich zu. Der Entwicklung phonetischer Grundlagen wird (wieder) größere Bedeutung für die Kommunikation und auch für den gesamten Sprachlernprozess beigemessen. Es gibt interessante Zusatzmaterialien für Kinder (vgl. Endt/Hirschfeld 1995) und Jugendliche bzw. Erwachsene (vgl. Cauneau 1992, Frey 1995a, Hirschfeld/ Reinke 1998, Rausch/Rausch 1992, Stock/ Hirschfeld 1996, Stock 1996, Hirschfeld 1992) und verstärkt auch Übungen in Lehrwerken (vgl. Dieling 1994). Die noch immer vorhandenen Probleme lassen sich jedoch nicht von heute auf morgen lösen: Viele Lehrende sind nicht genügend ausgebildet, um Ausspracheabweichungen ihrer Lernenden zu verhindern bzw. effektiv und dauerhaft zu korrigieren. Die Anwendung und Verbreitung neuer Lehrund Lernmethoden ist deshalb schwierig, solange nicht in der Lehreraus- und -fortbildung entsprechende Voraussetzungen geschaffen werden. 4.

Schwierigkeiten beim Ausspracheerwerb in der Fremdsprache

Eine neue Aussprache zu erwerben ist in der Regel schwieriger als die Aneignung neuen Wortschatzes oder neuer grammatischer Strukturen. Die Interferenz der Muttersprache und früher gelernter Fremdsprachen ist im Bereich der Laut- und Intonationsstrukturen besonders stark und hartnäckig (vgl. Barry 1981). Ein gutes Gedächtnis genügt hier nicht, in Abhängigkeit vom Lernalter sowie von individuellen Fertigkeiten und Fähigkeiten ist oft ein spezielles Hör- und Aussprachetraining erforderlich, um die physischen und psychischen Probleme der Lernenden zu bewältigen. 4.1. Hören In der Fremdsprache treten Perzeptionsschwierigkeiten auf, weil die Sprachwahrneh-

873 mung an Klangbildern der Muttersprache orientiert ist. Die neuen Laut- und Intonationsmerkmale werden durch das muttersprachige Filter aufgenommen und verarbeitet. Dabei kann es zur Unterdifferenzierung (relevante Merkmale der Fremdsprache werden nicht als relevant gewertet, weil sie es in der Muttersprache nicht sind, z.B. die Vokallänge bei Spanischsprechenden) oder auch zur Überdifferenzierung (irrelevante Merkmale der Fremdsprache werden wegen ihrer Relevanz in der Muttersprache als relevant gewertet, ζ. B. Töne bei Lernenden aus China) kommen. Korrekte Aussprache setzt richtiges Hören voraus, ein Hörtraining ist deshalb außerordentlich wichtig, um zunächst die zielsprachigen Hörmuster zu etablieren. Damit eine identische Wiederholbarkeit gewährleistet und das (Weiter-)Üben zu Hause möglich ist, sollten die Hörbeispiele vom Band kommen. Zwei Besonderheiten sind beim Hörtraining zu beachten. Um Lehrenden wie Lernenden deutlich zu machen, bei welchen phonetischen Erscheinungen konkret Hörschwierigkeiten bestehen, sind bei allen Höraufgaben Kontrollmöglichkeiten zu schaffen. Einfachste Kontrollform und in der Gruppe anwendbar sind vereinbarte Zeichen (mit Gesten zeigen, ob die erste oder zweite Silbe betont ist, ob die Melodie steigt oder fallt, ob der Vokal lang oder kurz ist usw.). Der zweite Hinweis betrifft das Material der Hörübungen. Dem Identifizieren (Erkennen) phonetischer Merkmale, für das nahezu jedes Sprachmaterial — von Lauten über Silben und Einzelwörtern bis hin zu größeren Einheiten — verwendet werden kann, sollte das Differenzieren (Unterscheiden) vorangehen, dafür eignen sich besonders Minimalpaare (August — August, Staat — Stadt), die den jeweiligen Unter-

schied besonders gut deutlich machen. Da im Grundwortschatz nicht genügend Minimalpaare zur Verfügung stehen, sollte man besser auf Namen (Mühler — Müller) zurückgreifen als auf Nonsenswörter, da Namen eine echte kommunikative Funktion erfüllen. 4.2. Artikulieren/Intonieren Nur selten genügt ein Hörtraining, um Ausspracheschwierigkeiten abzubauen, oft ist auch das Artikulieren und Intonieren in der Fremdsprache ein Problem. In der Muttersprache laufen die Sprechbewegungen automatisiert und unbewusst ab. Neue Bewegungen dazulernen, sie sich bewusst zu machen, ist für viele Lernende sehr schwierig. Dazu

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XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

brauchen sie die Hilfe des Lehrers und entsprechende Übungen. Wichtig ist nicht nur das Bewusstmachen und Anbahnen neuer Sprechgewohnheiten, es kommt besonders darauf an, die erlernten Bewegungsabläufe zu automatisieren - es muss ausreichend geübt werden. Um Monotonie zu vermeiden, sollten die Übungen methodisch abwechslungsreich gestaltet werden (vgl. Stock/Hirschfeld 1996). Es sind nicht nur Laute und Lautverbindungen zu üben, sondern ebenso, und wenn nötig sogar besonders intensiv, die intonatorischen Fertigkeiten (Akzentuierung, Rhythmus, Melodie), die bisher in Übungsmaterialien wie im Unterricht stark vernachlässigt wurden (vgl. Dieling 1989, Stock 1996). 4.3. Psychische Probleme Auch psychische Probleme können dafür verantwortlich sein, dass es keine Lernfortschritte gibt. Gemeint sind nicht nur Hemmungen, vor der Gruppe ungewohnte Laute, Rhythmen und melodische Formen zu produzieren. Mancher weigert sich auch bewusst oder unbewusst, die eigene, gewohnte Sprechweise, die zu seiner Persönlichkeit, zu seiner Identität gehört, zu verändern. Er will die Fremdsprache so sprechen, wie er immer spricht.

5.

5.2. Aufgaben im Unterricht Kein Lehrprogramm und kein Lehrbuch kann dem Lehrer die Verantwortung für die Bestimmung von Ziel und Inhalt der Aussprache abnehmen, wenn auch wesentlich erleichtern. Ausgehend von den konkreten Unterrichtsbedingungen (Gesamtziel der Sprachausbildung, zur Verfügung stehende Zeit, Gruppenstärke, Ausgangssprachen, individuelle Schwierigkeiten und Besonderheiten usw.), muss das für jede Gruppe stets neu festgelegt werden. Hinzu kommen konkrete Aufgaben im Unterricht: • Ausspracheabweichungen erkennen und korrigieren, • soweit erforderlich: Regeln und Kenntnisse vermitteln, • soweit erforderlich: Hinweise auf die Lautbildung geben, • Leistungen kontrollieren und bewerten, • Übungen auswählen bzw. selbst entwikkeln, • Unterrichtsmittel gezielt einsetzen. Auch auf diese Aufgaben werden (zukünftige) Lehrer in der Aus- und Fortbildung oft nicht genügend vorbereitet, so dass sie darauf angewiesen sind, sich die entsprechenden Kenntnisse selbst zu erarbeiten (vgl. Dieling/ Hirschfeld 2000, Dieling 1992, Börner 1989, Ehnert 1989).

Anforderungen an den Lehrenden

Jeder Fremdsprachenlehrer ist für die Entwicklung phonetischer Fertigkeiten im Hören und Aussprechen bei allen Lernenden verantwortlich. Sie orientieren sich an seiner Aussprache, mit seinem Korrekturverhalten beeinflusst er wesentlich die Einstellung und Motivation der Lernenden sowie den Lernprozess selbst. 5.1. Kenntnisse und Fertigkeiten Noch ist es nicht selbstverständlich, weil die Lehrerausbildung es nicht gewährleistet, dass jeder Lehrer mit den phonologischen und phonetischen Grundlagen des Deutschen vertraut ist, dass er also weiß, was zu vermitteln ist, welche Regeln und Ausnahmen es gibt. Ebenso wichtig wären Kenntnisse über die Phonetik der Ausgangssprache(n), was natürlich in sprachlich heterogenen Gruppen nicht einfach ist. Unerlässlich — aber wohl am meisten vernachlässigt — sind Kenntnisse über die didaktischen Möglichkeiten eines wirkungsvollen Ausspracheunterrichts.

6.

Grundfragen der Aussprachevermittlung

6.1. Vermittlung von Aussprachenormen u n d -Varianten

Bei der Arbeit an der Aussprache stellt sich die Frage nach den zu vermittelnden Normen und Formen. Die Standardaussprache, wie sie im Großen Wörterbuch der deutschen Aussprache oder im Aussprache-DUDEN festgeschrieben und in der Öffentlichkeit, z.B. in den Medien, verwendet wird, ist für den DaF-Unterricht in der Regel verbindlich. Die meisten Lernenden haben den Wunsch und auch den Anspruch, diese in allen deutschsprachigen Regionen verständliche und akzeptierte Ausspracheform zu erwerben. Die Standardaussprache als geltende Norm ist aber nur eine Ausspracheform, die den Lernenden begegnet. In der Regel werden sie mit ganz unterschiedlichen Aussprachevarianten (regionalen, phonostilistischen, emotionalen, individuellen) konfron-

875

89. Vermittlung der Phonetik tiert, die ihnen — werden sie im Unterricht nicht darauf vorbereitet - beim Verstehen große Mühe bereiten können. 6.2. Kommunikationsorientierung Auch Ausspracheübungen sollten der kommunikativen Orientierung folgen, und zwar hinsichtlich der Methoden wie des zu übenden sprachlichen Materials. Zwar haben Nachsprechübungen nach wie vor ihre Berechtigung, sie können aber sehr gut durch kreative, situativ-thematische, dialogische und szenische Übungsformen ergänzt werden, die auf reale Kommunikationssituationen vorbereiten. Auch das Übungsmaterial weit verbreitet sind noch immer Sammlungen von Einzelwörtern, die kein inhaltlicher Zusammenhang, sondern nur der zu übende Laut verbindet, und denen sich Nonsenssätze und Zungenbrecher anschließen — sollte auf die Sprachpraxis vorbereiten: Besser als Einzelwörter sind kleine Wortgruppen, die gleichzeitig die rhythmischen und melodischen Strukturen festigen helfen, sie sollten nach Möglichkeit einem Thema oder einer Situation zugeordnet sein und dem zu vermittelnden Wortschatz entstammen. 6.3. Phonologischer Ansatz Es geht hierbei nicht um die Vermittlung phonologischer Theorie oder die Darstellung des phonologischen Systems in seiner Gesamtheit. Aber der Unterricht kann systematischer angelegt und dem Lernenden ein kognitiver Zugang zur Aussprache des Deutschen erleichtert werden, wenn phonologische Strukturen zugrunde gelegt und ausgewählte phonologische Merkmale der Vokale und Konsonanten sowie der Intonation bewusst gemacht werden. Um ein Beispiel zu geben: Es ist sinnvoller, die Vokallänge/ -kürze als generelles (System-)Merkmal zu lernen, als das lange I oder das kurze E isoliert zu üben. 6.4. Kontrastiver Ansatz In sprachlich homogenen Gruppen kann die Unterrichtssystematik und inhaltliche Schwerpunktsetzung zusätzlich nach kontrastiven Aspekten (Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei Intonation, Vokalen, Konsonanten, Schrift von Ausgangs- und Zielsprache) aufgebaut werden (vgl. z. B. Hirschfeld/Stock 2000, Grassau 1992, Hall 1995). Fehlerursachen lassen sich besser erklären, Fehler vermeiden, wenn der sprachliche Hin-

tergrund einbezogen wird (vgl. z. B. Slembek 1995). Sehr günstig sind zudem zweisprachige Hör- und Ausspracheübungen. 7.

Differenzierung der Lernziele

7.1. Adressaten Wie weit sich bestimmte Lerngruppen dem höchstem Ziel, der unmarkierten und allgemein akzeptierten Standardaussprache, nähern sollten, ist vom allgemeinen Lernbzw. Ausbildungsziel abhängig. An zukünftige Deutschlehrer werden höhere Anforderungen gestellt als an Teilnehmer von Touristensprachkursen. Kelz (1976) unterscheidet verschiedene Stufen der angestrebten phonetischen Kompetenz, die von Stufe 1 (keine phonetische Kompetenz, z. B. bei Fachleuten, die die Fremdsprache nur lesen und schreiben aber nicht sprechen wollen) über Stufe 2 (Kompetenz auf den perzeptiven Bereich beschränkt), Stufe 3 (Kompetenz im perzeptiven und produktiven Bereich auf einfachem Niveau), Stufe 4 (Kompetenz im perzeptiven und produktivem Bereich auf hohem Niveau) bis Stufe 5 (Kompetenz im perzeptiven und produktiven Bereich auf höchstem Niveau) reicht. Solche Skalierung kann Anhaltspunkte für die Zielsetzung einer Gruppe bieten, sie sollte aber Anspruch und Motivation von Lernenden, eine höhere als die vorgesehene Kompetenz zu erreichen, nicht einschränken. Gerade in der Aussprache sollten individuelle Anlagen gefördert werden, um für jeden Einzelnen das bestmögliche Ergebnis zu erreichen. 7.2. Perzeptive und produktive Fertigkeiten Auch hier ist eine Zieldifferenzierung erforderlich. Die Anforderungen an Sprachwahrnehmung und -Verarbeitung sind auf jeder Lernstufe höher und Fortschritte sind im Allgemeinen leichter erreichbar als im sprachproduktiven Bereich. 8.

Festlegung von Unterrichtsschwerpunkten

8.1. Lernstufe Die immer wieder erhobene Forderung im Anfangerunterricht besonders an der Aussprache zu arbeiten, da hier die Erfolgsaussichten am günstigsten sind, wir nur selten erfüllt. Phonetische Fehler werden weitgehend toleriert und automatisiert. Diese eingeschlif-

876 fenen Fehler später zu korrigieren ist eine schwierige Aufgabe, denn es ist leichter etwas neu zu lernen als umzulernen. Im wesentlichen sind alle Intonationsmodelle und alle Laute und Lautverbindungen bereits auf dieser Stufe präsent. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zur Grammatik, wo auf der Mittel- und Fortgeschrittenenstufe immer Neues hinzutritt. Phonetik auf dieser Stufe bedeutet vor allem, Kenntnisse und Fertigkeiten zu sichern, zu festigen, zu verbessern und zu vervollkommnen. Im Anfangerunterricht werden die Grundlagen für die phonetischen Fertigkeiten gelegt, hier kann und sollte man möglichst systematisch vorgehen. Die Systematik ergibt sich einmal aus der Interferenz, daneben hat der Ausspracheunterricht die Hörgewohnheiten und Erwartungen der Muttersprachler zu berücksichtigen. Im Deutschen sind für die Sprachaufnahme die intonatorischen Merkmale besonders wichtig, der Hörer orientiert sich vor allem am Rhythmus, Betonung und Melodie. Fehler in diesem Bereich stören die Kommunikation stärker als einzelne lautliche Fehlbildungen. Sie sollten also von Anfang an im Mittelpunkt stehen. 8.2. Homogene und heterogene Lerngruppen Bei sprachlich homogenen Gruppen sind Schwerpunkte relativ einfach festzulegen, wenn entsprechende Informationen über die Ausgangssprache vorliegen (vgl. Hirschfeld/ Stock 2000). In heterogenen Gruppen gibt es gravierende Unterschiede zwischen einzelnen Lernenden, die besondere Anforderungen an die Gestaltung des Unterrichts stellen (vgl. Barry 1991, Frey 1995). Günstig ist es deshalb, mit einer Fehleranalyse (Tonaufnahmen) zu beginnen und von daher die Übungsschwerpunkte zu bestimmen. In heterogenen Lerngruppen sind das sehr häufig die folgenden: • • • •

Akzentuierung und Rhythmus, Sprechmelodie, Vokallänge und -Spannung, Ö- und Ü-Laute,

• Yokalneueinsatz (von/Ina vs. von Nina),

• Konsonantenspannung und Stimmbeteiligung (fortis-lenis), • Auslautverhärtung, • Ich-und Ach-Laut, • Hauchlaut [h],

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

• R-Laute (frikativ-vokalisiert), • Assimilationen (ζ. B. der Endung -en, der Stimmbeteiligung).

9.

Lehr- und Lernmethoden

9.1. Phonetik integrieren Es ist nicht zu empfehlen, ganze Unterrichtsstunden an der Aussprache zu arbeiten. Besser ist es, die festgelegten Schwerpunkte in kurzen Übungsphasen immer wieder aufzugreifen. Daneben sollte Phonetik als Unterrichtsprinzip verstanden werden. Aussprachebesonderheiten sollten also in verschiedenen Unterrichtssituationen berücksichtigt und evtl. auch geübt werden, z.B. bei der Einführung neuer Wörter oder Namen, bei der Arbeit an der Grammatik, beim (lauten) Lesen und beim freien Sprechen. Besonders hingewiesen sei auf den engen Zusammenhang zwischen morphologischen, syntaktischen sowie semantischen Strukturen bzw. Strukturveränderungen und der Aussprache (vgl. Hirschfeld 1995b), auf die man bei Darstellung und Übung des einen wie des anderen nicht verzichten sollte, ζ. B. auf die Wortakzentuierung bei der Behandlung trennbarer (Präfix betont) und untrennbarer (Stamm betont) Verben (umfahren - umfahren). Dem Lernenden wird die Orientierung innerhalb der Sprachebenen erleichtert, Regeln für den Sprachgebrauch lassen sich leichter erkennbar und nutzbar machen und zudem kann der Unterricht interessanter und lebendiger gestaltet werden. 9.2. Lernschritte Neben spontanen Korrekturen empfiehlt es sich, phonetische Schwerpunkte systematisch zu bearbeiten, wobei sich folgende Schritte anbieten: (1) Einführung in die Thematik (ζ. B. mit einem Hörtext), (2) Hörkontrolle (Minimalpaare), (3) Imitation, (4) Korrektur von Fehlleistungen, wenn erforderlich: Bewusstmachung phonetischer Merkmale, der Laut-Buchstaben-Beziehungen usw., (5) erneute Hörkontrolle (Minimalpaare und einzelne Einheiten usw.), (6) Automatisierung durch Nachsprechen, Lesen, Variieren. Die Korrektur erweist sich, wenn Hören und Imitieren nicht ausreichen, oft als schwierig,

877

89. Vermittlung der Phonetik

besonders bei erwachsenen, teilweise auch schon bei jugendlichen Lernenden. Man kann zunächst versuchen, das Hören mit einer Bewusstmachung zu verbinden, also darauf hinzuweisen, worauf beim Hören zu achten ist. Auch das Nachsprechen kann auf diese Weise sowie durch übertrieben deutlich vorgegebene Muster unterstützt werden. Körperbewegungen können dazu beitragen, Sprechbewegungen zu verdeutlichen (Gesten für Länge und Kürze, Melodie usw.), und phonetische Besonderheiten direkt unterstützen (Klatschen oder Taktieren bei Akzenten u. ä., um die erforderliche Sprechspannung aufzubauen). 9.3. Lernmethoden Neben der traditionellen „Papageienmethode", dem Nachsprechen und -lesen, gibt es eine große Zahl anderer, effektiverer Übungsformen, die den Unterricht interessant machen, die Lernenden einbeziehen und die kraft- und zeitaufwendige Automatisierungsphase erleichtern (vgl. Stock/Hirschfeld 1996), also z.B. Frage-Antwort-Übungen, Übungen zum Ankreuzen, Ordnen, Verändern. Bei einer situativen Einbettung der Übungen, können zunächst gehörte und nachgesprochene Beispiele in Sätzen, Dialogen, Texten weiter verwendet und somit mehrmals geübt werden, ohne dass es monoton wird. Bei aneinandergereihten Einzelbeispielen geht das nicht. Ausspracheübungen lassen sich auch spielerisch und als „Wettbewerb" anlegen. 9.4. Übungsformen und -typen Folgende Übungsmöglichkeiten, die sich weiter variieren und ineinander umwandeln lassen, haben sich in der Praxis bewährt: Hören • vorbereitende Hörübungen (Eintauchtexte, die den Schwerpunkt einführen), • kontrollierbare Hörübungen zur Diskrimination und Identifikation, • komplexere, angewandte Hörübungen, die zum verstehenden Hören führen. (Aus-)Sprechen (a) Nachsprechübungen • einfache Nachsprechübung, • kaschierte Nachsprechübung (in Form einer Frage-Antwort-Übung, bei der die Antwort schon in der Frage enthalten ist); (b) produktive (Aus-)Sprechübungen • Ergänzen und Verändern vorgegebener Stimuli,

• Dialog- und Partnerübungen, • Sprachspiele, • Verbindung mit Grammatik- und Lexikarbeit, (c) angewandte (Aus-)Sprechübungen • Vorlesen (eigener bzw. fremder Texte), • Vortragen (literarischer Texte), • freies Sprechen, • szenisches Gestalten. 9.5. Anforderungen an phonetische Übungen Für einen guten Ausspracheunterricht lassen sich zusammenfassend folgende Stichpunkte nennen: • Kontrolle bei Hörübungen, • ausreichende Automatisierung und Vermeidung von Übungsmonotonie durch Vielfalt an Aufgabenstellungen, • Bewusstmachung (Kenntnisse), • Alltagslexik (situativ, thematisch), • Verbindung mit Grammatik- und Lexikarbeit • Produktivität und Kreativität der Lernenden, • Spaß. 9.6. Kontrollmöglichkeiten und Leistungsbewertung Die Hörleistungen können durch sehr vielfältige Verfahren kontrolliert werden, ζ. B. durch Markierungen, Einordnen von Beispielen in Tabellen u. ä., Transkribieren, Schreiben (Diktat, Lückendiktat), Nachsprechen, Gesten oder Körperbewegungen. Die Ausspracheleistungen können beim Lesen, Nachsprechen und freien Sprechen durchaus unterschiedlich sein, deshalb sollten möglichst alle drei Bereiche kontrolliert werden. Für die Hörkontrolle empfiehlt sich die Verwendung eines Tonbandes, um eine identische Wiederholung zu ermöglichen. Für die Kontrolle der Aussprache empfiehlt sich ebenfalls eine Tonaufnahme, einmal wegen der genaueren Analyse, zum anderen, um mit den Lernenden gemeinsam Fehler festzustellen und zu werten. Die Bewertung (Zensierung) von Ausspracheleistungen ist problematisch, weil es sich im Gegensatz zu Orthografie und Grammatik nicht um die einfache Distinktion richtig - falsch handelt, sondern in der Quantität und Qualität von Abweichungen eine Vielfalt von Graduierungen auftritt. Das hat zur Folge, dass die Kriterien und Bewertungs-

878

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

richtlinien oft ungenau sind und viel subjektiven Spielraum lassen (vgl. Mebus 1995, Hirschfeld 1987). 10.

Hilfsmittel und -methoden

10.1. Ziele und Prinzipien Hilfsmittel im Ausspracheunterricht dienen der Intensivierung des Lehr- und Lernprozesses, der Bewusstmachung und Veranschaulichung phonetischer Regularitäten und Besonderheiten, der Unterstützung von Analyse, Aneignung, Steuerung und Kontrolle der Hör- und Sprechvorgänge, der methodischen Abwechslung und der Auflockerung. Da Hören und Imitieren nur selten zum Erfolg führen, muss der Lehrer das ganze Spektrum zusätzlicher Hilfen kennen und gezielt einsetzen. Dabei sollte auf das „Prinzip des einfachsten Mittels" geachtet werden, d. h. Gesten sind z.B. bei gleichem Effekt einem Computer vorzuziehen. 10.2. Übersicht Sehr vielfaltige Mittel und Methoden, die sich gegenseitig ergänzen sollten, sind anwendbar: • visuelle Mittel (z.B. Spiegel, Kerze, aber auch Computergrafiken, Transkriptionszeichen), • auditive Mittel (ζ. B. Kassette, CD), • audiovisuelle Mittel (z.B. Film, Video, Computer), • taktile Hilfen (Stimmhaftigkeit am Kehlkopf fühlen, in Hände hauchen), • Gegenstände (z.B. Bleistift zwischen den Zähnen beim Ich-Laut), • Hand- und Körperbewegungen. Auf die Bedeutung von technischen Unterrichtsmitteln (Hörkassetten und Videos) für phonetische Übungen sei ausdrücklich hingewiesen. Es sollten Kassetten-„Musterbänder" — für den Unterricht und die selbständige Arbeit der Schüler zur Verfügung stehen. Wichtig sind zudem Aufnahmen, die die Leistungen der Schüler dokumentieren. 10.3. Kriterien für die Beurteilung von Übungsmaterialien Bei der Auswahl geeigneter Übungsmaterialien für bestimmte Lernergruppen sollte einer Reihe von Kriterien (vgl. Dieling/Hirschfeld/ Schmidt 1994) berücksichtigt werden. So ist zu prüfen, ob das Material • die Ausgangssprache berücksichtigt,

• der Lernstufe und dem Lernalter entspricht, • mediengestützt (Kassette, Video) ist, • fachliche und didaktische Hinweise für den Lehrer enthält, • phonetische Schwerpunkte systematisch einführt und ausreichend automatisiert, • Übungen zur Intonation (Rhythmus, Gliederung, Akzentuierung, Melodie), nicht nur zu (einzelnen) Lauten anbietet, • kognitiv fundiert vorgeht (Erklärungen, Abbildungen, Regeln, Termini), • die Laut-Buchstaben-Beziehungen darstellt, • die internationale Transkription (API) verwendet, • Hörtraining mit (Selbst-)Kontrollmöglichkeiten anbietet, • Aussprache- mit Grammatik- und Wortbildungsübungen verbindet, • kreativ-produktive Übungsaufgaben nicht nur Nachsprechübungen — enthält, • Übungen kommunikativ, thematisch oder situativ anlegt, • vor allem Alltagslexik und nur gelegentlich „phonetische Konstruktionen" (Zungenbrecher, Nonsens) übt, • phonetische (regionale, situative, emotionale) Varianten — zumindest beim Hörtraining - einbezieht, • landeskundliche und interkulturelle Aspekte berücksichtigt. 11. Ausblick Um Phonetik im kommunikativen Deutschunterricht künftig wirkungsvoll gestalten zu können, ist es erforderlich (vgl. auch die Resolution in Breitung 1994, 11 f.) • Veränderungen in der Lehreraus- und Fortbildung vorzunehmen, d. h. für solide fachliche (phonetisch-phonologische) und didaktische Grundlagen zu sorgen, • Lehrprogramme und Prüfungsrichtlinien hinsichtlich der Vorgaben zur Phonetik zu überprüfen und zu überarbeiten, • zielgruppenspezifische Lehr- und Lernmaterialien zu erarbeiten. 12. Literatur in Auswahl Barry, William J. (1981): Die Problematik der Aussprache in der Fremdsprachenerlernung: die Unvermeidbarkeit eines fremden Akzents. In: arbeitsberichte nr. 16, Institut für Phonetik der Universität Kiel, 3 - 2 8 .

879

89. Vermittlung der Phonetik - (1991): Ausspracheunterricht mit heterogenen Lernergruppen. In: Materialien DaF 30, 69-77. Börner, Wolfgang (1989): Ausspracheübungen. In: Handbuch des Fremdsprachenunterrichts, Tübingen, 191-193. Breitung, Horst (Hg.) (1994): Phonetik - Intonation — Kommunikation. Goethe-Institut, München. Cauneau, Ilse (1992): Hören, Brummen, Sprechen. München. Dieling, Helga (1989): Neue Akzente im Phonetikunterricht: Überlegungen zur Arbeit an der Intonation. In: DaF 1, 150-154. — (1992): Phonetik Deutsch. München.

im Fremdsprachenunterricht

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(Deutschland)

880

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

90. Grammatik Vermittlung 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Grammatik in der Kontroverse Einstellungen, die dem Grammatikunterricht zugrunde liegen Der enge und der weite GrammatikbegrifT Das Grammatikmodell Die Grammatik im Unterricht Grammatik für die Lernenden Zusammenfassung, bzw. Forderungen Literatur in Auswahl

1.

Grammatik in der Kontroverse

Die Vermittlung der Grammatik ist seit undenklichen Zeiten das beliebteste Streitobjekt der Praktiker, Didaktiker und Linguisten, und zwar unabhängig davon, ob es sich um den Unterricht des Deutschen als Mutter-, Fremd- oder Zweitsprache handelt. Und nicht nur das, auch die Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht an deutschen Schulen jeder Art und Stufe ist genauso heiß umstritten. In gewissem Sinn dreht sich die Diskussion wohl im Kreis, wenn wir bedenken, dass der weise Comenius schon um 1630 geraten hatte: „Jede Sprache soll mehr durch Gebrauch als durch Regeln gelernt werden" (1992, 152). Nach Comenius' Forderung müssen Regeln den praktischen Gebrauch unterstützen, allerdings sollen diese Regeln nicht philosophische sondern grammatische sein, die mit schlichten Worten erklären, was geschieht und auf welche Weise. Man sollte denken, dass dieser Ratschlag den Weg für einen goldenen Mittelweg im Sprachunterricht für alle Zeiten gewiesen hätte. Aber dem ist nicht so. Es muss reichlich Grund gegeben haben oder noch geben, die herz- und blutlosen Grammatiker „mit ehernen Eingeweiden" (Gervinus) anzufeinden, die den armen Schülern das Leben mit ihrem mechanischen Wissen vergretzen. Ist die Grammatik vielleicht „nichts als das tote Gebäude" (Herder) zum ausdrücklichen Zwecke, Schüler zu quälen? Oder sollte man sich lieber an die Warnung von Luther und Goethe halten, die Grammatik räche sich gar grausam an ihren Verächtern? Interessant ist vielleicht doch, kurz zu erwähnen, dass 1854 in den Volksschulen in Preußen die formale Grammatik verboten wurde, „weil sie das kritische Denkvermögen fördere" (Erlinger 1988, 7). Demnach wäre also Grammatikwissen Macht? Die moderne Diskussion beginnt mit dem „Quo usque tandem"-Ruf des Marburger Anglisten Wilhelm Viëtor (1882/1965, 157):

Er hält den „Herren Oberlehrern" vor, selbst mit der besten Grammatik im Kopf hätten ihre Schüler noch keine Sprache gelernt. Viele Zitate gelehrter oder schöngeistiger Provenienz sind seither bemüht worden, um die Rolle der Grammatik in Frage zu stellen oder zu verteidigen. Da Deutsch als Fremdsprache das jüngste Fach in dieser Runde ist, das noch bis vor kurzer Zeit um seinen fachwissenschaftlichen Status besorgt war, ist seine Diskussion zum Teil stark mit derjenigen über die Muttersprache und der über die modernen Fremdsprachen verbunden und von beiden beeinflusst. So fragte 1950 Konrad Gaiser (in Rötzer 1973, 1) „Wieviel Grammatik braucht der Mensch?" und antwortete ähnlich wie Tolstoi auf die Frage, wieviel Erde der Mensch brauche, nämlich: weniger als der Mensch glaubt, zumindest was den Deutschunterricht in der Volksschule betrifft, da die Grammatik nicht „lebenspraktisch" sei. In einer Publikation von 1993 mit Beiträgen eines Symposiums über Deutsch in Irland wurde die Frage erneut aufgegriffen, und Gerhard Heibig fordert hier nun zumindest für den Fremdsprachenlehrer „zweifellos viel Grammatik" (Harden/ Marsh 1993, 28). Heibig (1995) insistiert erneut auf dem Spanischen Germanistentag von 1994, der Lehrer müsse die fremde Sprache nicht nur können, er müsse sie auch kennen, damit er den Lernenden auch erklären könne, warum das eine richtig, das andere falsch sei. Die Grammatikvermittlung ist in diesem Jahrhundert stark vom Methodengerangel in Mitleidenschaft gezogen worden. Nur die Grammatik-Übersetzungsmethode war noch frei allen Selbstzweifels. Präsentation der Regel, Anwendung in Beispielen möglichst moralisch hochstehenden Inhalts, Sprechen in der Muttersprache über die Fremdsprache diese Unterrichtsform hat sicher die längste Zeit die Klassenzimmer beherrscht. Die Direkte Methode machte die Grammatik zur Dienerin und ließ sie nur in bescheidenem Ausmaß im Anschluss an die praktisch erarbeiteten Sprachfertigkeiten zu. In der Audiolingualen Methode nordamerikanischer Prägung (geprägt vor allem von Robert Lado) und in der in Frankreich vom CREDIF (Guberina) ausgearbeiteten Audiovisuellen Methode wurde explizite Grammatik geradewegs zu einem Tabu, was allerdings nicht bedeutete, dass die Grammatik aus dem Fremdsprachenunterricht verschwunden wäre, war

90. Grammatikvermittlung

doch in beiden Fällen die Progression des Lehrmaterials und der Hauptanteil des Übungsgeschehens grammatikalisch determiniert. Das Prinzip der minimalen Lernschritte vollzog sich in erster Linie an der grammatischen und erst in zweiter Linie an der lexikalischen Progression. Aber der Gebrauch grammatischer Termini und im allgemeinen das Gespräch über Grammatik waren peinlich verpönt. Insofern beherrschte die Grammatik sozusagen als graue Eminenz das Unterrichtsgeschehen. Im Gegenzug zu den behavioristischen Lehrmethoden wurde dann, zumindest teilweise in der Euphorie der beginnenden Chomsky-Rezeption, das Lernen auf der Grundlage expliziter Regeln („cognitive code learning") zur Mode und das Klassenzimmer zum Experimentierfeld für die oft unkritische Anwendung linguistischer Modelle, bis Krashens Erwerbstheorien eine rechte Fehde auslösten, in der die Ritter voller Passion den Handschuh für und wider die Grammatik ins Feld warfen. Allerdings war nun die Verdammung der Grammatik radikaler denn je zuvor, sollte sie doch in keiner Einführung, keiner Erklärung, keiner Übung, keiner Fehlerkorrektur mehr Platz haben, da die Hypothese der natürlichen sprachlichen Erwerbssequenzen für den Zweitsprachenerwerb als experimentell gesichert gelten wollte und bewusstes Lernen hier als durchweg schädlich angesehen wurde. Diese Haltung verbündete sich zum Teil, aber wirklich nur zum Teil, mit der Pragmadidaktischen Methode, die die Kommunikative Kompetenz auf den Schild gehoben hatte. Erfreuliche Wirkung zeigte sich in der größeren Unbefangenheit der Kursteilnehmer, einfach drauflos zu reden. Bedenklich stimmten dagegen die Ergebnisse von Sprachstandmessungen: „unerwartet schlecht, z. T. katastrophal" (Harden/Marsh 1993, 77). Nun wurden zeitgleich an anderem Ort ebenso gewissenhafte Experimente durchgeführt, die bewiesen, dass gesteuerter Spracherwerb bessere Ergebnisse zeitigt als ungesteuerter und dass venünftige Grammatikunterweisung den Lernprozess wirksam verkürzt, „short cut" ist ein beliebter Terminus für die englischsprachigen und von der angelsächsischen Literatur geprägten Apologeten des Sprachverständnisses, der „grammar awareness", der inzwischen eine ganze Zeitschrift gewidmet ist. Der Interkulturelle Ansatz der Kommunikativen Methode, der die jüngste Neuerung in der Methodendiskussion darstellt, wählt eklektisch aus allen Methoden, Techniken und Aktivitäten die geeignetsten aus und kombiniert sie in einem ab-

881 wechslungsreichen Unterrichtsgeschehen, das den Dialog zwischen den Kulturen im Auge hat. In diesem Rahmen hat auch kognitive Grammatik Platz, und zwar durchaus auf der Grundlage des Vergleichs zwischen der Mutter- und der Zielsprache. Inzwischen scheint die Gehirnforschung auf dem Wege zu sein, richtungweisende Erkenntnisse über den Spracherwerbsprozess bereitzustellen (vgl. Götze 1995, 649ff.). Aber solange noch kein vollständiges, zuverlässiges und verallgemeinerbares Bild vorliegt, sieht es so aus, als bewegten wir uns immer noch in einem Feld, wo Experimente, Befragungen und Statistiken weitgehend die Hypothesen bestätigen, denen zuliebe sie durchgeführt wurden. Die Praktiker - von Methodendiskussion und Lehrmaterialwechsel immer wieder aufgerüttelt - haben in der Zwischenzeit zwar alle Anregungen ausprobiert bis hin zu den alternativen Methoden, doch der Grammatik sind sie laut der Befragungen von Zimmermann (1990) eindrucksvoll treu geblieben. Wenn auch die Fragestellungen nicht übermäßig präzise sind - Was mögen die jeweils Befragten genau unter „Grammatik" verstehen? — so sind selbst die überzeugtesten Verfechter bass erstaunt über die Angaben zu der der Grammatik gewidmeten Unterrichtszeit, nämlich 40 bis 60 Prozent. Nun wäre es sicher sinnvoll, Deutsch als Fremdsprache getrennt von anderen Fremdsprachen und in Hinblick auf mögliche Unterschiede zwischen dem Unterricht innerhalb und außerhalb der deutschsprachigen Länder zu untersuchen. Es läge auch nahe, generationsspezifische Merkmale in Betracht zu ziehen: Denjenigen Deutschlehrenden, die ζ. B. in einer sehr grammatikfeindlichen Zeit Deutsch als Fremdsprache gelernt haben oder in dem Fach ausgebildet worden sind, mag schlicht das Rüstzeug fehlen, so dass manche von ihnen der Bequemlichkeit halber sich einer Kommunikativen Methode ohne Grammatik verschreiben. Zu denken gibt allerdings die oft und von vielen gemachte Beobachtung, dass nicht-muttersprachliche Lehrer im allgemeinen der Grammatik einen wichtigeren Platz einräumen als ihre Kollegen, die mit dem Deutschen aufgewachsen sind. Die Überzeugung, dass Bewusstmachung von sprachlichen Regularitäten die Lerneffizienz erhöht, hat sich auf jeden Fall wieder soviel Terrain zurückerobert (vgl. Krumm in Dahl/Weis 1988, 11 ff. und Tönshoff 1992), dass die Frage ob Grammatik den ungleich interessanteren Fragen nach dem wieviel, wann, wo, für wen und auf welche Weise Raum gibt.

882

2.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Einstellungen, die dem Grammatikunterricht zugrunde liegen

Der Ausdruck Grammatik kann für verschiedene Begriffe stehen. In diesem Kapitel ist nicht so sehr von Grammatikbüchern die Rede, auch nicht von Grammatikteilen oder -kapiteln in Lehrwerken, sondern von einem viel allgemeineren Konzept, nämlich dem System, das — uns bewusst oder nicht — unserem Sprachhandeln zugrundeliegt, der Gesamtheit der Regularitäten, die wir in der Sprache beobachten und im Unterricht den Lernenden — bewusst oder nicht — beizubringen versuchen. Nachdem es sich nun nicht leugnen lässt, dass die Mehrzahl derjenigen, die Deutsch als Fremdsprache unterrichten, der Grammatik einen mehr oder weniger wichtigen Platz in ihren Unterrichtsstunden zuweisen, lohnt es sich zu fragen, welche Einstellungen der Grammatikvermittlung zugrunde liegen. Der französische Linguist Henri Besse (Köchling et al. 1989, 76 ff.) unterscheidet drei (Prae)-Konzeptionen, die den historischen Gang der Sprachwissenschaft geprägt haben und die bei Lehrenden und Lernenden meist unbewusst und zum Teil nebeneinander oder wechselweise anzutreffen sind. Da ist zum einen die Auffassung, dass die Grammatik den guten Gebrauch der Sprache regelt, den Vorschriften der juristischen, moralischen oder religiösen Gesetze vergleichbar, diese nennt er die „rechtliche" Konzeption. Nach der zweiten Auffassung handelt es sich darum, die Gesetzmäßigkeiten der Sprache zu entdecken und zu beschreiben, in der Art wie sich die Gesetze der Natur auffinden lassen, weil sie in der Natur sind. Diese „beschreibende" Konzeption hat die Philologie des 19. Jhs. geleitet. Die moderne Linguistik folgt dagegen der „konstruktivistischen" Konzeption, derzufolge Modelle entworfen werden, mit dem Zweck, die Wirklichkeit über die Rekonstruktion zu verstehen. Die grammatische Regel wird nach dieser Auffassung also nicht „entdeckt", sondern „erfunden", sie stellt mithin eine Hypothese darüber auf, wie die Sprache funktionieren könnte. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass diese Konzeptionen das Lehren und Lernen beeinflussen. Regelhörige Kursteilnehmer und -leiter bemühen sich um die Wohlgeformtheit der Sätze in dem Bestreben sich richtig und rechtschaffen zu verhalten. Diejenigen, die sich durch die Konzeption der von der Natur

gegebenen Regeln leiten lassen, suchen immer diese Perfektion zu erreichen, selbst wenn sie ihren kommunikativen Zielen zuwiderläuft. Die „Konstruktivisten" verwenden die grammatischen Regeln als Strategien im Problemlösungsspiel neben anderen kommunikationsorientierten Strategien. Einen anderen Ansatz verfolgt Heibig (1995, 12); er unterscheidet zwischen einer Grammatik A (als dem der Sprache innewohnenden Regelsystem, unabhängig von dessen Beschreibung durch die Linguisten und von dessen Beherrschung durch die Sprecher), einer Grammatik Β (als Abbildung des der Sprache selbst innewohnenden Regelsystems durch die Linguistik) und einer Grammatik C (als dem durch den Sprecher interiorisierten Regelsystem, dessen „subjektiver Grammatik", auf Grund derer er die betreffende Sprache beherrscht). Auf den Fremdsprachenunterricht angewendet, wäre die Grammatik A das ideale Ziel, dem die Lernenden sich mit ihrer Grammatik C, also ihrer „Interimssprache" anzunähern suchen. Die Grammatik B, die in dieser Konzeption eine Lernhilfe darstellt, müsste allerdings strenggenommen noch einmal unterteilt werden, da nicht die linguistische Grammatik, sondern erst die Didaktische, bzw. Pädagogische Grammatik diesen Zielen Genüge zu leisten versucht. Dass auch diese Grammatik D nicht Selbstzweck ist, sondern eine dienende Funktion im kommunikativ ausgerichteten Deutschunterricht einnimmt, versteht sich nach dem bisher Gesagten von selbst. 3.

Der enge und der weite Grammatikbegriff

Zur Zeit der Grammatik-Übersetzungsmethode war Grammatik gleichbedeutend mit exhaustiven Tabellen der Deklination und Konjugation, einigen Regeln der Substitution und Transformation und wenigen Konstruktionsprinzipien für den Satz. Dieser morphosyntaktische Apparat wurde zusammen mit dem Lexikon in die Köpfe der Schüler getrichtert und in Prüfungen abgefragt, mit dem Erfolg, dass diese vielleicht über die Sprache, aber nicht die Sprache sprechen konnten. Es ist daher kein Wunder, dass alle darauffolgenden Methoden die Kommunikationsfähigkeit auf ihr Banner setzten. Zunächst stand die Alltagskommunikation im Mittelpunkt, der zuliebe auch die Grammatikselektion entsprechend reduziert wurde. Wozu

883

90. Grammatikvermittlung

ζ. Β. den Genitiv lehren — so wurde damals argumentiert —, wenn Äußerungen wie: Er bedient sich seines

Messers.

so unalltäglich klingen. Durch die Interessenverlagerung auf Leseverständnis und Fachlesekurse wurde die Forderung nach zwei verschiedenen Grammatiken laut: der Produktionsgrammatik und der Identifikationsgrammatik, um gezielt die entsprechenden Fertigkeiten in der Fremdsprache heranzubilden. Jene soll die Basisgrammatik kurz und übersichtlich darbieten, die für das Gespräch und das Abfassen einfacher Texte sinnvoll ist. Diese muss die gängigen Strukturen vermitteln, die für die Lektüre deutscher Texte vonnöten sind. Die Pragmadidaktik forderte dann mit Nachdruck, was im Ansatz schon in der audiovisuellen Methode vorhanden war: Es genügt nicht zu wissen, was richtig ist, vermittelt werden muss auch, welche Äußerungen in welchem Kontext adäquat sind. Mit anderen Worten traten zu den Regeln des Sprachsystems

die

Regeln

des

Sprachge-

brauchs, die „durch den Kontext, die Intention des Sprechenden/Schreibenden, den situativen Rahmen der Äußerung wie die Textsorte beeinflusst und verändert" werden (Götze 1996, 137). Aber auch hier genügt es wieder nicht, ζ. B. die kommunikativen Funktionen des Passivs im Deutschen darzustellen oder die sozial unterschiedlichen Begrüßungs-, Dankes- oder Entschuldigungsformeln anzubieten. Es ist auch hier nötig, kulturell geprägte Unterschiede zu den muttersprachlichen Konventionen und den entsprechenden Konnotationen und Wirkungen zu behandeln, wie ζ. B. das Melden und Identifizieren am Telefon, unterschiedliche Implikaturen des Versprechens, Einigung über Einladung und Annahme derselben und vieles mehr. Diese Dinge gehören im strengen Sinne nicht mehr zur Grammatik. Aber sie sind wesentlich für die Kommunikative Kompetenz und bilden daher zunehmend Teil der Bewusstmachung sprachlicher Regularitäten und Konventionen im Fremdsprachenunterricht (vgl. TönshofT 1992, 85 ff.). 4.

Das Grammatikmodell

Die Frage nach dem linguistischen Modell, das der Grammatikvermittlung zugrunde liegen soll, erhitzt die Gemüter der Wissenschaftler und verursacht den Praktikern Umstände, da sie sich praktisch mit jedem Lehr-

werkwechsel in eine neue Darstellungsweise einarbeiten müssen. Einigkeit herrscht wohl darüber, dass die Behandlung der Grammatik lernerspezifisch zu erfolgen hat. Also, Deutsch als Fremdsprache für Kinder oder für Erwachsene mit geringer schulischer Vorbildung wird die sprachlichen Regularitäten praktisch und spielerisch vermitteln, im Unterricht an Oberschulen und im akademischen Bereich kann dagegen der Einsatz grammatischer Termini und theoretischer Erörterungen den Lernprozess entscheidend fördern, vorausgesetzt, dass der Deutschunterricht auf einem entsprechenden pädagogischen Hintergrund aufbauen kann. Kognitivierung im Deutschunterricht erfasst in diesem Fall aber nicht nur den harten, systemlinguistischen Kern der Grammatik. Relevant ist genauso das Besprechen semantischer Schwierigkeiten, pragmatischer Besonderheiten, vor allem wenn sie zum besseren Verständnis der anderen (und der eigenen) Kultur führen. Das Grammatikmodell ist in heutiger Zeit auf jeden Fall eklektisch, denn es gibt keinen allumfassenden theoretischen Rahmen, der das komplexe Phänomen von Sprache und Rede aus einem Ansatz erklärt. In der Lehrerausbildung und in der Lehrwerkerstellung werden daher verschiedene Forschungsergebnisse zu einem möglichst widerspruchsfreien Gesamtbild zusammengefügt, das sich aber aus verschiedenen Quellen speist. Für den deutschen Satzbau liefert die DependenzVerb-Grammatik (vgl. Engel 1988; Gross/Fischer 1990) das am weitesten verbreitete Modell. Der Einfluss der Funktionalen Linguistik hat aber eine Richtungsänderung bewirkt. Im Vordergrund stehen die „Notionen" und „Funktionen", für die die sprachlichen Ausdrücke präsentiert, erklärt und geübt werden. Dazu treten Ansätze aus der Textlinguistik (z.B. Thema-Rhema-Strukturen für Erklärungen zur Satzstellung, Textsorten und ihre Relevanz für bestimmte Formen, wie z.B. das Präteritum in narrativen Texten) und der Pragmatik (z.B. um die Funktion von Dialogpartikeln, verschiedene Stile und Ausdrucksweisen, regionale und Generationsunterschiede, Höflichkeit und vieles mehr zu verdeutlichen). Die etwas übereilte Übernahme der Sprechakttheorie in den siebziger Jahren, die sich in Auflistungen von Sprecherabsichten niederschlug, muss als überholt gelten, da diese Art von universalem Wissen auch in der Muttersprache vorhanden ist. Was dagegen neu und beherzigenswert ist,

884

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

ist die Kenntnis von kulturspezifischen Unterschieden in Sprechakten, Präsuppositionen und die Frage, wie man dafür Sensibilität entwickelt und das Vermitteln lernt. Kognitivierungsprozesse dienen in diesem Sinne nicht nur dem Erwerb grammatischer Regularitäten sondern auch der interkulturellen kommunikativen Kompetenz. Was die Auswahl und Progression der Grammatikschwierigkeiten im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache betrifft, so gilt für die Anfangerkurse die Auflistung der Grundstrukturen als verbindlich, deren Beherrschung auch in den entsprechenden Sprachprüfungen verlangt wird. Dabei sollen logischerweise die einfachen vor den komplexen Strukturen präsentiert und geübt werden (vgl. Latour in Kast/Neuner 1994, 70 ff.). Immer mehr setzt sich auch die Überzeugung durch, dass Grammatik zyklisch dargeboten werden muss, da das Grammatikverständnis der Lernenden erst allmählich wächst. Grammatikkenntnis wird an leicht durchschaubaren Phänomenen geübt; sobald diese beherrscht werden, tritt sie in den Hintergrund und wird nur noch zur Fehlerkorrektur und in Fällen komplexer Schwierigkeiten beim Lesen oder Schreiben aktiviert.

5.

Die Grammatik im Unterricht

Der Unterricht, der mit den Buchstaben begann, zu den Konjugations- und Deklinationstabellen fortschritt und schließlich in den Konstruktionsprinzipien des Satzes gipfelte, wurde von Hofmannsthal als Methode der Philologen verspottet, „die alle Sprachen so lehren, als ob sie tot wären". Der Sprachunterricht ist ungleich lebendiger geworden, seitdem der zu erlernende Stoff in Situationen, Dialogen oder anderen Texten präsentiert wird, so dass die Themen im Vordergrund stehen, die es zu klären, erklären und besprechen gilt, bevor das Interesse auf die Form gelenkt wird. In der anschließenden Übungsphase werden die Ausdrücke in engerem, dann in weiterem Anwendungsbereich geübt, wodurch der Bogen von der Reproduktion über den Transfer zum freien Sprechen und Schreiben geschlagen wird. Es hängt nun von der Einstellung des Lehrers ab, ob die Grammatik in diesem Lernprozess stets impliziter Bestandteil bleibt, oder ob eine oder mehrere Kognitivierungsphasen eingeschoben werden, in denen die neuen oder noch unsicheren Grammatikthemen ex-

plizit zu Wort kommen. Diese Phasen sind in ihrem Einsatz verschiebbar und lassen sich im Prinzip mit jeder Unterrichtseinheit verbinden, sollten aber klar als metasprachliche Ebene abgegrenzt bleiben, denn der Spracherwerb strebt ja den automatischen Gebrauch der Formen an. Kognitivierung von Grammatikregeln dient zweierlei Zielen: Einerseits sind Erklärungen dazu da, den Lernenden eine Orientierung in dem fremden Element zu ermöglichen; andererseits bieten sie Rezepte an, nach denen Äußerungen gebildet, überprüft und korrigiert werden können. Grammatikregeln werden also zur Erklärung, zum Einüben, zur Wiederholung und zur Fehlerkorrektur eingesetzt. Es ist heutzutage üblich, zwischen „deklarativem" und „prozeduralem" Wissen zu unterscheiden (ζ. B. Zimmermann 1990, 80; Tönshoff 1992, 37ff.). Prozedurales Wissen entspricht der Fähigkeit, die geplanten Aktivitäten erfolgreich durchzuführen. Deklaratives Wissen befähigt dazu, diese Prozesse zu verbalisieren, kann also bei fortschreitender Automatisierung in den Hintergrund treten. Für jede Darstellung von Grammatikregeln gilt die Forderung, dass sowohl Erklärungen wie Tabellen, Schaubilder und andere Visualisierungsarten den Kriterien gut verständlicher Texte genügen müssen: einfach und kurz, anschaulich und übersichtlich. Außerdem müssen die Regeln einen weiten Geltungsbereich haben, damit sie den Lernweg wirklich abkürzen. Wo die Regeln länger sind als die Liste der Anwendungsmöglichkeiten, und die Erklärung komplizierter als die Schwierigkeit selbst, ist das implizite Einüben sinnvoller. Zum Teil schon im Gange, auf jeden Fall ganz groß im Kommen ist der computergestützte Spracherwerb. Dank E-Mail, interaktivem Video, Satellitenfernsehen wird auch das ungesteuerte Kommunizieren auf Deutsch über die größten Entfernungen sprunghaft zunehmen. Und sobald sich Computer- und Grammatikspezialisten zusammentun, wird ein Großteil der mechanischen Fertigkeiten mit Hilfe von phantasievollen und lerngerechten autodidaktischen Grammatikprogrammen per Computer zu bewältigen sein, so dass der Unterricht vom Repetieren entlastet und den eigentlichen kommunikativen Zielen gewidmet werden kann. Für das Erlernen der Grammatik besteht die Rolle der Kursleiter dann vor allem darin, die Lernenden individuell genau zu beobachten und ihnen die jeweils notwendigen Stützprogramme anzuempfehlen, die zu einer sicheren Beherrschung der Struktu-

90. Grammatikvermittlung ren führen. Im Unterricht gilt aber weiterhin das Ziel, von der mechanischen Beherrschung des Stoffs zur freien Anwendung in der Kommunikation zu führen. 6.

G r a m m a t i k f ü r die Lernenden

Wer Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, sollte, wie gesagt, möglichst viel über Grammatik wissen, aber nicht so sehr um ihrer selbst willen, sondern zum Nutzen der Schüler. Dem Lehrer, der sich allzu rücksichtslos für Grammatik begeistert, gilt nach wie vor Kloppstocks Aphorismus: „Er lehrt wohl, aber man mag von ihm nicht lernen." Die lernerzentrierte Ausrichtung des modernen Fremdsprachenunterrichts hat ja genau das im Blick, dass das Lehrmaterial nach den Bedürfnissen, nach den Wünschen und den Interessen der Kursteilnehmer ausgerichtet und entsprechend adaptiert wird. In diesem Rahmen muss also die Grammatikvermittlung den verschiedenen Schülertypen Rechnung tragen, Regeln für den einen, mechanische Übungen für den anderen, Beispiele in Texten, Gedichten und Liedern für den dritten, Merk- und Scherzverse für diesen, Experimente und Spiele für jenen bereitstellen, so dass alle sich ihren Part aussuchen, um auf analytische, praktische oder spielerische Art zu lernen. Vorschläge und Vorlagen für derlei Aktivitäten finden sich inzwischen in allen Lehrwerken, in Listen und Sammlungen (z.B. Häussermann/Piepho 1996) und Spezialzeitschriften (ζ. B. Deutsch als Fremdsprache, Zielsprache Deutsch, Fremdsprache Deutsch). Viel empfohlen wird das „entdekkende" Lernen, ein induktives Verfahren, das den Schülern erlaubt, die Regeln selbst zu finden und entsprechend besser zu verarbeiten. Wenig gewonnen ist allerdings, wenn immer die „Klassenbeste" die Regelfindung den anderen vorwegnimmt. Durch schriftliches Fixieren der Hypothesen kann man z.B. Zeit gewinnen, damit möglichst viele sich im Entdecken üben. Allgemein gilt die Forderung, dass die Beschäftigung mit Grammatik Spass machen soll. Dahin gehen auch viele Schülerurteile: Es hänge vom Lehrer ab, ob Grammatikunterricht nützlich und spannend oder langweilig und lästig sei. Zur Lernerzentrierung gehört aber auch, dass der Muttersprache und Ausgangskultur gebührend Rechnung getragen wird. Die Kontrastive, beziehungsweise die Konfrontative Linguistik hegte in der Anfangseuphorie

885 der fünfziger Jahre die Illusion, mit dem Vergleich zweier Sprachsysteme alle möglichen Interferenzen voraussagen zu können und durch Bewusstmachung der Gefahrenzonen allen Schwierigkeiten vorzubeugen und einen fehlerlosen Erwerb der Zielsprache zu ermöglichen. Dass die Planung am grünen Tisch die Wirklichkeit des Klassenzimmers nur sehr unzulänglich widerspiegelt, zeigte dann die planmäßig betriebene Fehleranalyse der siebziger Jahre, deren Beobachtungen über die verschiedenen Etappen der Interimssprache dazu führten, dass zunächst die Bedeutung der Interferenz fast ganz abgestritten wurde. Doch Langzeitanalysen geben dem Einfluss der Muttersprache heute wieder ein starkes Gewicht. Es lässt sich nicht bestreiten, dass das muttersprachlich geprägte Denken einen starken Einfluss auf alle Ebenen der Sprachproduktion hat, und das nicht nur auf Anfanger- sondern auch auf Fortgeschrittenen-Niveau. Wenn spanischsprachige Deutschlernende zum Beispiel Äußerungen erzeugen wie • Ich bin studieren. • Guten Abend, Lehrerin, (als Begrüßung um 3 Uhr nachmittags), so sind dafür nur die Strukturen, beziehungsweise die konversationeilen Konventionen der Muttersprache verantwortlich zu machen. Für das Deutsche als Fremdsprache muss dazuhin noch in Rechnung gestellt werden, dass es für die meisten Lerner nicht die erste, sondern die zweite oder dritte Fremdsprache ist, dass also auch mit Interferenzen zwischen diesen gerechnet werden muss. Die Diskussion über die Grammatikvermittlung beginnt erst allmählich, solche Aufgaben ernst zu nehmen (z.B. Gras/Tomelleri 1994). Auf diesen Gebieten bleibt also noch viel Forschungsarbeit zu tun. Währenddessen werden die Lehrenden den Grammatikunterricht wie bisher auf der Grundlage ihrer praktischen Erfahrung planen. Und der Raum, den die Grammatik im Unterricht einnimmt, wird entscheidend von den Lernenden mitbestimmt, wenn sie das Recht und das Vertrauen haben, ihre Fragen und ihre Neugier zu artikulieren. Dem Kursleiter bleibt es vorbehalten, jeweils zu entscheiden, ob die angeforderten Erklärungen, Rezepte, Übungen für das Plenum, für kleine Arbeitsgruppen oder einzelne Schüler relevant sind, und die Arbeits- und Sozialformen dementsprechend zu organisieren.

886

7.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Zusammenfassung, bzw. Forderungen

(a) Die Grammatikvermittlung dient dem übergreifenden Lernziel der interkulturellen kommunikativen Kompetenz. (b) Explizite Grammatik kann zur Klärung, Handlungsanleitung und Fehlerkorrektur genutzt werden, als Selbstzweck hat sie keinen Platz im normalen Sprachunterricht, es sei denn die Schüler sind Linguisten. (c) Die Grammatikunterweisung sollte nach Möglichkeit die Ausgangssprache und -kultur der Lernenden mit einbeziehen. (d) Das Grammatikmodell muss didaktisch, eklektisch, integrierend und widerspruchsfrei sein, die Termini einsehbar und die Erklärsprache prägnant und leicht verständlich. Erklärungen und Regeln müssen durch abwechslungsreiche Übungen gestützt werden. (e) Die Selektion und die Progression der zu lehrenden Regeln richtet sich nach den Lernzielen (ζ. B. allgemeine Sprachkurse, Lesekurse usw.) und nach den Voraussetzungen und dem Lernhintergrund der Kursteilnehmer. (f) Grammatikunterweisung sollte auf jeden Fall lernerzentriert sein, also auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler eingehen. (g) Grammatik im Unterricht soll Spaß machen.

8.

Literatur in Auswahl

Bausch, Karl-Richard (Hg.) (1979): Beiträge zur didaktischen Grammatik. Königstein/Ts. Comenius, Johann Amos (1992): Große Didaktik. Übers, und hg. v. Andreas Flitner. Stuttgart. Dahl, Johannes; Brigitte Weis (Hg.) (1988): Grammatik im Unterricht. Expertisen und Gutachten zum Projekt „Grammatik im Unterricht" des Goethe-Instituts München. München. Eggers, Dietrich; Ulrich Engel; Hans-Jürgen Krumm u. a. (1979; 1983; 1988; 1990): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Bd. 5 Heidelberg; Bd. 9; Bd. 14; Bd. 16 München. Engel, Ulrich; Siegfried Grosse (Hg.) (1978): Grammatik und Deutschunterricht. Jahrbuch 1977 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. — (1988): Deutsche Grammatik. Heidelberg. Erlinger, Hans Dieter (1988): Studienbuch: Grammatikunterricht. Paderborn et al. Götze, Lutz (1995): Lernt oder erwirbt man eine Fremdsprache? Anmerkungen zu einem Streit aus

der Sicht der Hirnforschung. Im Heidrun Popp (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. An den Quellen eines Faches. Festschrift für Gerhard Heibig zum 65. Geburtstag. München, 649-658. — (1996): Grammatikmodelle und ihre Didaktisierung in Deutsch als Fremdsprache. In: DaF 33/3, 136-143. Gras Ferraresi, Brigitte; Luciana Tomelleri Kromberg (1994): Confrontil Vergleiche. Aspetti contrastivi del tedesco rispetto all'italiano. Regole, tabelle, esercizi. Bologna. Gross, Harro; Klaus Fischer (Hg.) (1990): Grammatikarbeit im DaF-Unterricht. München. (Studium Deutsch als Fremdsprache — Sprachdidaktik Bd. 8). Häussermann, Ulrich; Hans-Eberhard Piepho (1996): Aufgaben-Handbuch. Deutsch als Fremdsprache. Abriß einer Aufgaben- und Übungstypologie. München. Harden, Theo; Clxona Marsh (Hg.) (1993): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? München. Heid, Manfred (Hg.) (1982): Die Rolle der Grammatik im kommunikativen Fremdsprachenunterricht. New Yorker Werkstattgespräch 1981. München. Heibig, Gerhard (1995): Grammatik und Kommunikation. In: Rupiérez, Germán (Hg.): Spanischer Germanistentag 1994 — Multimedia-Bericht und Kongressakten auf CD-ROM. Madrid. Kast, Bernd; Gerhard Neuner (Hg.) (1994): Zur Analyse, Begutachtung und Entwicklung von Lehrwerken für den fremdsprachlichen Deutschunterricht. Berlin etc. Köchling, Margareta; Frank Frankel; Paul Chaix (Hg.) (1989): Die Rolle der Grammatik im Fremdsprachenunterricht. Paris. (Triangle 8). Latour, Bernd (1994): Grammatik. In: Kast, Β ; G. Neuner (Hg.), 70-74. Rail, Marlene; Martha Franco; Claudia Garcia u. a. (1996): Das Forschungsprojekt »Pädagogische Grammatik'. In: Rail, Dietrich; Marlene Rail (Hg.): Actas del VIII Congreso Latinoamericano de Estudios Germanísticos. „Tan lejos y tan cerca". México, 442-462. Rosier, Dietmar (1994): Deutsch als Fremdsprache. Stuttgart etc. Rötzer, Hans Gerd (Hg.) (1973): Zur Didaktik der deutschen Grammatik. Darmstadt. Tönshoff, Wolfgang (1992): Kognitivierende Verfahren im FSU. Formen und Funktion. Hamburg. Zielsprache Deutsch (1985): Heft 4: Grammatik im Unterricht .Deutsch als Fremdsprache'. München. Zimmermann, Günther (1984): Erkundungen zur Praxis des Grammatikunterrichts. Frankfurt a. M. — (1990): Grammatik im Unterricht der Erwachsenenbildung. Ismaning. Marlene Rail, Mexiko ( Mexiko )

887

91. Wortschatzvermittlung

91. Wortschatzvermittlung 1. 2. 3. 4. 5.

Wortschatzwende? Forschungsbezüge Prinzipien der Wortschatzvermittlung Forschungsausblick Literatur in Auswahl

1.

Wortschatzwende?

Generell von einer Wortschatzwende zu sprechen, wie Zöfgen bereits 1985 und Hausmann 1987 die linguistische und fremdsprachendidaktische Entwicklung bewerteten, scheint heute immer noch verfrüht zu sein. Zwar sind in den 80er und 90er Jahren wichtige forschungsorientierte Sammelbände und praxisbezogene, allerdings fast ausschließlich englischsprachige Handbücher zur Wortschatzvermittlung und zum Wortschatzerwerb erschienen, wie das Literaturverzeichnis verdeutlicht. Doch haben Fragen des Wortschatzes in empirischer Forschung (vgl. Bausch/ Christ/Königs 1995) und unterrichtlicher Praxis nicht den Stellenwert, der ihnen aufgrund ihrer Bedeutung im Sprachlernprozess zukommt. Fehlende Lexikkenntnisse oder lexikalische Fehler beeinträchtigen beispielsweise im Vergleich zu Aussprachefehlern und grammatischen Fehlern am stärksten die Verständigung zwischen LI-Sprechern und L2Lernern, und Befragungen ergaben, dass Wortschatzlernen als besonders lernschwieriger und lernintensiver Bereich erfahren wird (Köster 1994, 2ff.).

2.

Forschungsbezüge

Das zunehmende Interesse an der Wortschatzarbeit gründet auf Forschungsergebnissen aus mehreren Bereichen: Die lexikalische Semantik und mit ihr die Lexikographie haben Erkenntnisse zur Struktur des Wortschatzes und ihrer Aufbereitung in Wörterbüchern bereitgestellt; Applikationen paradigmatischer und syntagmatischer Aspekte des Lexikons sowie das Konzept des Lernerwörterbuchs gaben der Wortschatzarbeit neue Impulse (BörnerApogei 1993). Die kommunikativ-interkulturelle Didaktik, die Diskussion um die Inhalte eines auf Verstehen und Verständigung ausgerichteten Unterrichts und die Orientierung auf die Lernenden und ihr kulturspezifisches Vorwissen hat dazu beigetragen, die dominante Grammatikorientierung in der Fremdsprachendidaktik zu relativieren (Neu-

ner 1990). Schließlich stellten die Kognitive Psychologie und die Psycholinguistik den sprachverarbeitenden Lerner unter prozessualen Aspekten heraus; »Kognition' wurde zu einem Prinzip der Fremdsprachendidaktik und .mentales Lexikon' als grundlegende Komponente der menschlichen Sprachfähigkeit in die Neubegründung der Wortschatzarbeit eingeführt (Börner/Vogel 1994).

3.

Prinzipien der Wortschatzvermittlung

3.1. Mentales Lexikon — vernetztes und mehrkanaliges Lernen Nach dem Paradigmawechsel in der Psychologie, einer der wichtigsten Referenzwissenschaften, hin zur Kognitionswissenschaft wird Gedächtnis heute dynamisch gefasst und als Struktur (funktional getrennte Speicher) und konstruktiver Prozess (Ordnungen erkennen und schaffen, interaktive Gehirnhemisphären) verstanden. Lexikalisches Wissen wird demnach im mentalen Lexikon gespeichert, das die lexikalischen Einheiten der Sprache, ihre Verstehens- und Verwendungsprinzipien enthält. Intralexematisch sind sie als komplexe Datenstrukturen mit ihren getrennt, aber interdependent gedachten Bedeutungskomponenten, phonologischen, orthographischen, syntaktischmorphologischen, imaginalen Informationen sowie Bezugsobjekten und -Situationen repräsentiert (Scherfer 1989, 1995a). Interlexematisch lassen sich Vernetzungen der lexikalischen Einheiten in unterschiedlichen Beziehungsnetzen wie Begriffs-, Wort-, syntagmatischen Netzen, Wortfamilien, Klang- und affektiven Netzen nachweisen, wobei die Anordnung in Sachnetzen besonders dominant zu sein scheint (Kielhöfer 1994). Bei der Modellierung des bilingualen Lexikons (Raupach 1994) wird heute davon ausgegangen, dass Mutter- und Fremdsprache(n) interagieren und in einem Speichersystem repräsentiert sind, das ein separates Netzwerk bildet. Neue Daten werden also immer mit Rückgriff auf das vorhandene Welt- und Sprachwissen verarbeitet. Aus den vorliegenden Erkenntnissen der Kognitiven Wissenschaft und der psycholinguistischen Forschung folgt, dass der Einfluss der Speicherbedingungen (Verstehen

888 und Einordnen) auf das Erinnern, behaltensgerechte Operationen des Klassifizierens, Koordinierens, Assoziierens usw., die mehrkanalige, ganzheitliche kognitiv-affektive Semantisierung und die erste Sprache als Lernhilfe (Scherfer 1994) in die Wortschatzvermittlung einzubeziehen sind. Weitgehend selbständig Ordnungen im Wortschatz zu entdekken und zu schaffen, fördert den Ausbau des subjektiven mentalen Lexikons; und je vielfaltiger eine lexikalische Einheit vernetzt ist, desto besser kann sie abgerufen werden. Entsprechende unterrichtspraktische Hinweise liegen vor (Rohrer 1985; Bohn 1999); selbst Wörter, die auf den ersten Blick dafür ungeeignet scheinen, lassen sich merk-wiirdig machen, indem sie mit Geschichten verknüpft und aufgeladen werden (Weinrich 1991, 139). Im Unterricht erscheint es nunmehr sinnvoll, unter dem Etikett des „Metagedächtnisses" (Weinrich 1991) Gedächtnisleistungen und Techniken des Speicherns und Erinnerns zu thematisieren sowie auf die Verarbeitungspräferenzen unterschiedlicher Lernertypen (Bsp. visuelle, auditive, kinästhetische) und ihre Kompensationsstrategien einzugehen. 3.2. Semantisierungsprozess Der Terminus Semantisierung (Bedeutungserklärung) bezeichnet in der fremdsprachendidaktischen Literatur die Erklärung der Bedeutung lexikalischer Einheiten (Wort, Wortgruppe, idiomatische Wendung) durch den Lehrer, während die von der Kognitionspsychologie beeinflussten Zweige der Zweitspracherwerbsforschung und Psycholinguistik unter dem Begriff der Semantisierung die Verarbeitung durch den Lernenden in den Mittelpunkt stellen. Spricht man von Semantisierungsprozess, so wendet man sich gegen unidirektional aufgefasste Konzepte von Bedeutungsvermittlungen, die die Beteiligung der Lerner am Bedeutungserwerbsprozess gering schätzen und eine Input = Output-Konzeption (,was gelehrt wird, wird auch gelernt') vertreten. Die Erstsemantisierung bekommt durch die enge Beziehung zwischen Verstehen/Behaltenseffekten und verarbeitungsgerechter Strukturierung des Input ihren besonderen Stellenwert in der Wortschatzvermittlung. Das Repertoire von Erklärungsverfahren umfasst nichtsprachliche (demonstrierende und ostensive Definition, Visualisierung) und sprachliche Verfahren, die letzteren lassen sich noch einmal in ein- und zweisprachige unterteilen (Übersetzung, Erklärungen auf

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

der Basis semantisch-lexikalischer Relationen und kontextueller Variation; Müller 1994; Bohn 1999). Auf die Kulturspezifik der Erklärung, das Herstellen landeskundlicher Bezüge ist dabei besonders Wert zu legen (vgl. 3.3.). In die Empfehlungen für Erklärungsverfahren, die auf entsprechende Typologien von Doyé (1982) und Baur/Grzybek (1990) zurückgehen, sind empirisch ermittelte Konstitutiva von Semantisierungsdiskursen in Alltags- und Unterrichtskommunikation (LI und L2; Köster 1994, 44-76) und Aussagen zu Einflüssen multimodaler Kodierung (sensorische, motorische Merkmale; Köster 1994, 76 ff.) noch nicht systematisch aufgenommen worden. Die Wahl eines oder mehrerer Verfahren hängt von den Eigenschaften der lexikalischen Einheit und den konkreten Lernervoraussetzungen ab; eine didaktische Reflektion der Erklärungsverfahren, Begründungen für Auswahl, Frequenz und Zuordnung zu lexikalischen Einheiten fehlen noch. Von den Lehrern intuitiv eingesetzte Mehrfacherklärungen scheinen in der Praxis üblich und auch sinnvoll zu sein, wie in zwei der relativ wenigen empirischen Untersuchungen gezeigt werden konnte (Köster 1994; de Florio-Hansen 1994). Sie machen den unterschiedlichen Lernern Angebote, aus denen sie entsprechend ihrer Dispositionen wählen können: Nach Scherfer (1989,8; erweitert durch L. K.) ist alles, was Beziehungen zwischen Lernern, Wörtern und Bedeutungen stiften kann, als positiv für die Wortschatzarbeit zu betrachten. 3.3. Kultur bezogene Bedeutungs Vermittlung Mit einer Semantisierung, die nur auf die denotative Wortbedeutung eingeht, wird beim Lerner die begriffliche Gleichsetzung von zielsprachlichem und muttersprachlichem Wort unterstützt. Bei der Wortschatzvermittlung sollte aber durch exemplarischen Verweis auf die kulturelle Markiertheit lexikalischer Einheiten eine kulturspezifische Begriffsbildung (Müller 1994) beim Lerner angeregt werden, um Fehlinterpretationen und Missverständnissen in der Kommunikation vorzubeugen. Eigen- und fremdkulturelles Verstehen kann bewusst gemacht werden, indem landeskundlich relevante Bezüge berücksichtigt werden. In der Unterrichtspraxis verdeutlichen beispielsweise Assoziogramme die kognitive, kulturbedingte Vernetzung von Wörtern. Durch eine solche Unterrichtsarbeit werden Lerner dazu befähigt und aufgefor-

91. Wortschatzvermittlung

dert, eigene Strategien zu entwickeln und Hypothesen über konventionalisierte und kontextuelle Gebundenheit von Begriffen aufzustellen. 3.4. Systematische Wortschatzvermittlung Die systematische Wortschatzarbeit, lange Zeit ein „Stiefkind" (Neuner 1991, 77) der Forschung und Unterrichtspraxis, sollte nach Möglichkeit immer kontextuell, situativ und in Sinnzusammenhängen eingebettet auf Textbasis erfolgen. Linguistische und lernpsychologische Argumente sprechen dafür, neue Wörter so früh wie möglich in sinnvollen Texten zu präsentieren (Schouten-van Parreren 1990). Es hat sich inzwischen die Auffassung durchgesetzt, den VerstehensWortschatz gegenüber dem MitteilungsWortschatz aufzuwerten (Neuner 1990); der aktiv zu beherrschende Grundwortschatz soll nun im Gefolge der stärkeren Gewichtung der rezeptiven Kompetenz (Lese- und Hörverstehen) in der Fremdsprachendidaktik durch Übungen zur Unterstützung des verstehenden sprachlichen Prozesses notwendig ergänzt werden. Auf der Grundlage der strukturellen Semantik sind variantenreiche Vorschläge zur Wortschatzarbeit entwickelt worden. Sie wird durch den Verweis auf die syntagmatischen Aspekte des Lexikons kontextualisiert; besondere Aufmerksamkeit verdienen deshalb die lexikalischen Mehrworteinheiten, also Kollokationen und Phraseologismen (Routineformeln, Gemeinplätze, Phraseolexeme). Paradigmatische Beziehungen des Wortschatzes werden traditionell stärker beachtet. Die Darstellung semantischer Felder nimmt Bezug auf 2-Wort-Paare (Synonymie, Antonymie, Hyperonymie) bis hin zu komplexen Clustern (onomasiologische Reihen, Wortfelder). Ebenfalls direkt in die Unterrichtspraxis übernommen wurden Verfahren der Merkmalsemantik, wobei mit Hilfe visueller Darstellungen (Matrices) die Differenz einzelner lexikalischer Einheiten demonstriert wird (Carter 1987, 172). Die Kritik an der strukturalistischen Wortsemantik hat schließlich zu einer Erweiterung um Verfahren aus der Stereotypen- und Prototypensemantik und damit um kognitive Präsentations- und Übungsformen geführt (Neuner 1990). Systematische Wortschatzarbeit meint also nicht nur die Hereinnahme sprachsystematischer Erkenntnisse in die Wortschatzvermittlung, vielmehr auch die Berücksichtigung kognitiver und kommunikativer Übungsgrundsätze.

889 3.5. Lernerorientierung Ein allgemeinverbindlicher, traditionell frequenzdeterminierter Grundwortschatz lässt sich heute nicht mehr rechtfertigen (Latzel 1993). Mit den von Neuner (1991) genannten drei Auswahlkriterien Brauchbarkeit, Verstehbarkeit und Lernbarkeit werden explizit lernerorientierte Überlegungen auch in die Frage der Wortschatzauswahl mit hineingenommen. Berücksichtigt man nun noch die Tatsache, dass der gesteuerte Spracherwerbskontext beim lexikalischen Lernen nur eine eher unbedeutende Rolle spielt — relativ wenige lexikalische Einheiten werden pro Unterrichtseinheit präsentiert und umgewälzt —, bekommt die Forderung nach Lernerorientierung des Fremdsprachenunterrichts, mit den Stichworten selbstgesteuertes Lernen und eigenständiges Weiterlernen, ihre spezielle Berechtigung auch im Bereich der Wortschatzvermittlung. Die Lehrenden haben die Aufgabe, zum autonomen Lernen hinzuführen (de Florio-Hansen 1996); sprachliche Erscheinungen sind bewusst zu machen und Einsicht in Lernprozesse zu fördern, angemessene Lernstrategien sind anzubieten, um den Prozess des individuellen Sprachenlernens zu unterstützen. Vier Lernstrategien sollen im folgenden kurz benannt werden. Im Gegensatz zur bislang alleinig und unreflektiert den Lernern zugeschobenen Verantwortung für die Wortschatzverarbeitung — sie wurde „aus dem Unterricht ausgeblendet, (...) dem häuslichen Fleiß überantwortet" (Wilms 1989, 158) - sollen nun Gedächtnisleistungen und Techniken des Speicherns und Erinnerns thematisiert werden. Ziel ist es hierbei, bewusste lernerindividuelle Lernstrategien zu initiieren, die Informationen in einem Konkretisierungsprozess mit Sinn aufladen, an Vorwissen anlagern und rekonstruktiv das Gewünschte ins Bewusstsein zurückrufen. Zum empirisch abgesicherten Repertoire der Mnemotechniken gehören die wieder ernst genommenen Eselsbrücken, mentale Bilder und Mind maps (Sperber 1989; Müller 1991). Das Raten von unbekannten Wörtern aus dem Kontext ist eine weitere effektive Strategie mit positiven Auswirkungen auf das Behalten, deren einzelne Schritte den Lernern vermittelt werden können (Nation 1990; Schouten-van Parreren 1990; kritisch dazu Coady/Huckin 1997). Damit einher geht eine Strategie der Bedeutungserschließung aufgrund des potentiellen Wortschatzes. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, über die gelernten lexikalischen

890 Einheiten hinaus unbekannte Wörter unter Ausnutzung des Sprachwissens erschließen, inferenzieren zu können (Neuner 1991). Der potentielle Wortschatz umfasst interlinguale Parallelen und intralinguale morphologische und strukturelle Parallelen. Dementsprechend sollte die Wortbildung systematisch in den Unterricht einbezogen und gleichberechtigt vermittelt werden (Kastovsky 1981). Die Studie von Wysocki/Jenkins (1987) hat aber gezeigt, dass Lerner nur einer der beiden Erschließungsstrategien (kontextuelle oder morphologische Information) folgen; ein deutlicher Hinweis an die Praxis, immer beide Strategien zu vermitteln. Zur Vorbereitung auf lexikalische Notsituationen in natürlichen Kontaktsituationen sollten Lerner in die Lage versetzt werden, Erklärungen anzufordern und durchzuführen. Als letzte Strategie sind also Umschreibungstechniken (Verwendung von unscharfen Hyperonymen), Erklärungsverfahren (einschließlich procedural vocabulary, Robinson 1989) und Gesprächsstrategien als interaktive Verfahren der Verständnissicherung bewusst zu machen. Dies impliziert eine Beteiligung der Lerner an der Bedeutungsaushandlung in einsprachigen Semantisierungsphasen (Köster 1994; de Florio-Hansen 1994). 3.6. Wörterbucharbeit Wenn Lernerautonomie, die möglichst eigenständige Aneignung der Fremdsprache und unabhängige Informationsbeschaffung, ein zentrales Element der sich wandelnden Fremdsprachendidaktik ist, dann bekommt die Arbeit mit Lern(er)wörterbüchern einen besonderen Stellenwert. Die empirische Wörterbuchbenutzungsforschung hat aber gezeigt, dass Lerner nicht in der Lage sind, die Möglichkeiten eines Wörterbuchs auszuschöpfen und es als Hilfsmittel beim Lernen einer Fremdsprache effektiv zu nutzen (Zöfgen 1994). Wörterbucharbeit sollte demnach integraler Bestandteil der Wortschatzarbeit sein; einmal, um lexikalische Probleme bei Texterschließung und Textproduktion mit Hilfe eines einsprachigen Lernerwörterbuchs wie des neuartigen Großwörterbuchs Deutsch als Fremdsprache (1993) lösen zu können. Dazu stehen Übungsanregungen bereit (Funk 1990; Eggert 1996). Zum anderen dient das Wörterbuch der Verbesserung der fremdsprachlichen Kompetenz; es kann auch als Lernwörterbuch eingesetzt werden, das aufgrund der internen Struktur der Einträge, der vielfachen Vernetzung und der onomasiologi-

. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

sehen Anreicherung ein reiches Informationspotential bietet und systematische Wortschatzarbeit lernpsychologisch wirksam unterstützt. 3.7. Wortschatz üben Wortschatzübungen dienen dem Erkennen und Wiedererkennen, der Bedeutungserschließung, dem Behalten und gezielten Abrufen, dem situations- und intentionsgerechten Verwenden von unbekannten oder bereits geübten und gelernten lexikalischen Einheiten. Der am meisten praktizierte Typ von Wortschatzübung ist das Memorieren einoder zweisprachiger Vokabelgleichungen, die durch sprachliche Kontexte erweitert sein können (Listenlernen; Scherfer 1995b). Die bekannten Nachteile des Listenlernens führten zu intelligenteren Übungstypen, denen sprachstrukturelle Ordnungsprinzipien zugrunde liegen oder bei denen kognitionspsychologische Prinzipien des vernetzten, mehrkanaligen und individuellen Lernprozesses berücksichtigt werden. Übungen zum konzeptuellen, taxonomischen und deduktiven Denken (Rohrer 1985), Visualisierungen unterschiedlicher Art und Übungen, in denen Lerner Ordnungen schaffen oder individuelle assoziative Bezüge herstellen, ermöglichen demnach bessere Behaltensleistungen. Löschmann (1993) und Bohn (1999) nehmen eine Klassifizierung in rezeptive, reproduktive und produktive Übungen vor, die auf die Unterscheidung in einen Mitteilungs- und einen Verstehenswortschatz Bezug nimmt. Durch Variieren der Übungsformen (Bsp. Zuordnungs-, Substitutions-, Transformationsübungen, Sprachlernspiele; Bohn/Schreiter 1994) kann die Wortschatzvermittlung interessant und motivierend gestaltet werden. Eine gezielte, systematische Wortschatzarbeit, die über das unzureichende Angebot in den Lehrwerken (Wilms 1990; Bayerlein 1997) hinausgeht, ermöglichen im Vergleich zur großen Zahl der Materialien zur Grammatikarbeit nur recht wenige Übungsbücher. Das schmale Angebot reicht von sprachstrukturalistisch orientierten und stärker dem Pattern-Drill verpflichteten Übungsbüchern (Bsp. Buscha/Friedrich 1996) bis hin zu thematisch geordneten Trainingsprogrammen, die gedächtnisfreundlicher gestaltet sind und auch mehrkanalige Verarbeitung, affektive Auseinandersetzung und eigenständige Semantisierungsleistungen anstreben (Bsp. Häublein/Müller/Rusch u.a. 1995). Die

891

91. Wortschatzvermittlung

Übungsmaterialien beziehen sich fast ausschließlich auf den Grundstufenbereich, da hier bei Erarbeitung, Wiederholung und Erweiterung des Wortschatzes auf mehr oder weniger definierte Wortschatzumfänge Bezug genommen werden kann. 3.8. Wortschatz wiederholen In der methodischen Literatur und in den Lehrwerken wird ein Aspekt der Wortschatzarbeit sehr oft vernachlässigt, nämlich die defizitären Behaltensleistungen. Nach den Phasen der Präsentation, des Erlernens (oft mit Hilfe der wenig effektiven Paarassoziationstechnik) und der übungsmäßen Anwendung folgt gewöhnlich als Abschluss die Lernerfolgskontrolle; die Wortschatzerhaltung kommt dabei zu kurz. Neben die Vermittlung von Lernstrategien für die aktive Gestaltung des individuellen Lernprozesses tritt die lehrergesteuerte, variationsreich anzulegende und auf unterschiedliche Teilnetze des mentalen Lexikons zielende Wiederholung eingeführter Lexik, wobei kein direkter Zusammenhang zwischen der Gedächtnisleistung und der Anzahl der Wiederholungen anzunehmen ist. Wortschatzlernen ist, wie Kognitionspsychologie und Zweitspracherwerbsforschung nahelegen, ein permanenter Prozess der Umordnung von Gedächtnisbesitz (restructuring, McLaughlin 1990; Henriksen 1999), und die Kenntnis einer lexikalischen Einheit ist daher beschreibbar als eine kontinuierliche Annäherung an ihre vollständige Repräsentation im mentalen Lexikon, zu der unterschiedliche modalitätsspezifische Parameter gehören (vgl. 3.1.). Mit der Wiederholung kann die Behandlung besonders lernschwieriger und vergessensanfalliger Bereiche des Wortschatzes einhergehen (Löschmann 1993, 25f.). Da Vergessen in der kognitionspsychologischen Modellierung verstanden wird als die Unfähigkeit, an im Langzeitgedächtnis vorhandenes Wissen zu gelangen, sind den Lernern entsprechende Abrufstrategien bewusst zu machen (Förster 1990). 4.

Forschungsausblick

Es fehlen (Longitudinal-)Studien zum Wortschatzerwerb, die empirisch Lernprozesse und Lernprodukte aufeinander beziehen; weder die Zweitspracherwerbsforschung noch die Forschungsrichtungen, die im gesteuerten Spracherwerbskontext arbeiten, können bis-

lang, von relativ wenigen Ausnahmen abgesehen, empirisch begründete Aussagen über subjektive Lernerfahrungen (von Input zu Intake: Verarbeitung, Speicherung, Verwendung lexikalischer Einheiten) vorlegen (vgl. Bausch/Christ/Königs 1995). Es mangelt an diskursanalytischen Untersuchungen, die ein zutreffendes Bild der Unterrichtswirklichkeit vermitteln, es steht grundsätzlich die empirische Überprüfung der vielen Spekulationen zum Fremdsprachenunterricht, etwa zur Effizienz bestimmter Variablen (Bsp. Kontexte, indirektes Vokabellernen, Funktion der Übersetzung; Scherfer 1994), noch aus. Eine ausgearbeitete „Theorie des Vokabellernens und -lehrens" (Scherfer 1994) liegt noch nicht vor. Sie müsste Ergebnisse der psycholinguistischen Forschung aufnehmen, die nach heutigem Erkenntnisstand mehr erkenntnisleitende Fragen als Antworten zu formulieren vermag (vgl. Börner/Vogel 1994). 5.

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XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

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Lutz Köster, Bielefeld (Deutschland)

92. Hörverstehen 1. 2. 3. 4.

Vorbemerkung Grundlagen Hörschulung Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkung

Im alltäglichen Gebrauch der Sprache dominiert das Hören, nach Barker (1971, 3) mit 42%, gefolgt vom Sprechen mit 32%, dem Lesen mit 15% und schließlich dem Schreiben mit 11%. Die Fähigkeit, gesprochene Sprache verstehen und verarbeiten zu können, ist eine unverzichtbare Grundbedingung für die erfolgreiche Teilnahme an mündlicher Kommunikation. Ein Fremdsprachenunterricht, zu dessen Zielsetzungen die Ausbildung der mündlichen Kommunikationsfähigkeit gehört, muss sich daher intensiv um die Entwicklung der Fertigkeit Hörverstehen bemühen. 2.

Grundlagen

2.1. Rückblick: Hörverstehen in Theorie und Praxis des Fremdsprachenunterrichts In der Vergangenheit wurde das Hörverstehen in mehrfacher Hinsicht zu Recht als vernachlässigte Fertigkeit bezeichnet. Sowohl die jahrzehntelang das Übungsgeschehen im Fremdsprachenunterricht bestimmende sog. Grammatik-Übersetzungs-Methode als auch die (in Deutschland) in den sechziger Jahren aufkommende audiolinguale Methode und ihre Weiterentwicklungen waren — jede auf

ihre Weise - auf das Einüben grammatischer Regeln bzw. Strukturen fixiert. Während erstere zudem ihr Hauptaugenmerk auf die geschriebene Sprache richtete, betonten letztere zwar die Wichtigkeit des Hörens, behandelten es aber in der Praxis eher als Zwischenstadium auf dem Wege zum Sprechen, das beinahe als Synonym von Kommunizieren verstanden wurde. Bezeichnend für dieses Desinteresse am Hörverstehen, das im übrigen auch von Linguistik und Psychologie geteilt wurde, ist das Fehlen eines ernsthaften Bemühens um eine Didaktik und Methodik der Hörverstehensschulung. Erst die in der Mitte der siebziger Jahre einsetzende kommunikative Wende brachte einen ganz erheblichen Zuwachs an Interesse. Ihre Vertreter betrachteten unter dem Einfluss der linguistischen Pragmatik und insbesondere der Sprechakttheorie, der Soziologie und der kognitiven Psychologie die Sprache weniger als System, sondern mehr als Mittel der Verständigung, die Lernenden weniger als passive Rezipienten von Lernstoff, sondern mehr als aktiv und kreativ die neue Sprache sich aneignende Individuen. Wichtig wurde in diesem Zusammenhang auch die Erkenntnis, dass Hörverstehen keineswegs eine passive und auf eine Mittlerfunktion für die Entwicklung des Sprechens beschränkte, sondern eine eigenständige, sehr aktive und außerordentlich komplexe Vorgänge umfassende Fertigkeit ist. Während seit Mitte der siebziger Jahre in kaum einem Artikel zum Thema der Hinweis auf die Vernachlässigung des Hörverstehens fehlt, formuliert Honnef-Becker zwanzig Jahre später lapidar: „Hörverstehen hat Hochkon-

894 junktur." (1996,45) In der Praxis des Fremdsprachenunterrichts allerdings wird dem Hörverstehen im Vergleich zu anderen Übungsgegenständen, glaubt man einschlägigen Berichten, trotz einer erheblichen Anzahl inzwischen publizierter Hörmaterialien und unterrichtspraktischer Handreichungen nach wie vor kein angemessener Platz eingeräumt. 2.2. Der Vorgang des Hörens und Verstehens Der Begriff des Hörverstehens umfasst sowohl das Hören, also das Vorhandensein und die Ausübung der Fähigkeit, Schallwellen und damit auch sprachliche Laute über das Ohr aufzunehmen, als auch das Verstehen, das auf einer untersten Ebene die korrekte Lautidentifizierung und Bedeutungszuordnung und auf höheren Ebenen Sinnentnahme und Verarbeitung einschließt. Damit der Vorgang des Hörverstehens überhaupt beginnen kann, bedarf es offensichtlich eines Sprechers, der eine Mitteilung macht, indem er einen Text produziert, und eines Hörers, der sie empfängt. Dabei kann die Mitteilung in direkter Kommunikation, also etwa als Teil eines Gesprächs zwischen Sprecher und Hörer entstehen, sie kann aber auch medienvermittelt (ζ. B. durch das Radio) in indirekter Kommunikation zum Hörer gelangen. Der eigentliche Vorgang des Hörverstehens beginnt mit der individuellen Verstehensabsicht, die mehr oder weniger bewusst sein kann. Sie kann bereits vor Textbeginn vorhanden sein, aber auch durch den Text selbst erst geweckt werden, und sie kann sich im Textverlauf ändern. Sie entscheidet darüber, ob und warum der Hörer überhaupt zuhört (ob er z.B. Sachinformationen erhofft oder gesellschaftliche Kontakte anknüpfen bzw. pflegen will), entscheidet darüber hinaus in Auseinandersetzung mit dem Text und seinen Anforderungen über die Art des Verstehens (Globalverstehen, selektives Detailverstehen oder totales Verstehen) und damit auch darüber, was und wieviel der Hörer objektiv verstanden haben muss, um subjektiv mit seiner Leistung zufrieden zu sein. Wenn der Hörer bei der Kenntnisnahme von Texten Verstehensabsichten verfolgt, dann heißt das nichts anderes, als dass er dem Text nicht blindlings ausgeliefert ist, sondern dass er beim Hören Strategien anwendet, die auf das Verstehen dessen ausgerichtet sind, was er verstehen will. Ihre Anwendung ist wiederum größtenteils automatisiert und unbewusst, kann aber durchaus

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

auch bewusst erfolgen. Strategien sind z.B. die Konzentration auf das Verstandene oder die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das Wichtige, auf Schlüsselbegriffe etc. Der Vorgang des Hörverstehens umfasst Teilvorgänge auf verschiedenen Ebenen und setzt eine Hierarchie von Fähigkeiten des Hörens voraus. Die Stufen dieser Hierarchie sind (vgl. hierzu Solmecke 1993, 26ff.): 1. Wiedererkennen, 2. Verstehen, 3. Analytisches Verstehen, 4. Evaluation. Voraussetzung des Wiedererkennens ist die Bekanntheit der sprachlichen Laute und Lautkombinationen, die dafür sorgt, dass das Gesprochene nicht als Abfolge sinnloser Geräusche, sondern von Lautgestalten wahrgenommen wird, die der Hörer identifzieren, von anderen (auch nichtsprachlichen) Hintergrundgeräuschen unterscheiden und denen er Bedeutungen zuordnen kann. Damit überhaupt bestimmte sprachliche Einheiten (Wörter etc.) wahrgenommen werden können, muss der vom Sprecher produzierte ununterbrochene Lautstrom segmentiert werden. Sehr wichtig für die Entschlüsselung der Textbedeutung ist auch das Erkennen der prosodischen Elemente wie Intonation und Rhythmus. Die eingehenden Schallwellen fungieren unter diesen Voraussetzungen aufgrund ihrer jeweils spezifischen Eigenschaften als Signale an den Hörer, seinem Gedächtnis Bedeutungen zu entnehmen und diese in Zusammenhänge zu bringen. Verstehen verlangt über das Wiedererkennen hinaus die gezielte Sinnentnahme, die je nach Verstehensabsicht zur Erfassung des globalen Textsinns oder von ausgewählten Textdetails bis hin zum totalen Verstehen führt. Das analytische Verstehen beinhaltet Schlussfolgerungen, die über den manifesten Textinhalt hinausgehen, z.B. die Herstellung von im Text nicht explizit hergestellten Personen-, Zeit- und Ortsbezügen; das Erkennen der unausgesprochenen Motive, Absichten, Einstellungen und Werthaltungen eines Sprechers. Es basiert größtenteils auf der Interpretation der Intonation, der Wortwahl, der Ausdrucksformen, der Begleitumstände des Sprecherwechsels u. Ä. Auf der Stufe Evaluation erfolgt eine persönliche, wertende Stellungnahme zum Gehörten. Diese kann sich sowohl auf die Inhalte wie auch auf den Ausdruck beziehen und ist eine höchst wichtige Voraussetzung für eine angemessene Reaktion auf das Gehörte, da man nur selten auf die pure Information eines Textes reagiert, ohne diese in irgendeiner Form zu verarbeiten, d. h. sie mit eigenen Er-

92. Hörverstehen

fahrungen und Wertvorstellungen zu verknüpfen und daraus eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Zu beachten ist, dass die beschriebenen Verstehensebenen hypothetische Konstrukte darstellen und keine Abbilder beobachtbarer Abläufe. Zu beachten ist weiterhin, dass die Stufen dieser Hierarchie nicht säuberlich zu trennen sind und beim Hören auch nicht linear nacheinander durchlaufen werden, sondern weitgehend zeitgleich in einem interaktiven Prozess mit wechselnden Richtungen. Ihre Berücksichtigung kann bei der Vermeidung einer pauschalen, unsystematischen Schulung des Höerverstehens hilfreich sein. Wie die Beschreibung der Verstehensebenen bereits andeutet, ist Hörverstehen die Kombination von etwas Neuem mit etwas, das der Hörer schon weiß. Verstehensprozesse laufen auf der Basis einer Interaktion Hörer-Text ab. Einerseits gehen Informationen vom Text zum Hörer (sog. bottom-upoder aufwärts gerichteter Prozess), andererseits muss in Wechselwirkung damit Wissen des Hörers an den Text herangetragen werden {top-down- oder abwärts gerichteter Prozess), damit Verstehen zustande kommt. Das gilt bereits auf der Lautebene, wo es ja nicht darum geht, akustisch eindeutige Schallgebilde, sondern von Sprecher zu Sprecher und in Abhängigkeit von den Nachbarlauten sehr unterschiedliche Realisierungen von Phonemen zu identifzieren. Wie das funktioniert, versuchen die sog. Analyse-durch-Synthese-

Theorien zu erklären. Zunächst werden nur einige Merkmale des eingehenden Signals identifiziert, die dann zusammen mit der vorhandenen Kenntnis der Sprache die Grundlage einer Hypothese über die Art des gehörten Signals bilden. Diese Hypothese wird sodann durch Heranziehen der umgebenden lautlichen, semantischen und syntaktischen Informationen bestätigt und akzeptiert oder verworfen und korrigiert (vgl. Hörmann 1991, 125). Die Schnelligkeit, mit der diese und die übrigen Teilprozesse des Verstehens ablaufen, bedarf einer Erklärung. Zunächst ist zu sagen, dass die angesprochene Hypothesenbildung nicht ohne Voraussetzungen und auch nicht planlos erfolgt, sondern in hohem Maße gesteuert von Erwartungen, die der Hörer, gestützt auf sein Vorwissen und die Fähigkeit, ganzheitlich zu hören, sehr bald nach Beginn eines Textes aufbaut (vgl. Hörmann 1991, 126). Zu bedenken ist auch, dass

895 diese wie auch andere Vorgänge (etwa Bedeutungszuordnung, Interpretation grammatischer Informationen) auf der Ebene des Wiedererkennens weitgehend automatisiert sind und deshalb mit großer Geschwindigkeit ablaufen können. Weiterhin spielt für die Verstehensgeschwindigkeit auch die Redundanz der Sprache eine wichtige Rolle. Die Tatsache, dass bestimmte Laute und Lautkombinationen, Wörter und Satzteile mit größerer Wahrscheinlichkeit auftreten als andere, erleichtert dem Hörer ihre Identifikation auf schmaler Informationsbasis. Darüber hinaus enthält vor allem die Alltagssprache eine Fülle formelhafter Redewendungen, von denen nur ein kleiner Teil erkannt werden muss und der Rest ohne Mühe ergänzt werden kann, wodurch sich die Verstehensgeschwindigkeit nochmals erhöht. Der Hörer ist also offensichtlich fähig, aufgrund vorangegangener Informationen und bereits vorhandenen Wissens Erwartungen an das im Text Folgende zu entwickeln, zu antizipieren, und er ist auch in der Lage, Fehlendes unter Nutzung der umgebenden Informationen zu ergänzen, zu inferieren. Diese Feststellung gilt nicht nur für die lautliche Seite des gehörten Textes, sondern auch für seine Wort-, Satzund Teiltextbedeutungen. Die Fähigkeiten des Antizipierens und des Inferierens basieren auf der bereits genannten Fähigkeit zu ganzheitlichem Verstehen, das trotz der Linearität gehörter Texte dafür sorgt, dass der Hörer nicht Einzelheit an Einzelheit reiht, bis er nach Ende einer Äußerung endlich deren Sinn erfassen kann, sondern schon vor oder unmittelbar nach Beginn eines Textes (nach einer entsprechenden Ankündigung, sonstigen thematischen Vorbereitung oder aber aufgrund bestimmter Hinweise am Textanfang) bereits eine Vorstellung vom Sinn und Inhalt des Textes und seines Fortgangs entwickelt und damit auch die Fähigkeit, Fehlendes sinnvoll zu ergänzen. Wie nützlich neben der durch die Redundanz der Sprache gegebenen Reduktion der Informationsdichte nicht zuletzt im Hinblick auf die notwendige Verstehensgeschwindigkeit die Fähigkeit des Inferierens ist, wird einmal aus der Tatsache ersichtlich, dass Hörer in Gesprächen normalerweise zwischen 20% und 40% der Äußerungen gar nicht aufnehmen (Gurney 1973, 96 f.) und trotzdem mit ihrer Verstehensleistung zufrieden sind. Zum anderen ist bekanntlich keine Äußerung in dem Sinne wirklich vollständig, dass sie alle für das Verstehen benötigten Informationen zu 100% ent-

896

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

hält. Ein großer Teil der Informationen wird vom Sprecher als Vorwissen des Hörers vorausgesetzt und vom Hörer — so weit für das Verständnis erforderlich - inferiert. Der Sprecher kann sich somit in seiner Äußerung, vor allem wenn diese auf Aktualität bedacht ist, weitgehend auf das für den Gesprächspartner wirklich Neue beschränken. Vorhandene Informationen sind gerade in Alltagsgesprächen oft vage und mehrdeutig, bei vielen Äußerungen gibt es einen erheblichen Unterschied zwischen dem, was gesagt und dem, was gemeint ist. Die für das Verstehen benötigten Wissensgrundlagen sind, kurz zusammengefasst (vgl. Anderson/Lynch 1988, 13): — Kenntnis des Sprachsystems (Phonologie, Syntax, Semantik etc.); — Kenntnis des sprachlichen Kontextes (Was früher gesagt worden ist und was evtl. noch gesagt werden wird); — Kenntnis der Situation (physische Umgebung, beteiligte Personen etc.); — Kenntnis des sprachlichen Umgangs miteinander sowie Kenntnis der Struktur bestimmter Textarten; — Weltwissen (Tatsachen- und soziokulturelles Wissen, also auch Wissen um Perspektiven und Werthaltungen). Die für das Verstehen benötigten formalen und inhaltlichen Wissensgrundlagen des Hörers, auch das fördert die Verstehensgeschwindigkeit, sind nicht einfach unsystematisch angehäufte Bestände konkreter Einzelerfahrungen, sondern sie sind als verallgemeinerte Wissensstrukturen gespeichert, deren Abruf von bestimmten Hinweisen im gehörten Text ausgelöst wird. Für diese Wissensstrukturen haben sich Begriffe wie Schema, Frame oder Skript eingebürgert (vgl. Lutjeharms 1988, 119). 3.

Hörschulung

Über das Hörverstehen in einer Fremdsprache weiß man bis heute noch nicht sehr viel. Vorhandene Kenntnisse sind zumeist Übertragungen von Forschungsergebnissen über das Hörverstehen in der Muttersprache oder über das Leseverstehen. Man ist sich natürlich der Tatsache bewusst, dass insbesondere Übertragungen von Erkenntnissen über das muttersprachliche Hörverstehen vor allem dann mit großer Vorsicht vorzunehmen sind, wenn es um das fremdsprachliche Verstehen

von Anfangern und wenig Fortgeschrittenen geht. Entsprechend ist auch verlässliches Wissen über die Entwicklung des Hörverstehens in einer Fremdsprache begrenzt und sind Hinweise über optimale Verfahren der Hörverstehensschulung als zwar begründete, aber doch vorläufige Hypothesen zu verstehen. 3.1. Die besondere Schwierigkeit fremdsprachlichen Hörverstehens Alle Probleme, die beim Hören eines muttersprachlichen Textes auftreten können (ζ. B. solche, die durch undeutliches Sprechen oder Nebengeräusche verursacht werden), wirken sich auch auf die Kenntnisnahme fremdsprachlicher Texte aus, nur dass ihre Wirkung wegen der allgemeinen Unsicherheit eher verstärkt spürbar wird. Fremdsprachenlernende haben zusätzliche Schwierigkeiten, die aus der lückenhaften Kenntnis und Geläufigkeit der Sprache selbst, aus fehlendem sonstigem, insbesondere kulturabhängigem Vorwissen und nicht zuletzt aus der Tatsache herrühren, dass Lernende ζ. B. zunächst nicht in der Lage sind, ihnen vom muttersprachlichen Verstehen her grundsätzlich geläufige Verstehensstrategien für das Verstehen der Fremdsprache zu nutzen. Die von Lehrerinnen und Lehrern so stark beachtete Textschwierigkeit ist denn auch keine Eigenschaft eines Textes allein, sondern resultiert aus dem Zusammentreffen eines Textes mit bestimmten Eigenschaften und eines Hörers mit einem bestimmten Niveau der Sprachkenntnisse, des Vorwissens und der Verstehensstrategien. Ein Text ist daher nicht an sich, sondern immer nur mit Bezug auf den jeweiligen Rezipienten leicht oder schwierig, verständlich oder weniger verständlich. Potentielle Ursachen von Textschwierigkeit sind: — sehr schnelles Sprechen, undeutliche Aussprache, Dialektfarbungen, überlappende Sprecherwechsel, mangelnde Unterscheidbarkeit der Sprecherstimmen, das Gesprochene teilweise überlagernde Nebengeräusche, Mängel der Raumakustik und (bei Übermittlung über ein Medium) technische Mängel; — ein ungeläufiger bzw. unbekannter Wortschatz (wichtig ist hier vor allem das Verhältnis der Zahl unbekannter zur Zahl bekannter Vokabeln, der sog. Steilheitsgrad); — ungeläufige Wortkombinationen; — ein komplexer Satzbau, sehr lange Sätze;

92. Hörverstehen — eine hohe Informationsdichte; — eine geringe Explizitheit der Information; — ein hoher Abstraktionsgrad der Darstellung; — ein langer, wenig gegliederter Text bzw. lange, nicht weiter gegliederte Unterabschnitte; — ein komplizierter Aufbau des Textes bzw. die unübersichtliche Organisation des Inhaltes; — ein wenig bekannter oder unbekannter Gegenstand, über den sich der Text äußert; — ein geringer Interessantheitsgrad des Textes. Anfanger haben vor allem Probleme auf der Ebene des Wiedererkennens zu überwinden, das ihnen um so schwerer fällt, als sie in der Regel auch in einem einsprachig geführten Unterricht bestenfalls wenige Stunden in der Woche hörend mit der Fremdsprache konfrontiert werden, während sie in der übrigen Zeit ständig ihre Muttersprache hören. Die so wichtige Gewöhnung an die fremde Sprache und vor allem ihre von denen der Muttersprache mehr oder weniger deutlich abweichenden lautlichen Eigenheiten erfolgt also nur sehr allmählich. Wegen des daraus resultierenden, recht lange Zeit nicht vorhandenen oder nur sehr geringen Automatisierungsgrades der auf dieser Ebene ablaufenden Operationen spüren sie ganz besonders die Folgen der Tatsache, dass Hören in der Zeit geschieht, wobei die Geschwindigkeit des Textflusses nicht vom Hörer, sondern vom Sprecher abhängt. Sie können nicht wie beim Lesen anhalten, um vielleicht über die Bedeutung eines Wortes nachzudenken, können auch nicht im Text zurückgehen, um sich zu vergewissern oder Hörlücken auszugleichen, es sei denn sie hören in eigener Regie einen Text vom Tonträger oder können in direkter Interaktion den Sprecher um Wiederholung des bereits Gesagten bitten. Besondere Probleme verursacht die Gleichzeitigkeit, mit der phonologische, lexikalische, syntaktische usw. Elemente aufgenommen, zeitweilig im Gedächtnis gespeichert und zu größeren Einheiten verarbeitet werden müssen, wodurch sich eine hohe Informationsdichte pro Zeiteinheit und die stete Gefahr der Überlastung des Arbeitsgedächtnisses ergibt. Darüber hinaus gehen Anfanger bei dem Versuch, einen fremdsprachigen Text zu erfassen, nicht ganzheitlich, sondern additiv, also Wort für Wort vor, wobei sie versuchen, jedes Wort zu ver-

897 stehen und so die Bedeutung des Textes „aufzubauen" (vgl. Röhr 1993, 21 ff.). Dieser Versuch, einen Text Wort für Wort verstehen zu wollen, überfordert die Verarbeitungskapazität des Hörers nicht nur wegen der zu speichernden Informationsmenge, die der geübte Hörer durch stete Zusammenfassung und Einbindung des Gehörten in vorhandenes Wissen reduziert, sondern auch dadurch, dass er Inferenz und Antizipation be- bzw. verhindert. Hier wirkt sich aus, dass vor allem Anfangern die Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Textinformationen schwerfallt, dass sie Redundanzen nicht als solche erkennen und übergehen können, und nicht zuletzt auch, dass der Fremdsprachenunterricht sich gewöhnlich auf das Nichtverstandene konzentriert und so falsche Gewohnheiten schafft. Da das für angemessenes Verstehen erforderliche Vorwissen über kommunikative Konventionen, Textformen, interaktionsbegleitende außersprachliche Handlungen, Situationen, Sachverhalte, Zusammenhänge und Kausalitäten in hohem Maße kulturabhängig ist, führt fehlendes oder unvollständiges Wissen oder die Übertragung der für die Kommunikation in der Ausgangs-, nicht aber der Zielsprachenkultur adäquaten Vorkenntnisse zu unangemessenen Inferenzen und damit zum Nichtoder Missvertehen, solange die notwendigen Kenntnisse über die fremde Kultur nicht erworben wurden. Alle diese Schwierigkeiten, zumal sie auch das Zusammenspiel der auf- und absteigenden Verarbeitungsprozesse behindern, können allein oder in der Summe zu Störungen oder sogar einer Blockade des Verstehensvorganges und zur Angst vor fremdsprachlichem Hörverstehen überhaupt führen, die wiederum blockierend wirkt. 3.2. Lernziele der Hörverstehensschulung Die Schulung des Hörverstehens erfolgt mit dem Ziel, die Lernenden zum eigenständigen Verstehen gesprochener Texte zu befähigen, das Verstandene zu verarbeiten und u.U. zum Ausgangspunkt bzw. zur Grundlage eigener Textproduktion zu machen. Zur weiteren Ausdifferenzierung eines Lernzielkataloges und zur Gewichtung der Fertigkeiten innerhalb des allgemeinen Lernziels Kommunikative Kompetenz ist es notwendig, eine Reihe von Charakteristika zu berücksichtigen, die zukünftige außer- und nachunterrichtliche Kommunikationssituationen kennzeichnen können, ζ. B. Situationen direkter mündlicher Kommunikation mit Sprechern

898 der Fremdsprache (die Lernenden werden als Hörer und Sprecher agieren) oder Situationen indirekter mündlicher Kommunikation (die Lernenden werden als Hörer etwa von Radiosendungen agieren). Sind die Festlegungen auf dieser noch sehr allgemeinen Ebene erfolgt, werden als Voraussetzung der konkreten Schulung weitere Entscheidungen erforderlich, deren Basis ebenfalls Charakteristika der zu erwartenden außer- und nachunterrichtlichen Kommunikationssituationen sind, und die vor allem Eigenschaften der voraussichtlich zu rezipierenden Texte betreffen. So ist hier etwa zu entscheiden, inwieweit die Lernenden auf Abweichungen gesprochener Standardsprache vorzubereiten sind, mit welchen Textsorten sie vertraut gemacht werden sollen, ob wissenschaftliche Texte einzubeziehen sind etc. Und schließlich sind auch Entscheidungen darüber zu treffen, über welche Zwischenstufen die Lernenden die angestrebten Fähigkeiten und Fertigkeiten erreichen, was sie also wann mit welchem Text tun können sollen. So formuliert etwa das vom Deutschen Volkshochschul-Verband und Goethe-Institut herausgegebene Zertifikat Deutsch als Fremdsprache: Ausbildung eines Hörverständnisses, das den Lernenden befähigt, in normalem Sprechtempo und mit nur geringen Abweichungen von gesprochener überregionaler Standardsprache gegebene Äußerungen aus dem alltäglichen Bereich in ihren Einzelheiten und/oder in der Gesamtaussage zu verstehen (1985, 20). Zu bedenken ist angesichts dieser und anderer Lernzielformulierungen für die Hörverstehensschulung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache (vgl. Eggers 1996, 16 f.), dass diese um so allgemeiner formuliert werden müssen bzw. müssten, je größer ihr Gültigkeitsbereich sein soll. Erst vor Ort ist unter Berücksichtigung der Ausgangsbedingungen, Lernmotivationen und realistisch möglichen Zielsetzungen eine differenzierte Lernzielbestimmung möglich. 3.3. Für die Schulung geeignete Hörtexte Das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache legt fest, dass das Sprechtempo in Hörtexten weder verlangsamt, noch durch starke Gefühlsbewegungen geprägt sein soll. Abweichungen von gesprochener Standardsprache werden nur für die Aussprache zugelassen. Die Hörtexte sollen sich monologisch oder dialogisch über alltägliche Gegebenheiten äußern und Aufforderungen, Bitten, Fragen und Aussagen in einen eindeutigen persona-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

len und situativen Zusammenhang stellen (Deutscher Volkshochschul-Verband/GoetheInstitut, 1985, 20). Dass Texte inhaltlich an die Vorkenntnisse der Lernenden anknüpfen und ihr Interesse wecken sollten, ist eine in der Literatur selbstverständlich erhobene, wenn auch durchaus nicht immer erfüllte Forderung. Einigkeit besteht auch darüber, dass Lernende mit einer Vielzahl unterschiedlicher Texte und Textsorten konfrontiert werden sollten, um sie angemessen auf das Hörverstehen in außer- und nachunterrichtlichen Situationen vorzubereiten. Weniger Einigkeit besteht darüber, ob vor allem im Anfangsunterricht authentische oder nichtauthentische Materialien verwendet werden sollten. Gegen erstere wird gewöhnlich argumentiert, sie seien zu schwierig, gegen letztere, sie seien künstlich und nicht geeignet, auf die Probleme der Realsituation vorzubereiten. Als authentische Texte werden dabei in der Regel solche bezeichnet, die von Muttersprachlern für Muttersprachler, als nichtauthentische solche, die für Sprachlernende im Hinblick auf ihr jeweiliges Leistungsvermögen verfasst wurden. Eine Definition des Begriffs authentisch im Rahmen einer didaktischen Theorie existiert allerdings nicht; auch wird selten die Frage angesprochen, wie authentisch denn ein authentischer Text noch sein kann, wenn er im Unterricht vom Tonband zu hören ist. Honnef-Becker unterscheidet zwischen Originaltexten und didaktisch-authentischen Texten, wobei die Authentizität der letzteren gegeben ist, wenn sie nach den Regeln der jeweiligen Textsorte verfasst wurden (1996, 50 f.) und durch Erfüllung ihrer Modellfunktion Lernende angemessen auf Texte vorbereiten können, mit denen sie in außerunterrichtlichen Realsituationen konfrontiert werden. Charakteristische Merkmale einer Hörtextsorte zeigen sich auf der lautlichparaverbalen Ebene, in der Wortwahl, in den Satzstrukturen, der Textankündigung, der themarelevanten inhaltlichen Gliederung und schliesslich in der Textstruktur. Nach Lüger (1993, 113) sollten z.B. für Hörübungen verwendete dialogische Texte - nur Äußerungen enthalten, die in einer gegebenen Situation möglich bzw. wahrscheinlich sind; - den Konventionen des Sprachgebrauchs entsprechende Gesprächseinleitungen und auch -beendigungen haben; - die für Dialoge typischen Rückmeldesignale enthalten, also etwa Nachfragen,

92. Hörverstehen

Verständnissicherungen und/oder inhaltliche Bestätigungen durch den Hörer sowie Bezugnahmen des Sprechers auf Reaktionen des Hörers; — wenigstens in begrenztem Umfang Charakteristika spontan gesprochener Sprache aufweisen, die für Alltagsdialoge typisch sind wie etwa gefüllte (ääh) oder ungefüllte Pausen, das Verschlucken oder undeutliche Aussprechen weniger wichtiger, auch redundanter Laute, Wortteile, Wörter, ungrammatische Formen und andere Fehler, Denkpausen, Zögern, Selbstkorrekturen; — nicht nur glatt und ohne Komplikationen verlaufen, sondern auch Modelle für Missverständnisse und ihre Behebung enthalten; — Elemente der Beziehungsregelung zwischen den Gesprächspartnern enthalten, also etwa Elemente, die Höflichkeit, Freundlichkeit, Vertrautheit oder Fremdheit, abgeschwächte Nichtübereinstimmung etc. ausdrücken; — gesprächsorganisatorische Elemente enthalten, also solche, die etwa den Sprecherwechsel regeln. 3.4. Hörübungen Das Problem der Schwierigkeit von Hörtexten und auch das der allmählichen Steigerung der Schwierigkeiten von Hörübungen lässt sich besser bewältigen, wenn man eine Hörübung nicht lediglich als Konfrontation Text—Lernende betrachtet, sondern als Zusammenspiel von Hilfen, Aufgaben, Text und Lernenden. Grundsätzlich sollten die Lernenden so selbständig wie möglich mit einem Text umgehen, Hilfen und Aufgaben sollen ihnen diesen Umgang erleichtern, nicht aber ihnen jede Mühe abnehmen. Dabei sollen Hilfen — sprachliche Vorkenntnisse ergänzen bzw. aktivieren und an sprachliche Besonderheiten gewöhnen, — sachliche Vorkenntnisse ergänzen und aktivieren, für die thematische Einbettung sorgen und u. U. auf die Eigenheiten der jeweiligen Textsorte vorbereiten, — der Aufmerksamkeit die erwünschte Richtung geben, — das Hören während der Textpräsentation unterstützen (praktische Vorschläge z.B. bei Solmecke 1993, 96ff.). Insofern die Hilfen bereits in Form von Übungen gegeben werden, sind sie ζ. T. iden-

899 tisch mit den „Komponentenübungen" Desselmanns (1983) und Schumanns (1995) sowie den von Dahlhaus beschriebenen „Aufgaben, die vor dem Hören gemacht werden können" (1994). Aufgaben sollen - gezielte Verstehensabsichten (die in unterrichtlichen Hörsituationen oft nicht vorausgesetzt werden können) schaffen und ebenfalls die Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung lenken, - die geforderte Verstehensleistung begrenzen, - die Behaltensleistung begrenzen, - Verstehensstrategien fördern, - Lernerreaktionen motivieren. Während sich die unterrichtliche Praxis recht oft noch auf die bekannten „Fragen zum Text" beschränkt, wurde in der einschlägigen Literatur der letzten Jahre eine große Zahl von Aufgabenvorschlägen gemacht, zum Teil zu einzelnen Übungsgegenständen, zum Teil aber auch innerhalb einer umfassenderen Typologie. Dahlhaus (1994, 125f.; vgl. auch Eggers 1996, 29 ff.) unterscheidet Übungsphasen und daraus ableitend „Aufgaben, die vor dem Hören gemacht werden können" (mit dem Ziel Hinführung zum Thema, Aktivierung des Themas); „Aufgaben, die während des Hörens gemacht werden können" (Ziel: intensives Hören); „Aufgaben, die nach dem Hören gemacht werden können" (Ziel: Kontrolle, Arbeit am Text). Schumann (1995, 244ff.) unterscheidet unterschiedliche Komponenten (die auditive, die semantische, die syntaktische, die pragmatische und die kognitive), die im komplexen Prozess Hörverstehen zusammenwirken, durch Übungen aufgebaut und zur Hörverstehenskompetenz zusammengesetzt werden müssen. Entsprechend stellt sie die jeweiligen Einzelübungen zu folgenden Übungstypen zusammen: „Übungen zur Hördiskrimination" (ζ. B. Unterscheidung ähnlicher Phoneme), „Übungen zur Semantisierung" (ζ. B. Heraushören sinnkonstituierender Elemente). „Übungen zur Textstrukturierung" (ζ. B. Erkennen von Satzteil- oder Satzgrenzen), „Übungen zur Situations- und Intentionsbestimmung" (ζ. B. Erkennen von Sprecherintentionen) und „Übungen zum Sprachwissen über die Besonderheiten der gesprochenen Sprache" (ζ. B. Erkennen von Strukturmerkmalen der gesprochenen Sprache).

900

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Solmecke (1993, 55if.) unterscheidet Aufgaben von den Hilfen, die das Verstehen eines Textes vorbereiten und erleichtern sollen und typisiert die Einzelaufgaben durch ihre Zuordnung zu den oben beschriebenen Verstehensebenen: Wiedererkennen (ζ. B. Unterscheidung ähnlich klingender Laute), Verstehen (ζ. B. nach einem passenden Text Bilder auswählen und ordnen), analytisches Verstehen (ζ. B. Intentionen und Motive eines Sprechers heraushören), Evaluation (z.B. sich über eine Aussage eine Meinung bilden und zur Grundlage eigenen Handelns machen). Dabei liegt das Schwergewicht im Unterricht mit Anfangern eher bei den Aufgaben zum Wiedererkennen und zum Verstehen, im Unterricht mit Fortgeschrittenen mehr bei den Aufgaben zum analytischen Verstehen und zur Evaluation. Eine sich von diesen Typologien deutlich abhebende Systematik der Hörschulung schlägt übrigens Zydatiß (1986, 27) vor. Er will von kleineren zu größeren Einheiten vorgehen, also mit dem Hören von Wörtern beginnen und über Wortkombination, Satzteil, Satz, Textpassage zum Gesamttext fortschreiten. Typologien wie die vorstehend beschriebenen eignen sich als Grundlage für die Planung einzelner Hörübungen, der Progression in einem Kurs und der Analyse von Lehrmaterial. Zu ihren Defiziten und Verbesserungsmöglichkeiten siehe Honnef-Becker (1996, 64ff.). 4.

Literatur in Auswahl

Anderson, Anne; Tony Lynch (1988): Listening, Oxford. Barker, Larry (1971): Listening Behavior. London. Dahlhaus, Barbara (1994): Fertigkeit Hören. Fernstudieneinheit 5. Berlin etc.

Desselmann, Günther (1983): „Aufgaben- und Übungsgestaltung zur auditivem Sprachrezeption." In: Deutsch als Fremdsprache, S. 345—350. Deutscher Volkshochschul-Verband und GoetheInstitut (Hg.) (1985): Das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache. 3. Aufl. Frankfurt/M. etc. Eggers, Dietrich (1996): Hörverstehen: Bestandsaufnahme und Perspektiven. In: Peter Kühn (Hg.): Hörverstehen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Frankfurt/M., 13—44. Gurney, Roger (1973): Language, Brain and Interactive Processes. London, Arnold. Hörmann, Hans (1991): Einführung in die Psycholinguistik. 3. Aufl. Darmstadt. Honnef-Becker, Irmgard (1996): Hörverstehen in Sprachlehrwerken Deutsch als Fremdsprache. In: Peter Kühn (Hg.): Hörverstehen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Frankfurt/M., 45—77. Lüger, Heinz-Helmut (1993): Partnerorientiertes Sprechen in Lehrbuchdialogen? In: H.-H. Lüger (Hg.): Gesprächsanalyse und Gesprächsschulung. (Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung aus dem Konstanzer SLI 25) Konstanz, 111-123. Lutjeharms, Madeline (1988): Lesen in der Fremdsprache. Bochum. Rickheit, Gert; Hans Strohner (1993): Grundlagen der kognitiven Sprachverarbeitung. Modelle, Methoden, Ergebnisse. Tübingen. Röhr, Gerhard (1993): Erschließen aus dem Kontext. Lehren, Lernen, Trainieren. Berlin etc. Schumann, Adelheid (1995): Übungen zum Hörverstehen. In: Karl-Richard Bausch; Heribert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen etc., 294—296. Solmecke, Gert (1993): Texte hören, lesen und verstehen. Berlin etc. Zydatiß, Wolfgang (1986): „Schulung des Hörverstehens anhand der englischen Fernsehnachrichten ,News of the Week'." In: Die Neueren Sprachen 85/1, 2 3 - 5 6 . Gert Solmecke,

Frankfurt!M.

(Deutschland)

901

93. Lese verstehen

93. Leseverstehen 1.

2. 3. 4. 5.

1.

Lesen als Fertigkeit im Fremdsprachenunterricht: historische Perspektive Was ist Lesen? Lesen und Fremdsprachenerwerb Didaktische Hinweise Literatur in Auswahl

Lesen als Fertigkeit im Fremdsprachenunterricht: historische Perspektive

Im grammatik- und übersetzungsorientierten Ansatz standen zwar geschriebene Texte im Mittelpunkt, aber nicht die Lesefertigkeit als Sinnentnahme. Es wurde gelesen, um Grammatik oder Wortschatz zu illustrieren und um das Übersetzen zu üben. Beim Aufkommen der direkten Methode verloren geschriebene Texte etwas an Bedeutung und in den audiolingualen und audiovisuellen Methoden wurden sie großteils auf schriftlich fixierte (pseudo-)gesprochene Sprache reduziert. Mit der kommunikativen Wende im Fremdsprachenunterricht wurde dem Lesen wieder mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Es wurde nicht mehr als „passive" Fertigkeit betrachtet, da Lesende sich durch den Einsatz des Vorwissens und die Interpretationsleistung aktiv mit dem Text auseinandersetzen. Daher wird seitdem von „rezeptiven" Fertigkeiten (Lesen und Hören) gesprochen. Es wurde der Einsatz „authentischer" (d.h. ursprünglich nicht für den Fremdsprachenunterricht konzipierter) Texte gefordert. Jetzt stand die Sinnentnahme im Mittelpunkt. Wichtig waren auch landeskundliche Aspekte. Durch die Themenwahl versuchte man die Lernenden zu motivieren. Mit Begeisterung wurde in den 70er Jahren Goodmans Auffassung des Lesens als Ratespiel (1976) in der Fremdsprachendidaktik aufgenommen (für Deutsch als Fremdsprache: Westhoff 1987). Dabei wird Lesen als Prozess der Hypothesenbildung betrachtet, während die datengeleitete Verarbeitung eher zur Bestätigung eingesetzt wird. Diese erwartungsgeleitete Verarbeitung gilt im muttersprachlichen Leseunterricht als typische Strategie schwacher Lesender, weil diese die viel schnellere und genauere datengeleitete Verarbeitung ungenügend beherrschen (Oakhill/Beard/Vincent 1995). Sie ist für das Lesen der Fremdsprache insofern von Bedeutung, als auch muttersprachlich geübte

Lesende beim Lesen einer neuen Sprache schwache Lesende sind und sich kompensatorisch für Kenntnislücken und ungenügende Automatisierung der Fertigkeit auf Inferieren verlassen müssen. Das Textverständnis ist beim inferierenden Lesen oft sehr ungenau (Bernhardt 1993), was neben der Überforderung bei meist unzureichenden Sprachkenntnissen demotivierend wirkt. Diese Erkenntnisse führten zu einem erneuten Interesse für den Spracherwerb. In der Leseforschung, in der neben der Auffassung des Lesens als Prozess der Hypothesenbildung (top down Modelle) auch datengeleitete (bottom up) Modelle vertreten wurden, verbreitete sich Anfang der 80er Jahre das interaktive Modell des Leseprozesses, wobei auf allen Verarbeitungsebenen Interaktion zwischen daten- und erwartungsgeleiteter Verarbeitung angenommen wird (zu den Modellen: Barnett 1989). Zusammen mit der kognitiven Wende in der Fremdsprachendidaktik, die zu Interesse für Strategien guter und schwacher Lesender und für Strategien bei der Erschließung der Wortbedeutung führte, hatten diese Entwicklungen als Konsequenz, dass die Aufmerksamkeit heute sowohl auf sprachbedingte wie auf inhaltliche Aspekte von Texten gelenkt wird. Erkenntnisse aus der Textlinguistik spielen dabei ebenfalls eine Rolle. 2.

Was ist Lesen?

2.1. Forschung zum Leseprozess Schon seit mehr als einem Jahrhundert werden die Augenbewegungen beim Lesen — die einzige direkt beobachtbare Komponente des Prozesses - untersucht (vgl. Huey 1908). Die meisten Forschungsdaten kommen aus der kognitiven Psychologie, in der die Sprachverarbeitung verwendet wird, um Erkenntnisse über das Funktionieren des Gedächtnisses zu gewinnen. Im psychologischen Labor werden vor allem die unteren Verarbeitungsebenen untersucht. Da der Leseprozess enorm komplex ist, versucht man einzelne Aspekte isoliert zu untersuchen und die Verarbeitungsebene durch spezifische Aufgaben zu beeinflussen. Auch die Theorien und Daten zum inhaltlichen Vorwissen (Schematheorie) und zur Verdichtung und Repräsentation des Textinhaltes im Gedächtnis kommen aus der

902 Psychologie. Die Forschung zum Einsatz von Strategien, sowohl zum Textverständnis wie zum Verstehen und Erwerb unbekannter Wörter, kommt dagegen vorwiegend aus der Fremdsprachendidaktik. 2.2. Lesen als Prozess der Informationsverarbeitung In der kognitiven Psychologie wird Lesen als Prozess der Informationsverarbeitung betrachtet. Aspekte wie Motivation oder Leseabsicht werden dabei kaum berücksichtigt. Zwei Verarbeitungstypen kommen beim Lesen vor, die automatische und die bewusste Verarbeitung. Die automatische Verarbeitung verläuft schnell, parallel und ohne Anstrengung oder Kapazitätsbeschränkungen. Parallel bedeutet, dass mehrere Prozesse gleichzeitig eingesetzt werden können. Die bewusste Verarbeitung, die für Inhalte und für neue, unerwartete und/oder unlogische Informationen erforderlich ist, verlangt Aufmerksamkeit und Anstrengung. Hier sind Kapazitätsbeschränkungen beobachtbar: nur ungefähr 7 Einheiten können gleichzeitig im Arbeitsgedächtnis verarbeitet werden, wobei allerdings die Dichte dieser Einheiten (z.B. Buchstabe oder Theorie) keine Rolle spielt. Schnellere (erfolgreiche) Verarbeitung kann daher nur durch weitere Automatisierung und durch den Einsatz komplexerer Einheiten (Kenntniserweiterung und Neuorganisation der Kenntnisse) erreicht werden. Auf Grund der Art der verarbeiteten Informationen werden mehrere Verarbeitungsebenen angenommen, die in der Literatur im Allgemeinen von den unteren zu den oberen Ebenen (vom Zeichen zum Inhalt) beschrieben werden, weil das dem ungestörten Leseprozess geübter Lesender großteils entspricht. Dabei muss beachtet werden, dass teilweise parallel verarbeitet wird und das bei jeder Wahrnehmung das Wissen über das, was wir wahrnehmen, mit den wahrgenommenen Informationen interagiert. Die Aufgliederung variiert meist. Wichtig aus der Sicht der Fremdsprachendidaktik ist die Berücksichtigung der Teilfertigkeiten und Kenntniskomponenten im Leseprozess, die nicht alle neu erworben werden müssen. Die folgenden Ausführungen (2.2. und 2.3., teilweise auch 3.) beruhen auf Hypothesen, die großteils durch experimentelle Daten unterstützt werden. Für die sehr umfangreichen bibliographischen Daten wird verwiesen auf Lutjeharms 1988; 1994; 1995; vgl. auch Karcher 1988.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

2.2.1. Die graphophonische Ebene umfasst die Augenbewegungen, die visuelle Mustererkennung und die phonologische Rekodierung, d. h. die Umsetzung der mit den Augen wahrgenommenen Zeichen in irgendeinen phonologischen Kode. Die Augenbewegungen bestehen aus schnellen, ruckartigen Bewegungen — die sogenannten Sakkaden — zwischen Fixationspunkten. Sie können vorwärts und rückwärts auftreten. Die Fixationspunkte beanspruchen 90 bis 95% der Zeit. Geübte Lesende fixieren nur bestimmte Wortteile oder Wörter und nehmen dabei auch das Umfeld wahr. Diese periphere Sicht dürfte größtenteils die Wahl des nächsten Fixationspunktes steuern. Wahrscheinlich erkennen wir Rechtschreibmuster und/oder Morpheme, denn es wird ein Wortsuperioritätseffekt beobachtet, d.h. Wörter werden schneller und besser gelesen als eine Reihe einzelner Buchstaben. Dabei nutzen wir Redundanz in der Rechtschreibung und Vertrautheit mit Wörtern aus. Wortfrequenz ist ein wichtiger Faktor, denn bei häufiger Aktivierung verringert sich die Verarbeitungszeit. Oft reicht der Wortanfang für die Worterkennung. Das Wortende wird im Allgemeinen weniger beachtet. Regressionen und Zeitdauer einer Fixation können als Maß für die Komplexität eines Satzes betrachtet werden. Allerdings lösen auch interpretative Prozesse Regressionen aus. Heute geht man davon aus, dass die Mustererkennung über ein visuell-graphemisches Inputsystem läuft, das als vom mentalen Lexikon getrenntes System betrachtet wird. Das mentale Lexikon ist eine — hypothetische - Struktur im Gedächtnis, die das Sprachwissen enthält. Dass beginnende Lesende der Muttersprache die phonologische Rekodierung für die Worterkennung brauchen, hängt u. a. damit zusammen, dass sie das Lautbild der Wörter schon erworben haben, wenn sie lesen lernen. Inwiefern geübte Lesende die phonologische Rekodierung zur Worterkennung brauchen, ist umstritten. Die Forschungsergebnisse sind widersprüchlich. Vieles deutet aber darauf, dass eine phonologische Repräsentation mindestens aktiviert wird. Sie könnte jedoch sehr abstrakt sein. Subvokale Tätigkeit wird vor allem bei schwachen Lesenden und bei schwierigen Textvorlagen beobachtet. Sie hängt mit der bewussten Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis zusammen, bei der Informationen kurz bereitgehalten werden müssen, die sogenannte Rezirkulation (rehearsal). Für verbale Informationen geschieht dies mit Hilfe des akusti-

93. Leseverstehen

903

sehen Kodes, der allerdings nicht bis zur — äußerlich erkennbaren - subvokalen Tätigkeit zu gehen braucht.

bei der Worterkennung sind wichtige Kriterien für die Vorhersage individueller Unterschiede bei der Lesefertigkeit.

2.2.2. Bei der Worterkennung handelt es sich um den lexikalischen Zugriff im mentalen Lexikon, bei dem ein Zeichen als Wort in einer bestimmten Sprache erkannt wird. Ob beim lexikalischen Zugriff auch schon die Bedeutung erkannt wird oder ob die Bedeutungserkennung ein postlexikalischer Prozess ist, ist nicht geklärt. Bei fehlender Aufmerksamkeit oder bei einer Überlastung des Arbeitsgedächtnisses bleibt der Zugriff auf der Formebene stecken, wie wohl jede(r) aus eigener Erfahrung weiß. Das mentale Lexikon darf nicht als ein statischer Speicher betrachtet werden, da es durch jede — rezeptive oder produktive — Sprachverwendung beeinflusst wird. Viele Forschungsdaten lassen eine wichtige Rolle der Morpheme bei der Worterkennung vermuten. Vielleicht ist die Morphemebene eines der Organisationsprinzipien im mentalen Lexikon. Es sind mehrere hypothetische Modelle über den Verlauf des lexikalischen Zugriffes (als Erkennung der Form betrachtet) aufgestellt worden, von denen das Logogen- und das Suchmodell am verbreitetsten sind. Ein Logogen ist ein Belege sammelndes Instrument mit einer anpassungsfähigen Schwelle oder m. a. W. eine neurale Einheit mit einem bestimmten Erregungsniveau. Ein Wort im mentalen Lexikon wird auf Grund eines Ähnlichkeitsgrades zwischen dem Stimulus und einem Logogen aktiviert, und zwar direkt und parallel ohne Suchprozess. Im Suchmodell wird dagegen ein aktiver, serieller Suchprozess angenommen, bei dem weitergesucht wird bis zum Erreichen einer Wortrepräsentation, die dem Stimulus entspricht. Diese Modelle zeigen, wie komplex man sich die Worterkennung schon nur auf der Ebene der Formerkennung vorstellen muss. Wörter in einem passenden Kontext werden schneller erkannt als isolierte Wörter. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass beim Zugriff auf eine Wortrepräsentation ein ganzes Netzwerk oder eventuell benachbarte Stellen im Lexikon mitaktiviert werden (das sogenannte „priming"), was die Weiterverarbeitung beschleunigt. Dass morphologische Ähnlichkeit zu Primingeffekten führt, konnte oft gezeigt werden. Ob syntaktischer und semantischer Kontext schon beim Zugriff eine erleichternde Wirkung haben oder ob es sich um postlexikalische Effekte handelt, ist umstritten. Geschwindigkeit und Genauigkeit

2.2.3. Die Notwendigkeit einer syntaktischen Verarbeitungsebene ist heute nicht mehr umstritten. Um die Analyse der strukturellen Beziehungen zwischen den Wörtern erklären zu können, sind einige Prinzipien und auch komplexe Modelle vorgeschlagen worden. Lange war vor allem das Englische Forschungsgegenstand, wodurch Syntax praktisch mit Wortfolge gleichgesetzt wurde. Seit Ende der achtziger Jahre gibt es immer mehr Daten zu anderen Sprachen, auch im Sprachvergleich. Die meisten dieser Untersuchungen wurden im Rahmen des Wettbewerbsmodells (competition model) von MacWhinney und Bates (1989) durchgeführt. Nach diesem Modell werden mehrere Oberflächenindikatoren gleichzeitig in unterschiedlichen Kombinationen und — je nach Zweckmäßigkeit — mit wechselnder Gewichtung verarbeitet. Bei diesen Auslösern handelt es sich beispielsweise um Wortfolge, lexikalische Einheiten mit ihren Eigenschaften — wie Belebtheit/Unbelebtheit, Valenz - , Kongruenz und andere morphologische Informationen. Die Gültigkeit eines Auslösers ergibt sich während des Spracherwerbsprozesses aus der Anwendbarkeit und der Zuverlässigkeit, d. h. daraus, wie oft er vorkommt und wie oft er zu einer korrekten Lösung führt. Für das Deutsche wurde bis jetzt gefunden, dass auf Grund der morphologischen Information entschieden wird, sobald diese vollständig ist, aber auch die Wortfolge spielt eine Rolle. 2.2.4. Bei guter Sprachbeherrschung verlaufen die Worterkennung und die syntaktische Analyse meist automatisch. Diese unteren, formbedingten Verarbeitungsebenen werden als Dekodierung bezeichnet. Die semantische Verarbeitung, das eigentliche Textverständnis, entsteht aus einer Interaktion der Ergebnisse der Dekodierprozesse mit inhaltlichem Vorwissen und erfordert Aufmerksamkeit. Dieses Vorwissen, oft Schemakenntnisse genannt, unterstützt das Antizipieren und Einordnen der Informationen. Vielleicht muss von einem nur minimal organisierten Kenntnissystem ausgegangen werden, mit dessen Hilfe während der Verarbeitung eine aufgabenorientierte Kenntnisstruktur generiert wird. Neue Informationen können nur aufgenommen werden, wenn im Langzeitgedächt-

904 nis Begriffe aktiviert worden sind, an die sie anknüpfbar sind oder über die sie eingeordnet werden können. Eine Überschrift, ein passendes Bild oder eine vorangestellte Zusammenfassung sind wichtige Hilfen, weil sie eine Erwartungshaltung auslösen, die den Einsatz der Dekodierprozesse unterstützt. Die Thema-Rhema-Gliederung und die pronominale Referenz sorgen satzübergreifend für das Anknüpfen an Bekanntes, d. h. sie stellen Kohäsion her. In sprachlichen Äußerungen gibt es zwar einerseits eine gewisse Redundanz, andererseits jedoch ist vieles implizit. Durch Inferieren, das auf Vorwissen beruht, kommt erst Zusammenhang, also Kohärenz, zustande (vgl. Balota/Flores d'Arcais/Rayner 1990, 361-535). Mit den Ergebnissen der Dekodierprozesse wird eine propositionale Repräsentation der Satzinhalte aufgebaut, die bei geübten Lesenden und bei für sie leichtem Textinhalt vielleicht noch automatisch geschieht, obwohl dabei schon Inferenzen erforderlich sind. Die propositionalen Repräsentationen bilden die Grundlage für die Konstruktion eines mentalen Modells des Textinhaltes (eine andere Hypothese für die Repräsentation des Textinhaltes ist die der Makrostruktur). Für diese Ebene muss wohl immer Aufmerksamkeit eingesetzt werden. Das mentale Modell besteht aus verdichteten Textinformationen und Vorwissen. In dieser Gedächtnisrepräsentation des Textes ist die Sprachstruktur nicht enthalten, d.h. sie ist nicht mehr abrufbar. Die Textoberflächenform ist aber in einer anderen Repräsentation gespeichert, denn auch wenn eine Textvorlage nicht als bekannt empfunden wird, wird sie bei erneuter Lektüre schneller verarbeitet. 2.5.5. Dass beim Leseprozess daten- und erwartungsgeleitete Informationen interagieren, ist heute unumstritten. Wie die Kenntnisse der verschiedenen Ebenen aber interagieren, ist eine zur Zeit sehr aktuelle Diskussion. Verläuft schon die Verarbeitung der unteren Ebenen interaktiv, wie in den konnektionistischen Modellen, oder ist sie modular und findet die Interaktion erst bei den Ergebnissen der modularen Verarbeitung statt? Ein Modul ist ein autonomes System, das nur ganz spezifische Verarbeitungsprozesse erlaubt. Modulare Verarbeitung verläuft schnell, automatisch und datengeleitet, d.h. höhere Ebenen beeinflussen die Verarbeitung niederer Module nicht. Zentrale Prozesse verlaufen dagegen nichtmodular,

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

langsam und beanspruchen Aufmerksamkeit. Konnektionistische Modelle bestehen aus einer großen Anzahl miteinander verbundener Einheiten oder Knoten, die parallel und interaktiv verarbeiten. Dabei werden Aktivierungsverbreitung und Inhibierung angenommen. Die Diskussion befindet sich großteils noch im Stadium der Theoriebildung. Eine Kompromisslösung ist nicht ausgeschlossen. Bei der komplexen Sprachverarbeitung können mehrere Verarbeitungstypen eine Rolle spielen. Man könnte sich konnektionistische Modelle vorstellen, die Netzwerke mit stark modularen Eigenschaften enthalten, die allerdings „lernfahig" sind, wie es u.a. für das konnektionistische Wettbewerbsmodell angenommen wird. Die Modularität würde erklären, warum bei der Verarbeitung so selten Fehler auftreten, denn Module könnten störende Interaktionen einschränken. Andererseits wurde mehrmals experimentell festgestellt, dass Eigenschaften höherer Ebenen die Verarbeitung der Form beeinflussen. Fördernde Interaktion kann die Verarbeitung erleichtern und daher beschleunigen. In der Literatur zur Worterkennung wird im allgemeinen von modularer Verarbeitung ausgegangen, in der zur Syntax eher von konnektionistischen Modellen. 2.3. Lesen einer Fremdsprache 2.3.1. Wenn muttersprachlich geübte Lesende eine Fremdsprache erwerben, kann es sein, dass sie zuerst mit einer neuen Schrift konfrontiert werden. Viele Deutschlernende brauchen allerdings nicht (völlig) neue Schriftzeichen zu erwerben, weil sie die lateinische Schrift schon von der Ausgangssprache her oder durch den früheren Erwerb einer anderen Fremdsprache — meist Englisch — beherrschen. Dann müssen nur einige Zeichen neu gelernt werden (Umlaut, ß), sowie die Großschreibung der Substantive. 2.3.2. Bei bekannter Schrift führt anders als im muttersprachlichen Lesefertigkeitserwerb nicht die Mustererkennung zu Problemen, obwohl die Lesenden meist mit neuen Häufigkeiten der Buchstabenkombination konfrontiert werden. Die Lesenden der Fremdsprache werden zu schwachen Lesenden, weil es beim Dekodieren keinen lexikalischen Zugriff geben kann, solange für die Wörter oder Morpheme keine mentalen Repräsentationen im Lexikon vorhanden sind. Im Laufe des Erwerbsprozesses kommt es vor, dass Wörter vage bekannt sind und als Wort der Ziel-

93. Leseverstehen

spräche akzeptiert werden, ohne dass der Bedeutungsabruf (automatisch) möglich ist. Dann ist das Wort wohl nur im episodischen Gedächtnis repräsentiert, das eher zufällige orts-, zeit- und umgebungsbedingte Informationen enthält, und gehört es noch nicht zum fremdsprachigen mentalen Lexikon. Wortschatz muss nicht nur gelernt werden (Bedeutung und Verwendung), sondern die Verwendung muss auch automatisiert werden. Allerdings wird für die Wiedererkennung weniger Festigung verlangt als für den Abruf bei der Sprachproduktion. Zur Organisation des mentalen Lexikons bei Mehrsprachigen sind wenig gesicherte Erkenntnisse vorhanden. Beim Erwerb mehrerer Sprachen dürften Teillexiken entstehen, Substrukturen, die vermutlich nicht völlig voneinander getrennt sind. Je nach Art des Spracherwerbs und der Sprachverwendung sind unterschiedlich starke Verbindungen anzunehmen. Bei häufiger Übersetzung sind stärkere Verbindungen zwischen den Substrukturen möglich. Aber vielleicht sind die lexikalischen Einheiten gemeinsam gespeichert, wobei man sich dann eine Art Sprachmarkierung vorstellen müsste. Eine Kombination mehrerer Repräsentationsformen wäre auch möglich. Das Inputsystem dürfte gemeinsam sein. Wie in der Muttersprache scheinen Morpheme und Wortanfange eine prominente Rolle bei der Worterkennung zu spielen. Sogar sehr geübte Lesende einer Zweitsprache lesen sie langsamer als die Muttersprache, was wohl auf geringere Automatisierung der unteren Verarbeitungsebenen zurückzuführen ist. 2.3.3. Syntaktische Auslöser müssen — ähnlich wie der Wortschatz — so weit erworben werden, dass sie automatisch erkannt und verarbeitet werden können, jedenfalls wenn sie für das Satzverstehen erforderliche Hinweise enthalten. Für Lernende, deren Ausgangssprache eine feste Wortfolge hat, bildet die flexible deutsche Wortfolge im Allgemeinen die größte Herausforderung. Aber auch Flexionsendungen, besonders die Kasusendungen, sind schwierig. Sie können zwar redundant sein, beispielsweise die Adjektivendung nach einem Artikelwort bei deutlicher Pluralmarkierung oder — ausgangssprachenabhängig — die Nominativmarkierung in einem SVO-Satz (SubjektVerb-Objekt-Wortfolge). Sie können aber auch notwendig sein, um falsche Dekodie-

905 rungen zu vermeiden, wie beispielsweise die Adjektivendung nach dem Artikelwort bei einem vorangestellten weiblichen Dativ, es sei denn das Genus des Substantivs ist bekannt. Diese Beispiele zeigen schon, wie schwer es ist zu entscheiden, welche syntaktischen Auslöser wann redundant sind. Inhaltliches Vorwissen, Grammatikkenntnisse, text- und satzbedingte Faktoren, sowie die Ausgangssprache und sonstige Sprachkenntnisse bestimmen mit wechselnder Gewichtung, welche syntaktischen Auslöser jeweils für das Verstehen erforderlich sind. Lesende einer Fremdsprache — so konnte im Rahmen des Wettbewerbsmodells gezeigt werden — setzen anfanglich muttersprachlich bedingte Strategien der syntaktischen Verarbeitung ein. Sie behalten diese bei, wenn die Verarbeitung dadurch nicht beeinträchtigt wird. Im Verlauf des Spracherwerbs kommen immer mehr für die Zielsprache geeignete Strategien zur Anwendung. 2.3.4. Wenn die Verarbeitung der unteren Ebenen gestört verläuft, verlangen Worterkennung und syntaktische Analyse Aufmerksamkeit, die dann der semantischen Verarbeitung fehlt. Deshalb verlassen sich Lesende der Fremdsprache häufig auf Inferieren oder sie übergehen Textteile, um eine unmittelbare Sinnentnahme zu ermöglichen, die aber nicht unbedingt korrekt ist. Diese kompensatorischen Rate- und Vermeidungsprozesse werden oft automatisch eingesetzt, sie führen also nicht immer zu einem gestörten Leseprozess. Wie sinnvoll sie sind, ist sehr situationsund aufgabenbedingt. Bei Vertrautheit mit dem Textinhalt können sie erfolgreich sein, sie können aber auch zu einer völlig fehlgeleiteten Textdeutung führen. Beim Versuch Kohärenz herzustellen kann die Fehldeutung eines Wortes oder einer Struktur die weitere Textinterpretation stark beeinträchtigen. Auch fehlendes inhaltliches Vorwissen kann trotz korrekter Dekodierung zu Fehldeutungen führen, wenn die Lesenden nicht die eigentlichen Adressaten sind, wie das übrigens auch beim Lesen der Muttersprache vorkommt. Bei ungestörter Dekodierung geschieht die Sinnentnahme ähnlich wie beim Lesen der Muttersprache. Über kulturbedingte Unterschiede in der Textstruktur und darüber, wie sie das Lesen beeinflussen könnten, ist nur wenig bekannt. 2.4. Textschwierigkeit Die Textschwierigkeit kann nicht objektiv bestimmt werden, weil sie sehr adressatenab-

906

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

hängig ist. Textexterne Faktoren wie Sprachkenntnisse und inhaltliches Vorwissen interagieren mit textinternen Faktoren wie Redundanz, Satzlänge, Wortreichtum usw. Daher helfen Formeln zur Bestimmung der Textschwierigkeit wenig. So können komplexe wissenschaftliche Texte für Lesende mit dem betreffenden Fachwissen viel leichter sein als einfache Texte mit kurzen Sätzen. Letztere können beispielsweise umgangssprachliche Redewendungen enthalten, die für Lernende der Fremdsprache schwer deutbar sind. Im Allgemeinen aber sind lange Sätze - besonders bei Satzklammern - und lange Nominalphrasen schwer, weil sie noch abgesehen von den Segmentierproblemen — das Arbeitsgedächtnis überlasten können. Schriftlich fixierte Texte haben jedoch den Vorteil, dass man das Dekodiertempo selbst bestimmt und immer wieder zurückgehen kann.

3.

Lesen und Fremdsprachenerwerb

Lesen ist einerseits ein Mittel zum Erwerb von Sprachkenntnissen, andererseits ist Spracherwerb die wichtigste Vorbedingung zum Lesen der Fremdsprache. Vorschläge und Anregungen zur Arbeit mit Texten und zur Übungsgestaltung findet man u.a. bei Barnett 1989, Grellet 1981, Nuttall 1982, Solmecke 1993, Stiefenhofer 1986, Westhoff 1987, Fremdsprache Deutsch 1990/2.

4.

Didaktische Hinweise

Aus mehreren Gründen darf die Aussprache — sogar wenn Lesen die einzige Zielfertigkeit ist — nicht vernachlässigt werden. Es ist zwar nicht sicher, aber doch möglich, dass der phonologische Kode für den lexikalischen Zugriff notwendig ist. Für die Verarbeitung im Arbeitsgedächtnis spielt der phonologische Kode eine wesentliche Rolle. Wir brauchen ihn weiter für den Wortschatzerwerb und für die Rezirkulation bei der Wörterbuchverwendung. Auch müssen die Lernenden nach Wortbedeutungen fragen können. Zudem sind sie meistens an der Aussprache interessiert. Übrigens bedeutet dies nicht, dass Texte laut (vor)gelesen werden sollen. Lautes Lesen von Textteilen kann sinnvoll sein, da es in Kombination mit der visuellen Vorlage das Einprägen der Wörter unterstützt und die Segmentierung der Wortsequenz verdeutlicht, was in der Anfangsphase

des Spracherwerbs hilfreich ist. Eine zweckmäßige Lesestrategie ist es nicht. Das Umsetzen in Laute beansprucht Gedächtniskapazität und erschwert dadurch die Sinnentnahme. Um eine möglichst automatisierte Worterkennung zu ermöglichen, sind Wortschatzübungen an Hand des Textes erforderlich, die zum wiederholten lexikalischen Zugriff führen. Dabei muss wegen ihrer Bedeutung für die Worterkennung die Morphemebene berücksichtigt werden. Übungen mit morphologisch definierten Wortteilen verkürzen die Reaktionszeiten beim Zugriff auf alle Wörter mit diesen Morphemen. Daher sind Erkennungsaufgaben zu Stammformen, Flexionsmorphemen und Affixen sinnvolle Übungen. Sie helfen auch beim Erkennen der Wörterbuchform. Inwiefern die syntaktische Analyse geübt werden muss, ist stark vom Verhältnis zwischen Ausgangs- und Zielsprache abhängig, d. h. davon, wie erfolgreich muttersprachlich bedingte - oder auf Grund weiterer Sprachkenntnisse automatisierte - syntaktische Verarbeitungsstrategien eingesetzt werden können. Fehleranalysen — eventuell kombiniert mit Retrospektionsdaten und Beobachtung der Lernenden — sind aufschlussreich für die Übungsgestaltung. Erkennungsübungen für das Verstehen relevanter Flexionsendungen unterstützen die Wahrnehmung und können zum Entgegenwirken unzweckmäßiger Vermeidungsstrategien beitragen. Explizites Wissen kann so den Erwerb impliziter Kenntnisse fördern (vgl. Berry/Dienes 1993,35; 139; Huckin/Haynes 1993, 293f.). Erst durch wiederholtes Lesen können sich dann allmählich automatische Routinen entwickeln, die die direkte Sinnentnahme ermöglichen. Lesen ist immer eine Form der Fertigkeitsübung. Jedes Lesen verbessert die Dekodierfahigkeit, weil der Zugriff zu Wörtern und syntaktischen Auslösern durch Wiederholung erleichtert wird. Besonders am Anfang des Spracherwerbs ist deshalb wiederholtes Lesen derselben Textvorlage sinnvoll, aber damit die Wiederholung nicht demotivierend wirkt, sind sehr unterschiedliche Aufgaben zum Text notwendig. Eine sinnerschließende Aufgabe ist ein guter Anfang, denn die Sinnentnahme ist das eigentliche Ziel, die Dekodierung nur das Mittel. Dazu können die Lesestile oder Lesestrategien eingesetzt werden, die durch die Leseabsicht bedingt werden. Die Bezeichnungen sind nicht immer einheitlich, aber es werden im Allgemeinen vergleichbare Formen unterschieden. Beim su-

907

93. Leseverstehen

chenden Lesen wird nur nach einem Zeichen (Wort, Name, Zahl ...) gesucht, während man sich beim orientierenden Lesen einen schnellen Überblick über Text und Textinhalt verschaffen möchte. Beim kursorischen Lesen folgt man dem Textaufbau und versucht, das Wesentliche des Inhaltes zu erfassen, beim totalen Lesen sollen möglichst alle Informationen verarbeitet werden. Das argumentative Lesen ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Textinhalt, wobei viel elaboriert wird, d. h. man bildet Inferenzen zum Textinhalt, die von den Verfassenden nicht intendiert wurden. Ein wichtiger Vorteil der Arbeit mit schriftlich fixierten Texten in einer Klassensituation ist, dass sie autonomes Lernen ermöglicht. Nicht alle Lernenden brauchen denselben Text zu lesen oder dieselben Aufgaben zu machen. Manche werden lieber intensiv mit einem Text arbeiten, andere lesen lieber viele Texte. Beides ist sinnvoll. Wichtig ist, dass viel gelesen wird. Differenzierung ist notwendig, weil die Zweckmäßigkeit von Erwerbsstrategien mit der Persönlichkeit der Lernenden zusammenhängt (Jonassen/ Grabowski 1993). Das gilt auch für Lesestrategien wie kontextuelles Raten, Ausnutzen der Textstruktur, Unterstreichen der wichtigsten Inhaltswörter oder Übergehen unwichtiger Wörter. Das Problem ist nämlich, dass Strategien mehr oder weniger erfolgreich angewendet werden können. Manche Lernende müssen dazu angehalten werden, sich mehr zuzutrauen und kontextuelles Raten einzusetzen, andere müssen lernen, vorsichtiger zu sein und schneller zum Wörterbuch zu greifen. Sie sollten sich daher des eigenen Strategieeinsatzes beim Lesen und dessen Erfolgschancen bewusst sein. Beim Strategieeinsatz sind gute Lesende - wie auf allen Ebenen der Verarbeitung — erfolgreicher, weil sie mehr Hinweise gleichzeitig verarbeiten können. Schwache Lesende brauchen daher entsprechend mehr Sprachkenntnisse, um eine vergleichbare Sinnentnahme zu erreichen. Strategietraining ist eine der Möglichkeiten, sich wiederholt und zielgerichtet mit der Textvorlage zu beschäftigen, was auf jeden Fall zum Spracherwerb beiträgt.

5.

Literatur in Auswahl

Balota, David Α.; Giovanni Flores d'Arcais; Keith Rayner (Hg.) (1990): Comprehension processes in reading. Hillsdale.

Barnett, Marva Α. (1989): More than meets the eye. Foreign language reading. Theory and practice. Englewood Cliffs. Bernhardt, Elisabeth B. (1993): Reading development in a second language: Theoretical, empirical and classroom perspectives. Norwood. Berry, Dianne C.; Zoltan Dienes (1993): Implicit learning. Theoretical and empirical issues. Hillsdale. Besner, Derek; Glyn W. Humphreys (Hg.) (1991): Basic processes in reading. Visual word recognition. Hillsdale. Fremdsprache Deutsch. Zeitschrift für die Praxis des Deutschunterrichts, 1990/2 (Arbeit mit Texten). Garfield, Jay L. (Hg.) (1987): Modularity in knowledge representation and natural-language understanding. Cambridge/Mass. Goodman, Kenneth S. (1976): Reading: A Psycholinguistic Guessing Game. In: Harry Singer; Robert B. Ruddell (Hg.): Theoretical models and processes of reading. Newark, 497—508. Grellet, Françoise skills. Cambridge.

(1981):

Developing

reading

Huckin, Thomas; Margot Haynes (1993): Summary and future directions. In: Thomas Huckin; Margot Haynes; James Coady (Hg.): Second language reading and vocabulary learning. Norwood, 289-298. Huey, Edmund Burke (1979, Erstauflage 1908): The psychology and pedagogy of reading. Cambridge/Mass. etc. Jonassen, David H.; Barbara L. Grabowski (1993): Handbook of individual differences, learning & instruction. Hillsdale. Karcher, Günter L. (1988): Das Lesen in der Erstund Fremdsprache. Dimensionen und Aspekte einer Fremdsprachenlegetik. Heidelberg. Lutjeharms, Madeline (1988): Lesen in der Fremdsprache. Versuch einer psycholinguistischen Deutung am Beispiel Deutsch als Fremdsprache. Bochum. — (1994): Lesen in der Fremdsprache: Zum Leseprozess und zum Einsatz der Lesefertigkeit im Fremdsprachenunterricht. Im Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 5/2, 36—77. — (1995): Einführung zum Themenbereich III: Leseforschung; Der fremdsprachige Leseprozeß. In: Bernd Spillner (Hg.): Kongreßbeiträge der 25. Jahrestagung der Gesellschaft für Angewandte Linguistik, GAL e. V. Frankfurt/M. etc., 111-115; 137-147. MacWhinney, Brian; Elisabeth Bates (Hg.) (1989): The cross-linguistic study of sentence processing. Cambridge. Nuttall, Christine (1982): Teaching reading skills in a foreign language. London. Oakhill, Jane; Roger Beard; Denis Vincent (Hg.) (1995): Journal of Research in Reading. Special Issue: The contribution of psychological research. 18/2.

908

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Schnotz, Wolfgang (1988): Textverstehen als Aufbau mentaler Modelle. Irr Heinz Mandl; Hans Spada (Hg.): Wissenspsychologie. München/Weilheim, 299-330. Solmecke, Gert (1993): Texte hören, lesen und verstehen. Berlin/München. Stiefenhofer, Helmut (1986): Lesen als Handlung. Didaktisch-methodische Überlegungen und unterrichtspraktische Versuche zur fremdsprachlichen Lesefähigkeit. Weinheim/Basel.

Strohner, Hans (1990): Textverstehen. Kognitive und kommunikative Grundlagen der Sprachverarbeitung. Opladen. Taft, Marcus (1991): Reading and the mental lexicon. Hove etc. Westhoff, Gerard J. (1987): Didaktik des Leseverstehens. Strategien des voraussagenden Lesens mit Übungsprogrammen. München. Madeline

Lutjeharms,

Brüssel

(Belgien)

94. Mündliche Sprachproduktion 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Vorbemerkung Grundlagen Das Sprechen als Fertigkeit im Fremdsprachenunterricht Schulung des Sprechens Literatur in Auswahl

Vorbemerkung

„Im Laufe seines Lebens erwirbt jeder Mensch eine Vielzahl unterschiedlichster Fertigkeiten — vom Strümpfestopfen bis zum Meditieren. Darunter fällt auch das Sprechen. Gewiß ist Sprechen mehr als eine Fertigkeit. Aber was immer es darüber hinaus noch ist — z. B. Aneignung einer Kultur - , es ist auch eine Fertigkeit [...]. An ihrem Zustandekommen sind a) Wahrnehmungen, deren b) Verarbeitung und Verbindung mit c) ausführender Motorik beteiligt." (Butzkamm 1993, 77f.)

Diese produktive Fertigkeit wird als eine sprachliche, soziale, psychische, körperliche, historische, formative Tätigkeit angesehen, die Sinn konstituiert und andere Tätigkeiten auslöst (vgl. Glück 1993, 595). In ihrem Ergebnis entstehen Texte. 2.

Grundlagen

Das Wie der mündlichen Sprachproduktion hat besonders die kognitive und sprachpsychologische Forschung beschäftigt und beschäftigt sie noch (vgl. Herrmann/HoppeGraff 1988, 283). Man kann dies nicht feststellen, ohne die zweite produktive Fertigkeit, das Schreiben, zu erwähnen, in dessen Verlauf in der Regel ebenfalls Texte produziert werden. Zwischen der mündlichen und der schriftlichen Textproduktion muss man sowohl Übereinstimmungen in den Grundprinzipien als auch Besonderheiten, die mit der

Eigenart des Schreibens zu tun haben, annehmen (ebd.). Einige notwendige Voraussetzungen für die didaktische Betrachtung der mündlichen Sprachproduktion seien zunächst skizziert. (1) Karl Bühler (1934) bezeichnet die Sprache als „Werkzeug" und entwirft mit seinem „Organon-Modell" (Zeichenmodell) gleichzeitig ein Kommunikationsmodell, in dem der Sprecher (Sender) dem Hörer (Empfanger) etwas mitteilt. Dabei hat das sprachliche Zeichen drei verschiedene Funktionen: a) Darstellungsfunktion, indem es als Symbol Gegenständen und Sachverhalten zugeordnet ist; b) Ausdrucksfunktion, indem es Symptom für die Einstellung des Sprechers ist; c) Appellfunktion, indem es als Signal das innere und äußere Verhalten des Hörers steuert (vgl. Lühr 1993, 196f.). (2) Die Sprechakttheorie geht wie das Organon-Modell auf den Philosophen Piaton zurück. Ihre Begründer J. L. Austin und J. R. Searle teilen einen Sprechakt ein in a) einen lokutionären Akt (die Äußerung selbst), b) einen illokutiven Akt (Zweck der Äußerung) und c) den perlokutionären Akt (Wirkung der Äußerung). Dabei verlaufen die drei „Akte" nicht nacheinander, sondern sind Aspekte einer komplexen Äußerungshandlung, eben eines Sprechakts (vgl. Lühr 1993, 269 f.). (3) Der Psycholinguist A. A. Leontjev leitet sein Modell der Erzeugung sprachlicher Äußerungen aus der kulturhistorischen Psychologie L. S. Vygotskijs und Α. N. Leontjevs und von der Sprechtätigkeitstheorie P. J. Galperins ab.

94. Mündliche Sprachproduktion

Er gibt als auslösendes Moment einer (hier produktiven) kommunikativen Handlung ein Motiv an, dem als zweite Etappe die Planung folgt. Diese umfasst die gedankliche Vorbereitung des Ziels der Äußerung, die Berücksichtigung der Kommunikationssituation und das Programm für die sprachliche Realisierung. Als dritte Etappe sieht er die Ausführung und (oft gleichzeitig verlaufend) als vierte Etappe die Kontrolle darüber, wie die ursprüngliche Idee realisiert wurde (vgl. Leontjew 1975, 152). Entgegenzusetzen wäre hier, dass am Anfang nicht eine Absicht stehen muss, sondern eine bestimmte Notwendigkeit zu kommunizieren, eine Aufgabe. Erst diese Notwendigkeit/Aufgabe bringt kommunikative Ziele und entsprechende Realisationsvarianten hervor. Nach Härtung (1981, 227) ist eine zu lösende Aufgabe vorhanden, die einen bestimmten Kommunikationsbedarf einschließt. Indem sie erkannt wird und Versuche zu ihrer Lösung unternommen werden, entwickeln und differenzieren sich kommunikative Ziele. Diese Präzisierung ist wichtig im Hinblick auf das Sprechen bzw. die Textproduktion im Unterricht. Wenn wir heute von Textproduktion reden, dann sind zwei Aspekte immer dabei: Zielbezogenheit und Partnerbezug. Die Berücksichtigung des Hörers geht so weit, dass ein Sprecher mögliche Rezipientenreaktionen antizipiert, d.h. bei dem Versuch der kommunikativen Realisierung eines gegebenen Zieles Einschätzungen im Hinblick auf Wissen, soziale und institutionelle Zugehörigkeit, ideologische Haltung, kulturelle Zugehörigkeit, Situationseinschätzung u. ä. des Rezipienten vornimmt (vgl. Zimmermann 1984, 131 f.). (4) Im Modell von Herrmann/Hoppe-Graff sind diese beiden hervorstechenden Merkmale mündlicher (und schriftlicher) Textproduktion expliziert. Auch hier werden drei Stufen der Textproduktion unterschieden: a) Stufe der Fokussierung: Die Wahl eines Themas/Inhalts (Gegenstand ist ein dem Sprecher/Schreiber bekannter oder von ihm erlebter Sachverhalt) geschieht zielund partnerbezogen. b) Stufe der Selektion und Linearisierung: Die Informationen werden in unterschiedlicher Auswahl und Reihenfolge (also ebenfalls ziel- und partnerbezogen) an diesen gegeben. c) Stufe der Encodierung: Die sprachliche Realisierung kann — wieder ziel- und part-

909 nerbezogen - sehr unterschiedlich ausfallen, sich verschiedener Soziolekte, Dialekte, Register oder grammatischer Formen ζ. B. Aktiv oder Passiv bedienen. Dabei laufen die Prozesse auf den drei Stufen zeitlich parallel ab und interagieren miteinander (vgl. Herrmann/Hoppe-Graff 1988, 284ff.). (5) Ein ähnliches Modell liegt von J. Anderson (1989) vor, der einteilt in (a) die Stufe der Konstruktion (was soll gesagt werden und wie soll es gesagt werden in bezug auf die Situation und den/ die Adressaten?) (b) die Stufe der Transformation (die Übersetzung des Was und Wie in Sätze) (c) die Exekution (der Prozess, in dem die Mitteilung mündlich ausgeführt wird (Artikulation + Körpersprache)) (vgl. NeufMünkel/Roland 1994, 34). (6) Schließlich sei noch das auf psycholinguistischen Untersuchungen basierende Produktionsmodell von Wolff (1993) genannt, bei dem er sich auf Levelt (1989) beruft. Die „niederrangigen Verarbeitungsstrategien" (die die motorischen Tätigkeiten der Artikulation beim Sprechen steuern), lässt er beiseite und nennt als „höherrangige Verarbeitungsstrategien" Bereitstellungs-, Planungs-, Formulierungs- und Bewertungsstrategien. Bereitstellungsstrategien sollen bewirken, dass dem Sprachproduzenten Inhalte für eine zu produzierende Äußerung zur Verfügung stehen. Planungsstrategien setzen auf allen Ebenen ein, auf der Diskursebene, der Satzebene, der Konstituentenebene und der artikulatorischen Ebene. Der Einsatz von Formulierungsstrategien führt dazu, dass die geplanten Aussagen angemessen in sprachliche Zeichen umgesetzt werden. Bewertungsstrategien werden eingesetzt, um die geplante und formulierte Äußerung im Hinblick auf Form, Inhalt, Intention zu überprüfen. Die Bewertung findet beim Sprechen häufig erst während des Artikulationsprozesses statt (vgl. Wolff 1993, 35). Diese analytischen Betrachtungen führen zu der Schlussfolgerung, dass am Anfang jeder Sprechhandlung (dieser Terminus ist gegenüber dem „Sprechakt", der in der Terminologie der Sprechakttheorie anders besetzt ist, zu bevorzugen, ist aber auch abzugrenzen gegenüber der allgemeineren „Sprachhand-

910

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

lung", die sprachliches Handeln unter Mitwirkung aller Fertigkeiten bedeutet) eine Sprechabsicht steht, eine Intention, was mit dem Sprechen erreicht werden soll. Man spricht nicht ohne Grund, sondern stets zielbezogen: In einer bestimmten Situation will man Fragen stellen, Antworten auf Fragen geben, seine Meinung äußern, Vorschläge machen, vielleicht auch nur sprechen, um nicht unhöflich zu erscheinen, Kontakt herzustellen oder zu erhalten. Sprechen ist also als Handlung zu begreifen, die zu einem Partner Beziehungen herstellt, als „soziale Interaktion". Man versteht darunter die durch Kommunikation (Sprache, Symbole, Gesten usw.) vermittelten wechselseitigen Beziehungen zwischen Personen und Gruppen und die daraus resultierende wechselseitige Beeinflussung ihrer Einstellungen, Erwartungen und Handlungen (vgl. Lexikon der Soziologie 1994, 308). Die Individuen vermitteln dabei einander den „gemeinten Sinn" ihrer Handlungen. Mit der Entwicklung des Sprechens (wie mit der Ausbildung der anderen Fertigkeiten) wird „Interaktionskompetenz" angestrebt. Darunter versteht man den Fähigkeitsgrad eines Menschen, Interaktionen zu beginnen, an ihnen teilzunehmen, an ihnen so teilzunehmen, dass Störungen, Missverständnisse, Krisen usw. möglichst nicht aufkommen oder aber überwunden werden können (vgl. Lexikon der Soziologie 1994, 310). Verwirklichung einer Kommunikationsabsicht, Einstellung auf die Kommunikationssituation und den Partner sind also wichtige Aspekte einer Sprechhandlung/Sprachhandlung. Das Sprechen als Fertigkeit im Fremdsprachenunterricht

schung steht im Vordergrund. Erstmals wird der Ausspracheschulung Beachtung geschenkt (Nachahmung und phonetische Erkenntnisse). Sprechen kommt vor Schreiben (wie beim Erlernen der Muttersprache). Die Aneignung der Sprache soll in lebensnahen Situationen erfolgen; Umgangssprache/Alltagssprache dominieren gegenüber der Schriftsprache. Die Direkte Methode gilt als Vorläuferin der Audiolingualen Methode, der „HörSprech-Methode". Deren Ziel ist ebenfalls der mündliche Sprachgebrauch (Vorrang des Hörens/Sprechens vor dem Lesen/Schreiben). Mündliches Sprachkönnen soll vor allem durch Nachahmen und Einschieifen von Dialogmustern und Modelldialogen erreicht werden. Neben der Audiolingualen Methode (USA) entwickelt sich die Audiovisuelle Methode (Frankreich), für die in Bezug auf das Sprechen die gleichen Prinzipien gelten: vorwiegend reproduktives Sprechen auf der Basis banaler, oft sinnentleerter Lehrbuchdialoge. Mit der kommunikativen Methode wird (zunächst) das Lernziel „Befähigung zur Alltagskommunikation" aus der audiolingualen Methode aufgegriffen und unter Einbeziehung aller Fertigkeiten weiterentwickelt. Der interkulturelle Ansatz bringt für die Entwicklung der fremdsprachlichen Äußerungsfahigkeit (das Sprechen) die Forderung, sich nicht nur auf das Dialogisieren, sondern auch auf das Sprechen zur Sache/zum Thema (Diskutieren) zu beziehen (vgl. Neuner/Hunfeld 1993, 117), sich nicht auf bloßes Nachahmen vorgegebener Dialogmuster zu beschränken, sondern auf der Grundlage von Verstehensprozessen zur fremdsprachlichen Äußerung zu kommen, wobei das Lernverhalten immer weniger gesteuert wird.

3.1. Rückblick: Stellung des Sprechens innerhalb der Methoden des Fremdsprachenunterrichts Der Stellenwert des Sprechens war im Laufe der Zeit wie der der anderen Fertigkeiten auch gekennzeichnet durch ein Auf und Ab. In der Grammatik-Übersetzungs-Methode lagen die Schwerpunkte auf Grammatik, Übersetzung, Lesen und Schreiben. (Freies) Sprechen spielte überhaupt keine Rolle. Die Umkehrung kam mit der Direkten Methode, in der die gesprochene Sprache den absoluten Vorrang hat (vgl. Neuner/Hunfeld 1993, 33). Aktive mündliche Sprachbeherr-

3.2. Lernzielbestimmung der Fertigkeit Sprechen Mit der Kommunikativen Methode entsteht ein neues Lernziel des Fremdsprachenunterrichts, meist als „Erwerb kommunikativer Kompetenz" bezeichnet. G. Heyd (1991, 276) versteht darunter sicher sehr unzureichend — die Fähigkeit einer Person, sich in jeder Sprechsituation mit Hilfe gemeinsamer sprachlicher und außersprachlicher Symbole angemessen verständlich zu machen. Diese Auffassung berücksichtigt nicht, dass eine Person auch das Ziel haben kann, sich über das Mittel des Schreibens

3.

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94. Mündliche Sprachproduktion

verständlich zu machen. Heyd lässt ebenso außer Acht, dass zur kommunikativen Kompetenz die rezeptiven Fertigkeiten, das Verstehen-Können geschriebener und gesprochener Sprache gehören. Eine neuere Lernzielbestimmung lautet: „Übergeordnetes Lernziel beim Erlernen einer Fremdsprache ist der Erwerb von Handlungsfähigkeit in dieser Fremdsprache" („Die Suche" 1995, Lehrerhandreichungen 1, 6). Diese Definition ist sehr offen und könnte je nach Fertigkeit und Zielgruppe präzisiert werden. Zunächst steht dahinter, dass man an eine recht allgemeine Art von Handlungsfähigkeit denkt, die es erlaubt, sich in der Fremdsprache angemessen zu verhalten und seine (Kommunikations-)Ziele zu realisieren, d.h. sich zu verständigen. Dabei gilt nicht mehr die Sprechtätigkeit als bestimmender Faktor. Der kommunikative Fremdsprachenunterricht wurde durch seine Betonung der Entwicklung des dialogischen und partnerbezogenen Sprechens besonders auf der Anfangerstufe (vielleicht auch als Nachwirkungen der audiolingualen und audiovisuellen Methode) in dieser Hinsicht oft missverstanden. Die rezeptiven Fertigkeiten und Strategien, interpretative Kompetenz, kreative und selbständige Anwendung von Lerntechniken und -Strategien wie auch die Schreibfahigkeit sind aber in gleicher Weise entscheidend für Handlungsfähigkeit in der Zielsprache (vgl. „Die Suche", Lehrerhandreichungen 1, 7 und Apelt 1991, 228). Sprechen also als ein gleichberechtigter Partner in der Reihe der Fertigkeiten und bei der Realisierung der allgemeinen Zielstellung „Erreichen von Handlungsfähigkeit in der Fremdsprache"! Als Basis dieser Auffassung kann die „Prozessorientierung" des fremdsprachlichen Unterrichts angesehen werden, denn im Rahmen eines prozessorientierten Unterrichts wird nach Wolff (1993, 29) die sprachliche Entwicklung vor allem als die Weiterentwicklung der sprachlichen Fähigkeiten gesehen, als Herausbildung von Fähigkeiten zur Informationsaufnahme und von Strategien zur Steuerung fremdsprachlicher Interaktionsprozesse. Im Vordergrund eines prozessorientierten Unterrichts steht daher die Förderung der sprachlichen Fähigkeiten. Im Unterschied zu produktorientierten Auffassungen, die sich in erster Linie am sprachlichen Wissen (Lexik, Grammatik) bzw. an Sprachfunktionen (fertige Inventare von Sprechsituationen) orientieren, sind prozessorientierte Anschauungen erst in zweiter

Linie am Wissen über Sprache bzw. über spezifische Sprechsituationen interessiert. Ihnen geht es vor allem darum, die Prozesshaftigkeit menschlicher Kommunikation zu thematisieren: „[They] map out the procedural knowledge or the underlying operation which enable a language user to communicate with not merely one event or situation but within a range of these." (Breen 1987, 160, zitiert in Wolff 1993,28).

Aus dem allgemeinen Lernziel „Handlungsfähigkeit in der Fremdsprache" sind für verschiedene Adressaten und Sprachniveaustufen detailliertere Lernzielformulierungen abzuleiten. Als Beispiel mag die Lernzielbeschreibung in der „Kontaktschwelle" (1989, 15) dienen. Hier wird ein erstes unterstes Lernzielniveau bestimmt als „für die Bedürfnisse einer Zielgruppe ausreichende, minimale, ausbaufähige kommunikative Kompetenz." Für die Bedürfnisse einer Zielgruppe .ausreichend' meint dabei, dass es sich um ein selbständiges Lernziel handelt, das für sich genommen sinnvoll ist und nicht nur eine Etappe auf dem Weg zu einem Ziel, sondern selbst Endziel sein kann. Das liest sich für das Sprechen auf dem Niveau „Kontaktschwelle" so: „Die Lernenden sollen fähig sein: spontan, in einfacher, verständlicher und möglichst angemessener Form — ihre Bedürfnisse, Wünsche, Absichten, Erfahrungen, Meinungen oder Gefühle zu äußern; — mit kürzeren Äußerungen zu reagieren auf situative oder im Gesprächsablauf erwartbare Äußerungen anderer; — sich aktiv mit Informations- oder Meinungsäußerungen an Gesprächen zu Alltagsthemen zu beteiligen; — wenn nötig, die Gesprächspartner um Formulierungshilfe, um langsameres, deutlicheres Sprechen, um Wiederholung oder Paraphrasierung zu bitten." (ebd.: 26).

Betont wird darüber hinaus: „Wichtigstes Kriterium ist, dass Kommunikation zustandekommt, daß die ,Botschaft' des Sprechenden verstanden wird. Völlige Korrektheit ist nicht Voraussetzung für ein Gelingen der Kommunikation. [...] gegenüber der Betonung des korrekten Sprechens, das als Ziel natürlich sinnvoll bleibt, wird damit dem spontanen und flüssigen, wenn auch fehlerhaften Sprechen eine kommunikativ größere Wichtigkeit beigemessen." (ebd.: 26f., Hervorhebung im Original).

Die Lernziele, die hier artikuliert werden, genügen den heutigen Auffassungen nicht mehr voll. Sie spiegeln die stark funktional-prag-

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matisch orientierten Ziele des Fremdsprachenunterrichts zu Beginn der 80er Jahre wider und beschränken sich im Wesentlichen auf dialogisches Sprechen und das sprachliche Beherrschen von Alltagssituationen. Aber „partnerbezogenes Sprechen in Alltagssituationen" muss nicht für jeden, der Deutsch lernt und nicht überall auf der Welt das primäre Ziel des Sprachunterrichts sein. In vielen Ländern ist es ζ. B. ein wichtiges Lernziel, mit einem deutschsprachigen Partner über das eigene Land zu reden (vgl. Neuner 1996c, 58). Auch Präzisierungen des oben formulierten Lernziels sind notwendig, die Eigenschaften der gesprochenen Sprache auch für den Fremdsprachenunterricht berücksichtigen und bewusst gemacht bzw. geübt werden sollten:

Fremdsprachenlernen besondere Bedeutung hat. Lernen wird als begründetes menschliches Handeln verstanden (vgl. Bimmel/Rampillon 1996, 52f.), wobei der Lerner auf seine ganz eigene, subjektive Art lernt und Strategien (Pläne mentalen Handelns) einsetzt, die er als nützlich für sich selbst erfahren hat. Er lernt das Lernen. Bimmel/Rampillon (1996,59) schlussfolgern daraus, dass den Schülerinnen und Schülern Verfahren zum selbständigen Lernen des Deutschen vermittelt werden müssen, dass diese angewendet und reflektiert werden. Die Verständigung über das Was und Wie des unterrichtlichen Tuns, die Besprechung der Arbeitsergebnisse führen uns zu diesem weiteren Lernziel und Thema der Fertigkeit Sprechen.

— unvollständige Sätze, Satzabbrüche, Wiederholungen, Präzisierungen; — für die Interaktion typische Kontaktsignale von Sprecher und Hörer (ja?; weißt du; hm; ...) — formelhafte Ausdrücke, um Gespräche zu beginnen, zu beenden, um beabsichtigten Sprecherwechsel anzuzeigen, nachzufragen, ...

3.3. Monologisches und dialogisches Sprechen In der Realität und entsprechend im Fremdsprachenunterricht kommen monologisches und dialogisches Sprechen vor. Das monologische Sprechen dient zur Weitergabe einer Information, die der Sprecher aus anderen Quellen entnommen oder als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit der außersprachlichen Umwelt selbst produziert hat (reproduktives bzw. produktives Sprechen). Die Informationen werden als zusammenhängende Mitteilung präsentiert, indem Sätze zu Texten verknüpft werden. Diese sind an bestimmte Kommunikationspartner gerichtet und sollen deren Informationsbedürfnis entsprechen. Die Sprechhandlung realisiert sich in verschiedenen Sprachhandlungstypen (Beschreiben, Berichten, Erzählen, Kommentieren, Referieren,...). Produkte sind die verschiedensten Textsorten (Beschreibung, Bericht, Erzählung, ...). Sprechen kommt als spontanes oder als vorbereitetes Sprechen vor, wird aber meist mehr oder weniger detailliert inhaltlich und sprachlich vorher geplant. Das dialogische Sprechen (in der Regel face-to-face-Kommunikation) setzt mindestens zwei Kommunikationspartner voraus, die sich Bewusstseinsinhalte mündlich übermitteln, d. h. einen gemeinsamen Gesprächsgegenstand und eine kommunikative Absicht als gesprächsauslösenden Faktor haben. Die Gesprächssituation, in der sie sich befinden, beeinflusst Inhalt, Form und Verlauf des Gesprächs und ist charakterisiert durch (a) die

Ein interkulturell orientierter Fremdsprachenunterricht muss auch das Ziel haben, dass Lerner die fremde Welt und Kultur, die ihnen (manchmal ausschließlich) im Unterricht begegnet, besser verstehen lernen, dass sie in der Auseinandersetzung mit der fremden Welt auch ihre eigene bewusster sehen. Was da auf dem Hintergrund ihrer eigenkulturell geprägten Erfahrung an Fremdem auf sie trifft, soll zum Vergleichen, zum Nachdenken und zum Reden anregen über das, was als fremd empfunden wird, was einerseits als attraktiv und interessant, andererseits als beängstigend oder unverständlich erscheint. Auch das Lesen literarischer Texte, das Aufnehmen der fremden Kultur über das Medium der Literatur, gehören dazu. Diese Verstehens- und Lernprozesse sollen im Unterricht thematisiert und besprochen werden - hier wieder der unmittelbare Bezug zum Sprechen! — und zu interkultureller Handlungsfähigkeit führen. Ein weiteres wichtiges Lernziel ist das aktive, selbständige, selbstgesteuerte und selbstverantwortete Lernen, das natürlich fächerübergreifend angeeignet wird und funktioniert, aber auch und vielleicht gerade für das

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Tätigkeitssituation, d. h. die Tätigkeit, in die das Gespräch eingebettet ist und auf die es sich bezieht bzw. beziehen kann, (b) die soziale Situation, das Verhältnis der Partner zueinander, (c) die Umgebungssituation, die äußeren Bedingungen, unter denen ein Gespräch abläuft (vgl. Härtung 1974, 274ff.). Es findet ein ständiger Rollenwechsel statt: Der Sprecher wird zum Hörer und umgekehrt. Infolgedessen kann die Rede nicht bis ins Detail inhaltlich und sprachlich vorbereitet werden. Sie ist durch Spontaneität gekennzeichnet, und von den Kommunikationspartnern wird größere Flexibilität als beim monologischen Sprechen gefordert. Zum dialogischen Sprechen gehört die Konversation. Speight (1995,253) fordert von einer brauchbaren Definition von Konversation, sie müsse mindestens folgende Elemente enthalten: Gegenseitigkeit, Abwechslung der Sprecher, Flexibilität, Gebrauch von Diskursstrategien, ritualisierte Phasen und bestimmte Arten von Wortschatz, insbesondere Füllwörter und Verstärkungspartikeln. Speight betont, dass Fremdsprachenlerner heutzutage selbstverständlich in die Lage versetzt werden sollen, die zweite Sprache in Alltagssituationen zu gebrauchen, kritisiert aber gleichzeitig, dass die Fähigkeit, in angemessener Weise an einer einfachen Konversation teilzunehmen, nicht in Lernzielkatalogen erwähnt wird. Da aber als ein Lernziel der Fertigkeit Sprechen immer auch die Ausbildung des dialogischen Sprechens gefordert wird mit allen Merkmalen, die Speight für die Konversation aufführt, kann der Begriff Konversation für den Unterricht ausgespart bleiben — oder er müsste im Hinblick auf Unterricht definiert werden, da er begriffliche Unklarheiten enthält (vgl. Glück 1993, 336). 3.4. Unterschiede und Gemeinsamkeiten der produktiven Fertigkeiten Sprechen und Schreiben Beide Fertigkeiten haben grundlegend übereinstimmende Erzeugungsmechanismen (vgl. Bohn 1994, 111). Das ist nachzuvollziehen, wenn man sich die Sprachgenerierungsmodelle anschaut (vgl. Tabelle 1). Beide finden aber unter unterschiedlichen Bedingungen statt und stellen damit unterschiedliche Anforderungen an Sprecher/Hörer und Schreiber/Leser. Diese Anforderungen lassen in manchen Punkten das Sprechen gegenüber dem Schreiben als „leichter" erscheinen, in anderen wieder scheint das Schreiben weniger schwierig.

Tabelle 94.1 Sprecher/Hörer

Schreiber/Leser

unmittelbarer Partnerbezug, gleichzeitige Anwesenheit von Sprecher und Hörer

mittelbarer Partnerbezug — Verständigung i. d. R. bei zeitlicher und räumlicher Trennung

permanente Rückkopplung

wenn Rückkopplung, dann zeitversetzt

Verschmelzung von gedanklichem Konzept und sprechmotorischer Ausführung — hohe Anforderung an Konzentration und Reaktionsgeschwindigkeit von Sprecher und Hörer

zeitlicher Abstand zwischen gedanklichem Konzept und schreibmotorischer Ausführung — Leser hat Zeit, wiederholt zu lesen, zurückzugehen, zu unterbrechen

sprachliche Entlastung der Darstellung durch gemeinsame Situation

sprachliche Explikation alles für die Verständigung Notwendigen

nicht so hohe Ansprüche an gedankliche Konzeption in Bezug auf Folgerichtigkeit, Vollständigkeit und Adäquatheit der Darstellung möglich

größere Verbindlichkeit in Bezug auf das gedankliche Konzept: Folgerichtigkeit, Vollständigkeit, Adäquatheit der Darstellung

Verstehenshilfen beim Sprechen: Mimik und Gestik, „Körpersprache"

Verstehenshilfen beim Schreiben: graphische Signale, ζ. B. Interpunktion, Unterstreichungen, Fettdruck, Schriftarten

Kontrolle der sprachlichen Form eingeschränkt, Korrekturvorgänge offen

Kontrolle nachträglich möglich; Korrekturvorgänge verdeckt

Aussprache als Bestandteil des Sprechens

Orthographie als Bestandteil des Schreibens

keine körperfremden Werkzeuge; Sprechen wird i. d. R. nicht als Arbeit empfunden

körperfremde Werkzeuge nötig; Schreiben wird häufig als Arbeit empfunden

4.

Schulung des Sprechens

4.1. Aspekte einer fremdsprachlichen Sprechdidaktik Von einer Reihe für die Didaktik des Fremdsprachenunterrichts relevanten Themen wird

914 in wissenschaftlichen Publikationen, die sich mit der jeweiligen Thematik beschäftigen, behauptet, sie seien noch zu unerforscht von Seiten der Grundlagenwissenschaften oder auch der Didaktik, ihnen würde in Forschung und Lehre nicht der ihnen zukommende Stellenwert eingeräumt. Für die im Fremdsprachenunterricht zu entwickelnde Fähigkeit und Fertigkeit des Sprechens und ihre didaktischen Fragestellungen gilt das wohl wirklich. Nach der sehr wichtigen Rolle, die der mündlichen Sprachausübung in der audiolingualen und audiovisuellen Methode und am Beginn auch in der kommunikativen Methode zugewiesen war, wurde es still um das Sprechen, besonders, als berechtigte Kritik an den Lernzielen geübt wurde, die ausschließlich auf die sprachliche Bewältigung von Alltagssituationen/Alltagsdialogen und rein pragmatisch fixierte Rollen, orientiert an der Sprechakttheorie, gerichtet waren. Mündliche Kommunikation kann man heute als Stiefkind des Fremdsprachenunterrichts bezeichnen (vgl. Bolte 1996, 4), weil sie lange Zeit kaum Thema theoretisch-didaktischer Arbeiten war, im Unterricht zu wenig gefordert und gefördert wird und Lehrerinnen und Lehrer im Umgang damit wenig Routine haben (ebd.). Ist das nun Ursache oder Folge der beschriebenen Tatsache? Mündliche Kommunikationsfertigkeit wird offenbar heute als Nebenprodukt schriftlich durchgeführter Übungen angesehen (ebd.). Die Schriftlichkeit hat bei Lernern und Lehrern höheres Ansehen, weil auch Lernfortschritte meist schriftlich geprüft werden und objektiver feststellbar sind. Sicher gibt es dafür Gründe: Das Schreiben beeinflusse das Sprechen positiv, meint Bohn (1989, 54) und beruft sich auf Untersuchungen, die dem Einfluss des Schreibens auf das Sprechen einen höheren Stellenwert zumessen als umgekehrt (1996, 135), und Häussermann/Piepho sagen noch zugespitzter, dass man richtiges Sprechen über richtiges Schreiben lerne, dass sorgfaltig kontrolliertes Schreiben „language awareness" entwickle und über diesen Umweg grammatisch genaues Schreiben das Sprechen ausbilde. Dass das keine Einbahnstraße ist, sehen die Autoren; Häussermann/ Piepho betonen, dass der lebendige Gedankenaustausch, der über das Sprechen erfolgt, gleichzeitig Motor und Motivation für das Schreiben bedeutet. Die engen Wechselbeziehungen zwischen beiden produktiven Fertigkeiten lassen zu, dass man die Ausbildung mündlicher Aus-

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drucksfähigkeit aus der fremdsprachlichen Schreibdidaktik ableiten kann, die die Ausbildung der schriftlichen Ausdrucksfähigkeit unter drei Aspekten sieht: (1) die pragmatische Perspektive: Schreiben und Fremdsprachenverwendung (2) personales und kreatives Schreiben (3) Schreiben im Lernprozess (schriftlich durchgeführte Übungen) (vgl. Neuner 1996a, lOff.) Analog dazu kann die mündliche Ausdrucksfähigkeit ausgebildet werden in Bezug auf (1) praktisches Sprechen (Sprechen in Alltagssituationen, zum sozialen Kontakt, zur Information) (2) kreatives Sprechen (Referate, Erzählungen, Berichte u. ä.) (3) Sprechen um seiner selbst willen (d. h. zur Übung der Sprechfertigkeit) (vgl. Rampillon 1996, 93, nach Rivers 1978, 318). Das praktische Sprechen entspricht laut Beispiel von Rampillon weitgehend dem dialogischen, das kreative dem monologischen Sprechen. Beide müssen ausgebildet werden, beide stellen aber unterschiedliche Anforderungen, die im Übungsgeschehen zu beachten sind. Der Schwerpunkt liegt im Anfangsunterricht wohl mehr auf der Entwicklung des dialogischen Sprechens; mit fortschreitendem Sprachkönnen bekommt die Förderung des monologischen (kreativen!) Sprechens mehr Gewicht. Das darf nicht heißen, dass im Anfangsunterricht das monologische Sprechen keine oder nur eine geringe Rolle spielt! 4.2. Fertigkeitsstufen Der Spracherwerb wird in Stufen eingeteilt, die jeweils einen Ist-Stand signalisieren. Man spricht von Fertigkeitsstufen, denen sich jeweils Aufgaben und Übungen zuordnen lassen. Hauptkriterium für die Einteilung ist, ob und in welchem Maße die sprachliche Tätigkeit der Lernenden einer sprachlichen und/ oder inhaltlichen Lenkung und Vorbereitung unterliegt und wie die Selbständigkeit in Bezug auf Redekonzept und sprachliche Realisierung zunimmt (vgl. Desselmann 1983, 23). Diese didaktische Stufung ist nicht ohne weiteres mit einer Schwierigkeitsprogression gleichzusetzen. Die zahlreichen Übungsformen auf den drei Stufen enthalten unterschiedliche Anforderungen ζ. B. im Hinblick darauf, welcher Art die zu gebrauchenden sprachlichen Mittel sind, wie fremd oder vertraut sie den Lernern sind u. a. Die mündli-

94. Mündliche Sprachproduktion

che Zusammenfassung einer gehörten wissenschaftlichen Vorlesung (Stufe der Rekonstruktion) kann aufgrund der notwendigen Komprimierung des Inhalts und der damit verbundenen Änderungen sprachlicher Formulierungen eine höhere Anforderung darstellen als eine freie Erzählung (Stufe der Konstruktion), in der der Lerner Paraphrasierungen und Ausweichstrategien zur Verfügung hat, um die Äußerung seinem Sprachkönnen anzupassen. 1. Stufe: variationsloses/imitierendes Sprechen „Auf der ersten Stufe, der Reproduktion, geht es darum, eine gehörte oder gelesene Information fast wörtlich wiederzugeben, und zwar mit identischer Formulierung. Inhalt und sprachliche Form werden in dieser Phase des Spracherwerbs nicht verändert." (Rampillon 1996, 94; Hervorheb. im Original) 2. Stufe: gelenkt-variierendes Sprechen „Die Rekonstruktion ist die Stufe, auf der der Inhalt eines Textes zwar möglichst genau wiedergegeben werden soll, dabei jedoch das Augenmerk auf den wichtigsten Aussagen liegt. Die sprachliche Form der Wiedergabe kann sich von der Vorlage entfernen und der Schüler ist freier in der Wahl des Ausdrucks. Ehe der Schüler in der Lage ist, frei zu sprechen, benötigt er auf dieser Stufe zahlreiche Anlässe und Situationen, die ihn zum Sprechen bringen und in denen er seine Sprachfertigkeit gezielt üben kann." (Rampillon 1996, 94; Hervorheb. im Original) 3. Stufe: freies Sprechen „Auf der dritten Stufe im Fertigkeitsgrad der mündlichen Ausdrucksfahigkeit, der Konstruktion, bedient sich der Schüler nur selten bestimmter Vorlagen, sondern schöpft in Inhalt und sprachlicher Form frei aus vorhandenen Kompetenzen. Als neue Schwierigkeit kommt hier — wie auch in Ansätzen schon auf der zweiten Stufe — das Problem der selbständigen Strukturierung der Aussageintentionen hinzu, [...]. Damit ist die Systematisierung dessen gemeint, was als noch nicht verbalisiertes Konzept, als Gedanke vorhanden ist. Das heißt, der Gedanke muß vom Schüler in eine sprachliche Form gebracht und strukturiert werden, so daß sie vom Hörer verstanden werden kann." (Rampillon 1996, 94; Hervorheb. im Original)

915 Im Lehrwerk „Stufen" wird die Progression in Hinblick auf die Entwicklung von Fähigkeiten im Dialogisieren und auf die Produktion von monologischen Texten in der folgenden Weise charakterisiert: In Bezug auf Dialoge werden aufeinander aufgebaut — Vorgegebene Dialoge und Variationen mit Dialogbausteinen; — Bildgeleitete Erstellung von Dialogen und Variationen; — Erstellung von Dialogen anhand von thematischen Vorgaben. In Bezug auf die Produktion monologischer Texte geht es nacheinander um — kurze Paralleltexte; — längere Texte zu vorgegebenen und eingeholten Informationen; — eigene Informationstexte zu thematischen Vorgaben; — Kurzreferate mit eigener InformationsbeschafFung; — Freie Texte im thematischen Rahmen (vgl. Stufen 1, Handbuch, 1987, 13). Die Entwicklung der Fertigkeit Sprechen wird folgendermaßen skizziert: Zunächst geht es sowohl in Teilen des Phonetikprogramms wie auch besonders bei der Erarbeitung der Dialoge um geleitetes, nachahmendes Sprechen. Aber Dialogvariationen und Rollenspiele ermöglichen schon kleinere Umformungen mit Bezug auf die reale Situation der Dialogpartner. Die Arbeit mit „Sprechkarten" (Stufen 1) und „Informationskarten" (Stufen 2 und 3) eröffnet weitere Möglichkeiten, das Sprechen zum Zweck der Kontaktaufnahme, Orientierung und Informationsbeschaffung auszubauen. Die Entwicklung geht weiter zu mehr thematisch gelenktem — also in der Ausdrucksform freiem - Sprechen. Dies führt dann in Stufen 4 zur Erarbeitung und praktischen Anwendung verschiedener Diskussionsformen und -techniken. Das Sprechen ist eine Tätigkeit, die von Ausdrucksformen des Körpers — besonders von Händen, Armen und des Gesichts — begleitet und unterstützt wird. Es ist wichtig, den Lernenden Elemente „deutscher" Körpersprache zu vermitteln. Auch das Sprechen vor der Gruppe, vor einem „Auditorium", wird schon in Stufen 1 durch das Vortragen oder Vorlesen kleinerer Texte vorbereitet. Es wird dann im Verlauf des Kurses bis zu einem relativ freien Sprechen (Berichten, Referieren, Stellung beziehen) anhand von Kurznotizen ausgebaut.

916 Dies wird als ein wichtiger Teil des Lernziels „spezifische Handlungsfähigkeit im Bereich der wissenschaftlichen Weiterbildung" angesehen (vgl. Stufen 1, Handbuch 1987, 21). Eine solche Progression ist möglich, darf aber nie als Dogma gesehen werden. Auch auf der Anfangerstufe kann und muss freies Sprechen geübt werden. Darauf ist im Folgenden einzugehen. 4.3. Aufgaben und Übungen „Nur wer spricht, lernt sprechen" kann man in Abwandlung einer Aussage von Butzkamm (1989, 48) formulieren und hat damit die kommunikativ orientierte Zielstellung des Fremdsprachenunterrichts auf eine der Komponenten der Sprachbeherrschung fokussiert. Dabei darf Kommunikation nicht zu einem simplifizierenden und pragmatischen Sprechen als Basis des Fremdsprachenunterrichts führen, weil auch fremdsprachige Kommunikation von Anfang an bedeutungsorientiert sein muss (vgl. Apelt 1991,228). Allerdings müsse es auch vorkommunikative Phasen zum Erfassen und Einprägen erforderlichen Sprachwissens etwa lexikalischer oder grammatischer Art und entsprechende Festigungsund Systematisierungsübungen geben, wie sie schon Comenius forderte (vgl. ebd.). Genau das sind wohl die beiden Pole, zwischen denen sich Aufgaben und Übungen zum Sprechen bewegen. In der Fachliteratur werden die beiden Begriffe unterschiedlich bestimmt und gebraucht. Man unterscheidet häufig - und das ist akzeptabel - im folgenden Sinne: Aufgaben, ganz gleich, ob sie einfach oder komplex sind, sind durch mehrere Faktoren gekennzeichnet: - Sie konkretisieren Lernziele im Hinblick auf sprachpraktisches Handeln (Sprachverwendung in einem konkreten Kontext). - Man muß Teilschritte planen und Lösungswege überlegen. - Weil Aufgabenstellungen unterschiedliche Lösungsansätze zulassen, gehört zur Erfüllung einer Aufgabe auch die abschließende Besprechung des Ergebnisses und der Lernaktivität bzw. des gewählten Lernweges. Übungen im Fremdsprachenunterricht beziehen sich dagegen auf ein eng begrenztes, genau umrissenes Teillernziel (Sprachlernstoff), das auf einem genau festgelegten Lernweg, der das Lernverhalten steuert, erreicht werden soll.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III Übungen und Aufgaben sind also keine „Konkurrenten" im Fremdsprachenunterricht, sondern Übungen können dazu dienen, einzelne Aspekte einer übergreifenden Aufgabenstellung abzusichern (vgl. Neuner 1996b, 5) und sind damit auch ein „Verstehensvorgang" (Häussermann/Piepho 1996, 197). Übungen haben eine eher bindende, Aufgaben eine eher freisetzende Struktur (vgl. Häussermann/Piepho 1996, 17); beim Üben geht es um bewusstes Einprägen und Geläufigmachen sprachlicher Mittel, um die adäquate Wahl und den angemessenen Einsatz und dabei um eine geringe Fehlertoleranz, um richtige oder falsche Lösungen. Der Lerner gewinnt Sicherheit durch Übungen. Dagegen lösen Aufgaben mentale Operationen aus und führen erst dadurch zu sprachlichen Handlungen, die persönliches Denken, individuelle Wahrnehmung widerspiegeln, deshalb auch individuell versprachlicht werden und deren Lösung ganz unterschiedlich ausfallen kann (vgl. Häussermann/Piepho 1996, 235). Man findet - etwa synonym - die Bezeichnungen „kommunikative Aufgaben" gegenüber „präkommunikativen Übungen" oder „komplexe Aufgaben" gegenüber „Komponentenübungen" . Im folgenden werden die beiden Begriffe bei Akzeptanz der oben zitierten Unterscheidung - neben- und miteinander gebraucht, weil es Überschneidungen gibt und eine Abgrenzung hier nicht von Belang ist. Eine Klassifizierung von Aufgaben und Übungen ist aufgrund der vielfältigen Anforderungen, die sie an Lerner stellen (können), immer schwierig. Man kann ζ. B. gliedern in - Aufgaben und Übungen zum variationslosen Sprechen Aufgaben und Übungen zum variierenden Sprechen Aufgaben und Übungen zum freien Sprechen - wenn man von den Sprachfertigkeitsstufen ausgeht. - Aufgaben und Übungen zur Entwicklung des dialogischen Sprechens Aufgaben und Übungen zur Entwicklung des monologischen Sprechens - Aufgaben und Übungen, die mündliche Kommunikation vorbereiten Aufgaben und Übungen, die mündliche Kommunikation aufbauen

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94. Mündliche Sprachproduktion

Aufgaben und Übungen, die mündliche Kommunikation strukturieren Aufgaben und Übungen, die mündliche Kommunikation simulieren oder selbst sind (vgl. Neuner 1981). Diese letztgenannte Übungstypologisierung soll nicht als eine Progression von Übungen zu Aufgaben, von geschlossenen zu offenen Formen verstanden werden! Eine solche Formalisierung/Dogmatisierung des Unterrichts müsste tödliche Langeweile hervorrufen. Übungen sind dann anzusetzen, wenn eine Ausdrucksabsicht vorliegt, die ohne bestimmte sprachliche Mittel und ihre Übung nicht realisiert werden kann. Kommunikative Handlungsaufgaben bilden Ausgangspunkt und Zielpunkt des Unterrichts (vgl. Bolte 1996, 10). Von der Aufgabe, dem gemeinsamen „Vorhaben", zum Planen des Lernprozesses: Wie gehen wir vor und was brauchen wir dazu? — ein solcher Unterricht ist immer für Überraschungen gut. Dabei kann eine Übungstypologie Beispiele, Anregungen geben, mehr sollte sie nicht wollen — und eben das ist mit der nachfolgenden Auflistung beabsichtigt. 4.3.1. Aufgaben und Übungen, die mündliche Kommunikation vorbereiten Dazu zählen beispielsweise (1) Aufgaben und Übungen zu Dialogen mit rein reproduktivem, stark imitatorischem Charakter: - Modelldialoge (Kassette) vorsprechen, einprägen, nachsprechen. (Das Nachsprechen von Dialogen hat das Ziel, Modelle einzuprägen, ζ. B. sich begrüßen — auf Begrüßung reagieren, sich verabschieden — auf Verabschiedung reagieren, sich vorstellen - auf Vorstellung reagieren usw.) - Übungen zur Verwendung von Redemitteln, Redewendungen (formelhaften Wendungen) (meiner Meinung nach; wie heißt das?...) (2) Aufgaben und Übungen zu Namen/Bezeichnungen: - Buchstabennamen, Zahlen, Ländernamen und andere geographische Namen, Namen der Jahreszeiten, Monate und Wochentage, Personen- und Familiennamen, Farbbezeichnungen, Berufsbezeichnungen, Bezeichnungen für Körperteile, Markennamen (Werbesprache), ...

(3) Reime, Gedichte, Lieder zum Auswendiglernen (4) Übungen zur Phonetik: — Intonationsmuster von Aussage, Wortund Satzfrage, Aufforderung, Ausruf — Wortphonetik, Satzphonetik 4.3.2. Aufgaben und Übungen, die mündliche Kommunikation aufbauen Dazu zählen beispielsweise (1) Aufgaben und Übungen an Dialogen: — Dialogbausteine als Erweiterung der sprachlichen Mittel: als Fertigteile lernen und anwenden zur Variation und Erweiterung der vorgegebenen Dialoge (Tut mir leid; Entschuldigen Sie, wie .../wo.../ wann ...; Wie bitte? Moment bitte!) — Dialogvariationen: Transfer auf eigene Situation (persönliche Daten) -* Paralleltexte — Dialoge als Lückentexte, ergänzen und sprechen lassen — Gesprächsübungen mit Sprechkarten als Leitfaden: Vorgaben in Dialogbeiträge umwandeln. Wechselnde Partnerkonstellationen — Dialoggeländer: aus Redeteilen Gespräche zusammenstellen — Arbeit an Repliken: Äußerungen eines Partners jeweils vorgeben, die des zweiten sinngemäß richtig ergänzen. Dabei auf sprachübliche elliptische Äußerungen achten! — Arbeit an Redemitteln (zum Zustimmen, Widersprechen, Zweifeln, ...). Sprechabsichten mit Hilfe solcher Redemittel realisieren — Freies Spiel mit Variationen: Füllen einer Gesprächsstruktur mit immer anderer Lexik (2) Aufgaben und Übungen zu Grammatik: — Frage-Antwortspiele, an denen ein grammatisches Phänomen geübt wird (ζ. B. Erraten eines Gegenstands durch Ja-/NeinFragen) — Transformationsübungen (z.B. Präsens durch Perfekt ersetzen, wenn die Umformung kommunikativ motiviert werden kann) — Sätze wortweise oder phrasenweise aufbauen (Jeder Sprecher führt einen begonnenen Satz durch ein Wort/eine Phrase weiter)

918 — Aus Hauptsätzen Satzgefüge bilden durch Anfügen eines Grundes (..., weil...), einer Bedingung (..., wenn...), einer Folge (..., so dass ...) (3) Bild- und lexikgesteuerte Aufgaben und Übungen — Assoziogramme zu bestimmten Begriffen — freie Assoziationen zu Bildern/Illustrationen — Hypothesen zu Bildern aufstellen: Wer? Was? Wo? Wann? Warum? Wie? — zu Bildern mit Hilfe eines Wortgeländers eine Geschichte erzählen — Bilder, denen ein Wortgeländer beigegeben ist, beschreiben — Perspektivenwechsel: Eine vorgegebene Geschichte aus der Perspektive einer anderen Person/eines Gegenstandes erzählen 4.3.3. Aufgaben und Übungen, die mündliche Kommunikation strukturieren ( 1 ) Strukturübungen zu dialogischen Texten: — Ordnen durcheinandergewürfelter Dialogrepliken, z.B. bei einem Interview (kann allerdings nur schriftlich durchgeführt werden) — Interviewfragen entwerfen, ζ. B. mit Hilfe eines Wortgeländers Interview spielen — durcheinandergewürfelte Pro-/Contra-Argumente zu einem Thema ordnen (schriftliche Durchführung) in Sätze umformen (mündlich) -» Diskussion (2) Strukturübungen zu monologischen Texten: — Text hören, Gliederungssignale feststellen (z.B. durch Signalkarten anzeigen): Pausen, die Absätze signalisieren; sprachliche Mittel, die den Abschluss eines Gedankens bzw. den Beginn eines neuen Gedankens anzeigen usw. — an sprachlichen Mitteln üben, die ein Nacheinander der Darstellung deutlich machen: zuerst, dann, da, später, danach, zuletzt — sprachliche Mittel für eine Wegbeschreibung zusammentragen, ordnen — Wortgeländer für eine mündliche monologische Darstellung (Erzählung, Beschreibung, Bericht,...) erarbeiten — gedankliche Gliederung eines Textes in Stichpunkten notieren (nur schriftlich möglich) — Geschichten zu Stichworten erfinden — angefangene Erzählungen fortsetzen

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- eine Textsorte in eine andere überführen, z.B. aus einer geeigneten Zeitungsmeldung eine mündliche Erlebniserzählung machen, aus einer (Hochzeits-)Anzeige einen mündlichen Bericht über die Feierlichkeit usw. - Gruppenarbeit: verschiedene Kleingruppen malen je ein Bild zu einem selbstgefundenen oder mit dem Lehrer besprochenen Thema (Folie/Packpapier). Sie beschreiben das Bild möglichst genau einer anderen Gruppe, die es nicht sehen darf und es nach dieser Beschreibung ebenfalls malt. Am Ende werden Original und Nachzeichnung verglichen und die Unterschiede thematisiert. (Ein wesentlicher Grund für misslungene Zeichnungen kann das ungeeignete Strukturieren der Beschreibung sein!) 4.3.4. Aufgaben und Übungen, die mündliche Kommunikation simulieren oder sind Wie muss das Klima sein, in dem Gespräche entstehen? Es soll etwas in Frage gestellt werden können, durcheinandergeraten, auf den Kopf gestellt, nicht sicher, altbekannt und abgeklärt wirken; Lerner sollten neugierig sein auf die anderen, erfahren wollen, wie sie sind, was sie denken, erleben, sich wünschen, tun. Dann würden die planbaren, simulierten Gespräche, die So-tun-als-ob-Situationen in den Hintergrund treten zugunsten echter Gespräche (vgl. Häussermann/Piepho 1996, 242f.). Das ist ein Gesichtspunkt, der Beachtung finden sollte. Es geht darüber hinaus um den Austausch über bunte, lebendige, interessierende, provozierende Themen, die zum Erkunden einladen, zum Sich-Orientieren, die selbstbewusst und selbständig machen. Sie bedeuten ein Risiko für den Lehrenden und für die Lerner: Der Lehrer weiß nicht, wohin die Lösung der Lernenden führen wird, diesen ist nicht von vornherein klar, wie sie die Lösung bewältigen werden. Es geht darum, Beziehungen herzustellen zwischen Lerner und Thema, indem Assoziationen hervorgerufen werden mit Bildern, Wörtern, Gegenständen, indem Vorwissen aktiviert wird, das hervordrängt, so dass der Lernende das Thema zu seinem Thema macht. (1) Aufgaben und Übungen zu Dialogen: - Erfinden eines möglichen Dialogs zwischen den in einem Bild dargestellten Personen

94. Mündliche Sprachproduktion

- Erfinden eines möglichen Dialogs in einer bestimmten, mündlich vorgegebenen Situation - Erfinden möglicher Dialoge zu einem Videofilm, der ohne Sprache gezeigt wird - Frage nach dem Weg und Wegbeschreibung mit Hilfe eines Stadtplans (2) Aufgaben und Übungen zu Monologen: - Versprachlichen der Daten einer Tabelle/ eines Schaubildes - Durchsagen (auf Bahnhöfen/Flughäfen) formulieren aufgrund schriftlich vorgegebener Inhalte - Handlungsbeschreibung (z.B. Montieren eines Möbelstücks) aufgrund einer Zeichnung - Beschreibung der Zubereitung eines Gerichts als Fernsehkoch auf der Basis eines stummen Videos und eines Rezepts - Erfinden innerer Monologe von Personen, die auf Bildern/in Bildergeschichten dargestellt sind - Bildbeschreibung, Bilderzählung, Bildinterpretation - Erzählung zu einer Bildergeschichte (3) classroom discourse: In der Interaktion zwischen Lehrer und Lernern kommt es von Seiten der Lerner auf das Verstehen der Aufgabenstellungen, Aufforderungen und Wertungen des Lehrers an, aber auch auf das Formulieren eigener Wünsche, Fragen, Feststellungen, Wertungen. Unterschiedliche Intentionen auszudrükken ist unterschiedlich schwierig: - Gruß/Anrede, Bitte und Dank, Bitte um Wiederholung des Gesagten, Fragen nach Nichtverstandenem, Entschuldigung, Formulierung von Wertungen (Anfängerstufe) - Sprechen über „sich selbst", über eigene Befindlichkeit, Interessen, Probleme, Gefühle (Fortgeschrittene) ist kaum isoliert zu üben. Die Voraussetzungen dafür werden bei der Behandlung der verschiedenen Unterrichtsstoffe im Rahmen der obengenannten Aufgaben und Übungen geschaffen. Das Sprechen über sich selbst sollte aber bei der Thematisierung von Fremdheitserfahrungen, von fremdkulturellen Entdeckungen sowie beim Reden über subjektive Lernerfahrungen und das Nutzen bestimmter Lernstrategien Gegenstand des classroom discourse sein. Die angeführten Aufgaben und Übungen können nur Beispiele sein, die Anregungen geben sollen!

919 Zum Schluss noch einige „Sprechtipps"! (1) Es wurde deutlich, wie eng die einzelnen Fertigkeiten zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Gerade für das Sprechen sind alle anderen nützlich, weil sie in ihrer Gesamtheit die Entwicklung der Sprechfertigkeit unterstützen. Das gilt ganz besonders für das Schreiben. Obwohl es ontogenetisch und phylogenetisch die „sekundäre" Fertigkeit ist, kann es die Sprechfertigkeit entwickeln: ζ. B. Gliederungsaufgaben, die nur schriftlich möglich sind, tragen zur Strukturierung gesprochener Texte bei (Transfer). Auf der Hand liegt ebenfalls die enge Beziehung zwischen Verstehendem Hören und Sprechen. „Ohne Sprechen kein Hören" gilt auch umgekehrt. (2) Mustertexte, die Eigenschaften bestimmter Textsorten deutlich machen, sollten zur Erstellung von Paralleltexten genutzt werden. (3) Nachsprechübungen geben Modelle vor und fördern das Einprägen. Sie sollen in entspannter und stressfreier Atmosphäre stattfinden. Deshalb kann man zuerst den gesamten Text spielen, evtl. von leiser Musik begleitet. Beim zweiten Hören wird ein paarmal unterbrochen, und die Lerner sagen, woran sie sich erinnern (Wörter, Satzteile, Sätze), oder sie sprechen das Erinnerte leise vor sich hin. Erst danach folgt das Nachsprechen „im klassischen Sinne". (4) Gruppenarbeit ist zur Entwicklung des Sprechens besonders effektiv. Im Frontalunterricht kommt jeder Lerner nur sehr selten zum Sprechen. Deshalb sollte jede Gelegenheit zum Sprechen in Kleingruppen oder Partnerarbeit durch geeignete Aufgabenstellungen genutzt werden. (5) Motivierung durch Spielen - das gilt auch beim Üben des Sprechens. Es gibt viele Sprachlernspiele, die für die mündliche Sprachausübung geeignet sind, von Lexikübungen (Wörterschlangen, „Ketten" aus Komposita, Was-ich-mag-Alphabet, ...) bis zu Aufgabenstellungen, die Texte auf spielerische Weise entstehen lassen (vgl. Bohn/ Schreiter 1992). (6) Zum Sprechen gehört auch alles, was Phonetik/Phonologie als wichtige Disziplinen der Linguistik untersuchen und was hier fast völlig unberücksichtigt blieb. Was kann man nicht alles mit Intonation, Akzentuierung und prosodischen Elementen anfangen! (Vgl. Art. 89)

920 5.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Literatur in Auswahl

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(Deutschland)

95. Schriftliche Sprachproduktion

921

95. Schriftliche Sprachproduktion 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Vorbemerkung Grundlagen Schreiben im Fremdsprachenunterricht — Rückblick und Ausblick Lernzielbestimmung der Fertigkeit Schreiben Fertigkeitsstufen im Schreiben Aufgaben und Übungen Empfehlungen für die Schreibschulung Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkung

Schriftliche Sprachproduktion = Schreiben? Die Bestimmung dessen, was Schreiben ist, fallt in der didaktischen Fachliteratur unterschiedlich aus. Nicht selten wird die Komplexität dieser Tätigkeit übersehen, indem bestimmte Komponenten oder Funktionen in den Vordergrund geschoben werden, ζ. B. Schreiben als schriftlicher Ausdruck, als Rechtschreibung, als Schriftkenntnis, als Möglichkeit, etwas zu fixieren, als Merkhilfe. Schreiben ist — vorerst allgemein gefasst — eine Tätigkeit, die Bewusstseinsinhalte graphisch fixiert, in aller Regel der Mitteilung an einen Leser dient, einem schriftsprachlichen Generierungsprozess unterliegt und als eine individuelle Fähigkeit/Fertigkeit einem Entwicklungsprozess unterworfen ist. Aus lernpsychologischen und didaktischen Gründen werden den Lernenden im Fremdsprachenunterricht noch andersgeartete Schreibanforderungen gestellt. 2.

Grundlagen

2.1. Geschriebene Sprache und Schreiben Geschriebene und gesprochen Sprache gelten als relativ selbständige, strukturell voll ausgebildete und gleichwertige Existenzweisen von Sprache. Phylogenetisch und ontogenetisch baut die geschriebene Sprache auf der gesprochenen auf, was nicht dazu berechtigt, sie als sekundär, die gesprochene als primär zu bezeichnen: Geschriebenes muss nicht erst in Vorstellungen von Gesprochenem transformiert werden, damit es verstanden wird. Beim Erlernen einer Fremdsprache sind die Verhältnisse i. d. R. so, dass geschriebene und gesprochene Sprache parallel erlernt werden, was von Anfang an gute Voraussetzungen für das Zusammenspiel beider Existenzweisen bietet. Schreiben ist geschriebene Sprache in Aktion. Die unterschiedliche materielle Beschaf-

fenheit von gesprochener und geschriebener Sprache bewirkt Unterschiede bei ihrer Produktion und Rezeption. Das Konzept einer Zweiteilung der Sprache ist demzufolge auch begründet in der psycho-physischen Verschiedenartigkeit von Sprech- und Schreibvorgang: Sprechen und Schreiben stellen unterschiedliche Anforderungen an den Sprachbenutzer. Eine Gegenüberstellung von Sprecher/Hörer und Schreiber/Leser macht die Unterschiede deutlich, wenn man etwa Partnerbezug, gedanklichen Entwurf und Ausführung, Verständigungshilfen und Korrekturvorgänge miteinander vergleicht (vgl. Art. 94, Abs. 2.4.). Gesprochene Sprache ist vorrangig ein Mittel der direkten Kommunikation, geschriebene vorrangig eines der indirekten Kommunikation. Das wiederum zeigt sich in sprachlich-strukturellen Merkmalen von Gesprochenem und Geschriebenem (Auflockerung vs. Verdichtung, höherer Grad an Redundanz vs. geringere Redundanz, Parataxe vs. Hypotaxe, Satzabbrüche vs. Textstringenz u.a.). Wie stark diese Merkmale variieren und wie ausgeprägt sie sind, hängt von der konkreten Sprech- und Schreibsituation ab. Bei allen Unterschieden sollten aber die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten nicht übersehen werden, die im sprachproduktiven Charakter und in den grundlegend übereinstimmenden Erzeugungsmechanismen, aber auch im Sprachlichen bestehen. So unterscheiden sich auf der linguistischen Ebene gesprochene und geschriebene Texte nicht qualitativ, sondern in der Häufigkeit, mit der bestimmte sprachliche Mittel verwendet werden. 2.2. Modelle schriftlicher Sprachproduktion Versuche, die Einzelaspekte des schriftlichen Textproduzierens zu einem Modell zusammenzuführen, sind mehrfach unternommen worden - verstärkt mit Beginn der 80er Jahre als ein Resultat der kognitiv orientierten Schreibforschung (ausführlich dazu: Portmann 1991, 275 f.). Bei Abweichungen im Einzelnen sehen alle Modelle in der schriftlichen Sprachproduktion einen interaktiven, flexibel verlaufenden und rekursiven Prozess und nicht (mehr) eine lineare Abfolge von Teilhandlungen. Schreiben in diesem Sinne ist ein zielgerichteter Prozess, bei dem weniger das Produkt (der Text) an sich inter-

922 essiert als vielemhr die Frage, wie ein Schreiber sein Wissen einsetzt, wie er handelt, um einen Text zu erstellen. Als Standardmodell hierfür gilt das Schreibmodell von Hayes/Flower (1980). Danach besteht der Schreibprozess/die Schreibhandlungssituation aus drei Komponenten: • der Aufgabenumgebung (task environment); sie umfasst alle externen Bedingungen, die für den Schreibprozess bedeutungsvoll sind, so das Thema, den Adressaten, die Schreibmotivation und auch den sukzessiv entstehenden Text. • dem Langzeitgedächtnis des Textproduzenten, verstanden als Zusammenwirken von sachbezogenem, adressatenspezifischem, textsortenspezifischem und sprachlichem Wissen, das in seiner Gesamtheit die interne Grundlage für das Textproduzieren bildet. • dem eigentlichen Textproduktionsprozess. Dieser besteht aus den Teilprozessen Planen (planning), Übersetzen (translating) und Überprüfen (reviewing). Ihr Zusammenwirken wird durch einen Monitor gesteuert und kontrolliert. Der Planungsprozess dient dazu, schreibrelevantes Wissen mental zu organisieren. Wie das geschieht, wird in starkem Maße von der Schreibaufgabe und der Qualität des Langzeitgedächtnisses bestimmt. Die Planungsprozesse selbst sind wiederum unterschiedlich ausgerichtet. Hayes/Flower unterscheiden Zielpläne, Vertextungspläne und Vorgehenspläne. In der Übersetzungsphase werden die so organisierten Informationen in Sprache transformiert, d. h. es werden sprachlich-syntaktische Muster ausgewählt. Der Überprüfungsprozess besteht aus dem Lesen des geschriebenen Textes und seiner Korrektur. Das Lesen bezieht sich sowohl auf den Inhalt als auch auf die sprachliche Gestaltung und dient dem Vergleich von geschriebenem Text und geplantem Text. Die Prozesse des Planens, Ubersetzens und Überprüfens verlaufen parallel, sie werden also weitgehend komplex realisiert. Gerade das Überprüfen ist in allen anderen Aktivitäten eingeschlossen. Das Modell lässt jedoch offen, wie die Versprachlichung/Verschriftlichung innerhalb des translating-Prozesses erfolgt, welche Verarbeitungsschritte beim Übergang von der Planungsphase zur Übersetzunsphase notwendig sind und ob der Überprüfungsprozess das Überarbeiten einschließt.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Auf Hayes/Flower aufbauende Modelle haben weitere Aspekte des Schreibprozesses herausgearbeitet und z.B. auch andere Ansätze gewählt. Dazu gehören Modelle, die die pragmatische, kognitiven und sprachlichen Anforderungen des Schreibens funktional zu integrieren suchen, Modelle, die aus entwicklungsspychologischer Sicht Schreiben als Integration von prozessbezogenen, produktbezogenen und interaktionsbezogenen Fähigkeiten beschreiben, und solche, die Schreiben als soziale Interaktion interpretieren (vgl. Günther 1993,20ff.; Wrobel 1995, 14ff.). Alle Modelle betonen, dass schriftliche Textproduktion ein komplexer Vorgang ist. Für die Schreibdidaktik bedeutet das: Planen, Schreiben und Überarbeiten sind notwendige, aber keine unabänderlichen Schritte des Schreibprozesses. Je nach den konkreten Schreibbedingungen kann dieser oder jener verkürzt oder ausgeweitet werden. „Die Herausstellung der Momente des Planens, Schreibens und Überarbeitens [...] ist eine notwendige didaktische Massnahme." (Portmann 1991, 369) Die Modelle beschreiben die Konstituenten des freien Schreibens. Reproduktive Schreibformen unterliegen dieser Prozesshaftigkeit nicht. Hier gelten andere kognitive und sprachliche Anforderungen. Bezugsgrundlage der angeführten Modelle ist die Erstsprache. Für den Schreibprozess in der Fremdsprache gibt es bisher wenig umfassende theoretische Konzepte. Untersuchungen zu bestimmten Momenten des fremdsprachlichen Schreibens heben hervor, dass die inhaltlichen Planungsprozesse hierarchisch geordnet sind, dass aber Planen, Formulieren und Überarbeiten über die Interimssprache zu unterschiedlichen Intertexten führt und dass sprachliche Realisierungsprobleme auftreten, die den Textproduktionsprozess aufhalten oder unterbrechen (vgl. Faistauer 1997, 60 ff.). Nicht nur bei Anfängern spielt die Muttersprache eine wichtige Rolle bei der Planung und der sprachlichen Realisierung. Häufig werden Textelemente muttersprachlich „vorformuliert", und es gibt permanente Rückkopplungsprozesse zur Muttersprache, die das Schreiben - das Sprechen nur eingeschränkt — zulässt. Der Vorteil ist, dass sprachlich-kognitive Prozesse verlangsamt werden können. In der Unterrichtspraxis sind sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen Muttersprache und Fremdsprache zu beobachten. Fortgeschrittene Lerner bewälti-

923

95. Schriftliche Sprachproduktion

gen die komplexen Anforderungen schriftlicher Textproduktion auch in der Fremdsprache weitgehend simultan. Die sprachliche Komponente verbessert das Produkt (Verständlichkeit, Überzeugungskraft etc.) oder verschlechtert es. Schreibende mit einer allgemein schwachen Sprachkompetenz und Anfänger sind mit der Produktion komplexer Texte häufig überfordert. Bei Kindern kommt hinzu, dass hier auch die muttersprachliche Schreibkompetenz noch nicht voll ausgebildet ist. Unzureichende sprachliche Voraussetzungen haben nicht nur Einfluss auf das fremdsprachliche Produkt, sie absorbieren auch Kapazitäten, die für die Planung des Schreibprozesses eingesetzt werden. Pogner (1993, 78) hat festgestellt, dass sich Schreibanfanger im Gegensatz zu professionellen Schreibern wenig auf die Phase des prewriting konzentrieren, um so mehr aber auf das eigentliche writing und die grammatische Korrektur {editing).

kation. Lesen fungiert als ständige Kontrollinstanz beim Schreiben — Schreibfähigkeit kann nur zusammen mit Lesefähigkeit erworben werden, schreiben ohne Leseverständnis ist nicht möglich. Die Qualität der Lesefertigkeit beeinflusst allgemein die Qualität der Schreibfertigkeit, auch in negativer Hinsicht (ζ. B. Lese-Rechtschreib-Schwäche). Die Beziehungen zwischen Hören und Schreiben sind im Vergleich dazu weniger eng. Sie unterscheiden sich im Charakter, im Medium und (meist) im Zeitpunkt des Erwerbs. Es zeigt sich aber, dass sich mit der Entwicklung der Schreibfertigkeit auch das strukturelle Gehör verbessert, d. h. die Fähigkeit, Wörter/Bedeutungen aus einem Lautstrom zu identifizieren und zu fixieren. Insgesamt fallt dem Schreiben im Kreis der Sprachtätigkeiten eine besonders integrative Rolle zu.

3. 2.3. Das Schreiben im Ensemble der sprachlichen Tätigkeiten Nach Erkenntnissen der Neuropsychologie verfügt das menschliche Hirn über keine fest lokalisierten „Sprachzentren", die jeweils für die Ausübung einer bestimmten Sprachtätigkeit zuständig sind. Dem Sprachgebrauch liegen polysensorische Prozesse zugrunde, die ständige, wenn auch unterschiedlich intensive Wechselbeziehungen zwischen den Sprachtätigkeiten bewirken. Dadurch kommt es zu einer gegenseitigen Stützung und Förderung. Die Qualität dieser gegenseitigen Beeinflussung wird vom Charakter der Sprachtätigkeit (produktiv vs. rezeptiv), vom Medium (akustisch vs. graphisch) und vom Zeitpunkt des Erwerbs (gleichzeitig vs. versetzt) bestimmt. Es kann davon ausgegangen werden, dass besonders die diesbezüglichen Gemeinsamkeiten die Sprachkompetenz fördern. Sprechen und Schreiben folgen als produktive Sprachtätigkeiten grundsätzlich den gleichen Generierungsprozessen. Beide profitieren voneinander, auch der Lernende, vorausgesetzt er beherrscht mit der Lautform auch die Schreibform. Das Verhältnis zwischen beiden Fertigkeiten ist nicht ausgewogen. Der Einfluß des Schreibens auf das Sprechen ist im Allgemeinen größer als umgekehrt. Das ist darauf zurückzuführen, dass latent-artikulatorische, visuelle und motorische Komponenten in den Schreibprozess integriert sind. Lesen und Schreiben bedingen sich als die beiden Seiten schriftsprachlicher Kommuni-

Schreiben im Fremdsprachenunterricht — Rückblick und Ausblick

Dem Schreiben — wie den anderen sprachlichen Fertigkeiten auch — ist in der Geschichte der Fremdsprachendidaktik unterschiedlicher Wert beigemessen worden. Dieses Auf und Ab reichte von einer auffälligen Dominanz bis zu einer völligen Vernachlässigung. Die Gründe dafür sind nicht nur in den Prinzipien zu finden, die dieses oder jenes Methodenkonzept bestimmten, sondern auch in den allgemeinpädagogischen Entwicklungen und in den Befunden und Erkenntnissen der verschiedenen Bezugswissenschaften. In der Grammatik-Übersetzungs-Methode, die in ihren Lernzielen und Methoden dem Vorbild des altsprachlichen Unterrichts folgte, spielte das Schreiben naturgemäß eine wichtige Rolle. Es ging dabei kaum um eine adressatenorientierte schriftliche Textproduktion, vielmehr um ein Schreiben, das in Form von Übersetzungen, Nacherzählungen von Textvorlagen, Aufsätzen und Diktaten geübt wurde. Schreiben war also in erster Linie ein Instrument zur Ausbildung anderer Sprachkompetenzen und zur Kontrolle von Sprachwissen. In eindeutigem Gegensatz dazu steht die Direkte Methode. Sie forderte den absoluten Vorrang des Mündlichen vor dem Schriftlichen, indem sie das Hören und (Nachsprechen — in Analogie zum Erwerb der Muttersprache — als den entscheidenden Weg zur

924 Beherrschung einer Fremdsprache ansieht. Wichtigste Unterrichtsform ist das Gespräch (vgl. Neuner/Hunfeld 1993, 37). Nach Hören, Sprechen und Lesen ist Schreiben die mit Abstand letzte Fertigkeit. Nur gelegentlich werden Lückentexte schriftlich ergänzt und Kurzdiktate geschrieben. Die der Direkten Methode folgende Audiolinguale Methode und die sich daraus entwickelnde Audiovisuelle Methode erklären ebenfalls den mündlichen Sprachgebrauch zum vorrangigen Lernziel. Schreiben wird vor allem als graphische Wiedergabe von Gesprochenem verstanden und gilt zudem eher als Hemmnis beim Erlernen der gesprochenen Sprache und nicht als komplementäre sprachliche Tätigkeit. Die Kommunikative Methode orientiert sich an der Funktion von Sprache, Mittel der Verständigung zu sein. Das übergeordnete Lernziel besteht darin, sprachliches Können (kommunikative Kompetenz) durch Sprachgebrauch zu erreichen, vor allem im Bereich der Alltagskommunikation. Auch wenn diese Kompetenz die Ausbildung aller vier Fertigkeiten umfasste, ist unverkennbar, dass bis Mitte der 80er Jahre das Schreiben auffallig unterrepräsentiert war. Das betrifft die Theorie und die Praxis des Unterrichts in gleicher Weise. Das Lernziel Befähigung zur schriftlichen Sprachproduktion fehlte in Curricula, Lehrprogrammen und methodischen Handbüchern nahezu völlig. Auch im Unterricht Deutsch als Fremdsprache, in Lehrwerken und im Bewusstsein von Lehrerinnen und Lehrern selbst rangierte der schriftliche Sprachgebrauch deutlich hinter dem mündlichen. Schreiben wurde weitgehend als Hilfsmittel bei der Ausbildung der anderen Fertigkeiten verstanden. Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich. Sie liegen vor allem in der ungerechtfertigten direkten Übertragung linguistischer Urteile auf den Unterricht. Mit der verstärkten Hinwendung der linguistischen Forschung zur gesprochenen Sprache (Pragmalinguistik) kommt es im Sprachunterricht zu einer parallelen Schwerpunktverlagerung. Das Ad-hoc-Gesprochene wird favorisiert und führt zu einer spürbaren Umbewertung und einseitigen Interpretation von Könnenszielen: Kommunikative Kompetenz = sprechsprachliche Kompetenz. Maßgeblich dazu beigetragen hat auch die „pragmatische Wende" in der Sprachlehr- und -lernforschung. Aber auch die ungenügende Berücksichtigung der Unterschiede zwischen Mutter- und Fremdsprache hinsichtlich der Reihenfolge des Erwerbs der sprachlichen

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Fertigkeiten dürfte das Urteil über den Wert von Schriftlichkeit beeinflusst haben. Ab Mitte der 80er Jahre setzt eine Trendwende ein: Schreiben gewinnt in der Forschung, in der Fremdsprachendidaktik und im Unterricht zunehmend an Bedeutung. Dieses Interesse hält bis heute an und hat seinen Niederschlag in einer umfangreichen und breit gefächerten Literatur gefunden. Eine Rückkehr zu den Schreibtraditionen der Grammatik-Übersetzungs-Methode muss jedoch nicht befürchtet werden. Die heutige Schreibdidaktik hat die Vorstellungen von dem, was Schreiben ist und was Schreiben leisten kann, erheblich ausgeweitet. Zum einen hat sich weitgehend durchgesetzt, dass auch das Schreiben eine Form sprachlichen Handelns sein kann, dass Texte mit einer bestimmten Absicht und leserbezogen geschrieben werden. Zum anderen bleibt man nicht bei der Ausbildung dieser Schreibkompetenz stehen. Neben das kommunikativ-funktionale Schreiben tritt das expressivkreative Schreiben, das weitgehend dem anglo-amerikanischen creative writing verpflichtet ist. Diese Schreibfunktion „setzt sich explizit vom zweckrationalen Schreiben ab, bei dem die Schreiber/Schreiberinnen in erster Linie als Rollenträger, weniger als Persönlichkeiten handeln. Schreiben wird zum Gedanken· und Gefühlsexperiment und findet seine pädagogische Begründung vor allem in der Aussage ,affektiv ist effektiv'" (Pogner 1993, 65). Zum dritten: „Lehren und Lernen sind kulturgeprägte Handlungen, dies gilt für Textrezeption und Textproduktion in ganz besonderem Maße und hängt mit der [...] Verzahnung von Schriftlichkeit und Kulturgeschichte zusammen." (Krumm 1993, 26) Solche Unterschiede zwischen einzelnen Schreibkulturen werden noch kaum gezielt im Unterricht thematisiert. Sie sind aber eine sinnvolle Möglichkeit interkulturellen Lernens. Schließlich macht der weltweit zunehmende Gebrauch neuer Medien (Computer, Telefax, E-Mail) die Ausbildung spezifischer Schreibfertigkeiten notwendig - auch im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Es ist voraussehbar, dass diese Formen der schriftlichen Kommunikation erweitert und rasch an Bedeutung gewinnen werden. 4.

Lernzielbestimmung der Fertigkeit Schreiben

Die Aufstellung eines allgemein verbindlichen Lernzielkatalogs ist schwierig, weil gerade beim Schreiben Interessen, Bedürfnisse und

95. Schriftliche Sprachproduktion

Voraussetzungen besonders stark auseinandergehen. Konkrete Entscheidungen verlangen die Berücksichtigung der konkreten Schreiblernsituation. Lernzielorientierungen für das Schreiben im Fremdsprachenunterricht ergeben sich aus den Funktionen, die das Schreiben sowohl für die Gesellschaft als auch für den Einzelnen hat. 4.1. Kommunikativ-funktionales Schreiben Das übergeordnete Lernziel Entwicklung einer kommunikativen Handlungskompetenz gilt auch für das Schreiben. Als Zielfertigkeit richtet es sich auf das Verfassen von Texten, die einem realen oder fiktiven Leser etwas mitteilen oder ihn zu einer Handlung veranlassen sollen. Das ist der eigentliche Zweck des kommunikativ-funkationalen Schreibens. Schreiben ist hier eine weitgehend autonome Tätigkeit, deren Training auch ein eigenes unterrichtsmethodisches Vorgehen erfordert, zumal kommunikative Schreibkompetenz — auch in zielsprachlicher Umgebung — nahezu ausschließlich im und durch Unterricht entwickelt wird. Fähigkeiten im Texten sind sowohl in Hinblick auf das freie Schreiben als auch im Bereich inhaltlich und sprachlich gebundener (konventionalisierter) Texte zu entwickeln. Die Kontaktschwelle Deutsch als Fremdsprache geht davon aus, „daß die überwiegende Mehrheit der Zielgruppen nur eine sehr limitierte Schreibfertigkeit braucht, beschränkt auf einige Muster" (1980, 28), z.B. Anmeldeformulare, briefliche Anfragen, Bitten um Prospekte, Grußpostkarten. Diese Vorgabe reduziert das Schreiben auf die Bewältigung weniger Alltagssituationen. Für bestimmte Zielgruppen sind solche gebundenen Textsorten aber durchaus relevant, für studierende im Bereich der Zielsprache sind das ζ. B. Lebenslauf, Bewerbung, Mitschrift, Exzerpt und Resümee. Als Form des freien Schreibens dominiert traditionell die Korrespondenz mit Partnerklassen und der persönliche Brief. Es sind reale Schreibanlässe, die den Leser berücksichtigen und individuelle Ausprägungen ermöglichen. Schriftsprachliche Kommunikation sollte im Unterricht nicht nur praktiziert, sondern auch reflektiert werden. Das fördert den Schreib- und Lernprozess. Deshalb sollte freies Schreiben - auch wenn schriftliche Texproduktion vornehmlich als Lernziel für Fortgeschrittene gilt - so früh wie möglich geübt werden, um Planungs-, Formulierungs- und Überarbeitungsstrategien schrittweise zu entwickeln.

925 4.2. Personales und kreatives Schreiben Das kommunikationsorientierte Konzept allein wird der Bedeutung des Schreibens nicht gerecht. Es gibt Schreibprodukte, die nicht einer solch pragmatischen Absicht verpflichtet sind und kein bestimmtes Rollenverhalten signalisieren. Schreiben hat auch eine heuristische Funktion. Das sind Schreibvorgänge, in denen Schreibende als Persönlichkeiten handeln, indem sie Gedanken, Einstellungen und Gefühle äußern, die nicht unbedingt für andere Leser gedacht sind (vgl. Hermanns 1989,40). Dieses personale Schreiben hilft dem Schreiber, sich über sich selbst klarer zu werden. Das vor allem deshalb, weil der Prozess des Schreibens den Prozess des Denkens verlangsamt, was wiederum einen hohen Grad an Konzentration und Bewusstheit ermöglicht. So werden mit dem Formulieren die Sachverhalte gedanklich tiefer durchdrungen, verarbeitet und sprachlich gefasst. Im Vordergrund steht also der Prozess und nicht das Resultat. Dieses Schreiben steht im Einklang mit der Forderung nach einem lernerzentrierten Unterricht. Schreibenkönnen ist nicht nur eine Technik und mehr als die Verschriftlichung pragmatisch-funktionaler Absichten — es ist eine Möglichkeit der Persönlichkeitsentfaltung. Weil solche Texte meist viel Subjektives widerspiegeln, sollte mit und zwischen den Lernenden ausgehandelt werden, ob im Unterricht öffentlich darüber reflektiert wird. Erfahrungen besagen, dass Lernertexte motivierende Anlässe zum Sprechen und Schreiben sind, auch im Sinne eines Austausche von Erfahrungen, die sich auf den Inhalt oder auf die sprachliche Gestaltung beziehen können. Dem Ausprobieren sprachlicher Mittel dienen in besonderer Weise authentische Texte, die durch Techniken des kreativen Schreibens entstanden sind. Pommerin beschreibt, worin sich Kreativität in (geschriebenen) Texten zeigt. Es sind das Originale (die Unverwechselbarkeit der momentanen sprachlichen Möglichkeiten), die Erfindungs- und Entdekkungsgabe (Mut und Motivation, Sprache zu verfremden), Offenheit (spontanes Assoziieren in einem angstfreien Klima) und Flexibilität (variabler Einsatz von Wissen und Können (vgl. Pommerin 1996, 51 f.). Individualität, Freude am Prozess, am Nichtkonformen und am Spielerischen sind wesentliche Antriebe zum kreativen Schreiben. Vielfältige Möglichkeiten dazu bieten fiktionale Texte, die ,erlesen' und dann schreibend verändert werden (vgl. Mummert 1993, 195 ff.). Die He-

926 terogenität der Texte, die so in einer Klasse entstehen, kann wiederum als Sprech- und Schreibanlass genutzt werden. Die Einbeziehung konkreter Poesie gilt inzwischen als ein produktiver Ansatz (Schreiben von Parallelund Alternativtexten, Verfremdungen durch bewusstes Abweichen von der sprachlichen Norm u. a. m.). Assoziatives, expressives und auch funktionales Schreiben fördert die Persönlichkeitsentwicklung besonders dann, wenn es gemeinschaftlich praktiziert wird. Das zeigen Auswertungen von Schreibwerkstätten mit Jugendlichen (Pogner 1993, 76 ff.), Schreibprojekte mit Kindern (Pommerin 1996, lOlff.) und jüngste Untersuchungen zum kooperativen Schreiben (Faistauer 1997, 169ÍT.). Alle bestätigen, dass Schreibkreativität vor allem in Gruppen entsteht. Eine Anmerkung: Kreatives und kommunikatives Schreiben sind keine Gegensätze. So wenig kreatives Schreiben nicht nur eine ichgerichtete Ausdrucksfunktion hat, so wenig hat ein kommunikativer Text nur eine adressatenbezogene Mitteilungsfunktion. Auch beim kommunikativ-funktionalen Schreiben sind Flexiblität und originelle Lösungen nicht nur denkbar, sondern erwünscht. Insgesamt ist kreatives Schreiben kein abgetrenntes Ressort innerhalb eines fremdsprachlichen Schreiblehrgangs, es ist „ein integraler Bestandteil eines handlungsorientierten, erfahrungsbezogenen Sprachunterrichts." (Pommerin 1996, 54) 4.3. Instrumentales Schreiben Im Bereich der schriftsprachlichen Kommunikation ist Schreiben eine Zielfertigkeit und im Fremdsprachenunterricht demzufolge ein unmittelbares Lernziel. In quantitativer Hinsicht dominiert im Unterricht eine andere Schreibfunktion: Schreiben ist ein Mittel, um andere sprachliche Lernziele zu erreichen, und es fördert den Spracherwerb insgesamt. Diese Funktion erfüllt das instrumentale Schreiben in mehrfacher Hinsicht: • Schreiben unterstützt die Entwicklung anderer Sprachtätigkeiten • Schreiben hilft beim Grammatik- und Wortschatzlernen • Schreiben speichert Wissen. Der besondere Beitrag des Schreibens zur Optimierung der sprachlichen Fertigkeiten besteht darin, dass in ihm die Komponenten aller anderen Fertigkeiten integriert sind, so dass es ein effizientes Mittel ist, die Entwicklung des Sprechens, Lesens und Hörverste-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

hens zu beschleunigen. Dieses Lernziel ist einem sprachhandlungsorientierten Sprachunterricht immanent. Schreiben als Lernhilfe wird im Fremdsprachenunterricht schon immer praktiziert. Es macht Lerninhalte und Lernresultate sichtbar. Besonders erwachsene Lerner sehen darin mehr den Nutzen als die Anstrengung. Bis heute ist der größte Teil der Übungen in Lehrwerken/Arbeitsbüchern schriftlich auszuführen, besonders im Bereich von Grammatik und Wortschatz. Dazu gehören das Herausschreiben, Einsetzen, Aufschreiben, Tabellen anlegen, Sätze umformen usw. Bei aller Berechtigung von Schriftlichkeit sollte darauf geachtet werden, dass die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache nicht zu stark verwischt werden (ζ. B. Schreibt Dialoge!, Was sagt Peter? Schreibt die Antworten!) und dass auch eine adäquate Lernerfolgskontrolle erfolgt. Das geschieht nicht, wenn nach wie vor sprechsprachliche Leistungen überwiegend schriftlich kontrolliert werden. Schreiben als Wissensspeicher bedeutet zweierlei: Es ist ein Arbeitsmittel zum Fixieren von Ideen und von gelesenen oder gehörten Informationen, und es dient der Reaktivierung und Systematisierung von Wissen. Zum anderen gilt, dass geschriebene und zu schreibende Texte einen höheren Einpräge· und Behaltenseffekt haben als gesprochene. Das ist mit dem langsameren Verlauf des Denk-Schreib-Prozesses, dem größeren Kraftaufwand und der graphomotorischen Ausführung zu begründen. Der besondere Nutzen des Schreibens liegt in der beschriebenen Assoziierung sehr unterschiedlicher Analysatoren. Hinzu kommt, dass der vorwiegend visuell und graphomotorisch angelegte Gedächtnistyp als der am stärksten verbreitete gilt. Die hervorragende Rolle des Schreibens für die Memorisierung ist offensichtlich. 4.4. Interkulturelles Schreiben Dieses Lernziel ist nicht in die vorgestellte Reihe einzuordnen. Es ist abzuleiten aus dem übergeordneten Lernziel interkulturelle Kompetenz und meint sowohl ein Unterrichtsprinzip als auch ein unterrichtsmethodisches Vorgehen. Zu interkulturellen Schreiberfahrungen führen Reflexionen über die Unterschiedlichkeit von Schreibprozessen und Schreibprodukten. Der Unterricht sollte dabei mehrere Dimensionen berücksichtigen: eine sozio-kulturelle, eine historisch-kulturelle und eine textuelle (vgl. Krumm 1993, 31 f.). Im

927

95. Schriftliche Sprachproduktion

Fremdsprachenunterricht Deutsch ist eine solch kulturkontrastive Schreibpraxis erst in Ansätzen zu beobachten. 5.

Fertigkeitsstufen im Schreiben

Die Lernzielbeschreibung verdeutlicht die Vielfalt, mit der Schreiben im Unterricht praktiziert wird. Es sind vor allem didaktische Gründe (ζ. B. Reihenfolge der Vermittlung, Übungsgestaltung), die diese Schreibaktivitäten in eine bestimmte Ordnung zu bringen suchen. Kriterium dafür ist im Allgemeinen die Qualität der Fertigkeiten. Geht man von der Art der sprachlich-geistigen Anforderung aus, so lassen sich unterscheiden das reproduktive Schreiben (Gehörtes oder Gelesenes wird unverändert fixiert, ζ. B. Abschreiben und Nachschreiben), das reproduktiv-produktive Schreiben (Gehörtes oder Gelesenes muss verstanden und mit einem bestimmten Ziel verändert, d. h. verdichtet, erweitert, umgeschrieben werden, ζ. B. Gliederung, Resümee, Mitschrift) und das produktive Schreiben (Ausgehend von einer selbstgewählten oder vorgegebenen Schreibintention wird ein Text formuliert). Diese Einteilung orientiert sich daran, in welchem Maße Schreiben an eine Vorlage gebunden ist. Man kann deshalb auch von gebundenem und nicht gebundenem Schreiben sprechen. Für die gebundenen Formen ist es nicht unwichtig, ob ein Hör- oder Lesetext die Vorlage bildet. In der Regel stellt die Kombination Hören und Schreiben (z.B. Mitschreiben) höhere Anforderungen als die Kombination Lesen und Schreiben (ζ. B. Schlüsselwörter notieren). Diese Einteilung ermöglicht die Zuordnung bestimmter schriftlicher Aufgaben und Übungen. Sie ist aber nur bedingt identisch mit einer Schwierigkeitsprogression für das Schreiben, auch wenn es weit verbreitet ist, in der Aufeinanderfolge von reproduktivem, reproduktivproduktivem und produktivem Schreiben eine aufsteigende Linie zu sehen. Im konkreten Fall kann freies Schreiben (ein Erlebnisbericht) leichter sein als gebundenes (ζ. B. ein Diktat) oder teilweise gebundenes Schreiben (eine Zusammenfassung), und es ist auch nicht so, dass diese Fertigkeitsstufen einander voraussetzen. Im Fremdsprachenunterricht ist es durchaus sinnvoll, diese Reihenfolge zu durchbrechen.

6.

Aufgaben und Übungen

Eine einheitliche Übungstypologie zur Entwicklung des Schreibens liegt nicht vor. Es ist offensichtlich so, dass die verschiedenen Kriterien, die dabei zu berücksichtigen sind, nur schwer in eine didaktische Harmonie gebracht werden können: Lernziele/Anforderungen, Lernsituationen, Grad der Sprachbeherrschung, Übungsebene (Wort, Satz, Text), die Vielfalt der Übungsformen selbst, Stimuli u.a.m. So unterscheidet Portmann Typen von Übungen danach, „wie nahe die von ihnen gestellten Anforderungen denen sind, welche produktive Sprachanlässe auszeichnen." (1991, 516) Demzufolge gibt es schriftliche Übungen, die dem Aufbau einer sprachlichen Grundlagenkompetenz dienen, Textübungen, bei denen der Text Ausgangspunkt für reproduktive und produktive (Teil)übungen ist und Schreibübungen, die es erlauben, „übendes Schreiben zu verbinden mit einer gezielten Ausrichtung an der Erstellung oder Verbesserung von Texten." (Portmann 1991, 523) Diese erfordern eine schreibspezifische Orientierung. Kast schlägt für die Entfaltung einer kommunikativ-pragmatischen und einer heuristischen Schreibkompetenz fünf Übungsbereiche vor: • Übungen, die das Schreiben vorbereiten • ausbauende Schreibübungen • Übungen, die den Schreibprozess strukturieren • Schreibaufgaben, die zu einem Text führen • auf reale Kommunikationssituationen bezogenes Schreiben (vgl. 1995, 27). Neuner gliedert Schreibübungen nach ihrer Funktion und nach dem Grad ihrer Bindung an eine Vorlage in: • pragmatisch-orientiertes Schreiben • Schreiben im Lehr- und Lernprozeß, unterteilt in — stark gesteuerte Übungen — halbgesteuerte Übungen — offene Übungen (vgl. 1996, 11 ff.). Die Typologien zeigen, dass Momente der inhaltlichen und formalen Übungsgestaltung unterschiedlich stark hervorgehoben werden, dass sich aber die Möglichkeiten zur Entwicklung von Schreibkompetenz weitgehend decken. Der folgende Vorschlag orientiert sich an den beschriebenen Gruppen von Lernzielen (vgl. 4.). Mit dem Versuch, Übungsformen

928 anders zuzuordnen, steht er in keinem grundsätzlichen Gegensatz zu den zitierten. Aufgaben und Übungen sind nicht identisch. Aufgaben haben vor allem die Sprachverwendung in einem konkreten Kontext zum Ziel, ohne dass der Lösungsweg vorgegeben ist, während Übungen nach einem vorgegebenen Lernweg vor allem Kenntnisse aktivieren. Gewisse Überschneidungen, die es dabei gibt, müssen akzeptiert werden. 6.1. Übungen im instrumentalen Schreiben Diese Übungen sind für den schriftlichen Sprachgebrauch nicht spezifisch, d. h. sie sind eigentlich kein Anliegen der Schreibdidaktik. Einerseits tragen sie zum Ausbau von Teilkompetenzen bei (Wortschatz, Morphologie, Syntax, Rechtschreibung, Zeichensetzung) und andererseits sind sie ein Mittel, das die Entfaltung der anderen sprachlichen Fertigkeiten unterstützt. 6.1.1. Sprachsystembezogene schriftliche Übungen Beispiele: — lexikalische Lücken füllen — Synonyme/Antonyme notieren — Wortbedeutungen paraphrasieren — Tabellen anlegen — Wörter grupppieren — Satzglieder ergänzen — Satzglieder umformen — Grammatikfehler korrigieren — Diktate in verschiedenen Formen 6.1.2. Sprachtätigkeitsbezogene schriftliche Übungen Beispiele: — Interviewfragen notieren — Dialoge aufschreiben — Redemittellisten erstellen — Sprechblasen ausfüllen — Stichpunkte für Vorträge notieren — schriftliche Kontrolle des Lese- und Hörverstehens 6.2.

Aufgaben und Übungen zur Entwicklung von Schreibkompetenz 6.2.1. Produktorientierte Aufgaben und Übungen 6.2.1.1. Reproduktiv-produktive Schreibübungen Die Übungen beziehen sich auf Texte, die die inhaltlichen und sprachlichen Informationen dafür liefern, dass die Lernenden in bestimmter Weise mit ihnen umgehen können. Leseund Hörverstehen sind hier notwendige Vor-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

aussetzungen für das Schreiben. Ziel ist es, Texte zu schreiben, die den Anforderungen einer konkreten Schreibaufgabe/Schreibabsicht genügen. Das Produkt kann sich auf inhaltliche oder auf sprachliche Momente des Ausgangstextes beziehen. Beispiele: Ergänzen: — fehlende Wörter (Konnektoren, Referenzmittel) — fehlende Sätze (Nebensätze) — fehlende Teiltexte (Anfang oder Schluß) Umformen: — einen mündlichen Bericht in einen schriftlichen Bericht (Wechsel des Mediums) — einen Unfallbericht in eine Zeitungsnotiz (Wechsel der Textsorte) — einen Er-Text in einen Ich-Text (Wechsel der Darstellungsperspektive) Verdichten: — Inhaltsangaben verfassen — Zusammenfassungen schreiben — Notizen und Mitschriften anfertigen — Konspekte schreiben Verbessern: — einen Fehlertext korrigieren (wenn Intention und sprachliche Realisierung nicht übereinstimmen) — von Texten ausgehend neue Schreibanlässe finden und weiterführen Schreibpläne entwerfen. 6.2.1.2. Produktive Schreibübungen Aufgaben dieses Typs sind auf die Bewältigung realer kommunikativ-pragmatischer Schreibsituationen gerichtet. Diese sind für den Fremdsprachenunterricht relativ begrenzt und beziehen sich auf ausgewählte Textsorten, die zudem häufig formalisiert sind. Es ist sinnvoll, sie anhand von Mustertexten zu üben. Beispiele: — persönliche und offizielle Briefe — Glückwünsche — Einladungen — Lebenslauf — Bewerbung — Anträge. (Bestimmten Zielgruppen, ζ. B. Germanistikstudenten, werden aber auch Annotationen, Rezensionen, Thesen, Referate und Facharbeiten in der Fremdsprache abverlangt). Die Auswahl wird vom Stand der Sprachbeherr-

929

95. Schriftliche Sprachproduktion

schung bestimmt, vor allem aber davon, ob die Fremdsprache im Zielsprachenland oder in muttersprachlicher Umgebung erlernt wird. Einige dieser Texte sind von einer mehr oder weniger stark steuernden Vorlage geprägt, andere von lenkenden Aufgabenstellungen, und bei einigen sind die Schreibenden auf Hilfe angewiesen (fremde oder eigene Aufzeichnungen, Konsultationen, Wörterbücher, u. a.). Das alles beeinträchtigt aber die schreibspezifische Orientierung nicht. Produktives Schreiben ist hier nicht mit freiem Schreiben identisch. Es ist weniger vorlagen- und textsortenbestimmt und ermöglicht, die Schreibabsicht sprachlich variabler zu verwirklichen. Beispiele: - Wahrnehmungen wiedergeben - Beobachten und beurteilen - Sich Konflikten stellen - Meinungen in ungewöhnlicher Form äußern - Geschichten erfinden Hier liegen dann auch die Übergänge zu den prozessorientierten Schreibaufgaben. 6.2.2. Prozessorientierte Aufgaben Ziel der Aufgaben ist die Entfaltung der heuristischen Funktion des Schreibens. Das Produkt steht insofern hinter dem Vorgang des Schreibens zurück, als es nicht für andere, sondern, wenn überhaupt, für den Schreiber selbst bedeutungsvoll ist. Unmittelbares Anliegen ist die Klärung von subjektiv bedeutsamen Sachverhalten und Zusammenhängen. Beispiele: - Assoziogramme erarbeiten - Gefühle beschreiben - ein Problem erörtern - Bilder ausdeuten - Träume beschreiben - Sich in Gedichten ausdrücken 6.2.3. Sprachorientierte Aufgaben Die Bezeichnung ist nicht eindeutig, weil Sprachbewusstheit, die Wahl möglichst adäquater sprachlicher Mittel, dem Schreibvorgang immanent ist. Gemeint ist, dass der Inhalt der Darstellung hinter die sprachliche Realisierung zurücktreten kann. Mit einer solchen Orientierung auf die sprachliche Form sind kreative Schreibübungen aufs engste verbunden. Sie können mit und ohne Textvorlagen gemacht werden. Als Ausgangspunkte eignen sich besonsers fiktionale Texte und fiktionale Anlässe.

Beispiele: — Paralleltexte und Alternativtexte — Nachahmung von lyrischen Mustern — Briefe an Märchenfiguren — imaginäre Lebensläufe — Science Fiction — Lügengeschichten — Geschichten zu Gedichten Die Beispiele für die einzelnen Übungstypen zeigen, dass diese Typologie keine lineare Abfolge des Übungsverlaufs widerspiegeln kann. Die inhaltlichen und sprachlichen Anforderungen, die eine Übung stellt, werden maßgeblich von der konkreten Schreibaufgabe bestimmt. So sind produktive Schreibaufgaben nicht grundsätzlich schwieriger als reproduktiv-produktive, und schon innerhalb eines Übungstyps können die Anforderungen sehr unterschiedlich sein. 7.

Empfehlungen für die Schreibschulung

Die folgenden Bemerkungen sind keine didaktischen Gebote. Sie sind als Hinweis zu verstehen, mit denen einiges noch einmal unterstrichen, an anderes lediglich erinnert werden soll. (1) Schreibenkönnen ist an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden. Eine wesentliche davon ist, dass ausreichend Wissen zur Verfügung steht. Für das Schreiben ist das — wie für das Sprechen auch — Weltwissen, Sachwissen und sprachsystematisches Wissen (lexikalisches, morphosyntaktisches, stilistisches u. a.). Hinzu kommt spezifisches, d. h. schreibspezifisches Wissen. Das sind Kenntnisse schriftsprachlicher Strukturen (Textgestaltungsprinzipien), Kenntnisse schriftsprachlicher Normen, orthographische Kenntnisse und Kenntnisse der Schrift sowie solche über Schreibstrategien und Lerntechniken und Kenntnisse über verbindliche kulturspezifische Schreibkonventionen. Dieses Wissen ist nicht als portionierter Lernstoff vermittelbar, sondern in Verbindung mit dem jeweiligen Schreibanlass und der Schreibaufgabe, d. h. in einem möglichst ausgewogenen Verhältnis von analytischer und produktiver Arbeit an und mit geschriebenen Texten. (2) Es ist sinnvoll, bei der Arbeit am Schreiben die Wechselwirkungen zu nutzen, die zwischen den Sprachtätigkeiten bestehen, insbesondere die zwischen Lesen und Schreiben. Bewusstes Lesen beeinflusst maßgeblich die

930 Entwicklung der Schreibfertigkeit. Vom Lesen zum Schreiben ist nach wie vor ein effektiver Weg. Auch die Beziehungen zu den sprechsprachlichen Fähigkeiten sind für das Schreiben produktiv. Der Wechsel von mündlicher und schriftlicher Arbeit ist nicht nur ein unterrichtsmethodisches Zugeständnis an die Lernenden, vielmehr wird dadurch der komplementäre Charakter beider Fertigkeiten produktiv gemacht, und zugleich werden Diskrepanzen abgebaut, die bei der Überführung von Gesprochenem in Geschriebenes und umgekehrt bestehen. Das ist auch ein wichtiges Argument dafür, im Unterricht den zeitlichen Abstand zwischen der Ausbildung von mündlichen und schriftlichen Fertigkeiten so gering wie möglich zu halten. Eine längere schreibfreie Phase ist für die Lerner weniger eine Erleichterung als die Verweigerung einer Lernhilfe. (3) Keine Sprachtätigkeit entwickelt sich im Selbstlauf oder ist das Nebenprodukt einer anderen. Das Prinzip Learning by Doing gilt auch für das Schreiben, insbesondere für das thematische und situative. Es setzt ein zielgerichtetes und planmäßiges didaktisches Vorgehen im Unterricht voraus. Die Fertigkeit, komplexe Schreibanlässe zu bewältigen, ist über die schrittweise Ausbildung von Teilfertigkeiten zu entwickeln. Das meint nicht nur, dass die Entfaltung des freien Schreibens über das Bewusstmachen seiner einzelnen Phasen erfolgt, hierher gehören auch Strategien, mit denen sich die Lerner selbständig das dafür notwendige Wissen aneignen (Umgang mit Wörterbüchern und anderen Lernhilfsmitteln). Der Wechsel von Phasen verstärkter Schreibaktivität und Reflexion über das Produkt und über den Weg, wie es entstanden ist, sind zwei Seiten einer Sache. (4) Man kann davon ausgehen, dass für die Schreibmotivation solche Situationen günstig sind, wo das Schreiben normalerweise nicht durch das Sprechen ersetzt wird, wo also das Schreiben gegenüber dem Sprechen die geeignetere Tätigkeit ist, um ein wie auch immer geartetes Ziel zu erreichen. Dem setzen die Bedingungen des Unterrichts Grenzen, indem hier häufig nichtauthentische Situationen vorgegeben werden (müssen). Es zeigt sich aber, dass das fehlen der Realsituation kein Hindernis sein muss. Wichtig ist, dass der vorgegebene Anlass mit den Erfahrungen der Schreibenden übereinstimmt und dass sie ihn sich als Möglichkeit vorstellen können. (5) Schreiben gilt allgemein als eine Tätigkeit, die isoliert, ohne die Mitwirkung anderer verläuft. Unterricht in Klassen und Grup-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

pen schafft Bedingungen, wo der vom Einzelnen bestimmte Schreibvorgang zu einem kollektiven Erlebnis geführt werden kann. Beispiele dafür sind die wachsende Zahl von Schreibprojekten und Schreibwerkstätten. Die Motivation, die hier entsteht, erwächst sowohl daraus, dass ein Schreibprodukt in Kooperation entsteht, sie wird auch dadurch verstärkt, dass sich — weil über Texte reflektiert wird - Schreiber und Leser in einem ständigen Rollenwechsel befinden. Die Empfindung, dass Schreiben Arbeitscharakter hat, wie etwa bei schriftlichen Hausaufgaben, verliert sich. (6) Sprachliche Leistungen werden im Unterricht korrigiert und bewertet. Das wird nicht nur allgemein erwartet, es ist auch sinnvoll. Für das Schreiben und Sprechen bleiben hier noch eine Reihe von Fragen unbeantwortet. Probleme ergeben sich vor allem daraus, dass eine Negativleistung — der Fehler — zum Maßstab der Beurteilung gemacht wird. Seit Jahrzehnten gilt er als Mangel und Zeichen persönlichen Versagens. Die Praxis bei der Korrektur geschriebener Texte ist oft noch dazu angetan, diese Wirkung auf die Schüler zu verstärken, indem markiert wird, was sie nicht können. Ausgehend davon, dass in der Sprachlehrforschung die Rolle des Fehlers inzwischen anders beurteilt wird (Fehler sind etwas Normales, mitunter sogar etwas Hilfreiches), sollte auch im Fremdsprachenunterricht ein Umdenken erfolgen. Das betrifft Entscheidungen über die Qualität von Fehlern, ihre Markierung und besonders den Umgang mit ihnen (vgl. Kast 1995, 122fT.). Weil Lehrerkorrektur oft Schreibangst erzeugt, liegt es außerdem nahe, den Lernenden verstärkt die Möglichkeit zur (gemeinsamen) Selbstkorrektur einzuräumen. 8.

Literatur in Auswahl

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931

96. Landeskundliches Lernen und Lehren mann (Hg.): Theorie und Praxis. Österreichische Beiträge für Deutsch als Fremdsprache. Innsbruck. Günther, Udo (1993): Texte planen — Texte produzieren. Kognitive Prozesse der schriftlichen Textproduktion. Opladen. Hasler, Herbert (1991): Lehren und Lernen der geschriebenen Sprache. (Erträge der Forschung Bd. 272). Darmstadt. Hayes, John R.; Linda S. Flower (1980): Identifying the organization of writing processes. In: Lee W. Gregg; Erwin R. Steinberg (Hg.): Cognitive processes in writing. Hillsdale. Heid, Manfred (Hg.) (1989): Die Rolle des Schreibens im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Dokumentation eines Kolloquiums. München. Hermanns, Fritz (1989): Schreiben als Lernen. Argumente für das Schreiben im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. In: Manfred Heid (Hg.) (1989), 28-50. Kast, Bernd (1995): Fertigkeit Schreiben. (Fernstudieneinheit 12). Berlin etc. Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (1989): Schreiben. Fremdsprache Deutsch 1. München. — (1993): Kulturgeprägte Einflüsse auf das Schreiben und ihre möglichen Konsequenzen für den Schreibunterricht Deutsch als Fremdsprache. In: Gisela Tütken; Gabriele Neuf-Münkel (Hg.), 23-33. Lieber, Maria; Jürgen Posset (Hg.) (1988): Texte schreiben im Germanistikstudieum. (Studium Deutsch als Fremdsprache Bd. 7). München. Mummert, Ingrid (1993): Literatur als Schreibanlaß. In: Gisela Tütken; Gabriele Neuf-Münkel (Hg.), 195-202.

Neuner, Gerhard; Hans Hunfeld (1993): Methoden des fremdsprachlichen Unterrichts. Eine Einführung. (Fernstudieneinheit 4). Berlin etc. — (1996): Aufgaben und Übungsformen bei der Entfaltung des Schreibens im Fremdsprachenunterricht Deutsch. In: Begegnungen. Zeitschrift des Slowakischen Deutschlehrerverbandes. Bratislava. Sondernummer, 10—17. Pogner, Karl-Heinz (1993): Texten. Auf dem Weg zu einer (fremdsprachlichen) Schreibdidaktik. In: Tütken, Gisela; Gabriele Neuf-Münkel (Hg.), 63-86. Pommerin, Gabriele u.a. (1996): Kreatives Schreiben. Handbuch für den deutschen und interkulturellen Sprachunterricht in den Klassen 1 bis 10. Weinheim und Basel. Portmann, Paul R. (1991): Schreiben und lernen. Grundlagen der fremdsprachlichen Schreibdidaktik. (Reihe Germanistische Linguistik 122). Tübingen. Rico, Gabriele L. (1987): Garantiert schreiben lernen. Sprachliche Kreativität methodisch entwickeln — ein Intensivkurs auf der Grundlage der modernen Gehirnforschung. Reinbek bei Hamburg. Tütken, Gisela; Gabriele Neuf-Münkel (Hg.) (1993): Schreiben im DaF-Unterricht an Hochschulen und Studienkollegs. I. Forschungsergebnisse — Didaktische Konzeption — Übungsformen. (Materialien Deutsch als Fremdsprache 37). Regensburg. Werder, Lutz von (1993): Lehrbuch des kreativen Schreibens. Berlin. Wrobl, Arne (1995): Schreiben als Handlung: Überlegungen und Untersuchungen zur Theorie der Textproduktion. Reihe Germanistische Linguistik 158. Tübingen. Rainer Bohn, Jena

(Deutschland)

96. Landeskundliches Lernen und Lehren 1. 2.

5. 6.

Vorbemerkung Kenntnis und Erkenntnis - Gegenstände landeskundlichen Lernens Soziokulturelles Wissen für verschiedene Lernkontexte Dimensionen und Ziele landeskundlichen Lernens Aufgaben und Übungsformen Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkung

3. 4.

Als integrierter Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts soll Landeskunde garantieren, dass nicht nur die Bedeutungen und Re-

geln der Sprache erlernt werden, sondern die Lernenden auch die fremde Realität kennen lernen. Es geht dabei nicht um eine unendliche Faktensammlung, sondern um konkrete Hilfen für die Lernenden, damit sie die fremde Sprache in ihrem ursprünglichen Kontext verstehen und sich selbst verständlich machen können (vgl. Art. 4). In diesen Prozess sind die Lernenden aktiv einbezogen. Aufgrund ihres vorhandenen (Welt-)Wissens und ihrer konkreten Anforderungen an die fremde Sprache entscheiden sie sich für ihren Lernweg, für ein bestimmtes „landeskundliches Lernen", für das unterschiedliche methodische Konzepte vorgeschlagen werden.

932

2.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Kenntnis und Erkenntnis — Gegenstände landeskundlichen Lernens

Als Ergebnis jeglichen Fremdsprachenunterrichts erwarten sich Lernende und Lehrende, aber auch Bildungsplaner und „interessierte Öffentlichkeit" umfassende „Orientierung" (Buttjes 146), d. h. die Fähigkeit, sich in den verschiedenen Situationen, in denen man einer fremden Sprache „begegnet", zurechtzufinden. Diese „Begegnungen" (Hackl/SimonPelanda 1994; Groenewold 1997; Krumm 1998) sind nicht nur durch die Struktur der Sprache und der Gesellschaft und Kultur, der diese Sprache entstammt, charakterisiert, sondern werden differenziert durch die beteiligten Gesprächspartner und die aktuelle Situation, in der kommuniziert wird: — wenn man im Unterricht beginnt, die noch fremden Wörter und ersten Sätze mit Lehrenden oder Mitschülern zu wechseln; — wenn man einem Besucher im eigenen Land in dessen Sprache Auskunft geben will; — wenn man selbst das Zielsprachenland besucht und dort mit Muttersprachlern kommunizieren muss; — wenn man sich mittels der Zielsprache Deutsch als lingua franca mit anderen Deutschlernern verständigt; — wenn man (Text-)Zeugnissen der anderen (fremden) Kultur begegnet, die man kennenlernen und verstehen will, etwa wenn man via Internet in die Fülle der Texte, Bilder und Töne aus den deutschsprachigen Ländern, möglichst sogar mit tatsächlichen Gesprächspartnern, eintaucht. 2.1. Soziokulturelles Wissen Bei allen diesen Begegnungen bringt man eigene Vorstellungen mit und wird konfrontiert mit fremden. Beständig werden einem die „Eigenheiten" erst bewusst gemacht durch die „Verschiedenheiten". Unterschiede „tauchen" nicht nur auf, sondern werden geradezu gesucht, aber sind per se keine Grenzziehungen und ethnographischen Abgrenzungen, sie können natürlich dazu werden, wenn mit ihnen in sozialen und politischen Auseinandersetzungen der jeweils „Andere" stigmatisiert und „ausgesondert" wird. Die sprachlichen Kenntnisse zur Bewältigung dieser Begegnungen sowie das Vermögen, diese praktisch umzusetzen, fasst man in der Didaktik des Fremdsprachenunterrichts

heute allgemein unter dem Begriff der „Kommunikativen Kompetenz" zusammen (vgl. Art. 82; 83; 86; 87). Kommuniziert man in einer Fremdsprache, bemerkt man sehr schnell, dass Kenntnisse in Phonetik, Grammatik und Lexik allein für eine befriedigende Verständigung nicht ausreichen. Jedes Gespräch, auch unter Muttersprachlern, ist eingebettet in eine komplexe Interaktion non- (Gestik und Mimik) und extraverbaler (Situation, Ort) Faktoren; schon aus den Modulationen der Stimme vermag man wesentliche Botschaften herauszuhören, je nachdem, wo gesprochen wird, versteht man Äußerungen anders. Man muss also nicht nur auf „richtige" Sätze achten, sondern die gesamte Interaktion entschlüsseln. Als Muttersprachler hat man die Fähigkeit dazu in der primären Sozialisation mit der Sprache erworben, Spracherwerb ist demnach immer auch „Kultur-Erwerb", ist das Erfahren, Wahrnehmen und Übernehmen von Verhaltensweisen. Denn neben den Wörtern und ihrer Aussprache sowie den grammatischen Regeln ihrer Verknüpfung erwirbt das Kind die Fähigkeit, seinen Alltag, seine Lebenswirklichkeit wahrzunehmen und zu verstehen. Die Verhaltensweisen, die sich auf verschiedene Erwartungen und Normen beziehen, sind kulturell geprägt. Lernt man dann jedoch eine fremde Sprache, findet man oft die erwarteten Entsprechungen nicht, die eigenen Strategien und die vertraute Perspektive erschließen die fremde Wirklickeit und Sprache nur selten vollständig. Jeder Muttersprachler, der souverän seine Sprache beherrscht, sie zielgerichtet einzusetzen weiß und bei verschiedenen Sprechanlässen dem jeweiligen Kontext anzupassen versteht, erfahrt, dass (mutter-)sprachliches Vermögen und eigenkulturelle Erfahrungen auf die andere Sprache und Gesellschaft nicht einfach zu übertragen sind. Man „entdeckt", dass Gesprächspartner offensichtlich auf ein zusätzliches „Wissen" rekurrieren, dass sie auf Einstellungen, Maßstäbe und Kenntnisse zurückgreifen, die nicht unmittelbar in den benützten Wörtern und Sätzen thematisiert sind. Dieses ist weniger durch Sachverhalte als deklaratives, sondern mehr durch Wahrnehmungsprozesse und Perspektiven, bestimmte Maßstäbe der Beurteilung, durch spezifische Kodes der Zuordnung und kulturell unterschiedliche Standards zur Orientierung und Interpretation als prozedurales zu kennzeichnen. Neben dem im engeren Sinne sprachlichen Wissen und dem Ver-

96. Landeskundliches Lernen und Lehren

mögen, Sprachhandeln strategisch vorzubereiten und auszuführen, muss der Sprachschüler also zusätzlich diese teils persönlichen, teils sozialen und kulturellen Bedingungen wahrzunehmen und zu verstehen suchen. Die Gesamtheit der hierfür notwendigen operativen, kognitiven und affektiven Kenntnisse und Fähigkeiten wird in Anlehnung an die Aussagen der Soziologie und der Sozialpsychologie unter dem Begriff der Soziokultur zusammengefasst. In der Fremdsprachendidaktik in den deutschsprachigen Ländern und noch stärker in der Fachdidaktik Deutsch als Fremdsprache hat sich trotz erheblicher Vorbehalte für dieses spezielle Wissen der Name „Landeskunde" (zur Diskussion um den Namen vgl. Art. 4) erhalten. Die Inhalte, der Bedeutungsumfang, die Verfahren und die Forschungsgegenstände dieses Wissensgebietes sind nach wie vor unklar oder umstritten: Soll unter Landeskunde das „Gesamt der politischen, sozioökonomischen und kulturellen Gegebenheiten, die für die Produktion und Rezeption sprachlicher Äußerungen maßgeblich sind/waren" (Schmidt 290) verstanden werden (das wäre dann praktisch das enzyklopädische Wissen der Geschichte und Gegenwart, eine vollständige „Kunde vom Land")? Oder sollen darunter die „soziokulturellen Bezüge" verstanden werden, die den Lernenden begegnen, wenn ihnen „die fremde Sprache in ihrem ursprünglichen Verwendungszusammenhang vorgestellt wird" (Buttjes 142), um sie selbst vor dem Hintergrund ihrer eigenen Spracherfahrungen zu „erkunden"? Es werden damit zwei unterschiedliche Ausgangsfragen — „Was muss/soll als notwendiges soziokulturelles Wissen allgemein bestimmt und verkündet werden?" und „Wie sollen soziokulturelle Bezüge von den Lernenden für ihre spezifischen Interessen und Bedürfnisse erkundet und verstanden werden?" — gestellt. Der konkrete Unterricht in einer Fremdsprache muss im Bereich Landeskunde die Frage jeder geisteswissenschaftlichen Disziplin beantworten: Sollen Kenntnisse, das angesammelte Wissen, vermittelt oder soll autonome Erkenntnis ermöglicht werden? In dem Maße, wie sich die Fremdsprachendidaktik mehr auf den Lernenden konzentriert und die Lehrenden eher die authentische Sprache anbieten als Lehrstoff abprüfen, rückt in einem inhaltsorientierten Unterricht „Landeskunde" in den Mittelpunkt.

933 Wie sprachliches und soziokulturelles Wissen jeweils getrennt vermittelt oder aufeinander bezogen erworben werden können, gehört zu den Grundfragen des Fachs. 2.2. Verfahren der Landeskunde Im allgemeinen folgt man heute bei der Darstellung unterschiedlicher Verfahren des landeskundlichen Lehrens und Lernens der Einteilung von Hosch/Weimann, die einen kognitiven, einen kommunikativen und einen interkulturellen Ansatz unterscheiden. Sie gewinnen diese Klassifikation nicht aus einer Methodologie des Fremdsprachenunterrichts, ebensowenig aus einer Didaktik des Fachs, sondern aus eher deskriptiven Arbeiten (Götze 1990; Vorderwülbecke 1993), in denen der unterschiedliche Umgang mit soziokulturellem Wissen in vorliegenden Lehrwerken analysiert und beschrieben wird. Zu einer konzisen Didaktik der Landeskunde Deutsch als Fremdsprache stellen diese Untersuchungen Vorstufen dar. a. Kognitive Verfahren zur Vermittlung von Landeskunde beziehen sich auf Kenntnisse, die sich mit der Gesellschaft und ihren Mitgliedern beschäftigen: Von den geografischen Voraussetzungen und den ökonomischen Grundlagen über die staatlichen und sozialen Ordnungssysteme bis hin zu den Regeln und Konventionen des Alltags der Individuen, die jeweils in ihrer historischen Genese zu betrachten sind. Die Auswahl der einzelnen Daten und Fakten — der „Realia", die der Realienkunde zu Namen und Recht verhalfen - folgt der Systematik der Bezugswissenschaften (vgl. Reinbothe 1997; Gilzmer 1995). Das Thema wird nicht aus dem Prozess des Spracherwerbs und des Lernkontexts entwickelt, sondern Landeskunde, oft auch Institutionenkunde oder Kulturkunde genannt, wird als eigenständiges Fach dem Sprachunterricht nachgeordnet und erst bei Fortgeschrittenen unterrichtet. Diese positivistischen Ansätze orientieren sich an einem Produkt, das universell gelten und vermittelt werden soll. Eine besondere Rolle spielen diese Verfahren in der Lehrerausbildung vieler Länder, wo man den umfangreichen Anforderungen enzyklopädischer Ansätze durch Pflichtvorlesungen in Geschichte, Politologie etc. gerecht zu werden versucht. b. Kommunkative Verfahren orientieren sich bei der Auswahl der landeskundlichen Fragen und Themen am nötigen

934

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Wissen für eine erfolgreiche Kommunikation im Alltag. Alle Texte, ob sie nun rezipiert oder in der Fremdsprache produziert werden, implizieren eine soziokulturelle Umgebung, einen „Kontext". Diesen zu konstruieren wird zur Aufgabe einer sprachdidaktisch begründeten Landeskunde, die allerdings weiterhin nach den Realien sucht, nur nicht mehr enzyklopädisch alle. Dabei werden entweder die „Grunddaseinsfunktionen", wie sie in der Sozialgeografie als „allgemeinmenschliche" eher ahistorisch und kulturindifferent definiert werden, oder die „menschlichen Grundbedürfnisse" aus der Anthropologie als Bezugsgröße gewählt. Da auch dieser Ansatz von Kenntnissen über den Alltag ausgeht, behält er die Trennung von Objekt und Subjekt der Erkenntnis bei, so dass auch hier prinzipiell am Erwerb landeskundlicher Fakten, losgelöst vom Spracherwerb, festgehalten wird. Einerseits sollen die Kompetenzen für die Bewältigung des Alltags — auf einem entsprechenden Abstraktionsgrad - unterschiedslos gelten, andererseits soll damit das tatsächliche Interesse der Fremdsprachenlerner an der fremden Klutur gefunden sein. Im Unterricht soll Sprache nicht mehr isoliert als System erworben werden, sondern als kommunkative Kompetenz, mit der Lernende sich sprachlich adäquat verhalten. Geübt wird, wie man ohne Missverständnisse ein Gespräch in den verschiedenen Situationen des Alltags führt — unter Zuhilfenahme und vor dem „Hintergrund" landeskundlicher Kenntnisse. c. Interkulturelle Verfahren vermitteln Sprache nicht nur vor dem Hintergrund eines Kontextes, dessen einzelne Fakten meist nicht die Inhalte und Absichten von Kommunikation verständlich machen, sondern plädieren für einen Fremdsprachenunterricht als Kultur- und Sprachenlernen. Dies soll in einer integrierten Form stattfinden; so stehen am Anfang auch Entwürfe wie die konfrontative Semantik (Müller 1981). In dieser ersten Phase kommunikativ-pragmatischer Verfahren ging es vor allem um den Kontrast der beiden Kulturen. Der Versuch, durch den Vergleich mit dem Fremden dieses besser zu verstehen, war nicht selten kontraproduktiv: wo lernerzentrierte Verfahren fehlten, erschienen die Verhaltensweisen der anderen als nationale oder ethnografische Stereotype, wo die Wissensvermittlung lediglich ausgedehnt wurde auf kulturelle „Hintergründe", wird das „Bild" des anderen Landes zur scheinbaren richtigen Erfassung der

fremden Soziokultur, ohne Differenzierungen und individuelle Unterschiede. Als Reaktion auf die kritischen Äußerungen wurde der Begriff dahingehend erweitert bzw. ergänzt, dass durch die Integration von sprachlichem und „fremdkulturellem" Wissen eine „transnationale" („Stuttgarter Thesen" von 1982) oder „interkulturelle Kommunikationsfähigkeit" zum Ziel erklärt wurde. Das setzt freilich voraus, dass „beide Kulturen" konstitutiv am Zustandekommen einer solchen Kommunikation beteiligt werden: Der Fremdsprachenlernende bringt jeweils soziokultuelle Prägungen mit in den Fremdsprachenunterricht und diese individuellen Erwartungen und Vorstellungen, die zugrunde liegenden Wahrnehmungsmuster und Bewertungsmaßstäbe geben ihm die Möglichkeit, die fremde Sprache und Kultur zu identifizieren. Sie werden aber in diesem Prozess auch das Material, an dem er seine eigenkulturellen Prägungen nicht nur erfahrt, sondern sie reflektieren lernt. Ziel zukünftiger Forschungen muss es werden, Strategien und Methoden zu entwickeln, wie Fremdsprachenlerner diese Spannung zwischen der Erweiterung des kulturellen Horizonts und der Modifikation ihrer eigenen Identität produktiv nutzen können, um sowohl das nötige Verständnis für die fremde Kultur und ihre Stellung neben der eigenen als auch den Gebrauch der Fremdsprache zu lernen. Ein interkultureller Zugang zum Fremdsprachenlernen soll ethnozentrische Perspektivenverengung auflösen und muss sich daher pädagogische Ziele setzen: Bereitschaft zum Zusammenleben in plurizentrischen und multikulturellen Gruppen und Gesellschaften, Annahme und Verständnis des „Anderen", Anerkennung des Wertes von Fremdsprachen, Bereitschaft zur Problemlösung durch Dialog, kritische Prüfung von Urteilen und Wertungen über andere, um Klischees und Vorurteilen entgegenzuwirken (vgl. Doyé 6). Einen Beitrag hierzu vermag die aus den ABCD-Thesen entwickelte D-A-CH-Konzeption (die Abkürzung der deutschsprachigen Länder orientiert sich an den internationalen Autokennzeichen) zu leisten. Ausgehend von der Tatsache, dass sich das Deutsche als Mutter-, Umgangs- und Amtssprache in vier Ländern nicht auf eine nationale Soziokultur bezieht („regional differenzierte Sozialisationsräume", Raddatz 246), sondern nationale Varietäten in allen Bereichen aufweist, ermöglicht dies ein binnenkontrastives Vorgehen. Das setzt dort ein,

96. Landeskundliches Lernen und Lehren

wo eine der Voraussetzungen interkulturellen Lernens - der grundsätzlich gleiche Wert der (regionalen) Kulturen — nicht in Frage steht, somit als Konstituens in den Vergleich der eigenen Kultur mit der (oder denen) der deutschsprachigen Länder (oder Regionen) übernommen werden kann. Gleichzeitig lassen sich an der Vielfalt unterschiedlicher Antworten auf grundsätzliche Fragen des Zusammenlebens die Instrumente dieses Vergleichs studieren, ohne die eigene kulturelle Prägung aufgeben und auch nicht ständig rechtfertigen zu müssen, ein Problem, das als wichtigstes Problem beim Entstehen eines europäischen Hauses gesehen wird. Zusammenfassend läßt sich sagen, dass die entsprechenden Konzepte zum Umgang mit fremder Soziokultur im Rahmen von Fremdsprachenlernen niemals in „reiner Form" existierten und existieren, auch zeitlich traten und treten sie teilweise nebeneinander auf. So finden sich je nach Lerntradition in nationalen Curricula heute noch mehr oder weniger „reine" Realienkunden, Landesbilder oder in weltweit eingesetzten Lehrwerken DaF Nationalcharaktere. Darüber hinaus tauchen und tauchten Schlagwörter gesellschaftlicher und pädagogischer Postulate, denen sich der institutionalisierte Fremdsprachenunterricht gegenüber sah, in tagespolitischen Auseinandersetzungen um neue Aufgaben der Schule (Mehrsprachigkeit in einem vereinten Europa, Abbau von Vorurteilen gegen Fremde bei steigendem Zuzug, Erziehung zu Eigenständigkeit vs. Erhalt kultureller Identität, Integration von Fremden etc.) auf. Dabei können sich die Kontrahenten wechselseitig auf integrierende oder diversifizierende Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung berufen.

3.

Soziokulturelles Wissen für verschiedene Lernkontexte

Lernerorientierter Unterricht geht von pädagogischen Traditionen, den subjektiven und gesellschaftlichen Erwartungen an den Fremdsprachenunterricht und in der Landeskunde von dem vorhandenen soziokulturellen Wissen über das eigene wie das Zielsprachenland aus. Über ihr Wissen werden sich die Lernenden im Dialog und durch den Vergleich mit anderen bewusst, die bereits verwendeten Fähigkeiten und Strategien können sie auf die neue Situation übertragen — sie planen den eigenen Lernprozess mit.

935 Für diesen werden als Ziele ein Beitrag zur Friedenserziehung, ein Mitwirken an der Politischen Bildung und der Eintritt in eine spezielle transnationale Sozialisation (Doyé 59 genannt. Zu Recht spricht man von einer (Re-)Pädagogisierung des Fremdsprachenunterrichts. Den Lernkontext definiert neben der Lernstufe auch der jeweilige Ort, an dem eine Fremdsprache gelernt wird. 3.1. Lernstufen a. Im Grundstufenunterricht erwirbt der Anfanger die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten, um die Standardsprache mündlich und schriftlich gebrauchen zu können, wenn er daheim oder in einem deutschsprachigen Land Kontakt zu einem Muttersprachler aufnimmt. Neben einem Grundwortschatz, den wichtigsten Strukturen der Grammatik und den Regeln von Kommunikation erweitert er sein mitgebrachtes Wissen über die Soziokultur der deutschsprachigen Länder in und außerhalb des Unterrichts. Bezogen auf den Unterricht beschäftigt er sich vornehmlich mit der Wahrnehmung und Deutung von Alltagssituationen. Der Vergleich mit bereits vorhandenen Einsichten oder den entsprechenden Phänomenen im praktischen Alltag findet als bewusste Reflexion (meist) nicht in der Fremdsprache statt, wenn er überhaupt explizit gemacht wird. Trotzdem kann jeder erfahren, inwieweit seine Strategien der Wahrnehmung und Deutung in der Begegnung mit der fremden Soziokultur anzuwenden sind, wann sie modifiziert werden müssen und wo unterschiedliche Perspektiven einzunehmen sind. Den erforderlichen Fähigkeiten für die angestrebten Ziele des Unterrichts sowie den jeweiligen Kenntnissen in der Fremdsprache angepasst und den geäußerten Interessen entsprechend präsentiert sich auch die Auswahl der Materialien für das landeskundliche Lernen. Sie sollen Bilder und authentische Materialien, mit wachsendem Sprachverständnis auch Texte anbieten, aus denen sich der einzelne oder eine Gruppe eine Auswahl entsprechend ihren Präferenzen zusammenstellt. Allerdings muss auch bedacht werden, dass im „Medien-Zeitalter" reine Texte und Einzelbilder immer häufiger durch audiovisuelle und digitale Informationen mit neu zu entschlüsselnden speziellen Kodierungen ersetzt werden, entsprechend auch Strategien zur Text- und Bilderschließung weiterzuentwickeln oder neu zu akzentuieren sind (vgl. Tschirner 122—125). Besonders zu fördern sind Formen der selbständi-

936 gen Recherche und des projektorientierten Arbeitens, mit denen interdisziplinäres und handlungsorientiertes Lernen vorbereitet werden. Sind diese Strategien entwickelt, so lassen sich Fakten und Verhaltensweisen in ihrer Bedeutung für eine gelingende Kommunikation wahrnehmen. b. Im Fortgeschrittenenunterricht, wenn der Lernende bereits die wichtigsten Situationen der Sprachbegegnung selbständig meistern kann, eröffnet landeskundliches Lernen eine immer genauere Sicht auf die andere Kultur. Zunehmend wird die notwendige Reflexion über Unterschiede und Ähnlichkeiten von Erscheinungen der Eigen- und Fremdkultur in der Fremdsprache geführt werden können, zumal Fortgeschrittene meist auch (junge) Erwachsene sind. Sie haben die Strategien der Wahrnehmung, der Interpretation und Bewertung bereits erprobt und können sie nun gezielt anwenden. Individuelle Lernstrategien und kulturell ausgebildete Lerntraditionen können im Fremdsprachenunterricht bewusst gemacht und umgesetzt werden. Eine aktive Rezeption, die sich nicht nur um ein Verständnis der fremden Inhalte bemüht, sondern sie in ihrem kulturellen Bezug interpretiert, um die eigenen Anschauungen aus dieser fremden Perspektive neu zu bewerten, ist für die Lernenden der Weg zu einer adäquaten Produktion zielsprachiger Äußerungen. Insofern fortgesschrittene Fremdsprachenlerner sehr genaue und konkrete Vorstellungen über das für sie relevante soziokulturelle Wissen mitbringen, werden auf dieser Stufe auch vermehrt literarische oder berufssprachliche Texte aller Art, vor allem aber multimediale Botschaften verschiedenster Herkunft behandelt werden können. 3.2. Lernorte Auf dem Weg zu einem immer komplexeren Verständnis der ,Welt hinter den Wörtern' spielen authentische Zeugnisse von Sprache und Kultur eine immer größere Rolle. Wird die Rolle der Lernenden als Subjekte bei der Planung des Unterrichts ernst genommen, müssen sie sich immer häufiger aus dem Klassenraum in das reale Leben hinaus begeben. Dies ist gleichzeitig der Schritt von der simulierten (Sprach-)Wirklichkeit im Unterrichtsraum, in dem die Lehrenden mit dem Lehrwerk in logischer Abfolge Wissen linear organisieren, in die reale Welt authentischer Sprache, die vernetzt und ganzheitlich verstanden werden will.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

a. Im Land der Zielsprache werden von den „Fremden" die eigenen Strategien zum Wissenserwerb und Verstehen in der Begegnung mit Muttersprachlern angewandt. Dabei bemerken sie Ubereinstimmungen und erfahren durch Mißverständnisse störende Differenzen. Im alltäglichen Umgang erleben sie unmittelbar, welches soziokulturelle Wissen nötig ist, um mit Personen zu kommunizieren, aber auch um Zeichen und Zeugnisse der (Alltags-)Kultur so zu deuten, dass sie auch als „Fremde" entsprechend handeln können. Praktisch reflektieren sie eigene und fremde kulturelle Prägungen, die sie selbst produzieren bzw. mit denen sie beständig konfrontiert sind: fremde Kodes, ungewohnte Perspektiven, unbekannte „Bilder", die sie vor der Folie ihrer eigenen identifizieren, aber nicht immer verstehen können. „Erlebte Landeskunde" (Handbuch Spracharbeit 5 Goethe-Institut 1995) als Methode nützt diesen direkten Zugang zur Soziokultur im Zielsprachenland zu vielfaltigen Schritten der aktiven Auseinandersetzung, indem die Lernenden von ihren Beobachtungen und Bedürfnissen aus einzelne Bereiche im fremden Alltag erkunden. b. Der Fremdsprachenunterricht verspricht Lernenden außerhalb des Zielsprachenlandes beim Fremdsprachenlernen Orientierungswissen in bezug auf die andere Sprache und Kultur. Von besonderer Bedeutung ist dies für die „Nachbarn", die leicht Kontakt jenseits der Grenzen finden können und diese immer öfter überschreiten. Politischer Wille und ökonomischer Druck haben in Europa zu ständigen Kontakten zwischen den Bürgern der verschiedenen Kulturen geführt, der Lernort in diesen Ländern ist ein unmittelbar interkultureller: Deutsch als „Erlebte Nachbarschaftssprache" oder „Lernen über Grenzen" (s. Edelhoff; Wicke). Binnenkontrastivität verschiedener soziokultureller Gegenstände aus den deutschsprachigen Ländern garantiert hier unterschiedliche Perspektiven und Vergleichsmöglichkeiten, die nicht konfrontativ angelegt sein müssen (Deutschland — Frankreich — Schweiz ζ. B.). Die regionale Vielfalt geht über nationale Perspektiven hinaus. Hierdurch kann Landeskunde als ein Unterrichtsprinzip etabliert werden; sie ist also nicht Deutschlandkunde, die ihre Systematik aus den Beschreibungskriterien von Bezugswissenschaften auf nationaler Basis bezieht. Insofern erübrigt sich auch die Ableitung und Fixierung eines Kanons der Daten und Fakten. Durch den Einbezug der Ausgangskultur des Lernenden treten zwei kultu-

937

96. Landeskundliches Lernen und Lehren

relie Systeme zueinander in einen Dialog, eine interkulturelle Perspektive des Austausche (Hackl/Simon-Pelanda 1994). c. Je weiter der Lernort von den deutschsprachigen Ländern entfernt ist, desto mehr werden Lehrende und Lernende darauf angewiesen sein, die Methoden der „Erlebte Landeskunde", wie sie im Zielsprachenland oder bei den Nachbarn anzuwenden sind, für ihr Lebensumfeld zu adaptieren oder gänzlich neu zu konstruieren. Der Unterricht und vor allem die Versuche außerhalb des Klassenzimmers, Spuren der zielsprachigen in der eigenen Soziokultur zu entdecken, sollen fremdsprachige Realität „erlebbar" machen. Eine „Erlebbare Landeskunde" simuliert die fremdartige Lebensrealität, aber sie versucht auch, durch Recherchen zu „Land und Leuten", etwa in literarischen Texten, einen ganz eigenen Zugang zum Verständnis der anderen zu finden. Kommunikative Situationen können an die entsprechenden Ziele des Sprachunterrichts angepasst ausgestaltet oder neu entworfen werden; auch hierfür eigenen sich eher Texte, in denen gehandelt wird. Zunehmend finden als eigene Form von Simulationen speziell auf dem Computer entwickelte Eingang in den Fremdsprachenunterricht: Sie verlangen zwar oft eine sehr aufwendige Programmierung, stellen aber die Situation, in der in der Fremdsprache bestimmte Entscheidungen getroffen oder Folgen eines bestimmten (eigenen) Verhaltens wahrgenommen werden, „realistischer" und damit motivierender dar als bloß beschriebene Planspiele. d. Durch die rasante Entwicklung auf dem Markt des elektronischen Datenaustausche mit den „neuen Medien" plädieren immer mehr Didaktiker dafür, die Nutzung des World Wide Web als eine Art „ Virtuelle Landeskunde" in den Unterricht zu integrieren und spezielle Strategien hierfür zu vermitteln (Tschirner 1997). Unabhängig davon, ob sich alle Erwartungen an E-Mail, Video-Konferenzen und Netz-Surfen erfüllen werden, scheint festzustehen, dass wesentliche Forderungen eines lernerzentrierten und handlungsbezogenen Sprachunterrichts nun erfüllt oder zumindest einfacher erfüllt werden können: Autonome Auswahl authentischer Quellen gemäß der eigenen Motivation und Vorstellung, Situierung der Sprache und Soziokultur durch authentische Kommunikation mit einem Partner in authentischen Kommunikationssituationen (auch wenn das Netz

nur eine, sehr spezielle darstellt), von denen man sich verspricht, dass sie ortsunabhängig und zeitlich unbegrenzt vorhanden sein werden — eine technisch vermittelte erlebte Landeskunde ohne deren bisherigen Grenzen.

4.

Dimensionen und Ziele landeskundlichen Lernens

Um den Bedürfnissen der Lernenden auf bestimmten Stufen, den Besonderheiten der Lernkontexte in Regionen und Kulturen und den daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Erfordernissen in den nationalen Curricula gerecht zu werden, muss landeskundliches Lernen verschiedene Dimensionen berücksichtigen. Die Bedeutungsebenen lassen sich nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen, da sie im Lernen integriert sind und sich gegenseitig voraussetzend auch integrierend wirken. 4.1. Emotionale Dimension Bei jedem Spracherwerb, sei es die Muttersprache des Kindes, sei es die erste Fremdsprache, spielt Emotionalität eine entscheidende Rolle. Die Erfahrung, dass die Begegnung mit dem „Fremden" uns mit einer anderen Sprache und Kultur konfrontiert, kann ganz unterschiedliche Reaktionen zeitigen; sie kann von unreflektierter Anpassung an andere kulturelle Normen bis zur Ablehnung alles Fremden reichen. Fremdsprachenunterricht setzt aber ein „Verstehen" der anderen Soziokultur voraus, wodurch die Produktion und die, notwendig vorausgehende, Rezeption von Sprache erst möglich werden. Die Ziele sind also nicht nur als speziell landeskundliche bestimmt, sondern erfordern pluridisziplinär eine Ergänzung durch die Methoden des Sprachvergleichs oder die Themen des muttersprachlichen Unterrichts. Die Individuen erwerben so diejenigen Strategien und Haltungen, mit denen sie Fremden offen und unvoreingenommen gegenübertreten und in einem „Dialog der Identitäten" (Groenewold 1997) begegnen können. Die Sozialisation in der eigenen Soziokultur wird vollendet durch eine tertiäre, in der die Regeln für den Umgang mit dem „Anderen jenseits der Grenzen" erworben werden. Interkulturelles Lernen beginnt mit interkultureller Sensibilisierung. Zunächst gilt es Emotionalität, genauer emotionale Toleranz, als konstitutiv für Lernprozesse anzuerkennen und Empathie für die fremde Sprache,

938 ihre Menschen und deren Soziokultur zu entwickeln. Das soll dazu befähigen, Verschiedenartigkeit nicht als bedrohlich abzuwehren, aber auch nicht unreflektiert der eigenen Identität überzustülpen. Erst in der Konfrontation mit anderen Identitäten nehme ich die eigene spezifisch wahr; diese individuell ausgeprägte Wahrnehmung bedarf des Korrektivs gemeinsamer Reflexion in der Interaktion mit konkurrierenden Wahrnehmungen. Auch wenn diese generalisiert und typisiert als Mentalitäten (Mog 1992), Kulturstandards (Thomas 1996) oder Kodierungen (Freire 1973) gefasst werden, stellen sie keine neuen Nationalcharaktere oder Landesbilder dar. Die Wahrnehmung und die Interpretation sind dynamische Interaktionen, die nicht ethnozentrische Beschränkung und Vorurteile hervorbringen, sondern die Kulturgebundenheit und die individuelle Bewertung von Wahrnehmung bewusst machen. Die eigene Sicht der Dinge und Menschen wird als eine Perspektive unter anderen deutlich, woraus sich die Notwendigkeit des Perspektivenwechsels ergibt, wenn ich Fremden gerecht werden will. 4.2. Kognitive Dimension Nur schwer zu trennen von der emotionalen Dimension ist die kognitive. Wie man affektiv auf kognitiv erworbene Kenntnisse reagiert, so motivieren Interessen und Gefühle zu Fragen und zur Aneignung von Wissen. Um einen anderen nicht nur zu tolerieren, sondern auch zu verstehen, muss man etwas von ihm wissen; je mehr ich von ihm weiß, desto erfolgreicher wird die Kommunikation sein. Beim Erlernen einer Fremdsprache erwerben wir vielfaltiges Wissen, aber wir agieren dabei, weder was die Fakten noch was die Strategien zu ihrer Rezeption anbelangt, als Anfänger. Darüber hinaus hat fast jeder, der sich einer neuen Sprache und Kultur zuwendet, Kenntnisse über diese: Persönliche Erfahrungen, Informationen aus den verschiedenen Medien und dazu die ständig anschwellende Datenmenge im Netz. Das heißt, jeder weiß heute viel und hat bald die Möglichkeit, das gesamte angehäufte Wissen abzurufen. Beim Recherchieren wird es immer leichter werden, zu Ergebnissen zu kommen, dafür schwieriger, sinnvoll und zielgerichtet mit ihnen umzugehen. Ein erstes Ziel des Fremdsprachenunterrichts muss es daher sein, das in unterschiedlichem Umfang vorhandene soziokulturelle

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Wissen, wie auch Fehlstellen, bewusst zu machen. Auch wenn ein umfassendes Wissen nur einen (tendenziell abnehmenden) Teil des verfügbaren über eine fremde Soziokultur darstellt, darf landeskundliches Lernen nicht auf das Erlernen von neuen Fakten reduziert werden und das Ideal enzyklopädischen Wissens verfolgen. Da Fremdsprachenlernende über Strategien zum Erwerb von Wissen verfügen, gilt es, diese bewusst zu machen und zu übertragen. Der Dialog mit anderen bei der Analyse von Texten ebenso wie bei Recherche in der eigenen oder fremden Umgebung ist hierfür die geeignete Situation, in der Sprachlernen und -handeln nicht nur das Wissen um Fakten erweitert, sondern auch seine Anwendung im deutschsprachigen Kontext vorbereitet. Gerade die Reflexion der Informationsaufnahme im Bereich soziokulturellen Lernens verdeutlicht ihre generell gültigen Mechanismen: Aufgenommene Informationen werden kategorisiert, generalisiert und akzentuiert. Die jeweiligen Kategorien, die Zuordnung zu generellen Merkmalen und die Betonung von Homogenität wie Heterogenität sind kulturell unterschiedliche Verhaltensweisen, die sich historisch verändern. Ein besonderes Augenmerk werden sowohl der Anfänger- wie der Fortgeschrittenenunterricht in der Landeskunde bald den Neuen Medien als universeller Wissensquelle und als verfügbarem Raum für Sprachbegegnung widmen. Neben den affektiven werden operative Strategien zur autonomen Nutzung dieses Angebots an Bedeutung gewinnen. 4.3. Handlungsbezogene (pragmatische) Dimension Alle landeskundlichen Kenntnisse und Vorgehensweisen, Kompetenzen und Zielsetzungen finden als Themen oder Strategien Verwendung im aktiven Spracherwerb und vor allem -gebrauch. Darüber hinaus bewähren sich Haltungen und Einstellungen, wie sie bei landeskundlichen Lernen im Umgang mit dem Fremden entwickelt wurden, auch im schulischen Alltag, beim Einüben sozialer Kompetenzen z.B. Jedoch müssen die jeweiligen Aufgaben hierzu bewusst Situationen, dialogisch und sozial, planen, denn Erkenntnisse und Einstellungen führen nicht automatisch zu Veränderungen im Umgang mit anderen. In der Sprachpraxis bieten sich vielfältige Möglichkeiten, durch authentische Texte und reale Situationen im Stadium der Einübung bestimmter Strukturen neben der sprachli-

96. Landeskundliches Lernen und Lehren

chen auch eine thematische Progression zu verfolgen. Interkulturelles Lernen als Prinzip eines Unterrichts, der Verschiedenheit als Normalität versteht und Offenheit neuen Erfahrungen gegenüber betont, kann sich besonders im Fremdsprachenunterricht entfalten, nämlich durch das Erlernen der anderen Sprache und die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit einer fremden Soziokultur. Landeskundliches Lernen stellt hierfür eine Vielzahl von Themenbereichen bereit und übt erforderliche Strategien des Wissenserwerbs und der Sensibilisierung von Wahrnehmung ein. Arbeits· und Sozialformen erfahren in simulierten oder realen Situationen eine praktische Bestätigung. 5.

Aufgaben und Ü b u n g s f o r m e n

Landeskunde als soziokulturelle Fundierung und Handlungsraum ist nicht nur in den Fremdsprachenerwerb integriert, sondern kann selbst integrierend wirken bei den vielfaltigen Begegnungen mit der fremden Sprache. Zum einen werden Textzeugnisse und Materialien danach zu befragen sein, ob sich daraus soziokulturelles Wissen erschließen, einzelne Lernschritte, ob sich damit die nötigen Strategien erarbeiten und anwenden lassen. Zum anderen müssten demnach aber auch „rein sprachliche" Übungen jeweils schon im Anfängerunterricht aus komplexen Aufgabenstellungen entwickelt werden. Aufgaben zur Soziokultur eines Landes beziehen sich umfassend auf eine reale Begegnungssituation, die von einem deutschsprachigen Kontext aus formuliert wird, die aber eigenes Weltwissen anspricht und eine Kommunikation darüber in Gang setzt. In einzelnen Übungen werden bestimmte Redemittel, die für die Versprachlichung gebraucht werden, oder Strategien, mit denen entschlüsselt oder nach denen gehandelt (kommuniziert) wird, bewusst gemacht und eingeübt. Neben dem individuellen Weltwissen sind auch die Lernergruppe sowie Lernort und Lernziele als maßgebliche Faktoren zu berücksichtigen; eine überregional und universell gültige Aufgaben- und Übungstypologie steht dazu in Widerspruch. Im folgenden werden auch nur Angebote aus den maßgeblichen Bereichen soziokulturellen Wissens vorgestellt, aus denen regional- und zielgruppenspezifische Aufgaben und Übungen entwickelt werden können.

939 Entsprechend den Dimensionen landeskundlichen Lernens zeichnen sich drei Aufgabenfelder ab: Fremdheit erfahren: Interkulturelles Lernen für grenzenlose Kommunikation Fremde kennen lernen: Wissenserwerb und Erweiterung von Wissen Fremde erleben: Kontakt und Begegnung a. Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht bereitet auf Kommunikation und Handeln nicht durch die Summation von Wissen über, sondern durch Sensibilisierung für die fremde Soziokultur vor. - Eine erste Gruppe von Aufgaben fragt nach der Wahrnehmung in unterschiedlichen Situationen. In einem ersten Schritt werden diese als Hör-, Lese- oder Seh-Hör-Text mit den erlernten Techniken und Strategien aufgenommen und in einen Kanon von Bekanntem eingeordnet. Im anschließenden Austausch mit der Lernergruppe oder den Lehrpersonen zeigen sich Unterschiede: die gleiche Realität (sprachliche Laute, Sätze ebenso wie unerklärliche Verhaltensweisen von Personen) wird ganz verschieden wiedergegeben und jeder bezieht unterschiedliche Handlungsanweisungen daraus. Die Erkenntnis, dass Wahrnehmung subjektiv erfahren, die Analyse, welche Interessen und Erfahrungen dafür verantwortlich sein können und das Bewusstmachen, mit welchen Auswahlkriterien Kenntnisse und Wissen erweiterbar sind, werden durch solch komplexe Aufgaben erreicht. Darüber hinaus werden Strategien des Wahrnehmens, Deutens, Vergleichens und Wertens als spezifische Ausformung der eigenen Soziokultur verdeutlicht und reflektiert, um sie bewusst auf eine fremde beziehen zu können. Sensibilisierung bezieht sich ebenso auf die Ebene der soziokulturellen Inhalte, der Bedeutungen. Anhand von Übungen (Assoziogramme, Netze, Kontextualisierungen) zu einzelnen Begriffen erkennen die Lernenden, dass Zuordnungen analog zum eigenen System von Begriffen bzw. Bedeutungen für die Fremdsprache nicht ausreichend sind. Indem sie so das eigene System bewusst erfahren, lernen sie zu entscheiden, wie einzelne Wörter und Ausdrücke in jeweils zu bestimmenden Situationen zu erschließen sind. Sowohl bei Fremd-Wahrnehmung als auch Bedeutungserschließung rekurrieren wir auf eigenkulturelle Erfahrungen, sehen etwas als „Anderes", weil es als Kontrast zum „Ei-

940 genen" erscheint. Aufgaben zum Vergleich von soziokulturellen Phänomenen müssen zunächst Urteile und Typisierungen darauf hin untersuchen, inwieweit es sich um Vorurteile und Stereotype handelt. Diese entstehen, wie zu zeigen ist, durch Wertungen (ist das Fremde überhaupt nicht einzuordnen, „unvergleichlich", wird es abgelehnt) und inadäquate Vergleichsebenen. Beim Deutschen als plurizentrischer Sprache lassen sich Bedeutungen binnenkontrastiv Phänomene der Soziokultur, die in den deutschsprachigen Ländern selbst unterschiedlich sind (das Verhältnis des Bürgers zum Staat, ausgedrückt in den unterschiedlichen Modellen von Partizipation ζ. B.) miteinander vergleichen. Ihre Vielfalt ermöglicht die Einsicht, dass es sowohl unterschiedliche Perspektiven bei der Definition des Verhältnisses wie auch gänzlich andere Lösungen geben kann. So lassen sich Einstellungen wie Perspektivenwechsel und Differenzierung verdeutlichen, ohne betroffen und wertend auf die eigene Kultur Bezug nehmen zu müssen, sondern sich neugierig und fragend der anderen zu nähern (Beispiele: Sichtwechsel neu; Schümann 1998). b. Die Fähigkeit, Wahrnehmung, Interpretation und Deutung zu unterscheiden, erfordert ebenso wie die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel Wissen über die fremde Soziokultur. — Schon im Anfangerbereich kann eine Bedeutungserschließung oder ein Bezug auf Inhaltsphänomene strategisch als Vermittlung von Sicherheit (über das Wissen wird verfügt) oder Motivation (es kann erschlossen werden) eingeführt werden. Sowohl Kenntnisse als auch Strategien zur Suche nach Informationen, ihrer Klassifizierung und ihrer Verwendung für die eigene Kommunikation sind auf die fremdsprachliche Situation zu übertragen. Als Aufgabentypen bieten sich besonders Recherchen zu einzelnen Bedeutungen oder Sachverhalten an, in der Realität wie in fiktionalen Texten und in Datenspeichern. — Fragen nach den Verhältnissen in den deutschsprachigen Ländern suchen nicht nur Entsprechungen zu einzelnen Fakten der eigenen Soziokultur, sondern beziehen sich aus dem eigenen Vorwissen heraus auch auf thematische Bezüge und die Verortung im jeweiligen System. Kenntnisse werden nur in Netzen verstanden, eine entscheidende Voraus-

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setzung zum selbständigen Wissenserwerb ist demnach die Fähigkeit, solche Vernetzungen zu entdecken. Als Strategien, von vorhandenem Wissen aus sich neue Gebiete zu erschließen, sind für das landeskundliche Lernen vor allem das System der Suchfragen und des Generierens von Themen (Freire) erfolgreich angewandt worden. - Eine besondere Rolle beim soziokulturellen Lernens nehmen Bilder ein. Aufgaben zur produktiven Rezeption von Bildern und der in ihnen enthaltenen Informationen beginnen mit Übungen zur Bildbeschreibung, aus der Fragen entwickelt werden können, die den jeweiligen Inhalt entschlüsseln helfen. Die Strategien zur Entnahme von Informationen aus Bildern gehören heute zu den am ehesten entwickelten Fähigkeiten und lassen sich von Beginn an im Fremdsprachenunterricht verwenden. - Die neuen Medien drängen mit einem breiten Angebot in alle Bereiche des Lernens. Und in der Tat könnte ihr Angebot an authentischen, aktuellen, vielfältigen und jederzeit verfügbaren Texten und Materialien jeder Art vor allem die kognitive Landeskunde verändern. Auch wenn bisher in Aufgaben eher die Methoden und Strategien, die sich beim Umgang mit Wissen in Printmedien bewährt haben, übertragen werden und die technische Beherrschung das größte Problem darzustellen scheint, zeichnet sich eine spezielle Aufgabenstellung für landeskundliches Lernen ab: Internet-Recherchen, Materialaustausch mit anderen Deutschlernenden, zeitgleiche Kommunikation ζ. B. (Beispiele in „Typisch deutsch?"; Hackl et al. 1998; Schümann et al. 1998). c. Die pragmatische Dimension landeskundlichen Lernens führt die aus pädagogischen oder organisatorischen Gründen getrennt erarbeiteten und geübten Einzelkenntnisse und Fähigkeiten in der praktischen Anwendung wieder zusammen; sie stellt die geforderte Verbindung von (schulischem) Lernen und Anwendung in realen Situationen her. Interkulturelles Verständnis, kommunikativer Sprachgebrauch und soziokulturelles Wissen als konkretes Sprachhandeln sind für die Fremdsprachenlerner im Projekt zusammengeführt. Dabei ist das Projekt im Idealfall konkrete Forschung zu neuen Gegenständen oder noch unbekannten Facetten derselben und praktische Anwendung des bisher Gelernten.

96. Landeskundliches Lernen und Lehren

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— Projektorientiertes Arbeiten konfrontiert die Lernenden mit authentischen Situationen. Aufgaben, die sich stellen, sind: Freier mündlicher oder schriftlicher Ausdruck in der Begegnung mit anderen, Training dieser Fertigkeiten durch Rollen- und Planspiele bzw. umfänglichere Simulationen, Bewältigung von Alltagssituationen durch eigene Entscheidungen. — Das Verständnis authentischer Materialien wird durch gezieltes Training (Übungen mit Zeitungen, Radiosendungen, Interviews von Muttersprachlern, fremdsprachigen Filmen u. a.) der rezeptiven Fertigkeiten im Rahmen von Klassenprojekten vorbereitet. — In Großprojekten wird die Trennung von „Schule und Welt" praktisch aufgehoben, dadurch wird Sprache direkt mit Handeln verknüpft. Das Produkt als Ergebnis des Projekts löst ein „Problem" (einen Aspekt der Soziokultur), das die Lernenden betrifft, das sie erkunden wollten und dessen Erklärung sie an andere weitervermitteln können. Die Erfahrungen der Lernenden, ihr Weltwissen, geht in Auswahl, Planung und Durchführung des Projekts ein, neues Wissen ergänzt das mitgebrachte und ermöglicht so neue Erkenntnisse und Perspektiven. Gruppen- und Partnerarbeit werden als notwendige Sozialformen zum erfolgreichen Abschluss der gestellten gemeinsamen Aufgabe erfahren (Als Beispiele aus dem kaum noch überschaubaren Angebot seien lediglich Wicke und Schümann et al. erwähnt).

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XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

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97. Textarbeit 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Zum Begriff Textarbeit Leseforschung im Hinblick auf Textarbeit Lese- und Textdidaktik Textarbeit mit literarischen Texten Materialien für die Textarbeit Literatur in Auswahl

1.

Z u m Begriff Textarbeit

„Textarbeit (= Arbeit an, mit und nach Texten)", so definiert Piepho (1990, 4) den Gegenstandsbereich dieses Beitrags. Er umreißt damit ein weites Verständnis von Textarbeit, das das Verstehen von Texten ebenso wie das Nach- und Weiterschreiben, also auch Formen der Textproduktion umfasst. Eine solche Textarbeit beginnt mit den Lehrbuchtexten und reicht bis zu komplexen literarischen Texten im Fortgeschrittenenunterricht; bei einigen Autoren schließt der Begriff das „(weitgehend) frei kommentierende, begründende, urteilende Sprechen/Schreiben" ein (so Nissen 1995, 286f.; vgl. die Artikel 9 3 95). Überwiegend wird der Begriff jedoch in einem engeren Sinne gebraucht und zielt dann auf die Arbeit mit komplexeren, längeren Texten insbesondere im Fortgeschrittenenunterricht, konzentriert den Blick also auf das (Lese-)Verstehen. Diese Vorstellung von Textarbeit im engeren Sinne steht auch im Zentrum dieses Artikels. Die Übergänge zwischen einem solchen engeren, auf die Rezeption zielenden, und einem weiteren, die Textproduktion einschließenden Verständnis von Textarbeit sind allerdings fließend, etwa wenn es um das Weiterschreiben, Umschreiben oder Kommentieren einer Textvorlage geht (vgl. Krumm 1990) und sollen daher auch im folgenden nicht ausgeklammert werden. Nissen unterscheidet drei Aufgabenbereiche der Textarbeit, die diesen fließenden Übergang vom Textverstehen

im engeren Sinn zur Sprachproduktion verdeutlichen: Die drei Aufgabenbereiche sind: I. der der oberflächlichen oder „direkten" Textaussage (Comprehension), II. der ihrer Struktur, Implikationen, Richtung, der „indirekten" Aussage des Textes (Analysis oder Analysis and Comment) und III. der des Bezugsrahmens von Deutung, Bewertung, Stellungnahme, vielleicht auch Meinung (Comment, vielleicht auch Opinion). (Nissen 1995, 287) Im weiteren Verständnis von Textarbeit wäre als vierter Aufgabenbereich der des kreativen Umgangs mit der Textvorlage (,kommunikative Textarbeit') hinzuzufügen. 2.

Leseforschung im Hinblick auf Textarbeit

Seit den 70er Jahren befassen sich immer mehr Wissenschaften (Neurolinguistik, Gedächtnispsychologie u.a.m.) mit der Frage, was vor dem, beim und nach dem Lesen eines Textes grundsätzlich im Kopf eines Lesers vor sich geht, welche Übereinstimmungen zwischen muttersprachlichem und fremdsprachlichem Lesen bestehen und worin sich die Prozesse unterscheiden. Die vielfältigen Ergebnisse haben unter einzelnen Aspekten oder als „Gesamtertrag" (Karcher 1988, 229) in der Fremdsprachendidaktik, speziell der fremdsprachlichen Lese- und Textdidaktik zu weitreichenden Konsequenzen geführt. Lesen, so lässt sich der Erkenntnisstand der Leseforschung pauschal zusammenfassen, ist ein komplexer Prozess, bei dem der Leser verschiedene Ebenen der Sprache (Grapheme, Wörter, Satzstrukturen, Bedeutungen

97. Textarbeit

der einzelnen Wörter und in ihren Verbindungen) wahrnimmt, erkennt und zueinander in Beziehung setzt, so dass er Bedeutungen erarbeitet und Sinnzusammenhang schafft. Wir wissen aus Erfahrung, dass dieser Prozeß bei „geübten" Lesern in der Muttersprache wie automatisch abläuft, dass wir gar nicht anders können, als Sinn zu stiften. Lesen ist also ein aktiver Prozess, den jeden Leser ,anstrengt', ob er nun „geübt" ist, also fließend liest, oder „ungeübt", weil er in der Muttersprache noch nicht viel gelesen hat. Ein geübter Leser aber kommt auch in die Rolle des langsamen, rätselnden Lesers, dann nämlich, wenn er inhaltlich nicht gut informiert oder für einen fremdsprachigen Text nicht kompetent genug ist. Erst dann, wenn er verlangsamt und bewußt an die Sinnsuche geht, wird deutlich, dass er nicht nur aktiv, sondern auch interaktiv mit dem Text umgehen muss. Er nimmt Informationen aus dem Text auf (datengeleitetes Lesen, bottom up), braucht zu deren Verstehen sein sprachliches und inhaltliches Wissen, bringt weiteres Wissen auf allen Ebenen des Textes hinzu (schemageleitetes Lesen, top down), verbindet dies miteinander, erkennt in den Bezügen neue Bedeutungen, überprüft Gelesenes und stellt so Zusammenhang her; er ordnet Erlesenes in sein eigenes vorhandenes Wissen ein, ergänzt und erweitert das eine mit dem anderen und bewegt sich so hin und her in einem interaktiven Prozess, bis er Bedeutungen und den Sinn des ganzen Textes zu verstehen meint (vgl. Westhoff 1987; 1997). Bei diesem interaktiven Prozess entsteht als Ergebnis nicht ,die objektive' Aussage des Textes, sondern ein vom Leser mit dem Text entwickelter Sinn. Es entsteht nicht unbedingt „mehr", im quantitativen Sinn, als der Text allein enthält (Solmecke 1993, 28), mit Sicherheit aber etwas jeweils Neues insofern, als das Verstehen eines Textes ein persönlicher, „kreativer Akt" des Lesers ist (Bredeila/Christ 1996). Alle Autoren betonen die wichtige Rolle des Wissens der Leser für das Verstehen des Textes und ziehen daraus Schlussfolgerungen für die Auswahl der Texte (vgl. Krumm 1990; Neuner 1990). Mit dem Begriff „Wissen", „Weltwissen", bzw. „Vorwissen" ist ursprünglich mehr als eine Menge von Kenntnissen gemeint: Auf der Ebene von Wortbedeutungen schon haben wir es mit Konnotationen zu tun, auf der Ebene der Sinnkonstitution spielt die Persönlichkeit des Lesers eine wesentliche Rolle. Es geht um Erfahrungen, die die Leser beim Erwerb der jeweiligen Kennt-

943 nisse und danach mit diesen gemacht haben; diese Erfahrungen sind persönlich und kulturell geprägt. Die Lesedidaktik hat seit den 70er Jahren daher die lernenden Leser und deren Voraussetzungen, ihr Weltwissen, ihre Lesererfahrung in der Mutter- und in anderen Fremdsprachen ins Zentrum gerückt, all das, was Leser in den Leseprozess einbringen können, was das Verstehen fördert, was jedoch auch, ζ. B. bei kultureller Fremdheit, zu Missverständissen führen kann (Bredella/ Christ 1996). Die Vorstellung davon, dass Textarbeit nur möglich ist, wenn der Leser eigenes Wissen mitbringt, das Anknüpfungspunkte für einen neuen, fremden Text bietet, steht jedoch in der Gefahr einer verkürzten, ausschließlich kognitiven Sichtweise. Wissen entsteht auf der Basis von Erfahrungen in der frühesten Kindheit: in den ersten Beziehungen mit Menschen und der umgebenden Welt. Diese Erfahrungen sind zunächst nicht kognitiv, sondern ganzheitlicher Natur, umfassen neben den kognitiven vor allem auch affektive Komponenten, die sich gemeinsam im Laufe der Entwicklung als „Repräsentationen" bzw. „Schemata" im Gedächtnis (ab)bilden. Wer Wissen im Fremdsprachenunterricht für den aktiven Leseprozess abruft, der ruft also in der Regel auch die damit verbundenen Affekte auf. Wer Wörter abruft, ruft damit auch persönliche affektive und kulturelle Konnotationen auf (zur Einheit von affektiver und kognitiver Sprachverarbeitung vgl. die Beiträge in Bausch u.a. 1998), zunächst natürlich muttersprachige. Affekte sind als Grundaffekte (Erregung, Interesse, Freude etc.) bereits vor den kognitiven Entwicklungsprozessen da und regeln später in Verbindung mit diesen das Verhalten. So wie man mit den kognitiven Schemata Affekte aktivieren kann, so mit den Affekten auch Vorstellungen, in einem späteren Entwicklungsstadium auch Antizipationen und Phantasien (Moser/Zeppelin 1996). Die Bedeutung von Affekten beim Lernen fremdsprachlichen Lesens wird durchaus betont und begründet, allerdings fast ausschließlich im Bereich der Motivation. Im Hinblick auf die „Wissensaktivierung", d.h. die Nutzung vorhergehender Erfahrungen wird dagegen die Verbindung von affektiven und kognitiven Momenten nicht immer ausreichend berücksichtigt. Das liegt zum Teil an der noch rudimentären Forschung über die affektiven Komponenten (Karcher 1988, 11). Motivation ist demgegenüber zentraler Gegenstand der Forschung: Dabei geht es vor allem um

944 die Anfangsmotivation, die das „Durchhaltevermögen" (Lutjeharms 1988, 51 f.) stärken soll. Diskutiert werden „affektive Mobilisatoren" (Karcher 1988,231) für die Informationsvermittlung vor, bei und nach der kognitiven Textarbeit mit Sachtexten. Lediglich den literarischen Texten wird eine größere Chance, Affekte durch Inahlte auch während des Leseprozesses zu beleben, eingeräumt. Das hat die literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung auch grundsätzlich nachgewiesen (Groeben 1982; Vorderer 1988). In der Leseforschung jedoch wird letztlich nur jenen affektiven Anteilen Aufmerksamkeit geschenkt, die die Lesebereitschaft erleichternd bzw. behindernd beeinflussen. Das kann erklären, warum lediglich von Affekten wie „Überraschung, Ärger, Schuldgefühlen, Scham" (Karcher 1988,231) die Rede ist. Aus eigenen Leseerfahrungen und aus der Forschung über die Rezeption literarischer Texte kennt man auch ganz andere Leseaffekte und Leseeffekte: Irritation, angenehme Überraschung, Freude, Trauer, Aha-Erlebnisse, die sich auch beim fremdsprachlichen Lesen erleben lassen. Auch wenn also unter den Autoren Einigkeit darin bestseht, dass das Leseverstehen ein kognitiv-affektiver Prozess ist, sind in Lesemodellen und Leseeinheiten die affektiven Anteile beim Lesenlernen eher eine Randerscheinung. In den Zielsetzungen von Leseprogrammen und Curricula für die Textarbeit sind Hinweise auf die affektive Dimension vertreten, in der Vermittlungspraxis, ζ. B. im Bereich von Übungen und Aufgaben werden dann jedoch nur kognitive Prozesse zugelassen und Affekte nur als implizit wirksam am Rande gesehen; das aber reicht nicht aus, will man den Lernenden gerecht werden. Affektive Anteile beim Aktivieren des Leserwissens für das Lesenlernen in der Fremdsprache sind — das zeigen die Arbeiten von Bredella/ Christ 1996; vgl. auch Caspari 1994 - nicht mehr wegzudenken, auch wenn sie nur schwer erforschbar (Lutjeharms 1988, 51 f.) und als komplexe Affekte nicht zu messen sind, auch wenn sie im Unterricht nicht gezielt und sicher zu manipulieren sind, sie sich oft nicht direkt manifestieren, nicht bei jedem gleich und vergleichbar, wenn sie also bei der Evaluation und Zensierung quantitativ nicht in den Griff zu bekommen sind. Erkenntnisse der Leseforschung sind also keineswegs durchgängig in der Lese- und Textdidaktik angekommen. Allerdings wird auch vor zu schnellen Übertragungen der Leseforschung in die Unterrichtspraxis gewarnt.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Ehlers (1998, 9) weist daraufhin, dass die Leseforschung vielfach auf Laborexperimenten bzw. der Untersuchung elementarer Lesevorgänge basiert, die keineswegs eine direkte Anwendung auf die Lehr-Lerasituation des Fremdsprachenunterrichts erlauben: „Lesen ist ein Vorgang, der von einer Vielzahl von Variablen bestimmt wird, wie Interesse des Lesers, Vorwissen, Fertigkeitsniveau, Textsorte und -Schwierigkeit, und die in jedem Zeitmoment zusammenspielen. Findet das Lesen unter fremdsprachlichen Bedingungen statt, verkompliziert sich die Situation um noch weitere Faktoren, die das Lesen beeinflussen, wie die bereits in der Muttersprache erworbene Lesefähigkeit." (Ehlers 1998, 9).

So hat sich die Unterrichtswirklichkeit beim Lesen fremdsprachiger Texte bis in die Gegenwart vielfach kaum geändert. Fremdsprachenlernende lesen nicht mit Vergnügen, sie lesen nicht schnell, verstehen nicht mühelos, nicht „automatisch" wie in der Rolle „geübter" Leser von muttersprachigen Texten. Sie werden zu „ungeübten" Lesern, wenn sie fremdsprachige Texte vor sich haben und den Sinn entziffern sollen/wollen. Sie haben Probleme auf allen sprachlichen Ebenen, nicht nur mit einem evtl. zu schwierigen, weil fremden Inhalt. Alltagstheorien im Lehrerzimmer halten sich, dass die Lernenden hauptsächlich die Wortbedeutungen und Syntaxregeln noch nicht genügend beherrschen, also nur noch fleißiger lernen müßten, um leichter zu lesen. Es geht aber um mehr und anderes: Mangelnde Geübtheit im Wahrnehmen und Wiedererkennen von zwar gelernten, jedoch noch relativ wenig vertrauten Wörtern, Wortverbindungen und syntaktischen Erscheinungen sowie im Umgang mit unbekannten oder teilweise fremden Inhalten verursachen offensichtlich ein anderes Verhalten als beim muttersprachigen Text. Lernende ,vergessen' die eigenen so wichtigen Kenntnisse über die angesprochenen Inhalte, auch bei selbst gewählten Themen. Im Unterricht hat man den Eindruck, Lernende setzten bei jedem fremden Text sprachlich und inhaltlich fast wieder bei Null an. Beim ersten fremdsprachlichen Problem werden sie unsicher, unterbrechen den Leseprozess, verharren bei einzelnen unerkannten oder unbekannten Wörtern und geben auf. In der Erhebung der Einstellungen von Schülern und Schülerinnen zum Fremdsprachenlernen, die Kallenbach — allerdings bei deutschen Oberstufenschülern eines Spanischkurses - durchgeführt hat, taucht Textverstehen, das Kennenlernen von Welt durch Texte, nicht als eigenes Thema auf: die mündliche Sprachverwendung und die berufliche

97. Textarbeit

Verwertbarkeit stehen im Mittelpunkt der Sprachlernmotivation. Unbekannter Wortschatz wird als eines der Haupthindernisse beim Lernen gesehen (Kallenbach 1996). Das hat auch bei zunächst interessierenden Themen zur Folge, dass aus anfanglicher Motivation der Lernenden Langeweile und Abkehr werden, sich Interesse und Wißbegier affektiv umkehren. Demgegenüber geht die Lesedidaktik davon aus, dass Erkenntnisse über das Funktionieren von Verstehen und die aktive Vermittlung von Lesestrategien zu einem bewussten, erfolgreichen und daher auch motivierten Lesen beitragen können (vgl. Bimmel 1990). 3.

Lese- und Textdidaktik

3.1. Aufgaben und Übungen Bei der Entwicklung und Beurteilung von Aufgaben und Übungen zur Förderung des Leseverstehens spielen je nach Lernstufe unterschiedliche Aspekte des komplexen Lernund Verstehensprozesses eine zentrale Rolle. Auf den sprachlichen - „unteren" — Ebenen findet man eine Vielfalt von Übungen, die das Erkennen, Wiedererkennen von Morphemen, Wörtern, Wortverbindungen, Wortgruppen, von Wortbedeutungen z.T. spielerisch trainieren (vgl. u. a. Solmecke 1993, 22). Westhoff (1987; 1997) hat auf der Grundlage von Erkenntnissen der Leseforschung ein Trainingsprogramm entwickelt, das die Nutzung von Vorkenntnissen in fünf Bereichen trainiert bzw. diese Vorkenntnisse schaffen hilft: 1. Wahrscheinlichkeit von Buchstabenkombinationen 2. Wahrscheinlicher Verlauf von Sätzen 3. Wahrscheinlichkeit von Wortkombinationen 4. Logische Strukturen 5. Beschaffenheit der Welt (Westhoff 1997, 58 fT.). Sinnstiftende Konnektoren ζ. B. helfen, die logische Struktur eines Textes zu durchschauen (vgl. auch Kast 1990, 24). Mit Hilfe solcher Übungen an einem dafür ausgewählten oder zubereiteten Text sollen die Lernenden „geübter" gemacht werden in ihrer Aufmerksamkeit auf allen sprachlichen Ebenen eines Textes und in ihrem Vertrauen auf schon vorhandene Kenntnisse. Sie trainieren dabei Lese- und Verstehensstrategien, die das Suchen, Kombinieren, Erschließen, Vor- und Rückgehen im Text geläufig machen und dem

945 entmutigenden Wort-für-Wort-Lesen entgegenwirken sollen. Das ist ein langwieriger Prozess (Lutjeharms 1988), der viel Übung voraussetzt, wenn es gelingen soll, diese Teilfertigkeiten unter Nutzung der inzwischen erworbenen sprachlichen Kenntnisse beim Lesen von längeren und komplexeren Texten selbständig anzuwenden. Antizipieren, d. h. Nutzung des Vorwissens und erster Textsignale wie ζ. B. Überschriften, begleitender Illustrationen sowie Inferieren, d. h. die Ergänzung dessen, was im Text steht, durch eigenes Welt- und Sprachwissen, charakterisieren die Suchhaltung, die sich entwickeln muß, damit sich Textverstehen einstellt. In der Lesedidaktik haben sich dafür zwei Verfahren etabliert: Zum einen Übungstypologien, die den Aufbau von Textkompetenz durch systematische Erweiterung der an authentische Texte zu stellenden Aufgaben entfalten, zum andern die explizite Vermittlung von Lesestrategien, mit denen der Leser deutschsprachige Texte ,knacken' kann (Jenkins 1990, 24). In der von Neuner u. a. vorgelegten Übungstypologie wird ein vierstufiges Verfahren vorgeschlagen (Neuner u.a. 1981, 44 ff.): Stufe A: Entwicklung und Überprüfung von Verstehensleistungen: hier geht es um das Erkennen der Schlüsselwörter, der zentralen Aussage und der kontextuellen Einbettung der Texte. Stufe B: Grundlegung von Mitteilungsfáhigkeit: hier steht die Textreproduktion (Stichwörter, Flussdiagramma u. ä.) im Zentrum. Stufe C: Entwicklung der Mitteilungsfähigkeit - sprachliche Ausgestaltung vorgegebener Situationen/Rollen/ Verständigungsanlässe: hier ist die erste Stufe der Textproduktion auf Grund von Vorgaben (Dialogrollen, Bildgeschichten u. ä.) erreicht. Stufe D: Entfaltung freier Äußerung: Redemitteltabellen oder offene Sprechund Schreibanlässe sollen die Mobilisierung des verfügbaren Sprachund Weltwissens für eigene Textproduktion stimulieren — entsprechend Aufgabenbereich III bei Nissen (vgl. Abschnitt 1.). Kritik hat sich an diesem Vorgehen insofern entzündet, als es sich auf kurze Sachtexte beschränkt und der Inhaltsdimension von Texten zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Die Vermittlung von Lese- und Verstehensstrategien hat sich im Gefolge der Ler-

946

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

nerorientierung weitgehend durchgesetzt und auch Eingang in die Lehrmaterialien gefunden (vgl. Art. 105). Buhlmann/Fearns (1987, 236) unterscheiden im Hinblick auf Sachtexte Lesestrategien 1. auf der Textebene wie z.B. Aufbau einer Leseerwartung, Entschlüsselung der Textinformation mit Hilfe von Namen, Zahlen usf., 2. auf der Satzebene wie ζ. B. Konnektoren und Kontextreferenz sowie 3. auf der Wortebene, etwa Kontext, Wortbildungsregularitäten und Internationalismen u. ä. Der ,Schaltplan' von Jenkins (1990, 24, Abbildung 97.1) fasst solche Strategien lernwirksam zusammen. 3.2. Sinnkonstitution und aktivierende Verfahren Die bisher genannten Übungen und Strategien machen die Lernenden auf einzelnen Sprachebenen kompetenter für die komplexe Arbeit an längeren und anspruchsvolleren Texten. Diese hat das Ziel, die Bedeutung des Ganzen zu erfassen. Das inhaltliche Wissen und die affektive Beteiligung sind gerade für Texte in der Fremdsprache gefordert. Sie erlauben, Fehlendes auf den ,unteren', sprachlichen Ebenen auszugleichen (Groeben 1982). Aufgaben für die Sinnerschließung eines vorgeschlagenen Textes beginnen im Prinzip mit dem Aktivieren von Leserwissen, damit der interaktive subjektive Deutungsprozess angeregt werden kann (vgl. auch Abschnitt 4.). Für die Erarbeitung des Textes selbst gibt es eine Fülle von leseraktivierenden Anregungen, die den Verstehensprozess der Lernenden unterstützen (vgl. u. a.: Kast 1985, 49ff.; Caspari 1994, 139ff.; Häussermann; Piepho 1996, 286 ff.). An dieser Stelle kommen auch Schreibaufgaben ins Spiel. Sie dienen als »aktivierende', ,produktorientierte', .produktive' oder auch ,kreative' Verfahren dazu, die persönliche Auseinandersetzung mit Texten mit unterschiedlichen Akzentuierungen zu stimulieren (vgl. Caspari 1994, 54ff.). Erfahrungsgemäß mögen Sprachlerner diese Schreibphasen sehr bald, ja oft sofort gern (vgl. Mummert 1984). Die Untersuchung kreativer Verfahren bei der Textarbeit — mit literarischen Texten - hat ergeben, dass diesen Tätigkeiten aber bei den Lehrenden noch häufig die Vorstellung von mangelndem Ernst anhaftet und daß sie kreative Verfahren eher als vergnügliche, motivationsfördernde Nebentätigkeit betrachten, statt sie in die Textarbeit zu inte-

grieren. Das mag daran liegen, dass die Lernenden nach einer produktiven Phase nicht sonderlich motiviert sind, sich wieder mit der systematischen, analysierenden Interpretation der Textvorlage zu beschäftigen und eine abschließende Gesamtdeutung zu erarbeiten. Der eigene Text und die Texte der anderen Lernenden wirken befriedigend genug. Die damit angedeutete Kontroverse betrifft die Frage, was wichtiger ist: der Text bzw. das richtige Verständnis des Textes oder die Lernenden und ihre persönlichkeitsbezogene Produktivität. Traditionell war einzig der Text wichtiges Objekt. Kreative, aktivierende und produktive Verfahren können ins andere Extrem führen, den Text nur als Stimulans zu benutzen. Im Grunde wird an dieser Kontroverse deutlich, dass es um unterschiedliche Einstellungen geht, die Lehrende gegenüber Lernenden und Texten haben und die ihre Ziele und ihre Arbeitsweise bestimmen. Selbstverständlich können sich Haltungen durch häufigere Erfahrungen mit aktivierenden und kreativen Aufgaben ändern, dann nämlich, wenn die Lernenden durch sie ganz deutlich motiviert und engagiert bleiben, auf die Dauer sogar, wenn der Text dann wieder in den Vordergurnd rückt und sein Sinn weiterhin im Blickfeld bleibt. Dann ist die Synthese als Integration der kreativen Verfahren in die Sinnerstellung des Textes realisiert (vgl. Mummert 1989a). Für die Entwicklung von Sinnverstehen in der Textarbeit hat sich ein Vorgehen in drei Phasen in der Lesedidaktik durchgesetzt: — eine Phase vor dem Lesen, — eine Arbeitsphase beim Lesen, Erlesen des Textes — und eine Arbeitsphase nach dem Lesen der Textvorlage (vgl. Piepho 1990, 5f.): a. Vorbereitungsphase Hier geht es um die Vorbereitung auf die eigentliche Textlektüre. Der Begriff „Vorentlastung" für diese Phase wird zunehmend durch den des ,Leseimpulses' oder ,advance organizing' ersetzt, geht es doch nicht um große Lasten und zu erwartende Belastungen, vielmehr darum, dass die Leser ihr Wissen aktivieren, das sie für ein leichteres und motivierteres Arbeiten zum Einstieg in den Leseprozeß einsetzen können. Unter Aktivieren wird hier das Wissen zum Thema, zu einzelnen Aspekten der Handlung verstanden, ohne dass schon alles ,verraten' werden dürfte. Mit Vermutungen, Assoziationen, dem Sammeln von Sprachlichem, das Inhalte bewußt macht, über die die Lernenden schon

947

97. Textarbeit

Schaltplan zum „Knacken" deutscher Texte

t

Abb. 97.1

verfügen, entwickeln diese im glücklichen Fall Vertrauen in ihre Fähigkeiten, sich den ansatzweise bekannten Inhalt, die vertraute Textstruktur aneigenen zu können. Das bedeutet eine tiefere Anfangsmotivation, die darüber hinausgeht, die Lernenden lediglich bei der Wahl der Themen und Texte zu beteiligen.

Auch sprachliche Aktivierung hat hier ihren Platz. Der Unterschied zum „Vorentlasten" liegt in der Perspektive und Einstellung zu den Aufgaben und Tätigkeiten, die damit verbunden sind. So geht es immer um inhaltlich bestimmte Aufgaben, nicht „reine", sprachliche Vorarbeit. Schon in der Vorphase läßt sich u. a. Empathie anregen.

948 b. Arbeit mit und an dem Text Bei der eigentlichen Erarbeitung eines Textes haben so die Lernenden schon Vorerwartungen aufgrund ihrer aktivierten Kenntnisse. Diese sind schon affektiv, evtl. sogar bewusst affektiv, wenn die Lehrenden bei ihren Anregungen und Aufgaben auf das Affektive gezielt achten. Zur Erarbeitung des Textes sei hier nur soviel gesagt, dass sie u. U. auf allen Ebenen des Textes vollzogen werden muss, um den Verstehensprozess zu unterstützen: auf sprachlicher Ebene in bezug auf den Gedankenverlauf, den Aufbau des Textes, und auf der Ebene der Sinnkonstitution. Es hängt von der Geübtheit der Lernenden und dem Text ab, ob Aufgaben für den komplexen Verstehensprozess schrittweise für alle verschiedenen Ebenen gestellt werden oder ob damit zu rechnen ist, dass die geübten Strategien schon leicht und selbständig von den Lernenden umgesetzt werden, so dass nur noch die Verstehensprozesse auf der Sinnebene einer Bearbeitung bedürfen. Hier lassen sich die schon genannten kreativen, produktiven Verfahren - je nach Text - einfügen: Perspektivenwechsel, Umformen von erzählenden Stellen in Dialoge, Ausweitungen, Füllen von vorhandenen oder durch den Lehrer erstellten Textlücken u. ä. c. Nach dem Erlesen des Textes Die erweiternden Aufgaben nach der Textarbeit schließen die Einzelergebnisse in einer Gesamtschau zusammen (résumé, Umformung des Schlusses etc.) und fordern nun auch die begründete persönliche Stellungnahme (vgl. Häussermann; Piepho 1996, 380 ff.). Hier kann man durch weitere kreative Verfahren die persönlichen, affektiven Anteile der Einstellungen mit ansprechen. Dieses Muster läßt sich auf alle Textsorten anwenden, auch lassen sich für alle Phasen Verfahren finden, die die aktive und interaktive Beteiligung der Lernenden herausfordern. So können die lernenden Leser durch ihre Arbeit mit dem Text sich diesen aneignen, zu ihrem eigenen machen. 3.3. Lernziele Mit den bisher skizzierten Verfahren wird die Textarbeit in den Dienst kommunikativer Ziele des Deutschunterrichts gestellt: Die Lernenden sollen fähig werden, geschriebene Texte eigenständig zu erarbeiten und zu verstehen, das Verstandene zu verarbeiten und zum Ausgangspunkt eigener, mündlicher wie schriftlicher Textproduktion zu machen (vgl.

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Solmecke 1993, 34). Das schließt über den einzelnen Text hinausgehende Zielsetzungen ein: - Textarbeit vermittelt auch Kenntnisse über Leseprozesse in Mutter- und Fremdsprache. Lese- und Verstehensstrategien sollen aber nicht nur als Wissen gelehrt, sondern von den Lernenden persönlich-affektiv erfahren, reflektiert und so erworben werden, dass sie bei unterschiedlichen Texten aktiviert werden können. Ziel ist eine zunehmende Leichtigkeit und Gelassenheit, nicht so sehr Schnelligkeit im Erschließen von Bedeutungen und Zusammenhängen, die zunehmende Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit beim Abrufen und Assoziieren eigener Kenntnisse und Erfahrungen. - Ziel ist aber nicht der wie ein Muttersprachler lesende Fremdsprachenleser, sondern ein Leser, der im Unterschied zum „automatisch", also nicht bewusst sinnerstellenden Leser muttersprachiger Texte grundsätzlich mehr Bewusstheit beim Lesen entwikkelt hat. Diese Bewusstheit stärkt seine Haltung, nicht perfekt sein zu müssen, sondern eben Strategien zu beherrschen und zu benutzen, die immer wieder beim Lesen fremdsprachiger Texte helfen, so dass das Lesen auch von sprachlich und kulturell schwierigen Texten nicht zur Abwehr führt. D. h. dass Textarbeit auch generelle Kenntnisse über den Leseprozeß mitvermittelt. Der fremdsprachliche Leser hat die Gewissheit, einen fremdsprachigen Text, der sein Fremdsprachenniveau und seine Erfahrungen wie Sachkenntnisse auf der Inhaltsebene nicht wesentlich überschreitet, mit seinen Lesestrategien und seinem Wissensreichtum auf allen Ebenen für sich erschließen zu können. Dann nämlich lässt er sich herausfordern. Dann ist der Anfang gemacht, selbst Texte einschätzen zu können, und das heisst ,seine' Texte und Autoren zu entdecken. - Neben der zunehmenden Selbständigkeit gegenüber ,unbekannten' Texten gehört zu den pädagogischen Zielen auch, zur Entwicklung der Persönlichkeit beizutragen. Dies setzt auf seiten von Curriculumplanern, Lehrbuchautoren und Lehrern die Suche nach Texten voraus, die dem jeweiligen Entwicklungsniveau entsprechen und es für eine Weiterentwicklung auch herausfordern (vgl. Ehlers 1992, 74f.). - Ganz entscheidend ist bei der Textarbeit auch, Lernende so selbständig und sicher werden zu lassen, dass sie beim Lesen ihre Affekte ansprechen lassen, sich ihrer bewußt werden

97. Textarbeit

können und sie in ihren Lese- und Verstehensprozess als ihre einbeziehen (vgl. Ehlers 1998, 215 ff. zur Lesesozialisation). Es gilt, drei Bereiche zu berücksichtigen: die Vermittlung von Wissen - über Erfahrungsprozesse - in Verbindung mit Lesetraining, das Affekten ihren wesentlichen Anteil am Lesen und Lernen einräumt und so die Entwicklung vieler zusammenwirkender kognitiv-emotionaler Kompoennten ermöglicht und zur Reflexion und Selbstreflexion anregt. Literarische Texte eignen sich für solche Zielsetzungen in einem besonderen Maße (vgl. Mummert 1989a; Hunfeld 1990). 4.

Textarbeit mit literarischen Texten

4.1. Der Stellenwert der literarischen Texte im Fach Deutsch als Fremdsprache Literarische Texte stellen in der Tradition des schulischen Mutter- und Fremdsprachenunterrichts einen der zentralen Gegenstandsbereiche dar: Zur Lektüre anspruchsvoller literarischer Texte sollte die unterrichtliche Spracharbeit hinführen, an der Lektüre und Interpretation solcher Texte sollten sich die erworbenen sprachlichen Fähigkeiten bewähren. Mit der audiolingualen und kommunikativen Methode rückte dann allerdings die (mündliche) Kommunikation, die auf die Bewährung im Alltag zielende kommunikative Kompetenz in den Vordergrund — für literarische Texte schien im Fremdsprachenunterricht kein Raum mehr zu sein (vgl. Art. 82). In den schulischen Curricula und in der (schulischen) Unterrichtspraxis jedoch haben literarische Texte ihre Bedeutung behalten. Auch in der Fremdsprachendidaktik haben sich literaturdidaktische Ansätze kontinuierlich entfaltet und seit Ende der 80er Jahre an Bedeutung gewonnen (vgl. Mummert 1984, 179ff.; Hunfeld 1990; Caspari 1994). Für das Fach Deutsch als Fremdsprache bleibt der Stellenwert einer literaturwissenschaftlichen Ausrichtung (vgl. Art. 1, Abschnitt 3.4.) jedoch umstritten. Wierlacher (1980) formuliert unter dem Stichwort „Literaturlehrforschung" ein Programm, sich mit dem Literaturkanon in Curricula und Lehrbüchern auseinanderzusetzen und eine auf fremdkulturelle literarische Texte bezogene Leseforschung zu etablieren. Damit dies gelingt, muss sich nach seiner Auffassung die Literaturwissenschaft verstärkt auf die fremdkulturellen Lese- und Rezeptionsbedingungen deutschsprachiger Literatur einlassen. Die

949 Vermittlung von Literatur als einer fremden Literatur bedarf der Mitvermittlung entsprechenden Kontextwissens ebenso wie der Reflexion des Lesestandortes. Unter der Bezeichnung Interkulturelle Germanistik hat dieses Programm seit den 80er Jahren an Profil gewonnen (vgl. u. a. Wierlacher; Stötzel 1996). Kritiker eines solchen Ansatzes bestreiten keineswegs den Sinn der Vermittlung fremdsprachiger Literatur, sie sehen diese jedoch in westeuropäischen Interpretationstraditionen verhaftet, die das asymmetrische Verhältnis gegenüber den Rezipienten nicht reflektiert. Ndong z.B. fordert statt dessen eine ,interkulturelle Literaturwissenschaft', „die eine Kommunikation zwischen Literaturen (gemeint ist: zwischen der deutschsprachigen und der jeweils einheimischen Literatur; d. Vf.) als gesellschaftlichem Ausdruck inszeniert. In einem solchen Dialog behält keine der beteiligten Literaturen das letzte Wort" (Ndong 1993, 123). Während sich die Diskussion um die Interkulturelle Germanistik wesentlich auf die Literaturvermittlung im Hochschulbereich bezieht, lehnt sich die Literaturdidaktik, was die Verwendung literarischer Texte im Rahmen des (vor allem schulischen) Fremdsprachenunterrichts und als Bestandteil des Fremdsprachenlernens betrifft, stärker an die in anderen Fremdsprachenphilologien entwickelte Literaturdidaktik an (vgl. Glaap 1995) und hat aus dieser zentrale Modelle der Textarbeit auch für den fremdsprachlichen Deutschunterricht übernommen. Auch im vorliegenden Beitrag wird Textarbeit in dieser literaturdidaktischen Tradition gesehen. 4.2. Literarische Rezeption in der Leseforschung Grundsätzlich sind die Prozesse beim Lesen sachlicher Texte denen beim Lesen literarischer Texte verwandt. Auch wenn wir an literarische Texte mit anderen Erwartungen herangehen, so stimmen wichtige Prozesse der Sinnerstellung in beiden Lesevorgängen überein: Auch hier geht es auf allen Ebenen um das Zusammenspiel von schemageleiteter und datengeleiteter Verarbeitung, um so mehr und um so intensiver, als literarische Texte häufig im Unterschied zu Sachtexten ihre Aussagen nicht vollständig und logisch geordnet nachvollziehbar darbieten, sondern ausdrücklich so gemacht sind, dass sie durch Unbestimmtheiten, scheinbare Unstimmigkeiten und ,Leerstellen' die Leser affektiv stimulieren. Sie lassen sozusagen Platz für die

950 subjektive Welt des Lesers, die so integrativer Bestandteil des literarischen Werks wird. Die bekannten literarischen Merkmale sind dazu da, Leser auf der sprachlichen wie auf der Inhaltsebene immer wieder zu irritieren, zu beunruhigen, zu Fragen anzuregen, ihre Empathiefahgikeit herauszufordern, so dass sie auch immer wieder ihre eigenen Vorstellungen, Erfahrungen, Kenntnisse, Phantasien hinzuziehen, sich an ihre gefühlsmäßigen Reaktionen erinnern müssen, um sinnerfüllt und mit neuen Hypothesen und Erwartungen weiterlesen zu können. Im Verlauf dieses interaktiven Lesens werden sie zunehmend engagierter, „gespannter", d.h. immer affektiver oder aber kontinuierlich affektiv beteiligt. Sie werden auch irritiert, wenn der Text fremde kulturelle Merkmale enthält, für die sie keine Kenntnisse und Erfahrungen einbeziehen können. Gerade diese Irritation durch fremdkulturelle Texte wirkt in besonderem Maße bewusstseinsbildend und lesemotivierend (vgl. Abschnitt 4.2.). Literarische Texte haben gegenüber Sachtexten den grundsätzlichen Vorzug, dass sie den affektiven Bereich im Leseprozess gerade durch ihre literarischen Besonderheiten ohne Außenimpuls wecken und im Leseprozess intensiveren. Sie „regen dazu an, das, was beim Verstehen und Beurteilen in der Lebenspraxis implizit bleibt und hinter dem Rücken der Handelnden wirkt, ins Bewusstsein zu heben. Nicht nur der Gehalt, sondern vor allem die Darstellungsweise literarischer Texte regt den Leser an ..." (Bredella 1983, 17), so dass — je nach Text und Leser — Affekte wie Spannung, Freude, Angst, Hoffnung, Furcht, Wut, Erleichterung, Befriedigung und Spass entstehen können. Diese Affekte motivieren den Leser unter Umständen so stark, dass er Verstehensschwierigkeiten zu überwinden trachtet, um den Rätseln auf allen Ebenen des Textes auf die Spur zu kommen. Etwas zugespitzt gesagt: Wenn den Lernenden bereits bewusst und vertraut ist, wie das Lesen von literarischen Texten grundsätzlich vor sich geht, dann sind von Lehrenden gestellte Aufgaben überflüssig. Aufgaben gibt der Text bzw. Aufforderungen, sich aktiv und affektiv auf ihn einzulassen. Da Lernende zu dieser Selbständigkeit noch nicht in der Lage sind, müssen die Lehrenden für ihre didaktischen Überlegungen ,nur' die in den Texten impliziten Anregungen aufnehmen und für den muttersprachigen bzw. den fremdkulturellen und fremdsprachlichen Leser zu Aufgaben weiterentwickeln. Wenn das gelingt, dann ist ein

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

literarischer Text besser als ein Sach- oder Gebrauchstext geeignet, die genannten Lernziele zu erreichen. Es gibt selbstverständlich weitere Unterschiede zwischen diesen Textsorten, die auch unterschiedliche Verfahren notwendig machen. Aber wer literarisch lesen kann, kann auch Sachtexte mit fremdsprachlichen Schwierigkeiten erarbeiten. Die erläuterte Suchhaltung erlernt sich besser in dieser Reihenfolge bzw. im Wechsel von Literatur und Sachtexten. Mit literarischen Texten lässt sich von Anfang an unterrichten (vgl. Rrusche 1985, 184ff.). Dann nämlich lässt sich auch die Sprache ganzheitlich lernen: insofern als auch sie Konnotationen enthält, wenn auch teilweise andere als die entsprechenden muttersprachigen Ausdrücke. Auch sie ist doppeldeutig, vieldeutig, lückenhaft, sie ist auch rhetorisch und poetisch, also wirksam, mehr als nützlich für praktisches Handeln, sie ist auch wirksam im Affektiven, spricht von Gefühlen anderer Menschen und spricht unsere Gefühle an, sie ist also bei aller kulturellen und sprachlichen Fremdheit mit der Muttersprache verwandt als eine lebendige Sprache. Das können die Lernenden mit literarischen Texten erfahren, indem sie sie erarbeiten. 4.3. Textsuche Die Frage, welche literarischen Texte sich für den fremdsprachlichen Unterricht eignen, hat zu heftigen Kontroversen in der Literaturdidaktik geführt (vgl. Glaap 1995). Curricula der 90er Jahre nehmen in der Regel Abstand von der Vorschreibung eines obligatorischen Kanons von Texten - in vielen schulischen Curricula ebenso wie im Germanistikstudium existieren solche Kanons jedoch weiterhin. Tuk (1998) zeigt in seiner Untersuchung der Lyrik in niederländischen Curricula die erstaunliche Kontinuität eines solchen literarischen Kanons für den Zeitraum 1913 bis 1990. Er plädiert für die Beibehaltung eines Minimalkanons, der allerdings auf empirischen Untersuchungen zur Wirkung der Texte auf die Lernenden basieren sollte. Immer wieder werden literarische Texte auch als spezifische Vermittlung der Zielkultur gesehen — die ,kulturräumliche Distanz' erfordert hier jedoch eine interkulturelle Lesehaltung: „Nicht nur bei der Verknüpfung des Gelesenen mit eigener Lebenserfahrung, sondern auch bei der Realisierung des „ästhetischen Wertes" insgesamt ist man zu größerem Risiko bereit; man erwartet weniger Bestätigung, dafür mehr Überraschung-, Nicht-

97. Textarbeit verstehen löst weniger Irritation aus, eher Neugier ... Wir sind bereit, weitere Lese-Wege zu gehen, ehe wir auf „Verstehen" zu insistieren beginnen. Auch wenn es befremdlich klingt: Der „fremde" Text hat — möglicherweise —, gerade dadurch, daß wir uns seiner kulturhistorischen Fremde bewußt sind, eine größere Chance, uns zu ,bewegen'. Andererseits werden die eigenen Voraussetzungen des Lesens, die „Vorurteile" des Lesers, unbefangener ins Spiel gebracht..." (Krusche 1985, 139).

Die in den Texten gestalteten Erfahrungen müssen ein wenig über die bei den Lernenden angenommenen Kenntnisse und Erfahrungen hinausgehen, seien diese entwicklungs- und/ oder kulturell bedingt: „Orientierung an den Adressaten bedeutet, dass die lebensweltlichen Erfahrungen der Lernenden nicht als störend empfunden und ausgeklammert, sondern bewusst bei der Auswahl ... berücksichtigt werden." (Glaap 1995, 153). Literarische Merkmale sind besonders geeignet, die anfangliche Lesemotivation mit anderen Affekten neu zu beleben und damit die gesamte Sinnerstellung zu einer engagierten Tätigkeit zu machen. Man kann mit literarischen Kleintexten schon im Anfängerunterricht lesen üben, und wenn das zum interaktiven, suchenden Lesen führt, dann werden auch Lehrbuchtexte zu einer leichteren Arbeit. 4.4. Textarbeit mit literarischen Texten Für die konkrete Textarbeit hat sich eine Orientierung an dem für den muttersprachlichen Unterricht entwickelten literaturdidaktischen Modell von Kreft (1977) bewährt, das sich gut auf den Fremdsprachenunterricht übertragen lässt (vgl. Mummert 1984): 1. Rezeptionsphase: Lektüre, Hören spontane Äußerungen (Zustimmung, Ablehnung, Irritationen, Fragen, Deutungen) 2. Textarbeit: Fragen der Leser an den Text bearbeiten Zusatzinformationen zur Klärung auf allen Ebenen einarbeiten, Interpretationsansatz formulieren, am Text überprüfen, SINNKONSTITUTION. (Selbst-)Korrektur, Bestätigung 3. Reflexionsphase: Hinterfragen der Textaussage, Rückbezug zu der ersten subjektiven Rezeption, Selbstreflexion 4. Erweiterungsphase: thematische Erweiterung, produktiver Umgang mit dem Text oder Thema.

951 Es wird deutlich, wie hier von Anfang an die affektive Stellungnahme der Leser angesprochen wird. Sie ist es, die zu den Fragen an den Text führt, nicht die vorbereitete Batterie von Fragen des Lehrers zur scheinobjektiven Deutung. Damit entsteht eine Deutung, die aus den subjektiven Reaktionen und der Interaktion mit der Textvorlage eine gemeinsam erarbeitete, literaturwissenschaftlich haltbare und stichhaltige Deutung entstehen läßt. Dieses Vorgehen — mit Unterstützung der bewusstgemachten Erfahrung durch literarische Leseprozesse — gelingt in der Muttersprache. Schüler auf der Oberstufe schreiben schließlich selbstbewusste Interpretationen, die ihre geprüfte Wahrheit ausdrükken, wenn man ihre affektive Beteiligung ernst nimmt und sie immer wieder dazu ermutigt, sich selbst beim Lesen ernst zu nehmen. In der Fremdsprache lässt sich dieses rezeptive und aktive Vorgehen sprachlich nur mit fortgeschrittenen Schülern und Studenten durchführen (vgl. Ehlers 1992). Sie sollen dabei nicht zu Pseudo-Literaturwissenschaftlern, sondern zu motivierten Lesern fremdsprachiger Texte werden. Für Sprachanfänger bis zur Mittelstufe empfiehlt es sich, gerade weil die affektive Beteiligung verstärkt werden soll, das Modell im Sinne aktivierender, kreativer, produktiver Verfahren zu modifizieren und daraus ein Modell für „Konkrete Interpretation" zu machen, das den Bedürfnissen und Möglichkeiten von Lernenden gerecht wird, ohne den Text aufzugeben (vgl. Mummert 1989a). Aus dem literarischen Angebot lassen sich Aufgaben entwickeln, die auch mit einfachen sprachlichen Mitteln eine Auseinandersetzung mit dem Text erlauben, wie etwa Hypothesen bilden, Fortsetzungen schreiben, Perspektiven von literarischen Figuren einnehmen, Schlussfassungen umschreiben u. ä. (vgl. Caspari 1994). Bei der Arbeit auf der „oberen" Textebene tragen sie zur Textdeutung ohne Analyse bei, mit der Zentrierung um die persönliche innere Beteiligung an der Textarbeit. Dabei darf der Text nicht vergessen werden: Im Hin und Her zwischen Lesen (im Sinne des Rezipierens) und affektiv-kognitiver Aktivität erfahren Lernende Textarbeit nicht als mühseligen Arbeitsprozeß, sondern als immer erneut oder kontinuierlich motivierte Sinnkonstitution. Konkret wird diese Interpretation dadurch, dass die Lernenden eben nicht über einen Text sprechen müssen, sondern den Text persönlich erweitern und konkret ausformen,

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XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

frei phantasieren bzw. sich vom Text lenken lassen und mit den literarischen Figuren handeln. Sie drücken damit konkret ihre Vorstellungen, Erwartungen, Wünsche, Einstellungen, ihre Urteile aus, entwickeln und zeigen ihre Empathie für vertraute und fremde Figuren, oder aber ihr Befremden. Sie tun das mit ihren Affekten wie Sympathie, Ablehnung, Zuneigung, Zustimmung, Kritik. Sie äußern damit ihre eigene Welt, diese wird innerhalb der Gruppe vergleichbar, d. h. erkennbar und unterscheidbar, auch für jeden selbst. Die Gegenüberstellung mit der Textaussage lässt deren Sinn leichter erkennen, oft sofort begreifen und damit das Eigene im Unterschied zu ihm und zu allen anderen. Reflexion über das Verstandene, die sprachlich so schwierige Metakommunikation, wird so meist überflüssig, es sei denn, die kulturellen Probleme im Text haben zu Missverständnissen geführt, die durch die Gegenüberstellung nicht erhellt werden konnten. 4.5. Ein Beispiel für Anfänger Das folgende Beispiel eignet sich für Jugendliche wie erwachsene Anfänger und soll zeigen, dass und wie literarische Rezeption sich bereits auf einer frühen Spracherlernungsstufe vollziehen lässt. In einer anschließenden Reflexionsphase in der Muttersprache können dann auch noch Kenntnisse über Leseprozesse und besonders über literarische Rezeption erworben werden. Das folgende konkrete Gedicht (zur Arbeit mit Konkreter Poesie im Deutschunterricht vgl. Krechel 1991) wurde von einer französischen Schülerin verfasst (vgl. Mummert 1989b: 22), es folgt hier zunächst ohne Mitteilung des Titels: ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER

ER ER ER

ER ER ER

ER ER ER

ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER ER SIE SIE SIE SIE

Alle Schüler in der Klasse, alle erwachsenen Anfanger können es ,lesen' - zumindest auf der sprachlichen Ebene gibt es keine Probleme, wenn sie die Pronomen gelernt haben. In der Muttersprache können sie nun auch ihre Vermutungen, Einfälle und Reaktionen formulieren und so subjektiv ihren Sinn finden und zur Diskussion stellen. Jugendliche formulierten bei der Erprobung Antworten wie die folgenden: Sie ist weg Sein Herz ist leer Er ist allein Sie ist traurig. - Er auch! etc. Ein Schüler bemerkte einmal, dass SIE mit drei Buchstaben ja auch gar nicht zu ER (ihm) passe, weil die Lücke dafür nicht groß genug sei. Von Erwachsenen kamen Antworten wie die folgenden: Sie sind getrennt. Sie ist gegangen. Warum ist er so groß? Sie sehnt sich nach ihm. Eine typisch traditionelle Ehe Diese spontanen Äußerungen verdeutlichen, dass alle Leser die Pronomen .automatisch' als Figuren ,gedacht' haben und dass alle sich eine Beziehung zwischen beiden vorstellen, in einer verschieden großen, unterschiedlich entstandenen und gearteten Entfernung. Die Deutungen drücken Sympathie für ihn oder sie aus, einige auch die Art des Mitfühlens oder affektiven Reagierens auf den einen oder die andere, niemand bedauert beide Figuren. Bei den Erwachsenen kann man noch eine kritische Beurteilung oder Nachfrage feststellen. Alle machen aus den Pronomen literarische Figuren, setzen sie zueinander in Beziehung, so dass Konnotationen mitklingen. Mögliche fiktive (oder eigene) Erfahrungen, ja ganze Geschichten lassen sich erahnen, von den fortgeschrittenen Lernenden auch schreiben. Das Paradigma in der Grammatik mit allen Pronomen — auch eine Form - könnte diese Wirkung nie haben. Das konkrete Gedicht, die gestaltete Sprache mit all ihren Lücken, ohne jeden inhaltlichen Hinweis über die zwei Pronomen hinaus, lässt eine Vielzahl von Assoziationen entstehen. Und alle sind ,richtig', über den gemeinsamen Nenner herrscht Einigkeit, es handelt sich nicht um beliebige Offenheit. Wenn die Leser nun den von der Autorin für ihre Intention gewählten Titel erfahren: „Sie vermisst

953

97. Textarbeit

ihn", dann entsteht Irritation und das Bedürfnis, das lyrische SIE zu verstehen: der Versuch, sich in ihre Situation zu versetzen und das konkrete Bild neu wahrzunehmen. So also sieht die Frau es, wenn sie ihren Mann vermisst bzw. bei ihm wäre. Dieses kleine konkrete Gedicht erlaubt auch noch die Erfahrung, die wichtig ist in bezug auf das Ziel der Wissensvermittlung über Leseprozesse: In der Muttersprache kann man - auch mit Jugendlichen - reflektieren, was der Text mit welchen Mitteln bewirkt: das Bestimmtmachen der Pronomen zu Figuren, das Herstellen von Beziehungen - ohne weitere Informationen, ohne Verben, Zeit- und Ortsangaben - , die Deutung der Art der Beziehung und die affektiven Zuordnungen. Im Text stehen nur Pronomen aber auf eine bestimmte Weise zusammengesetzt zu einer Form: Sie lenkt das Schaffen von Sinn durch die Leser mit. Wenn Anfänger im Lesen fremdsprachiger und literarischer Texte solche Erfahrungen reflektieren, eigenen sie sich gleich zu Beginn erste Kenntnisse über Leseprozesse an, verknüpfen diese mit dem literarischen Text, behalten diesen und die Leseerfahrung im Gedächtnis und können sie als Wissen leicht aktivieren. Wenn so kleinschrittig mit literarischen oder Sachtexten Kenntnisse vermittelt und Strategien für das Lesen geübt werden, können fortgeschrittene Lernende auch anspruchsvollere fremdsprachige literarische Texte erarbeiten, ohne den gefürchteten Literaturschock zu erleben. 5.

Materialien für die Textarbeit

Mit der Entwicklung der Leseforschung und der Betonung des Lesens als wichtiger Fertigkeit hat sich der Anteil von längeren literarischen und Sachtexten in Lehrwerken erhöht. Das Lehrwerk Die Suche (1993; 1996) nutzt als roten Faden einen eigens für dieses Lehrwerk konzipierten , Lernroman' von Hans Magnus Enzensberger in Band 1 und Peter Schneider in Band 2. Spezielle Textsammlungen dienen dem Training von Lesestrategien (vgl. Werr 1987; van Eunen u.a.: Lesebogen 1990; Seibert; Stollenwerk: Schritte 1986). Daneben stehen Reihen, die gezielt ausgewählte einfache (oft speziell für die jeweilige Reihe geschriebene) oder vereinfachte Texte für verschiedene Lernstufen anbieten: so etwa die Reihen Lesen leicht gemacht, Vereinfachte Lesetexte für Kinder und Texte für

neue Leserinnen und Leser im Klett Verlag bzw. Leichte Lektüren Deutsch als Fremdsprache in 3 Stufen im Langenscheidt Verlag und Lesetexte Deutsch im Hueber Verlag. Kritisch ist an diesem Angebot zu sehen, dass es sich teilweise um speziell für diese Reihen geschriebene, gelegentlich an unauthentische Lehrbuchtexte erinnernde Textsammlungen handelt, dass die Vereinfachungen und Kürzungen zu stark sind, um tatsächlich Leseerfahrungen mit komplexen Texten zu sammeln. Die Forderung nach „bedeutungsvollen Texten" und nach Textsortenvielfalt und -differenzierung (Ehlers 1998, 210f. und 249f.) wird nicht immer beachtet. Als Alternative zu diesen Reichten Lektüren' ist die Didaktisierung literarischer Ganztexte zu sehen, d. h. eine nur geringfügige Bearbeitung, die aber durch Materialien zum Kontext (geschichtlicher, literarischer Hintergrund) sowie Arbeitsblätter, Lernaufgaben und Unterrichtsvorschläge ergänzt wird und so erlauben soll, trotz begrenzter Unterrichtszeit auch längere literarische Texte einzubeziehen. Als Beispiel sei die Reihe Studenblätter Deutsch als Fremdsprache genannt, in der ausgearbeitete Unterrichtsreihen für Texte wie Eichendorffs Taugenichts, aber auch Bilder wie z.B. der „Kreidefelsen auf Rügen" von Caspar David Friedrich und Prokofjews ,musikalisches Märchen' „Peter und der Wolf in didaktischer Aufbereitung vorgelegt wurden. Mit der Bearbeitung des Romans „Sansibar oder der letzte Grund" von Alfred Andersch (Schere; Wilms 1995) liegt hier auch ein Beispiel für den Übergang von der Textarbeit zur Textproduktion vor: Der Romantext wird durch die Lernenden inszeniert, d. h. es werden Rollen erarbeitet, Standbilder und Szenen gespielt. Einen besonderen Schwerpunkt der Materialentwicklung für die Textarbeit bildet die Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Kast 1985), da Textarbeit vor allem mit längeren Texten insbesondere im schulischen Deutschunterricht zentral ist (vgl. hierzu die vom Goethe-Institut im Langenscheidt Verlag herausgegebene Reihe Leichte Lektüren für Jugendliche).

6.

Literatur in Auswahl

Bausch, Karl-Richard u.a. (Hg.) (1998): Kognition als Schlüsselbegriff bei der Erforschung des Lehrens und Immens fremder Sprachen. (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik). Tübingen.

954

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Bimmel, Peter (1990): Wegweiser im Dschungel der Texte. In: Fremdsprache Deutsch. Heft 2, 10—15. Bredeila, Lothar (1983): ohne Titel. In: K.-Richard Bausch u. a. (Hg.): Inhalte im Fremdsprachenunterricht oder Fremdsprachenunterricht als Inhalt? (Manuskripte zur Sprachlehrforschung Nr. 23). Bochum. 16—19. Bredella, Lothar; Christ, Herbert (1996): Einleitung — Begegnung mit dem Fremden und die Didaktik des Fremdverstehens. In: diess. (Hg.): Begegnungen mit dem Fremden. (Gießener Diskurse Bd. 15). Gießen. IX-XVIII. Caspari, Daniela (1994): Kreativität im Umgang mit literarischen Texten im Fremdsprachenunterricht. (Europäische Hochschulschriften XI/611). Frankfurt a. M. Ehlers, Swantje (1992): Lesen als Verstehen. (Fernstudieneinheit 2). Berlin/München. — (1998): Lesetheorie und fremdsprachliche Lesepraxis aus der Perspektive des Deutschen als Fremdsprache. (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik). Tübingen. Glaap, Albert-Reiner (1995): Literaturdidaktik und literarisches Curriculum. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 3. Erw. Aufl. Tübingen. Art. 25, 149-156. Groeben, Norbert (1982): Leserpsychologie: Textverständnis — Textverständlichkeit. Münster. —; Peter Vorderer (1988): Leserpsychologie: Lesemotivation — Lektürewirkung. Münster. Häussermann, Ulrich; Hans-Eberhard Piepho (1996): Aufgabenhandbuch Deutsch als Fremdsprache. Abriß einer Aufgaben- und Übungstypologie. München. Hunfeld, Hans (1990): Literatur als Sprachlehre. Ansätze eines hermeneutisch orientierten Fremdsprachenunterrichts. Berlin/München. Jenkins, Eva-Maira (1990): Schaltplan zum ,Knakken' deutscher Texte. In: Fremdsprache Deutsch. Heft 2, 24. Kallenbach, Christiane (1996): Subjektive Theorien. Was Schüler und Schülerinnen über Fremdsprachenlernen denken. (Giessener Beiträge zur Fremdsprachendidaktik). Tübingen. Karcher, Günther L. (1988): Das Lesen in der Erstund Fremdsprache. Dimensionen und Aspekte einer Fremdsprachenlegetik. Heidelberg. Kast, Bernd (1985): Jugendliteratur im kommunikativen Deutschunterricht. Berlin/München. Krechel, Rüdiger (1991): Konkrete Poesie im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. 3. Aufl. (Sammlung Groos 17). Heidelberg. Kreft, Jürgen (1977): Grundprobleme der Literaturdidaktik. Heidelberg. Krull, Wilhelm; Fritz Wefelmeyer (Hg.) (1985): Textarbeit — Literarische Texte. (Studium DaF Sprachdidaktik Bd. 3). München.

Krumm, Hans-Jürgen (1990): Vom Lesen fremder Texte. In: Fremdsprache Deutsch. Heft 2, 20—23. Krusche, Dietrich (1985): Literatur und Fremde. München. Lutjeharms, Madeline (1988): Lesen in der Fremdsprache. Bochum. Moser, Ulrich; Ilka von Zeppelin (1996): Die Entwicklung des Affektsystems. In: Psyche. Heft 1, 32-84. Mummert, Ingrid (1984): Schüler mögen Dichtung — auch in der Fremdsprache. (Europäische Hochschulschriften XI/187). Frankfurt a. M. — (1989a): Nachwuchspoeten. Jugendliche schreiben literarische Texte im Fremdsprachenunterricht Deutsch. (Edition Goethe). München. — (1989b): Freies Schreiben mit Poesie. In: Fremdsprache Deutsch. Heft 1, 17—22. Neuner, Gerhard (1990): Texte auf dem Prüfstand. In: Fremdsprache Deutsch. Heft 2, 16—19. — u.a. (1981): Übungstypologie zum kommunikativen Deutschunterricht. Berlin/München. Nissen, Rudolf (1995): Praxis der Leistungsmessung. Irr Karl-Richard Bausch; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 3. Erw. Aufl. Tübingen. Art. 61, 285-288. Ndong, Norbert (1993): Entwicklung, Interkulturalität und Literatur. Überlegungen zu einer afrikanischen Germanistik als interkultureller Literaturwissenschaft. München. Piepho, Hans-Eberhard (1990): Leseimpuls und Textaufgabe. In: Fremdsprache Deutsch. Heft 2, 4-9. Schewe, Manfred; Heinz Wilms (1995): Texte lesen und inszenieren — Alfred Andersch: Sansibar oder der letzte Grund. (Studienblätter Deutsch als Fremdsprache). München. Seibert, Waltraud; Ulrich Stollenwerk (1986): Schritte — pasos — passi — steps — pas. Ein Lesebuch für die Grundstufe Deutsch als Fremdsprache. Berlin/München. Solmecke, Gert (1993): Texte hören, lesen und verstehen. Berlin/München. Tuk, Cornells (1998): Nachdenken über Deutschland? Zu Auswahl und Stellenwert deutscher Lyrik im niederländischen Deutschunterricht der Sekundarstufe. In: Jahrbuch DaF. 24, 399-421. Van Eunen, Kees u.a. (1990): Lesebogen. Fiktionale Texte mit Aufgaben, Antwortblättern und Lösungsschlüsseln für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin/München. Werr, Christoph (1987): Literatur zum Anfassen. München. Westhoff, Gerard J. (1987): Didaktik des Leseverstehens. München.

955

98. Übersetzen — (1997): Fertigkeit Lesen. (Fernstudieneinheit 17). Berlin/München. Wierlacher, Alois (1980): Literaturlehrforschung des Faches Deutsch als Fremdsprache. In: ders. (Hg.): Fremdsprache Deutsch. Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie. München. Bd. 2, 315-339.

- ; Georg Stötzel (Hg.) (1996): Blickwinkel. Kulturelle Optik und interkulturelle Gegenstandskonstutiton. (Publikationen der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik 5). München. Ingrid Mummert, Hamburg (Deutschland) Hans-Jürgen Krumm, Wien ( Österreich)

98. Übersetzen 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Übersetzungswissenschaft und -didaktik Übersetzung und Fremdsprachenunterricht Typen und Funktionen des Übersetzens in unterschiedlichen Kontexten Für und Wider das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht Literatur in Auswahl

Übersetzungswissenschaft und -didaktik

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Übersetzen hat zur Etablierung einer wissenschaftlichen Disziplin geführt. Die Übersetzungswissenschaft strebt nach sprachenpaarübergreifenden und sprachenpaarbezogenen Erkenntnissen, die das Übersetzen ex post facto erklären - und eigentlich auch prognostizieren - sollen. In zahlreichen Arbeiten ist immer wieder der Versuch unternommen worden, den Nachweis zu liefern, dass es sich bei dieser Disziplin, die übersetzerische Praxis und übersetzungswissenschaftliche Theoriebildung gleichermaßen verfolgen muss, um eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin handelt. Die im Rahmen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Übersetzen herausgearbeiteten Strömungen erfüllen jedoch nur partiell die Forderungen, die an wissenschaftliche Theorien zu stellen sind (vgl. dazu Königs 1990). Im Kontext der Übersetzungswissenschaft hat sich erst allmählich die Einsicht durchgesetzt, dass zu ihr auch die Übersetzungsdidaktik zu rechnen sei. Diese wird in aller Regel als der Zweig der Übersetzungswissenschaft verstanden, der sich um das Lehren und Lernen von Übersetzen im Rahmen einer Ausbildung zum professionellen Übersetzer/Dolmetscher kümmert. Die Beschäftigung mit dem Übersetzen im Fremdsprachenunterricht wird - spätestens - seit einer vehementen Diskussion Mitte der siebziger Jahre kategorisch aus den Überlegun-

gen ausgeschlossen; dies geschieht mit dem Argument, dass die Tätigkeit eines professionellen Übersetzers mit sprachmittlerischen Handlungen eines Fremdsprachenlernenden grundsätzlich nichts zu tun habe. Das Übersetzen (als professionelle Fertigkeit) sei nicht zuletzt auf Grund seiner Textgebundenheit erheblich komplexer als das häufig satzgebundene Übertragen ausgangssprachlicher Elemente in die Zielsprache. Diese in der Übersetzungswissenschaft weit verbreitete, aber letztlich nicht abgesicherte Position ist ursächlich dafür verantwortlich, dass auch innerhalb der Übersetzungsdidaktik Fragen des Lehrens und Lernens nicht wirklich in den Blick genommen werden, sondern dass unter dem Etikett der Übersetzungsdidaktik Erkenntnisse der Übersetzungswissenschaft deduktiv als übersetzungsdidaktisch relevant behandelt werden. Hier zeigen sich deutlich Parallelen zu einer Fremdsprachendidaktik, wie sie ζ. B. in den sechziger Jahren als eindimensionale Ableitung linguistischer Befunde verstanden, in der Folge dann aber mit guten Gründen kritisiert worden ist (vgl. dazu ζ. B. das Wissenschaftskonzept der Sprachlehrforschung in Koordinierungsgremium 1983; vgl. ferner Bausch/Krumm 1995 und auch Christ/ Hüllen 1995).

2.

Übersetzung und Fremdsprachenunterricht

Die Diskussion um die Rolle der Übersetzung im Fremdsprachenunterricht ist lebhaft, die um die Rolle der Übersetzung im Deutsch-alsFremdsprache-Unterricht dagegen kaum geführt worden. Die Gründe dafür sind sicher vielschichtig; zu erheblichen Teilen ist die Ursache für diesen Befund sicher in dem Umstand zu suchen, dass viele methodisch-didaktische Überlegungen für den DaF-Bereich aus

956

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Deutschland kamen und damit selten eine bestimmte sprachliche Zielgruppe favorisierten. Die unterrichtliche Situation ,vor Ort' sah und sieht dann häufig so aus, dass sehr wohl übersetzt wird, dass man dieses Prinzip — sei es als methodisches oder sei es als Übungsform im Rahmen eines anderen methodischen Konzepts — nicht intensiv diskutiert (oder diskutiert wissen will). Abgesehen von der Notwendigkeit ,vor Ort', Deutschlerner auch mit dem Übersetzen vertraut machen zu müssen, gibt es sicher auch prinzipielle Erwägungen, die es geraten scheinen lassen, Diskussionen und Erkenntnisse aus der Didaktik anderer Sprachen für den Kontext Deutsch als Fremdsprache zu nutzen (vgl. zu einer Begründung dafür ζ. B. Königs 1997). Für unseren Kontext gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen dem Übersetzen als Methode und dem Übersetzen als möglicher Übungsform im Rahmen eines anderen methodischen Konzepts. Unter einer .Methode' versteht man in den Disziplinen, die sich mit der Erforschung des Lehrens und Lernens fremder Sprachen befassen, die geordnete Abfolge von Verfahrensschritten zur Vermittlung bzw. Aneignung des Lernstoffs. Dabei unterliegt diese Abfolge einem Gesamtkonzept, d. h. Platz und Ausmaß des jeweiligen Verfahrensschritts sind aufeinander abgestimmt. Mit dem Begriff,Übersetzen' verbindet sich in der Methodik und Didaktik der Fremdsprachenvermittlung ein normalerweise etwas weiteres Verständnis von zweisprachlich orientierten Übungen, als dies in der Übersetzungswissenschaft mit ihrer Fokussierung auf ganze Texte und auf die überwiegend professionell ausgeübte Form der Sprachmittlung der Fall ist.

3.

Typen und Funktionen des Übersetzens in unterschiedlichen Kontexten

Folgt man dem eingangs skizzierten Verständnis von .Methode' (wie es ζ. B. für die Sprachlehrforschung und die Fremdsprachendidaktik weitgehend eingeführt ist), dann hat es die Übersetzung als wirkliche Methode im Fremdsprachenunterricht nur einmal gegeben, nämlich im Rahmen der Grammatik-Übersetzungs-Methode. Diese bestand darin, dass fremde Sprachen ausschließlich dadurch gelernt wurden, dass man satzweise Texte übersetzt hat, und zwar überwiegend von der

Fremdsprache in die Muttersprache, aber auch von der Muttersprache in die Fremdsprache. Die zu übersetzenden Texte waren nach ihrer grammatischen Struktur ausgesucht worden: D. h. sie folgen einer grammatischen Progression, und das Übersetzen war der einzige methodische Weg, fremdsprachliche Lexeme mit Bedeutung zu füllen, fremdsprachliche Strukturen in ihrer Bedeutung kennenzulernen, und es war die einzige aktive Spracharbeit im Unterricht. Je nachdem, ob der Lehrer deduktiv oder induktiv vorging, wurden die neuen grammatischen Strukturen vorweg erklärt (deduktiv) oder aus dem Text abgeleitet (induktiv). In jedem Fall geschah auch dies in der Muttersprache. Diese über mehrere Jahrhunderte hinweg als ,normal' bezeichnete Methode geriet kurz vor der Jahrhundertwende in die Diskussion. Die in der Folgezeit etwa bis in die sechziger Jahre hinein entwickelten methodischen Verfahren (v. a. direkte Methode, audiolinguale und audiovisuelle Methode) zeichneten sich bei aller Unterschiedlichkeit vor allem dadurch aus, dass in ihnen nicht übersetzt werden und dass die Muttersprache in ihnen keine Rolle spielen sollte. Ausgelöst durch eine heftige Diskussion um die Rolle der Muttersprache im Fremdsprachenunterricht in den siebziger Jahren wurde auch die Frage wieder diskutiert, ob das Übersetzen dort Verwendung finden sollte. Dabei ging es allerdings nicht um das Übersetzen als Methode im oben beschriebenen Sinne, sondern um Übersetzen als eine mögliche Lern- und/oder Übungsform im Rahmen durchaus unterschiedlicher Vermittlungsmethoden. Die Anzahl der Befürworter und Gegner hielt sich ungefähr die Waage. Zu den Argumenten, die gegen das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht angeführt wurden, zählen: • Übersetzen hole die Muttersprache ins Klassenzimmer und vermindere die an sich schon knapp bemessene Zeit zum aktiven Umgang mit der Fremdsprache weiter; • es trage zur Ausbildung der anderen als essenziell betrachteten sprachlichen Fertigkeiten — Lesen, Sprechen, Hören, Schreiben — nur sehr wenig bei; • es sei verglichen mit anderen für den Fremdsprachenunterricht bedeutsamen Übungsformen zu komplex und dränge die anderen Übungsformen zu weit in den Hintergrund; • die Komplexität des Übersetzens erlaube nicht, sich im Fremdsprachenunterricht damit auseinanderzusetzen, der vor allem

98. Übersetzen













auf Spracherwerb, nicht aber auf die Vermittlung von Übersetzungskompetenz ziele; als Semantisierungsverfahren sei es nicht effektiv genug, da es zu ungerechtfertigten 1:1-Entsprechungen bei den Lernenden führe; es zwinge die Lernenden auch dann zu einem bewussten Umgang mit Sprache, wenn eigentlich Automatisierung und damit auch der Verzicht auf Bewusstmachung angestrebt werde; es überfordere die Lehrenden, weil diese nicht über ausreichende Erfahrung mit dieser Form der Sprachproduktion verfügen; es eigne sich nicht als Testform, da es nicht den testtheoretischen Anforderungen genüge und daher nicht dazu geeignet sei, fremdsprachliche Kompetenz abzuprüfen; beim Herübersetzen werde der Verstehensvorgang als so dominant gesetzt, dass der produktive Aspekt dieser Fertigkeit verlorengehe; die Hinübersetzung stelle in jedem Fall eine Überforderung der Lernenden dar.

Für den Einsatz des Übersetzens wurden die folgenden Argumente ins Feld geführt (vgl. zu einem Überblick u.a. auch Königs 1998): • Strukturdivergenzen können so sehr bewusst und einsichtig gemacht werden; • die Gefahr negativen Transfers bei der fremdsprachlichen Produktion werde verringert; • das Sprachbewusstsein werde sowohl mit Bezug auf die Muttersprache als auch mit Blick auf die Fremdsprache gefördert; • bei der Semantisierung fremdsprachlicher Textpassagen sei es - insbesondere in der Anfangsphase - unerlässlich; • es fördere das Verstehen eines Textes, und es trage zur Kontrolle des Textverständnisses bei; • es fördere die Herausbildung eines nuancierten Ausdrucks in der Fremdsprache, aber auch in der Muttersprache; • es fördere das Speichern neuer fremdsprachlicher Lexeme, Lexemkombinationen oder Lexemstrukturen; • es verhindere durch seine Vorlagegebundenheit die Herausbildung absoluter 1:1Entsprechungen bei den Lernenden; • es sei geeignet, den Lernenden Möglichkeiten und Grenzen einsprachiger und zweisprachiger Wörterbücher vor Augen zu führen;

957 • es integriere unterschiedliche sprachliche Fertigkeiten in einer einzigen und sei unter diesem Aspekt ökonomisch'. Stellt die Grammatik-Übersetzungs-Methode auch das einzige Vermittlungskonezpt dar, in dem das Übersetzen dominant verankert war und ist, so hat es — z.T. in abgewandelter Form - darüber hinaus auch in anderen Vermittlungsmethoden einen Platz. Eine ältere Form ist die sog. Interlinearversion·, sie besteht darin, dass einem fremdsprachlichen Text die muttersprachliche ,Übersetzung' — angepasst an die fremdsprachliche Syntax zugeordnet wird. Ein Beispiel aus dem Französischen: Voilà les deux messieurs qui Da sind die zwei Männer die s'installent à la terrasse d'un sich niederlassen auf der Terrasse eines bistrot pour s'entretenir un peu. Bistros um sich zu unterhalten ein bißchen. Ziel dieses Verfahrens war es, die fremdsprachlichen Strukturen in expliziten Gegensatz zu den muttersprachlichen zu bringen und damit den Lernvorgang explizit kontrastiv zu gestalten. Dieser Ansatz wird in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts im Rahmen der von Butzkamm (1973; 1980; 1989) immer wieder (v.a. für den Englischunterricht) propagierten a u f geklärten Einsprachigkeit' partiell aufgenommen. Butzkamm lässt dabei im Rahmen der Präsentation neuer Strukturen eine Interlinearversion kurzzeitig zu, um die Unterschiedlichkeit der fremdsprachlichen Struktur im Kontrast zur muttersprachlichen zu verdeutlichen und gleichzeitig eine lernpsychologisch wirksame Darstellungsform parat zu haben. Im Gegensatz zur Interlinearversion will Butzkamm dieses Verfahren nicht ständig angewendet wissen, sondern im Sinne einer Effektivierung des Lernvorgangs lediglich bei wichtigen und zugleich besonders fehlerträchtigen Strukturen. Weitere Formen des Übersetzens, die im Fremdsprachenunterricht nach Butzkamm Einsatz finden können, sind die Rückübersetzung, die variierende Rückübersetzung und die Sandwichtechnik. Bei der Rückübersetzung werden muttersprachliche Sätze, die ihrerseits Übersetzungen von Teilen des fremdsprachlichen Lektionstextes darstellen, wieder in die Fremdsprache .zurückübersetzt'. Der Lernende soll neben anderen auch auf diesem Wege zur Internalisierung fremdsprachlicher Lexeme

958

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

und Strukturen geführt werden. Der Lektionstext stellt dabei gleichsam die Zielgröße dar, deren Erreichen der Lerner selbst - zumindest partiell - kontrollieren kann. Demgegenüber wird in der variierenden Rückübersetzung bereits in den muttersprachigen Sätzen der Lektionstext leicht variiert, so dass sich die durch die Lernenden zu erstellenden zielsprachlichen Sätze deutlich vom jeweiligen Lektionstext unterscheiden. Die Sandwichtechnik schließlich soll in der Präsentationsphase eingesetzt werden, in der vom Lehrer der fremdsprachige Lektionstext eingeführt wird; die Technik dient zur Semantisierung von neuen lexikalischen und syntaktischen Einheiten. Dazu ein Beispiel für spanischsprechende Deutschlerner an Hand eines Textes aus dem Lehrwerk Stufen (Vorderwülbecke/ Vorderwülbecke 1986: Bd. 1,42). Lehrer führt Text der Lektion 3 ein: Entschuldigen Sie, wo — dónde o adonde — wo ist hier ein Telefon? Ein Telefon suchen Sie? Ja, also — pues, entonces — ja, also da gehen Sie hier geradeaus - todo derecho geradeaus, dann rechts — a la derecha — rechts, dann gleich wieder links — a la izquierda — links. Da sehen Sie dann .... Die fremdsprachlichen Elemente stellen dabei gleichsam die Sandwich-Hälften dar, zwischen die dann die Muttersprache ,als Belag' gegeben wird. Dabei richtet sich der Umfang der muttersprachlichen Elemente nach den angenommenen Lernerkenntnissen; im obigen Beispiel diente die Technik ausschließlich der Einführung neuer Vokabeln, wobei der Lehrer auf Wiederholungen durch die Lernenden verzichtete. Die Sandwichtechnik ist eine mündlich zu praktizierende, die zuvor erwähnten Formen der Rückübersetzung werden schriftlich durchgeführt. In einigen alternativen Vermittlungskonzepten ist die Verwendung von Übersetzungen genuiner Bestandteil des methodischen Vorgehens. So wird in der Suggestopädie (und noch stärker in einer Weiterentwicklung, der Psychopädie, vgl. zu beiden Varianten z. B. Baur 1990) der Lektionstext mehrfach in der Form präsentiert, dass den fremdsprachlichen Sätzen oder Teilsätzen die muttersprachlichen Entsprechungen danebengestellt werden, soweit es geht unter Anlehnung an die zielsprachliche Struktur. Und auch das Community Language Learning (ζ. Β. in der

Darstellung von Larsen-Freeman 1986, 89 ff. oder Richards/Rodgers 1986, 113ff.) weist der Hinübersetzung (in diesem Fall von 1er-

nerseitigen Äußerungen durch den Lehrer) einen wichtigen Stellenwert im Rahmen des methodischen Gesamtkonzepts zu. In beiden Fällen könnte man den Einsatz der Übersetzung damit begründen, dass er den möglichen Druck einer strikt einsprachigen Semantisierung von den Schülern nehmen soll. In den fremdsprachlichen Lehrwerken hat das Übersetzen — unabhängig von der jeweiligen Vermittlungsmethode — eine wechselhafte Geschichte durchgemacht (vgl. zu einer ausführlichen Betrachtung der unterschiedlichen Formen von Übersetzungen in den Lehrwerken v.a. Weller 1981; 1991). Bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein enthielten fremdsprachliche Lehrwerke häufig Übersetzungsübungen (nicht selten am Ende der jeweiligen Lektion), in denen es um die Einübung der jeweils neuen Strukturen und Lexeme ging. Dabei gab es sowohl Übersetzungsübungen, in denen kontextlose Einzelsätze zu übersetzen waren, als auch solche, in denen komplexere Texte zur Übersetzung angeboten wurden. In Extremfallen führte dies zu ganzen Büchern, in denen Einzelaspekte der fremdsprachlichen Grammatik erläutert und überwiegend an Hand von übersetzten und/oder zu übersetzenden Einzelsätzen erklärt wurden. Entsprechend der vermittlungsmethodischen Diskussion der achtziger Jahre tauchen in den fremdsprachlichen Lehrwerken, die in dieser Zeit erschienen sind, kaum Übersetzungsübungen auf. Dagegen werden in den letzten Jahren Übersetzungsübungen wieder häufiger; dabei sind sie meist jedoch anders strukturiert als in den sechziger und siebziger Jahren. So handelt es sich nicht mehr nur um .kontextfreies' Übersetzen, sondern es fallt auf, dass Übersetzungs- und Dolmetschübungen situationeil stärker eingebettet werden. Damit wird zum einen eine Tradition wieder aufgenommen, die in der DDR-Methodik der siebziger Jahre unter dem Begriff „sinngemässes Übertragen" ausgearbeitet und gepflegt worden ist (vgl. dazu ζ. B. Reinke 1977). Zum anderen führt die kommunikative Orientierung des Fremdsprachenunterrichts der achtziger Jahre dazu, reale Anwendungssituationen stärker in den Unterricht zu integrieren. Zu diesen Anwendungssituationen gehören auch solche, in denen das Sprachmitteln geübt wird. Der schulische Fremdsprachenunterricht wird - im Gegensatz zum DaF-Unterricht in der Bundesrepublik — auf einer übergeordneten Ebene durch die Richtlinien determiniert, die entsprechend der Kulturhoheit der Bun-

959

98. Übersetzen

desländer vom jeweiligen Landesministerium erarbeitet und herausgegeben werden. Die Lernzieldiskussion, wie sie sich in den Richtlinien der einzelnen Bundesländer widerspiegelt, stellt dabei insgesamt einen Reflex der methodischen und didaktischen Diskussion dar, allerdings mit einigen länderspezifischen Unterschieden. Die südlichen Bundesländer haben z.T. die Übersetzung als Testform in den Richtlinien verankert (obwohl die testtheoretische Diskussion die Unangemessenheit der Übersetzung als Testform für fremdsprachliche Kompetenz längst betont, vgl. ζ. B. Klein-Braley 1982). Andere Bundesländer hatten das Übersetzen in den siebziger und auch noch in den achtziger Jahren als methodisches Element weitgehend aus den Richtlinien verbannt. Neuere Richtlinien, wie z.B. die für den Französischunterricht der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen, lassen die oben angesprochenen kommunikativ eingebetteten Übersetzungsübungen ausdrücklich zu. Für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache und seine Methodik stellt sich die Situation komplizierter dar: Solange methodische und didaktische Überlegungen aus dem deutschsprachigen Raum heraus entwickelt und propagiert werden, unterbleibt der Bezug zur Muttersprache der Lernenden zumeist, und zwar aus zwei Gründen: im Inland sind die meisten Adressatengruppen multilingual, so dass sich von daher sprachkontrastiv angelegte Übungen im allgemeinen, Übersetzungsübungen im besonderen zu verbieten scheinen. Zweitens werden die meisten der in den deutschsprachigen Ländern erstellten Lehrmaterialien mit der Perspektive erstellt, weltweit einsetzbar zu sein, so dass sich ein konkreter Sprachbezug zur Muttersprache der Lerner ebenfalls nicht anbietet. Die konkrete Unterrichtssituation „vor Ort" besteht dann allerdings — häufig aufgrund entsprechender Lehr- und Lerntraditionen sehr wohl (auch) in zeitintensiven Formen des Übersetzens, sei es in schriftlicher, sei es in mündlicher Form. (Die lernerseitigen Rückmeldungen zu einem am Herder-Institut der Universität Leipzig unter Leitung von Barbara Wotjak entwickelten Fernstudienmaterial für Deutschlerner aus Polen und Tschechien („Fenster") lassen den dringenden Wunsch nach mehr Übersetzungsübungen auf Seiten der anvisierten Adressaten, insbesondere auf der Satzebene, deutlich erkennen.)

4.

Für und Wider das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht

Die Kontroverse um das Für und Wider des Übersetzens im Fremdsprachenunterricht (vgl. zu einer ausführlichen Skizze z.B. Ettinger 1988) hat ihren Ursprung in zwei unterschiedlichen Quellen: Zum einen entstanden innerhalb der Fremdsprachendidaktik Zweifel an der vermittlungsmethodischen Angemessenheit des Übersetzens; zum anderen wurde seitens der Übersetzungswissenschaft gegen das Übersetzen im Fremdsprachenunterricht argumentiert, und zwar mit der Begründung, dass es sich bei den oben erwähnten Übungsformen nicht um Übersetzen (im Sinne der Übersetzungswissenschaft) handele und dass der Fremdsprachenunterricht eine Vermittlung übersetzerischer Kompetenz gar nicht leisten könne. Letzteres ist ohne jeden Zweifel zutreffend, lag und liegt aber auch nicht in der Absicht des Fremdsprachenunterrichts, der das Lernziel ,Übersetzungskompetenz' im Sinne der Übersetzungswissenschaft nicht kennt. Zutreffend ist sicher auch, dass die Übungsform ,Übersetzen' bei der Erreichung der fremdsprachenunterrichtlichen Lernziele nur sehr bedingt hilfreich ist. Dennoch wäre es voreilig, das Übersetzen in jedweder Form aus dem Fremdsprachenunterricht zu verbannen. Insbesondere die folgenden Überlegungen sprechen eher dagegen: • Soweit man das aus bisher vorliegenden Daten zur fremdsprachlichen Sprachverarbeitung durch Lernende schließen kann, sind die mentalen Prozesse beim Übersetzen(lernen) und beim Fremdsprachenerwerb durchaus miteinander verwandt, wenn auch sicher nicht identisch. Das bedeutet, dass bestimmte mentale Prozeduren unabhängig von der Art der sprachlichen Aktivität ablaufen und möglicherweise auch unabhängig vom jeweiligen Kompetenzgrad (vgl. zu einigen diesbezüglichen Überlegungen detaillierter Königs 1994a). • Fremdsprachenunterricht hat per se den Anspruch, die Lernenden auf die Bewältigung sprachlicher Situationen außerhalb des Klassenzimmers vorzubereiten. Zu diesen Situationen gehört u. a. auch das rudimentäre Sprachmitteln, also das schriftliche oder mündliche Mitteln zwischen zwei Sprachen, bei dem ein professioneller Sprachmittler nicht zur Verfügung steht. Die Vorbereitung auf solche Situationen,

960 einschließlich der Vermittlung der Einsicht, dass ,bloße' fremdsprachliche Kompetenz noch keineswegs professionelle translatorische Kompetenz einschließt, gehört damit zu den Aufgaben des Fremdsprachenunterrichts . Akzeptiert man diese Prämissen - und die Forschungsergebnisse legen das weitgehend nahe - , dann sollten integrative Übersetzungsübungen' im Fremdsprachenunterricht ihren Platz haben. Diese Übersetzungsübungen können wie folgt gekennzeichnet werden: • Sie spielen sich nicht isoliert von konkret beschriebenen Situationen ab, sondern sind im Gegenteil situationsgebunden. • In ihnen werden sprachmittelnde Aufgabenstellungen mit der Einübung anderer sprachlicher Fertigkeiten (wie ζ. B. Sprechen oder Schreiben in der Fremdsprache) situationsspezifisch verknüpft. • Sie zielen nicht (ausschließlich) auf die Vermittlung grammatischer oder lexikalischer Teillernziele, sondern auf die Bewältigung sprachmittlerisch relevanter Situationen. • Sie zielen u. a. auf die Bewusstmachung konstitutiver Merkmale der einzelnen sprachlichen Fertigkeiten. • Sie schließen sprachkontrastive Betrachtungen — insbesondere auf Textebene mit ein. • Sie geben tatsächlichen Sprachhandlungen (ζ. B. im Rahmen von RoÜenspielen) den Vorzug vor solchen sprachmittlerischen Aufgabenstellungen, die im ,luftleeren' Raum angesiedelt sind. Beispiele für die Gestaltung von Übersetzungsübungen im Fremdsprachenunterricht, die diese Merkmale aufweisen, finden sich u.a. in Königs (1992; 1994a; b) und Königs/ Azenha (1995). Im Gefolge dieser Argumentation wird die Frage nach dem „pro" oder „contra" von Übersetzungsübungen im Fremdsprachenunterricht zugunsten des „pro" beantwortet, allerdings auch unter Zugrundelegung anders gelagerter Prämissen und Zielsetzungen, als dies traditionell der Fall war. Dabei ist beinahe eine zwangsläufige Konsequenz, dass eine veränderte Einstellung zu fremdsprachenunterrichtlichen Übersetzungsaktivitäten auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen allgemeinem Fremdsprachenunterricht auf der einen und Übersetzungsunterricht auf der anderen Seite aufwirft. Mit

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Recht wird häufig darauf hingewiesen, dass beide Formen von Unterricht grundsätzlich verschieden sind, da sie auf die Erreichung unterschiedlicher Lernziele abgestellt sind. Und natürlich gilt, dass die Fertigkeit ü b e r setzen' in ihrer Komplexität die anderen vier Fertigkeiten (,Hören', .Sprechen', ,Lesen' und , Schreiben') übertrifft und von daher zu ihrer umfassenden Vermittlung eines eigenständigen Curriculums sowie entsprechender angepasster Ausbildungsschritte bedarf. Gleichwohl gibt es — insbesondere im Anfangsstadium der Ausbildung — zwischen den Lernenden nicht zu leugnende Gemeinsamkeiten, die es durchaus erwägenswert erscheinen lassen, über Verbindungen zwischen allgemeinem und auf die Ausbildung von Übersetzungskompetenz zielendem Unterricht nachzudenken. Diesbezügliche Überlegungen dürfen nicht auf die organisatorische Verschmelzung getrennt zu haltender Ausbildungselemente zielen, wohl aber auf die stärkere methodisch-didaktische Reflexion von Übersetzungsunterricht, der seinerseits stärker methodische und didaktische

Anleihen

beim allgemeinen Fremdsprachenunterricht nehmen könnte. Dies könnte etwa durch Maßnahmen geschehen, in denen die Reflexion über den eigenen Lernvorgang stärker in den Übersetzungsunterricht integriert würde („selbstreflexives Übersetzen") (vgl. dazu ζ. B. Königs 1994b; Königs/Azenha 1995; z.T. auch Kußmaul 1995) analog zu den Bemühungen im Fremdsprachenunterricht, Lernstrategien zu thematisieren und damit stärker für eine EfFektivierung des Lernvorgangs zu nutzen. Einhergehen sollten didaktische Überlegungen zum Übersetzungsunterricht dann allerdings auch mit einer Thematisierung der Beziehung zwischen Übersetzungswissenschaft und \Jbersetz\mgsdidaktik

(vgl.

dazu ζ. B. Weller 1993/94). Für den Unterricht in Deutsch als Fremdsprache in deutschsprachiger Umgebung (in der Regel als Unterricht in Deutsch als Zweitsprache bezeichnet), gelten die oben gemachten Ausführungen aus naheliegenden Gründen nicht in demselben Umfang; die Vielsprachigkeit der Adressaten steht dem systematischen Einsatz des Übersetzens im oben skizzierten Kontext im Wege. Daraus sollte allerdings nicht der Schluss gezogen werden, dass Übersetzen in einem solchen Unterricht keinen Platz haben sollte. Zwar fallt das Ausbilden einer rudimentären übersetzerischen Kompetenz aus diesem Grund als anzustrebendes Lernziel weg, doch ist der

98. Übersetzen Einsatz des Übersetzens durchaus möglich: das gilt für die Semantisierung auch komplexer fremdsprachlicher Einheiten dort, wo der Lehrende die Muttersprache von Lernenden beherrscht; das gilt für Übungsformen, die Lernende mit derselben Muttersprache vor die Bewältigung sprachmittlerischer Aufgaben (sei es in schriftlicher Form, sei es in mündlicher Form) stellen. Im letztgenannten Fall entscheidet dann das kommunikative Ergebnis darüber, ob eine Sprachmittlung gelungen ist oder nicht. Denkbar sind dabei auch Übungsformen, in denen auf eine Lingua franca' für die Lernenden (etwa das Englische, aber auch das Russische) ausgewichen wird; Unterrichtsbeobachtungen zeigen, dass dies auch bei heterogenen Lerngruppen nicht selten geschieht. Für alle Einsatzformen des Übersetzens gilt, dass sie zur Sensibilisierung sprachlicher Unterschiede (z.B. Textsorten) ebenso tauglich sind wie zur Sensibilisierung für den eigenen übersetzerischen Kompetenzgrad; letzteres ist gerade angesichts der Anforderungen an Deutschlernende außerhalb des Unterrichts — zumindest in bestimmten Regionen der Welt - keine unwichtige Funktion, die dem Einsatz des Übersetzens zukommt.

5.

Literatur in A u s w a h l

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962

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

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(Deutschland)

99. Berufsbezogener Deutschunterricht — Deutsch als Fremdund Zweitsprache für den Beruf 1. 2. 3.

4. 5. 6. 7.

1.

Zur Begriffsdefinition und Abgrenzungsproblematik Didaktische Entscheidungsfelder der berufsbezogenen Sprachkursplanung Berufliche Schlüsselqualifikation als didaktischer Kern des berufsbezogenen Deutschunterrichts Sprachliches Handeln im Beruf Wortschatz: Erarbeitung, Memorisierung, Autonomie Grammatik Literatur in Auswahl

Zur Begriffsdefinition und Abgrenzungsproblematik

D e r Begriff des berufsbezogenen

Ein Blick auf das Englische zeigt eine terminologische Alternative: den Verzicht auf das offensichtlich problematische Adjektiv und die Konzentration auf das Ziel: Hier haben sich je nach Darstellungsebene die Begriffe English for Specific Purposes bzw. English for Professional Purposes

(ESP) durch-

gesetzt, ein Begriff, der die Zweckorientierung des Sprachunterrichts betont, zugleich aber inhaltlich völlig offen in Bezug auf den konkreten Zweck ist, der von Fall zu Fall pragmatisch definiert werden muss. Diesem Weg ist auf den ersten Blick auch das Zertifikat Deutsch für den Beruf des Goethe-Instituts u n d des Deutschen Volkshoch-

Fremdspra-

chenunterichts bedarf wohl mehr als viele andere Einträge in diesem Handbuch der definitiorischen Klärung, da hier nicht einmal über den Begriff, geschweige denn über seine Definition Einvernehmen besteht. So spricht der „Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e. V." in Mainz von berufsorientierendem Sprachunterricht. Andernorts ist vom beruflichen Deutschunterricht die Rede. In einem ersten Versuch der Begriffsklärung spricht das Themenheft der „Zeitschrift Fremdsprache Deutsch" (Sonderheft 1992) ebenfalls von berufsbezogenem Deutschunterricht. Komplizierter wird alles noch durch die Tatsache, dass in der Diskussion fälschlicherweise synonym vom fachsprachlichem oder fachbezogenem Deutschunterricht die Rede ist. Ein Blick in die gängigen DaF-Studieneinführungen zeigt, dass in den Stichwortverzeichnissen allgemein bestenfalls von fachsprachlichem Unterricht die Rede ist. Eigenständige Einträge oder gar Definitionsversuche des berufsbezogenen DaF-Unterrichts fehlen ganz.

schulverbandes (München 1995) gefolgt. Ein Blick in Wortschatzlisten und Lernzieldarstellungen zeigt allerdings, dass hier Deutsch für den Beruf als ein im Sinne der ökonomischen Globalisierung modernisiertes Wirtschaftsdeutsch interpretiert wird. Das Zertifikat „ZDfB" begründet aus den sich verändernden ökonomischen Realitäten, beispielsweise zunehmender internationaler Kooperation nicht nur in der Großindustrie zutreffend die generell gestiegene Bedeutung von Fremdsprachenkenntnissen auf allen betrieblichen Ebenen. Das wesentlichste Element der Definition des berufsbezogenen Deutschunterrichts der Begriff wird in diesem Beitrag beibehalten, da er tatsächlich der umfassendste für eine Vielzahl möglicher konkreter Unterrichtszwecke ist — besteht tatsächlich in seiner Zweckorientierung als entscheidendem Element für Planung und Teilnehmermotivation. Berufsbezogener

Deutschunterricht

oder

Deutsch für den Beruf — beide Begriffe gehen von der Prämisse aus, dass es möglich ist, einen Sprachunterricht zu konzipieren, der sich

99. Berufsbezogener Deutschunterricht — Deutsch als Fremd- und Zweitsprache für den Beruf

weder als allgemeinsprachlicher DaF-Unterricht im Sinne schulischer Curricula oder des Zertifikats DaF verstehe noch als rein fachsprachlicher Kurs im Sinne eines einzelnen Faches oder Berufsfeldes. In diesem Beitrag sollen Planungsmodelle und mögliche Kursziele dargestellt werden, die DaF-Lehrenden in diesem Bereich Orientierung bieten können in Bezug auf Unterrichtsformen und -inhalte in den Planungsfeldern der Unterrichtsinhalte, der Wortschatzvermittlung, der Grammatik. Berufsbezogener Fremdsprachenunterricht, mit welchem konkreten Zweck auch immer, ist in erster Linie Fremdsprachenunterricht und hat damit den Forschungsstand der allgemeinen Didaktik und der DaF-Didaktik zu berücksichtigen. Dies gilt besonders für die Planungsfelder der Lernziel-, der Aufgabenund der Lernerorientierung allgemein. Zertifikats-Curricula, didaktische Konzepte, Kurskonzepte und Lernmaterialien eines berufsbezogenen DaF-Unterrichts müssen sich also zuerst messen lassen am Forschungsstand der allgemeinen DaF-Didaktik. Dies ist angesichts gegenwärtiger Konzepte und Materialien offensichtlich keine Selbstverständlichkeit und beantwortet zudem die auch von Deutschlererinnen und -lehrern selbst oft gestellte Frage, ob denn berufsbezogene Deutschkurse nicht besser von Expertinnen und Experten der jeweiligen Berufe zu erteilen seien. Berufsbezogener Fremdsprachenunterricht - folgt man dieser Definition - teilt damit auch die primären Lernziele jedes Fremdsprachenunterrichts: Die Vorbereitung der Lernenden auf die fremdsprachliche Kommunikation und das Erleben der Kultur der fremden Sprache im weitesten Sinne. Folgt man dieser Logik und berücksichtigt man zudem, dass der genaue spätere Zweck ihres DaF-Unterrichts vielen Lernenden zum Zeitpunkt des Lernens noch gar nicht bekannt ist, ist jeder allgemeinsprachliche Fremdsprachenunterricht potentiell auch berufsvorbereitend, eine Trennung entlang der Linie DaF-Lernen für den Beruf und DaF-Lernen für die Freizeit nicht möglich — wenngleich die sich immer mehr verstärkende FreizeitThematik in den neueren DaF-Anfangerlehrwerken für Erwachsene eine solche Trennung zu vollziehen scheint. Berufsbezogener DaFUnterricht ist somit auch eine Forderung an den allgemeinsprachlichen DaF-Unterricht und nicht allein die Bezeichnung für besondere Kurse mit eingegrenzten Zielen und be-

963

sonderen Materialien. Eine generelle definitorische Abgrenzung von berufsbezogenem und allgemeinsprachlichem DaF-Unterricht ist damit weder möglich noch sinnvoll. Bei der Beschreibung der Grundlagen des berufsbezogenen DaF-Unterrichts kann es also nicht um einzelne Fragen der Abgrenzung gegen allgemeinsprachlichen einerseits und fachsprachlichen DaF-Unterricht andererseits gehen, sondern darum, Entscheidungsfelder, curriculare Entscheidungen, ihre Bedingungen und Konsequenzen für Unterricht und Lehrmaterialien darzustellen und die didaktischen Kerne des berufsbezogenen DaF-Unterrichts zu bestimmen. 2.

Didaktische Entscheidungsfelder der berufsbezogenen Sprachkursplanung

In diesem Abschnitt soll dargestellt werden, welche Variablen in der Planung berufsbezogener Kurse sowohl auf Institutsebene als auch auf der Kurs- und der Materialebene zu berücksichtigen sind. Dabei wird der Unterschied zwischen berufs- und allgemeinsprachlichen DaF-Planungen deutlich. • Handelt es sich um einen berufsvorbereitenden oder um einen berufsbegleitenden Sprachkurs? Aus dieser Unterscheidung ergeben sich eine Reihe von Konsequenzen. Zum ersten Fall: Berufsvorbereitender Fremdsprachenunterricht muss sich vor allem der Tatsache bewusst sein, dass Berufsanfanger nur selten auf spezielle Fach- oder gar Fachsprachenkenntnisse in der eigenen Sprache bzw. auf Deutsch zurückgreifen können. Aus allen einschlägigen Statistiken und Erfahrungen ergibt sich zudem die hohe Wahrscheinlichkeit späterer mehrmaliger Berufswechsel. Spezieller Fachwortschatz eines Berufs ist bei solchen Wechseln aber in jedem Fall verloren. In einer solchen Planungssituation ist unbedingt darauf zu achten, dass vor allem jene Aspekte berufsbezogener Spracharbeit thematisiert werden, die berufsfeldübergreifend relevant sind, mehr dazu in Abschnitt 3. Berufsvorbereitender DaF-Unterricht ist in der Regel Unterricht mit Jugendlichen. Dem ist in Unterrichtsgestaltung, Motivationsplanung und Themenwahl Rechnung zu tragen. Zum zweiten Fall: Berufsbegleitender DaFUnterricht kann zumindest von einigen beruflichen Erfahrungen der Teilnehmenden

964 sowie von einer konkreten, aus der beruflichen Perspektive gespeisten Motivation ausgehen und muss diese in Themen- und Unterrichtsplanung einbeziehen. Zwar ist auch hier von der Möglichkeit von Berufswechseln bzw. beruflicher Weiterentwicklung auszugehen und die berufsfeldübergreifende Arbeit in den Vordergrund zu stellen. Ein höherer Anteil berufssprachlicher Spezialisierung in Wortschatz, Textsorten und in den berufsspezifischen Kommunikationsdomänen (ζ. B. Büro, Produktionsbetrieb, etc.) ist jedoch anzustreben und motivierend für die Teilnehmenden. In Kursen dieses Typs kommt ein weiterer Punkt hinzu: Die Thematisierung einzelner beruflicher Inhalte stellt die Lernenden oft inhaltlich und sprachlich vor neue Anforderungen. Beruflich-fachliches Lernen und Fremdsprachenerwerb sind hier oft untrennbar. Zu diesem Punkt das erste Beispiel: Praxisbeispiel 1 In einem Kurs für Frauen, die in Pflegeberufen gearbeitet haben, bzw. sich auf dieses Berufsfeld vorbereiten, wird ein Text über das menschliche Nervensystem bearbeitet. Die Arbeit mit dem Fachtext stellt die Lehrerin vor fremdpsrachendiaktische und -methodische Aufgaben. Es geht um selektives Textverstehen und um die Einführung in die autonome Textarbeit, wie sie später auch in der Vorbereitung auf fachliche Prüfungen verlangt wird. Gleichzeitig geht es um wichtiges berufliches Grundlagenwissen und zentralen Fachwortschatz. In der gleichen Kursphase werden also fachliche, berufssprachliche und allgemeinsprachliche Lernziele verfolgt. Unterrichtstransparenz und eine klare Phasenplanung — Inhalt vor sprachlicher Form - sind hier gefordert. • Handelt es sich um einen Anfangerkurs oder um einen Aufbaukurs? Neben den Unterschieden, die sich aus dieser Unterscheidung für den Sprachunterricht insgesamt ergeben, kommt im berufsbezogenen Unterricht hinzu: Bei fortgeschrittenen Lernern ist es in stärkerem Umfang möglich, speziellere berufliche Inhalte und fachsprachliche Elemente aufzunehmen. Konsequenzen hat dies insbesondere für den Bereich der Textarbeit. Da berufliche Weiterqualifikation aber vorwiegend mit der Informationsauf-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

nahme aus spezifischen Sachtexten verbunden ist, ist erst auf dieser Stufe ein Beitrag zur beruflichen Weiterbildung in der fremden Sprache möglich. Folgt man der Stufung des Zertifikats

Deutsch,

so ist festzuhalten: U n -

terhalb der Ebene des Zertifikats kann zwar auf Kommunikation im Beruf vorbereitet werden - und zwar sinnvollerweise nach dem Grundbaustein - ein Beitrag zur berufsspezifischen Weiterbildung ist aber noch nicht möglich. Wenn in berufsbezogenen Lehrwerken für Anfanger in den ersten Lektionen Situationsvorgaben wie Geschäftsbesuche und Verhandlungen gemacht werden, so ignoriert diese Vorgabe die komplexen Kommunikationsbedingungen solcher Situationen völlig und bleibt folgenlose Sprachspielerei bzw. Lernertäuschung. Ein Planungsmodell, das sich hier für einen durchgehenden berufsbezogenen Kurs für fremdsprachliche Anfanger anbietet, ist das Modell der „gegenläufigen" Pyramiden: Hierbei bezeichnet das „auf dem K o p f stehende Dreieck den abnehmenden Anteil der allgemeinsprachlichen Kursinhalte, das „auf den Füßen" stehende Dreieck den zunehmenden Anteil berufsbezogener Elemente:

Praxisbeispiel 2 Obwohl nahezu die Hälfte aller Deutschlernenden in polnischen Schulen im Bereich der beruflichen Bildung Deutsch lernen, war bis 1995 kein einziges spezifisches Unterrichtswerk für diesen Bereich entwickelt worden. Die vom Goethe-Institut Warschau initiierte Entwicklungsgruppe stand somit vor der Aufgabe, zugleich curriculare Vorgaben, didaktische Modelle und dazugehörige Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. Bei der Entwicklung des Lehrwerks „Deutsch in der beruflichen Bildung" sind wir dem skizzierten Modell in drei Stufen gefolgt. Im ersten Band überwiegen allgemein-kommunikative Inhalte, im zweiten Band sind berufliche und all-

99. Berufsbezogener Deutschunterricht — Deutsch als Fremd- und Zweitsprache für den Beruf

gemein-kommunikative Inhalte etwa gleich stark vertreten, im dritten Band überwiegen berufsspezifische Inhalte. Erst in einer vierten Aufbaustufe geht es dann ausschließlich um auf die einzelnen Berufsfelder bezogene Materialien (vgl. Lipczynska 1995). Das Inhaltsverzeichnis der drei Lehrwerkbände zeigt ein Planungsmodell im Sinne der Vorschläge dieses Beitrags für die berufsvorbereitende Arbeit mit Jugendlichen. • Welcher Abschluss wird angestrebt? Beim Beispiel 2 war eines der Probleme, dass die Lernenden zugleich auf die fremdsprachlichen Anforderungen des Abiturs vorbereitet werden sollten, während andere Kursteilnehmer lediglich Berufsschulabschlüsse anstrebten. Dies erforderte besondere Anstrengungen im Bereich der differenzierenden Ansätze im Material. Während dies für berufsvorbereitende Materialien charakteristisch ist, stellt das erwähnte „Zertifikat Deutsch für den Beruf die Lehrenden vor andere Probleme. Das Zertifikat, das inhaltlich praktisch eine Grundstufe für die „Prüfung Wirtschaftsdeutsch" darstellt, lässt den Aspekt der allgemeinen beruflichen Vorbereitung, abgesehen vom „Wirtschaftsdeutschen", außen vor und verzichtet vor allem auf didaktische Hinweise oder gar Planungsmodelle. 3.

Berufliche Schlüsselqualifikationen als didaktischer Kern des berufsbezogenen Deutschunterrichts

Die traditonelle Form der sprachlichen Vorbereitung auf einen Beruf oder auf Berufe generell erfolgte durch die Vorbereitung auf die Fachsprache eines Berufs. Im Mittelpunkt stand dabei in der Regel das Problem des Fachwortschatzes und später auch das Lesen von Fachtexten. Ein solches Vorgehen ist aus mehreren Gründen problematisch: • es besteht die Gefahr des Veraltens fachlicher Wortschatzbestände innerhalb nur weniger Jahre (siehe Informationstechnologie). • Angesichts des riesigen Umfangs von Fachwortschatzbeständen ist kaum eine begründbare Auswahl für einen solchen Vorbereitungskurs zu treffen. • Es bleibt unüberprüft, ob das rezeptive oder gar aktive Verfügen über Fachwortschatz tatsächlich eine für die konkrete Berufspraxis nützliche Fähigkeit darstellt.

965

• Zeitaufwand und Ergebnis eines solchen Vorgehens stehen angesichts all dieser unklaren Prämissen in keinem vernünftigen Verhältnis. Eine Untersuchung von Berufsschullehrwerken des ersten Jahres verdeutlicht das Dilemma: Bereits in dieser beruflichen Grundstufe enthielten die Lehrwerke mehr als 35 000 lexikalische Einheiten (vgl. Funk/Ohm 1991,178 f.). Eine Konzentration auf die Fachsprache, bes. den Wortschatzaspekt eines Berufs, wird auch durch eine andere Entwicklung problematisch. In einer Umfrage des Berufsförderungswerkes in Hamburg wurden Industriekaufleute gefragt, welche Eigenschaft sie für ihren Beruf am wichtigsen einschätzten, und bei Mehrfachnennungen war mit 93% Selbständigkeit an der Spitze, danach Flexibilität mit 81% und erst an dritter Stelle die Fachkenntnisse. Solche Untersuchungen gibt es auch für den Bereich des Middle Management, wo kommunikative Fähigkeiten und Persönlichkeitsvariablen wie Flexibilität und Selbständigkeit weit vor fachlichen Kenntnissen rangieren. Hier treffen sich offensichtlich die Einschätzung der Berufspädagogik und der Praxis. Der Anteil fachlichen Wissens und analog dazu fachsprachlicher Kenntnisse wird offensichtlich anders eingeschätzt als noch vor 10 Jahren, wo dies der dominante Faktor in der Aus- und Weiterbildung war. Hier gibt es neue Akzente. Die Frage ist, wie reagieren Sprachlehrerinnen und Sprachlehrer konkret darauf, wie können sie reagieren? Die Debatte der Berufspädagogik hat sich in den letzten Jahren weitgehend auf die Schlüsselqualifikationen und die Integration von früher oft in getrennten Lehrgängen vermittelten Fertigkeiten konzentriert und betont nun mehr und mehr nicht nur die Fachlichkeit im beruflichen Lernen, sondern immer stärker methodische, soziale und arbeitstechnische Aspekte des Berufs. Dazu der Berufspädagoge Andreas Schelten: Das allgemeine Ausbildungsziel ,Berufliche Tüchtigkeit' wird gekoppelt an Schlüsselqualifikationen wie Planungsfähigkeit, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit, Abstraktionsfähigkeit, Denken in Systemen, Selbständigkeit und Verantwortungsbereitschaft. Neue Inhalte ... sind meist komplexer und abstrakter als die herkömmlichen Inhalte. Mit der Neubestimmung von Zielen sind auch neue Ausbildungsmethoden entwickelt worden, bei denen die Aktivität und die Selbständigkeit der Teilnehmerlinnen im Mittelpunkt stehen. (Schelten 1991, 116)

966

. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Berufspädagogen nennen als Ziele einer beruflichen Ausbildung bzw. einer Weiterbildung, Fähigkeiten wie Routine, Sicherheit, Durchsetzungsfahigkeit, Anpassungsfähigkeit an neue Entwicklungen, Flexibilität, Transferfähigkeit und Abstraktionsfahigkeit (vgl. Harney; Pätzold 1990). Die Liste, die in dem Siemens-Modellversuch PETRA entwikkelt wurde, nennt detailliert Fertigkeitsbereiche und Einzelqualifikationen, die in Ausbildungsstufen und berufsfeldübergreifend von Bedeutung sind (vgl. Huisinga 1990, 261):

Dimension

In allen Listen dieser Art sind immer wieder diese Kernpunkte zu finden: Eigenständiger Umgang mit Aufgaben, Entscheidungsfahigkeit, Kritikfähigkeit/Selbstevaluation, Informationsverarbeitungskompetenz, Sozialverhalten/Teamfähigkeit, Selbständigkeit/Initiative. Angesichts der multikulturellen Realitäten in Ausbildung und Arbeitswelt — seien sie durch Migration oder Globalisierung, d.h. neue internationale Unternehmensstrukturen geprägt, ist die bisher in der Berufspädagogik noch weniger diskutierte Schlüsselqualifika-

Zielbereich

Wesentliche Einzelqualifikationen

Arbeitsplanung Arbeitsausführung Ergebniskontrolle

Zielstrebigkeit, Sorgfalt, Genauigkeit, Selbststeuerung, Selbstbewertung, Systematisches Vorgehen, Rationelles Arbeiten, Organisationsfähigkeit, Flexibles Disponieren, Koordinationsfahigkeit

Verhalten in der Gruppe, Kontakt zu anderen, Teamarbeit

Schriftliche und mündliche Ausdrucksfahigkeit, Sachlichkeit in der Argumentation, Aufgeschlossenheit, Kooperationsfahigkeit, Einfühlungsvermögen, Integrationsfähigkeit, Kundengerechtes Verhalten, Soziale Verantwortung, Fairness

ΠΙ Anwenden von Lerntechniken und geistigen Arbeitstechniken

Lernverhalten, Auswerten und Weitergeben von Informationen

Weiterbildungsbereitschaft, Einsatz von Lerntechniken, Verstehen und Umsetzen von Zeichnungen und Schaltplänen, Analogieschlüsse ziehen können, Formallogisches Denken, Abstrahieren, Vorausschauendes Denken, Transferfähigkeit, Denken in Systemen, ζ. B. in Funktionsblöcken, Umsetzen von theoretischen Grundlagen in praktisches Handeln, Problemlösendes Denken, Kreativität

IV Selbständigkeit und Verantwortung

Eigen- und Mitverantwortung bei der Arbeit

Mitdenken, Zuverlässigkeit, Disziplin, Qualitätsbewusstsein, Sicherheitsbewusstsein, Eigene Meinung vertreten, Umsichtiges Handeln, Initiative, Entscheidungsfahigkeit, Selbstkritikfahigkeit, Erkennen eigener Grenzen und Defizite, Urteilsfähigkeit

Psychische und physische Beanspruchung

Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer ζ. B. bei Langzeitaufgaben, wiederkehrenden Aufgaben, Unterforderung und Schwierigkeiten, Vigilanz, d. h. Aufmerksamkeit bei abwechslungsarmen Beobachtungstätigkeiten, Frustrationstoleranz, Umstellungsfähigkeit

I Organisation und Ausführung der Übungsaufgabe

II Kommunikation und Kooperation

V Belastbarkeit

99. Berufsbezogener Deutschunterricht — Deutsch als Fremd- und Zweitsprache für den Beruf

tion „interkulturelle Kompetenz" hinzuzufügen (Boeckmann/Fritz 1996, 33 f.). Überträgt man die berufspädagogischen Forderungen auf den Sprachunterricht, so würde dies in der Konsequenz analog bedeuten: Weg vom grammatischen und fachsprachlichen Spezialwissen hin zu verstärktem Kommunikationstraining unter Integration berufsspezifischer und je nach Kursrahmen auch betriebsspezifischer Elemente. Der fachliche und fachsprachliche Aspekt des Lernens ist offensichtlich nur ein Teil dessen, was später beruflich nützt. Die Ursachen neuer Zielperspektiven der beruflichen Bildung sind sicher vielfaltig und vor allem in einer sich rasch verändernden Arbeitswelt zu suchen. Was kann Sprachunterricht zu den skizzierten neuen Zielen im Bereich der beruflichen Schlüsselqualifikationen beitragen? Zu einzelnen Punkten: • Informationsverarbeitungskompetenz — berufsbezogen Die eigenständige Verarbeitung großer Mengen an neuen Informationen in mündlicher und schriftlicher Form ist in allen Listen vertreten. Dies ist gleichzeitig jene Schlüsselqualifikation, zu der Sprachunterricht am meisten beitragen kann. Informationsverarbeitungskompetenz hat im produktiven Bereich beispielsweise zu tun mit Mitschrift- und Notiztechniken (Beispiel am Telefon: Notieren, Wiederholen, Nachfragen). Informationen müssen sowohl direkt und simultan verarbeitet werden als auch mediengebunden (Telefon, E-Mail). Wo in der fachlichen Ausbildung beispielsweise die Arbeit mit virtuellen Übungsfirmen über das Internet trainiert wird, ist die Fähigkeit zur computergestützten Informationsrecherche und -Verarbeitung in der fremden Sprache ebenfalls unverzichtbares Lernziel berufsbezogener Sprachkurse. Im rezeptiven Bereich ist vor allem das bewusste Trainieren von globalen und selektiven Lese- und Hörstrategien zu nennen. Gerade hier hat die Fremdsprachendidaktik besonders in den 80er Jahren eine Fülle von Aufgabenformen und Übungspaketen entwickelt (vgl. Westhoff 1997). • Sozialverhalten/Teamfahigkeit Das aus den beruflichen Realitäten begründete Ziel der Teamfahigkeit fehlt auf kaum einer Lernzielliste. Für den Sprachunterricht gilt, dass Sozialformen, die Teamfahigkeit fördern, verstärkt zu fördern sind. Partnerar-

967

beit und die Arbeit in Kleingruppen sind nicht nur aus sprachdidaktischer Sicht erstrebenswert, sie sind gleichzeitig eine optimale Vorbereitung auf berufliche Arbeitsformen. Auch den Lernenden muss bewusst gemacht werden, dass es hierbei um eine Arbeitsform geht, die über den Sprachunterricht hinaus Bedeutung hat. • Selbständigkeit und Initiative Auch dazu können Sprachlehrerinnen und Sprachlehrer einen Beitrag leisten. Sie tun es durch Projektarbeit, durch autonomere Lernphasen und dadurch, dass sie die Lernenden über die Methoden und Inhalte des Unterrichts von Anfang an mitentscheiden lassen. Dies geschieht unspektakulär in vielen kleinen Entscheidungen im Unterricht. Man kann sich im Kurs darüber unterhalten, ob man einen bestimmten Text lieber leise und still lesen will, ob man ihn mit anderen zusammen erarbeiten will, oder ob man das mit einem Wörterbuch tun will, ob man versuchen möchte, es ohne Wörterbuch zu schaffen. Eine solche Transparenz von Lernzielen und Methoden fördert Selbständigkeit und Eigenverantwortung im Lernprozess. Für viele Lehrende mag dies alles selbstverständlich sein. Die Praxis der Weiterbildung zeigt aber: Das Ziel zu Erkennen und es als wichtig einzuschätzen heißt noch nicht, dass es in den vielen kleinen und großen methodischen und didaktischen Entscheidungen des Alltags im Kurs auch umgesetzt werden kann (Nunan/Lamb 1996, 3 f.). • Kritikfähigkeit/Selbstevaluation Selbstevaluation muss regelmäßiger Teil des Sprachunterrichts sein. Unterrichtsabschnitte und Vorbereitungsphase auf Tests bieten eine Vielzahl von Möglichkeiten, über kleine Fragebögen das Nachdenken über den eigenen Leistungsstand anzuregen. Ähnliche Verfahren sind für die Bereiche des Wortschatzes und der Grammatik möglich. Die Fähigkeit, offen mit eigenen und anderen Fehlern umzugehen bzw. die eigenen Leistungen zutreffend einzuschätzen, ist im Beruf ebenso wichtig wie im Sprachunterricht (Kleppin 1997). Die Identifizierung und die Korrektur von Fehlern beispielsweise sollte nicht nur von Lehrenden erfolgen, sondern von den Lernenden selbst kommen. Fehler sind nicht gleich Fehler, aber dort, wo beruflich-formale Texte produziert werden müssen, gibt es oft keine Fehlertoleranz. Es gibt

968

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Unterrichtsbeispiel 1: Mündliche Selbstevaluation Damit hab ich keine Probleme

Dabei bin ich nicht ganz sicher

Damit hätte ich noch Probleme

Ich bin nicht ganz sicher

Damit hätte ich noch Probleme

1. Einem Kunden ein Produkt beschreiben 2. Jemandem erklären, wie ein (bekanntes) Gerät funktioniert 3. Am Telefon einen Termin vereinbaren usw.

Unterrichtsbeispiel 2: Schriftliche Selbstevaluation Damit hab ich keine Probleme 1. In einem FAX auf einen Terminvorschlag antworten und eine Alternative vorschlagen 2. Einen Bewerbungsbrief schreiben 3. Auskunft über ein Produkt und ein Angebot anfordern usw.

andererseits Situationen im gesprochenen Bereich, in denen Fehler nur dann eine Rolle spielen, wenn sie das Verständnis der Kommunikationspartner beeinträchtigen. Diese Unterscheidung der Fehlerwertigkeit je nach beruflicher Situation ist für Lernende wichtig. Die Selbstevaluation des Lernprozesses gehört ebenfalls in diesen Zusammenhang der Neubewertung von Fehlern. Wir haben in Unterrichtsmaterialien kleine Fragebögen entwickelt, die manchmal im statistischen Sinne nicht ganz ernst gemeint sind, etwa: „Bist du ein guter Lerner?" oder „Kannst du gut Informationen verarbeiten?" In kaum einer Zeitschrift für Jugendliche fehlt der „Pseudo-Psycho-Text". Der Wert dieser Fragebögen liegt nicht in einer objektiven Selbstdiagnose. Sie bieten vielmehr eine Anregung zum Nachdenken: Womit habe ich Probleme? Wie und wann lerne ich eigentlich am besten? Das führt auf eine Metaebene des Denkens, zum Nachdenken über Lernen, über den eigenen Lernprozess.

Zusammenfassung: In den letzten Jahren hat sich die fachdidaktische Forschung im Bereich Deutsch als Fremdsprache zunehmend auf den Lernprozess konzentriert und auf die Frage, wie dieser Prozess durch methodische Intervention unterstützt werden kann. Eine Folge dieser Neuorientierung war auch das Aufgreifen von Sprachlern- und Arbeitstechniken im Unterricht und neueren Lehrwerken für erwachsene Sprachanfänger seit Anfang der 90er Jahre. Die Forschungen zu Lernstrategien und Arbeitstechniken in den letzten Jahren haben zudem eine Reihe von Hinweisen gebracht, wie individuelle Lernprozesse unterstützt werden können (Bimmel/Rampillon 1996). In der Bewusstmachung des Lernprozesses und im Training von Lern- und Arbeitstechniken liegt der wesentlichste Beitrag des Fremdsprachenunterrichts zur Berufsvorbereitung und zum beruflichen Weiterlernen. Wer im Sprachunterricht erfolgreich sein Lernmaterial selbst organisiert, seine Lernzeiten plant und seine Lernergebnisse kontrol-

99. Berufsbezogener Deutschunterricht — Deutsch als Fremd- und Zweitsprache für den Beruf

liert, der wird dies auch in anderen Lernbereichen besser tun können. Sprachlehrerinnen und -lehrer in der Berufsvorbereitung tun gut daran, die Neuorientierung der Berufspädagogik ernst zu nehmen, die Debatte um die Schlüsselqualifikationen aufzunehmen, gleichzeitig aber auch zu fragen, wo wir ganz konkrete Beiträge schon geleistet haben, und die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb darauf hinzuweisen, wo diese auch dort geleistet werden müssen. Die angeführten Beispiele zeigen: Es ist nicht nur möglich, moderne berufspädagogische Konzepte mit einem modernen Sprachunterricht in dieser Form zu verbinden, bei gleicher pädagogischer Grundorientierung ist die Synergie vorgezeichnet. Die wichtigsten Leitlinien sind dabei die Handlungsorientierung im Sinne der angestrebten beruflichen Praxis und aktive Mitbestimmung der Lernenden. Dass dies verbindbar ist mit systematischem Sprachenlernen, ist unstrittig. Grammatik und Fachsprache im Unterricht müssen demgegenüber ihre Rechtfertigung aus konkreten beruflichen, interaktiven Anwendungsbereichen ableiten. Eine solche Neubewertung des Lernprozesses führt zwangsläufig aber auch zu einer Neubewertung der Rolle der Lehrenden in diesem Prozess. Die Lehrenden werden in einem solchen Sprachunterricht mehr zum Lernberater/ zur Lernberaterin. Sie vermitteln Wissen über Lernstrategien und Lernkonzepte. Peter Bimmel hat dies in einer Tabelle (S. 970) zusammengefasst, die auf einen wesentlichen Zusammenhang verweist (Bimmel 1993, 9): Sozial-integratives Lehrverhalten kann auch soziales Lernverhalten auslösen. Autoritäres Lehrverhalten löst in aller Regel kein soziales Miteinander im Kurs aus. Die Begriffe in der Tabelle ermuntern Sprachlehrerinnen und -lehrer, Lehren und Lernen so zu organisieren, wie berufliches Lernen zumindest nach Vorstellung von Berufspädagogen und Unternehmen auch stattfinden sollte. Lehren und Lernen in Kurssituationen hat die Aufgabe, sprachliches und anderes Weiterlernen im Beruf vorzubereiten. Sprachlernen sollte nicht anders funktionieren als das Lernen, das sich auf fachliche oder berufliche Ziele bezieht. Nicht grammatische Terminologie und Progression, fachsprachlicher Wortschatz oder syntaktische Modelle stehen im Mittelpunkt des Unterrichtsprozesses, sondern die Entwicklung der Lernenden selbst, ihrer Persönlichkeit und ihrer Fähigkeiten. An die Stelle von Bildungsplanung per didakti-

969

scher Reduktion komplexer fachlicher Systeme treten Verfahren permanenter kooperativer Entscheidungsfindungen im Lehr/Lernprozess (Schratz 1991, bes. 65ff.). 4.

Sprachliches Handeln im Beruf

Fremdsprachliches Handeln im Beruf, die Fähigkeit, sich mit Fachleuten und Laien über berufsbezogene Themen und in beruflichen Kommunikationsdomänen zu verständigen, erfordert unter Berücksichtigung der in 1. bis 3. beschriebenen Kriterien der Kursplanung jeweils eine auf die Situationen der Lernenden zugeschnittene Planung von kommunikativen Lernzielen und dazugehörigen Aufgaben und Übungen. Dazu zwei Beispiele, die verdeutlichen, dass es auf Grund der Unterschiedlichkeit von Berufen und betrieblichen Hierarchien keinen gemeinsamen Nenner von Sprachhandlungsplanung für den berufsbezogenen DaF-Unterricht gibt. Eine berufsbegleitende Spracharbeit hat zwar in solch unterschiedlichen Fällen wie etwa einem finnischen Studenten, der sich auf die Verhandlungssprache Deutsch vorbereitet und einer Türkin, die sich auf einen Berufsabschluss im Pflegebereich vorbereitet, kaum etwas gemeinsam, in der Berufsvorbereitung überwiegen aber in beiden Fällen die Gemeinsamkeiten, auch dann, wenn man den allgemein-kommunikativen Bereich ausklammert. Sie beziehen sich außer auf den Bereich der Schlüsselqualifikationen auch auf den Wortschatz und die Grammatik. 5.

Wortschatzarbeit: Erarbeitung, Memorisierung, Autonomie

Während aus den geschilderten Gründen der Erwerb spezifischer Fachwortschatzbestände außer in prüfungsvorbereitenden Kursen kein prioritäres Ziel des berufsbezogenen DaF-Unterrichts ist, sind alle Strategien, die dazu dienen, Lernende auf den autonomen Umgang mit großen Wortschatzmengen vorzubereiten, systematisch zu trainieren. Die wichtigsten seien hier nur genannt: • Erschließungsstrategien aus dem Kontext anwenden können (auf der Wort-, Satzund Textebene) • Wortschatzerarbeitungsstrategien auswählen und systematisch anwenden können • Kenntnis der Systematik und des Gebrauchs von Nachschlagewerken

970

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Betriebsbesichtigung: Beschreibung des Betriebsaufbaus

Vorstellung eines neuen Geschäftspartners Informationen über potentielle Vertriebspartner auswerten (Marktstudien lesen)

Erläuterung von Produktionsabläufen Messegespräche: z.B. Beschreibung eines neuen Produktes

1t

Fremdsprachliche Situationen im beruflichen Alltag

Besprechung über eine MarketingKonzeption eines neuen Produktes ein Antwortschreiben auf ein Angebot in der Fremdsprache

einen Fachbuchtext zusammenfassen

Begrüßung und Bewirtung von Geschäftspartnern

Telefonat mit der deutschen Muttergesellschaft über Lieferschwierigkeiten



Betriebsbesichtigung: Beschreibung des Betriebsaufbaus

Erläuterung von Produktionsabläufen

ff

Fremdsprachliche Situationen in der beruflichen Ausbildung

sich auf ein Prüfungsgespräch vorbereiten

Handlungsanweisungen geben und verstehen eine Tätigkeit im Berichtsheft beschreiben

eine Produktbeschreibung machen

die Wirkungsweise eines Werkzeugs beschreiben

II

Eine Bedienungsanleitung verstehen und umsetzen

• Überprüfung von Rechtschreibung und Worttrennung (Fehlerkorrektur) • Erschließung von Wortformen eines Ausgangswortes (Plural, Grundformen, Tempora, Endungen) • Erschließung der Aussprache eines Wortes

• Erarbeitung von Synonymen, Homonymen und verwandten Wörtern • Erweiterung von Wortfamilien und Wortfeldern • Erschließung oder Überprüfung von Wortbedeutungen

99. Berufsbezogener Deutschunterricht — Deutsch als Fremd- und Zweitsprache für den Beruf

• Erarbeitung von Satz-Paraphrasen • Überprüfung oder Erarbeitung von Definitionen • Anlage, Überprüfung und ständige Aktualisierung eines persönlichen Glossars, einer „Vokabelbilanz" Im Hinblick auf die Gemeinsamkeiten zwischen Berufen und Berufsfeldern ist zudem weniger auf den Bereich der meist fachbezogenen Nomen hinzuweisen, als auf die Bereiche der Verben und Adjektive. So sind beispielsweise die Verben der Bedeutungsbereiche • quantitative Relationen (Vergleich, Zunahme, Abnahme) • Definitionen • Stoff- und Produktbeschreibungen • Arbeitsanweisungen in allen Berufsfeldern in hoher Frequenz und vielen Varianten vertreten. Angesichts der Wortschatzmengen sind zudem die Wortbildungsregeln (rezeptiv) Gegenstand der systematischen Wortschatzarbeit (Funk/Ohm 1991). 6.

Grammatik

Grammatikarbeit im Rahmen von berufsbezogenen Deutschkursen dient — soweit nicht Regeln und Strukturen aus der Grundgrammatik aufgenommen und wiederholt werden müssen - stets der rezeptiven und produktiven Verwendung von Strukturen und Verbalisierungsmustern im beruflichen Sprachhandlungsfeld. Das Aufgreifen und Systematisieren einzelner grammatischer Strukturen sollte immer dann und nur dann erfolgen, wenn die Kenntnis einer Struktur bei der Bewältigung einer vorgegebenen Textsorte und eines Handlungszusammenhangs nützt. Dabei sind besonders jene Strukturen und Regeln aufzugreifen, die in beruflichen Texten und ihren Verwendungszusammenhängen hochfrequent und breit anwendbar sind. Beispiel: In Texten über Börsenaktivitäten werden in jedem Fall Verben und Nomen, die eine Zu- oder Abnahme bzw. einen Gleichstand signalisieren, immer wieder zu finden sein. Dies gilt auch für Verben, die auf Zahlenrelationen allgemein Bezug nehmen. Da diese Verben auch in vielen anderen Wirtschaftszusammenhängen eine Rolle spielen (Berichterstattung, Controlling, Rechnungswesen), sollten sie bewusst gemacht und besonders geübt werden. Die fol-

971

gende Inventarliste schlägt eine Auswahl von Strukturen und Verbalisierungsmustern vor, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in berufsbezogenen Kontexten immer wieder zu finden sind. Die Entscheidung, ob eine Struktur rezeptiv oder produktiv eingeführt und geübt wird, ist jeweils aus dem kommunikativen Kontext heraus zu treffen. Auf der Wortebene Wortbildung Komposita, alle Wortarten und Varianten, Verb + Nomen, Nomen + Adjektiv, Ableitung Nominaliserung allgemein Verbalisierung von Nominalphrasen Affixe (bei allen Wortarten) Suffixe (bes. bedeutungstragende) Präfixe Infixe Determinativkomposita Verb Partizip I und II Verben ohne aktiv handelndes Subjekt Verben mit passivischer Bedeutung Passivkonkurrenzformen mit und ohne Modalfaktor Verben mit untrennbaren Präfixen u. a. prozessbeschreibende Verben Verben mit Bezug auf quantitative Relationen (Zu-/Abnahme, etc.) Auf der Satzebene Attribute/Attributsätze (v. a. Genitivattribute) Konjunktionen (v. a. Kausalität, Konsequenzen, Zugehörigkeit, Abgrenzung) Imperativformen (auch semantische Varianten) Pronominaladverbien Konjunktiv I und II (würde) Verneinung (versch., differenzierte semant. Formen) Auf der Textebene Pronominale Referenzen von Texten/Ersatzformen Konnektoren, ζ. B. Pronominaladverb Textsortentypik/Strukturmerkmale von Texten Fachtextlogik differenzierte Argumentationsstrukturen (Widerspruch/Einschränkung/Zustimmung) Die Liste zeigt, dass es weder eine „Grammatik der Fachsprache" noch ein spezifisch berufsbezogenes Grammatikinventar gibt. Im Bereich der interaktiven Sprachverwendung

972

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

gibt es keinen Unterschied zur Umgangssprache. In der schriftlichen Informationsvermittlung ergibt sich aus den fachsprachlichen Notwendigkeiten zur Präzision, Definition, Generalisierung und Verkürzung die vermehrte Verwendung der genannten Strukturen. Bei der Zusammenstellung von Kursinventarlisten ist daher an erster Stelle zu fragen, in welchem Verhältnis mündliche und schriftliche rezeptive und produktive Kommunikationsanteile stehen, erst auf dieser Basis ist das grammatische Inventar definierbar. Für den didaktisch-methodischen Bereich der Erarbeitung von Regeln und Sprachstrukturen gilt es, im Sinne der Schlüsselqualifikationen die Selbständigkeit der Lernenden zu fördern. Dies geschieht durch • Systematisches Anwenden der „S-O-SStrategie" (Sammeln, Ordnen, Systematisieren) • Erkennen von Regelmäßigkeiten von Strukturen in vorgegebenen Texten • Erstellen einer Beispielliste zu Strukturen • Erkennen von grammatischen Markierungen • Ergänzen von unvollständigen Tabellen bzw. • Eigenständiges Anlegen von Tabellen • Formulierung von Regel-Hypothesen • Überprüfen, Verändern oder Erweitern von Regel-Hypothesen Ein so verstandener berufsbezogener DaFUnterricht vermeidet sowohl fachsprachliche Engpässe als auch allgemeinsprachliche Unverbindlichkeiten und trägt der Tatsache Rechnung, dass das produktive Verfügen über berufsbezogene Fremdsprachenkenntnisse insgesamt selbst zu einer beruflichen Schlüsselqualifikation in interdependenten Industriegesellschaften geworden ist.

7.

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973

100. Interkulturelles Lernen Zeitschrift für Berufs- und 116-130.

Wirtschaftspädagogik,

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(Deutschland)

100. Interkulturelles Lernen 1.

2.

3. 4. 5. 6. 7.

1.

Wissenschaftstheoretische Standortbestiiranung interkultureller Lernkonzepte Multikulturalität der Gesellschaft und Konzepte des Interkulturellen Lernens — Ein Wechselspiel Zielsetzungen interkultureller Bildungsarbeit — historisch und synchron Gesellschaftliche Relevanz interkulturellen Lernens Interkulturelle Erziehung — Interkulturelles Lernen: Eine Akzentverschiebung Prinzipien und Merkmale Interkultureller Lernkonzepte Literatur in Auswahl

Wissenschaftstheoretische Standortbestimmung interkultureller Lernkonzepte

Um das breite Spektrum wissenschaftlicher Theoriebildung von „Interkultureller Pädagogik" und Ansätzen einer „Interkulturellen Erziehung" und „Interkulturellen Lernens" auch nur ansatzweise beschreiben zu können, scheint es sinnvoller, sich diesen Begriffen funktional zu nähern, als den Versuch einer „eindeutigen" und „objektiven" Definition zu unternehmen. Der Anspruch an wissenschaftliche Solidität im Schnittfeld geistesbzw. gesellschafts- und erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung erfolgt eben nicht qua definitionem. Theoriebildung im interkulturellen Kontext ist immer auch von politischen Interessen geleitet, kann also nicht „wertneutral" sein. Eine weitere Schwierigkeit, Konsens in der wissenschaftlichen Theoriebildung über den „interkulturellen Dialog" herzustellen, liegt darin, dass die in diesem Kontext gebräuchlichen Begriffe sowohl das Arsenal einer pädagogischen Fachsprache darstellen, zugleich aber auch in den Medien und in der Umgangssprache verwendet werden, so dass ein-

mal die gleichen Begriffe sehr Unterschiedliches meinen und andererseits mit unterschiedlichen Termini Gleiches gemeint sein kann. So wird beispielsweise mit „Interkultureller Erziehung" oder „Interkulturellem Lernen" sowohl die konkrete Projektwoche mit interkulturellen Lerninhalten aus dem Deutschoder Sozialkundeunterricht verbunden als auch die Forderung einer pädagogischen Grundlagenforschung in Abhängigkeit von Migration, Arbeitslosigkeit und Mehrsprachigkeit. Und schließlich weisen die aus dem angelsächsischen und frankophonen Raum bekannten Begriffe „multi-cultural" und „multi-ethnic" mehr Übereinstimmungen mit „interkulturell" auf, als die deutschen Übersetzungen „multikulturell" und „multiethnisch" vermuten lassen. Dies verweist uns auf die Notwendigkeit, unser Wissenschaftsverständnis von „Interkulturellem Lernen" kritisch zu reflektieren und — wie Borrelli in seiner Theorie der Interkulturellen Pädagogik bereits 1986 gefordert hat —, die durch einen inflatorischen Gebrauch abgenutzte Fachterminologie mit dem eigenen „vorläufigen Philosophiebewußtsein zu konfrontieren, das in Äußerungen, Feststellungen und Verhalten zum Ausdruck kommt", indem „das eigene Bewußtsein mittels Reflexion, Vergleich und Infragestellung bewußt gemacht wird" (Borrelli 1986, 23).

2.

Multikulturalität der Gesellschaft und Konzepte des Interkulturellen Lernens - Ein Wechselspiel

Mit Klafki gehen wir davon aus, dass Interkulturelles Lernen (er selbst spricht von Interkultureller Erziehung) — neben Fragen des Umweltschutzes, Friedenssicherung und

974

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Emanzipation — zu den epocheprägenden

Phänomenen unserer Gesellschaft zählt. So komplex die Beziehungen zwischen Multikulturalität und Interkulturellem Lernen auch sind, eines ist sicher unbestritten: Monokausale Erklärungen über die Entstehung von Multikulturalität und interkulturellen Lernkonzepten sind unzureichend, sei es, dass die Entwicklung von Multikultur einseitig als Folge der Interkulturellen Erziehungsmaßnahmen gesehen wird (Radtke 1990) oder dass umgekehrt Interkulturelle Erziehung einzig als „Antwort der Erziehungswissenschaften auf das soziale und politische Phänomen der multikulturellen Gesellschaft" zu sehen ist. (Friesenhahn 1988; Becker; Coburn-Staege 1994). Der erste monokausale Erklärungsversuch von Radtke etwa verkennt das Ursache-Wirkungs-Verhältnis von Migrationsbewegungen und Bildungsangeboten in ihrem historischen Zusammenhang und überschätzt - ohne es ausdrücklich zu wollen — die Reichweite von Pädagogik schlechthin. Nie haben die Erziehungswissenschaften in ihrer normativen Ausprägung die Gesellschaft so nachhaltig verändern und innovieren können, dass es tatsächlich zu einer so gravierenden Umwandlung, wie es Multikulturalität darstellt, hätte kommen können. Der zweite Erklärungsversuch ist zumindest realistischer: Richtig daran ist die Rückbindung der Erziehungswissenschaften an Politik, Ökonomie und Sozialstruktur unserer Gesellschaft. Kurzschlüssig daran ist die Einseitigkeit dieser Sichtweise; die Erziehungswissenschaften reagieren hier lediglich auf politische Tatbestände und verkennen damit den (auch) normativen Charakter Interkultureller Pädagogik. In interkulturellen Lernkonzepten wird Multikulturalität zunächst als gesellschaftliche Realität akzeptiert, von der man bei allen Bildungsmaßnahmen auszugehen hat, darüber hinaus aber als gesellschaftliche Utopie intendiert, die nur dann eine Chance auf Verwirklichung hat, wenn interkulturelle Lernprozesse — auf der Basis politischer Gleichberechtigung - den mühsamen Weg pädagogischer Aufklärungsarbeit gehen. Multikulturalität und Interkulturelles Lernen stehen demnach in wechselseitiger Beziehung (Hamburger 1986; Pommerin 1989). Verweist Multi-Kulturalität zunächst auf die bloße Existenz kultureller und ethnischer Vielfalt unserer Gesellschaft, so verweist die semantische Funktion der Vorsilbe - inter -

bereits auf die Intentionalität eines pädagogischen Programms, nämlich auf den Aspekt der Interaktion zwischen allen Angehörigen einer multikulturellen Gesellschaft, unabhängig davon, welcher Nationalität sie sind, welche Sprache(n) sie sprechen, welche Religionen sie ausüben, welcher sozialen Schicht sie angehören, welchen Geschlechts sie sind und welches Alter sie haben. Interaktion impliziert also kein gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein planvolles Miteinander. Die Intentionalität des miteinander Handelns, des bewussten und vernünftigen Umgangs zwischen Minderheiten und Mehrheit, hat engagierte Vertreter der multikulturellen Gesellschaft dazu veranlasst, vom Ziel einer interkulturellen Gesellschaft zu sprechen (Nieke

1994). 3.

Zielsetzungen in ter kultureller Bildungsarbeit — historisch und synchron

In den vergangenen 25 Jahren wurden verschiedene bildungspolitische Konzepte entwickelt, die teilweise in zeitlicher Abfolge entstanden, teilweise zeitgleich nebeneinander existierten und auch derzeit noch praktiziert werden. Die in den 60er und 70er Jahren entwickelte Ausländerpädagogik beruhte auf der Annahme, dass ausländischen Kindern aus der Divergenz ihrer Kultur und Muttersprache zur deutschen Sprache und Kultur Schwierigkeiten entstehen, die allein durch Kompensationsmaßnahmen zu beheben seien. Die sprachlichen Fördermaßnahmen sollten den Regelklassenunterricht über einen Zeitraum zwischen sechs Monaten bis zu acht Jahren unterstützen und ausländische Schüler und Schülerinnen auf die schulische und gesellschaftliche Integration vorbereiten. Diese aus heutiger Sicht zu Recht zu kritisierenden Bildungsangebote für Kinder und Jugendliche nicht-deutscher Herkunft stellten sich bereits nach kürzester Zeit als völlig unzureichende Assimilierungsversuche dar, die in der Folge auch durch Bilinguale oder Bikulturelle Bildungsprogramme abgelöst wurden. Priorität hatte nun die Herkunftskultur des Kindes sowie die systematische Vermittlung der jeweiligen Muttersprache. Trachteten Assimilierungskonzepte danach, Kinder einer „Vogel-friss-oder-stirb! "-Pädagogik auszusetzen, ohne dass Herkunftssprache und -kultur

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100. Interkulturelles Lernen

angemessen berücksichtigt wurden, scheiterten die Bilingualen bzw. Bikulturellen Konzepte daran, dass die Schüler und Schülerinnen ethnischer Minderheiten zur „Wahrung ihrer kulturellen Identität" in nationalen Subgruppen zusammengefasst wurden, die, wie alle Ghettos, Schutzfunktion haben, zunehmend aber ihre Mitglieder von der Mehrheitsgesellschaft isolierten. Ein Aufwachsen in der Enklave fördert aber keineswegs Selbstbewusstsein, sondern macht die Orientierung in der neuen Gesellschaft unmöglich und schadet einer kommunikativen und kognitiven Entwicklung der Heranwachsenden nicht-deutscher Herkunft, wenn auch aus entgegengesetzten Gründen wie bei den Assimilierungsmaßnahmen. Nach heftigen Auseinandersetzungen um die verschiedenen pädagogischen Ansätze kann heute folgender Konsens gelten: Beide Sprachen und Kulturen müssen von klein auf kontinuierlich und systematisch berücksichtigt werden. Sie müssen Eingang in die Curricula aller Schultypen und Schulformen finden, nicht nur im Sprachunterricht selbst, sondern in allen „kultursensitiven" Fächern (Reich 1993). Konzepte der Interkulturellen Erziehung bzw. des Interkulturellen Lernens sind erst Anfang der 80er Jahre in die (bildungs-)politische Diskussion eingegangen und werden häufig synonym gebraucht (Pommerin 1989; Barkowski 1984; Hohmann 1985). Beide Ansätze versuchen, die Vorteile der Bilingualen Erziehung, nämlich die Berücksichtigung der Herkunftssprache und -kultur von Kindern und Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft, mit den positiven Möglichkeiten eines Integrierenden Unterrichts, der den Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft in allen Bereichen des Lebens fördert, strukturell zu verbinden. Ihnen gemeinsam ist die Abkehr von der sog. „Ausländerpädagogik", die als Kompensationsmaßnahme zur Behebung vorhandener oder vermeintlicher sprachlicher und kultureller Defizite bei „Ausländern" entwickelt wurde, mit dem Ziel, ausländische Arbeiter und ihre Kinder reibungslos in unsere Gesellschaft integrieren zu können. In beiden Konzepten wird der systemstabilisierende Status „des Ausländers" in Frage gestellt. Gemessen an der Tatsache, dass in den 90er Jahren bereits Kinder der dritten und vierten Generation hier geboren sind und auch der überwiegend größte Teil in dieser Gesellschaft weiterhin leben möchte, ist es

angemessener, von Inländern ohne deutschen

Pass zu sprechen. Im Gegensatz zur „Ausländerpädagogik" richten sich Konzepte der „Interkulturellen Erziehung" und des „Interkulturellen Lernens" nicht nur an die Adresse der hier lebenden Menschen nicht-deutscher Herkunft, sondern in gleichem Maße an die deutsche Bevölkerung (Hoff 1981, 64f.; Gogolin 1988; Götze/Pommerin 1992; Schacher 2000). Beide gehen im Kern davon aus, dass die Anwesenheit von Menschen unterschiedlicher ethnischer, sprachlicher und sozialer Herkunft unsere Gesellschaft nicht zwangsläufig belasten, sondern dass sie in ihrer Differenziertheit ein gewaltiges Potential an Mehrsprachigkeit und kultureller Vielfalt darstellen, das nicht länger vergeudet werden darf, sondern als gegenseitige

Lernchance für das

einzelne Individuum wie für die gesamte Gesellschaft begriffen werden muss. Die Hypothese von der gegenseitigen Lernchance wurde von unterschiedlicher Seite seit den 70er Jahren vertreten und ist auch heute noch zentrales Anliegen interkultureller Lernkonzepte. Von der Verfasserin dieses Beitrags wurde sie im Rahmen des Konzepts eines „Integrierenden Deutschunterrichts mit ausländischen und deutschen Kindern" aufgestellt, wobei Projektarbeit als die zentrale didaktische Kategorie ausgewiesen wurde, um sich Wissen anzueigenen und Sprach-Handlungskompetenz sowohl in der Muttersprache als auch in der Zweitsprache zu erwerben (Pommerin 1977). Das Krefelder Modell, Anfang der 80er Jahre in Nordrhein-Westfalen entwickelt und durchgeführt, sah vor, ausländische Kinder durch ein bussing-System in Schulen „weißer Wohngegenden" zu bringen. Es wollte durch die Mischung von Nationalitäten und Ethnien dem Problem der nationalen Enklave entgegenwirken, übersah aber - trotz nachweislicher Erfolge - , dass ausländische Kinder dadurch systematisch ihren Familien entfremdet wurden und dennoch keine Aussicht auf eine dauerhafte Integration in ihren Schulen hatten (Dickopp 1982). Einige Jahre später wies Hopf am Beispiel konkreter Schulversuche nach, dass es durch „Individualisierung und Differenzierung in multiethnisch gemischten Klassen" gelingen kann, die Probleme heterogener Lerngruppen aufzufangen und sie als Lernchance für alle zu nutzen (Hopf 1984).

976

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

Ein innovatives pädagogisches Konzept, in dem sich der Unterricht der Muttersprache(n), Zweitsprache und auch Fremdsprache(n) mit friedenspolitischen Zielsetzungen verbinden ließ, gelang Ingrid Dietrich in den 80er Jahren mit der Übertragung der Freinet-Pädagogik auf die Bedürfnisse von Kindern nicht-deutscher Herkunft (Dietrich 1984, 27-30). Im Hinblick auf eine optimale Nutzung eines mehrsprachigen Potentials können die

4.

Tutoren- u n d Tandem-Modelle

gelten, in den

keit und Reichtum der einzelnen Sprachen

sich L r und L2-Lerner in multilingualen Lerngruppen gegenseitig unterstützen (Steinig 1992). Im Rahmen des „Nürnberger Schulversuchs" wies Claudia Kupfer-Schreiner in jüngster Zeit am Beispiel einer empirischen Untersuchung in einer deutsch-spanischen Grundschulklasse in Nürnberg nach, dass interkulturelle (Sprach-)Lernprozesse so gestaltet werden können, dass Kinder mit unterschiedlichen Sprachlernvoraussetzungen voneinander profitieren können, sofern Muttersprachenunterricht und Zweitsprachenunterricht inhaltlich und schulorganisatorisch miteinander koordiniert und in den obligatorischen Vormittagsunterricht integriert werden, durch Team-Teaching bilingualer Lehrkräfte unterstützt wird und schließlich Handlungsorientierung mit systematischen Lernphasen in einem sinnvollen Wechsel stehen (KupferSchreiner 1994). Im „Dialog zwischen den Religionen" sehen beispielsweise engagierte Kirchenvertreter einen Weg, um „Kulturbewegung zwischen Muslimen und Christen" zu ermöglichen (Lähnemann 1992) oder durch „Kulturelle Vielfalt statt nationaler Einfalt" zu überwinden (Miksch 1989; Fischer/Schreiner/ Doyé/Scheilke 1996).

und Kulturen. Damit interkulturelles Lernen im Sinne einer gegenseitigen Lernchance oder Bereicherung überhaupt stattfinden kann, bedarf es vor allem für die hier geborenen „Inländer ohne deutschen Pass" politischer Grundrechte und einer gerechten Verteilung materieller Ressourcen und Zugangschancen für eine berufliche und gesellschaftliche Integration. „Interkulturelle Erziehung" und „Interkulturelles Lernen" sind also keineswegs von der realen Politik abgehobene Folklore- oder Harmonisierungskonzepte, sondern sie sind rückgebunden an politische Rechte und die kulturelle und soziale Anerkennung des Fremden. Mit Franz Hamburger sind wir der Auffassung, dass gerechte gesellschaftliche Verhältnisse geschaffen werden müssen, um Voraussetzungen für den interkulturellen Austausch zwischen Identitäten zu ermöglichen:

Die H y p o t h e s e v o n der gegenseitigen

Lern-

chance könnte als die politisch bewusste Variante der sog. Bereicherungstheorie in die wissenschaftliche Diskussion eingehen, sofern sie den begegnungsorientierten Ansatz mit Konflikttheorien verbindet, wie es Manfred Hohmann bereits 1989 programmatisch gefordert hat. Dass diese Synthese nichts an Aktualität und gesellschaftspolitischer Brisanz verloren hat, belegen die Würdigungen dieses Ansatzes durch Sigrid Luchtenberg und Wolfgang Nieke in jüngster Zeit, in welchem interkulturelles Lernen mit der sogenannten Europäischen Dimension verknüpft wird (Luchtenberg/Nieke 1994, 2 ff.).

Gesellschaftspolitische Relevanz interkulturellen Lernens

So wenig wie es bei der Frage der Multikulturalität unserer Gesellschaft ausschließlich um Kulturkontrast, Kulturkonflikt oder um Bereicherung durch kulturelle Vielfalt geht, geht es bei der „Interkulturellen Erziehung" oder Konzepten des „Interkulturellen Lernens" allein oder vorrangig um Mannigfaltig-

„Nicht die verschiedenen Kulturen und die in ihnen entwickelten Identitäten sind also das ,Problem', sondern der ungerechte Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe. Über die Geltungsansprüche in konkret verschiedenen Kulturen kann man sich verständigen, nicht jedoch über die Vorenthaltung von Gleichberechtigung, über Dominanz und Diskriminierung" (Hamburger 1994, 171).

Gerechtigkeit und Autonomie sind aber nicht nur durch strukturelle gesellschaftspolitische Veränderungen zu bewerkstelligen, sondern sie sind auch Ausdruck einer geistigen Haltung gegenüber „dem Fremden" bzw. „dem fremd Gedachten", auch dann und dort, wo der Fremde nicht physisch anwesend ist. Hier allerdings tritt das Problem auf, ob und inwieweit Menschen bereit sind, „Interkulturelles Lernen" grundsätzlich auch dann als „ihre Angelegenheit" zu akzeptieren, wenn sich der Kontakt zu Fremden auf seltene Situationen beschränkt und subjektiv nicht als existenziell empfunden wird. Massive Widerstände gegen „Interkulturelles Lernen" sind erfahrungsgemäß vor

977

100. Interkulturelles Lernen

allem von solchen Gruppen der Gesellschaft zu erwarten, die sich entweder nicht persönlich betroffen fühlen oder deren Betroffenheit so groß ist, dass sie den Fremden als existenzielle Bedrohung wahrnehmen, etwa bedingt durch Konkurrenz am Arbeitsplatz oder bei der Wohnungssuche. Hier nutzt weder allein eine rationale Aufklärung über Ursachen und die tatsächlichen Lebensbedingungen von Arbeitsmigranten noch ein emotionaler Appell an mehr Vernunft und Toleranz. Hier muss Raum für eine „aktive Toleranz" und für gemeinsame Interaktionen zwischen denen geschaffen werden, die sonst dem „interkulturellen Dialog" aus dem Wege gehen oder ihn gar mit Mitteln der Gewalt zu verhindern suchen (Wierlacher 1994, 101-266). Einen interessanten Weg, interkulturelles Lernen zu initiieren, zeigt der französische Soziologie, Städteplaner und Therapeut Charles Rojzman (1997) auf: In der therapeutischen Basisarbeit mit Angehörigen verschiedener Ethnien in französischen Vorstädten versuchen die Betroffenen ein gemeinsames Anliegen durch Gespräche, Erkundungen und gegenseitige Besuche herauszufinden. Nach Rojzman geht diesem Anliegen meist ein Konflikt voraus: zuviel Schmutz und Lärm im Stadtteil, wachsende Kriminalitätsrate unter Jugendlichen, Arbeitslosigkeit, Prostitution, Drogenabhängigkeit, Verarmung der Familien etc., deren Ursachen von den Betroffenen unterschiedlich interpretiert werden. Nach dem „Auffinden gemeinsam wahrgenommener Ärgernisse" werden im gemeinsamen Gespräch Schuldzuweisungen vorgenommen, abgeschwächt oder uminterpretiert, bis von den Bewohnern des Stadtteils ein gemeinsames Ziel gesehen wird, was erst die Voraussetzung für ein gemeinsames Handeln darstellt. Neben dieser „therapeutischen Basisarbeit" werden politische Initiativen: Anträge in der Kommune, Petitionen, Unterschriftensammlungen, Pressekonferenzen und dergleichen durchgeführt. Wichtig bei diesem kleinschrittigen, mühsamen Prozess, den Rojzman als „Heilung der Gesellschaft" beschreibt, dass therapeutische Gespräche mit einzelnen Personen oder kleinen Gruppen, Prozesse der politischen Bewusstwerdung und strukturelle politische Arbeit nicht als Gegensätze empfunden werden dürfen, sondern sich wechselseitig bedingen (Rojzman 1997). Einen ähnlichen Prozess beschrieb der kürzlich verstorbene brasilianische Pädagoge und Kulturpolitiker Paulo Freire in seiner

„Alfabetisierungsmethode", indem er zentrale Probleme der Lebenswirklichkeit von Slumbewohnern brasilianischer Großstädte und der Landbevölkerung als „Schlüsselsituationen" auswies und das durch Gespräche gewonnene sprachliche Material nach phonologischen, semantischen, syntaktischen und gesellschaftsrelevanten Aspekten als SprachLern-Material zur Alfabetisierung Erwachsener wiederaufbereitete (Freire 1985). 5.

Interkulturelle Erziehung Interkulturelles Lernen: Eine Akzentverschiebung

Bisher war von den Gemeinsamkeiten der „Interkulturellen Erziehung" und des „Interkulturellen Lernens" die Rede. Nun wird es Zeit, sich die Bedeutungsunterschiede — auch im Hinblick auf deren Konsequenzen für Bildungsplanung — bewusst zu machen. In Konzepten der „Interkulturellen Erziehung" steht der Educandus und die Erziehung, die ihm angediehen wird, im Vordergrund. Erzogen aber werden nur Unmündige, in aller Regel Kinder, in der Familie, in der Schule und in Einrichtungen des Elementarbereichs. Im Erziehungsprozess ist zudem der Erziehende mindestens genauso wichtig wie der „Zögling". Mittels seiner Reife, seines Wissensvorsprungs, seiner (normalerweise) intellektuellen Überlegenheit ist er dem Zögling immer voraus, auch wenn sich der geistige und moralische Abstand zwischen dem Erziehenden und dem zu Erziehenden im Laufe der Zeit verringert. Das Verhältnis zwischen beiden aber ist durchweg asymmetrisch.

In Konzepten des „Interkulturellen Lernens" dagegen werden zwar auch Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlichen Reifegrads angesprochen; die Beziehung zwischen ihnen aber ist auf Symmetrie angelegt. Interkulturelles Lernen ist auch nicht beschränkt auf schulische Ausbildung oder akademische Bildung; es findet lebenslang und in allen Lebensbereichen statt. Interkulturelles Lernen im curriculum vitae entspringt eher einem Neugierverhalten, also einer primären Motivation, sich Neues anzueignen, und ist keineswegs auf schulisches Wissen beschränkt. Der Lernende hat hier - stärker als im Erziehungsprozess die Chance, sich selbstbestimmt und auto-

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XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

nom mit dem, was ihn umgibt und berührt, emotional und intellektuell auseinanderzusetzen und sich im Kant'schen Sinne in eigener Verantwortung aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit" zu befreien. In Konzepten des „Interkulturellen Lernens" hat zudem noch eine Akzentverschiebung vom Lehrenden zum Lernenden stattgefunden. Im Vordergrund steht der Lernprozess des Subjekts, eine Tendenz, die wir in allen emanzipatorischen und kommunikativen Lernkonzepten feststellen können. Die Komplexität und Durchgängigkeit, die mit der Vorstellung eines lebenslangen Lernprozesses verbunden ist sowie die stärkere Autonomie des lernenden Subjekts stellen die Gründe dar, den Begriff des „Interkulturellen Lernens" dem der „Interkulturellen Erziehung" vorzuziehen. Interkulturelle Erziehung ist demnach Teil eines umfassenden Konzepts des Interkulturellen Lehrens und Lernens (Pommerin 1989; Barkowski 1993). 6.

Prinzipien und Merkmale Interkultureller Lernkonzepte

In allen bekannten Ansätzen des Interkulturellen Lehrens und Lernens geht es in einer ersten Dimension darum, Gemeinsamkeiten zwischen Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft aufzuspüren und diese zum Gegenstand von Lernprozessen zu machen. Unterrichtsdidaktisch und -methodisch eignen sich besonders biographische und narrative Arbeitsformen, wie Lebensläufe untersuchen, Rollenrepertoires aufstellen, gegenseitige Befragungen durchführen und Erkundungen aufspüren unter Heranziehung entsprechender Kinder- und Jugendliteratur, oder Reisen durch verschiedene Länder imaginieren (D'Orta 1991; Glantschnig 1993). Bei der Bearbeitung „generativer Schlüsselbegriffe" (Paulo Freire) entdecken Lernende häufig, dass Empfindungen der Freude oder Angst, Erfahrungen mit Freundschaft oder Ablehnung kulturübergreifend sind und helfen, gegenseitige Vorurteile abzubauen und positive Beziehungen in der peer group herzustellen (Becker; Coburn-Staege 1994; Luchtenberg 1995; Pommerin 1996). Eine zweite Dimension interkultureller Lernkonzepte liegt im Auffinden von Unterschieden, in der Bewusstwerdung von Heterogenität, die als gegenseitige Lernchance er-

griffen werden sollte, um die eigene Begrenztheit zu überwinden, Vorurteile abzubauen und Empathie zu lernen. War diese Dimension in den Anfängen der „Interkulturellen Erziehung" darauf ausgerichtet, Anderssein und Andersdenken zu überwinden, weil man glaubte, nur auf diesem Wege zur gegenseitigen Verständigung zu gelangen, so zeigt die Entwicklung interkultureller Konzepte der letzten Jahre, dass es vor allem darum geht, Fremdheit zu ertragen und zu respektieren, auch dann, wenn das Fremde sich (zunächst) unserem Verständnis entzieht. Als „vernetztes Interdependenzmodell" sieht Guido Schmitt einzelne Elemente oder Prinzipien interkultureller Bildungsarbeit in folgender „diskursiver Darstellung": Fremdheit wahrnehmen Gefühle wahrnehmen Fixierungen erkennen Verständigung bewerkstelligen Zwei- oder Mehrsprachigkeit wertschätzen (auch in ihrer Fehlerhaftigkeit) (Schmitt 1993, 9) In allen Konzepten des Interkulturellen Lehrens und Lernens lassen sich — trotz unterschiedlicher Gewichtung — folgende Grundrichtungen ausmachen: 6.1. Interkulturelle Lernkonzepte intendieren Erziehung zu Mehrsprachigkeit 6.2. Interkulturelle Lernkonzepte ermöglichen Fremdheitserfahrungen und sind Teil der Anti-Rassismus- und Friedenserziehung 6.3. Interkulturelle Lernkonzepte sind durch Community Education integriert in ein umfassendes Konzept der inneren und äußeren Schulreform Diesen Grundrichtungen interkultureller Lernkonzepte sind pädagogische Prinzipien zugeordnet, die nach Barkowski appellative, programmatische, lerntheoretische und kognitionspsychologische Qualitäten haben: Integration durch Emanzipation Einbeziehung der Muttersprache(n) Nachbarschaftsorientierung Handlungsorientierung Dialogförderung (Barkowski 1997, 188 f.) Wir möchten noch ein weiteres Prinzip ergänzen, das sich für die Weiterentwicklung interkultureller Lernkonzepte - nach den jüngsten Erfahrungen in verschiedenen Schul-

979

100. Interkulturelles Lernen

und Modellversuchen - als innovativ erwiesen hat; dieses ist: Kreativitätsförderung und Umgang mit ästhetischen Strukturen (in Ergänzung zu Systematik und Reflexion) (Pommerin 1996) Zurück zu den drei Grundrichtungen interkultureller Bildungsarbeit: 6.1. Mehrsprachigkeit in Interkulturellen Lernkonzepten Im Gegensatz zu einigen unserer Nachbarländer, wie etwa Belgien, Luxemburg, die Niederlande oder die Schweiz, kann Deutschland nicht auf eine Tradition von Mehrsprachigkeit verweisen. Eine Hierarchisierung der in unserer Gesellschaft gesprochenen Fremdsprachen nach ihrem Prestigewert — ganz oben steht das Englische als Handelssprache und lingua franca, gefolgt vom Französischen als „Kultursprache" — führt dazu, dass die Sprachen der Migranten bestenfalls noch das Prestige von community languages besitzen. Die Forderung, Türkisch zumindest als zweite Fremdsprache im Abitur anzuerkennen, setzt sich in den einzelnen Bundesländern nur sehr langsam durch. Ein Bewusstsein zu schaffen, dass Mehrsprachigkeit ein wertvolles Potential in einer multikulturellen Gesellschaft darstellt, das nicht länger vergeudet werden darf, ist bis auf den heutigen Tag ein wichtiges sprachenpolitisches Ziel interkultureller Lernkonzepte (Landesinstitut 1997; 1998; Götze 1998; Krumm 1997; Luchtenberg 1998). Ende der 70er Jahre wurden im Rahmen der Forschungsgruppe ALFA (Ausbildung von Lehrern Für Ausländerkinder) unter Leitung von Hans H. Reich kontrastive Sprachvergleiche in Grundwortschatz und Elementargrammatik zwischen den einzelnen Herkunftssprachen und dem Deutschen als Zielsprache durchgeführt. Diese von verschiedenen Expertengruppen entwickelten Basismaterialien für die Planung von Unterricht und die (selbständige) Fortbildung ausländischer und deutscher Lehrkräfte können durchaus als Grundstein für die gesamte „Ausländerpädagogik" der 70er und 80er Jahre gelten. Eine Verbindung zwischen systematischer Spracharbeit (Türkisch-Deutsch) und situativer Einbettung war das Ziel des Berliner Modellversuchs zur „Zweisprachigen Alfabetisierung" (Nehr u.a. 1988).

Unter der Zielsetzung, interkulturelle Lerninhalte projektorientiert zu vermitteln und Sprachreflexion mit kreativen Prozessen zu ko-

ordinieren, stand ein Teil des „Nürnberger Schulversuchs" (Kupfer-Schreiner 1994; Pommerin u.a. 1996). Neben diesen offiziellen Schul- und Modellversuchen — und auch hier wurde nur ein geringer Teil erwähnt — haben die RAAs (Regionalen Arbeitsstellen) eine wichtige Pionierarbeit hinsichtlich der Entwicklung interkultureller Lernmaterialien und der kritischen Auswertung von Erfahrungen mit interkulturellem Lernen in und außerhalb schulischer Lebensbereiche geleistet (Hofmann 1993,2440). In diesem Zusammenhang sind ebenfalls Modellversuche zum Frühbeginn des Fremdsprachenunterrichts zu erwähnen, die in der Regel Englisch und Französisch, in jüngster Zeit auch Italienisch ab der 3. Klasse vermitteln, ihr Programm aber (noch) nicht auf alle Herkunftssprachen ausgeweitet haben. Die für die nahe Zukunft zu fordernde inhaltliche und schulorganisatorische Koordination von Modellversuchen zum frühen Fremdsprachenlernen und solchen mit interkulturellem Schwerpunkt würde zukunftsweisende Perspektiven eröffnen. Die in den letzten Jahren in Hessen und Nordrhein-Westfalen gegründeten EuropaSchulen mit interkulturellem Profil können ebenfalls als ein Versuch gewertet werden, interkulturelles Lernen mit der sog. Europäischen Dimension zu verbinden, indem differenzierte Angebote zur Mehrsprachigkeit mit den für interkulturelles Lernen spezifischen Prinzipien von Handlungsorientierung Situationsbezug Dialogorientierung und Nachbarschaftsorientierung durch entsprechende Angebote eines „Lernens in und für Europa" kombiniert werden (Reiberg 1994). Im Hinblick auf eine Weiterentwicklung beider Konzepte muss die Multikulturalität unserer Gesellschaft und die unserer Nachbarn ernst genommen werden, damit die Europäische Dimension nicht zum Eurozentrismus verkommt und umgekehrt Interkulturelles Lernen nicht als „Feigenblatt-Pädagogik" auf ihre folkloristischen Akzente reduziert wird. Eine Synthese zwischen Interkulturellem Lernen und der sog. Europäischen Dirnen-

980 sion könnte von folgenden Leitgedanken ausgehen: 1. Die Bildungsangebote dürfen nicht länger nationalstaatlich sein. 2. Curricula und Lehrpläne für alle Fächer müssen interkulturelle Lerninhalte und Arbeitsformen aufnehmen. 3. Ein liberalisiertes und erweitertes Fremdsprachenangebot sollte sowohl den regionalen Gegebenheiten als auch den individuellen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler angepasst werden. 4. Öffnung von Schule nach beiden Seiten also Experten rein in die Schule und Schüler und Schülerinnen raus aus der Schule — sollte nicht länger eine pädagogische Formel bleiben, sondern - je nach strukturellen Bedingungen der einzelnen Schule - in die Tat umgesetzt werden. 5. Neben systematischer Unterweisung sollten auch für höhere Jahrgangsstufen handlungsorientierte Arbeitsformen treten, also verstärkt Projektarbeit und Arbeitsgemeinschaften. 6. Internationale Begegnungen mit Partnerschulen werden zum festen Bestandteil des Schullebens für alle Schüler und Schülerinnen. (Pommerin 2000). 6.2. Fremdheitserfahrung und AntiRassismus-Erziehung In den beiden grundlegenden Dimensionen interkultureller Lernkonzepte: Gemeinsamkeiten und Unterschiede ausfindig machen, werden bereits die Fundamente für Fremdheitserfahrungen und somit die Voraussetzung für eine antirassistische Haltung in der frühen Kindheit gelegt. Die Auseinandersetzung mit „dem Fremden" oder „der Fremden" findet bezeichnenderweise eher essayistisch als in wissenschaftlichen Texten statt. Sie beinhaltet zunächst eine sehr viel stärkere kulturanthropologische und philosophische Dimension als die (gesellschafts-)politische Diskussion über Anti-Rassismus und Friedenserziehung. Erst Ende der 80er Jahre wurden Fremdheitserfahrungen Gegenstand interkultureller Lernkonzepte und sind etwa zeitgleich mit Fragen des Anti-Rassismus und der Friedenserziehung diskutiert worden (Essinger/Uçar 1993; Borrelli 1992; Essed/Mullard 1991). „Sich fremd fühlen", „fremd sein", „als Fremder behandelt zu werden", sind Grunderfahrungen menschlicher Existenz, die Angst auslösen und in der Folge Scham, Abnei-

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III

gung, Anbiederung und in extremen Fällen Hass erzeugen; Gefühle, die auch bereits sehr junge Kinder erleben und nachvollziehen können. Die Auseinandersetzung mit „Fremdheit" und seinem, zumindest in Deutschland sehr problematischen Pendant, der „Heimat", ermöglicht im Rahmen interkultureller Lernkonzepte vor allem die Entwicklung von Empathie und Frustrationstoleranz. Sie setzt Neugier voraus und ermöglicht „themenzentrierte Ländervergleiche" (Barkowski 1984) bzw. kultur- und sprachenvergleichende Arbeitsvorgehen im Rahmen interkultureller Projekte, die von „zentralen Schlüsselbegriffen" der Heranwachsenden ausgehen. Beispiele sind etwa: Sesshaftigkeit und Bewegung Gastfreundschaft Einstellung zum Tod Verhältnis zwischen den Geschlechtern und Generationen Freundschaft Wandel von Kindheit und Jugend Sexualität und Liebe Bedeutung von Kunst für den Alltag von Menschen etc. In seinem kritischen Erfahrungsbericht begründet Jürgen Milchert, warum das Thema „Sesshaftigkeit und Bewegung" in einem fächerübergreifenden Projekt an der neuen Europa-Schule Köln-Zollstock so wichtig wurde: „Fremdenfeindlichkeit und Angst vor Einwanderung gründet im Wesen auf einem Bewußtsein, das die Seßhaftigkeit der Menschen als kulturell höherwertige und geschichtlich abschließende Existenzform postuliert. ... Individuen, Ethnien und ganze Völker wandern, werden seßhaft und wandern weiter. Unser vorherrschendes Geschichtsbewußtsein behandelt das Wandern der Menschen jedoch zu Unrecht als Randerscheinung der menschlichen Existenz" (Milchert 1994, 264b-265a).

Die großen Wander- und Migratonsbewegungen der Menschheitsgeschichte nachzuzeichnen, sie auf ihre politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ursachen zu analysieren und deren Konsequenzen bis in die jüngste Geschichte zu verfolgen, wäre denn auch ein interessantes fächerübergreifendes Projekt für eine interkulturell arbeitende Schule mit einem modernen Europa-Profil. Neben der Anfertigung von Sprachenlandkarten könnte ein Beitrag der sprachlichen

981

100. Interkulturelles Lernen

Fächer in einer Anthologie literarischer und expositerischer Texte über „Sesshaftigkeit und Bewegung", „Reisen und Heimatverbundenheit" bestehen, die gerade in multinationalen Lerngruppen Anlass für weitere interkulturelle Aktivitäten bietet. Sinnliche Erfahrungen mit Fremdheit müssen in multikulturellen Lerngruppen nicht erst künstlich geschaffen werden. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Schülerinnen und Schüler, ihrer Eltern und Freunde liefert bereits das Potential für interkulturelle Begegnungen und ihre Aufarbeitung durch Gespräche und Interaktionen, gegenseitige Besuche und gemeinsame Feste. In diesem Zusammenhang üben literarische Texte verschiedener Länder, Filme, Theaterstücke und andere Kulturprodukte aufgrund ihrer spezifischen ästhetischen Struktur einen besonderen Reiz aus, die die Heranwachsenden in der Regel keineswegs überfordern. Die Zielsetzung, „Sprachenvielfalt als Chance" aufzugreifen und diese vom Kindergarten bis zum Ende der Sekundarstufe systematisch zu fördern, vertritt der Schweizer Sprachforscher und Didaktiker Basil Schräder in seinem „Handbuch für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen" (Schräder 2000). In diesem Zusammenhang wäre das KIDS-Projekt (Künstler in die Schule) zu nennen, das in verschiedenen Städten praktiziert wird (Berlin, München, Augsburg und Nürnberg). Künstler arbeiten in den Bereichen Tanz, Musik, Malerei, Literatur und bildender Kunst mit Jugendlichen nicht-deutscher Herkunft in sozialen Brennpunkt-Schulen zusammen, indem vor allem die Alltagserfahrungen des interkulturellen Umfelds in die künstlerische Gestaltung der einzelnen Projekte einfließen. Die bisherigen Erfahrungen mit dem KIDS-Projekt waren durchweg erfolgreich. Die Heranwachsenden gewannen mehr Selbstvertrauen und konnten sich zumindest ansatzweise mit der Institution Schule identifizieren, sie schlossen durch das gemeinsame Vorhaben Freundschaften, die auch das jeweilige Projekt überdauerten, sie erfuhren Respekt und Anerkennung von den Erwachsenen, gewannen — wie Karger ausführte - ihre Sprache wieder, was sich schließlich auch positiv auf den Unterricht anderer Fächer auswirkte. Die Glaubwürdigkeit, die von der Authentizität nicht-professioneller Pädagoginnen und Pädagogen ausgeht, ist vielleicht der Schlüssel zum Erfolg.

Dies sollte Schule bei der Initiierung interkultureller Lernprozesse sowohl durch eine stärkere Vernetzung interkultureller

Bildungs-

angebote im weiteren Umfeld als auch durch eine Öffnung der Schule stärker als bisher berücksichtigen. Rassismus überwinden, Fremdheit mit Neugier begegnen und mit sprachlicher und kultureller Vielfalt selbstverständlich im Alltag umgehen (lernen), diese Zielsetzungen hat sich die Anne-Frank-Stiftung in Amsterdam gesetzt und mit ihren programmatischen Konzepten einen wichtigen internationalen Beitrag zur Anti-Rassismus- und Friedenserziehung geleistet. Die von einer internationalen Projektgruppe entwickelten Materialien „Das sind wir" (Arbeitsbuch für Schüler, Lehrerbegleitheft und Film) machen das Thema „Fremdheit" und „Annäherung" für Heranwachsende aller Altersgruppen interessant und nachvollziehbar und lassen auch für die eigenen Erfahrungen mit dem „Anderen" genügend Spielraum (Anne-Frank-Haus 1995). Das Ergebnis zahlreicher empirischer Untersuchungen und Fallstudien zur Frage, wie Schule mit Multikulturalität und Mehrsprachigkeit umgeht (vgl. u. a. Gogolin 1994), war — zumindest in den 80er, auch noch in den 90er Jahren — übereinstimmend negativ: „Die kulturelle Homogenität der deutschen Schule — so Aueraheimer u. a. in ihrer zusammenfassenden Einschätzung der Forschungslage — wurde seitens der Lehrer und Lehrerinnen nicht in Frage gestellt. Auf die besonderen Lernvoraussetzungen ausländischer Schüler einzugehen, bedeutete für die Lehrer meist nur Senkung des Standards. Eine inhaltliche Neuorientierung wurde dagegen kaum in Betracht gezogen. ... Vorherrschend war der Defizitansatz unter Fokussierung der Sprachdefizite. ... Die Lebenswelt der Migrantenkinder wurde selten im Unterricht thematisiert und sonst gar nicht berücksichtigt. Interethnische Konflikte innerhalb der Schule wurden von den Lehrern nicht gesehen. Es zeichnete sich die Tendenz zur Problemverleugnung ab ..." (Auernheimer u.a. 1996,4-5).

Die erfolgreiche Durchführung von Schulprojekten und Modellversuchen zur Interkulturellen Erziehung mit der Akzentuierung von Mehrsprachigkeit, Anti-Rassismus-Erziehung oder Community Education in Einzelfällen in den vergangenen zwanzig Jahren hat sicher zu einer stärkeren Sensibilisierung für gesellschaftliche Entwicklungen von Multikulturalität und Interkulturalität im pädagogischen Umfeld geführt. Die Homogenisierungs- und Abwehrtendenzen waren sicher keineswegs nur ein Pro-

982 blem der 80er Jahre. Sie bestimmen auch den schulischen Alltag von heute. Die Divergenz zwischen der Selbstwahrnehmung interkulturell arbeitender Lehrkräfte und ihrer Außenwirkung sowie die unübersehbare Tatsache, dass auch nach nunmehr dreißigjähriger Erfahrung mit interkultureller Bildungsarbeit in Schule und Elementarbereich, Erwachsenenbildung und in außerschulischen Lebensbereichen interkulturelles Lernen immer noch nicht verankert ist, lässt die Forderung nach systematischer und kontinuierlicher Forschung über Interkulturelles Lernen nach wie vor als sinnvoll erscheinen. 6.3. Community Education als Teil der inneren und äußeren Schulreform Die Realisierung eines interkulturellen Lernkonzepts mit einem differenzierten Angebot an Mehrsprachigkeit, projektorientierten Arbeitsformen, Öffnung von Schule zu einer Lernwerkstatt, in der Heranwachsende Erfahrungen in dem beschriebenen Sinne machen und diese kritisch auswerten können, ist an eine innere und äußere Schulreform gebunden. Interkulturelles Lernen ist im Rahmen innovativer Schulentwicklung ein wichtiges Element, ein integraler Bestandteil von Unterricht und Schulleben. Bereits 1984 hat der Berliner Erziehungswissenschaftler Jürgen Zimmer im Nachwort zu einer wissenschaftlichen Publikation über „Erziehung in der multikulturellen Gesellschaft" die konkrete Utopie der Interkulturellen Erziehung entworfen, in der alle Merkmale und Prinzipien interkulturellen Lernens im Hinblick auf eine umfassende Schulentwicklung auf prägnante Weise zusammengefasst sind: „Mal angenommen, wir hätten schon eine entwikkelte interkulturelle Erziehung, dann würde eine Schule mit ausländischen und deutschen Kindern in Berlin-Kreuzberg ungefähr so arbeiten: Sie würde die Kulturen der Herkunftsländer als gleichwertig akzeptieren und die Kinder auf ein Leben in multinationalen Gesellschaften vorbereiten. ... Diese Schule wäre familienfreundlich. Sie würde Eltern, Großeltern, Verwandte und Nachbarn einladen, internationale Kochkurse organisieren, Freizeitangebote für Kinder und Erwachsene anbieten ... und Eltern auch in Angelegenheiten beraten, die jenseits von Pädagogik liegen. Sie wäre ein kleines Stadtteilzentrum. ... Sie würde offenen Unterricht praktizieren und es Kindern mit ganz unterschiedlichen Vorerfahrungen ermöglichen, in kleinen

XII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand III Gruppen an ihren Voraussetzungen und Interessen anzuknüpfen. ... Diese Schule würde gemeinwesenorientiert arbeiten — mit dem Bezug zur Lebens- und Arbeitswelt im Stadtteil. Sie würde mit Handwerksbetrieben, öffentlichen Einrichtungen, Initiativgruppen, Sozialarbeitern zusammenarbeiten in der Erkenntnis, dass wichtige Handlungsfelder für Kinder und Jugendliche gerade jenseits des Schulgeländes erschlossen werden sollten ..." (Zimmer 1984, 237-238)

Beinahe zwanzig Jahre nach dieser Utopie stellt sich die Frage, warum solche interkulturellen Schulen nicht längst zum normalen Alltag unserer Schullandschaft gehören, zumal nicht nur die Kinder nicht-deutscher Herkunft von einer solchen Institution profitieren würden, sondern auch die Heranwachsenden der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Welche Ursachen sind dafür verantwortlich, dass die offensichtlichen Vorteile einer solchen interkulturellen Schule nicht genutzt werden (können)? Und welche Ansätze sind innovativ und gleichzeitig programmatisch genug, um community education schrittweise in Konzepte des Interkulturellen Lernens umzusetzen? Der bekannte Slogan „Macht die Schule auf, lasst das Leben rein!" bringt zwar die Forderung nach Öffnung von Schule auf den Punkt, lässt aber noch die Entscheidung offen, mit welchen gesellschaftlichen Phänomenen und Menschen sich die Lernenden auseinandersetzen sollen und wie die Beschäftigung im einzelnen aussehen könnte, um den Anspruch interkulturellen Lernens einzulösen. Die Öffnung von Schule erfolgt nach beiden Seiten: Künstler, Handwerker, Journalisten, Rechtsanwälte, Eltern oder kompetente Laien werden in den Unterricht einbezogen, wie etwa in dem o. g. KIDS-Projekt, in dem überregional bekannten Projekt „Museum im Koffer" oder in dem Projekt „Telling Tales Together", bei dem Eltern und Großeltern in Großbritannien Legenden und Mythen in ihrer Muttersprache im Rahmen des obligatorischen Unterrichts vortragen (Ingham in Pommerin 21995, 176-186). Lernen findet dann zu einem beträchtlichen Teil auch außerhalb schulischer Räume, in eben der community, statt. Die im angelsächsischen und niederländischen Raum bekannten Ansätze und Projekte zur community education weisen eine starke (bildungs-)politische Dimension aus, die mit der bekannten Forderung nach Dezentralis-

100. Interkulturelles Lernen mus und wachsender Autonomie der einzelnen Schule, mit einem größeren Mitspracherecht von Eltern und Schülern bei allen schulorganisatorischen und curricularen Maßnahmen verbunden ist. In ihrer kritischen Bestandsaufnahme über „Community Education und multikulturelle Nachbarschaftsschule" kommt Christa Klement zu dem eher resignativen Schluss, dass es für den „Normalbürger" in Deutschland kaum eine Möglichkeit gibt, auf das Geschehen in der Schule in dem eben skizzierten Sinne echten Einfluss zu nehmen. Veränderungen sind letztlich nur möglich, wenn sie von der staatlichen Schulverwaltung abgesegnet sind. Staatliche Schulverwaltungen aber erteilen Genehmigungen innerhalb relativ eng gesetzter Grenzen: Kreative Gestaltung des Schullebens und partielle Öffnung von Schule ist sicher möglich, vielfach sogar gewünscht, pädagogisch-politische Arbeit in Richtung auf die Selbstorganisation von Benachteiligten hat in diesem Rahmen jedoch keine Chance (Klement 1991,173). Community education im Rahmen interkultureller Bildungsarbeit dennoch zu praktizieren, wird derzeit in der Möglichkeit gesehen, die Freiräume innerhalb des bestehenden Schulsystems zu nutzen, was, so Klemlat, allerdings die Akzeptanz durch Schulleitung und Schulpflegschaft notwendig macht. 7.

Literatur in A u s w a h l

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XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV: Leistungskontrolle und Leistungsmessung 101. Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und -therapie 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Forschungsgeschichtliche Positionen im Überblick Beschreibung und Analyse von Fehlern Die Erklärung von Fehlern Die Fehlerbewertung Die Fehlertherapie Literatur in Auswahl

Forschungsgeschichtliche Positionen im Überblick

Bis in die sechziger Jahre hinein wurde der Fehler als die ,Sünde' des Fremdsprachenlerners gesehen, mit der man zwar stetig rechnen müsse, die es aber auszumerzen gelte. Die Einsicht, dass Fehler nicht nur beim Erstsprachenerwerb natürliche Etappen und Zwischenschritte auf dem Weg des Erwerbsprozesses darstellen und darüber hinaus wichtige Erkenntnisse über diesen liefern, geht vor allem auf Arbeiten von Corder (1967) und Selinker (1972) zurück. Im Kontext dieses Einschätzungswandels veränderten auch die zahlreichen (empirischen) Forschungsarbeiten zum Fehler ihr Erkenntnisinteresse: Zunächst standen linguistisch orientierte Arbeiten im Vordergrund, in denen versucht wurde, Fehlertaxonomien zu erarbeiten, Fehler nach vorwiegend linguistischen Kriterien zu klassifizieren und Auftretenshäufigkeiten zu dokumentieren (vgl. u. a. Debyser u. a. 1967; Kielhöfer 1975). Forschungsarbeiten zur genaueren Ursachenerklärung von Fehlern stellten sprachbedingte Gründe in den Vordergrund. Im Zusammenhang mit kontrastiven Sprachanalysen erhoffte man sich Aufschluss über Problembereiche des Lerners, die zu einer begründeten Fehlertherapie und Fehlerprophylaxe führen sollten (vgl. hierzu den Sammelband von Nickel 1972). Bei unterschiedlichen Elementen und Regeln in Ausgangs- und Zielsprache wurden Lernschwierigkeiten und

häufig auftretende Fehler (Interferenzfehler) erwartet, die man - noch ganz in der Tradition der audiolingualen Methode - durch eine starke Steuerung des Lerners über bestimmte Übungsanordnungen, über deren unmittelbare Korrektur und durch mehrmalige Wiederholung der korrekten Form zu therapieren gedachte. Als Reaktion auf die einseitige Beschäftigung mit Interferenzfehlern und Fehlererklärungen nach der Kontrastivhypothese (vgl. Art. 66), die eine systematische Beeinflussung der Grundsprache auf den Erwerb der Zielsprache annahm, wurden verstärkt Analysen zu intralingualen Fehlerursachen (Übergeneralisierungen, Regularisierungen, Simplifizierungen) betrieben (vgl. ζ. B. Richards 1974; Wode 1978), die dann zur sog. Identitätshypothese führten (zur Darstellung einiger Erwerbshypothesen vgl. Art. 66—77 in diesem Band). Hierbei ging man davon aus, dass prinzipiell gleiche Fehler beim Erst- und Zweitspracherwerb auftreten, da gleiche Entwicklungsverläufe und -stufen auf allen sprachlichen Ebenen anzunehmen seien. Die Ausschließlichkeitspositionen, die für den einen (Interferenzfehler) oder anderen (intralinguale Fehler) sprachlich orientierten Erklärungsmodus angenommen wurden, wurden abgelöst durch multikausale Erklärungen, die der Faktorenkomplexion beim fremdsprachlichen Lernen Rechnung tragen wollten. Mit der Annahme, dass Lerner in einem interaktiven Prozess (innerhalb und außerhalb des Unterrichts, mit Personen und/ oder Texten) kreativ eine eigene Lernersprache aufbauen, die keinesfalls nur linguistischen Kriterien folgt, wurden Fehler als nützliche Hinweise für die Analyse eben dieser Lernersprache gesehen, als Indikatoren für Lernfort-, aber auch Lernstil- und Lernrückschritte (vgl. ζ. B. Bausch/Raabe 1978; Raabe 1980). In diesem Zusammenhang gerieten

101. Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und -therapie

auch vermittlungsmethodische Konsequenzen und damit die Fehlerkorrektur stärker in das Blickfeld der Forschungsaktivitäten (vgl. z. B. Chaudron 1977; Hendrickson 1978; Rehbein 1984). Parallel zu diesen Forschungsaktivitäten und in Reaktion auf die nunmehr positive Sichtweise des Fehlers kristallisierte sich in den — zu dieser Zeit häufig eingesetzten — kommunikativen Vermittlungsverfahren ein äußerst toleranter Umgang mit Fehlern heraus. Vorrangiges Ziel war die Befähigung zur Kommunikation, sprachliche Korrektheit war diesem Ziel nachgeordnet. Im Kontext dieser Verfahren ging man davon aus, Fehler, die die Kommunikation nicht beeinflussten, könnten ignoriert werden. In den 80er Jahren waren denn auch Forschungsarbeiten zum fremdsprachlichen Korrigieren eher selten. Abgesehen von einigen praxisorientierten Arbeiten (vgl. z.B. Bebermeier 1984; Bleyl 1984; Koutiva/Storch 1989) fallt forschungsmethodisch die Arbeit von Henrici/Herlemann (1986) heraus, die Korrekturhandlungen klassifizieren und analysieren. In letzter Zeit ist das Interesse - vor allem auch an empirischen - Forschungsaktivitäten im Bereich Fehler und Fehlerkorrektur wieder gestiegen (Edmondson 1993; Kielhöfer 1993; Kleppin/Königs 1991; Kleppin/ Königs 1993; Kordes 1993). Es wird versucht, das Phänomen Fehler und Fehlerkorrektur in der Unterrichtsrealität zu erforschen und begründete Handlungskonsequenzen aufzuzeigen. In der Lernersprachenforschung geht man eher davon ab, sich ausschließlich auf die auftretenden Fehler zu begrenzen, vielmehr sollen Lernschwierigkeiten identifiziert werden, die sich in Fehlern äußern können, aber nicht müssen (vgl. z. B. Serra 2000; Kordes 1993). 2.

Beschreibung und Analyse von Fehlern

Im Folgenden wird zunächst noch nicht zwischen schriftlichem und mündlichem Fehler unterschieden. Untersuchungen zum Fehler beziehen sich jedoch weitgehend auf die schriftliche Repräsentation. 2.1. Die Identifizierung von Fehlern Die Frage, was als Fehler zu gelten habe, beschäftigt — wenn auch zum Teil auf dem Hintergrund unterschiedlicher Erkenntnisinteressen — Fremdsprachen/Zweitsprachenlerner, -lehrer, Linguisten, Sprachlehrforscher und

987

Fremdsprachendidaktiker. Es gilt, Kriterien festzulegen, an Hand derer eine begründete Entscheidung darüber gefällt werden kann, ob ein Fehler vorliegt und wie er gewichtet werden kann. Die Auswahl der Kriterien orientiert sich dabei an dem jeweiligen Beschreibungsinteresse und ist beeinflusst vom Stellenwert, der dem Fehler im Erwerbsprozess beigemessen wird. (1) Sprachliche Korrektheit als Kriterium: Als Fehler gilt hierbei eine Abweichung vom Sprachsystem, d. h. ein Verstoß gegen das Regelsystem einer Sprache (Beispiel: ,Ich arbeitet in Deutschland') sowie gegen eine sprachliche Form, wie sie in Grammatiken, Wörterbüchern oder Institutionen .festgelegt' wurde. Die von Coseriu eingeführte Unterscheidung von Norm- und Systemverstoß hat vor allem in den 70er Jahren eine rege Diskussion über den Begriff des Fehlers nach sich gezogen (vgl. z. B. Nickel 1972; Cherubim 1980). Kritisiert wurde bei dem Begriffspaar Sprachsystem/Sprachnorm vor allem die sich dahinter verbergende Annahme, es gäbe so etwas wie ein formales, vom Individuum unabhängiges, Regelsystem und eine allseits akzeptierte linguistische Norm einer Sprache. Ebenso problematisch für die Fehleridentifizierung ist die Bezugsgröße des Sprachgebrauchs, der Sprachwirklichkeit, so wie ,man' in deutschsprachigen Ländern spricht. Eine vollständige und .wertneutrale' Beschreibung von Sprache in unterschiedlichen Regionen und unterschiedlichen sozialen Schichten, an Hand derer Lerneräußerungen zu überprüfen sind, ist für den Unterricht Deutsch als Fremd-/Zweitsprache weder handhabbar noch wünschenswert. (2) Verständlichkeit als Kriterium Hierbei steht im Mittelpunkt, ob ein Fehler die Kommunikation behindert oder nicht. Im Extremfall hieße dies: Alles, was von einem möglichen Kommunikationspartner verstanden wird, gilt nicht als Fehler, selbst wenn Abweichungen von einer gelernten grammatischen Regel feststellbar sind. (3) (Kulturelle) Situationsangemessenheit als Kriterium Thematisiert wird hierbei der verbale und nonverbale Verstoß gegen eine (soziokulturell) angenommene pragmatische Norm, der Verstoß gegen Verhaltenserwartungen in einer bestimmten Situation, z. B. gegen Regeln der Höflichkeit.

988

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

(4) Unterrichtsabhängige Kriterien Im Fremdsprachenunterricht kommt meist eine präskriptive Norm zur Geltung, wie sie ζ. B. dem Lehrwerk, der benutzten Grammatik zu Grunde liegt oder wie der Lehrer sie vorschreibt. (5) Flexible (lernerbezogene) Kriterien Je nach Situation wird entschieden, ob, bei wem und unter welchen Umständen ein Fehler zu ignorieren, zu tolerieren oder zu korrigieren, wie er zu gewichten und zu bewerten ist. Es soll ζ. B. dem Lernstand entsprechend oder auch mit Blick auf die unterschiedlichen Unterrichtsphasen korrigiert werden. Der Lerner und seine möglichen Lernschwierigkeiten werden in den Mittelpunkt gestellt. Es interessiert nicht mehr, ob ein Fehler objektiv feststellbar ist. 2.2. Die Klassifikation und Typisierung von Fehlern Meist spricht man von Fehlertypen, wenn von typischen Fehlermanifestationen die Rede ist. In fast allen Beiträgen zum Fehler bleibt die Aufteilung in Performanz- und Kompetenzfehler (vgl. u.a. Nickel 1972; Rattunde 1977) nicht unerwähnt, die auf Pit Corder (1967) zurückgeht, wobei mit Kompetenzfehlern (errors) Verstöße bezeichnet werden, die außerhalb der Beurteilungskompetenz eines Lerners liegen, sei es, dass er ζ. B. die betreffende Struktur noch nicht gelernt hat, sie falsch verstanden hat, o. ä. Unter Performanzfehler {mistakes) hingegen werden neben reinen Flüchtigkeitsfehlern (slips of the tongue oder auch lapses) Verstöße gerechnet, die durch noch unvollkommene Automatisierung von ζ. B. Regeln und Strukturen bedingt sind. Sie können vom Lerner erkannt und eventuell sogar selbst korrigiert werden. Kritisiert wurde an dieser und den sich daran anlehnenden Typisierungen, dass sich Fehler grundsätzlich auf der Performanzebene zeigen und eine Interpretation und klare Abgrenzung somit nicht möglich ist. Eine Abwandlung der Aufteilung in Kompetenz- und Performanzfehler findet sich ζ. B. bei Edge (1989). Er unterteilt Fehler nach ihrem Ort im Lern- und Unterrichtsprozess in: • Ausrutscher (slips), d.h. Fehler, die ein Lerner selbst korrigieren kann, wenn darauf aufmerksam gemacht wird, dass er einen (schriftlichen oder mündlichen) Fehler begangen hat. • Irrtümer (errors), d. h. Fehler, die ein Lerner (nach Meinung des Lehrers) eigentlich nicht

machen sollte, da das entsprechende sprachliche Phänomen im Unterricht schon behandelt wurde. Der Lerner hat es ζ. B. nicht verstanden oder vergessen. Diese Fehler kann der Lerner nicht selbst korrigieren, auch wenn er darauf hingewiesen wird. • Versuche (attempts), d. h. Fehler in Bereichen, die der Lerner eigentlich noch nicht kennt und die er deshalb auch kaum korrekt ausdrücken kann. In anderen Typisierungen wie z.B. den Begrifflichkeiten manifester versus latenter Fehler, sichtbarer versus unsichtbarer oder verdeckter Fehler, produktiver versus rezeptiver Fehler (vgl. zu unterschiedlichen Typisierungen z.B. Raabe 1980) wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Fehler nicht immer unmittelbar und offen in der (isoliert betrachteten) Lerneräußerung zu Tage treten müssen, dass z.B. die Kommunikationsabsicht des Lerners eine andere war als die in der betreffenden Äußerung realisierte, dass er etwas falsch verstanden hat etc. Ein Beispiel für einen rezeptiven Fehler: Lehrer: Wie lange bist du schon in Deutschland? Lerner: Ich bin hier bis Juni. Wenn Fehler bestimmten sprachlichen Ebenen zuzuordnen sind, wie z.B. phonetisch/ phonologischer, morpho/syntaktischer, lexiko/semantischer Fehler, dann wird meist von Fehlerklassifikation gesprochen. Für die Unterrichtspraxis haben Fehlerklassifikationen ihren besonderen Stellenwert bei der Korrektur und Bewertung schriftlicher Arbeiten. Es existieren eine Reihe von Klassifikationsvorschlägen, und zwar sowohl in der wissenschaftlichen Fachliteratur (vgl. ζ. B. eines der frühen Klassifikationsraster bei Débyser u.a. 1967) als auch z.B. in Richtlinien und Materialien zur Leistungsbewertung, die für die schulische Praxis des Fremdsprachenunterrichts in der Bundesrepublik Deutschland gedacht sind (vgl. ζ. B. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder 1981). Zum Teil werden in Institutionen, in denen Fremdsprachen unterrichtet werden, Fehlerklassifikationen vorgeschrieben, z.T. einigt sich ein Lehrerkollegium zum Zwecke der besseren Vergleichbarkeit auf ein gemeinsames Raster. Dieser Umgang mit Fehlerklassifikationen in der Praxis verdeutlicht, dass ein (wissenschaftlich) anerkanntes Raster nicht existiert und nicht existieren kann, wenn man den jeweiligen Adressaten gerecht werden

101. Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und -therapie

will; denn Fehlerklassifikationen sind in der Regel nicht nur für die Hand des Lehrers gedacht. Vielmehr sollten Lerner sie verstehen und nachvollziehen können. 3.

Die Erklärung von Fehlern

Fehlererklärungen unterlagen eine Zeitlang theoretischen Konstrukten im Bereich des Fremd- und Zweitspracherwerbs. Fehlererklärungen nach der Kontrastivhypothese stellten den Einfluss der Muttersprache in den Vordergrund, hingegen postulierten Fehlererklärungen nach der Identitätshypothese das Übergewicht intralingualer Fehler, d.h. von Fehlern, die durch Teile der Zielsprache selbst beeinflusst werden. Die Stärke des Einflusses wurde je nach starker oder schwacher Version der Erwerbshypothese abgetönt. Erst mit der Diskussion der Interlanguage-Hypothese (vgl. zur Darstellung dieser Hypothesen die Art. 66—77 und zu einer theoretischen Verortung von Fehlerursachen Raabe 1980) wurden monokausale von multikausalen Erklärungen abgelöst. Eine mögliche Zusammenstellung von Ursachen: • Einfluss durch die Muttersprache oder durch andere Sprachen: Interferenz Beispiel (eines französischen oder auch spanischen Muttersprachlers): Ich *habe *zwanzig und zwei Jahre. • Einfluss durch Teile der Fremdsprache selbst: intralingualer Transfer wie Übergeneralisierung, Regularisierung, Simplifizierung Beispiele: Er *möchtet wie ein Erwachsener behandelt werden. Sie *gehte in Spanien in die Schule. • Einfluss durch Strategien der Kommunikation Beispiel: Der Lerner übernimmt bewusst aus einer anderen Sprache einen Ausdruck, von dem er annimmt, dass sein Kommunikationspartner ihn verstehen kann. Es geht ihm vor allem darum, die Kommunikation aufrechtzuerhalten. • Einfluss durch Lernstrategien Beispiel: Der Lerner versucht, in der Kommunikation eine Lücke in seiner zielsprachlichen Kompetenz dadurch zu schließen, dass er ein Wort neu zusammensetzt, wie z.B. *Zusammenraum für Gemeinschaftsraum. Er kann dabei außerdem seinen Kommunikationspartner — verbal oder nonverbal — bitten, ihm den korrekten

989

Ausdruck zu nennen. Er möchte also etwas dazulernen. • Einfluss durch Elemente des Fremdsprachenunterrichts, z. B. Übungstransfer Beispiel: Ein gerade häufig geübtes grammatisches Phänomen (z. B. der Konjunktiv wird auch dort verwendet, wo seine Verwendung falsch ist. • Einfluss durch persönliche Störfaktoren Beispiel: Fehler auf Grund von Müdigkeit oder Stress • Einfluss durch sozio-kulturelle Faktoren Beispiel: Hierbei handelt es sich häufig um einen pragmatischen Fehler, der dadurch entsteht, dass ein verbales oder nonverbales Verhalten auf die zielsprachliche Situation übertragen wird. 4.

Die Fehlerbewertung

Zwar wird eine Fehlerbewertung meist im Rahmen der schriftlichen Fehlerkorrektur (vgl. 5.1.) vorgenommen. Die Fehlerbewertung sowie die Benotung von Fehlern ist jedoch eher Prüfungs- und Zertifikatsverfahren zuzuordnen (vgl. Art. 102 in diesem Band) und fallt damit aus dem Blickwinkel (therapeutische Orientierung) heraus, unter dem die schriftliche Fehlerkorrektur in diesem Artikel behandelt wird. 4.1. Die Fehlergewichtung Die Entscheidung, ob ein Fehler als schwer oder leicht zu bezeichnen ist, kann den unterschiedlichsten Kriterien unterliegen (vgl. z. B. Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder 1981): Sind z.B. elementare Verstöße gegen Syntax oder Lexik erkennbar? Ist auf Grund des Fehlers ein (kulturell) unangemessenes Verhalten erkennbar? Handelt es sich um einen Fehler im Bereich eines schon oft geübten Phänomens? Ist der Fehler auf Grund eines Versuchs entstanden, etwas auszudrücken, was noch nicht geübt wurde? Wirkt sich der Fehler störend auf das Verständnis aus? Würde man den (schriftlichen) Fehler hören, wenn man die Äußerung vorläse? Die Auswahl der Kriterien für eine Gewichtung von Fehlern (z. B. als halbe, ganze und Doppelfehler, auch als Kreuzfehler bezeichnet), sollte dem jeweiligen Kursziel und der Adressatengruppe unterliegen, eine Objektivierung und Vereinheitlichung von Bewertungsmaßstäben für Fehler wird meist in den Bereich des Wunschdenkens verwiesen.

990

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

4.2. Die Fehlerquantifizierung Folgende Verfahren (einzeln oder auch kombiniert) der Fehlerquantifizierung sind in der Unterrichts- und Prüfungspraxis gängig, wenn auch keinesfalls unproblematisch: • Die Fehler werden gezählt. Es muss z.B. entschieden werden, ob und welche Fehler nur einmal gezählt werden, weil sie Ausdruck des gleichen Defizits sind und wie die Fehler zu gewichten (vgl. 4.1.) sind. • Die Fehler werden klassifiziert (vgl. 2.2.) und in Relation zueinander gesetzt. Ein Lehrer wird in der Regel dann auch entscheiden müssen, welchen Fehlern er welchen Schweregrad zuordnet. • Es wird ein Fehlerquotient (F q ) errechnet, der sich aus der Relation der Anzahl der Fehler (EF) und der Wörter (ZW) ergibt: _ I F X 100 q

5.

"

IW

Die Fehlertherapie

5.1. Die schriftliche Fehlerkorrektur In der deutschsprachigen Fachliteratur zur schriftlichen Fehlerkorrektur gilt das Interesse in weiten Teilen der Fehlerbewertung, der Bewertungspraxis und -problematik im Zusammenhang schriftlicher Prüfungen (vgl. u.a. Weller 1991). Um zu einer Vereinheitlichung der Bewertungspraxis vor allem für das Abitur zu kommen, werden in den unterschiedlichen Richtlinien der Länder und in Einheitlichen Prüfungsanforderungen Fehlerklassifikationen und Bewertungsmaßstäbe für die schulischen Fremdsprachen vorgeschlagen. Die schriftliche Fehlerkorrektur für die schulischen Fremdsprachen — nicht so für Deutsch als Zweitsprache - ist weitgehend kodifiziert, bewertungs- und prüfungsorientiert. Soll schriftliche Fehlerkorrektur allerdings dem Ziel der Fehlertherapie dienen, so muss sie aufgabenorientiert (vgl. 5.3.) vorgehen. Folgende - für Prüfungs- und Aufgabenorientierung relevante — schriftliche Korrekturverfahren (vgl. z.B. Bogartz/Lübke 1978, die Begrifflichkeiten variieren in der Fachliteratur) werden - kombiniert oder auch unabhängig voneinander — eingesetzt: • Die einfache Fehlermarkierung, d.h. das Anstreichen oder Unterstreichen des Fehlers • Die Fehlermarkierung mit Korrekturzeichen, d. h. das Anstreichen des Fehlers mit

der Angabe, um welchen Fehler es sich handelt, ζ. B. unter Zuhilfenahme von unter 2.2. schon erwähnten Klassifikationsversuchen (für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache vgl. z.B. die Raster bei Schmidt 1994, 343; Kleppin 1998). • Die Berichtigung durch den Lehrer, d.h. der Versuch des Lehrers, die Äußerungsabsicht des Lerners sprachlich korrekt zu rekonstruieren. Da (empirische) Befunde darauf hinweisen, dass ein bewusstes Umgehen mit Fehlern das Weiterlernen fördert und außerdem von Lernern gewünscht wird (vgl. z.B. Gnutzmann 1992; Kleppin/Königs 1991,292; Kordes 1993), muss auch der Besprechung der aufgetretenen Fehler und den Lehrerkommentaren erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Hier scheint einigen Untersuchungen zu Folge die Praxis verbesserungsbedürftig: Kommentare sowie Fehlererklärungen scheinen häufig geringe Informationen und Weiterhilfen zu enthalten. 5.2. Die mündliche Fehlerkorrektur Während sich die Fachliteratur zum Fehler und zur Fehleranalyse weitgehend auf die geschriebene Sprache bezieht (vgl. Spillner 1991; Weller 1991), so liegen Untersuchungen zur Fehlerkorrektur und insbesondere Ratschläge für das Lehrerverhalten in letzter Zeit vermehrt für den mündlichen Bereich vor (vgl. u.a. Henrici/Herlemann 1986; Kleppin/ Königs 1991; Krumm 1990; Schmidt 1994), was nicht verwundert, da beim mündlichen Fehler die sich anschließenden Lehrer- und Lernerreaktionen den Unterrichtsverlauf entscheidend beeinflussen können und deren Beobachtung somit nicht nur für die Unterrichtsforschung von Interesse ist, sondern daraus auch begründet didaktische Hinweise abgeleitet werden können. Zum Teil werden in der Fachliteratur unterschiedliche Begrifflichkeiten verwendet; so wird ζ. B. Korrektur gegen Reparatur abgegrenzt (vgl. z.B. Rehbein 1984), wobei die Korrektur als eine Handlung gekennzeichnet wird, in deren Verlauf der Lerner seine Äußerungsabsicht auf Grund der Lehrerintervention aufgibt und dadurch in seiner Lerntätigkeit eher behindert wird. Hingegen passt sich bei der Reparatur der Lehrer dem Handlungsfokus des Lerners an. Ein Beispiel, in dem dieser Terminologie gemäß zunächst eine Korrektur und im Anschluss daran eine Reparatur auftritt, soll den

101. Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und -therapie Unterschied verdeutlichen. Bei der Beobachtung und Analyse von Unterricht ist der Handlungsfokus des Lernenden allerdings nur in seltenen Fällen zu ermitteln: Beispiel: Lernerin: Die Frauen werden untergeschätzt. Lehrerin: unterdrückt Lernerin: unterdrückt, nein, nicht unterdrückt, untergeschätzt. Lehrerin: unterschätzt. Wenn auch Unterschiede in der Terminologie insbesondere bei den Korrekturarten (z.B. explizite Lehrerkorrektur, direkte Lehrerkorrektur, fremdinitiierte Fremdkorrektur etc.) auftreten, so wird doch vor allem folgenden Fragen, die zum großen Teil auf Hendrickson (1978) zurückgehen und bei Raabe (1982) weiter expliziert wurden, nachgegangen: • Sollen Lernerfehler korrigiert werden? • Wer korrigiert wen? (Der Lehrer, ein Mitlerner, derjenige, der den Fehler gemacht hat? Achtet man dabei auf die Persönlichkeit des Lerners und ob sich dieser eventuell durch Korrekturen gehemmt fühlt etc.?) • Was wird korrigiert? (Gibt es Fehler, die grundsätzlich zu korrigieren sind, wohingegen andere vernachlässigt werden (können)? Gibt es Fehler, die vom Lehrer schon fast automatisch korrigiert werden, z.B. weil sie wie morpho-syntaktische Fehler sehr einfach und schnell zu korrigieren sind etc.?) • Wann wird korrigiert? (Direkt nach der fehlerhaften Äußerung, am Ende eines Lernerbeitrags, in einer besonderen Korrekturphase etc.?) • Wie wird korrigiert? (Indem man zur Selbstkorrektur auffordert und dabei zunächst verbal oder nonverbal auf den Fehler hinweist; indem man eine verbale oder nonverbale zusätzliche Hilfe hinzufügt; indem man auf den Fehler direkt mit der korrigierten Äußerung reagiert; indem man Erklärungen an die korrigierte Äußerung anfügt etc.?) • Welche affektive Qualität und welche Stimmführung benutzt man bei der Korrektur? (Stimmhebung, -Senkung, freundlicher, tadelnder Ton etc.?) • Was macht man nach der Korrektur? (Wird die korrigierte Äußerung noch einmal wiederholt etc.?) • Wie reagieren Lerner auf Korrekturen? (Reagieren sie verunsichert, mit Angst? Wünschen Lerner Korrekturen etc.?)

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• Welche therapeutischen Effekte haben Korrekturen? (Verändern Korrekturen das sprachliche Verhalten von Lernern etc.?) Zwar erzielen empirische Untersuchungen zur mündlichen Fehlerkorrektur durchaus widersprüchliche Ergebnisse, vor allem wenn es um Effekte von Lehrerkorrekturen geht, was nicht verwundert, zieht man die begrenzten Möglichkeiten empirischer Unterrichtsforschung im Bereich der Wirkung von Unterrichtsmaßnahmen in Erwägung: (Langfristige) Effekte sind kaum beobachtbar, das Nichtauftreten bestimmter vormals korrigierter Fehler muss nicht auf Korrekturmaßnahmen zurückgeführt werden, andere Faktoren können intervenieren etc. Dennoch stimmen Folgerungen für den Unterrichtsprozess aus Befunden empirischer Untersuchungen sowie didaktische Empfehlungen, die sich auf Beobachtungen und Erfahrungen in der Unterrichtspraxis stützen, in wesentlichen Punkten überein: • Die positive Einschätzung von Fehlern — wie sie im Titel eines Beitrags von Hans-Jürgen Krumm (1990) „Ein Glück, dass Schüler Fehler machen" zum Ausdruck kommt, hat dazu geführt, dass eine aktive Auseinandersetzung mit Lernerfehlern im Unterricht gefordert wird. Im Übrigen scheinen auch die in der Praxis Betroffenen, und zwar nicht nur Lehrer, sondern auch Lerner, Korrekturen eine positive Einstellung entgegenzubringen (vgl. u.a. Kleppin/Königs 1991, 272, 292). • Einigkeit besteht vor allem darin, dass ermutigend, nicht sanktionierend und nicht bloßstellend (vgl. u.a. Krumm 1990,102; Schmidt 1994, 338) korrigiert werden sollte. Diesem Wunsch geben auch - was nicht verwundert — Lerner mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen Vorrang vor allen anderen Wünschen. Wird ihm nicht nachgekommen, so sind gerade im Bereich der mündlichen Fehlerkorrektur Auswirkungen auf den gesamten Unterrichtsprozess und Lernprozess des einzelnen Lerners zu befürchten (Kleppin/Königs 1993). • Häufig werden Empfehlungen gegeben, das Korrekturverhalten dem jeweiligen Unterrichtsfokus anzupassen und z. B. in einer schwächer gesteuerten - möglicherweise eher mitteilungsbezogenen - Unterrichtsphase weniger oder anders, nämlich eher mit einer korrigierten Wiederaufnahme der vormals fehlerhaften Äußerung (indirekte oder auch implizite Korrektur) zu reagieren, Fehler mitzunotieren und in einer anschließenden

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XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

Korrekturphase zu behandeln o. ä. (vgl. ζ. B. Schmidt 1994,337). Kleppin/Königs (1991, 277) stellten diese — an sich sinnvolle Empfehlung — auch in subjektiven Theorien fest, die über persönliche Interviews mit Fremdsprachenlehrern elizitiert wurden. In der beobachteten Unterrichtspaxis allerdings ließ sich ein solch differenziertes Verhalten nicht durchhalten. Vielmehr scheinen Lehrer über bestimmte Korrekturtechniken zu verfügen, die sie grundsätzlich in allen Phasen anwenden und die damit teilweise zu Korrekturroutinen geraten. Häufig treten insbesondere direkte Korrekturen (explizite Korrektur des fehlerhaften Teils der Äußerung durch den Lehrer) und die Initiierung von Selbstkorrekturen auf. Für die Praxis empfehlen ζ. B. Kleppin/Königs (1991, 296-301) und Kleppin (1998), sich nicht nur mit unterschiedlichen Korrekturtechniken auseinanderzusetzen und diese auch mit der jeweiligen Lernergruppe zu besprechen, sondern Korrekturroutinen dadurch aufzubrechen, dass ζ. B. bei der Planung einer Unterrichtsstunde die Entscheidung für eine — und eben auch für die nicht vom Lehrer bevorzugte — Korrekturtechnik im Voraus getroffen wird. • Bewusstmachenden Korrekturmaßnahmen, die zur Reflexion über die eigenen Fehler anregen und zu Selbstkorrekturen führen sollen, wird in vielen Publikatonen ein positiver Stellenwert zugesprochen, insbesondere auch im Kontext eines Entwicklungsprozesses zum autonomen selbstreflexiven Lerner (vgl. u.v.a. Hecht/Green 1991; Gnutzmann 1992; Kleppin/Königs 1991, 291). Wie schon Raabe (1982) beobachtete, lassen sich nämlich Lehrer in vielen Fällen dazu verleiten, gerade die Fehler direkt zu korrigieren, bei denen dies besonders leicht zu bewerkstelligen ist, wie z.B. bei morpho-syntaktischen Fehlern. Allerdings könnten diese Fehler mit hoher Wahrscheinlichkeit auch von den Lernern selbst erkannt und korrigiert werden, da sie zu großen Teilen dem Bereich der sog. Performanzfehler zugerechnet werden dürften. Korrekturmaßnahmen, die Selbstkorrekturen initiieren sollen, können auf die unterschiedlichsten Arten realisiert werden, z.B. über einen Anakoluth, die verbale oder auch nonverbale (Stirnrunzeln, zweifelnder Blick) Feststellung, dass in der vorliegenden Lerneräußerung ein Fehler aufgetreten ist. Solche Initiierungen von Selbstkorrekturen können außerdem mit nonverbalen Hilfen versehen werden:

Beispiel: Lerner: Gestern, ich habe. Lehrer: (überkreuzt beide Hände, um die Umstellung anzuzeigen) Für die Praxis des DaF-Unterrichts empfiehlt z.B. Kleppin (1998) einen verstärkten Einsatz von nonverbalen Hilfen bei der Initiierung von Selbstkorrekturen, da diese entscheidende Vorteile besitzen: l) Sie sind meist wesentlich kürzer als verbale Hilfen und damit zeitökonomischer. 0 Sie sind einprägsam und als Aufmerksamkeitssignal hervorragend geeignet, i) Sie beeinflussen nicht so stark die Unterrichtsinteraktion wie verbale Eingriffe; sie können vielmehr parallel zu den Äußerungen des jeweiligen Lerners erfolgen. ί> Sie sind daher flexibel und lernerorientiert einsetzbar (z.B. können nonverbale Signale in der Gruppe erfunden und abgesprochen werden) und können zu einer günstigen Gruppenatmosfäre beitragen (ζ. B. humorvolle nonverbale Hilfen). • Im Großteil der neueren Fachliteratur zur mündlichen Fehlerkorrektur wird darauf verwiesen, dass Korrekturmaßnahmen mit den Lernenden besprochen werden sollten, dass sich der Lehrer vor allem (mit Hilfe von Gesprächen, anonymen schriftlichen Befragungen und Fragebogen) über Wünsche und Bedürfnisse der Lerner informieren sollte und sie so weit wie möglich in sein Verhaltensrepertoire integrieren sollte. 5.3. Andere therapeutische Maßnahmen Fehlern wird neben den positiven Effekten für die Sprachstandsdiagnostik zugestanden, dass sie für das Weiterlernen unumgänglich notwendig sind und daher ein Repertoire für Übungsanlässe und für — so weit wie möglich individualisierte — Rückmeldungen und Beratungen bieten (vgl. u.a. Kordes 1993). Vorgeschlagen werden u. a.: • Lerner sollten sich - auf Grund ihrer schriftlichen Arbeiten und der entsprechenden Lehrerkorrekturen — ihre eigenen Fehlerstatistiken, natürlich mit den dazugehörigen Korrekturen, erstellen (vgl. hierzu auch die Fachliteratur zu Lernstrategien und Lerntechniken in Art. 70 in diesem Band), wobei die Korrekturen in unterschiedliche Kontexte und Situationen eingebettete Beispiele darstellen sollten. • Fehlerhafte (schriftliche) Lernerproduktionen (interessant sind natürlich vor allem

101. Formen und Funktionen von Fehleranalyse, -korrektur und -therapie

freie schriftliche Produktionen) können als Anlass für Korrekturübungen benutzt werden, bei denen (z.B. in Paararbeit) Fehler identifiziert werden müssen, ihre Ursachen diskutiert werden können o. ä. (vgl. z. B. eine kurze Zusammenstellung solcher Übungen in Kleppin 1998). Individuelle Diagnostik und Lernerberatungen sind momentan in der Praxis eher die Ausnahme. Im Zuge der Förderung autonomen und selbstgesteuerten Lernens wird sich allerdings die Rolle des Lehrers in Richtung auf die Übernahme von Beraterfunktionen hin verändern müssen. In diesem Zusammenhang wird auch die Fehlerdiagnostik mit anschließenden Tipps für die autonome Weiterarbeit einen besonderen Stellenwert erhalten müssen. 6.

Literatur in Auswahl

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XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

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Selinker, Larry (1972): Interlanguage. In: International Review of Applied Linguistics 10/3, 209—231.

Serra, Carlo (2000): Ubersetzungen zum Begriff „Schwierigkeit" — Die Lernerperspektive. Im Heibig, Beate; Karin Kleppin; Frank Königs (Hg.): Sprachlehrforschung im Wandel. Beiträge zur Erforschung des Lehrens und Lernens von Fremdsprachen. Festschrift für Karl-Richard Bausch zum 60. Geburtstag. Tübingen.

Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (Hg.) (1981): Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Englisch. Neuwied.

Schmidt, Reiner (1994): Fehler. In: Henrici, Gert; Claudia Riemer (Hg.): Einführung in die Didaktik des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache. Baltmannsweiler, 331 — 352.

Wode, Henning (1978): Fehler, Fehleranalyse und Fehlerbenotung im Lichte des natürlichen L-2-Erwerbs. In: Linguistik und Didaktik 34/35, 233-245. Weller, Franz-Rudolf (Hg.) (1991): Themenheft: Fehler im Fremdsprachenunterricht. In: Die Neueren Sprachen 90/6.

Karin Kleppin, Bochum (Deutschland)

102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle 1. 2.

4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Einleitung Leistungsmessung und -kontrolle im internationalen Vergleich Zum Zusammenhang von Funktion und Form Ein- und Weiterstufungstest Eignungstest und Zulassungsprüfung Selbstevaluation Lernfortschrittstest Kursabschlussprüfung Feststellungsprüfung Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

3.

Eine Prüfung, beobachtet von einem unbekannten Maler im 18. Jh.: Ein junger Mann steht in der Mitte eines Raumes - das Haupt demutsvoll gesenkt, die Hände ungeschickt vom Körper gestreckt. Ihm gegenüber eine vielköpfige Jury aus perückengeschmückten Figuren. Mit einer Mischung aus Schadenfreude und Verachtung blicken die Herren Prüfer auf das arme Würstchen im Kreuzverhör. Wir wissen nicht, was hier gerade geprüft wird - wohl kaum das relativ junge Fach Deutsch als Fremdsprache. Klar ist dagegen, dass Prüfen hier kein wertfreier Vorgang ist, sondern mit Macht zu tun hat. Bevor die Geprüften einen würdigen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen, haben sie sich diesem schmerzhaften rite de passage zu unterziehen (Gudjons 1996, 115). Nicht nur in der Vergangenheit hat das Thema Leistungsmessung negative Gefühle aller Schattierungen in uns hervorgerufen. Da Tests und Prüfungen in vielen Schulen zum

Taktgeber des Unterrichts geworden sind, belasten sie auch heute das Klima des Lehrens und Lernens. Das hat damit zu tun, dass hier zwei Funktionen des Prüfens und Beurteilens im Widerstreit miteinander liegen: • die Entwicklungsfunktion und • die Steuerungs- bzw. Selektionsfunktion. Während die Entwicklungsfunktion die Evaluation der Lernentwicklung zum Ziel hat, um daraus Informationen für weiteres Vorgehen zu gewinnen, somit also eine zutiefst pädagogische Aufgabe beinhaltet, geht es bei der Steuerungsfunktion darum, gesellschaftlich relevante Entscheidungen wie Versetzungen, Übergänge im Schulsystem oder den Eintritt in Berufswege und Studiengänge zu begründen (Bambach 1996, 1). Wo begrenzte Kapazitäten zur Verfügung stehen - Stichwort Numerus-Clausus-Fächer an den Hochschulen - mündet diese Steuerung in eine Auslese. Der negative Beigeschmack, den die Begriffe Leistungsmessung und -kontrolle heutzutage bei vielen fortschrittlichen Pädagogen haben, rührt daher, dass im Schulalltag die Steuerungsfunktion die Entwicklungsfunktion häufig überlagert. Sie erkennen allzu deutlich, dass Tests als unerwünschten Nebeneffekt eine Einengung der Lernziele mit sich bringen. Gelernt wird häufig nur noch das, was Prüfungsstoff ist. Im Erwachsenenunterricht dagegen ändert sich das Bild allmählich. Hier tritt der Aspekt der Freiwilligkeit stärker in den Vordergrund. Leistungskontrollen erfolgen im Rahmen des Schulunterrichts meist auf unfreiwilliger Basis. Tests

102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle

und Prüfungen in der Erwachsenenbildung werden dagegen zunehmend als Serviceleistungen gesehen, für die vom Kunden ein expliziter Bedarf angemeldet wurde. Hinzu kommt noch ein weiterer wesentlicher Unterschied: Während Prüfungsinhalte und -verfahren in der Schule von nationalen Traditionen geprägt sind — und bis zu einem gewissen Grad auch das jeweilige politische System widerspiegeln (Meyer 1996, 80ff.) —, hat im Erwachsenenbereich eine Entwicklung eingesetzt, die sich zunehmend an transnationalen Standards orientiert.

2.

Leistungsmessung und -kontrolle im internationalen Vergleich

Zwar gab es in Preußen seit dem 18. Jahrhundert Prüfungen zur Auswahl von Staatsdienern und waren solche Auswahlprüfungen am Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Europa verbreitet, doch um Tests im modernen Sinne handelte es sich dabei noch nicht. Die ersten Fremdsprachentests im modernen Sinne entstanden in den Vereinigten Staaten vor dem Ersten Weltkrieg. (Spolsky 1995, 50 f.). Ebenfalls in den USA begann die Tradition von Sprachtests zum Zweck der Reglementierung der Einwandererströme, die noch heute etwa in Australien lebendig ist. Seit dem Beginn unseres Jahrhunderts wurden in den Vereinigten Staaten immer wieder neue Tests entwickelt, bei denen höchster Wert auf zuverlässige, will sagen empirisch belegbare Ergebnisse, Effizienz und kommerzielle Verwertbarkeit gelegt wurde. Das zur Universität von Princeton gehörige Institut English Testing Service (ETS) ist heute der Herausgeber des in den Sechziger Jahren entwickelten und heutzutage teilnehmerstärksten Fremdsprachentests der Welt, des TOEFL (Test of English as a Foreign Language). Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung von Fremdsprachenprüfungen wurde in Großbritannien gelegt. Das University of Cambridge Examination Syndicate (UCLES) widmet sich seit dem Jahr 1913 der Aufgabe, Prüfungen für Englisch als Fremdsprache zu entwickeln, um in den Schulen der Commonwealthländer ein einheitliches Bildungsniveau zu gewährleisten. Bereits im Jahre 1925 legte diese mit der Universität assoziierte Institution das Certificate of Proficiency in English (CPE) vor, eine Prüfung, der ein umfassendes Sprachverständnis jenseits von Vokabellisten

995

und Übersetzungen zu Grunde liegt. Während auf dem europäischen Kontinent der humanistisch-skeptizistische Ansatz mit der Bevorzugung von offenen Aufgaben zum Teil bis heute anhält, schlug sich der Einfluss der rationalistisch-empirischen Schule, wie sie in den USA zu Hause war, im Fach Deutsch in der Entwicklung des Zertifikats Deutsch (ZD) in den Sechziger Jahren nieder. Nicht nur die ungleich grössere Bedeutung des Englischen als Fremdsprache, sondern darüber hinaus die in England und den Vereinigten Staaten verankerte Tradition von zentral gestellten Prüfungen hat dafür gesorgt, dass angelsächsischen Institutionen auch heute noch eine Vorreiterrolle in der Entwicklung von Fremdsprachentests zukommt. Das in den Vereinigten Staaten vorherrschende Misstrauen gegenüber intuitiv korrigierten Aufsätzen sowie die Skepsis hinsichtlich der Objektivität von Lehrkräften bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit ihrer eigenen Schüler wird im deutschsprachigen Raum nicht geteilt. In Deutschland herrscht vielfach sogar ein Misstrauen gegen zentral verordnete Prüfungen. Kritiker sträuben sich gegen die Zwangsjacke, die der einzelnen Lehrpersönlichkeit durch zentrale Prüfungsinhalte angelegt werde. Deutsche Autoren werfen den Angelsachsen gern eine Überbewertung der vom Behaviorismus geprägten Formen der Leistungsmessung vor, und wenden dagegen ein, dass sie die ganzheitliche Lernerpersönlichkeit außer Acht lasse (Meyer 1996, 82f.; Macht 1989, 283). Die Skepsis gegenüber geschlossenen Prüfungsverfahren wie den Multiple-Choice-Aufgaben ist so tiefgreifend, dass die Frage der Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit von Prüfungsleistungen selbst auf der Ebene des Abiturs noch als sekundär eingeordnet wird. Symptomatisch dafür ist das Nebeneinander von Zentralabitur und dezentral gestelltem Abitur in den deutschen Bundesländern (Karthaus 1996, 115ff.).

3.

Zum Zusammenhang von Funktion und Form

Im Folgenden soll Leistungsmessung in Form von Tests und Prüfungen zunächst neutral verstanden werden, als Sammlung von Informationen über den Kenntnisstand der geprüften Personen. Wir gehen davon aus, dass diese Informationssammlung mit einem bestimmten Ziel vor Augen vorgenommen wird. Ein sol-

996

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

ches Ziel kann eine Steuerung bzw. Selektion sein, sie kann aber auch darin bestehen, Entscheidungen über das Lehr- bzw. Kursprogramm zu begründen. Ein anderes Ziel wäre, eine Voraussage über die sprachliche Leistungsfähigkeit einer geprüften Person in der realen Welt zu treffen. Je nachdem, zu welchem Zweck die gesammelte Information verwendet werden soll, unterscheidet man verschiedene Prüfungsarten. Die wichtigsten sind: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Ein- und Weiterstufungstest Eignungstest und Zulassungsprüfung Selbstevaluation Lernfortschrittstest Abschlussprüfung Feststellungsprüfung.

Diese unterschiedlichen Ziele der Leistungsmessung bedingen die jeweils gewählten Formen, die in Prüfungen bzw. Tests verwendet werden. Die abwechselnde Verwendung der Begriffe Test und Prüfung bedeutet hier keine strukturelle Differenzierung. Vielmehr werden beide Begriffe im Deutschen häufig synonym verwendet. Je nachdem, ob es sich um eine kleinere, beiläufige und in den Konsequenzen weniger ernste Angelegenheit handelt, wird häufig der Begriff Test gewählt (Doyé 1989, 278; Carroll 1968, 46). Das Testformat mit der entsprechenden Unterteilung in Komponenten und Subtests für verschiedene Fertigkeiten oder die Prüfungsdauer sowie Aufgabentypen lassen sich erst entscheiden, wenn klar ist, zu welchem Zweck der Test verwendet werden soll. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass nicht jeder Aufgabentyp bzw. jeder Testaufbau für jede Funktion gleich gut geeignet ist. Im Folgenden sollen die oben genannten Prüfungsarten kurz charakterisiert und diskutiert werden. Fünf Fragen helfen, die Prüfungsarten voneinander abzugrenzen: 1. Worauf bezieht sich der Inhalt der Prüfung? (z. B. auf die Inhalte des vorausgegangenen Unterrichts) 2. Für wen sind die Ergebnisse bestimmt? (z. B. für die Geprüften, die Lehrkräfte bzw. für außenstehende Entscheidungsträger) 3. Welche Entscheidungen werden auf der Basis der Ergebnisse getroffen? (z. B. Zulassung zum Studium an einer Hochschule) 4. Wie aufwendig oder ökonomisch ist das Verfahren im Hinblick auf die Faktoren Zeit, Arbeitsmittel etc.?

5. Wie aufwendig oder ökonomisch ist das Verfahren im Hinblick auf die vorgesehenen Korrekturverfahren? Die Fragen 1,2 und 3 lassen sich unter das Kriterium der Validität von Tests bzw. Prüfungen subsumieren (zu den Gütekriterien vgl. auch Art. 103). Unter Validität bzw. Gültigkeit sei hier verstanden, dass die Inhalte für die Zielgruppe und den Verwendungszweck adäquat sind. Ein Kursabschlusstest muss zum Beispiel mit den Zielen, die im Lehrplan formuliert sind und dem Unterricht zu Grunde liegen, übereinstimmen (Doyé 1995). Mit der Frage 1 verbunden ist ein weiteres Gütekriterium, das die Qualität von Tests und Prüfungen bestimmt, nämlich die Forderung, dass die gewählten Testverfahren die Formen und Inhalte des vorausgegangenen Unterrichts angemessen widerspiegeln und u . U . sogar positive Rückwirkungen auf den Unterricht haben. In der englischsprachigen Literatur ist dieser Aspekt mit dem Terminus back-wash bzw. wash-back-Eïïekt eingeführt (Wall, Diane/Alderson, J. Charles 1993). Die Fragen 4 und 5 berühren darüber hinaus die Kriterien der Réhabilitât und der Praktikabilität. Das Kriterium der Réhabilitât beinhaltet die Forderung nach der Zuverlässigkeit der Leistungsmessung. Idealerweise sollte ein Test wie ein Metermaß funktionieren: So wie dieses auch bei wiederholter Messung eines Gegenstandes immer die gleichen Maße anzeigt, so sollte ein Test für eine bestimmte Leistung immer die gleiche Punktzahl oder Note ergeben. In der Praxis der Testkonstruktion berührt das Kriterium der Réhabilitât Fragen wie die Anzahl von Aufgaben, d. h. wie viele einzelne Messungen muss man durchführen, um zuverlässige Ergebnisse zu erhalten oder die Frage der Korrektur- und Bewertungsverfahren, d.h. bei welchen Verfahren können sich Messfehler einschleichen, die das Ergebnis verfalschen und dergleichen. Das Kriterium der Praktikabilität bezieht sich auf den Bedarf an Zeit, Raum und personellen Ressourcen, wobei sowohl an die Korrekturzeiten als auch an die Qualifizierung der Korrigierenden bzw. Prüfenden zu denken ist. Leistungskontrolle sollte möglichst zeitökonomisch sein. Erfahrungswerte aus der Praxis zeigen, dass 90 Minuten ohne Pause für die geprüften Personen das Maximum an Belastung darstellen. Geht die gesamte Testzeit darüber hinaus, wie etwa bei breit angelegten Feststellungsprüfungen, sollte die Dauer für einzelne Testteile dieses Maß nicht überschreiten. Nach jedem Testteil werden dann Pausen eingelegt.

102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle

4.

Ein- und Weiterstufungstest

„Einstufungstests sind hilfreiche Instrumente zu äußerer Differenzierung bei der Einteilung von Sprachkursteilnehmerinnen und -teilnehmern in Gruppen unterschiedlichen Niveaus und unterschiedlicher Vorkenntnisse" (Einstufungstests 1994, 5). Mit Hilfe dieser sehr weit verbreiteten Prüfungsart werden die sprachlichen Vorkenntnisse der Einzustufenden ermittelt (Wall/Clapham/Alderson 1994). Bei den sog. Weiterstufungstests, wie sie in Institutionen mit einem ausdifFerenzierten Kursangebot üblich sind, soll nach dem Besuch eines Kurses festgestellt werden, welchen weiteren Lernweg im Kursangebot die Teilnehmer nehmen sollen. Die besondere Bedingung der Ein- und Weiterstufungstests liegt in der Forderung nach strenger zeitlicher Begrenzung: Ein mehrstündiger Einstufungstest wäre u. U. eine Qual für die Geprüften und würde dadurch möglicherweise die Ergebnisse sogar verfalschen, wäre also nicht zuverlässig. Denn nicht selten müssen sich die Einzustufenden aus logistischen Gründen unmittelbar bei der Anreise an den Kursort und damit in manchen Fällen unmittelbar nach langen Flugreisen dem Test unterziehen. Mit Rücksicht auf die zeitliche Beschränkung werden Ein- und Weiterstufungstests in der Praxis häufig als Stichprobenkontrollen angelegt. Testkonstrukteure orientieren sich beim Erstellen eines Ein- bzw. Weiterstufungstests an Kurs- bzw. Lehrplänen für die entsprechenden Stufen. Aufgaben zu Wortschatz und Grammatik und kurze Schreibaufgaben werden am häufigsten eingesetzt, im Fortgeschrittenenbereich treten Aufgaben zum Lesen häufig dazu. Seltener enthalten Einstufungstests Teile zum Hörverstehen, was vor allem technische Gründe hat. Die mündliche Kommunikation wird in der Regel über ein authentisches Gespräch zur Feststellung der Personalien, persönlicher Interessen und dgl. evaluiert. Da die Testergebnisse innerhalb kurzer Zeit verfügbar sein müssen, wird bei der Wahl der Aufgabentypen weitgehend auf korrekturfreundliche Verfahren zurückgegriffen. Deshalb bestehen Einstufungstests meist aus geschlossenen Aufgaben. Im Gegensatz zu offenen Aufgabentypen ist die sprachliche Reaktion bei geschlossenen Aufgaben nicht frei ausgeführt. Vielmehr beschränkt sich die Aktivität des Geprüften bei geschlossenen Auf-

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gaben auf das Auffinden, Ankreuzen, Ordnen, Zuordnen oder Hervorheben der richtigen Lösungen. Die Bewertung solcher Aufgaben ist zeitsparend und praktisch unabhängig vom subjektiven Urteil des Korrektors. Geschlossene Aufgaben können mit Hilfe von Schablonen oder Blattlesemaschinen schnell ausgewertet werden. Sie eigenen sich zur Überprüfung der rezeptiven Fertigkeiten, denn sie überprüfen lediglich das Erkennen der richtigen Lösung. Eine klassische geschlossene Aufgabe ist die Multiple-Choice-Aufgabe. Sie besteht in der Regel aus einem einleitenden Satz bzw. einer einleitenden Frage und mehreren (häufig vier, gelegentlich aber auch nur drei, seltener mehr als vier) Auswahlmöglichkeiten. Eine der Auswahlantworten ist die richtige Lösung, alle anderen dienen als sog. Distraktoren und sind falsch. Um zu unterstreichen, dass die Anordnung von richtigen und falschen Auswahlantworten dem Zufallsprinzip unterliegt, wird meist eine alphabetische Reihenfolge gewählt. Einleitende Frage:

Welche der folgenden Aussagen charakterisiert eine geschlossene Aufgabe? Distraktoren: a. Sie besteht aus mindestens vier Auswahlantworten. b. Sie prüft vorwiegend die Beherrschung von Wortschatz und Grammatik. c. Sie wird subjektiv bewertet. Lösung: d. Sie verlangt keine produktive Leistung.

Die Erstellung von Multiple-Choice-Aufgaben ist vergleichsweise aufwendig und bedingt mehrere Entwicklungsstadien. Für die Formulierung der Distraktoren gibt es eine ganze Reihe von Regeln. Dazu zählt z. B. das Vermeiden von Paralleldistraktoren, von grammatisch fehlerhaften Formulierungen oder von doppelten Negationen. Wegen der Komplexität der Multiple-Choice-Aufgabe ist nach dem Entwurfsstadium eine Vorerprobung unerlässlich. Statistische Analysen der Erprobungsergebnisse machen transparent, wie attraktiv oder unattraktiv die Distraktoren für die Erprobungsteilnehmer waren. Nie oder nur selten gewählte Distraktoren werden als nicht effektiv ausgesondert. Aber auch wenn ein Distraktor von mehr Teilnehmern als die richtige Lösung angesehen wurde als die intendierte, muss die Aufgabe in der Regel modifiziert werden.

998

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

Von ihren Befürwortern werden MultipleChoice-Aufgaben wegen der Möglichkeit geschätzt, zu realistischen Voraussagen über den Schwierigkeitsgrad und die Trennschärfe der einzelnen Aufgaben zu gelangen (Trost 1995). Der Aufgabentyp wird sowohl von ETS und UCLES als auch von dem holländischen Centraal Instituut voor Toetsontwikkeling (CITO) in Fremdsprachentests regelmäßig eingesetzt. Auf der anderen Seite steht die Kritik an der Validität der Multiple-Choice-Aufgabe. Zum Einen wird beanstandet, dass die Aufgaben in der Praxis häufig schlecht konstruiert, d.h. unnötig kompliziert sind und die Distraktoren bewusst auf die falsche Fährte lenken. Dadurch werden dem Geprüften Fehler geradezu untergeschoben. Verfechter von offenen Aufgabentypen kritisieren überdies, dass mit Multiple-Choice nur das Erkennen der richtigen Lösung überprüft wird, somit eine relativ geringe Leistung verlangt wird. Geübte nützten zudem den Faktor Ratewahrscheinlichkeit aus, d. h. die Möglichkeit, auch durch zufalliges Ankreuzen noch einen gewissen Prozentsatz an richtigen Lösungen zu erzielen. Bei einem gut konstruierten Test, der genug Aufgaben umfasst und eine relativ hohe Bestehensgrenze setzt, ist die Erfolgswahrscheinlichkeit jedoch sehr gering. Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, bei einem 30 viergliedrige Multiple-Choice-Aufgaben umfassenden Test 15 Richtige zu tippen, sehr gering. Bei Einstufungstests wird neben der Multiple-Choice-Aufgabe eine Vielzahl von weiteren geschlossenen Aufgabentypen eingesetzt. Bei den folgenden Beispielen handelt es sich um textunabhängige Einzelaufgaben, in denen es um das Erkennen der richtigen Struktur bzw. der geeigneten Ausdrucksweise geht: a) Herstellen der richtigen Wortfolge der Fehler I er t gehabt / hätte / mehr / nicht / passiert / wäre / Zeit Lösung: Hätte er mehr Zeit gehabt, wäre der Fehler nicht passiert. b) Herstellen der richtigen Satzfolge (1) Das ist keine besonders schöne Stadt. (2) Heute ist sie allerdings eine international bekannte Kunstmetropole. (3) Ich stamme aus Köln. (4) Leider wurde sie im Krieg zerstört. Lösung: 3, 1, 4, 2 Beispiele für halboffene Aufgaben, die eine begrenzte produktive Leistung erfordern, in-

dem ζ. B. ein oder mehrere Wörter hinzugefügt werden müssen, sind: a) Ein Wort einfügen ein Ober einiges an Trinkgeld verdient, ist das Gehalt des Kochs fix. Lösung: Während b) Ein Wort in der korrekten Form einfügen Wir alle sind besorgt über der Ozonschicht. (zerstören) Lösung: die Zerstörung c) Umformungen d) Wörter einfügen Als unbefriedigend wird an dieser Art von kontextunabhängigen Aufgaben empfunden, dass jeglicher kommunikative Rahmen fehlt. Sie wirken genauso trocken und wirklichkeitsfern, wie die Lückentexte der strukturalistischen Ära. In der strukturalistischen Testtheorie ging man davon aus, dass die Beherrschung der Fremdsprache sich nicht direkt, d.h. in realen Verwendungssituationen überprüfen lässt, sondern nur auf dem Weg über die Messung isolierter Elemente der Sprache. Die Summe dieser isolierten Elemente erlaube Rückschlüsse auf die Fähigkeit des Lerners, Sprache auch in realen Situationen außerhalb des Unterrichts verwenden zu können. Im Zuge der sog. „kommunikativen Wende" in der Fremdsprachdidaktik wurde deutlich, dass Wortschatz- und Strukturentests nur einen Aspekt der Kommunikationsfähigkeit in der Fremdsprache erfassen (Canale/Swain 1980; Bachman 1990; 1995). Solche Aufgaben überprüfen nur die Wissenskomponente der Sprache, d. h. die Fähigkeit, Regeln der Grammatik und Vokabeln richtig einzusetzen. Nicht überprüft werden dagegen die diskursive und die soziokulturelle Kompetenz. Um zum Beispiel verschieden strukturierte Lesetexte zu bearbeiten oder um die Informationen eines gehörten Gesprächs zu notieren, benötigen die Geprüften auch ein Wissen darüber, wie Texte aufgebaut sind. Ein Verfahren, das die lexikalische und grammatische Kompetenz mit Hilfe von kontextualisierten Aufgaben erfassen will und dazu kurze Lesetexte auf zeitökonomische Weise einbezieht, ist der Cloze-Test. Das Verfahren wurde in den fünziger Jahren zunächst als Instrument zur Bestimmung der Schwierigkeit von Texten entwickelt (Taylor 1953). Daraus entstand in der Folge ein Verfahren zum Überprüfen des Leseverstehens. Es geht von der Annahme aus, dass die lexikalische und grammatische Kompetenz ein Indikator für

102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle die Sprachbeherrschung ist und über das Lesen zu erfassen ist. Ein klassischer Cloze-Test besteht aus einem längeren Text, bei dem in festgelegten regelmäßigen Abständen Wörter gelöscht werden (z. B. jedes fünfte Wort). Die Lücke ist zu ergänzen. Im Gegensatz zum Lückentext herkömmlicher Art, in dem die Lücken nach didaktischen Gesichtspunkten gelöscht werden, um ganz gezielt bestimmte Themen der Grammatik bzw. bestimmte Wortschatzbereiche zu überprüfen, handelt es sich beim Cloze-Test um eine streng mechanische Tilgung, wobei die Tilgungsfrequenz im ganzen Text beibehalten wird. Im folgenden Beispiel wurde jedes achte Wort gelöscht. Der erste Satz, der den Kontext vorgibt, bleibt bei einem Cloze Text immer intakt. Immer wieder hatte der Richter Gerhard Sch. am Starnberger Amtsgericht mit Fahrraddiebstählen zu tun gehabt — bis er selbst zum Opfer wurde: Direkt vor dem Gerichtsgebäude machten sich freche mit seinem roten Fahrrad aus dem Staub. legte sich der Richter persönlich auf die Weil er nicht damit rechnete, sein Fahrrad wieder zu sehen, hatte Gerhard Sch. von Anzeige abgesehen. Lösungen: (Fahrrad-) Diebe, Daraufhin (Danach), Lauer, jemals (nochmals) In diesem Testverfahren wird die Tatsache genutzt, dass Informationen in einem Text durch mehrere Signale realisiert werden, die sich wechselseitig ergänzen. Eine Kenntnis von den Aufbaukriterien eines Textes ist zum Lösen dieser Aufgabe also unabdingbar. Das mechanische Tilgungsprinzip sorgt beim klassischen Cloze-Verfahren dafür, dass ein Querschnitt von sprachlichen Phänomenen getestet wird. So werden meist alle Wortarten in den Lücken abgefragt und nicht nur solche, mit denen die Lernenden des Deutschen besondere Schwierigkeiten haben. Gleichzeitig werden aber auch die Grenzen seiner Verwendbarkeit im Rahmen eines Einstufungstests deutlich. Werden Klassen- bzw. Kursstufen nach der Beherrschung bestimmter grammatischer Strukturen definiert, dann muss ein lernzielvalider Test genau diese Strukturen testen. Das Zufallsprinzip des Cloze ist hier eher kontraproduktiv. Neuere Forschungsergebnisse zeigen überdies, dass bei sogenannten „natural cloze"-Tests, bei denen weder auf die Auswahl der Texte noch

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der Lücken Rücksicht genommen wird, Vorbehalte bezüglich der Validität angebracht sind (Brown 1993). Deshalb wurde als Alternative zum klassischen Cloze-Verfahren der modifizierte Cloze-Test entwickelt, bei denen die Lücken mit Bedacht gewählt werden. Damit können lexikalische oder grammatische Aspekte gezielt abgefragt werden. Flexibel ist das Cloze-Verfahren im Hinblick auf den Schwierigkeitsgrad. Je nachdem, ob eine leichtere oder schwierigere Version gewünscht wird, können Auswahlantworten als Schüttelkasten oder Multiple-Choice-Auswahl vorgegeben bzw. keine Vorgaben für die Antworten gemacht werden. Ein weiteres Testverfahren, das mit ganzen Texten und kontextualisierten Aufgaben arbeitet, ist der sog. C-Test. Das Verfahren wurde in den Achtziger Jahren von KleinBraley und Raatz (1985) entwickelt. Es zielt auf das Überprüfen der allen Fertigkeiten zu Grunde liegenden sprachsystematischen Kompetenz ab. Genauso wie das Cloze-Verfahren beruht es auf dem Konzept der reduzierten Redundanz. Beim C-Test wird jeweils die Hälfte von jedem zweiten Wort — vom Wortende ausgehend — gelöscht (Grotjahn 1992): Lockerbie, die kleine abgeschiedene Ortschaft in einem malerischen Tal in Südschottland, hat sich auch am Freitag noch nicht von dem Desaster erholt, das über seine Einwohner am Mittwoch abend plötzlich hereinbrach. Fassungslos ge die Bewo immer no zwischen d Trümmern he — dort, w vor kur noch Hau standen u Nachbarn leb Die Verwü , die d am Mitt abend üb Lockerbie abges Großraum-Flug der amerika Fluglinie PanAm anger hat, i so to , dass tr Großeinsatz ν Polizei, Ar und freiwi Rettungstrupps im noch ni klar i , wer u wieviele eigen ums Le gekommen si (Lösungen: gehen, Bewohner, noch, den, herum, wo, kurzem, Häuser, und, lebten, Verwüstung, das, Mittwoch, über, abgestürzte, Flugzeug, amerikanischen, angerichtet, ist, total, trotz, von, Armee, freiwilligen, immer, nicht, ist, und, eigentlich, Leben, sind) Die Vorteile des C-Testverfahrens liegen in der Testökonomie — mit geringem Aufwand erhält man eine relativ große Menge an Da-

looo

;

. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

ten. Zudem sind C-Tests vergleichsweise leicht zu entwickeln und zu bewerten. In der wissenschaftlichen Diskussion wird allerdings kritisch angemerkt, dass es dem C-Test an Augenscheinvalidität mangelt. Bei einer Versuchsreihe mit Englischlernern in Mexiko hat sich z.B. gezeigt, dass mit dem Verfahren nicht vertraute Prüfungsteilnehmer erhebliche Schwierigkeiten damit haben können und nicht einsehen, dass ihre sprachlichen Fähigkeiten darin adäquat zum Ausdruck kommen, was zu Irritationen führen kann (Jafarpur 1995, 194ff.). Die oben diskutierten Aufgabentypen sind typisch für Einstufungstests, werden aber auch in anderen Prüfungsarten eingesetzt. Der Unterschied zu anderen Prüfungsarten liegt darin, dass Informationen, die mit Hilfe von Einstufungstests gewonnen werden, keine Beurteilungsinstrumente sind. Es handelt sich vielmehr um ein Diagnoseinstrument, das den Eingestuften und ihrer zukünftigen Lehrkraft Informationen über Stärken und Schwächen liefert.

Scheidung über ihre Zulassung getroffen wird. Die Ergebnisse haben damit anders als beim Einstufungstest weniger neutralen Informations- und Diagnosecharakter als vielmehr die Funktion einer Zugangsbeschränkung. Sprachliche Aufnahmeprüfungen für ausländische Studienplatzbewerber werden von zahlreichen deutschen Studienkollegs und Hochschulen angeboten. Die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang ausländischer Studienbewerber (DSH) als Nachfolgerin der Prüfung zum Nachweis deutscher Sprachkenntnisse (PNdS) ist eine eigens für diesen Zweck entwickelte Prüfung. Unter Vorgabe einer gemeinsamen Rahmenordnung, in der die Prüfungsinhalte umrissen sind, kann jede Hochschule eine eigene Aufnahmeprüfung erstellen. Ist sie dazu nicht bereit, kann eine Hochschule Prüfungen anderer Institutionen, ζ. B. die Zentrale Oberstufenprüfung (ZOP) des Goethe-Instituts oder das als Kooperation des Goethe-Instituts mit der Ludwig-Maximilians-Universität München entwickelte Kleine Deutsche Sprachdiplom (KDS) als äquivalent und damit als Befreiungsmöglichkeit anerkennen. Der Aufbau und die Aufgabentypen der DSH-Prüfung orientieren sich an der Funktion, die Fremdsprache Deutsch bezogen auf den akademischen Kontext zu überprüfen. Diese spezielle Sprachverwendung spiegelt sich ζ. B. in einem Prüfungsteil, der Strukturen und Wortschatz der Wissenschaftssprache mit Hilfe von Transformationen überprüft (Jung 1996,20):

5.

Eignungstest u n d Zulassungsprüfung

Von Einstufungstests zu trennen sind Eignungstests. Diese wurden entwickelt, um die Erfolgsaussichten einer Person auf einem bestimmten Lerngebiet zu prognostizieren (Henning 1987, 6). Es geht also um die Begabung eines Menschen für das Erlernen einer Fremdsprache. In den Vereinigten Staaten gab es seit den dreißiger Jahren Versuche, Tests zu entwickeln, um damit Entscheidungen über Zulassung oder Ausschluss von Lernenden beim Fremdsprachenunterricht an High Schools zu rechtfertigen (Michel 1936, 275-287). Im deutschsprachigen Raum sind Eignungstests zumindest für den Bereich der Fremdsprachendidaktik unüblich. Anders ist es mit Aufnahmeprüfungen, die ausländische Studienplatzbewerber an deutschen Hochschulen absolvieren müssen. Denn nach dem Hochschulrahmengesetz haben Studienbewerber mit nichtdeutscher Muttersprache den Nachweis hinreichender Sprachkenntnisse zu erbringen. Dabei sollen sie zeigen, dass die genügend Sprachkenntnisse mitbringen, um an dem Vorlesungs- und Seminarprogramm teilnehmen zu können. Diese Aufnahmeprüfungen sind für die Geprüften mit einem hohen Risiko verbunden, da auf Grund des Prüfungsergebnisses die folgenreiche Ent-

Formen Sie die Gliedsätze in Satzglieder um. Beispiel: Wenn man die Häuser abreißt, verlieren viele Menschen ihre Wohnungen. Beim Abriss der Häuser verlieren viele Menschen ihre Wohnungen. Auch die Fertigkeit, einen gehörten Text in eigenen Worten zu reproduzieren, die sog. Textwiedergabe, ist spezifisch für die Aufgaben von Studierenden, die Vorlesungen hören, verstehen und verarbeiten sollen. Hörverstehen wird integrativ zusammen mit der Transferleistung Schreiben getestet. Wenn Schreiben dabei als Prüfungsleistung mit den Kriterien Sprachliche Angemessenheit und Formale Ausführung schwerer gewichtet wird als die Wiedergabe der Inhaltspunkte, dann ist damit eine auf die Zielgruppe zugeschnittene Prioritierung vorgenommen. Auch Zulassungsprüfungen wie die DSH sind in ihrer Aussagekraft bezogen auf ihre

1001

102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle

Funktion. Informationen, die mit Hilfe dieser Zulassungsprüfung gewonnen werden, haben in erster Linie eine innerinstitutionelle Funktion. Die Frage von Abweichungen im Schwierigkeitsgrad bei abweichenden Prüfungsformaten von Universität zu Universität stellt sich insofern nicht als Problem, als jede Universität zugleich Prüfungsmacher und Endabnehmer der Zeugnisse, also zugleich prüfende und anerkennende Institution ist. 6.

Selbstevaluation

Im Kontext des selbstgesteuerten Lernens haben in jüngster Zeit auch die Begriffe Leistungsmessung und -bewertung eine neue Konnotation erhalten. Die Lernenden sollen in die Lage versetzt werden, ihre Leistungen selber einzuschätzen. Dabei verlagert sich der Schwerpunkt von der Lehrkraft hin zu den Lernenden, die selber Informationen über ihren Kenntnisstand und Lernfortschritt sammeln, um weitere Lernschritte gezielt zu steuern. Durch Beteiligung des Lernenden an den Verfahren der Leistungsmessung wird bei ihm die Einsicht in das gefördert, was Unterrichtsgegenstand ist und wie die dazu nötigen Fähigkeiten Schritt für Schritt erworben werden können. Der erste Schritt dabei ist die Selbstdiagnose, d. h. die Evaluation und Analyse eigener Stärken und Schwächen. Daran schließt sich erfahrungsgemäß ein gezielteres, d. h. strategisch richtiges Lernen an, bei dem systematisch Lücken gefüllt werden. Das gezielte Training von Lerntechniken, z.B. zur Verbesserung der Schreibfertigkeit durch bewusste Korrekturgänge (Rampillon 1996, 38 f.) kann dabei zu mehr Transparenz wie auch zur Verbesserung der Resultate eingesetzt werden. Selbstevaluation als Analyseinstrument ist weniger eine Frage der Aufgabentypen, als vielmehr eine Frage der Organisation. Indem nicht nur die Aufgaben, sondern die dazugehörigen Antworten, ggf. Erläuterungen dazu, sowie Bewertungskriterien an die Lernenden weitergegeben werden, verlagert sich das Gewicht weg von der reinen Beurteilungsfunktion hin zur Steuerung des Lernprozesses. Bei Erwachsenen wächst darüber hinaus das Bedürfnis, die eigenen Sprachkenntnisse im Hinblick auf die Bewerbungschancen für einen Studienplatz oder eine Stelle einzuschätzen. Wer sich z. B. als Mitarbeiter bei ei-

ner privaten Teilzeitjobagentur bewirbt und für diesen Zweck seine Fremdsprachenkenntnisse möglichst präzise definieren soll, benötigt dazu ein Hilfsmittel. An diesem Punkt treffen sich die Bedürfnisse der Endabnehmer von Prüfungen, in diesem Fall des Arbeitgebers, mit denen der Geprüften. Bei dieser Art von Selbsteinschätzung geht es also um das Feststellen des erreichten Niveaus unabhängig von dem vorher besuchten Kurs. Die Vorgabe, in möglichst kurzer Zeit ein möglichst genaues Bild des sprachlichen Kenntnisstandes der Teilnehmer zu erhalten, hat in jüngster Zeit zur Entwicklung von computergestützten Testverfahren geführt. Ein Beispiel dafür ist das sogenannte Computer Adaptive Testing System (CAT). Das Instrument wurde zuerst vom University of Cambridge Local Examinations Syndicate (UCLES) entwickelt und vom Goethe-Institut ins Deutsche, von der Alliance Française ins Französische und der Universidad de Salamanca ins Spanische übertragen. Der Test ist insofern ein Selbsteinstufungsverfahren, als man sich einem Test unterzieht, der ausschließlich vom Computer gesteuert ist. Ein Prüfender ist nicht beteiligt. Die Ergebnisse werden unmittelbar nach dem etwa 15-minütigen Verfahren bekanntgegeben. Das CAT-System besteht aus einer umfangreichen Bank von kalibrierten, d.h. im Schwierigkeitsgrad definierten Aufgaben zu den rezeptiven Fertigkeiten, d.h. Lesen und Hören sowie Strukturen und Wortschatz. Im Gegensatz zu monotonen Batterien textunabhängiger Aufgaben lassen sich alle Arten von Lückentexten vom Typ Cloze integrieren. Die Hörkomponente arbeitet mit bildgesteuerten Aufgabenformen: Wie ist die Frau zur Arbeit gefahren?

AO

Β•

CD

Im Gegensatz zum traditionellen Verfahren in Papierform wird beim CAT nicht jedem die gleiche gesamte Testbatterie vorgelegt. Der Computer errechnet vielmehr nach jedem gelösten Item — zur Differenzierung zwischen einer Aufgabe und einem Einzelelement eines Tests hat sich im Deutschen inzwischen die englische Bezeichnung Item durch-

1002

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

gesetzt —, zu welchem Item die geprüfte Person weitergeschickt wird. Hat er das vorhergehende richtig gelöst, wird der Schwierigkeitsgrad erhöht, hat er es falsch gelöst, bekommt er ein Angebot mit geringerem Schwierigkeitsgrad. Das Ergebnis wird in Punkten und relativ zu einer fünfstufigen Skala der Sprachbeherrschung ausgedrückt: Niveaustufe 2 — Kontatkschwelle Sie haben (...) Niveaustufe 2 erreicht. Auf dieser Stufe sollten Sie in der Lage sein, - das Telefon für Routinemitteilungen, die besonders deutlich gesprochen sind, zu benutzen; - Routineschreiben und Informationen über vertraute Produkte und Dienstleistungen zu verstehen; - mit Kunden Routineangelegenheiten zu behandeln und einfache Unterhaltungen zu führen; - sachbezogene Mitteilungen und Routineschreiben zu verfassen, sofern die Texte von anderen noch einmal kontrolliert werden. (...) Vorteile des computergesteuerten CAT Systems sind neben dem geringen Zeitaufwand die Genauigkeit der Ergebnisse, der Abwechslungsreichtum der kontextualisierten Aufgaben sowie die weite Streuung der Aufgaben vom Anfangerniveau bis zu weit fortgeschrittenem Kenntnisstand. 7.

Lernfortschrittstest

Versteht man die Instrumente der Leistungsmessung als ein System, bei dem es von einfachen zu immer komplexeren Prüfungstypen geht, dann lässt sich der Lernfortschrittstest am Anfang der Skala einordnen. Es handelt sich dabei um ein Kontrollinstrument, das an geeigneter Stelle während eines Kurses eingesetzt wird, um der Lehrkraft Informationen darüber zu liefern, wie effektiv ihr Unterricht war. Den Geprüften bietet er Informationen darüber, wie effektiv der individuelle Lernprozess war. Der Inhalt der Tests knüpft in der Regel unmittelbar an den in der vorangegangenen Unterrichtsphase bearbeiteten Stoff an, ist somit abhängig vom Kurs- bzw. Lehrplan. Wenn das Lehrwerk solche Tests nicht bereits liefert, werden sie von der Lehrkraft passend zu den aktuellen Unterrichtsinhalten erstellt. Hier stellt sich die Frage nach

dem Unterschied zwischen Lehrbuchaufgabe und Testaufgabe. Im Gegensatz zu Übungsaufgaben im Unterricht unterliegen Testaufgaben höheren Ansprüchen bei den Gütekriterien Unabhängigkeit und Eindeutigkeit. Bei einem Test sollte der Geprüfte bei jedem Item eine neue Chance erhalten. Eine falsch gelöste Aufgabe darf also nicht automatisch einen weiteren Fehler nach sich ziehen. Dies ist der Fall ζ. B. beim sog. Textpuzzle, einer Zuordnungsaufgabe, in der einzelne Sätze eines Textes herausgelöst sind und an die richtige Stelle einzusetzen sind. Das Bereitstellen einer größeren Zahl von Distraktoren lindert die Auswirkungen des grundsätzlichen Mangels dieser Aufgabe, dass ein Fehler automatisch Folgefehler nach sich ziehen kann. Aus praktischen Gründen greifen Lehrkräfte häufig zu dem Instrument der offenen Aufgabe vom Typ Fragen zum (Lese- bzw. Hör- ) Text: Welche Rolle spielt es, dass alle Angebote im Jugendzentrum kostenlos sind? Die Lösungen zu einer solchen Frage variieren sowohl inhaltlich als auch formal. Bei der Beurteilung bereiten Lösungen, die zu knapp sind oder zu viele grammatische bzw. ortografische Fehler enthalten, Probleme. Das Prüfungsziel Rezeption eines Textes (egal ob Lese- oder Hörtext) gerät in Konflikt mit dem impliziten Prüfungsziel Produktion von frei formulierten schriftlichen Äußerungen. Zwar sollten ortografische und grammatische Fehler bei Aufgaben zur Rezeption keine Rolle spielen, doch fallt es Korrektoren meistens schwer, Lösungen mit der vollen Punktzahl zu bewerten, die zwar inhaltlich adäquat, aber formal sehr fehlerhaft sind. Halboffene Aufgabentypen haben gegenüber den offenen Aufgaben den Vorteil, dass die verlangte produktive Leistung innerhalb eng gesteckter Grenzen bleibt. Ein halboffenes Verfahren zum Überprüfen des Leseverstehens ist z.B. die mit Lücken versehene Textzusammenfassung, die sog. „summary cloze"-Aufgabe. Dabei muss die Textzusammenfassung nicht komplett erstellt werden, was eine Transferleistung vom Lesen zum Schreiben wäre, sondern die Textzusammenfassung wird von der Lehrkraft verfasst und mit Lücken versehen, in denen die Kerninformationen abgefragt werden. Die vorgegebenen Lücken reißen den Kontext auf und

102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle

schränken die Bandbreite möglicher Lösungen inhaltlich ein. Der sprachgewandte Vetter Zwei Jahre Arbeit und kaum ein Ergebnis: Matata begreift es einfach nicht. Die Zwergschimpansin sollte „ Yerkish" lernen, eine Kunstsprache mit 256 abstrakten Symbolen für Substantive und Verben. Nicht einmal sieben Zeichen konnte sie sich merken. Sue Savage war enttäuscht. Die Wissenschaftlerin an einem Sprachforschungszentrum in Atlanta! USA hatte geglaubt, dass Bonobo-Zwergschimpansen sprachlich mehr auf dem Kasten hätten als gewöhnliche Schimpansen (...). (Goethe-Institut, Zentrale Mittelstufenprüfung, 1996) Der Artikel berichtet von einem Experiment, das (0) in At- (0) am Sprachforlanta durchgeführt schungszentrum wird. Eine Wissenschaftlerin versucht dort, Affen (1) beizu- (1)bringen. Sie verwendet eine Sprache namens (2), die aus Sym- (2). bolen besteht. Doch mit der Schimpasin (3) verliefen die Ver- (3). suche enttäuschend.

Lösungen: (1) Das Sprechen; (a) (3) Matata

Yerhish;

Bei Aufgaben dieses Typs geht es um das Überprüfen der Rezeption. Die Lücken sind daher so gesetzt, dass sie nicht bereits von grammatischen Strukturen determiniert sind (z. B. ein Nomen im DativPlural erforderlich machen). Bei der Korrektur müssen formale Fehler unberücksichtigt bleiben.

werden, sind somit immer relativ, bezogen auf den zu Grunde liegenden Lehrplan bzw. das Lehrwerk. Die Einschätzung der im Kurs erbrachten Leistung ist nicht nur für die Information der geprüften Person gedacht. Vielmehr werden Informationen über die Kursleistungen etwa von Stipendiengebern verlangt. Lokale Kursabschlussprüfungen unterscheiden sich von Feststellungsprüfungen, wie z. B.: dem Zertifikat Deutsch in folgenden Punkten: • Kursabschlussprüfungen werden dezentral erstellt, d. h. je nach Kursprogramm unterscheiden sich die Inhalte der Prüfungen und die Art der Aufgabenstellung. • Eine Kursabschlussprüfung kann aus Gründen der Testökonomie nicht dieselben Ansprüche an Réhabilitât stellen, wie eine zentral erstellte und erprobte Feststellungsprüfung. Gleichwohl sind auch bei einer Kursabschlussprüfung Messfehler tunlichst zu vermeiden. Eine wichtige Quelle solcher Messfehler sind unklar formulierte Arbeitsanweisungen. Selbst nach Kursen mit strukturalistischem Schwerpunkt dürften sich bei folgender Anweisung aus einer Kursabschlussprüfung der Mittelstufe Verständnisschwierigkeiten einstellen: I. Verwandeln Sie die erweiterten Attribute oder Präpositionalgruppe in zusammengesetzte Sätze (Satzgefüge!) 1. Ein auf einem besonderen Gebiet der Medizin arbeitender Arzt ist ein Facharzt.

Abgesehen von dem für nicht einschlägig Vorgebildete abschreckenden grammatischen Fachjargon ist das Fehlen eines Beispiels, das Unklarheit reduzieren könnte, bei dieser Aufgabe eine erhebliche Erschwernis. 9.

8.

Kursabschlussprüfung

Am Ende eines Kurses besteht bei einer großen Zahl von erwachsenen Kursteilnehmern das Bedürfnis nach einer Dokumentation des Fortschritts, den sie im Verlauf des Kurses gemacht haben. Der Prüfungsinhalt bezieht sich direkt auf den jeweiligen Lernstoff des vorausgegangenen Kurses. Informationen, die aus Kursabschlussprüfungen gewonnen

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Feststellungsprüfung

Die Funktion einer Feststellungsprüfung ist es, die sprachlichen Fähigkeiten des Geprüften zu einem bestimmten Zeitpunkt auf breiter Grundlage zu testen. In der Regel melden sich Interessenten zu einer solchen Prüfung aus freien Stücken an und bezahlen für diese Dienstleistung eine entsprechende Gebühr. Als Gründe, warum sie sich einer solchen Prüfung unterziehen, wurden bei einer Umfrage zur Zentralen Mittelstufenprüfung des

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XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

Goethe-Instituts im Jahr 1994 drei Gründe in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit genannt: a. persönliches Interesse b. berufliche Qualifikation c. Vorbereitung auf ein Studium. Was die Prüfungsinhalte angeht, so beschränkt sich die Feststellungsprüfung nicht auf den Stoff eines bestimmten Kurses oder Lehrplans, sondern legt ein spezielles Prüfungscurriculum zu Grunde. Das Curriculum einer allgemeinsprachlichen Prüfung orientiert sich an der zukünftigen Sprachverwendung im privaten, beruflichen und öffentlichen Leben. Im Falle einer fachsprachlich ausgerichteten Prüfung sind die Prüfungsinhalte auf das jeweilige Fachgebiet, z. B. berufsbezogene Verwendungssituationen, eingegrenzt. Das Prüfungscurriculum gibt Auskunft über Prüfungsziele und -inhalte, sprachliche Funktionen bzw. Handlungsfelder, den zu Grunde gelegten Wortschatz und die grammatischen Strukturen, das sprachliche Niveau etc. Feststellungsprüfungen sind im Vergleich zu den anderen oben besprochenen Prüfungsarten umfangreicher und zeitaufwendiger. Sie umfassen in der Regel Testaufgaben zu allen vier Fertigkeiten, d.h. Leseverstehen, Hörverstehen, schriftlicher Ausdruck und mündlicher Ausdruck. Dabei werden besondere Ansprüche an die Validität gestellt, weil die Prüfungsergebnisse sich an Endabnehmer, also z.B. Arbeitgeber oder Bildungseinrichtungen, außerhalb der prüfenden Institution richten. Für diese Prüfungsabnehmer ist zunächst die sog. Augenscheinvalidität von Bedeutung. Beim Durchsehen eines Modellsatzes muss der gebildete Laie den Eindruck erhalten, dass Texte und Testaufgaben wichtige und für ihre Zwecke relevante Inhalte und Fertigkeiten überprüfen. Im Zuge der sog. kommunikativen Wende spielt dabei etwa die Verwendung authentischer Texte und handlungsorientierter Aufgabenformen eine entscheidende Rolle. Bei der Formulierung von Testaufgaben zum Schreiben etwa sollte die kontextuelle Einbettung realistisch sein. Es muss klar sein, an bzw. für wen geschrieben wird. Realitätsnahe Schreibaufgaben richten sich nicht an den Prüfenden/Korrigierenden, sondern z. B. an einen Brieffreund. Überdies muss in der Aufgabe klar werden, welche Form der zu schreibende Text annehmen soll, d. h. welche Textsorte erwartet wird und wie lang der Text sein soll. Aus Gründen der Fairness sollte den

Geprüften bei einer produktiven Aufgabe, die nach bestimmten Kriterien beurteilt wird, außerdem bekannt sein, worauf bei der Korrektur Wert gelegt wird. Bei der Feststellungsprüfung ist außer der Augenscheinvalidität die sog. „Kontentvalidität" von Bedeutung. Sie betrifft die Frage der Testziele. Während die Auffassung, dass Feststellungsprüfungen alle vier Fertigkeiten überprüfen sollen, inzwischen historisch gewachsen ist, gibt es keinen Konsens darüber, wie jede einzelne Fertigkeit getestet wird. Dies hängt von den jeweiligen Feinzielen ab. So wird z. B. ein Hörverstehen für eine Prüfung zum Hochschulzugang mehr Wert auf das Verstehen von monologisch strukturierten, auf der Basis einer schriftlichen Vorlage gesprochenen Texten legen, als eine Prüfung mit einer allgemeinen Zielgruppe. Eine Prüfung zur Fachsprache Wirtschaftsdeutsch wie das vom Deutschen Volkshochschul-Verband und vom Goethe-Institut gemeinsam entwickelte Zertifikat Deutsch für den Beruf (ZDfB)

liegt bei

der Fertigkeit Sprechen Wert auf berufsspezifische Sprechanlässe und räumt Aspekten inter- bzw. metakultureller (u. a. 1996) Kommunikationsstrategien eine große Bedeutung ein. Die möglichen Aufgabentypen zur mündlichen Kommunikation unterscheiden sich erheblich hinsichtlich ihrer Offenheit. Während das Vorlesen eines Textes, das noch gelegentlich als Teilfertigkeit in Tests auftaucht, den Geprüften keinerlei Freiheit einräumt und sich lediglich auf die richtige Intonation und Aussprache konzentriert, verlangen Aufgaben zur Problemlösung und Diskussion, dass eigene Gedanken entwickelt und artikuliert werden. Intellektuell überlegene und reife Persönlichkeiten haben es bei solchen Testformen leichter als Personen, die aus kulturspezifischen oder persönlichen Gründen nicht daran gewöhnt sind, eigene Ideen im Gespräch zu entwickeln. Dieser Unterschied muss sich in den dazugehörigen Bewertungskriterien niederschlagen. Aufgabe und Bewertung gehören also zusammen. Je offener ein Test zur mündlichen Kommunikation angelegt ist, um so größer wird der Handlungsund Entscheidungsspielraum der Prüfenden. In ihrer Rolle als Gesprächspartner haben sie bei offenen Aufgaben einen größeren Gestaltungsspielraum als etwa bei einem gelenkten Gespräch, in dem alle Prüferfragen fixiert sind. In der Praxis nutzen Prüfende diesen Spielraum allerdings nicht selten in einer Weise, dass von den ursprünglichen Prüfungszielen wenig übrigbleibt. Dadurch wer-

102. Formen und Funktionen von Leistungsmessung und -kontrolle

den die Prüfungsergebnisse unzuverlässig. Prüferverhalten sowie die Praktikabilität von Bewertungskriterien sind Facetten des komplexen Prüfungsgeschehens bei mündlichen Prüfungen. Sie berühren sowohl die Frage der Validität wie der Réhabilitât von Tests. Je freier ein Prüfender die Aufgabenstellung interpretiert oder je unübersichtlicher die Bewertungskriterien, die er heranziehen soll, um so größer die Fehlerquelle. Der Relevanz von Prüferverhalten und der Bewertung von mündlichen Leistungen ist eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen gewidmet (Lumley/ McNamara 1995). In der Fachdiskussion spielt schließlich noch die Konstruktvalidität eine Rolle. Bei diesem aus der Psychologie entlehnten Begriff geht es um die Frage, welche mentalen Prozesse sich z. B. beim Lesen vollziehen. In der neueren Forschung wurden für das Lesen z. B. eine Reihe von Einzelfertigkeiten isoliert. Dazu zählen die Fähigkeit, verstreute Informationen zu synthetisieren, die Beherrschung von Lexik, die Aktivierung von relevantem Vorwissen, die Fähigkeit zur Zuordnung von Wörtern aus der Aufgabe zu Wörtern im Text (Rost 1993). Diese sog. Subskills sind allerdings bei Erwachsenen bereits derart miteinander vermengt, dass ihr separater Nachweis schwierig ist. Auch das Hörverstehen wird als kognitiver Prozess der Informationsverarbeitung mit multidimensionaler Interaktion einer Reihe von sprachlichen und nicht-sprachlichen Fertigkeiten definiert. Welche dieser Fertigkeiten in einem Hörverstehenstest besonders zum Tragen kommen, ist eine Frage der Konstruktvalidität. In der empirischen Testforschung wird versucht, diese Form der Validität mit Hilfe statistischer Verfahren zu erfassen. Auch hinsichtlich der Réhabilitât werden an Feststellungsprüfungen die höchsten Anforderungen gestellt. Zuverlässige Tests dieses Typs müssen zunächst eine Mindestzahl an Items anbieten, wobei jedes Item als Einzelmessung betrachtet wird, das unabhängig von anderen wertvolle Daten liefert. Um gesicherte Aussagen über den Sprachstand machen zu können, sollte eine Mindestzahl von 20 Items in jeder Fertigkeit (also Lesen, Hören, Schreiben, Sprechen) vorhanden sein. Eine Konsequenz daraus ist z.B., dass die von europäischen Prüfungsinstitutionen angebotenen Feststellungsprüfungen in der Regel von über dreistündiger Dauer sind. Ältere Prüfungen dieser Art wie etwa das Große Deutsche Sprachdiplom ( GDS) haben sogar

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eine reine Prüfungszeit von 10 Stunden und mehr. Die Resultate dieser Sprachstandsmessung sollen differenziert und fundiert genug sein, um den Endabnehmern eine begründete Entscheidung zu ermöglichen, ob die nachgewiesenen Sprachkenntnisse für die anvisierte Tätigkeit ausreichen. Da Feststellungsprüfungen nicht auf das vorausgegangene Kursprogramm und dem darin erreichten — relativen — Leistungsniveau rekurrieren, sondern Aussagen darüber machen, was die Geprüften können bzw. nicht können, um daraus Vorhersagen über zukünftige Leistungen in der Realsituation abzuleiten, muss auch das geforderte Leistungsniveau einen absoluten Maßstab angeben. Dies geschieht durch eine Festlegung sog. „levels of proficiency", d. h. allgemeinen Niveaustufen fremdsprachlicher Kompetenz. In einem in 1994-1996 durchgeführten Schweizer Projekt wurden die im englischen Sprachraum bereits existierenden Niveaubeschreibungen und die darin verwendeten Deskriptoren einer empirischen Untersuchung auf ihre Eindeutigkeit und Anwendbarkeit unterzogen (North 1996). Ziel der Praktiker wie etwa der Association of Language Testers in Europe (ALTE) sowie des Europarates (North 1993; Council of Europe 1996) ist eine Vereinheitlichung der Niveaustufen über die Sprachgrenzen hinweg. Denn gemeinsame Standards sind Voraussetzung für eine gegenseitige Anerkennung von nationalen Prüfungen. Im Zuge der Globalisierung mit hoher Mobilität von Arbeitskräften kommt einheitlich definierten Niveaustufen sprachlicher Fähigkeiten in Zukunft eine immer größere Rolle zu. 10. Literatur in Auswahl Albers, Hans-Georg; Sibylle Bolton (1995): Testen und Prüfen in der Grundstufe. Einstufungstests und Sprachstandsprüfungen. (Fernstudieneinheit 7). München. Bachman, Lyle (1990): Fundamental Considerations in Language Testing. Oxford. — ; Adrian Palmer (1996): Language Testing in Practice. Oxford. Bambach, Heide u. a. (Hg.) (1996): Prüfen und Beurteilen. Zwischen Fördern und Zensieren. In: Friedrich Jahresheft 14,1. Bolton, Sibylle (1985): Die Gütebestimmung kommunikativer Tests. Tübingen. — (1996): Probleme der Leistungsmessung. Lernfortschrittstest in der Grundstufe (Fernstudieneinheit 10). München.

1006

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

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103. Sprachstandsdiagnosen

103. Sprachstandsdiagnosen 1. 2.

7. 8. 9.

Einleitung Test- und Diagnoseverfahren: Unterscheidung nach Verwertungszusammenhängen Globale Sprachstandsfeststellung ohne Unterrichtsbezug Globale Sprachstandsfeststellung im Unterrichtszusammenhang Qualitative Verfahren der Sprachstandsmessung Differenzierung zwischen Sprachstandsdiagnose und Sprachdiagnose Sprachdiagnose: ein Vorschlag Schlussbemerkungen Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

3. 4. 5. 6.

Beobachten, Einschätzen, Bewerten von sprachlichen Leistungen oder Entwicklungen, Einteilen von Lernenden in Gruppen sind Tätigkeiten, die einen beträchtlichen Teil der Lehrarbeit ausmachen - sei es, dass sie en passant, als Begleitung der alltäglichen Unterrichtsroutine ausgeführt werden, sei es im Rahmen von expliziten, oft ritualisierten Momenten des Lehr-Lernprozesses, wie etwa dem Abschluss eines Lehrgangs (vgl. auch Art. 102). Mit dem großen Gewicht, das diesen Tätigkeiten im Praktischen zukommt, korrespondiert kein vergleichbar großes Interesse auf Seiten der einschlägigen Wissenschaften bzw. der Lehrerbildung. Zu registrieren ist eine nachlassende Publikationsdichte im sprachdiagnostischen Feld nach einer ,Blütezeit' in den 1970er Jahren. Auch wird beklagt, dass dieser Bereich in der Ausbildung zum Lehramt vernachlässigt werde: Einschlägige Lehrveranstaltungen würden kaum angeboten; die im Rahmen von Ausoder Weiterbildung vorgestellten sprachdiagnostischen Instrumente hielten vielfach nicht Schritt mit den Entwicklungen, die sich zwischenzeitlich in didaktischer Hinsicht vollzogen hätten (dies beklagt ζ. B. KleinBraley 1995, 500). So haben wir es hier mit einem Arbeitsbereich zu tun, in dem höchste Anforderungen an Lehrerinnen und Lehrer gestellt sind, aber relativ wenig geschieht, damit sie diesen Anforderungen gerecht werden können. Dieser Beitrag stellt die Grundzüge aktueller Entwicklungen im sprachdiagnostischen Feld vor und diskutiert Einsatzmöglichkeiten und -grenzen der jeweils vorgeschlagenen

Verfahrensweisen. Abschließend wird eine Methode kurz umrissen, die der lernprozessbegleitenden Diagnostik dient. 2.

Test- und Diagnoseverfahren: Unterscheidung nach Verwertungszusammenhängen

Im Themenfeld „Sprachstandsdiagnosen" lassen sich, grob gesprochen, drei Stränge des Interesses unterscheiden: a) ein Interesse an globalen Aussagen über Sprachkenntnis. Hier steht das Problem der Entwicklung, Prüfung und Standardisierung von Instrumenten im Mittelpunkt, die es erlauben, Gruppenunterschiede in den sprachlichen Leistungen Getesteter zu ermitteln und die, auf das Individuum bezogen, ein für seine Sprachkompetenz repräsentatives Maß ergeben sollen. b) ein auf Unterrichtsresultate bezogenes Interesse, das dem Problem der Prüfung und Bewertung des erbrachten Lernfortschritts gilt, gemessen an dem zuvor vermittelten sprachlichen Material. Auch hier geht es zugleich um die Festlegung von Gruppenunterschieden und um Generalisierbarkeit im Hinblick auf die Leistung Einzelner, jedoch ist hier die Voraussetzung der Messung prinzipiell überschaubar, indem bekannt ist, was zuvor unterrichtet wurde (vgl. hierzu auch 102). c) ein auf den Lernprozess selbst bezogenes Interesse, welches der Frage gilt, in welcher Weise, mit welchen spezifischen Praktiken und Strategien ein lernender Mensch sich sprachliche Mittel erschließt bzw. aneignet, gemessen an seiner Vorerfahrung in sprachlicher Hinsicht und mit dem Lernen überhaupt. Diese Grobeinteilung ist nicht für das Deutsche als Fremd- oder Zweitsprache spezifisch, sondern bezieht sich auf alle jene sprachdiagnostischen Zugänge, die unterrichtsbezogene Ziele besitzen; Verfahren, die allein der sprachwissenschaftlichen Forschung dienen, sind nicht Gegenstand dieses Beitrags (einen detaillierten Überblick über den Forschungsstand zur Sprachdiagnostik gibt Bachmann 1990). 3.

Globale Sprachstandsfeststellung ohne Unterrichtsbezug

Die hier für die Typisierung von Interessenlagen vorgeschlagene Einteilung von Verfahren

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XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

in drei Gruppen gewinnt ihr Kriterium zunächst aus der Frage, wieveil Distanz zwischen dem ausgedrückten Resultat einer Diagnoseprozedur und dem konkreten Prozess der Sprachaneignung bzw. dem potentiellen oder in der Diagnosesituation selbst aktualisierten Sprachvermögen eines Geprüften besteht; für diese Unterscheidung ist es irrelevant, ob Verstehens- oder Produktionsleistungen abgefragt werden sollen. Die weiteste Entfernung vom Lernprozess und den aktualisierten oder möglichen Sprachmitteln selbst drückt sich in den Ergebnissen jener Verfahren aus, die dem Interesse am Gewinn eines globalen Maßes für den Sprachstand dienen, ohne dabei Bezug auf einen vorherigen Lernprozess zu nehmen. Ihr Einsatzzweck ist in der Regel die Gruppenzordnung des Individuums, zuweilen in rein sprachwissenschaftlichem Zusammenhang. Im unterrichtsbezogenen Anwendungsfeld werden solche Verfahren sehr häufig aus den Anlässen der Zulassung - etwa zum Studium einer Fremdsprache - oder der Aufteilung in Leistungsgruppen eingesetzt, sei dies vor Beginn eines Lehrgangs bzw. Abschnittes des Schülerlebens oder nach der Beendigung. Das Ergebnis der Messung wird in einem abstrakten relativen Wert ausgedrückt, ζ. B. in der Form des Rangplatzes auf einer Skala; eine Analogie zu solcher Ausdrucksweise für ein Testergebnis bilden Schulnoten. Auch verbalisierte Varianten sind gebräuchlich, etwa vermittels Formulierungen wie ,Die Deutschkenntnisse sind gut/schlecht; hoch/niedrig'. Zuweilen wird in Verfahren dieser Interessenlage eine Differenzierung der Messung und des ausgedrückten Resultats nach sprachlichen Teilbereichen vorgeschlagen, ζ. B. in mündliche und schriftliche, rezeptive und produktive Fähigkeiten, für die dann jeweils ein globales Maß ermittelt werden soll. Dies ist bsw. bei Instrumenten üblich, die der Erteilung von Zertifikaten zu Grunde gelegt werden. Zu den in jüngerer Zeit meistbesprochenen Instrumenten dieses Typs gehört der ,C-Test', dessen Entwicklung maßgeblich von KleinBraley (u. a. 1996) vorangetrieben wurde. An seinem Beispiel sollen Verfahren dieses Typs veranschaulicht sowie die allgemeinen Testgütekriterien vorgestellt werden, die bei einer Prüfung der Qualität der Instrumente angelegt werden müssen. C-Tests werden so konstruiert, dass den Probanden - den geprüften Personen mehrere kurze, bevorzugt authentische Textpassagen vorgelegt werden, in denen nach ei-

nem festliegenden Kriterium Teile von Wörtern gelöscht sind. In der jüngeren Literatur über C-Tests (ζ. B. Grotjahn 1996) findet sich der Hinweis, dass es sich für manche Sprachen — etwa das Deutsche, Englische und Französische - bewährt habe, zunächst eine komplette Textzeile anzubieten, sodann aus vier bis fünf Zeilen jede zweite Hälfte jedes zweiten Wortes zu löschen und die letzten Worte der Passage wieder komplett zu belassen. So entstehen C-Test-Aufgaben wie etwa die folgende (Auszug): „Au Japon, en prenant ses fonctions, chaque nouveau Premier Ministre remercie les femmes. Il 1 remercie po leur gr dévouement d même q pour 1 contribution indisp à 1 vie soc (...). 5% d'en elles seul ont ac à des postes importants contre 19% aus Etats Unis" (Grotjahn 1995, 39).

Aufgabe der Probanden ist die Rekonstruktion der getilgten Wortteile in ca. vier bis sechs Aufgaben mit 20 bis 25 Items (Aufgabenteilen, hier also: Lückenwörtern). In der Auswertung wird für jedes richtig rekonstruierte Wort ein Punkt vergeben, so dass leicht ermittelbar ist, welchen Rangplatz ein Prüfling auf der Skala der Gesamtpunktwerte einnimmt. Der ermittelte Punktwert ist Ausdruck für das mit dem Test ermittelte ,Maß' an Sprachkenntnis. Es ist leicht nachvollziehbar, dass die so ausgedrückte Repräsentanz von Sprachkenntnis die größtmögliche Distanz vom in der Situation aktualisierten oder potentiellen Sprachvermögen einer getesteten Person aufweist. Wenn etwa diese Person 80 von 100 möglichen Punkten erreicht hat, so kann daraus geschlossen werden, dass sie im Sinne des Verfahrens .ziemlich viel' geleistet hat; auch kann diese Leistung verortet werden im Verhältnis zu anderen gleichzeitig getesteten Personen oder zu allgemeinen Erfahrungen, die bei vorherigen Testdurchführungen gewonnen wurden. Unklar bleibt aber, woraus die erbrachte Leistung konkret bestand. So kann ζ. B. nichts darüber gesagt werden, ob die nicht geleisteten Rekonstruktionen anzeigen, dass der in einem Textfragment enthaltene Kontext nicht verstanden wurde, die Fehlstelle' also im Rezeptiven lag, oder dass die verlangten Wörter nicht oder nicht genau genug aktiviert wurden. Die Konstrukteure von C-Tests beanspruchen freilich auch nicht, dass dieses Verfahren Auskünfte ergibt, die dicht am aktualisierten Sprachbesitz eines Probanden liegen oder Rückschlüsse auf die konkrete Ausprägung

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103. Sprachstandsdiagnosen

des sprachlichen Potentials erlauben. Sie beanspruchen vielmehr, integrative', also sprachliche Teilbereiche nicht differenzierende Messinstrumente zur Erfassung globaler Sprachkompetenz anzubieten- „C-Tests sind insbesondere dann erfolgreich einsetzbar, wenn das Ziel eine vom vorangehenden Unterricht bzw. von der individuellen Lerngeschichte weitgehend unabhängige globale Sprachstandsfeststellung ist" (Grotjahn 1995, 56). Um dieses Ziel zu erreichen, ist es eben notwendig, ein Instrument so zu konstruieren, dass die Distanz vom konkret aktualisierten sprachlichen Mittel im Prüf- und Auswertungsprozess so groß wie möglich gehalten wird, denn nur so kann dem Anspruch genügt werden, dass das Resultat einer Messung möglichst eindeutig ist. Bei der Prüfung von C-Tests ergab sich z.B., dass die Testgütekriterien befriedigender erfüllt werden, wenn davon abgesehen wird, die orthographische Korrektheit der Rekonstruktionen bei der Zuerkennung von Punktwerten zu beachten. Ein zuerkannter Wert weist demnach um so eindeutiger auf allgemeine Sprachfahigkeit', je weniger bei seiner Ermittlung eine Rolle spielt, ob eine spezifische sprachliche Leistung - etwa die richtige Schreibung eines Wortes — miterbracht wurde oder nicht (vgl. Grotjahn 1995, 43). Um dem Anspruch zu genügen, dass ein zutreffendes globales Maß für , Sprachstand' zuverlässig ermittelbar ist, ist es, wie schon angedeutet, erforderlich, Instrumente auf ihre Qualität (Güte) hin zu prüfen. Hierbei werden üblicherweise die konventionellen Methoden der Psychometrie verwendet. Die Qualität eines Tests erweist sich in drei hierarchischen Anforderungsbereichen: - ,Objektivität' (rangniedrigstes Kriterium); als solche ist definiert, dass ein Instrument unabhängig von störenden situativen oder personellen Umständen misst. - ,Réhabilitât' (Verlässlichkeit); beansprucht wird, dass ein Instrument in allen seinen Teilen systematisch die Fähigkeit oder Eigenschaft misst, die Ziel der Messung insgesamt ist. - ,Validität' (Gültigkeit; ranghöchstes Kriterium); beansprucht wird, dass ein Instrument genau das misst, was es zu messen vorgibt. Die Erfüllung der Gütekriterien wird separat voneinander ermittelt, kann aber nicht unabhängig voneinander beurteilt werden. Validi-

tät kann nur erreicht werden, wenn sich ein Instrument als objektiv und reliabel erweist; Réhabilitât kann ohne Objektivität nicht behauptet werden. Zur Überprüfung der Testgüte dienen in der Regel vergleichende statistische Verfahren, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann (vgl. aber die .klassische' Einführung: Lienert 1961; s. auch Grubitzsch/Rexilius 1978). Hier sei nur angedeutet, dass das Erfordernis der ,Vereindeutigung' dessen, was in einem Test abgefragt wird, Voraussetzung für die Anwendung konventioneller Methoden der Güteprüfung ist. ,Vereindeutigung' aber gelingt nur um den Preis der Reduktion von Komplexität der Leistung, die abgefragt wird. Diese ihrerseits führt zu Zweifeln daran, ob die so ermittelte Auskunft tatsächlich stellvertretend für den gefragten Fähigkeitsbereich stehen kann. Hiermit ist ein generelles Problem angesprochen, das der Konstruktion bzw. Anwendung von Verfahren innewohnt, die der Psychometrie entlehnt sind und dem Zweck der Ermittlung einer objektivierten, verlässlichen und gültigen Aussage über einen komplexen Leistungsbereich dienen sollen. Sämtliche konventionellen Prüfmethoden beruhen auf der vorgängigen Annahme, dass ein Kriterium, welches als Nachweis für die Richtigkeit der der Testkonstruktion zu Grunde liegenden Annahmen Geltung zugesprochen bekommt, selbst gültig ist. In der Literatur, die zur kritischen Auseinandersetzung mit Testtheorie und Testpraxis einlädt, wird auf die Brüchigkeit dieses Vorgehens immer wieder hingewiesen; letztenendes bleibe der Nachweis eines direkten, eindeutigen Zusammenhanges zwischen einer komplexen Fähigkeit und der Repräsentanz derselben in einem Test darauf angewiesen, dass der Zusammenhang selbst geglaubt werde. Viele Autoren äußern grundsätzliche Zweifel gegenüber der Annahme, dass sich ein theoretisches Problem (,was misst ein Test?') überhaupt in ein mathematisches verwandeln und so lösen lasse (so ζ. B. Brubitzsch/Rexilius 1978, 130f.). 4.

Globale Sprachstandsfeststellung im Unterrichtszusammenhang

Die Verfahren des bis hierhin vorgestellten Typs sind für den Einsatz in Randbereichen des Unterrichts — vor Beginn, nach Abschluss — gedacht; sie beanspruchen weder, noch sind sie geeignet für die Verwendung im Fluss des Unterrichtsprozesses. Für diesen

1010

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

Einsatzbereich werden jedoch Verfahren gewünscht und entwickelt, die eine weitgehende Ähnlichkeit mit denen des beschriebenen Typs aufweisen sollen. Auf konkrete Beispiele für solche Instrumente wird hier nicht eingegangen; dies ist Gegenstand von Art. 102. Anzusprechen sind hier nur einige Prinzipien bzw. Schwierigkeiten der Entwicklung und der Anwendung von Instrumenten, die das Interesse an der Ermittlung eines globalen Maßes für Sprachkenntnis im Unterrichtszusammenhang befriedigen sollen. Die Ähnlichkeit mit den Verfahren des zuerst beschriebenen Typs wird schon darin sichtbar, dass es üblich ist, auch sie als Tests zu bezeichnen; dies gilt für den Alltagssprachgebrauch von Lehrkräften ebenso wie für die Terminologie, die in einschlägigen sprachdidaktischen Arbeiten benutzt wird. Ällerdings wird dieser Sprachgebrauch im sprachdidaktischen Zusammenhang stets mit einschränkenden Bemerkungen versehen. Gebräuchlich ist ζ. B., von .informellen Tests' zu sprechen oder auf den ursprünglichen Bedeutungsumfang' des Begriffs in der englischen Sprache zu verweisen (so etwa Doyé 1995, 278). Tatsächlich ist die Vorsicht, die hier zur Sprache kommt, ein Ausdruck des Dilemmas, in das man unweigerlich gerät, wenn Tests in unterrichtlichem Zusammenhang eingesetzt werden sollen. Einerseits besteht — nicht anders als bei den zuerst vorgestellten Instrumenten — das Interesse an einer möglichst objektivierten, verlässlichen und gültigen Aussage über die sprachliche Leistung, die die Geprüften in der Situation erbracht haben, verbunden mit der Hoffnung, dass in dem ausgedrückten Maß eine verallgemeinerbare Aussage über Sprachstand, und sei es auch: in einem sprachlichen Teilbereich, enthalten ist. Auch sind die Modi einander entsprechend, die verwendet werden, um ein ermitteltes Resultat auszudrücken; hier wie dort handelt es sich um abstrakte relative Werte, sei es in Form von Ziffern oder in verbalisierter Form. Die einzige tiefergehende Differenz zu den oben besprochenen Verfahren besteht darin, dass im Unterrichtszusammenhang ein Bezug zwischen dem abgetesteten sprachlichen Material und denjenigen sprachlichen Mitteln besteht, die zuvor Gegenstand des Lehr- bzw. Lern-Prozesses waren (vgl. Vollmer 1995, 274). Andererseits aber ist es praktisch unmöglich, dass Lehrkräfte am Rande des üblichen Unterrichtsalltags Verfahren konstruieren, die auch nur entfernt die Qualitätsstandards einer Testgüteprüfung erfüllen. Hierzu fehlen

nicht nur Zeit und Gelegenheit, sondern vor allem die spezielle fachliche Ausbildung, wie sie nicht zuletzt für die Anwendung der einschlägigen statistischen Methoden benötigt wird. Überdies ist manches praktische Erfordernis, wie etwa die Erprobung des Instruments an einer für die statistische Prüfung erforderlichen Mindestzahl von Probanden, meist gar nicht zu gewährleisten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass dieses Dilemma eingestanden, seine Lösung aber darin gesehen wird, auf allzu strenge Maßstäbe bei der Konstruktion unterrichtsbezogener Instrumente zur Sprachstandsmessung zu verzichten. So wird etwa in einem Beitrag über Möglichkeiten der Ermittlung mündlicher Sprachleistungen im Fremdsprachenunterricht festgestellt, es müssten hinsichtlich der Qualitätsstandards „pädagogisch vertretbare Annäherungswerte akzeptiert und muss Mut zu Kompromissen gefordert werden" (Reisener 1992, 33). Das in einer Prüfung vollzogene ,Verifizieren' der im Unterricht erreichten Kenntnisse habe eine so wichtige Funktion, dass auf den Einsatz der entsprechenden Instrumente nicht verzichtet werden könne; zu warnen sei lediglich davor, dass falsche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen gezogen würden bzw. eine verkehrte Handhabung der Resultate vorgenommen werde (so z.B. Putzer 1990, 31). Hierzu sei angemerkt, dass es diesem Standpunkt an Konsequenz mangelt. Jenseits aller Mahnung zu vorsichtigem Umgang mit den Ergebnissen einer Messung ist festzustellen, dass der bloße Einsatz eines formalisierten Instrumentes selbst mit dem Anschein verknüpft ist, ein gültiges Resultat zu produzieren. Wenn zugleich eine sorgsame und mit hohem Aufwand verbundene Prüfung der Güte eines solchen Instrumentes aus praktischen Gründen nicht erfolgen konnte, so ergibt sich die höchst fragwürdige Situation, dass das Resultat einer Sprachstandsmessung in der Suggestion besteht, eine gültige und verläßliche, von situativen und personellen Einflüssen weitgehend unabhängige Aussage über das Sprachvermögen der Probanden zu ergeben und auf dieser Basis — im Effekt Bildungskarrieren kanalisierende — Entscheidungen zu treffen, die für abgesichert gehalten werden, es aber de facto keineswegs sind.

5.

Qualitative Verfahren der Sprachstandsmessung

Die aufgezeigten Schwierigkeiten, Instrumente zur Sprachstandsdiagnose von zufrie-

103. Sprachstandsdiagnosen

denstellender Qualität zu produzieren, sind im rein sprachwissenschaftlichen Verwertungszusammenhang relativ unschädlich, weil die Möglichkeit definitorischer Eingrenzung der Reichweite einer Messung und somit der Kontrolle über das Resultat besteht. Für den pädagogischen Verwertungszusammenhang aber, insb. beim Interesse an lernprozessbegleitenden Informationen, gilt dies nicht. Hier ist nicht nur unbefriedigend, dass ein doch nur dem Anschein nach kontrolliertes Ergebnis einer Sprachstandsmessung von größter persönlicher Tragweite sein kann. Darüber hinaus ist es für den pädagogischen Verwertungszusammenhang geradezu kontraproduktiv, wenn ein Verfahren der Qualitätskontrolle um so besser standhält, je geringer die Komplexität der Leistung ist, die in das Messergebnis einfließt. Dies bringt es u.a. mit sich, dass kein diagnostischer Zugang zu dialogisch-kommunikativem Sprachverhalten oder zu spontaner mündlicher und schriftlicher Sprachproduktion gefunden wird; auch ist unmöglich, die situations-, sozial· und regionalspezifischen Sprachleistungen bei der Sprachdiagnose zu berücksichtigen (vgl. Neuland 1982, 277). Legt man aber spracherwerbstheoretische Erkenntnisse zu Grunde, so liegen genau in diesen Bereichen die relevanten Informationen für den Zweck, Lerneraktivitäten und schulisches Sprachelernen in eine fruchtbare Verbindung zu bringen (vgl. Art. 69, 70). Unzufriedenheit damit, dass die Standards der Psychometrie es unweigerlich nach sich ziehen, zu relativ wenig brauchbaren Resultaten für sprachpädagogisch-didaktische Verwertungszusammenhänge zu führen, motivierte Versuche der Entwicklung alternativer Vorgehensweisen. Besonders produktiv war man im Bereich des Deutschen als Zweitsprache, jenem Gebiet also, in dem vor allem darauf reagiert wurde, dass zunehmend Kinder aus Einwandererfamilien in deutschen Schulen unterrichtet werden. Dies hatte Konsequenzen für den Aufbau der vorgeschlagenen Verfahren. In Bezug auf die genannte Zielgruppe kann nämlich nicht die in der Fremdsprachendiagnostik übliche Voraussetzung angenommen werden, dass die Deutschkenntnisse der Lernenden allein oder vor allem dem Unterricht geschuldet seien; vielmehr ist von einer Kombination von schulisch und nichtschulisch erworbenen Fähigkeiten auszugehen. Somit können die Verfahren nicht unter Rückgriff auf zuvor gelehrtes sprachliches

1011 Material konstruiert werden, sondern müssen Methoden einbeziehen, mit deren Hilfe sich die aus anderen Quellen angeeigneten sprachlichen Mittel für den Diagnosezweck heben lassen. Im Versuch, die oben geschilderten Beschränkungen psychometrischer Verfahren zu überwinden und zugleich einzufangen, dass wenig Gewissheit über die Quellen der zweitsprachlichen Kenntnisse der Getesteten besteht, stehen Vorgehensweisen im Vordergrund, die um die Anregung möglichst komplexer Äußerungen bemüht sind. Die Probanden sollen nicht von vornherein auf reaktives sprachliches Verhalten, das im Rahmen bestimmter sprachlicher Muster verbleibt, festgelegt, sondern vielmehr zu möglichst .spontanem Sprachverhalten' in einer möglichst .natürlichen Kommuniaktionssituation' veranlasst werden (so ζ. B. Ihssen 1980, 40). Die Absicht der Gewinnung eines globalen Maßes für Sprachstand wurde zunächst bei diesen Ansätzen nicht aufgegeben; sie sollte aber nicht auf dem Wege der .Berechnung' realisiert werden, sondern vermittels sog. qualitativer Methoden. Dem unterlag die Hypothese, dass unter den genannten Bedingungen eine Stichprobe an sprachlichen Mitteln aktiviert werden könne, die ein repräsentatives Abbild der zweitsprachlichen Kompetenz der getesteten Person darstelle. So rechtfertige sich die Formulierung einer verallgemeinerten Aussage über ihren Sprachstand, mithin das Diagnoseergebnis eines globalen Maßes. Die Elizitierung (Hervorlockung) von Äußerungen in Instrumenten nach diesem Verständnis soll zumeist auf dem Wege geschehen, dass den Probanden eine komplexe Situation präsentiert wird, zu der sie sich möglichst frei und selbstbestimmt äußern sollen; eine probate Methode dabei ist die Vorlage von Bildern als Gesprächsanregung. Fragen oder andere Gesprächsimpulse sollen so gehalten sein, dass sie motivierend und ermutigend wirken, nicht aber die Sprachproduktion lenkend. Um dem Anspruch qualitativer Auswertung Rechnung zu tragen, wird vorgeschlagen, die Äußerungen der Probanden so, wie sie fallen, in das Korpus an Sprachdaten aufzunehmen und einer Beurteilung zu unterziehen, für die in der Regel Kriteriensysteme eigens entwickelt wurden. Das schlussendlich in einer zusammenfassenden Würdigung enthaltene globale Maß vom Sprachstand der Getesteten soll nicht, oder nicht nur, in Zif-

1012

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

fern, sondern verbalisiert ausgedrückt werden (vgl. als Beispiel: Bruche-Schulz u.a. 1985). Eine kritische Prüfung von Vorgehensweisen dieses Typs und Anspruchs ergibt, dass weder die Qualitätsprobleme psychometrischer Verfahren damit überwunden werden können noch das Versprechen eingelöst wird, an ein pädagogisch und didaktisch ergiebiges Diagnoseergebnis zu gelangen. Verantwortlich dafür ist, dass das Diagnoseziel, eine globale Aussage über Sprachstand treffen zu können, bestehen bleibt. Dies macht es unumgänglich, eine Qualitätsprüfung im oben angesprochenen Sinne vorzunehmen, da dem Diagnoseergebnis sonst kein Vertrauen geschenkt werden kann. Wie sich jedoch in einer wissenschaftlichen Untersuchung zeigte, sind an der Qualität solcher Alternatiworschläge in der Tat Zweifel anzumelden; die diagnostische Prozedur erwies sich als höchst fehleranfallig von Beginn bis Ende (vgl. Ergebnisse im einzelnen: BoosNünning/Gogolin 1988). Demnach kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass es tatsächlich gelingt, Probanden zu den gewünschten .natürlichen', ,freien', für ihr sprachliches Wissen und Können repräsentativen Äußerungen zu veranlassen. Erhebungssituation, gesprächsanregender Impuls, Gesprächsführung durch die Testleitung sind, wie sich erwies, von so enormem Einfluss auf das Geäußerte, dass sich verallgemeinernde Rückschlüsse auf das sprachliche Vermögen der getesten Person schon von daher verbieten. Auch wurden große Störanfälligkeiten der Auswertung von Sprachproben ermittelt. Dem Erfordernis einer möglichst weitgehenden Objektivität im Auswertungsprozess kann nicht Genüge getan werden; also wird schon die mindeste Anforderung an die Qualität von Instrumenten verfehlt, die beanspruchen, ein allgemeines Maß für Sprachstand zu ergeben. Solche Mängel werden nun in diesen Ansätzen nicht dadurch wettgemacht, dass — wie gewünscht — ein für den Unterrichtszusammenhang reichhaltiges Ergebnis am Ende des Diagnoseprozesses vorliegt. Auch dem steht das Interesse am Gewinn eines globalen Maßes entgegen. Dieses verlangt nämlich, dass die Auswertung in eine stark vom aktualisierten Sprachmittel abstrahierende, evaluative Schlussfolgerung einmündet; die Information über das konkret Geäußerte geht dabei Schritt für Schritt verloren.

6.

Differenzierung zwischen Sprachstandsdiagnose und Sprachdiagnose

Zweifellos kann auf die Überprüfung von sprachlichen Kenntnissen und Entwicklungen im Unterrichtszusammenhang nicht verzichtet werden. Auch kann nicht darauf verzichtet werden, nach Leistung Gruppierungen vorzunehmen, solange Bildungssysteme neben der bildenden Aufgabe die der Zuerkennung von Berechtigungen besitzen. Es stellt sich aber die Frage, ob es nicht ratsam wäre, zu einer konsequenten Aufgabenteilung im Feld der Sprachdiagnostik zu gelangen, die folgendes Ergebnis zeitigt: Beim Interesse am Gewinn einer globalen Aussage über SprachstawJ bzw. der Ermittlung von Leistungsgruppen wären professionell, ggf. extern erstellte Instrumente zu verwenden, die in enger Zusammenarbeit zwischen Sprachwissenschaft und sprachlehrend Tätigen Zustandekommen. Auf Personen oder Institutionen, die auf Sprachstandsdiagnostik spezialisiert sind, käme die Aufgabe zu, Instrumente zu entwerfen, zu prüfen und womöglich selbst einzusetzen und auszuwerten, die zugleich dem Stand der sprachdidaktischen Entwicklung angemessen sind und die Gütestandards erfüllen, die angelegt werden müssen, damit Ergebnisse von Sprachstandsmessungen nicht letztenendes beliebig sind — aber den Anschein erwecken, dass sie es nicht seien. Es ist im Kontext des deutschen Bildungswesens heikel, eine solche Vorstellung zu formulieren. Die Tradition externer Prüfungen hat sich hier nicht entfaltet, und demzufolge wurde auch keine institutionelle Infrastruktur für diesen Aufgabenbereich herausgebildet, wie sie in beinahe allen westeuropäischen und anderen Staaten existiert, deren Bildungssysteme auf anglo- oder frankophonen Traditionen beruhen (vgl. auch Vollmer 1995, 276). Bei aller Kritik, die berechtigterweise an die Vorstellung einer Verlagerung der Prüfaufgabe an externe Instanzen anzumelden ist, stellt sich doch die Frage, ob die mit der gegenwärtigen Praxis verbundene Scheinqualität der Ergebnisse nicht mindestens gleichermaßen unbefriedigend ist. Wenn hingegen der Zweck der Zulassung, Gruppierung oder Zuerkennung von Berechtigungen nicht besteht, sondern ein den Lernprozess selbst betreffendes Interesse, so kann auf ein zusammenfassendes Urteil über Sprachstand, in dem sich auf Grund der Konstruktionsprinzipien der Vorgehensweise

103. Sprachstandsdiagnosen

keine Hinweise auf die konkret geäußerten sprachlichen Mittel bzw. gewählten sprachlichen Strategien mehr wiederfinden können, leicht verzichtet werden. In diesem Falle ist es ratsam, Verfahren zu wählen, als deren Ergebnis eine möglichst reichhaltige, differenziert ausgedrückte Information über die in der Prüfungssituation gezeigten Sprachkenntnisse einer Person zustandekommt; diese kann inhaltlichen oder methodischen Entscheidungen für den weiteren Unterricht zu Grunde gelegt werden. Solche Vorgehensweisen können dem Anspruch nicht standhalten, eine objektivierte, verlässliche und gültige allgemeine Aussage über den Sprachstand eines Getesteten zu enthalten; umgekehrt kann den Verfahren, die zum Zwecke der Gewinnung eines zusammenfassenden Maßes konstruiert werden, nicht unterstellt werden, dass sie ein Resultat von Reichweite und Aussagekraft für den Verwertungszusammenhang der Begleitung eines Lernprozesses erbringen könnten. 7.

Sprachdiagnose: ein Vorschlag

Ein Verfahrensvorschlag, mit dem der Gewinn einer kriteriengeleitet ermittelten, reichhaltigen Information über das in der Diagnosesituation geäußerte sprachliche Vermögen eines Geprüften angestrebt wird, soll hier abschließend als Exempel kurz vorgestellt werden, um ein Modell anzudeuten, nach dem man bei lernprozessbegleitendem Interesse vorgehen kann. Das Beispiel wurde im Hinblick auf die Adressatengruppe Schulanfänger aus Einwandererfamilien' entwickelt; es soll der Ermittlung ihrer mündlichen Fertigkeiten in der Zweitsprache Deutsch dienen. Das Instrument wurde zusammen mit einem Trainingsverfahren zur Erhöhung der sprachdiagnostischen Kompetenz von Lehrkräften erarbeitet (vgl. Gogolin 1988; Gogolin/Reich 1989). Die Vorgehensweise beruht auf den folgenden Vorannahmen: - Eine sprachdiagnostische Prozedur ergibt die gewünschten Grundlagen für den Unterricht nur, wenn die in der Situation aktualisierten Deutschkenntnisse eines Kindes möglichst detailgetreu beschrieben werden. — Die Aneignung einer Zweitsprache vollzieht sich nicht als Prozess des kontinuierlichen, bruchlosen Zuwachses an Kenntnissen, sondern kann sanfte Anstiege

1013 ebenso wie Sprünge in den Lernfortschritten, aber auch Phasen der Stagnation und des Rückschritts aufweisen (vgl. Art. 71 ff.). Daher ist Sprachdiagnostik als stetige, den Unterricht begleitende Aufgabe anzulegen. — Die Förderung der Zweitsprache muss sich auf das stützen, was der lernende Mensch bereits kann. Daher sind diagnostische Verfahren nicht sinnvoll, die allein der Ermittlung von Fehlern oder Normverstößen dienen und das vorhandene zweitsprachliche Repertoire außer Acht lassen. Gestützt auf diese Grundannahmen wird für die Sprachdiagnose bei Schuleintritt ein Verfahren vorgeschlagen, bei dem die Lehrkraft dem Kind einen Gesprächsimpuls vorlegt, von dem sie sich den Gewinn einer möglichst reichhaltigen Sprachprobe erhofft. Als Impuls können anregende Bilder ebenso dienen wie Gegenstände, die zum Sprechen ermuntern, z. B. Spielzeug; auch Videos mit kurzen Spielsequenzen oder ,Geräuschgeschichten' auf Tonbändern, die zum Weiterspinnen einladen, haben sich bewährt. Das auf solche Weise initiierte Gespräch zwischen Lehrkraft und Kind wird möglichst per Tonband aufgezeichnet und ganz oder in den wesentlichen Passagen transkribiert. Im Nachhinein erfolgt eine Tiefenanalyse, als deren Resultat sich eine bis ins Detail gehende Beschreibung des Geäußerten ergibt. Hierbei wird ein Kriterienkatalog verwendet, der unter Berücksichtigung sprachsystematischer und spracherwerbstheoretischer Annahmen gemeinsam mit Lehrkräften entwickelt wurde. Durch diese Zusammenarbeit sollte gewährleistet sein, dass das Auswertungsverfahren sowohl im Aufbau als auch in der terminologischen Gestaltung an den Erfahrungen und Kenntnissen anknüpft, die Lehrerinnen und Lehrer in den Diagnoseprozess mitbringen. Intendiert ist, dass die wiederholte Anwendung des Auswertungsverfahrens selbst, verbunden mit der Möglichkeit, an einem Training zur Erhöhung der Kompetenz zur Wahrnehmung und Bewertung gesprochener Sprache zu partizipieren, dazu beiträgt, dass die Lehrkräfte ihre Fähigkeiten zur kontinuierlichen sprachdiagnostischen Tätigkeit nachhaltig verbessern. Wenn dies erreicht ist, ist eine gute Voraussetzung dafür hergestellt, dass das aus unserer Sicht gehaltvollste sprachdiagnostische Instrument entsteht: ein , sprachdiagnostisches Tagebuch' über eine Schülerin, einen

1014

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

Schüler, in dem die Lehrkraft fortlaufend Beobachtungen über den Verlauf des individuellen Lernprozesses dokumentiert. Das Auswertungsverfahren beruht auf der Auffassung, dass es für die Beobachtung der zweitsprachlichen Entwicklung sinnvoll ist, die Oberflächenstruktur der Äußerungen nach ihrer Komplexität zu unterscheiden. Es ist davon auszugehen, dass die Beobachtung der verbalen Mittel, die ein Kind einsetzt, um Bedeutungsbeziehungen innerhalb einer Äußerung herzustellen, wichtige Informationen über seine zweitsprachlichen Möglichkeiten ergibt — und zwar unabhängig von der Form, in der eine Äußerung realisiert wurde. Aus diesem Grunde werden die ,vorhandenen sprachlichen Mittel' und ,formale Korrektheit der vorhandenen sprachlichen Mittel' zunächst getrennt voneinander ausgewertet; so soll der Gefahr begegnet werden, dass die normkonforme Realisierung einer Äußerung zum alleinigen Kriterium der Bewertung gerät, wodurch die für den Lehr-Lernzusammenhang ebenso wichtige Information über die Komplexität der kommunikativen Pläne eines Kindes verlorengehen würde. Entsprechend dem Verwendungszusammenhang der Beobachtung mündlicher Fähigkeiten wurde das Auswertungsverfahren unter Berücksichtigung spezifischer Merkmale gesprochener Sprache konzipiert. Konsequenz dessen ist zum Einen, dass die dialogische Struktur und der situative Kontext der Rede in die Auswertung einbezogen werden. Zum Anderen wird auf die Verwendung normativer Kriterien der Schriftsprache bei der Bewertung von Äußerungen verzichtet. Daher erfolgt ζ. B. bei der Ermittlung der syntaktischen Struktur einer Äußerung keine Beurteilung der Vollständigkeit oder Wohlgeordnetheit der Rede im Sinne schriftsprachlicher Norm; es wird stattdessen nach den erkennbaren syntaktischen Planungen gefragt sowie danach, welcher Einfluss auf ihre Realisierung den Redebeiträgen der Lehrkraft sowie anderen kontextuellen Bedingungen zuzumessen ist. Das Auswertungsverfahren enthält vier Beobachtungsbereiche, deren Bezeichnungen gemeinsam mit Lehrkräften entwickelt wurden. Vor der ins Einzelne gehenden Auswertung sollen ,Beobachtungen zur Gesprächssituation und zum Sprachverhalten der Gesprächsleitung' notiert werden. Hier geht es darum, all jene Informationen festzuhalten, von denen zu erkennen oder zu vermuten ist, dass sie auf die Sprachproduktion des Kindes

Einfluss nahmen. In diesen Bereich gehört ζ. B. eine Reflexion darüber, welche sprachlichen Mittel ein gewählter Impuls wahrscheinlich anregte und welche eher nicht; man denke etwa daran, dass bei Vorlage eines Bildes als Gesprächsanlass eher beschreibende als begründende Äußerungen fallen werden oder dass der geäußerte Wortschatz eher das im Bild Dargestellte betreffen wird als andere Gegenstände. Der zweite Analysebereich ist überschrieben mit ,Verfügbare Sprachmittel (Repertoire)'. Hier soll dem ,Inhaltswortschatz', den sprachlichen Handlungen und Formen ihrer Realisierung' sowie der ,Komplexität von Äußerungen' nachgegangen werden. Die Beschränkung darauf, den Wortbestand nur unter inhaltlichen Gesichtspunkten zu beobachten, legitimiert sich vor allem spracherwerbstheoretisch, denn ein entfalteter Inhaltswortschatz erlaubt vielfach eine gute Verständigung auch dann, wenn Mittel zur syntaktischen Differenzierung noch nicht zur Verfügung stehen. Die Untersuchung der pragmatischen Ebene, also der im Gespräch geäußerten sprachlichen Handlungen, wurde in den Auswertungsvorschlag aufgenommen, weil sich hier möglicherweise Zeichen dafür zeigen, wie ein Kind kommunikative Pläne in der Zweitsprache realisiert, wenn etwas beredet werden soll, das über das den Gesprächspartnern konkret Gegenwärtige hinausgeht. Im Bereich ,Komplexität von Äußerungen' geht es um die Analyseeinheit ,Satz' im Verständnis der Dependenzgrammatik, die den Satz durch die Bedeutungsbeziehung zwischen dem Verb und anderen Bedeutungsstücken einer Äußerung definiert. Unter ,Satzformen' soll beobachtet werden, welche syntaktischen Absichten die Kinder in ihren Beiträgen verfolgten; das Kriterium für Beurteilung der Komplexität eines syntaktischen Planes ergibt sich, indem die Benutzung ergänzungsbedürftiger Verben und ihrer Ergänzungen untersucht wird. Bis zu diesem Auswertungsschritt werden die Äußerungen der Kinder nicht unter normativen Gesichtspunkten betrachtet, sondern stets unter der Frage, welche kommunikativen Absichten sich in den Redemitteln erkennen lassen. Die Beurteilung der Formen der Realisierung soll in einem davon getrennten Schritt erfolgen; sie gilt den Bereichen Lautung' und ,Wortformen'. Im Hinblick auf die Lautung sollen Beobachtungen zur Artikulation von Einzellauten, zur Wort- und zur Satzintonation unter dem Gesichtspunkt an-

103. Sprachstandsdiagnosen gestellt werden, ob Abweichungen vom als üblich Betrachteten das Verständnis erschweren oder die Ausdrucksmöglichkeiten des Kindes einschränken. Der korrekte Gebrauch von Wortformen wird im Hinblick auf die Verbalgruppe (.Formen des Verbs und seiner Begleiter') und die Nominalgruppe (Formen des Substantivs und seiner Begleiter) ermittelt, wobei die Richtigkeit einer Äußerung danach beurteilt werden soll, was beim Sprechen geläufig ist. Der letzte Beobachtungsbereich gilt nicht dem mehr oder weniger isolierten sprachlichen Mittel, sondern der quasi textlichen Ebene des in der Erhebungssituation Gesprochenen. Überschrieben ist dieser Bereich mit ,Kommunikative Fähigkeiten'; untersucht werden soll, welche paraverbalen und extraverbalen Mittel eingesetzt wurden, ferner sollen Beobachtungen zu kommunikativen Strategien, zum Verstehen im Gespräch und zur Überwindung von Ausdrucksnot festgehalten werden. Damit ist intendiert, zusätzliche Auskünfte über die von einem Kind eingesetzten sprachlichen und nichtsprachlichen Mittel zu gewinnen, da sich hieraus wertvolle Hinweise auf jene Strategien und Praktiken ergeben können, die es bei der Sprachaneignung bevorzugt. Hieran kann, etwa bei der methodischen Planung von Fördermaßnahmen, angeknüpft werden. Die Auswertung der Sprachproben vermittels des so aufgebauten Kriterienkatalogs erfolgt, indem das Geäußerte zunächst unter Anwendung der Kategorien im Detail beschrieben wird. In einem zweiten Durchgang wird dieses deskriptive Auswertungsprotokoll in eine zusammenfassende Interpretation übertragen, wobei Beispiele von Äußerungen weiterhin aufgeführt werden, damit das Zustandekommen des Auswertungsergebnisses bei späterem Gebrauch noch nachvollziehbar ist (vgl. die Beispiele für Analyse und Interpretation in Gogolin 1988).

8.

Schlussbemerkungen

Eine solche ins Detail gehende Sprachdiagnose führt zu einem Resultat von großer Aussagekraft über das in der Situation gezeigte zweitsprachliche Vermögen eines Kindes; auch können wohlbegründete Vermutungen darüber angestellt werden, welche Praktiken und Strategien das Kind bei der Lösung der gestellten Aufgabe verwendete und somit möglicherweise beim sprachlichen Lernen

1015 überhaupt einsetzen wird. Allerdings ist die Methode mit nicht geringem Aufwand verbunden: das Gespräch mit dem Kind, die Transkription der Sprachprobe, die schrittweise Auswertung und zusammenfassende Interpretation erfordern eine erhebliche Investititon an Zeit. Daher bietet sich eine intensive Sprachdatenanalyse nach diesem Modell vor allem an Nahtstellen der Schülerbiographie an: bei der Einschulung, bei Lehrerwechseln, beim Schulwechsel. Die Prinzipien dieser Vorgehensweise sind jedoch auch auf die eher beiläufige, den Unterricht kontinuierlich begleitende Sprachdiagnose übertragbar — zumal dann, wenn die Lehrerin oder der Lehrer allmählich Erfahrung mit dem Vorgehen gewinnen und somit die sprachdiagnostischen Fähigkeiten gründlich erweitern konnte. Bei der sprachdiagnostischen Tätigkeit ,en passant', also am Rande des Unterrichts und zu seiner Begleitung, ist es meist nicht erforderlich, einen flächigen Überblick über das zweitsprachliche Repertoire eines Kindes zu erlangen, sondern die Beobachtungen können auf solche Bereiche konzentriert werden, über die im gegebenen Augenblick Informationen nötig sind. Das hier abschließend vorgestellte Instrumentarium bzw. die Vorgehensweisen, die nach seinem Modell entwikkelt wurden, haben sich auch für diesen Anwendungszusammenhang bewährt: zum Einen, weil es an den Kenntnissen und Erfahrungen von Lehrkräften anzuknüpfen scheint und ihren Vorstellungen von sprachdiagnostischer Arbeit entgegenkommt; zum Anderen, weil es — insbesondere im Verbund mit dem erwähnten Training — dazu beiträgt, die Kompetenzen in diesem Aufgabenbereich nachhaltig zu verbessern. Nach den Erfahrungen mit diesem Instrument und darüberhinaus hinausgehenden Untersuchungen ist es überhaupt ratsam, sich vor allem um Ansätze zu bemühen, die auf die Stärkung der sprachdiagnostischen Fähigkeiten von Lehrerinnen und Lehrern setzen, wenn das Interesse besteht, für die Unterstützung von Lernprozessen relevante, reichhaltige Informationen zu erhalten. Die Aufgabe lernprozessbegleitender Sprachdiagnostik kann nach unseren Erfahrungen durch kein Instrument je so befriedigend erfüllt werden wie durch sprachdiagnostisch erfahrene, gegenüber vordergründig tauglichen Methoden kritische, wahrnehmungs- und urteilsfähige Lehrkräfte.

1016 9.

XIII. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand IV

Literatur in Auswahl

Bachmann, Lyle (1990): Fundamental Considerations in Language Testing. Oxford. Boos-Nünning, Ursula; Ingrid Gogolin (1988): Sprachdiagnose bei ausländischen Schulanfängern. Resultate der empirischen Prüfung eines .Sprachtests'. In: Deutsch lernen 13/3—4, 3—71. Brache-Schulz, Gerda u. a. (1985): Sprachstandserhebungen im Grundschulalter. Ein Projektives linguistisches Analyseverfahren. Berlin, Senator für Schulen, Jugend und Sport. Doyé, Peter (1988): Typologie der Testaufgaben für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin/ München. — (1995): Funktion und Formen der Leistungsmessung. In: Bausch, Karl-Richard u. a. (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 3. Überarb. und erw. Auflage. Tübingen, 277-282. Gogolin, Ingrid (1988): Qualitative Verfahren zur Sprachdiagnose — Zwei Fallbeispiele. In: Deutsch lernen 13/3-4, 72-88. —; Hans H. Reich (1989): Differenzierte Erfassung des Sprachstandes in Deutsch als Zweitsprache als Aufgabe der Lehrerfortbildung — Wahrnehmung gesprochener Sprache. Lehrerfortbildung in Nordrhein-Westfalen, Unterricht für ausländische Schüler, Bd. 24. Soest. Grotjahn, Rüdiger (Hg.) (1996): Der C-Test. Theoretische Grundlagen und praktische Anwendungen. Band 3. Bochum.

Grubitzsch, Siegfried; Günter Rexilius (1978): Testtheorie — Testpraxis. Voraussetzungen, Verfahren, Formen und Anwendungsmöglichkeiten psychologischer Tests im kritischen Überblick. Reinbek. Ihssen, Wolf (1980): Probleme der Sprachentwicklungsdiagnose bei Ausländerkindern. In: Praxis Deutsch, Sonderheft, 40-42. Klein-Braley, Christine (1995): Leistungsmessung. In: Bausch, Karl-Richard u.a. (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 3. Überarb. und erw. Auflage. Tübingen, 499- 503. — (1996): Towards a theory of C-Test processing. In: Grotjahn, Rüdiger (Hg.), 23-94. Lienert, Gustav Α. (1961): Testaufbau und Testanalyse. Weinheim. Neuland, Eva (1982): Sprachtests. Möglichkeiten und Grenzen standardisierter Sprachleistungsmessung. In: Diskussion Deutsch 65, 256-280. Putzer, Oskar (1990): Prüfungsmethoden und Bewertungskriterien aus der Sicht der Sprachwissenschaft. In: Zielsprache Deutsch 21/2, 30—40. Reisener, Helmut (1992): Wie lassen sich mündliche Leistungen bewerten? In: Der fremdsprachliche Unterricht 26/4, 32-36. Vollmer, Helmut (1995): Leistungsmessung: Überblick. In: Bausch, Karl-Richard u. a. (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 3. Überarb. und erw. Auflage. Tübingen, 273—277. Ingrid Gogolin, Hamburg

(Deutschland)

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V: Materialien und Medien 104. Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts 1. 2. 3.

5.

Einleitung Klärung des Begriffes Historische Aspekte der Funktionen von Medien in Unterrichtsmethoden Deutsch als Fremdsprache Gegenwärtige Aspekte der Funktionen von Medien in Unterrichtsmethoden Deutsch als Fremdsprache Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

4.

In diesem Artikel wird der Versuch unternommen, eine Übersicht über die Funktionen der Medien in den Methoden des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache zu geben. Hierfür wird in der Darstellung der Zusammenhänge die besondere historische Situation des Faches Deutsch als Fremdsprache zu berücksichtigen sein. Das Fach Deutsch als Fremdsprache hat sich in Deutschland vor ca. 30 Jahren als eine wissenschaftliche Disziplin an zahlreichen Universitäten etabliert. In ihr wurden innerhalb methodischer Reflexionen immer auch Medien mit bedacht. Andererseits wurde die deutsche Sprache schon lange vorher in anderen Ländern an Schulen, Hochschulen und Einrichtungen für die Erwachsenenbildung unterrichtet. Hierbei stand der Unterricht der deutschen Sprache stets im Wettbewerb mit dem Unterricht in anderen Fremdsprachen, so dass eine Wechselwirkung zwischen den Methodiken der verschiedenen im Unterricht zu lehrenden Sprachen entstand. Ein beständiger Austausch bzw. eine Angleichung der Erfahrungen und Erkenntnisse für den Unterricht in den verschiedenen Sprachen entwickelte sich. Dieser beständige Austausch prägt auch das Fach Deutsch als Fremdsprache an deutschen Hochschulen und in den verschiedenen Mittlerorganisationen. Die Entwicklung angemessener Unterrichtsmedien stand hier schon sehr früh im Zentrum.

Mittlerorganisationen wie das Herder-Institut und das Goethe-Institut sahen die Entwicklung mediendidaktischer Konzepte von Beginn ihrer Tätigkeit als eine ihrer Kernaufgaben und sie erstellten die ihnen entsprechenden Medien für den schulischen und außerschulischen Deutschunterricht in anderen Ländern. So vielgestaltig sich dieses Feld des weltweiten Deutschunterrichts bei oberflächlicher Betrachtung zunächst zeigt, so wird sich herausstellen, dass die Funktionen, die den Medien für den Unterricht des Deutschen als Fremdsprache zugewiesen werden, trotz zeitlicher und geographischer Differenzen viele Gemeinsamkeiten aufwiesen und aufweisen. Aus dieser speziellen Situation ergibt sich, dass für diesen Beitrag ein mehrsträngiges Vorgehen zu wählen sein wird: einmal werden die historischen und geographischen medienmethodischen Besonderheiten des Faches Deutsch als Fremdsprache zu bestimmen sein, andererseits werden durch eine Betrachtung unter übergeordneten Gesichtspunkten Gemeinsamkeiten offenbar werden. 2.

Klärung des Begriffes

Mit „Medium" werden im allgemeinen Sprachgebrauch solche Mittel bezeichnet, durch deren Einsatz Prozesse verschiedenster Art hervorgerufen, erleichtert, befördert oder aufrecht erhalten werden (Schwerdtfeger 1973, 8). Der Begriff „Unterrichtsmedien" ist wie die Begriffe „Curriculum" und „Taxonomie" aus Schriften der anglo-amerikanischen Unterrichtsforschung und deren didaktische und methodische Folgerungen in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts in Teile der Fachdiskussion des deutschen Sprachraums übernommen worden. Er begann, den Begriff „Unterrichtsmittel" zu ersetzen. 1962 ist er in der deutschen Fachdiskussion in diesem Sinne erstmalig

1018

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

nachzuweisen (Heimann 1962, 416; Schwerdtfeger 1973, 479, Anm. 31). Seitdem bedeutet „Medium", dass sein Einsatz nach einer besonderen ihm angemessenen Unterrichtsmethode verlangt. Diesen Bedeutungen folgend werden die Medien des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache angeführt, die den Prozess des Fremdsprachenlehrens und -lernens hervorrufen, erleichtern, befördern oder aufrechterhalten: • Lehrbuch; • Bilder, Photographien, Diapositive, Filmstreifen; • Tonband/-kassetten, Schallplatte, Radiosendungen, Sprachlabor; • Tonfilme, Fernsehfilme, Fernsehsendungen, Videofilme; • Computer und Multimedia. Freudenstein (1995,288) stellt terminologische Unterscheidungen für Medien zusammen, die zu einer jeweils differierenden Einordnung der Medien führen. So werden technische von nichttechnischen Medien unterschieden. Darüber hinaus wird differenziert zwischen den Sinnen der Lernenden, die hauptsächlich von speziellen Medien angesprochen werden. Die Tabellen (Abb. 104.1 und Abb. 104.2) veranschaulichen diese Unterscheidungen für eine Kategorisierung der Unterrichtsmedien: nichttechnische Medien

technische Medien

Lehrbuch Bilder Photographien

Diapositive Filmstreifen Tonfilme Fernsehfilme/-sendungen Videofilme TonbandZ-kassetten Radiosendungen Schallplatte Computerprogramme

Abb. 104.1 visuelle Medien

auditive Medien

audiovisuelle Medien

Lehrbücher Bilder Photographien Diapositive Computer

Tonband/ kassetten Schallplatten Radiosendungen Sprachlabor

Filmstreifen Tonfilme Fernsehfilme Fernsehsendungen Videofilme Computer Multimedia

Abb. 104.2

Hier wird der in der Abb. 104.2 angegebenen Unterscheidung gefolgt. 3.

Historische Aspekte der Funktionen von Medien in Unterrichtsmethoden Deutsch als Fremdsprache

3.1. Visuelle Medien (Lehrbücher) In den Jahren 1573 erschienen zwei Grammatiken der deutschen Sprache für ausländische Lernende. Albert Ölinger war der Verfasser der einen, Laurentius Albertus Ostrofrancus der zweiten. 1578 wurde die Grammatik von Johannes Clajus gedruckt, die ebenfalls vor allen Dingen für ausländische Lernende des Deutschen gedacht war (Reich 1972, 141-143). Die drei Verfasser orientierten sich an der Sprache der Lutherschen Bibelübersetzung. Bei diesen drei Werken dürfte es sich um die frühesen Lehrbücher/Grammatiken der deutschen Sprache für ausländische Lernende handeln. Das Hauptmotiv für das Verfassen dieser Lehrbücher/Grammatiken war bei den Autoren einhellig, dass es notwendig sei, aufgrund politischer und wirtschaftlicher Kontakte die deutsche Sprache die Jugend der Nachbarvölker zu lehren. Diese Grammatiken waren Lehrbücher, wie aus den Vorreden ihrer Verfasser deutlich wird. Ölinger hatte in Straßburg vor allen Dingen junge Franzosen Deutsch gelehrt. Aus dieser Unterrichtspraxis entstand seine Grammatik: „Ölinger teilte die aus der Tradition des Lateinunterrichts stammende Auffassung, dass das Deutsche so wenig wie jede andere Sprache ohne Grammatik sicher erlerat werden könne. So erkundigte er sich bei Buchhändlern nach einschlägigen Werken. Diese konnten ihn aber nicht bedienen und waren der Auffassung, ,daß die deutsche Sprache wegen ihrer Schwierigkeit' nicht ,in feste Gesetze [...] der Grammatik gebracht werden könne'. Unbeeinflusst von dieser Meinung hat sich Ölinger selbst darangemacht, eine umfassende Grammatik der deutschen Sprache für den Unterricht vor allem der französischen Jugend zu verfassen, der er ,das Erlernen der Schriftsprache des .oberen Deutschlands' durch grammatische Regeln erleichtern wollte." (Reich 1972, 142) Reich (1972,142-143) nennt weiter die fünf Punkte, die Ostrofrancus als die wesentlichen Funktionen seines Lehrbuchs/seiner Grammatik anführt: • „Grammatik lehrt die Nachbarvölker die deutsche Sprache.

104. Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts

• Ohne feste Sprachegesetze der Grammatik sind die deutschen Reden sehr verworren und undeutlich [...]." • Durch diese Grammatik wird auch Orthographie gelehrt. • Durch das Lernen der Grammatik des Deutschen wird das Lernen des Lateinischen, Griechischen und Hebräischen erleichtert. • Durch die Einsicht in die Gesetze der Sprache kann die Bibel besser gelesen und verstanden werden. Die zentralen Funktionen für Lehrbücher, die bis heute gelten, sind vor vierhundert Jahren bereits genannt worden: Durch ihren systematischen Aufbau den Lernenden den fremdsprachlichen Lernprozess zu erleichtern. Ebenso haben die Leitgesichtspunkte, die als Ziele für den fremdsprachlichen Deutschunterricht angegeben wurden, bis heute Geltung: die Erleichterung des Handels und des darüber hinausgehenden persönlichen Kontaktes. Allerdings wurde damals in der historischen Situation, der sich nach der Lutherschen Bibelübersetzung erstmallig als einheitlich konsolidierenden deutschen Sprache bedeutsam — die Schriftsprache als Norm für angemessenes Sprechen gesetzt. Auch diese Besonderheit des Lehrbuchs findet sich trotz vielfaltiger andersgerichteter Bemühungen bis heute. Schließlich wird hier deutlich, dass das Lehrbuch Lehr- und Lernmedium zugleich war: Es diente den Lehrenden und den Lernenden, ein Umstand, der sich ebenfalls bis heute das Lehrbuch betreffend erhalten hat. Allerdings konnte sich das Lehrbuch als Lernmedium nur insoweit verbreiten, als die Druckkosten sich verringerten und hierdurch eine größere Verbreitung der Lehrbücher/Bilder möglich wurde. D a s L e h r b u c h Orbis sensualium pictus, v o n

Johann Amos Comenius, das 1654 erschien, ist das erste Lehrbuch auch für Deutsch als Fremdsprache, das für den Unterricht in einer genau beschriebenen Methode verfasst wurde. In ihrem Zentrum stand eine genau abgestimmte Verknüpfung zwischen Bild und Text. Comenius lehnte ein Lernen der Sprache um ihrer selbst willen ab. Alle Sinne der Lernenden sollten in vielfaltigen Aktivitäten daran beteiligt sein. Dieser Vorgang vollzog sich in fünf Schritten (Kelly 1976, 17f.): • Die Lernenden sollten sich zunächst mit dem Buch und seiner Vorgehensweise vertraut machen.

1019

• Die Lernenden sollten die fremdsprachlichen Bezeichnungen von allem, was in den Abbildungen erscheint, kennen. • Die Lehrenden sollten, wenn möglich, den Lernenden alles Abgebildete in der Wirklichkeit zeigen. • Die Lernenden sollten die Bilder abmalen. • Schließlich sollten sie ihre eigenen Bilder und die Drucke im Buch bunt ausmalen. Obwohl diese Methode weithin Anerkennung fand, verhinderten zunächst die hohen Druckkosten eine Verbreitung dieser Methode. Comenius hat mit seinem Werk ein Lernmedium für den Fremdsprachenunterricht geschaffen, in dem er von einer Vorstellung über Lernen und Sprache ausgeht, die heute wiederentdeckt wird. Das Sehen und durch die wirkliche Begegnung mit den Dingen und das Ausmalen ermöglichte Be-greifen der zu lernenden Sprache legt ein ganzheitliches Verständnis von Lernen und auch ein Verständnis der ganzheitlichen Bedeutung der zu lernenden Sprache zugrunde, das in den folgenden Jahrhunderten punktuell verloren ging und heute, durch die Einführung von Multimedia, für den Deutschunterricht wiederentdeckt wird. 3.2. Auditive Medien Das Jahr 1877 ist das Jahr, von dem an die einschneidendsten Veränderungen in der Medienentwicklung und beim Mediengebrauch im Fremdsprachenunterricht und damit auch des Unterrichts Deutsch als Fremdsprache möglich wurden. In diesem Jahr erfand der Amerikaner Thomas Alva Edison das erste „Schallaufzeichnungsgerät", den Phonographen - Kelly (1976, 240) setzt dieses Datum ein Jahr später - . Grundzüge, die sich bereits bei der Verwendung dieses Mediums zeigen, bestimmen die Methodik des Medieneinsatzes im Fremdsprachenunterricht bis heute. Bereits 1901 erschien in New York das Lehrbuch von R. S. Rosenthal The German Language. Zu diesem Lehrbuch gab es zur Übung von Dialogen, Grammatik und Vokabeln Phonographenzylinder, die von deutschen Muttersprachlern besprochen waren und von den Lernenden bei Bedarf genutzt werden konnten (Kelly 1976, 109; 243). 1902 veröffentlichten die International Correspondence Schools in Scranton in den USA einen Deutschkurs, dessen Bücher zur Einübung der Konversation von Phonographenzylindern begleitet waren. Der gesamte Text des Buchs war von deutschen Mutter-

1020 sprachlern auf die Zylinder gesprochen worden. Hierzu wurde den Lernenden eine speziell ausgestattete Abspielmaschine zur Verfügung gestellt (Kelly 1976,241). Die unbegrenzten Wiederholungsmöglichkeiten der angemessenen Intonation in der zu lernenden Sprache, die der Phonograph den Lernenden bot, war ein bei beiden Büchern erkannter Vorteil. Darüber hinaus wurde bereits die Möglichkeit des Selbststudiums mit diesem Medium als Vorteil gesehen. Andererseits jedoch ließ die technische Reproduktion der Sprache der Sprechenden der zu lernenden Sprache auf diesen Zylindern noch sehr zu wünschen übrig. Diese neue technische Möglichkeit bestand zunächst für den Fremdsprachenunterricht erwachsener Lernender, da die Kosten für diese Geräte ihrer Verbreitung, etwa in das öffentliche Schulwesen, weitgehend entgegenstanden. So konnte zu jener Zeit von einer systematischen methodischen Einbettung in den Unterricht des Deutschen als Fremdsprache noch nicht gesprochen werden. Dieser Sachverhalt charakterisiert die internationale Situation des Fremdsprachenunterrichts unter Nutzung des Phonographen. Das Potential dieses Mediums wurde für das fremdsprachliche Lernen international durchaus erkannt, ein Umstand, der sich niederschlägt in der 1909 zunächst in den ersten beiden Jahrgängen unter dem Titel: Spracherlernung und Sprechmaschine und darauf unter dem Titel: Unterricht und Sprechmaschine erscheinenden Zeitschrift (Schilder 1977, 338). „Will man den Versuch unternehmen, die Vielfalt der methodischen Ansätze im Fremdsprachenunterricht mit Hilfe der Sprechmaschine zusammenfassen, dann ist dies nur möglich, nach den anteilig am häufigsten auftretenden unterrichtlichen Einzelmaßnahmen." (Schilder 1977,237) Diese Aussage Schilders lässt sich durchaus auf den Unterricht Deutsch als Fremdsprache übertragen. Mit dem Einsatz des Phonographen im Fremdsprachenunterricht nahm eine Entwicklung ihren Anfang, die bis heute andauert: technische Geräte, für den kommerziellen Gebrauch konzipiert, wurden für den Fremdsprachenunterricht „entdeckt". Nicht immer wurde für ihren Einsatz, auch dies gilt bis heute, ein umfassendes methodisches Konzept entwickelt. Vielmehr dominieren methodische Einzeldarstellungen, die sich in ihrer Leistung auf Aspekte des jeweilig herrschenden fremdsprachenmethodischen Erkenntnisstandes beziehen. Aus diesen lassen

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

sich in einer Zusammenschau medienmethodische und mediendidaktische Trends für den Fremdsprachenunterricht ableiten. 3.3. Bilanz Diese historisch orientierte Zusammenschau wichtiger Phasen in der Entwicklung von Medien für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache verdeutlicht besonders folgende Merkmale, die den Medieneinsatz bis heute bestimmen: • Die Medien waren immer als Lehr- und Lernmittel zugleich konzipiert, häufig bremsten allein die hohen Kosten ihre weitere Verbreitung in das öffentliche Schulsystem. • Die Absicht bei ihrer Entwicklung war immer schon, das Selbstlernen der Lernenden zu fördern, woraus häufig die Sorge der Lehrenden entstand, dass sie durch die Einführung dieser Medien überflüssig würden. • Abgesehen von den Arbeiten von Comenius sind integrale medienmethodische Konzepte nicht zugleich mit diesen Medien entwickelt worden. • Besonders in der Zeit des ersten Einsatzes elektrisch angetriebener Medien ergab sich immer auch das Problem, dass eine hohe Unsicherheit bei Lehrenden wie Lernenden entstand, wie diese Medien angemessen zu nutzen seien. Zugleich fanden sich jedoch immer auch Lehrende und Lernende, die keinerlei Berührungsängste bei der Nutzung dieser neuen Möglichkeiten für das Lernen des Deutschen verspürten. • Lernstrategien zu entwickeln, die das Lernen einer Fremdsprache erleichtern sollten, war immer bei diesen Medien mitgedacht, ebenso die Einsicht, dass Fremdsprachen dann am besten gelernt würden, wenn alle Sinne der Lernenden am Lernen beteiligt werden. Der Wunsch nach intensiver Imitation von stets gleichbleibenden muttersprachlichen Sprechvorbildern wurde lange gesehen und konnte durch den Phonographen verwirklicht werden.

4.

Gegenwärtige Aspekte der Funktionen von Medien in Unterrichtsmethoden Deutsch als Fremdsprache

4.1. Vorbemerkung Im folgenden wird, allerdings nur skizzenhaft, die Funktion von Medien in einigen Unterrichtsmethoden des fremdsprachlichen

104. Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts

Deutschunterrichts ausgeleuchtet. Hierbei wird so vorgegangen, dass die Merkmale der Methoden herausgearbeitet und der Rolle der Medien für ihre Umsetzung besonderer Raum gegeben wird. Vorauszuschicken ist weiter, dass nur in den seltensten Fällen in der aktuellen Unterrichtserteilung diese Methoden so trennscharf integriert wurden, wie es hier in der Darstellung den Anschein gewinnen kann. Die darin angedeutete Freiheit der konkret Lehrenden in der Unterrichtspraxis muss jedoch in dieser eher grundsätzlichen Darstellung unberücksichtigt bleiben. Nicht alle in Abb. 104.2 angeführten Medien werden in den folgenden Kapiteln berücksichtigt. So ist z.B. nach der Entwicklung des Magnettonbandes die Schallplatte für den Fremdsprachenunterricht bedeutungslos geworden. Sie wurde vom Tonband und der Tonbandkassette abgelöst. Auch werden die visuellen Medien nicht einzeln berücksichtigt, sondern in einer Zusammenschau ihrer Funktionen dargestellt. Eine gesonderte Betrachtung des visuellen Mediums „Lehrbuch" wird kaum möglich sein, da andere visuelle Medien bzw. auditive oder audiovisuelle Medien selten ohne Rückbindung an Lehrbücher eingesetzt wurden und werden. Die jeweilige Darstellung wird sich auch nicht immer streng auf die einzelnen Methoden begrenzen. Wo es angezeigt ist, werden Fortentwicklungen in anderen Methoden aufgezeigt. 4.2. Zu den Funktionen auditiver Medien Eine Fremdsprache sprechen zu können, wurde in den siebziger und auch ζ. T. noch in den achtziger Jahren dieses Jahrhunderts zwei Hauptfähigkeiten des Menschen zugeschrieben: der menschlichen Fähigkeit des Fertigkeitenerwerbs und der Fähigkeit des Fertigkeitengebrauchs. So wurden ζ. B. bei der Fähigkeit Sprechen zu lernen auf der Ebene des Wissens zwei Kategorien unterschieden: die Wahrnehmung und die Abstraktion. Unter Wahrnehmung wurde das Erkennen von sprachlichen Kategorien und Funktionen verstanden; unter Abstraktion die Internalisierung von Regeln, in denen sprachliche Kategorien und Funktionen in Beziehung gesetzt wurden. Die Produktionsebene, die auch Pseudokommunikation genannt wurde, bestand in der Artikulation, d. h. dem Üben von Lautfolgen und in der Konstruktion, d. h. Übung in der Formulierung von Kommunikation. Die Fertigkeiten anzuwenden, war die wirkliche Kommunikation, die im Verstehen einer

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Aussage und im Ausdrücken einer persönlichen Meinung bestand. Die Übungen, die zum Erreichen dieser Fähigkeiten entwickelt wurden, standen in zwei Traditionen: in der Folge der Sprachuntersuchungen auf der Grundlage des Strukturalismus trat die gesprochene Alltagssprache, die hier jedoch ritualisiert wurde, in den Vordergrund. Sie wurde zunächst verbunden mit den Einsichten über Lernen, wie sie vom Behaviourismus bereitgestellt wurden. Danach findet Lernen durch die Aufeinanderfolge von Stimulus, Response und Verstärkung statt. Nach der „kognitiven Wende" in der Grundlegung für fremdsprachliches Lernen gab es eine Zeitlang Mischformen, in denen kognitives Lernen zwar propagiert wurde, die Übungen selbst aber immer noch nach behaviouristischen Prinzipien konzipiert wurden (ζ. B. Rivers et al. 1975; Autorenkollektiv 1981,135-138). Hier begann der Siegeszug zunächst des Tonbandes und dann auch bald des Sprachlabors. 4.2.1. Das Tonband/die Tonbandkassette Die Funktionen, die zunächst das Tonband und später auch das Sprachlabor vor allen Dingen erfüllten, ist die Schulung des Hörverstehens. Durch eine Variation der Stimmlagen, der Ideo- und Soziolekte werden den Lernenden vielfaltige Hörbeispiele gegeben, die eine einseitige Gewöhnung der Lernenden an die Sprache und Stimme der Lehrenden verhindert. In enger Verbindung damit ist der Einsatz des Tonbandes funktional für eine Sprechschulung in der Zielsprache. Die Lernenden bekommen Sprechvorbilder, die von Muttersprachlern gesprochen werden, an denen die Lernenden Gelegenheit finden, die zu lernende Sprache zu imitieren. Diese Imitation richtet sich besonders auf die suprasegmentalen Phänomene der zu lernenden Sprache. Hierbei wird eine unbegrenzte Wiederholung des Vorbildes möglich. Das Tonband bietet weiter die Möglichkeit, die Sprache der Lernenden aufzunehmen und diese Aufnahmen mit den Vorbildern auf dem Tonband zu vergleichen. Durch Tonbandaufnahmen können Sprechanlässe für die Lernenden gegeben werde. Hierbei werden die Anforderungen je nach Alter und Kenntnisstand der Lernenden differenziert. Daher spannt sich die Form, in denen die Sprechanlässe geboten werden, weit: von gelenkten Wiederholungen von Strukturen, die in der audiolingualen Fremdsprachenmethodik begannen, bis zu Aufzeichnungen von Si-

1022 tuationen mit ausgefeilten auditiv wahrnehmbaren, für die Situation bedeutsamer TonMontagen, die von den Lernenden im heutigen kommunikativen Unterricht gedeutet werden können (vgl. Dahlhaus 1994). Hierbei machen die Lernenden erste Schritte zu kreativem Handeln in der zu lernenden Sprache. Seit der Entwicklung der audiolingualen Methode erscheint kein Lehrbuch, dem nicht Tonbandkassetten beigefügt sind, die sich integral auf die Übungen im Lehrbuch beziehen. 4.2.2. Das Sprachlabor Das Sprachlabor hat in diesem Diskussionszusammenhang seinen Platz. Es ist das einzige Medium, das speziell für den Unterricht von Fremdsprachen entwickelt wurde. Bennett stellte bereits 1969 fest, dass die Beziehung zwischen dem Tonbandgerät und dem Sprachlabor technisch so eng ist, dass es sich kaum vermeiden lässt, sich zu wiederholen, wenn man über das eine bzw. das andere spricht (Bennett 1969, 140). Dennoch bedarf es in einer Übersicht über die methodischen Funktionen von Medien aus zwei Gründen besonderer Erwähnung: 1. An seine Entwicklung und weltumspannende Verbreitung in vielen Institutionen des Lehrens von Fremdsprachen, schulischen, universitären und außerschulischen, wurden große Hoffnungen für die Vermittlung von Fremdsprachen geknüpft. 2. In der Diskussion des Für und Wider des Sprachlabors wurden die ersten kommunikativen Übungen auf der Grundlage authentischer Hörtexte zunächst für das Sprachlabor entwickelt, die uns, losgelöst vom Sprachlabor, bis heute im fremdsprachlichen Deutschunterricht aller Stufen begleiten. So ist das Sprachlabor als Medium für sich historisch von größtem Interesse, zugleich entzündete sich an ihm eine, was ungewöhnlich ist, nahezu genau datierbare Diskussion, die einen grundlegenden Wandel auch der Funktion von Medien über das Sprachlabor hinaus im Fremdsprachenunterricht einleitete. Zu 1. Die Lernenden sollten im Sprachlabor Gelegenheit zum intensiven Üben der Zielsprache erhalten, die ansonsten minimale Sprechzeit der einzelnen Lernenden sollte erhöht werden. Die Lernenden, deren Arbeitsplätze mit einem Tonbandgerät und später mit einem Kassettentonbandgerät und Kopfhörern und Mikrophonen ausgerüstet waren, sollten durch Hörverstehens- und Nach-

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

sprechübungen, später auch freieren Übungen, Gelegenheit zu maximalen Übungsmöglichkeiten erhalten. Trennwände, auf die später weitgehend verzichtet wurde, sollten den Lernenden bessere Konzentration und ungestörte Wiederholungen ermöglichen. Die Übungen waren nach den Konzepten des Behaviourismus und des Strukturalismus in ihrer Grundanlage auf Stimulus und Response ausgerichtet: Beispiel 1 (nach Rivers 1975, 111): Übung des Dativs. Setzen Sie die Schlüsselwörter an der angemessenen Stelle ein. 1. Phase: Tonbandansage: Ich helfe dem Chef. Tonbandansage: Kaufmann 2. Phase: Lernende: Ich helfe dem Kaufmann. 3. Phase: Tonbandansage: Ich helfe dem Kaufmann. 4. Phase: Lernende: Ich helfe dem Kaufmann. Beispiel 2 (Autorenkollektiv 1981,136): Übung des Perfekts! Übungsanweisung: Sagen Sie, daß Sie die Tätigkeit bereits ausgeführt haben! 1. Phase (Tonbanddiktor): Lesen Sie diesen Text! 2. Phase (Schülerreaktion): Diesen Text habe ich schon gelesen. 3. Phase (Tonbanddiktor): Diesen Text habe ich schon gelesen. 4. Phase (Schülerreaktion): Diesen Text habe ich schon gelesen. Diese Übungen wurden in ihrer grammatischen und situativen Komplexität vielfältig variiert, blieben jedoch in ihrer Grundstruktur letztlich identisch. Die Lehrenden hatten die Möglichkeit, sich in die Arbeitsplätze der Lernenden einzuschalten, und deren Reaktionen zu hören und über Mikrophone die Lernenden zu korrigieren. Zu 2. Nach anfanglicher Euphorie wurden kritische Stimmen gegen das Sprachlabor laut, die schließlich zu einem Verzicht auf einen nachhaltigen Einsatz dieses Unterrichtsmediums führten. Diese kritischen Stimmen lassen sich zusammenfassen (vgl. Stuke; Zimmermann 1975, 137; Jung/Haase Hg. 1975): 1. Von den Lernenden kann nicht 45 Minuten Unterricht im Sprachlabor verlangt werden. 2. Das Gedächtnis der Lernenden war häufig überfordert, um auch eine Selbstkorrektur durchzuführen.

104. Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts

3. Die Unterrichtsgestaltung war starr vorgeschrieben. 4. Die Lehrenden haben häufig technische Probleme, die sie allein nicht bewältigen können. 5. Die Laborsituation mit dem Lernen in Vereinzelung wurde kritisiert. 6. Der notwendige autoritäre Lehrstil wurde Gegenstand der Kritik. Deutschlernen war, dieses zeigt sich an der zunehmenden Kritik an dem Einsatz des Sprachlabors sehr augenfällig, in seinem theoretischen Rahmen — linguistischer Strukturalismus und psychologischer Behaviourismus und seiner praktischen Umsetzung in eine Sackgasse geraten. Deutschlernen war an seiner Oberfläche zu einem durch Imitation scheinbar leicht zu lernenden Produkt geworden, das der Realität der Lernenden und Lehrenden jedoch nicht gerecht wurde. Die Ende der siebziger Jahre folgende kommunikative Wende des Fremdsprachenunterrichts bedeutete jedoch nicht zugleich einen kategorischen Verzicht auf das Sprachlabor. Häufig wurden seine kritisierten räumlichen Unzulänglichkeiten behoben, die Trennwände entfernt, so dass in diesen früheren Laborräumen wie in Klassenräumen gearbeitet werden konnte. Ein entscheidender Wandel vollzog sich in der Übungsgestalt und ihrer Funktion im Fremdsprachenunterricht. Authentische Unterrichtsmaterialien und zu ihnen gehörende kommunikative Übungen für das Sprachlabor wurden entwickelt. Hierbei war die Sprachlaborübung eine in einer Sequenz von differenziert abgestimmten Übungen, die sich um einen Schwerpunkt sammelten. Beispiel: Unterrichtseinheit Krumm 1977, 27)

Wohnen (vgl.

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So ist es im kommunikativen Fremdsprachenunterricht auch keineswegs ausgeschlossen, dass die gesamte Gruppe der Lernenden gemeinsam Übungen nach Tonbandkassetten macht, die einem Lehrbuch zugeordnet sind. Solche Übungen sind ζ. B. Intonationsübungen; Hörverstehensübungen mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad; Lieder; Kurztexte, ζ. B. Märchen und Gedichte, mit denen Übungen zum gezielten Hören zu vollziehen sind (vgl. Neuner et al. 1990, passim; Neuner et al. 1981, passim). 4.3. Zu den Funktionen visueller Medien In der Darstellung des methodischen Ansatzes von Comenius im Kapitel 3.1. wurde verdeutlicht, dass dem Bild für die fremdsprachliche Unterweisung schon vor Jahrhunderten große Bedeutung zugemessen wurde und für seinen Einsatz hoch differenzierte Verfahren entwickelt wurden. Die Welt ist heute mehr denn je von Bildern beherrscht, so dass dem Bildeinsatz im fremdsprachlichen Deutschunterricht besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muß. Die grundsätzliche Leistung von visuellen Medien im Fremdsprachenunterricht, hierunter fasse ich zunächst: Zeichnungen, Buchillustrationen der unterschiedlichsten Art (von künstlerischen Bildern bis zu Tabellen), Folien, Photos, Diapositive und Filmstreifen lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen (vgl. Schwerdtfeger 1973,389-410; Autorenkollektiv 1981,126-134; Scherling; Schuckall 1992): 1. Visuelle Medien erregen und halten die Aufmerksamkeit der Lernenden. Sie sprechen die Emotionen der Lernenden an

Situation

Kommunikationsmodus

Textsorte

Medium

Zimmersuche

Verhandlung Konflikt Vorurteil

Dialoge

Tonband, evtl. Film

Mietvertrag

Formular ( Leseverstehen )

Formular ,Amtsdeutsch'

Arbeitsblätter

Wohnungssituation in Information der Universitätsstadt Analyse Argumentation

Zeitungsbericht

schriftl. Dokumente

Mietwucher

Flugblätter Reportage

Flugblätter Tonband

Emotion Aktion

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2.

3.

4.

5.

6. 7.

und vermögen so, die Lernenden zu sprachlichem Handeln zu motivieren. Visuelle Medien schaffen einen Bezug zur gesprochenen und geschriebenen Zielsprache und vermögen, unbekannte mündliche und schriftliche Texte verständlich zu machen. Visuelle Medien vermögen, die regionalen und sozialen Spezifika der geschriebenen oder gesprochenen Sprache zu verdeutlichen. Gestik, Mimik und Körpersprache werden durch visuelle Medien als unverbrüchlicher Teil der zu lernenden Fremdsprache verdeutlicht. Visuelle Medien dienen als mnemotechnische Hilfe, d.h. sie fördern das Erinnerungsvermögen der Lernenden und unterstützen mündliche und schriftliche Äußerungen der Lernenden in der Fremdsprache. Sie erleichtern das Hörverstehen der zu lernenden Sprache. Visuelle Medien fördern die Erweiterung des Wortschatzes und stützen Strukturübungen. Visuelle Medien eigenen sich zum Einsatz auf jeder Stufe des fremdsprachlichen Lernprozesses.

Diese genannten Merkmale visueller Medien wurden und werden in unterschiedlicher Gewichtung in allen Methoden des fremdsprachlichen sowie auch des fachsprachlichen Deutschunterrichts genutzt. In der offenen Verwirklichung des kommunikativen Ansatzes der Fremdsprachenmethodik begann sich gerade im Bereich Deutsch als Fremdsprache das Layout der Lehrbücher zu wandeln. Die starre und eintönige Gestalt der Lehrbuchseiten, die von gedruckten Texten dominiert wurde, löste sich auf. Illustrationen, Photographien, Kollagen von Illustrationen und Photos, Tabellen, Reproduktionen von Zeitungsausrissen, die Erklärung der Valenzgrammatik, die wichtigen Lehrbüchern dieser Generation zugrunde lag, durch visuelle Symbole trat gleichberechtigt neben den gedruckten oder die Reproduktion eines handschriftlich geschriebenen Textes. Diese Vielfalt des visuellen Angebots, das intern aufeinander bezogen und gleichberechtigt mit den geschriebenen Textteilen war, integrierte alle sieben oben genannten methodischen Möglichkeiten visueller Medien. Allerdings zeigten sich hier zunächst die Notwendigkeiten einer intensiven Lehrerfortbildung,

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

da „die Auflösung der Schriftlichkeit", die hier in der visuellen Gestaltung stattfand, hohe Anforderungen an die Flexibilität der Lehrenden und Lernenden stellte. Historisch interessant im Zusammenhang mit visuellen Medien ist besonders die audiovisuelle global-strukturelle Methode, die von Von Faber konzise charakterisiert wird: „Die audiovisuelle Methode sieht zu Anfang des Lernprozesses das Bild als struktural-globale Aussage, zu der sprachliche Elemente illustrativ beigegeben werden. Eine solche globale, die synthetische Wirklichkeit vor der analytischen Struktur der Sprache hervorhebende Absicht des Bildes behält auf weite Strecken des didaktischen Vorgehens in der audio-visuellen Methode Vorrang, obwohl schließlich auch diese Theorie verlangt, dass sich das Verhältnis umkehre. Anstelle der anfanglich globalen Bevorzugung des Visuellen tritt, nachdem die Inhalte geklärt und die Lautformen gefestigt worden sind, die gesprochene Sprache, während sich das Bild nun seinerseits zum Mittel der Illustration zurückgestuft sieht. Daneben dient es als übungsauslösender Stimulus sowie als Gedächtnisstütze, um inhaltsbezogene Lautketten abrufen zu können." (Von Faber 1974, 8f.; vgl. Montani 1974) Bei dieser Methode ergaben sich besondere Probleme bei der Visualisierung komplexer Zusammenhänge. Diese Schwierigkeiten machten es zum Teil erforderlich, dass die Lernenden zunächst die besondere Bildsprache lernen mußten, bevor sie mit dem Erlernen des Deutschen beginnen konnten (vgl. Scherling; Schuckall 1992, 21). Auf eine Propagierung und Fortentwicklung dieser speziellen Methode wurde mit dem Beginn der kommunikativen Wende des Fremdsprachenunterrichts weitgehend verzichtet. Bei Lernenden, die nicht an die westeuropäischen Illustrationskonventionen, z.B. an Perspektive/Fluchtpunkt bei Illustrationen und an die spezielle Art logischer Abstraktionen in Tabellen gewöhnt sind, können beim Einsatz visueller Medien Lernprobleme auftreten (Buhlmann; Fearns 1987,103-113; Scherling/Schuckall 1992, 18 ff.). Gilt dieses in besonderem Maße für Lernende aus anderen als europäischen Regionen der Welt, ist jedoch grundsätzlich für einen erfolgreichen methodischen Einsatz visueller Medien bei allen Lernenden auf die sinnvolle Verschränkung von Bild und Text und die ikonographische Deutungsmöglich-

104. Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts

keit in Bezug auf das gewünschte Ziel im Unterricht zu beachten. Bei der Erforschung der methodischen Wirkung von visuellen Medien für Lernprozesse steht bisher vor allem deren kognitive Wirkung im Vordergrund (vgl. Hellwig 1995; Peeck 1994). Die emotionale Wirkung von visuellen Medien wird in der methodischen Forschung bis heute eher vernachlässigt (vgl. Schwerdtfeger 1997). 4.4.

Zu den Funktionen audio-visueller Medien 4.4.1. Videofilme Das Angebot an Videofilmproduktionen für den fremdsprachlichen allgemeinsprachlichen und fachsprachlichen Deutschunterricht der unterschiedlichsten Lernstufen und die unterschiedlichsten Altersstufen steigt besonders in den vergangenen Jahren ständig. Dieses vielfältige didaktisierte Filmangebot für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache, das sich vom Dokumentarfilm über Werbung und Spielfilm hin zu verfilmter Literatur erstreckt, wurde in dieser Breite erst durch die kommunikative Wende in der Fremdsprachenmethode ermöglicht. Die in diesem Zusammenhang entfachte Diskussion der Authentizität von Texten (vgl. Neuner u. a. 1981) wurde auch auf den Einsatz von Filmen im Fremdsprachenunterricht ausgeweitet. Der Film wurde als eine Textsorte sui generis für den Fremdsprachenunterricht er-

kannt und gewann durch seine zunehmende Verfügbarkeit (Wende von der 16 mm Filmrolle zur Videocassette) an erheblichem methodischen Reiz. In der kommunikativen Wende des Fremdsprachenunterrichts wurden die traditionellen Forderungen an einen guten, für den Fremdsprachenunterricht einsetzbaren Videofilm nicht länger verfolgt. Diese waren (vgl. Ehnert 1984, 7): — das Bildobjekt soll sich möglichst ruhig verhalten oder nur langsam bewegen; bei schnellen Bewegungen muss die Einstellung entsprechend lang sein, — die Perspektive soll möglichst einheitlich (Augenhöhe, keine Kamerafahrt) sein; es sollen nur wenige Einstellungen (Totale und Großaufnahme) erfolgen; der Zoom soll nicht oder wenig eingesetzt werden, und es sollen wenige Überblendungen stattfinden, — die Einstellungen sollen 16 bis 20 Sekunden dauern. An diesen Kriterien wird offenbar,

1025

dass lange Zeit das Medium Film nicht als Medium sui generis angesehen wurde, sondern die Entwicklung bzw. Auswahl von Filmen für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache sich noch an der Statik des Buchs orientierte. Erst Ende der 80er Jahre wurde das Medium Videofilm systematisch in seinen besonderen Leistungen für den fremdsprachlichen Deutschunterricht entdeckt (vgl. Schwerdtfeger 1989). Filmspezifische Übungen wurden für den fremdsprachlichen Deutschunterricht entwikkelt. Diese Übungen zeichnen sich durch folgende Merkmale aus: • In den Übungen wird berücksichtigt, dass der Film eine vom Filmemacher konstruierte Wirklichkeit ist und damit nie Abbild einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit. • In den Übungen wird daher berücksichtigt, dass der Film eine Zeichenkomposition ist, in der in spezifischer Weise mit Zeit und Raum umgegangen wird. Filmspezifische Zeichen sind z.B. Kameraeinstellungen, Schnitt, Kamerafahrt, Kameraperspektive, Töne, Musik, Farben, Licht etc. • In den Übungen steht die in den Filmen gesprochene Sprache also nicht isoliert im Zentrum, sondern immer nur eingebunden in das Gewebe aller anderen filmischen Zeichen. • In den Übungen werden die Zeichen der Filmsprache, d. h. die speziellen filmischen Erzählungen mit den Deutungen, die die Betrachter ihnen geben, konfrontiert. • Die Deutungen der Lernenden sind eingebunden in ihre persönlichen emotionalen und kognitiven Prozesse, diesen wird in den Übungen Rechnung getragen. • So entstehen filmspezifische Wahrnehmungsübungen, in denen für die Deutungen von filmspezifischen Zeichen und nonverbalem Verhalten durch die Lernenden immer auch der Ausdruck von Gefühlen für mündliche und schriftliche Aufgaben im Mittelpunkt stehen. An dieser Merkmalsliste zeigt sich, dass in den Übungen, die die Filme als eigenständige Medien betrachten, für den fremdsprachichen Deutschunterricht neue Dimensionen erschlossen werden, die durch den allein an Druckmedien orientierten Unterricht nicht in den Unterricht gebracht werden können. Die

1026 Bedeutung dieses Mediums wird im Zuge der Entwicklung von neuen Trägermedien im Rahmen eines multimedial orientierten Fremdsprachenunterrichts noch wachsen. So wird durch die Verbreitung der Bildplatte der Einsatz von Videofilmen im Unterricht außerordentlich erleichtert. Gegenwärtig jedoch sind die dafür notwendigen technischen Geräte noch zu kostspielig, als dass sie weiträumige Verbreitung finden könnten. Eine weitere Entwicklung, die in der Zukunft den fremdsprachlichen Deutschunterricht verändern wird, ist der Einsatz von interaktiven Videomaterialien, auch hier sind erst die Anfänge sichtbar. Interaktive Videomaterialien sind solche, in denen die Lernenden die Fortentwicklung einer filmischen Erzählung „bestimmen" können und deren Entwicklung nach ihren Deutungen des filmischen Geschehens „beeinflussen". Auch hier ist die weitgreifende Verbreitung noch aus Kostengründen nicht möglich, da alle den Lernenden angebotenen Alternativen vorher gefilmt werden müssen. Interessant ist jedoch, dass in einer Zeit, in der begonnen wird, das Medium Video bereits als ein altes Medium zu betrachten, dieses so effektive und vielseitig nutzbare Medium immer noch keinen festgefügten Platz in den methodischen Verfahren des Fremdsprachenunterrichts gefunden hat. Die Gründe hierfür sind vielfältig und auch differenziert. Dieser Sachverhalt ist einerseits darin gegründet, dass vielen Orts die technischen Vorbedingungen noch nicht geschaffen sind, Videorekorder und -monitore nicht zur Alltagsausstattung des Fremdsprachenunterrichts gehören. Andererseits stehen die Lehrenden diesem Medium und seinen unterrichtsmethodischen Möglichkeiten eher zögerlich gegenüber. Dieses findet seine Begründung einerseits in der Sorge über die technische Bewältigung dieses Mediums und andererseits in der Sorge um eine Erfüllung des vorgegebenen Stoffplans für den Unterricht. Es wird gefürchtet, diesen durch den Zeitaufwand beim Einsatz von Videos im Unterricht nicht einhalten zu können. Es zeichnet sich jedoch ab, dass durch die zunehmende Integration von Multimedia in den Fremdsprachenunterricht dieses Medium auf anderen Trägermedien zu seinem endgültigen Durchbruch finden wird und ihm auch methodisch ein selbstverständlicher Platz eingeräumt werden wird.

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

4.4.2. Multimedia Das Kennzeichen, das sich bereits bei der Entwicklung des Phonographen für den Fremdsprachenunterricht zeigte, wiederholt sich auch mit all jenen Medien, die jetzt zunehmend für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache aufbereitet und entwickelt werden und in denen der Computer das Leitmedium darstellt. Diese Medien sind zunächst nicht für den Fremdsprachenunterricht gedacht worden, sondern wurden und werden nach und nach für ihn entdeckt. „Der Computer ist (...) nicht als Unterrichtsmedium konzipiert worden — im Gegensatz zum Sprachlabor. Sein Potential kann jedoch dazu genutzt werden, Softwarepakete herzustellen, die als Lernprogramme eingesetzt werden können. Als Unterrichtsmedium eignet sich der Computer mit entsprechend programmierter Software für Sprachübungen inhaltlicher und formaler Art" (Grüner/Hassert 1992, 23). Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die zentralen Leistungen des Computers für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache vor allen Dingen im Bereich der Grammatikfestigung, der Wortschatzarbeit und in der Bearbeitung von Leseübungen zu sehen. Übungen aus diesen Bereichen lassen sich im Unterricht im Klassenverband und im sogenannten Selbstlernen einsetzen. Um solche Übungen zu erstellen, liegen bereits Autorenprogramme vor, welche die Lehrenden nutzen können, um für ihren Unterricht speziell notwendige Übungen zu erarbeiten, die dem Lernstand ihrer Klasse angemessen sind. Die Sorge, dass der Einsatz von Computern die Lehrenden im Fremdsprachenunterricht überflüssig machen könnte, sind unbegründet, allerdings werden sich die Aufgaben der Lehrenden mit der zunehmenden Ausbreitung des Computers durchaus verändern und andere Fähigkeiten von ihnen erwartet. Eine Aufgabe dabei wird sein, dass die Lehrenden die Rollen von Lernberatenden für ihre einzelnen und im Klassenverband mit dem Computer arbeitenden Lernenden übernehmen (vgl. Brammerts; Little (Hg.) 1996). Zunehmend werden auch CD-Roms erstellt werden, welche für die Fremdsprachenlernenden der verschiedensten Stufen genutzt werden können. Zum gegenwäritgen Zeitpunkt sind in diesem Bereich bemerkenswerte Fortschritte in der Entwicklungsarbeit gemacht worden, so dass diese Medien sicher

104. Die Funktion der Medien in den Methoden des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts

auch bald dem Deutschunterricht auf breiter Ebene zur Verfügung stehen. Die durch die Arbeit mit dem Computer angestrebte Förderung von Formen des Selbststudiums von Fremdsprachenlernenden (Grieshaber 1995; RüschofT/Schmitz (Hg.) 1996) findet seine gegenwärtig auch methodisch ausgefeilteste Form im Tandemlernen über das Internet (Brammerts/Little (Hg.) 1996). Unter dem traditionellen Tandemkonzept für fremdsprachliches Lernen wird „eine Form des offenen Lernens" verstanden, „bei der Personen mit verschiedenen Muttersprachen paarweise zusammenarbeiten, um mehr über die Person und die Kultur des Partners zu erfahren, um sich gegenseitig bei der Verbesserung ihrer Sprachkenntnisse zu helfen und oft auch, um darüber hinaus andere Kenntnisse — ζ. B. aus ihrem beruflichen Tätigkeitsbereich — auszutauschen" (Brammerts/Little (Hg.) 1996, 2). Dieses grundsätzliche Prinzip wird auch beim Tandem-Lernen über das Internet beibehalten. Die Besonderheit hierbei ist allerdings, dass die beiden Tandem-Partner über Email miteinander in Kontakt stehen. Brammerts nennt primär drei Unterschiede zu dem sogenannten Präsenztandem (Brammerts/ Little (Hg.) 1996, 7f.): 1. „Die Kommunikation zwischen den Tandempartnern ist vorwiegend schriftlich und asynchron(...)." 2. Obwohl die Tandempartner einander nicht sehen, entsteht dennoch häufig auch eine persönliche Verbindung zwischen den Partnern, die sie offen und frei über gegenseitige Fragen schreiben lässt. 3. Durch das Verbleiben in ihrer jeweilig vertrauten Lebens- und Arbeitsumgebung ist es den Partnern möglich, sich gegenseitig mit aktuellen Informationsmaterialien zu versorgen. Die Notwendigkeit des Lehrenden im Rahmen des E-mail Tandems, eine neue Rolle als Lernberater, ζ. B. die Vermittlung von Lernstrategien zu übernehmen, ist offensichtlich, da die Lehrenden im Bereich des schriftlichen Arbeitens durch die Tandempartner von vielen ihrer herkömmlichen Aufgaben entlastet werden (ζ. B. Korrekturen; Bereitstellung von Informationsmaterialien für landeskundliche Fragestellungen) (vgl. Brammerts/Little (Hg.) 1996, 9). Es gibt gegenwärtig Schulpartnerschaften und Universitätspartnerschaften, in denen diese Lernform erfolgreich durchgeführt wird (vgl. für Universitätsnetze Brammerts/Little (Hg.) 1996, 45ff.).

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Im Bereich Multimedia, also dem Bereich, in dem mit dem Computer als Steuerungsmedium Kombinationen mit Video, CD-Rom, Bildübertragungen möglich werden, liegt sicher die Zukunft der Medienentwicklung für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Die unterrichtsmethodischen Möglichkeiten für diese Medienkombination sind heute noch nicht abzusehen. Es steht zu hoffen, dass diese neue Entwicklung nicht Lernende und Lehrende aus ärmeren Regionen der Welt „draußen vor der Tür" des fremdsprachlichen Lernens und Lehrens lässt, da die Entwicklungsarbeit, die Lehrerfort- und Weiterbildung und die schließliche Ausstattung der Lehrinstitutionen mit den Geräten und Programmen mit sehr hohen Kosten verbunden sind. Hier schließt sich der Kreis. Die Darstellung in diesem Beitrag sollte die seit Jahrhunderten anhaltende Dynamik in der Medienentwicklung und deren unterrichtsmethodische Funktionen für den Bereich Deutsch als Fremdsprache aufzeigen. Durch die jahrhunderte ist nachzuweisen, dass spannende Entwicklungen durchgehend stattfanden, deren Verbreitung für alle Lernenden und Lehrenden aber immer auch die hohen Medienkosten im Wege standen. 5.

Literatur in Auswahl

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105. Lehrwerkproduktion, Lehrwerkanalyse, Lehrwerkkritik

1029

105. Lehrwerkproduktion, Lehrwerkanalyse, Lehrwerkkritik 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Zur Funktion von Lehrwerken im Unterricht Lehrwerkentwicklung Lehrwerkkritik und Lehrwerkanalyse Lehrwerkforschung Perspektiven Literatur in Auswahl

Zur Funktion von Lehrwerken im Unterricht

„Das Lehrwerk bestimmt wie kein anderer Faktor das, was im Fremdsprachenunterricht geschieht" (Neuner 1994, 8). Am Lehrwerk lassen sich die Lehrziele, die methodische Ausrichtung, der Lehrstoff, teilweise auch die vorgesehenen Sozialformen des Unterrichts ablesen. In dieser Funktion sind Lehrwerke an die Stelle des traditionellen Lehrbuchs getreten. Mit den verschiedensten Begriffen Lehr- und Lernmaterialien, Lehrbücher und Lehrwerke, Lern-, Arbeits- und Übungsbücher; üblich sind auch die Bezeichnungen Lehr- bzw. Lernmedien - wird all das bezeichnet, was dazu dient, Lernen anzuregen, zu stützen und zu steuern. Dabei kennzeichnet die Bezeichnung Lehrwerk in Abgrenzung zum Lehrbuch Materialien, die systematisch aufeinander bezogen sind und einen Medienverbund bilden, ζ. B. ein Kursbuch mit zugehörigem Arbeitsbuch für die Lernenden, Kassetten, Videos, Folien oder auch PC-Programmen und einem Lehrerhandbuch (vgl. Art. 104). Der Begriff Lehrwerk lässt sich von dem des Lehrmaterials insofern abgrenzen, als das Lehrwerk sowohl Vorgaben für die Lehr-/Lerninhalte (Texte) und deren Anordnung (Progression) als auch Vorgaben für den Lernprozess (Aufgaben, Lehr- und Lernhinweise ζ. B. im Lehrerhandbuch) macht. Dabei ist zu sehen, dass natürlich auch Lehr-/Lernmaterialien ohne solche Elemente schon dadurch, dass aus der Vielfalt authentischer Materialien ausgewählt und das Material in eine Reihenfolge gebracht wird, Einfluss auf den Ablauf des Lehr-Lernprozesses nehmen. Auch Lehrer, fremdsprachliche Assistenten, Lektoren usf. sind in diesem Sinne ,Lehr- und Lernmaterial', insofern ist grundsätzlich zwischen personalen und nichtpersonalen Lehrmedien zu unterscheiden. Soweit Lehrmaterialien für das Lernen ohne Lehrer gedacht sind, sprechen wir von Selbstlernmaterialien. Lehrmaterialien können als Ergänzung zum

Unterricht gedacht sein oder aber kurstragend, d. h. dass sie dem vorgesehenen Curriculum entsprechen bzw. sich der Unterricht an ihrer Progression orientiert. Auch kurstragendes Lehrmaterial wird jedoch vielfach von Lehrenden als „Steinbruch" benutzt (vgl. Rösler/Skiba 1987), um den eigenen Unterricht zu erweitern oder an die Bedürfnisse einer Lerngruppe anzupassen. Eine besonders problematische Unterscheidung, die in der Lehrwerkanalyse und Lehrwerkforschung immer wieder thematisiert wird, ist die von Lehr- und Lernmaterial: Die Begriffe Lehrmaterial, Lehrwerk machen deutlich, dass diese Materialien sich an Lehrende richten, die dann entscheiden, in welcher Form sie diese im Unterricht einsetzen. Ob mit solchem Material auch gelernt wird, ist eine andere Frage: „Die meisten Persönlichkeits· und interaktionsbezogenen Faktoren des Lernens verlaufen quer zur ökonomisch sinnvollen Lehrmaterialgestaltung; der Bezug auf die Lernenden ... ist durch konventionelles Material nur zu einem gewissen Teil zu leisten." (Rosier 21992, 266; vgl. auch Art. 106) Sieht man von gezielt für diesen Zweck entwickelten Selbstlernmaterialien ab (vgl. Nodari 1995, 205ff.; Wißner-Kurzawa 1985), so sind vorgefertigte Materialien für das Sprachenlernen zunächst einmal als Lehrmaterial zu verstehen. Rosier (21992) entwickelt zwar konkrete Modelle der Adaption von Lehrmaterial an Voraussetzungen und Bedürfnisse der Lernenden, bleibt aber skeptisch, wie weit dies mit vorgefertigten Lehrwerken gelingen kann, insbesondere solange die Lehreraus- und -fortbildung Lehrende nicht stärker zu einem souveränen Umgang mit Lehrmaterial qualifiziert (vgl. Rosier 214ff). Am ehesten lässt sich wohl bei elektronisch aufbereitetem Material (CDRom, im Internet angebotene Materialien und Kurse), bei dem Lernende ein Höchstmaß an Auswahl und Selbststeuerung haben, von echtem ,Lernmaterial' sprechen (vgl. Art. 104; 113). Im Hinblick auf die Rolle von Lehrwerken im Deutschunterricht werden im Folgenden vier zentrale Relationen herausgehoben: 1.1. Lehrwerk und Lehr-/Lernziele Lehrwerke orientieren sich in der Regel an vorhandenen Curricula oder Prüfungen, um damit ihre Verwendungschancen zu verbes-

1030 sern und eventuell vorhandene Zulassungshürden (etwa die staatliche Zulassung für die Verwendung im öffentlichen Bildungswesen) zu passieren. Sie bilden die Lehr- und Lernziele im Bereich der Texte und Themen, der Grammatik, eventuell auch anderer curricularer Zielsetzungen (ζ. B. der Vermittlung von Lernstrategien oder im Bereich des interkulturellen Lernens) ab und bringen den Lehrstoff in eine Reihenfolge, die eine systematische, zielgerichtete Progression erlaubt. Eine solche Bindung an Curricula betrifft insbesondere Lehrwerke im Schulbereich; sind keine Lehrpläne vorhanden, rücken Lehrwerke gelegentlich an ihre Stelle und stellen die curriculare Leitlinie für den Unterricht dar. Dies ist insbesondere im Deutschunterricht der Erwachsenenbildung anzutreffen, wo Curricula selten existieren, der Unterricht vielmehr prüfungsorientiert ist und Lehrwerke den Unterricht bis zum Erreichen des Prüfungsniveaus strukturieren helfen. Zahlreiche international eingesetzte Lehrwerke für den Deutschunterricht orientieren sich daher an den entsprechenden Prüfungen (vgl. Art. 84) und führen dies explizit an („In zwei Bänden zum Zertifikat..."). Lehrwerke dieser Art tun sich schwer mit einem stark von individuellen Lerninteressen geleiteten Unterricht, erlauben aber gerade wegen der klaren Zielprogrammierung durchaus eigenständiges Lernen. 1.2. Lehrwerke und Lehrinhalte Insbesondere außerhalb des deutschsprachigen Raumes stellen die in Lehrwerken enthaltenen Texte und Themen den zentralen Zugang zur fremden Sprache und Kultur dar und legen damit fest, in welchen Situationen, mit welchen Texten die deutsche Sprache im Unterricht erlernt und praktiziert werden kann. Mit der kommunikativen Methode hat sich für Lehrwerke die Forderung nach authentischen Texten und die Orientierung an Alltagssituationen durchgesetzt, so dass literarische Texte vielfach ganz aus den Lehrwerken verschwunden waren (vgl. Art. 97). Seit Beginn der 90er Jahre zeichnet sich hier jedoch eine Schwerpunktverlagerung ab: zum einen wird der Begriff der Authentizität relativiert, da ja jede Wiedergabe eines außerhalb des Unterrichts verwendeten Textes in einem Lehrwerk diesen aus seiner authentischen Rezeptionssituation entfernt. Zum andern haben literarische Texte insbesondere im Hinblick auf interkulturelle Lehr- und Lernziele und Lehrinhalte wieder an Gewicht gewonnen. Die zu starke Alltagsorientierung wird

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als ,banal' und ,langweilig' kritisiert (vgl. Weinrich 1981). Was die Landeskunde betrifft, so verträgt sich die Forderung nach Aktualität nicht mit dem klassischen Lehrbuch, das schnell veraltet. Hier erscheint das Internet als Alternative: die Vernetzung von Daten, die Verbindung von Text, Bild und Ton und die Aktualität sind Bereiche, in denen ein klassisches Lehrwerk, auch wenn es den Medienverbund mit Kassetten etc. nutzt, nicht mehr konkurrenzfähig ist (vgl. Art. 113). Allerdings sind keineswegs alle Probleme gelöst, die sich mit der Nutzung elektronischer Medien im Hinblick auf die Lehrinhalte ergeben; Lehrwerke machen Unterrichtsinhalte transparent und überprüfbar. Schulbehörden, die Lehrkräfte selbst und die Lernenden können überprüfen, ob die Inhalte den Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft (z. B. im Hinblick auf die Rolle von Frauen, auf die Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Realität der deutschsprachigen Länder u. ä.) entsprechen. Wie es mit Kritik und Reflexion, mit der bewussten Kommentierung und der Qualitätskontrolle des Lernangebotes im Internet bestellt ist, ist eine noch ungelöste Frage. Insbesondere nichtmuttersprachliche Lehrende, die außerhalb des Zielsprachengebietes unterrichten, stoßen hier an Grenzen der Gewährleistung, die bei Lehrwerken die Lehr-/Lernmaterialautoren, Verlage, aber auch Rezensenten übernommen haben. Im Bereich des Deutschen als Fremdsprache werden daher aufbereitete Medien (Zeitungen wie Authentik oder der Österreich-Spiegel oder die vom Goethe-Institut entwickelten CD-Roms) als eine Art Mittelweg zwischen authentischem Material und einer didaktisch verantworteten Auswahl angeboten. 1.3. Lehrwerke und die Lernenden Lehrwerke richten sich an die Lehrkräfte; Lernende erleben Lehrwerke in der Regel als eine Vorgabe, die dazu führt, eigene Interessen im Unterricht zugunsten einer Orientierung am Lehrwerk zurückzustellen (vgl. Quetz 1976). Immer wieder sind daher Versuche gemacht worden, Unterricht unter Verzicht auf Lehrwerke in stärkerem Maße an den Lernenden zu orientieren (vgl. BrandiAmar u.a. 1979). Der französische Reformpädagoge Célestin Freinet (1896-1966) hat insbesondere die Gleichschaltung' und die ,Indoktrination' der Lernenden durch Lehrbücher kritisiert und den Unterricht ohne Lehrbuch, durch Handeln und Kommunika-

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tion, durch ein produktives Umgehen mit Medien und Materialien (ζ. B. durch schuleigene Druckereien, in denen schülereigene Texte veröffentlicht' werden) zum Programm erhoben (vgl. Dietrich 1995, 26 ff.). Mit der Forderung nach Lern(er)autonomie ist dieser Gedanke in den 90er Jahren wieder aufgegriffen worden: die Übertragung unterrichtsrelevanter Entscheidungen an die Lernenden gerät in Konflikt mit der Steuerung des Unterrichts durch Lehrwerke. Die Lehrwerkentwicklung (vgl. Abschnitt 2) ist daher mit der Forderung nach Lernautonomie stärker ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gerückt.

Götze (1994) unterscheidet auf Grund der jeweiligen methodischen Ausrichtung fünf Lehrwerkgenerationen: a) Grammatikorientierte Lehrwerke in der Tradition der Grammatik-Übersetzungsmethode; als Prototyp wird auf die Deutsche Sprachlehre für Ausländer von Heinz Griesbach und Dora Schulz von 1955 verwiesen; b) Audio-linguale bzw. audio-visuelle Lehrwerke im Gefolge der audiolingualen Methode wie z. B. im von der Nuffield Foundation entwickelten Lehrwerk Vorwärts International (E. J. Arnold u. a. 1974); c) Kommunikative Lehrwerke im Anschluss an die pragmatische Wende' in der Fremdsprachendidaktik, wie sie z.B. das Lehrwerk Deutsch aktiv (Gerhard Neuner u.a. 1987ff.) repräsentiert; d) Interkulturell ausgerichtete Lehrwerke im Gefolge der Bemühungen, die Selbst- und Fremdwahrnehmung im Unterricht zum Thema zu machen und Kulturbegegnung zu ermöglichen. Die Lehrwerke Sprachbrücke (Gudula Mebus u.a. 1989f.) und Sichtwechsel (Martin Hog u.a. 1984) bzw.

1.4. Lehrwerke in Abhängigkeit von Lehrmethoden Lehrwerke spiegeln in der Regel den jeweiligen Stand der fremdsprachendidaktischen Diskussion und sind insoweit Manifestationen der im Erscheinungszeitraum herrschenden methodischen Vorstellungen von Deutschunterricht: „Lehrwerke versuchen, die Vorstellungen und Prinzipien von Lehrmethoden so zu präzisieren und konkretisieren, daß ein ganz bestimmtes Unterrichtskonzept entsteht." (Neuner/Hunfeld 1993, 16) In LEHRMETHODEN werden formuliert:

In LEHRWERKEN erkennt man Methoden besonders gut an:

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-

Texten Textauswahl Textgestaltung

-

Grammatik Auswahl und Abfolge Darstellung

-

Übungen Übungstypen Übungsphasen Übungssequenzen

-

Lehrziele W a s gelehrt werden soll \ (Lehrstoffe) \ Dabei werden berücksichtigt: - übergreifende gesellschaftliche \ und pädagogische Vorgaben \ - Befunde der Fachwissenschaften \ (Linguistik; Landeskunde; Literatur- und Textwissenschaft) \

Lehrverfahren / Unterrichtsprinzipien W i e gelehrt werden soll (Unterrichtsprinzipien) Entwickelt werden unter Berücksichtigung der Befunde der Lerntheorie Vorschläge zu: - Unterrichtsgliederung - Unterrichtsformen - Unterrichtsmedien - Unterrichtsorganisation /

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Lektionsaufbau Einführung Übung/Festigung Systematisierung Anwendung/Transfer Lernprogression Aufgliederung des Lernstoffes Verschränkung/Kombination der Lemziele

Abb. 105.1: Zusammenhang zwischen Lehrwerk und Lehrmethode (Neuner/ Hunfeld 1993, 17).

1032 Sichtwechsel Neu (Saskia Bachmann u.a. 1995f.) können als Repräsentanten dieser Lehrwerkgeneration betrachtet werden. e) Als fünfte Generation bezeichnet Götze Lehrwerke, die er der ,mentalistischen Wende' in der Methodik zurechnet, die also in stärkerem Maße kognitives Lernen ins Zentrum rücken. Er führt als Beispiele die Lehrwerke Die Suche (Volker Eismann u. a. 1993 f.) und Wege (Hans Jürg Tetzeli u.a. 1988) an. (vgl. Götze 1994, 29f.) Die Abgrenzung dieser fünften Lehrwerkgeneration ist allerdings strittig, da von einer ,kognitiven Wende' im Bereich der Methodik keineswegs durchgehend die Rede sein kann, eher vielleicht von einem Ende starrer Methodenkonzeptionen, was auch dazu führt, dass neuere Lehrwerke keinem einheitlichen methodischen Konzept mehr verpflichtet sind (vgl. die Diskussion in Bausch u.a. 1998). 2.

Lehr werkentwicklung

In der DDR galten Lehrwerke als wichtige Instrumente zur „Umsetzung von Grundpositionen der Erziehung und Bildung in die Praxis des Unterrichts." (vgl. Breitung u.a. 1982, 19). Am Herder-Institut spielte die Entwicklung von Lehrmaterial daher eine wichtige Rolle; seine Entwicklung war auch Gegenstand theoretischer Reflexion. In Westeuropa dagegen war und ist die Entwicklung von Lehrwerken nur selten Gegenstand wissenschaftlicher Überlegungen. Das mag darin begründet sein, dass in die Entwicklung von Lehrmaterial in hohem Maße kommerzielle Überlegungen einfließen, auch darin, „daß sich der kreative Prozeß der Ausarbeitung eines Planungsschemas einer systematischen Beschreibung entzieht." (Neuner 1994, 230) Insgesamt ist wohl zu bedenken, dass das Verhältnis der Fremdsprachendidaktik zur Unterrichtspraxis eher analytischer Natur ist, während Präskription, sowohl was die Unterrichtsplanung, als auch was die Lehrwerkentwicklung betrifft, als unwissenschaftlich angesehen wird: „Ein Unterrichtswerk ist eine Ware, die unter dem Druck von Auflagen, auch der (sie) einer Profitmaximierung, von nebenamtlichen Verfassern und professionellen Verlagslektoren und -kaufleuten im Rahmen bestimmter Umfangs- und Ausstattungsberechnungen für viele Auflagen geplant ist, das unter persönlichen Opfern der

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

Verfasser, sicher auch mit Engagement und gutem Willen, doch auch hastig und unter dem Zwang einer einmal gewählten typographischen und methodischen Konzeption hergestellt ist..." (Piepho 1976, 163). Allerdings werden immer wieder Forderungen nach stärker theoriegeleiteter Lehrwerkentwicklung erhoben (vgl. Tulodziecki 1983). Auf der Grundlage von Untersuchungen zur Textverständlichkeit und Textverarbeitung, insbesondere mit Hilfe des sog. Hamburger Verständlichkeitskonzepts (vgl. Langer u.a. 1981) ist versucht worden, Grundsätze für die Gestaltung von Lehrmaterial zu entwickeln (vgl. Poelchau 1980). Wißner-Kurzawa (1985) hat anhand der Konstruktion von grammatikalischen Texten für den Französischunterricht nachweisen können, dass die Verständlichkeit von Instruktionstexten unter Nutzung solcher Erkenntnisse optimiert werden kann. Vor allem im Kontext neuer Methoden und neuer Medien sind immer wieder Überlegungen zu den Konsequenzen für die Lehrwerkentwicklung formuliert worden (vgl. exemplarisch Bung 1970 für die Entwicklung von Sprachlaborprogrammen). Einen besonderen Impuls hat die Reflexion der Lehrwerkentwicklung im Rahmen von Überlegungen zur ,Regionalisierung' und dem , Methodentransfer' erhalten: Damit ist die Abkehr von dem Konzept universaler Lehrwerke zugunsten regionaler', auf die Bedürfnisse des jeweiligen Landes zugeschnittener Lehrwerke gemeint (vgl. Art. 106). Die Lernerorientierung und Konzepte des autonomen Lernens haben zu Überlegungen geführt, wie denn Lehrwerke gestaltet werden können, die den Lernenden zu mehr Selbstbestimmung beim Fremdsprachenlernen verhelfen. So finden sich in den Lehrwerken seit Ende der 80er Jahre explizite ,Lerntipps' und Lernstrategien, die helfen sollen, auch über das Lehrwerk hinaus lernend mit der Fremdsprache umzugehen: „Das Ziel der Lerntipps ist einerseits, das Lernen mit dem Lernmaterial zu optimieren, andererseits sollen Techniken trainiert werden, die das selbstgesteuerte Lernen außerhalb des Kurses fördern." (Lehrwerk Moment mal! Bd. 1; Wertenschlag u.a. 1997, 12) Nodari (1995) entwickelt im Hinblick auf autonomes Lernen grundlegende Prinzipien der Lehrwerkgestaltung: a) Lehrwerke müssen so konzipiert und gestaltet sein, dass die Erreichung allgemein-erzieherischer Lehrziele unterstützt wird.

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105. Lehrwerkproduktion, Lehrwerkanalyse, Lehrwerkkritik

b) Die Unterstüzung von allgemein-erzieherischen Lehrzielen ist um so mehr gewährleistet, je konsequenter im Lehrwerk Inhalte vorgegeben werden, die zu kommunikativem Handeln anregen und die kooperatives Zusammenarbeiten verlangen. c) Die Lehrwerkgestaltung kann allgemeinerzieherische Lehrziele unterstützen: 1. durch pädagogisch relevante Inhalte und 2. durch die Hinführung zu Unterrichtsformen, die kooperatives Zusammenarbeiten erfordern. d) Pädagogisch relevante Inhalte (insbesondere Texte, Bilder, Illustrationen, Diagramme) sind so zu gestalten, dass eine Auseinandersetzung und damit kommunikatives Handeln im Unterricht nahegelegt wird. e) Kooperative Haltung ist im Lehrwerk dadurch zu fördern, dass die Übertragung von Lehrfunktionen auf die Schüler nahegelegt wird. ... Zu diesem Zweck sind die Lehrinhalte von Anfang an so zu gestalten, dass Lehrer und Schüler stufenweise zum reziproken Lehren herangeführt werden (sie). Dieses methodologische Angebot darf aber nicht zwingend sein für den Einsatz des Lehrwerkes im Unterricht. Ob reziprokes Lehren im Unterricht wirklich praktiziert wird, ist Sache der Beteiligten. f) Selbständigkeit, Eigeninitiative und Eigenverantwortung sind im Lehrwerk dadurch zu fördern, dass mindestens ein Übungsbereich in Form einer (Übungs-) Werkstatt organisiert ist. Der Übungsapparat in der Werkstatt ist so zu gestalten, dass den Schülern ein Überangebot von Übungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt wird. Zudem muss die Werkstatt Hilfen für den selbständigen Umgang und für die Leistungskontrolle enthalten. g) Das Lehrwerk muss Lehrer und Schüler stufenweise zu projektorientiertem Unterricht hinführen. ... h) Für spezifische Themen, die eine facherübergreifende Behandlung nahelegen, sind dem Lehrer in erster Linie im Lehrerkommentar Informationen und Hilfen anzubieten, die die Organisation und die Durchführung eines Epochenunterrichts anregen bzw. erleichtern. i) Für soziale und sozial-psychologische Themen sowie für bestimmte landeskundliche Aspekte sind die Materialien wenn

immer möglich so anzulegen, dass Fallstudien nahegelegt und deren Vorbereitung und Durchführung erleichtert werden. ... j) Rollenspiele sind im Lehrwerk als Vorbereitungen auf Simulationen einzubauen. ... k) Lehrwerke unterstützen nur dann einen kohärenten themenorientierten Unterricht, wenn sie in Kapitel oder in Themeneinheiten (und nicht in „Lektionen") eingeteilt sind. (Nodari 1995, 181 f.). Auch bei diesen Grundsätzen wird deutlich, dass sich die Lehrwerkgestaltung nicht linear aus wissenschaftlichen Erkenntnissen (hier etwa der Kognitionswissenschaften) ableiten lässt, sondern in solche Grundsätze stets die bildungspolitischen Leitvorstellungen der jeweiligen Zeit einfließen. Dies wird auch im Zusammenhang mit der Lehrwerkanalyse deutlich — in den meisten Lehrwerkgutachten findet sich nicht nur eine Anhalyse bestehender Lehrwerke, vielmehr werden auf Grund der kritischen Analyse meist auch „Empfehlungen" formuliert. 3.

Lehrwerkkritik und Lehrwerkanalyse

3.1. Allgemeines Eine kritische Auseinandersetzung mit Lehrwerken findet in vielfältiger Form statt, seit es Lehrwerke gibt: Die Entscheidung eines Lehrenden oder einer Institution, ein bestimmtes Lehrwerk zu verwenden, beruht auf der Anwendung mehr oder weniger bewusster Beurteilungs- und Auswahlkriterien, häufig gibt auch der Lehrplan oder die Bildungsinstitution vor, welche Lehrwerke benutzt werden dürfen oder vorgeschrieben sind. Das gilt zum einen für Institutionen, die einer bestimmten Lehrmethode verpflichtet sind, für welche auch ein entsprechendes Lehrwerk entwickelt wurde (so war z.B. im Rahmen der audio-visuell, strukturell globalen Methode das Lehrwerk Méthode audio-visuelle

d'Allemand von Burgdorf u. a., 2 Bände, Paris 1962 vorgeschrieben). Vielfach haben auch Unterrichtsministerien Zulassungsverfahren für Lehrmaterialien eingeführt und überprüfen Lehrwerke auf die Einhaltung bestimmter Grundsätze. So werden Lehrwerke in Norwegen ζ. B. auf das Verhältnis zum Lehrplan, die sprachliche und fachliche Korrektheit, aber auch im Hinblick auf übergeordnete

1034 Ziele wie die Gleichstellung der Geschlechter hin überprüft (vgl. Lundin Keller 1985). Der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland ließ 1977 die Lehr- und Lernmittel für Deutsch als Fremdsprache (gemeint waren die für den Deutsch als Zweitsprache-Unterricht in Deutschland geeigneten Lehrmaterialien) überprüfen und gab dazu eine Empfehlung ab (vgl. Schulausschuß 1977). Jedes Lehrwerk, das in Österreich an öffentlichen Schulen verwendet werden soll, unterliegt einem Prüfungsverfahren durch eine vom Unterrichtsministerium berufene Kommission; die Zulassungskriterien (u.a. Übereinstimmung mit dem Lehrplan, Berücksichtigung der Selbsttätigkeit des Schülers, Berücksichtigung österreichischer Verhältnisse', Gleichbehandlung von Mann und Frau) sind durch eine im Bundesgesetzblatt veröffentlichte Ordnung festgelegt (vgl. Müller 1976). Rezensionen stellen gleichfalls eine Form der Lehrwerkkritik dar, insbesondere, wenn sie, wie ζ. B. im Unterrichtsmediendienst des Deutschen Volkshochschulverbandes, systematisch und nach veröffentlichten Kriterien erfolgen. Mit dem Versuch der Gründung eines „Arbeitskreises Lehrwerkforschung — Lehrwerkkritik" haben Heuer und Müller den Anstoß zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Lehrwerkkritik gegeben, die sich in der Bundesrepublik Deutschland zunächst im Hinblick auf Lehrwerke für den Englischunterricht entwickelt hat (vgl. Heuer/Müller 1973; 1975; Neuner 1979). Lehrwerkkritik, das wird bereits bei Heuer und Müller deutlich, zielt nicht nur auf die Auswahl geeigneter Lehrwerke, sondern versteht sich einerseits als Beitrag zur Weiterentwicklung der Fremdsprachendidaktik, andererseits als Beitrag zur Lehrwerkgestaltung: „Es ist den Mitgliedern des Arbeitskreises bewußt, daß die Grundlagen für die Lehrwerkkritik nicht sicherer sein können als die Grundlagen der Fremdsprachendidaktik überhaupt. Trotzdem halten sie es für verfehlt, Lehrwerkkritik bis zu einer etwaigen Klärung der fachdidaktischen Grundfragen anstehen zu lassen. Das Lehrwerk spielt eine so entscheidende Rolle in der Praxis, ... daß ohne ständige Reflexion auf die Lehrwerke auch die Theorie keine realistischen, mit der Praxis vermittelten Fortschritte machen kann. ... Es ist zu erwarten, daß nach einem längeren Zeitraum bewußter Lehrwerktheorie und -kritik die Unterrichtsmaterialien objektiv beurteilt werden können. Gleichzeitig ist zu wünschen, daß sie im Lichte überprüfbarer Begutachtung an Effizienz zunehmen." (Heuer/Müller 1993, 9).

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

з.2. Lehrwerkgutachten und Lehrwerkkritik Mit dem .Mannheimer Gutachten' sind diese Impulse für Lehrwerke im Bereich des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache fruchtbar gemacht worden. Entstanden ist das Mannheimer Gutachten auf Grund einer Anregung der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland: Eine interdisziplinär zusammengesetzte Kommission von Wissenschaftlern unter dem Vorsitz von Ulrich Engel vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim erarbeitete in dem Zeitraum 1974-1979 einen Kriterienkatalog zur Bewertung von Lehrwerken (vgl. Krumm и. a. 1975) und legte 1977 und 1979 eine umfassende Analyse der seinerzeit gängigen, in der Bundesrepublik publizierten Sprachlehrwerke für Deutsch als Fremdsprache vor (vgl. Engel u.a. 1977; 1979). Die Kriterien des Mannheimer Gutachtens bewerten die didaktischen Konzeptionen, die linguistischen Grundlagen wie ζ. B. den Ausschnitt der vermittelten Sprache, die Art der Grammatikvermittlung, Texte und Kontrastivität, und die Themenplanung, wozu die Frage der Literatur und der Landeskunde gerechnet wird (zu den Kriterien im einzelnen vgl. Bd. 2 des Mannheimer Gutachtens, Engel u.a. 1979, 9 ff.). Lehrwerkkritik versucht, vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse, unterrichtliche Erfahrungen und didaktische Zielvorstellungen in einer hermeneutischen Lehrwerkanalyse zu bündeln. Sowohl die Auswahl der zu Grunde gelegten Kriterien als auch deren Anwendung auf konkrete Materialien stellen, selbst wenn die Lehrwerkkritik als interdisziplinäre Teamarbeit angelegt ist, Formen einer subjektiven Interpretation dar: das Mannheimer Gutachten hat im Bereich des Deutschen als Fremdsprache entsprechende Kontroversen ausgelöst (vgl. die Diskussion in Zielsprache Deutsch 1978), trotz aller Einwände zugleich aber für das Fach eine Tradition der Lehrwerkkritik und -analyse begründet. Gegenüber der Behauptung, nur Erfahrung erlaube eine angemessene Beurteilung von Lehrwerken (vgl. die Kritik an einer „spekulativen Lehrwerkkritik" bei Heindrichs u. a. 1980, 149 ff.) steht hinter den Lehrwerkgutachten die Überlegung, dass Erfahrung auch blind machen könne für neue Ansätze und Möglichkeiten, dass es also erforderlich sei, Lehrwerke auch unabhängig von ihrer praktischen Erprobung auf die Übereinstimmung mit didaktischen und fach-

105. Lehrwerkproduktion, Lehrwerkanalyse, Lehrwerkkritik

liehen Konzepten zu überprüfen. Dabei geht es der Lehrwerkkritik nicht darum, einer bestimmten Methode zum Druchbruch zu verhelfen, sondern die einem Lehrwerk zu Grunde liegenden Prämissen im Hinblick auf Methode, Lernziele, Adressatenbezug, das Verständnis von Sprache und Lernen u. ä. transparent zu machen (vgl. Krumm 1985; 1994). Anhand von Lehrwerken für den Sachunterricht in der Schule haben Rauch u.a. (1997) deutlich machen können, dass eine „Schreibtischevaluation" von Lehrwerken zu durchaus vergleichbaren Ergebnissen kommen kann wie eine aufwendige Praxisevaluation. Die Weiterentwicklung der Lehrwerkkritik ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass die Analysekriterien präziser auf unterschiedliche Lerngruppen abgestimmt wurden. So entwickelte eine Arbeitsgruppe im Rahmen des Sprachverbandes Deutsch für ausländische Arbeitnehmer 1979 Kriterien, die eine Überprüfung von Lehrwerken im Hinblick auf ihre Eignung für den Unterricht mit Arbeitsmigranten zum Ziel haben und legte ein entsprechendes Lehrwerkgutachten vor (vgl. Barkowski u.a. 1980, 31986); der Sprachverband hat entsprechend den veränderten Zielgruppen und Rahmenbedingungen in regelmäßigen Abständen neue Kriterien und Lehrwerkanalysen vorgelegt. Stand 1980 noch die Gruppe der Arbeitsmigranten in ihrer „Bahnhofssituation" im Zentrum, so gilt für Lehrwerke der 90er Jahre die Frage, wie weit sie der mehrsprachigen Gesellschaft und der bikulturellen Identität der Zielgruppe gerecht werden (vgl. Sprachverband 1997). Für fachsprachliche Lehrwerke haben Beier/ Möhn 1982 und Buhlmann/Fearns 1987 Kriterien für eine Lehrwerkbeurteilung wie auch Anforderungen an Lehrwerke formuliert, allerdings keine entsprechenden Analysen vorgenommen. Als eine Vorstufe regionaler Lehrwerke ist die Entwicklung von Kriterien für eine Lehrwerkkritik anzusehen, die auf spezifische Lehr- und Lernbedingungen in einzelnen Ländern Bezug nehmen und in der Regel auch unter Einbeziehung von Experten und Praktikern dieser Länder entwickelt wurden: Beispiele hierfür sind der Stockholmer Kriterienkatalog (vgl. Krumm u. a. 1994), dem die Situation in den nordischen Ländern zu Grunde liegt, und der Brünner Kriterienkatalog, der in der tschechischen Republik erarbeitet wurde (vgl. Jenkins 1997). Auf den Stockholmer Kriterienkatalog beruft sich auch der ,Auswahlführer' von Schloßmacher

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(1998), der allerdings, was die Sorgfalt von Auswahl und Quellenangaben sowie die Transparenz von Bewertungsmaßstäben betrifft, hinter den erreichen Stand der Lehrwerkkritik zurückfallt. Der Versuch, Lehrwerke einer quantitativen Analyse zu unterziehen und damit eine Verbindung zwischen einer hermeneutischen und einer empirischen Lehrwerkanalyse zu schaffen, hat sich bislang als Sackgasse erwiesen. Die einzige umfangreichere Analyse, die Willeè (1976) zu Lehrwerken für den Deutschunterricht vorgelegt hat, erschöpft sich im Wesentlichen in Wortlisten, deren Systematisierung weder Aussagen über die Eignung von Lehrwerken noch über ihre Übereinstimmung mit didaktischen Grundsätzen oder Lernerbedürfnissen erbringt. Differenziertere Analysen, wie sie Knapp-Potthoff (1979) z.B. für die Untersuchung von Aufgaben in Lernmaterial (am Beispiel eines Englischlehrwerks) vorgelegt hat, sind im Bereich des Deutschen als Fremdsprache nicht durchgeführt worden. 3.3. Lehrwerkanalyse im Hinblick auf fachliche Einzelaspekte Neben der durch Lehrwerkgutachten repräsentierten Lehrwerkkritik, die auf eine Beurteilung von Lehrwerken im Ganzen zielt, stehen Analysen einzelner Aspekte von Lehrwerken (vgl. die Beiträge zu Einzelaspekten in Kast/Neuner 1994, 31 ff.). Zwei Aspekte seien exemplarisch angeführt: a) Landeskunde Eine besondere Rolle in der Lehrwerkanalyse spielt die Landeskunde, insbesondere das in Lehrwerken vermittelte Landesbild, d. h. die Frage, in welcher Form ein Lehrwerk die Realität des zielsprachlichen Raumes wiederspiegelt bzw. konstruiert (vgl. Wegner 1999, Kap. 1). In der Regel geschieht dies bei im deutschen Sprachraum entstandenen Lehrwerken aus der Innenperspektive oder, soweit Lehrwerke von Nichtdeutschsprachigen außerhalb des deutschen Sprachraums entwickelt werden, aus einer Außenperspektive. Kramsch (1987) betont demgegenüber die Notwendigkeit von Mehrperspektivität: „Second language texts would better serve foreign learners' need for an understanding of C2

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108. Wörterbücher

8.

Literatur in Auswahl

Baer, Dieter et al. (1985): Der große Duden: Wörterbuch und Leitfaden der deutschen Rechtschreibung. 18. Auflage. Leipzig. — (1990): Deutsches Wörterbuch mit einem Leitfaden der deutschen Rechtschreibung. Mannheim/ Leipzig. Baldegger, Markus et al. (1981): Kontaktschwelle Deutsch als Fremdsprache: Grundlagenpapier des Europarats. Berlin. Barz, Irmhild; Marianne Schröder (Hg.) (1996): Das Lernerwörterbuch DaF in der Diskussion. Heidelberg. Bensoussan, Martha (1983): Dictionaries and Tests of EFL Reading Comprehension In: English Language Teaching Journal 34/4, 341-345. Deutsche Rechtschreibung: Regeln und Wörterverzeichnis: Text der amtlichen Regelung (1966). Tübingen. Deutscher Volkshochschulverband und Goethe-Institut, (Hg.) (1991): Das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache. 4. Auflage. Bonn. Drosdowski, Günther et al. (1989): Deutsches Universalwörterbuch. 2. Auflage. Mannheim. - (1991): Duden: Rechtschreibung der deutschen Sprache. 20. Auflage. Mannheim (Der Duden in 10 Bänden, 1). Ebner, Jakob (1980): Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten. 2. Auflage. Mannheim (Duden Taschenbücher, 8). Fachschriftleitung des Bibl. Instituts (1942): Der große Duden: Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Normalschriftausgabe. Leipzig. 12. Auflage. Leipzig. Götz, Dieter; Günther Haensch; Hans Wellmann (1993): Langenscheidts Großwörterbuch DaF: Das neue einsprachige Wörterbuch für Deutschlernende. Berlin. Inzwischen mit mehreren Nachdrucken. Grimm, Jacob; Wilhelm Grimm (1854-1971): Deutsches Wörterbuch. 16 Bände in 32 Bänden. Leipzig. Hermann, Ursula et al. (1996): Die neue deutsche Rechtschreibung. Gütersloh. Hornby, Albert S. et al. (1986): Oxford Student's Dictionary for Hebrew Speakers. Hebrew ed. Joseph A. Reif. Tel Aviv. Keller, Howard H. (1973): German Root Lexicon. Miami. KJien, Horst (Hg.) (1947): Duden: Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. Leipzig. Zitiert nach der Lizenzausgabe für Österreich. Wien. 1952. Meyer, Kurt (1989): Duden: Wie sagt man in der Schweiz? Wörterbuch der schweizerischen Besonderheiten. Mannheim (Duden Taschenbücher, 22).

Müller, Wolfgang et al. (1985): Duden: Bedeutungswörterbuch. 2. Auflage. Mannheim. — (1993): Duden: Nëmecky vykladovy slovnik s ceskymi ekvivalenty. Prag. Neubauer, Fritz (1985): Auf der Spur des unbekannten Wesens': Der DaF-Wörterbuchbenutzer. In: Bielefelder Beiträge zur Sprachlehrforschung 14, 216-235. — (1997): Kompetenzbeispiele in LANGENSCHEIDTS GROSSWÖRTERBUCH DEUTSCH ALS FREMDSPRACHE. In: H. E. Wiegand (Hg.). Sauer, Wolfgang Werner (1988): Der „Duden": Geschichte und Aktualität eines „ Volkswörterbuchs". Stuttgart. Scholze-Stubenrecht; Matthias Wermke et al. (1996): Duden: Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21. Auflage. Mannheim. Seibicke, Wilfried (1972): Duden: Wie sagt man anderswo? Landschaftliche Unterschiede im deutschen Wortgebrauch. Mannheim (Duden Taschenbücher, 15). Solf, Kurt D.; Joachim Schmidt (1992): Bildwörterbuch: Die Gegenstände und ihre Benennung. Mannheim (Der Duden in 12 Bänden). Wahrig, Gerhard (1968): Deutsches Wörterbuch. Gütersloh. — (Hg.) (1978): dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache. München (dtv Nachschlagewerke 3136). Erschienen auch als Der kleine Wahrig: Wörterbuch der deutschen Sprache und Wahrig: ElementarWörterbuch der deutschen Sprache. — (1983): Gesammelte Schriften. Hg. von Eva Wahrig. Tübingen. — (Hg.) (1997): Wörterbuch der deutschen Sprache. Neu herausgegeben von Renate Wahrig-Burfeind. München. Weinrich, Harald (1976): Die Wahrheit der Wörterbücher. IIK Probleme der Lexikologie und Lexikographie: Jahrbuch 1975 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf. Wermke, Matthias; Werner Scholze-Stubenrecht et al. (1996): Deutsches Universalwörterbuch. Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibung. 3. Auflage. Mannheim. Wiegand, Herbert E. (Hg.) (1997): Perspektiven der pädagogischen Lexikographie des Deutschen: Untersuchungen anhand von Langenscheidts Großwörterbuch DaF. Tübingen (Lexicographica, Series maior). Wülfing, Ernst; Schmidt, Alfred E., Bearb. (1922): Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter. 9. Auflage. Leipzig. Fritz Neubauer, Bielefeld

(Deutschland)

1070

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

109. Grammatiken 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Grammatikverständnis Überblicksdarstellungen Linguistische Grammatiken Didaktische Grammatiken Pädagogische Grammatiken/ Übungsgrammatiken Literatur in Ausblick

1.

Grammatikverständnis

Grammatiken spielen im fremdsprachlichen Deutschunterricht seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle. Selbst zur Zeit der direkten Methoden (vgl. Art. 86) war Grammatik nicht aus Lehrwerken und Unterricht verbannt; eine starke Akzentuierung erfuhr die Grammatik zu Zeiten der grammatikalisierenden Übersetzungsmethoden, der pragmatischen Wende des Sprachunterrichts sowie der kognitiven Methoden (vgl. Art. 86). Es ging bei allen Diskussionen, von Ausnahmen abgesehen, nie um das Ob oder Nicht, vielmehr um das Was und das Wie: um Umfang und Art der Darstellung also. Heibig (1981) definiert den Bedeutungsbereich von Grammatik und unterscheidet eine Grammatik A, eine Grammatik Β sowie eine Grammatik C. Grammatik A sei zu verstehen als „das dem Objekt Sprache selbst innewohnende Regelsystem, unabhängig von dessen Erkenntnis und Beschreibung durch die Linguistik" (Heibig 1981, 49), die Grammatik Β hingegen sei „die wissenschaftlich-linguistische Beschreibung des der Sprache innewohnenden Regelsystems, die Abbildung der Grammatik A durch die Linguistik" (Heibig 1981, 49), während die Grammatik C „das dem Sprecher und Hörer interne Regelsystem (sei), das sich im Kopf des Lernenden beim Spracherwerb herausbildet, auf Grund dessen dieser die betreffende Sprache beherrscht, d.h. korrekte Sätze und Texte bilden, verstehen und in der Kommunikation verwenden kann" (Heibig 1981, 49). Innerhalb der Grammatik Β nun differenziert Heibig wie folgt: — Zunächst wird zwischen einer Grammatik für den Fremdsprachenunterricht und einer für den Muttersprachenunterricht unterschieden. — Weiterhin differenziert Heibig zwischen einer linguistischen Grammatik Bi und einer didaktischen Grammatik B2. Die linguistische Grammatik Bj wird als die „möglichst

vollständige und explizite Abbildung der Grammatik A durch den Linguisten" (Heibig 1981, 56) beschrieben; sie folge systeminternen linguistischen Gesichtspunkten. Die didaktische Grammatik B2 hingegen sei „eine didaktisch-methodische Umformung und Adaption der Grammatik B," sowie „eine Auswahl aus der Grammatik Bl5 wie sie in den direkten Lehrmaterialien enthalten ist" (Heibig 1981, 57). Sie sei durch außerlinguistische Faktoren bestimmt, insbesondere durch solche lernpsychologischer und spracherwerbstheoretischer Natur. Weiterhin trennt Heibig von der didaktischen Grammatik eine pädagogische Grammatik, und zwar eine für den Lernenden (direktes Lehrmaterial) sowie eine andere für Lehrzwecke, getrennt nach den potentiellen Benutzern, nämlich Lehrer und/oder Lehrbuchautor (Heibig 1981, 61). Die Praxis beweist freilich, dass diese subtile Differenzierung nicht in jedem Einzelfall möglich ist, sondern es häufig zu Grenzüberschreitungen kommt. Insgesamt aber wird durch diese Unterscheidung das übliche Schema — linguistische Grammatik, linguistischnormative Grammatik, didaktische Grammatik und pädagogische Grammatik - verfeinert und präzisiert. Traditionell werden unter Grammatik (gr.: grammatike techne: Lehre von den Buchstaben, im weiteren Sinne Lehre von der Schrift, heute: Lehre vom Bau und von den Regeln einer Sprache) Phonetik!Phonologie, Morphologie und Syntax gefasst, also Lautlehre, Formenlehre und Satzlehre. In der neueren Zeit wird auch die Ebene oberhalb des Satzes, die Textebene, zur Grammatik gerechnet. Damit werden Bereiche einbezogen, die früher der Statistik oder der Rhetorik zugeschlagen wurden. Zu unterscheiden sind daher — Wortartengrammatiken ") im Regelfall in — Satzgrammatiken [• einer GramJ matik vereinigt - Textgrammatiken - Pädagogische Grammatiken/Übungsgrammatiken Unsere Darstellung unterscheidet Materialien für Linguistische Grammatiken Didaktische Grammatiken und Pädagogische Grammatiken/Übungsgrammatiken

109. Grammatiken Weiterhin wird unterschieden zwischen Produktionsgrammatiken sowie Rezeptionsgrammatiken. Produktionsgrammatiken sind solche, die die Produktion/Bildung von Lauten, Wörtern, Sätzen und Texten beschreiben, Rezeptionsgrammatiken/rezeptive Grammatiken hingegen jene, die die Rezeption/das Verstehen sprachlicher Elemente darstellen und erklären. 2.

Überblicksdarstellungen

Nicht zufallig sind zu Beginn der 90er Jahre drei Überblicksdarstellungen zu den Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache und deren Benutzbarkeit im fremdsprachlichen Deutschunterricht erschienen, zeichnete sich doch das vorausgehende Jahrzehnt durch eine intensive Beschäftigung mit den Problemen der Grammatik im Unterricht einerseits sowie durch eine beträchtliche Zahl neuer Grammatiken aus. 1990 legte Engel eine Übersicht über Grammatiken eines Jahrzehnts (Engel 1990) vor, 1993 gab Götze das Heft Lebendiges Grammatiklernen (Götze 1993) heraus und schließlich publizierten Agel und Brdar-Szabó unter dem Titel Grammatik und deutsche Grammatiken die Referate und Diskussionen der Budapester Grammatiktagung 1993, bei der auf Einladung der Loränd-Eötvös-Universität Budapest namhafte deutsche und ungarische Linguisten und Verfasser von Grammatiken über Fragen der Grammatik(en) und Grammatiktypen, also deskriptive (beschreibende) und präskriptive (normierende) Grammatiken, sowie die Didaktisierbarkeit theoretischer Grammatiken diskutierten. Parallel zu diesen Material- und Problembeschreibungen deutscher Grammatiken erschienen zahlreiche didaktisch orientierte Darstellungen der Rolle der Grammatik im Unterricht Deutsch als Fremdsprache, von denen besonders zwei erwähnt werden sollen, da sie, zusammen mit den zuerst genannten drei Titeln, den Lehrenden im In- und Ausland Informationen und Antworten auf ihre Fragen geben. 1991 publizierten Funk und Koenig im Rahmen des Fernstudienangebotes zur Fort- und Weiterbildung im Bereich Germanistik und Deutsch als Fremdsprache das Heft Grammatik lehren und lernen (Funk/ Koenig 1991) mit zahlreichen Hinweisen zu Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache sowie Vermittlungsstrategien im Un-

1071 terricht; zwei Jahre später dokumentierten Harden und Marsh unter dem Titel Wieviel Grammatik braucht der Mensch? die Ergebnisse eines gleichnamigen Symposiums am University College Dublin. Eine Vielzahl von Beiträgen zu grammatischen Einzelproblemen in Zeitschriften und elektronischen Medien (vgl. Art. 112, 113) während der letzten zwei Jahrzehnte belegt daneben auf eindrucksvolle Weise, wie lebendig die Diskussion um die Rolle der Grammatik im Unterricht ist. Diese Entwicklung wird auch deutlich durch die beträchtliche Zahl neuer Grammatiken der deutschen Gegenwartssprache. 3.

Linguistische Grammatiken

Unter den linguistischen Grammatiken (vgl. Art. 2, 15) sind für das Deutsche als Fremdsprache von besonderem Interesse: Günther Drosdowski u. a.: Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. Grammatik. Band 4. 1994, Peter Eisenberg: Grundriß der deutschen Grammatik 1994, Ulrich Engel: Deutsche Grammatik 1993, Lutz Götze/Ernest W. B. Hess-Lüttich: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache 1999, Gerhard Helbig/Joachim Buscha: Deutsche Grammatik 1993, Elke Hentschel/Harald Weydt: Handbuch der deutschen Grammatik 1990, Harald Weinrich u.a.: Textgrammatik der deutschen Sprache 1993, Gisela Zifonun u.a.: Grammatik der deutschen Sprache 1997. Die DUDEN-Grammatik in ihrer Auflage von 1994 (Drosdowski 1994) ist eine Produktionsgrammatik in den Bereichen Laut, Wort und Satz mit Ausblicken auf die Textebene. Sie ist zugleich eine Referenzgrammatik. Die Grammatik fußt auf einem traditionellen Ansatz, ist aber vor allem in den Bereichen Syntax und Wortbildung neu gestaltet. Neuere Grammatiktheorien wie die dependenzielle Verbgrammatik (Valenzgrammatik) sind in die Beschreibung integriert worden. Die Grammatik bietet in zahlreichen Fällen Erklärungen; der Zugang ist jedoch für den Benutzer häufig schwierig. Die Grammatik verbindet beschreibende und normative Teile; sie orientiert sich an der geschriebenen Sprache, wozu häufig Originaltexte, zumal der schönen Literatur, herangezogen werden.

1072 Peter Eisenberg: Grundriss der deutschen Grammatik. Stuttgart/Weimar 1994. Eisenbergs Grammatik ist konzipiert für Studierende (und Lehrende) der Germanistik/ Germanistischen Linguistik und für Muttersprachler wie für Fremdsprachler auf fortgeschrittenem Niveau geeignet. Der Autor bezeichnet seinen Grundriss als „strikt funktional" (Eisenberg 1990) und konzentriert sich auf „Formen- und Satzlehre, also die Syntax einschließlich der Flexionsmorphologie. Semantik und linguistische Pragmatik werden thematisiert und eingeführt." (Eisenberg in Engel 1990, 149) Die Grammatik ist als Lesetext auf argumentativer Grundlage konzipiert; beigegeben sind mehr als 200 Aufgaben mit Lösungen als didaktische Hilfe für die Studierenden. Die Grammatik ist funktional orientiert und stellt keine umfassende Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache dar. Sie argumentiert und fixiert daher keine Normen. Besonders ausführlich behandelt sind die Kapitel Yerbvalenz, die Ergänzungsund Adverbialsätze sowie die Infinitivkonstruktionen. Die Grammatik ist für Übungen in Seminaren der Fortgeschrittenenstufe geeignet. Ulrich Engel: Deutsche Grammatik. 2. Aufl. Heidelberg 1993. Die Grammatik ist für einen breiten Adressatenkreis konzipiert: Schüler, Studierende, Lehrer, Lehrbuchautoren und allgemein an der Sprache Interessierte. Das Buch ist eine Referenzgrammatik. Beschrieben werden die Standardsprache und deren Varianten, insbesondere die Alltagssprache. Im Zentrum der Grammatik stehen die Teile Satz, Verb, nominaler Bereich, Partikeln und ebenenübergreifende Phänomene (Engel 1993, 157). Der Syntaxteil basiert auf der Verbvalenzdarstellung des Autors. Die Grammatik strebt Vollständigkeit an und bezieht daher auch textlinguistische Überlegungen und Darstellungen ein. Weitere Kriterien sind die Angemessenheit sowie Verständlichkeit der Beschreibung der Gegenwartssprache. Obendrein wird die didaktische Qualität der Grammatik vom Verfasser gelobt. Lutz Götze/Ernest W. B. Hess-Lüttich: Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Sprachsystem und Sprachgebrauch. München 1999. Die Grammatik ist für Muttersprachler wie Fremdsprachler geschrieben und besteht aus den drei Teilen Wort, Satz und Text. - Konsequent wird zwischen Normen der geschrie-

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

benen und gesprochenen Standardsprache unterschieden; daneben erhalten die Benutzer Sprachempfehlungen, etwa beim Gebrauch des Konjunktivs. Im Vordergrund steht ein funktionaler Ansatz. Ein knappes Drittel der Grammatik ist der Beschreibung textueller Phänomene gewidmet; damit rücken Textsorten, Fachsprachen, die Sprache der Medien und Sprachvarianten unterschiedlicher Natur in den Blickpunkt. Gerhard Helbig/Joachim Buscha: Deutsche Grammatik - Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. München 151993. Das Handbuch ist das Standardwerk zur Grammatik im Deutschen als Fremdsprache seit über 20 Jahren. Die Autoren verweisen darauf, dass die Deutsche Grammatik keine didaktische Grammatik in dem Sinne sei, „dass sie als unmittelbares Lehrmaterial (didaktisch-methodisch aufbereitet) dem Unterricht zugrunde gelegt und dem Schüler präsentiert werden sollte" (Helbig/Buscha 1990, 196). Es handelt sich vielmehr um ein unterrichts-/kursunabhängiges Handbuch in Form einer Referenzgrammatik, geschrieben „als linguistische Grammatik für den Fremdsprachenunterricht (nicht etwa für den Muttersprachunterricht oder die Maschinenübersetzung)" (Helbig/Buscha 1990, 197). Die Grammatik ist eine Resultatsgrammatik, beschreibt also keine Problemlösungsstrategien, sondern normiert; sie ist auch keine kommunikative oder kontrastive Grammatik, sondern analysiert Wortarten, Wortbildung, Satzlehre und Satzgliedstellung des Deutschen in exemplarischer Genauigkeit. Dies erklärt auch ihre weite Verbreitung. Im Syntaxteil wird auf der Basis der Valenztheorie Helbigs argumentiert, die Grenze zum Lexikon wird an mehreren Stellen im Handbuch bewusst überschritten; dadurch gibt es für den Ausländer wie Muttersprachler wichtige Erklärungen und Lösungsvorschläge. Zu dieser Grammatik für den Lehrenden gibt es einen „Leitfaden der deutschen Grammatik" sowie eine „Übungsgrammatik Deutsch" für den Lernenden. Elke Hentschel/Harald Weydt: Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin 1990. Das ,Handbuch' bietet Mutter- und fortgeschrittenen Fremdsprachlern einen schnellen Zugang zu grammatischen Zweifelsfragen und behandelt an zahlreichen Stellen Probleme des Deutschen als Fremdsprache. Neue Wege geht das Werk bei der, auch von didaktischen Überlegungen bestimmten, neuarti-

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109. Grammatiken

gen Klassifizierung der Wortarten. Eine besondere Stärke ist die genaue und detaillierte Darstellung von Form und Funktion der Modalpartikeln in der gesprochenen Sprache. Hier und in weiteren Passagen findet zumal der Muttersprachler eine Fülle von Erklärungen und Hinweisen für seinen Unterricht. Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache. Unter Mitarbeit von Eva Breindl, Maria Thurmair, Eva-Maria Willkop. Mannheim 1993. Die Grammatik ist für Muttersprachler wie Nichtmuttersprachler geschrieben; ihre Beschreibung konzentriert sich auf die Grundeinheit Text. Der Sprachgebrauch in Texten soll dargestellt werden. Ausgehend von authentischen Beispieltexten werden Verwendungsweisen in mündlichen und schriftlichen Texten dargestellt. Die Grammatik ist deskriptiv und somit nicht normativ. Wesentliche Aspekte der Textgrammatik sind die Thema-Rhema-Perspektive, das Verb und seine Handlungsrollen Subjekt, Objekt und Partner („Dativ-Objekt"), verschiedene Funktionen sprachlicher Mittel im Text (Anaphora und Kataphora, Pronominalisierung und Artikelfunktionen) sowie schließlich die Junktionen und deren sprachliche Ausgestaltung, insbesondere Konjunktionen, Präpositionen, Relativ- und Vergleichselemente. Daneben wird die Klammerbildung (Verb-Klammer, Nominalklammer usw.) als wesentliches Element der Textbildung behandelt. Die Grammatik besticht durch Genauigkeit im Detail und häufig neue Sichtweisen; erschwert wird das Verstehen freilich durch manche Schwierigkeiten in der Terminologie. Gisela Zifonun/Ludger Hoffmann/Bruno Strecker et al.: Grammatik der deutschen Sprache. Berlin/New York 1997. Die auf drei Bände mit 2570 Seiten angelegte Grammatik einer Gruppe von Mitarbeitern des Mannheimer Instituts für deutsche Sprache ist eine wissenschaftliche Grammatik, d.h., neuere Forschungsergebnisse der Textlinguistik, linguistischen Pragmatik, Dialogforschung und der Beziehung zwischen Form und Funktion wurden eingearbeitet. Wesentlich für die Grammatik ist die „Mehrperspektivik", also das Wändern zwischen Form und Funktion sprachlicher Mittel: „Ein funktionaler Ansatz erklärt die Differenzierung der Formen durch ihre Rolle im Handeln und im Aufbau von Wissen. Eine alternative Möglichkeit besteht darin, von kommunikativen

Funktionen auszugehen und zu zeigen, in welchen sprachlichen Formen sie realisiert werden. Ein Zugang über die kommunikative Funktion oder den sprachlichen Formaufbau sind keine sich ausschließenden, sondern komplementäre Verfahren. Der Blick wandert zwischen Form und Funktion." (Hoffmann, 1998, 39) Die Grammatik liefert detaillierte und häufig neuartig-überraschende Beschreibungen der Analyse von Gesprächen mit der Grammatik des Sprecherwechsels, den Illokutionen und Redeabbrüchen, weiterhin Beschreibungen des deiktischen Feldes sowie Satzglied- und Wortstellung, Infinitivkonstruktionen und Satzkoordinationen. Die Grammatik ist kein Nachschlagewerk oder Handbuch im bekannten Sinne: Wer sich schnell über ein Problem (halbwegs) genau informieren will, sollte andere Informationsquellen heranziehen. Die Mannheimer Grammatik, die nach Meinung der Autoren auch und gerade für die Lehrenden und Lehrbuchautoren des fremdsprachlichen Deutschunterrichts konzipiert wurde, setzt solides Grammatikwissen voraus und verlangt intensives Lesen, legt das Mitlesen empfohlener Querverbindungen und Reflexionen nahe, also insgesamt Tätigkeiten, die im Zeitalter der Postmoderne immer mehr verkümmern. Darin liegt der Vorteil der Grammatik, möglicherweise aber auch ihre Grenze. 4.

Didaktische Grammatiken

Didaktische Grammatiken sind vor allem durch ihre Auswahl der Gegenstände aus einer umfassenden linguistischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache charakterisiert: Sie wählen aus der Gesamtheit der Standardsprache in ihren geschriebenen und gesprochenen Varianten jene Elemente aus, die hochfrequent, für die Kommunikation wichtig sowie für die Lernenden schwierig sind (vgl. dazu Art. 15). Im Sinne der Kriterien für eine didaktische Grammatik (Art. 15) des Deutschen als Fremdsprache gehören die folgenden Grammatiken zu diesem Typ: Hans Barkowski: Kommunikative Grammatik und Deutschlernen mit ausländischen Arbeitern. 1982. Joachim Buscha u. 1.: Grammatik in Feldern. 1998. Ulrich Engel/Rozemaria K. Tertel: Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache. 1993.

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XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

Christian Fandrych/Ulrike Tallowitz: Klipp und Klar. Übungsgrammatik Grundstufe Deutsch. 2000. Ulrich Häussermann/Jürgen Kars: Grundgrammatik Deutsch. 1992. Hans-Jürgen Heringer: Wege zum verstehenden Lesen. 1987. Hans-Jürgen Heringer: Lesen lehren lernen. 1988. Heinz Griesbach: Neue deutsche Grammatik. 1986. Bernd Latour: Mittelstufen-Grammatik. 1988. Lorenz Nieder: Lernergrammatik. 1987. Wolfgang Rug/Andreas Tomaszewski: Grammatik mit Sinn und Verstand. 1993. François Schanen/Jean-Paul Confais: Grammaire de l'allemand. 1986. Didaktische Grammatiken sind, ihrer Natur entsprechend, sehr unterschiedlich konzipiert. Im Einzelnen werden unterschieden — Grammatiken für den Muttersprach- oder für den Fremdsprachenunterricht — Resultats- oder Problem-/Prozessgrammatiken — Produktions- oder Rezeptions-/Verstehensgrammatiken — Lehrer- oder Lernergrammatiken. Bei der Vorstellung der einzelnen Grammatiken wird diese Differenzierung übernommen. Hans Barkowski: Kommunikative Grammatik und Deutschunterricht mit ausländischen Arbeitnehmern. Königstein/Ts. 1982. Die Grammatik ist aus den Erfahrungen und Erfordernissen des Deutschunterrichts für ausländische Arbeiter und Familienangehörige entstanden, insbesondere der Erfahrung, dass die meisten Grammatiken wie auch Lehrwerke auf die Sprachnot und die sprachlichen Bedürfnisse der Migranten keine oder nur unzulängliche Antworten zu geben hatten. Problembewusstsein und sprachlich-soziale Wünsche der Lernenden einerseits und Texte und Erklärungsstrategien der Lehrwerke andererseits standen sich häufig diametral gegenüber. Der Autor entwickelt, teilweise orientiert an der Kategorienlehre des Aristoteles, den „reinen Verstandesbegriffen" Hegels sowie marxistisch-leninistischen Kategorien, Mitteilungsbereiche wie Existenz, Identität, Maßangaben, Lokalangaben, Zeiträume, Fortbewegung, Sprachhandeln, Konditional-Beziehungen, Qualitätsangaben u. a. und ordnet ihnen sprachliche Realisierungen zu: von der Funk-

tion zur Form sprachlicher Mittel. Hier wurde zum ersten Mal konsequent der Gedanke einer Kommunikativ-Funktionalen Grammatik der deutschen Gegenwartssprache in die Tat umgesetzt. Materialien wie „Grammatik mit Sinn und Verstand" (Rug/ Tomaszewski 1993) haben diesen Gedanken weiter entwickelt. Das Problem der Grammatik von Barkowski freilich ist die offene Liste der Mitteilungsbereiche, die Vollständigkeit nicht zulässt, sowie eine völlig neuartige und bislang nicht entwickelte Didaktik des kommunikativ-funktionalen Unterrichts. Zumal Lehrende, die nicht Muttersprachler sind, werden daher mit dieser Grammatik Schwierigkeiten haben. Joachim Buscha/Renate Freudenberg-Findeisen/Eike Forstreuter/Hermann Koch/Lutz Kuntzsch: Grammatik in Feldern. Ein Lehr- und Übungsbuch für Fortgeschrittene. Ismaning 1998. Das Lehr- und Übungsbuch für Fortgeschrittene stellt eine Inhaltsgrammatik dar, die nicht von grammatischen Kategorien und Formen, „sondern von Inhaltsbereichen wie Person, Grund — Folge, Aufforderung, Vermutung usw. als Grundkategorien ausgeht. Diese Inhaltsbereiche werden als Felder beschrieben, die nach ihrer kommunikativ-semantischen Funktion im Sprachgebrauch abgegrenzt und gegliedert sind und denen in systematischer, aber mehrfach vermittelter Weise die grammatischen, lexikalischen und wortbildenden Formen als Sprachmittel entsprechen" (Buscha u. a. 1998, 3). Diese kommunikativ-funktionale Grammatik wendet sich an Deutschlernende der Mittel- und Oberstufe und will vor allem ein differenziertes Ausdrucksvermögen im Schriftlichen und Mündlichen schulen und erweitern. Sie ist kein Lehrbuch, sondern ein kursbegleitendes Handbuch, das sich auch für das Selbststudium eignet. Es verschafft eine Vielzahl interessanter Einblicke in das Sprachsystem und, darüber hinaus, in das Zusammenwirken sprachlicher und nichtsprachlicher Elemente im Dialog: beim Äußern von Wünschen, Formulieren von Widersprüchen und Vergleichen, bei Warnungen, Aufforderungen und Vermutungen. Ulrich Engel/Rozemaria K. Tertel: Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache. Die Regeln der deutschen Gebrauchssprache in 30 gemeinverständlichen Kapiteln. Mit Texten und Aufgaben. München 1993. Die Grammatik baut auf einer 1986 erschienenen kommunikativen Grammatik von Engel/

109. Grammatiken

Hayakawa (Engel/Rytel-Kuc 1995,27) auf und ordnet Verhaltensarten/Seinskategorien wie Sosein, Woseirt, Erzeugen/ Vernichten, Modifikation u. a. Ergänzungsklassen zu, die in Engels Grammatik beschrieben sind. Unschärfen, Überschneidungen und gelegentlich unverständliche Zuweisungen bzw. sprachliche Realisierungen dieser Yerhaltensarten sind dabei nahezu unumgänglich, da zwischen Verhaltensarten und Ergänzungsklassen keine 1:1-Entsprechung besteht. Ein äußerst knapper Leitfaden versucht, Leser mit traditionellen Grammatikvorstellungen an kommunikative Konzepte heranzuführen. Die Benutzung der Grammatik setzt fundiertes Wissen voraus. Ulrich Häussermann/Jürgen Kars: Grundgrammatik Deutsch. 4. Aufl. Frankfurt a. M./Aarau 1992. Die Grammatik orientiert sich am Sprachlehrwerk Grundkurs Deutsch der Autoren, ist aber auch für Lernende, die mit anderen Lehrwerken arbeiten, von Nutzen. Sie ist, mit zahlreichen visuellen Hilfen (Signalgrammatik), übersichtlich gestaltet, für Anfanger wie Fortgeschrittene unter den Erwachsenen geeignet und setzt grammatische Grundkenntnisse in der Erstsprache voraus. Ziel ist eine Grammatik für einen kommunikativen Unterricht·, entsprechend werden Redemittel, Dialogpartikeln, Adverbien und modale Ausdrucksmöglichkeiten eingehend behandelt. Gelegentlich fragwürdige Erklärungen (das Präteritum von ich möchte heißt hier: ich wollte) werden mit kommunikativen Erfordernissen erklärt. Der Syntax-Teil fußt auf der Verbvalenzlehre. Hervorzuheben sind die Passagen zu stilistischen Aspekten der Grammatik, um auf diese Weise eine Sprachkultur zu entwickeln. Zur Grammatik ist ein Aufgabenhandbuch von Häussermann/Piepho (1996) erschienen. Hans Jürgen Heringer: Wege zum verstehenden Lesen. Lesegrammatik für Deutsch als Fremdsprache. München 1987. Lesen lehren lernen. Eine rezeptive Grammatik des Deutschen. Tübingen 1988. Beide Grammatiken sind rezeptive Grammatiken, also solche, die das Verstehen von Sprache fördern sollen: „Eine rezeptive Grammatik ... versteht sich als Teilbeschreibung aller Verstehensfahigkeiten, und sie spezialisiert sich praktisch erst einmal auf das Leseverstehen" (Heringer in Engel 1990,215). Damit wird der neben der Produktion von Worten,

1075 Sätzen und Texten andere Teil der menschlichen Kommunikation zum Gegenstand einer grammatischen Beschreibung: die Rezeption von Sprache. Sprachliches Verstehen umfasst das Identifizieren von Wörtern, Erkennen der Struktur und Satzbedeutung sowie Erschließen und Verstehen des Sinns der Äußerung. Beide Grammatiken sind für den deutschlernenden Ausländer konzipiert und helfen bei der Entschlüsselung schwieriger Teile des Textes wie komplexer Nominalphrasen, Satzklammern, Satzgliedstellung, Kompositabildung, komplexer Attribute und Nebensätze. Diese Fertigkeiten sind vor allem für das Verstehen von wissenschaftlichen und technischen Fachtexten wichtig. Graphische Erläuterungen erleichtern den Umgang mit den Grammatiken. Heinz Griesbach: Neue deutsche Grammatik. Berlin/München 1986. Der Autor hat, aufbauend auf seiner seit Jahren im Deutschen als Fremdsprache benutzten Grammatik, eine Neuauflage vorgelegt, die kommunikativen Erfordernissen gerecht werden soll. Geblieben ist das an der lateinischen Grammatik orientierte traditionelle Beschreibungsmodell, erweitert um „Stellplatzangaben", die Auskunft über syntaktische und semantische Strukturen geben sollen. Die Verwendung im Unterricht dürfte angesichts der komplizierten Beschreibung schwierig sein. Zur Grammatik gibt es ein Text- und Übungsbuch (München 1983) sowie eine Kurzfassung der grammatischen Regeln (München 1981). Bernd Latour: Mittelstufen-Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning 1988. Die Grammatik ist als Referenzgrammatik für das im gleichen Verlag erschienene Lehrwerk Wege konzipiert, kann jedoch nach Auskunft des Verfassers „problemlos auch von Lernenden benutzt werden, die mit Wege nicht gearbeitet haben" (Latour in Engel 1990, 225). Voraussetzung für die Benutzung der Grammatik sind erweiterte Deutschkenntnisse; entsprechend behandelt die Grammatik zahlreiche sprachliche Zweifelsfälle und gibt Ratschläge für den Sprachgebrauch, wenn unterschiedliche Varianten vorliegen. Gegliedert ist die Grammatik in einen Wortartenteil, einen Syntax-Teil mit besonderer Betonung der zusammengesetzten Sätze sowie einen Teil, der die Wortbildung des Deut-

1076 sehen relativ ausführlich darstellt. Besondere Beachtung wird der Valenz der Verben, Substantive und Adjektive geschenkt. Im Arbeitsbuch des Lehrwerks „Wege" gibt es Übungen zu den Erläuterungen in der Grammatik. Lorenz Nieder: Lernergrammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning 1987. Die Grammatik ist Ergebnis langjähriger praktischer Erfahrungen und theoretischer Reflexionen des Autors am Goethe-Institut. Voraussetzung für die Benutzung dieser Grammatik sind Kenntnisse etwa auf dem Niveau des Zertifikats Deutsch als Fremdsprache (vgl. Art. 86). Die Grammatik umfasst die Teile Wortklassen und Wortstrukturen sowie Textstrukturen, ergänzt um Wortlisten und ein Register. Der Syntaxteil ist verbvalenztheoretisch organisiert, der Tempusbereich folgt der Gliederung Sprechzeit, Aktzeit und Betrachtzeit. Ausführliche Betrachtung erfahren die Textstrukturen mit der Behandlung von Sprechakten, Textkonnektoren sowie der Auflistung von Textsorten. Im abschließenden Abschnitt Arbeit mit Texten wird das Prinzip einer für Lernende des Faches konzipierten Grammatik besonders überzeugend verwirklicht: Hinweise und praktische Übungen für das Segmentieren, Analysieren und detaillierte Verstehen von Textelementen und Texten geben dem Benutzer praktische Hilfestellung und Anregungen zur selbstständigen Weiterarbeit. Wolfgang Rug/Andreas Tomaszewski: Grammatik mit Sinn und Verstand. Stuttgart 1993. Diese funktionale Grammatik des Deutschen für Fortgeschrittene bietet in 20 Kapiteln mit Überschriften wie Wenn ich ein Vöglein wär ... oder Fressen und gefressen werden einen Rundgang durch die Grammatik mit Originalliteratur und Humor und wirkt kreativmotivierend auf zahlreiche Benutzer. Die grammatische Terminologie ist auf ein Mindestmaß beschränkt, doch erfahrt der Lernende über weite Passagen sehr detailliert, welche Funktionen mit welchen sprachlichen Mitteln zu realisieren sind. Das Lehr- und Übungsbuch führt gekonnt vor, wie fesselnd Grammatik sein kann und wie amüsant obendrein. Übersichtlich sind grammatische Regeln in Kästen angeordnet, Übungen dienen der Vertiefung der Kenntnisse. Ausgangspunkt der grammatischen Darstellungen sind zumeist literarische Texte, die obendrein das Sprachgefühl der Lernenden verbessern.

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

François Schanen/Jean-Paul Confais: Grammaire de l'allemand. Formes et fonctions. Paris 1986. Als Beispiel einer didaktisch orientierten kontrastiven Grammatik diene die Gebrauchsgrammatik für den fremdsprachlichen Deutschunterricht an Hochschulen im frankophonen Bereich von Schanen und Confais. Sie ist zugleich produktions-, rezeptions- und analyseorientiert und soll Lernende zur aktiven Beherrschung der deutschen Sprache führen. Die Grammatik folgt nicht der traditionellen Einteilung in Lautlehre, Formenlehre und Satzlehre, sondern die Ausdrucksformen des Deutschen werden „als Sprachzeichen und Teile von Sprachzeichensystemen ... auch auf ihre semantisch-strukturellen, kommunikativen und pragmatischen Funktionen hin untersucht" (Schanen 1990, 243). Ausgehend von acht syntaktischen Funktionsgruppen (Verbalgruppe, Nominalgruppe, Partizipgruppe usw.) werden sprachliche Mittel und deren Realisierung aufgelistet und dabei Aspekte sowie Tempusoppositionen im verbalen Bereich berücksichtigt. Neuartige Darstellungen der Artikel-, Adjektiv- und Nomenflexion werden vor allem die Lehrenden interessieren. Kommunikativ-pragmatische Funktionen wie Negation, Graduierung und Fokussierung schlagen die Brücke zur Textgrammatik und erleichtern die Lektüre verschiedener Textsorten. Eine Kurzfassung der Grammatik ist in deutscher Sprache erschienen. 5.

Pädagogische Grammatiken/ Übungsgrammatiken

Den meisten Lehrwerken des Deutschen als Fremdsprache sind grammatische Anhänge oder grammatische Hefte beigegeben, in denen Übungen zur Festigung der grammatischen Regeln und Normen erscheinen. Sie werden hier nicht eigens aufgeführt. Unter den Übungsgrammatiken für Deutsch als Fremdsprache werden vor allem benutzt: Hilke Dreyer/Richard Schmitt: Deutsche Übungsgrammatik. Ismaning 1995. Eine weit verbreitete pädagogische Grammatik mit Übungen zur formalen Struktur der deutschen Sprache. Traditionell konzipiert, vermittelt sie Kenntnisse in der Morphologie und Syntax des Deutschen. Funktional-kommunikative Übungen und solche zum Textverstehen fehlen.

1077

109. Grammatiken

Norbert M. Schmitz: Das Deutsch Spiel. Drei Spiele für die Sekundarstufe I und für Deutsch als Fremdsprache. Frankfurt/ Main 1993. In sprachspielerischer Form werden hier formale grammatische Kenntnisse vermittelt. Das Hauptaugenmerk wird auf den Gebrauch der Pronomen, der zusammengesetzten Tempora sowie der Präpositionen und Substantive gerichtet: Mit wenigen Ausnahmen freilich sind dies lediglich traditionelle Sturkturübungen. Pragmatisches Sprachhandeln wird so nicht gelernt. Lutz Götze unter Mitarbeit von Gabriele Pommerin und Anna-Ulrike Mayer: Deutsche Grammatik (mit kommunikativen Übungen). Gütersloh 2000. Die Grammatik ist eine funktional-kommunikative Grammatik, die vom Text ausgeht, dem die Bereiche Satz und Wort folgen. Zahlreiche literarische Texte werden zur Sprachanalyse benutzt; kreative Übungsverfahren eröffnen neue Möglichkeiten im Sprachunterricht. Gerhard Helbig/Joachim Buscha: Übungsgrammatik Deutsch. München 1992. Die Übungsgrammatik ist die pädagogische Umsetzung des bekannten Handbuchs der Autoren. Übungen zu Morphologie und Syntax der deutschen Sprache vom Anfänger- bis zum Fortgeschrittenenniveau verschaffen Einsichten in das Sprachsystem. Monika Reimann: Grundstufengrammatik für Deutsch als Fremdsprache. Erklärungen und Übungen. Ismaning 1997. Die Grammatik ist als Handbuch zum Nachschlagen und zum Üben für die Grundstufe konzipiert. Sie dient der gezielten Vorbereitung auf das „Zertifikat Deutsch als Fremdsprache", kann aber auch zur Wiederholung grammatischen Grundwissens herangezogen werden. Die Erklärungen sind der traditionellen Grammatik verpflichtet und leicht verständlich. Renate Luscher: Übungsgrammatik DaF für Anfänger. Ismaning 1998. Die Übungsgrammatik kann im Klassenunterricht wie zum Selbststudium benutzt werden. Sie vermittelt in verständlicher Form Grundkenntnisse der Grammatik der deutschen Sprache. Ein Lösungsschlüssel erleichtert die Arbeit beim Selbststudium.

6.

Literatur in Auswahl

Ágel, Vilmos; Rita Brdar-Szabó (Hg.) (1995): Grammatik und deutsche Grammatiken. Budapester Grammatiktagung 1993. Tübingen. Barkowski, Hans (1982): Kommunikative Grammatik und Deutschlernen mit ausländischen Arbeitern. Königstein/Ts. Buscha, Joachim; Renate Freudenberg-Findeisen; Eike Forstreuter u.a. (1998): Grammatik in Feldern. Ein Lehr- und Übungsbuch für Fortgeschrittene. Ismaning. Dreyer, Hilke; Richard Schmitt (1995): Deutsche Übungsgrammatik. Ismaning. Drosdowski, Günther u.a. (1994): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 2. Aufl. Band 4. Mannheim. Eisenberg, Peter (1994): Grundriß der deutschen Grammatik. 2. Aufl. Stuttgart/Weimar. Engel, Ulrich (1990): Grammatiken eines Jahrzehnts. In: JDaF 16 (1990), 141-289. - (1993): Deutsche Grammatik. 2. Aufl. Heidelberg. - ; Danuta Rytel-Kuc (1995): Etwas tun - Über die Möglichkeit, grammatische Kategorien gemeinverständlich zu motivieren. In: Heidrun Popp (Hg.): Deutsch als Fremdsprache. München, 23—40. — ; Rozemaria K. Tertel (1993): Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache: Die Regeln der deutschen Gebrauchssprache in 30 gemeinverständlichen Kapiteln. Mit Texten und Aufgaben. München. Fandrych, Christian; Ulrike Tallowitz (2000): Klipp und Klar. Übungsgrammatik Grundstufe Deutsch. Stuttgart. Funk, Hermann; Michael Koenig (1991): Grammatik lehren und lernen. Berlin etc. (Fernstudienprojekt zur Fort- und Weiterbildung im Bereich Germanistik und Deutsch als Fremdsprache. Fernstudieneinheit 1). Götze, Lutz (Hg.) (1993): Lebendiges Grammatiklernen. In: FD, 2. München. - ; Ernest W. B. Hess-Lüttich (1999): Grammatik der deutschen Sprache. Sprachsystem und Sprachgebrauch. München. —; unter Mitarbeit von Gabriele Pommerin und Anna-Ulrike Mayer (2000): Deutsche Grammatik (mit kommunikativen Übungen). Gütersloh. Griesbach, Heinz (1986): Neue deutsche Grammatik. Berlin/München. Harden, Theo; Cliona Marsh (Hg.) (1993): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? München. Häussermann, Ulrich; Jürgen Kars (1992): Grundgrammatik Deutsch. Frankfurt a. M./Aarau. - ; Hans-Eberhard Piepho (1996): Aufgaben-Handbuch Deutsch als Fremdsprache. Abriß einer Aufgaben- und Übungstypologie. München.

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XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

Heibig, Gerhard (1981): Sprachwissenschaft — Konfrontation — Fremdsprachenunterricht. Leipzig. — ; Joachim Buscha (1990): Zu Zielstellung, Spezifika und Umfeld der „Deutschen Grammatik". Ein Handbuch für den Ausländerunterricht". In: Ulrich Engel, 191-203. —; — (1993): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 15., durchges. Aufl. München. — ; — (1992): Übungsgrammatik Deutsch. 7., durchges. Aufl. Berlin/München. Hentschel, Elke; Harald Weydt (1990): Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin/New York. Heringer, Hans Jürgen (1987): Wege zum verstehenden Lesen. Lesegrammatik für Deutsch als Fremdsprache. München. — (1988): Lesen lehren lernen: Eine rezeptive Grammatik des Deutschen. Tübingen. — (1990): Rezeptive Grammatik - Was ist das? In: Ulrich Engel, 204-216. Hoffmann, Ludger (1998): Eine neue Grammatik des Deutschen — was drinsteht und warum wir sie geschrieben haben. In: ZD 1, 37—38. Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 16. (1990). Kiefer, Ferenc: Grammatiktagunjg '93 - Thesen zum Podiumsgespräch. In: Agel/Brdar-Szabó (Hg.), 225-227. Latour, Bernd (1988): Mittelstufen-Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ismaning. — (1990): Mittelstufen-Grammatik für Deutsch als Fremdsprache. Ιτκ Ulrich Engel, 225—231.

Luscher, Renate (1998): Übungsgrammatik DaFfür Anfänger. Ismaning. Nieder, Lorenz (1987): Lernergrammatik Deutsch als Fremdsprache. Ismaning.

für

Popp, Heidrun (Hg.) (1995): Deutsch als Fremdsprache. An den Quellen eines Faches. Festschrift für Gerhard Heibig zum 65. Geburtstag. München. Reimann, Monika (1997): Grundstufengrammatik für Deutsch als Fremdsprache. Erklärungen und Übungen. Ismaning. Rug, Wolfgang; Andreas Tomaszewski (1993): Grammatik mit Sinn und Verstand. 20 Kapitel deutsche Grammatik für Fortgeschrittene. München. Schanen, François; Jean-Paul Confais (1986): Grammaire de l'allemand. Formes et fonctions. Paris. — (1990): Grammaire de l'allemand. Formes et fonctions. Iir Ulrich Engel, 243—255. Schmitz, Norbert M. (1993): Das Deutsch Spiel. Drei Spiele für die Sekundarstufe I und für Deutsch als Fremdsprache. Frankfurt a. M. Weinrich, Harald; unter Mitarbeit von Maria Thurmair; Eva Breindl; Eva Maria Willkop (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim. Zifonun, Gisela; Ludger Hoffmann; Bruno Strekker et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bände. Berlin/New York (Schriften des IdS 7.1-7.3). Lutz Götze, Saarbrücken

(Deutschland)

110. Textsammlungen 1. 2. 3. 4. 5.

Begriffsbestimmung Textsammlungen zur Förderung des Textverständnisses Landeskundlich orientierte Textsammlungen Literarische Textsammlungen Literatur in Auswahl

1.

Begriffsbestimmung

Der Begriff „Textsammlung" ist im Deutschals-Fremdsprache-Unterricht nicht genau definiert. Im Prinzip handelt es sich um eine Sammlung von Texten verschiedener Autoren, die als eigenständige Editionsform erscheinen. Im Englisch- und Französischunterricht hat sich dafür die Bezeichnung „Reader" und „Dossier" durchgesetzt (Wolff 1975, 184). Textsammlungen werden im Deutsch-alsFremdsprache-Unterricht in der Regel in der

Oberstufe eingesetzt, wenn die Arbeit mit dem Sprachlehrbuch abgeschlossen ist. Gegebenenfalls läuft die Textsammlung auch als Begleitlektüre neben dem Lernkurs in der Unterstufe her. Es gibt Textsammlungen, die in der Bundesrepublik Deutschland erscheinen. Die Übersicht wird jährlich vom Goethe-Institut aktualisiert und veröffentlicht (Ortmann 1995). Daneben erscheinen im Ausland regionale Textsammlungen, die ohne direkten Einfluss von Autoren aus dem deutschen Sprachraum konzipiert werden. Wir werden uns hier auf Textsammlungen beschränken, die von einem Verlag für die Oberstufe veröffentlicht werden, „denn diese Stufe ist die eigentliche Lektürestufe." (Leisinger 1966, 311) Die von den einzelnen Lehrern privat zusammengestellten Textsamm-

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110. Textsammlungen lungen entziehen sich unserer Beobachtung. Dabei sind Letztere nicht weniger wichtig. Es hat sich gezeigt, dass private Textsammlungen besonders in Ländern mit einem mehr oder weniger offenen Lehrplan in verstärktem Maße eingesetzt werden (Thijssen 1985, 116). Die im Verlag erscheinenden Textsammlungen ordnen die unterschiedlichen Textsorten zu Themenkreisen, wobei neuerdings auch literarische Texte nicht ausgeklammert werden. „Unter den Künsten [...] hat die Literatur [...] einen besonderen Stellenwert, da sie der Sprachkultur, näher steht als andere Künste." (Beirat Deutsch-alsFremdsprache 1992,35) Einerseits dienen Textsammlungen häufig nur dem Textverständnis im Allgemeinen, andererseits sind sie auch landeskundlich geprägt. Es gibt Sammlungen mit Kurztexten aus der „hohen" Literatur und aus dem Bereich der Jugendliteratur, wie zum Beispiel „Lesebogen." (van Eunen 1990) Darüberhinaus existieren reinliterarische Textsammlungen. Eine allgemeine Tendenz zu einem erweiterten Textbegriff lässt sich in fast allen Textsammlungen beobachten. Deshalb gesellen sich zu den geschriebenen Texten in zunehmendem Maße auch Bilder, Grafiken und Cartoons. Auch Folien für den Tageslichtprojektor, Hörkassetten und demnächst auch Video-Filme werden die reinen Textsammlungen immer mehr begleiten. Die Zeit, dass Texte nur in Büchern erscheinen, geht im Zuge der heutigen medialen Möglichkeiten langsam zur Neige. Unsere Gesellschaft kennt nicht mehr nur das Medium „Buch," sondern eine Vielzahl von Medien. „Analog zur Entwicklung in unserer Gesellschaft [...] vollzieht sich die Entwicklung der Lern- und Lehrmaterialien. Das Lehrbuch ist damit ebensowenig tot wie das Buch im Rahmen der Medienlandschaft insgesamt. Es erhält aber im Zusammenwirken unterschiedlicher Medien und deren Einsatzmöglichkeiten einen veränderten Stellenwert." (Gnutzmann 1992, 22/23) Trotz zögernder Haltung der Verlage wird demnächst kaum mehr eine Textsammlung erscheinen, die nicht von einer Diskette begleitet wird. Da der heutige Schüler durch Internet in der Regel schon mit den Errungenschaften der modernen Medienwelt vertraut ist, müssen an multi-mediale Textsammlungen hohe Ansprüche gestellt werden, damit sie die Attraktivität für den Lerner nicht verlieren.

2.

Textsammlungen zur Förderung des Textverständnisses

2.1. Inhaltliche Kriterien Die Struktur und sprachdidaktische Konzeption einer Textsammlung ist von den Zielsetzungen und Lehrplanvorschriften der einzelnen Staaten abhängig. Von den Textsammlungen lässt sich auf die gängigen Unterrichtskonzepte schließen. „Die Texte, die in Lehrwerken des Deutschen-als-Fremdsprache Aufnahme finden, haben grundsätzlich ihren Ort im Funktionszusammenhang ihres didaktisch-methodischen Kontextes. Sie sollten daher in der Regel von Vorschlägen begleitet werden, wie sie für den Sprachunterricht nutzbar gemacht werden können." (Beirat Deutsch-als-Fremdsprache 1987, 233) Daher gehören Lehrerhandreichungen dazu, in denen der Lehrer all das findet, was er sonst in seiner Vorbereitungszeit mühsam erarbeiten muss. 2.2. Textauswahl Die Auswahl der Texte ist von folgenden didaktischen Faktoren abhängig (vgl. auch Art. 97): (a) (b) (c) (d)

die die der die

Lernziele Lernvoraussetzungen Lerngegenstand Lernsituation (Neuner 1990)

Sprache, Thematik und Informationsgehalt bestimmen den Schwierigkeitsgrad für die Lernergruppe. In den meisten Textsammlungen werden die einzelnen Texte nach Themenkreisen geordnet. Man ist bestrebt, Themen anzubieten, die das Interesse der Lerner anregen und festhalten können. Ein Problem dabei ist, dass dieses Interesse nicht für einige Jahre festgelegt werden kann. Da die Sammlung aus Kostengründen mehrere Jahre verwendet werden muss, verzichtet man auf Themen, die im Erscheinungsjahr aktuell sind. „Aktualität ist eine verderbliche Ware." (Beirat Deutsch als Fremdsprache 1987, 236) Der Vorteil der Lernerorientierung liegt auf der Hand. Themen, welche die eigene Erfahrungswelt berühren, erhöhen die Motivation des Lernenden. Ein Nachteil dabei ist allerdings, dass dadurch die gleichen Themen in den einzelnen Textsammlungen vorkommen. So findet man immer wieder Themen wie Liebe, Freundschaft, Freizeit und Sport. Man fragt sich, inwieweit diese Themen, die auch in anderen Fächern (Mutter- und Fremdsprachen)

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vorkommen, das Interesse der Jugendlichen festhalten können. Man strebt bei der Auswahl der verschiedenen Textsorten nach Authentizität, da im kommunikativen Deutschunterricht im Prinzip nur Texte vorkommen sollen, die auch in der Realität gebraucht werden. Gegebenenfalls werden sie für den Fremdsprachenunterricht bestimmter Leistungsstufen manipuliert. Authentische Texte sollen (a) einen wirklichen Adressaten haben (b) eine wirkliche Autorenintention aufweisen (c) eine erkennbare äußere Form (lay-out) haben (d) attraktiv sein, das heißt zum Lesen und Erarbeiten einladen (e) kurz und gut strukturiert sein, visuelle Hilfen enthalten und emotionale Elemente aufweisen. Zum erweiterten Textbegriff gehören auch Bilder. Bilder kommen in allen Lehrbüchern vor, zunächst als bloße Illustration oder als ornamentales Beiwerk zum Text. „Es scheint sich aber die Ansicht allgemein durchgesetzt zu haben, dass die Funktion der Bilder [...] nicht mehr vorwiegend illustrierenden, sondern heuristischen Charakter tragen solle." (Riemenschneider 1994, 393) In Textsammlungen sollen Bilder funktional zum besseren Verständnis der Texte eingesetzt werden. 2.3. Anordnung der Texte Es gibt eine Tendenz zu längeren, zusammenhängenden Texten, denn Schüler sollen beim Lesen vorzugsweise „weite Strecken" zurücklegen. Für die Anordnung der Texte zu Themensequenzen gibt es mehrere Möglichkeiten. In einigen Büchern findet man eine beliebige Anordnung von Texten zu Themenkreisen. Andere arbeiten nach einem bestimmten Konzept. So gibt es zum Beispiel ein Modell, wobei der wichtigste Text als „Kerntext" der Einheit eingesetzt wird. Dieser Text wird manchmal von einem Vorentlaster in der Form eines „Einstiegstextes" begleitet. Dieser „Einstiegstext" hat die Aufgabe, in das Globalthema einzuführen und das Interesse der Schüler zu wecken. Um den „Kerntext" herum gibt es dann „Zusatztexte", die einzelne Aspekte des „Kerntextes" näher beleuchten und dazu noch einige „Umfeldtexte", die sonstige Perspektiven des Themenbereiches behandeln (Tuk/de Valk 1985). Die Anordnung kann aber auch von anderen didaktischen Kriterien abhängig sein. Man

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

kann zum Beispiel von einem Phasenmodell ausgehen. Wolff schlägt dafür folgende vier Phasen vor: (a) (b) (c) (d)

eine eine eine eine

Motivationsphase Filterphase Analysephase Transferphase

Jeder der vier Phasen werden geeignete Texte zugeordnet. In der zweiten Phase können sogenannte „Filtertexte" eingesetzt werden, kürzere, authentische Texte, die lexikalische, stilistische oder andere Verstehensschwierigkeiten beseitigen und als Einstieg in den Themenbereich dienen können (Wolff 1975, 185). 2.4. Autoren und Verlage Vor einigen Jahren wurden Textsammlungen im Allgemeinen von einzelnen interessierten Lehrern zusammengestellt, die sich um einen Schulbuchverlag gruppierten. So gab es in vielen Ländern sogar eine Art Autorenfamilie, die alle Lehrbücher für den Deutsch-alsFremdsprache-Unterricht schrieb (zum Beispiel in den Niederlanden und Belgien). In den letzten Jahren bilden die Verlage Autorenteams, die nach einem ausgehandelten didaktischen Konzept arbeiten müssen und genaue Anweisungen für die Gestaltung der einzelnen Kapitel einer Textsammlung bekommen. Da der Schulbuchmarkt auch stark von dem Gesetz von Angebot und Nachfrage abhängig ist, werden Experimente gescheut. Der Konkurrenzkampf der einzelnen Verlage spielt eine wesentliche Rolle, zumal die heutigen Bücher durch anspruchsvolle Gestaltung (Einband, Fotos, Bilder, reichhaltige Illustrationen und Vierfarbendruck) immer aufwendiger werden. „Lehrbücher sind - nicht zuletzt durch den Wettbewerb der Autoren — in didaktischer, methodischer und drucktechnischer Hinsicht immer perfekter geworden." (Killinger 1995, 263) 2.5. Didaktische Kriterien Der fremdsprachige Text bildet den Ausgangspunkt für alle mündlichen und schriftlichen Operationalisierungen. Ein schwer zu lösendes Problem bildet dabei die Progression der Texte. Dabei müssen unter Anderem folgende Fragen beantwortet werden: (a) Was ist linguistisch gesehen ein einfacher und was ist ein schwieriger Text für die Zielgruppe? (b) Kann man eine thematisch-inhaltliche Progression oder Bindung bei der Be-

110. Textsammlungen handlung von authentischen Texten verschiedener Textsorten herstellen? (c) Welches Endergebnis wird verlangt oder anders formuliert, müssen die Schüler nur zeigen, dass sie die Texte verstanden haben oder sollen sie sich auch mündlich oder schriftlich dazu äußern? (Wolff 1975, 181-182) Für die Konstruktion einer Textsammlung schlägt Wolff zwei Textstränge vor, die bei der Textbehandlung in der Oberstufe berücksichtigt werden können. Erstens textuelle Progression in der Abfolge motivierender Einstiegstext-informierender Sachtext-perspektivierender literarischer Text und zweitens eine Kette von Kurztext zu Langtext (zuweilen auch umgekehrt) via „Filtertext" zum „Zieltext". Wenn Texte selbständig erarbeitet werden sollen, liegt ein Baukastenaufbau auf der Hand. Die verschiedenen Teilfertigkeiten sollen dabei miteinander verbunden werden können. Für mündliche und schriftliche Schülerleistungen soll der „Zieltext" den Ausgangspunkt bilden. Die Einheit soll so gestaltet sein, dass sie ein abgeschlossenes Ganzes bildet und die einzelnen Teile je nach Geschmack und Neigung von den Lernern frei gewählt werden können. 2.6. Aufgaben und Arbeitsformen Textsammlungen sollen an erster Stelle das Leseverständnis fördern (vgl. Art. 99). Sie enthalten in der Regel traditionelle Verständnisfragen zum Text. Daneben haben Textsammlungen „immer mehr Arbeitsbuchcharakter, d.h., es werden vielfältige Anregungen zum kreativen Umgang mit den aufgenommenen Texten gegeben: Weiterführen und Umformen eines Textes, Hinweise zur Ausprägung des Lesekönnens unter anderem mit Hilfe von Lesestrategien und Aufgaben zur Produktion eigener künstlerischer Texte." (Schlewitt 1993, 210) Es werden neben textsortenspezifischen und fertigkeitsbezogenen Aufgaben auch Übungen zur Erweiterung des lexikalischen Wissens und zur Erschließung anspruchsvoller grammatikalischer Strukturen aufgenommen. Dabei ist Gängelung durch die Autoren bei der Verarbeitung der Texte zu vermeiden. Obwohl die Lektüre von Texten im ersten Unterrichtsschritt natürlicherweise in Einzelarbeit stattfindet, ist es im Rahmen des kommunikativen Deutschunterrichts wichtig, den Partnerbezug beizubehalten. Deshalb findet man in den Büchern Anweisungen zu interaktiven sozialen Arbeitsformen, an denen wenigstens zwei Lerner beteiligt sind.

1081

3.

Landeskundlich orientierte Textsammlungen

3.1. Inhaltliche Kriterien Landeskundliche Textsammlungen haben in der Regel einen starken Gegenwartsbezug. Die Struktur und sprachdidaktische Konzeption ist aber von den Zielsetzungen und Lehrplanvorschriften eines bestimmten Landes abhängig. Die Texte sollen demnach so ausgewählt werden, dass das wie auch immer definierte Ziel unter den jeweils gegebenen Voraussetzungen erreicht werden kann. Es geht bei der Konzeption der Sammlung im Grunde genommen immer darum, welches Deutschlandbild man vermitteln möchte. Dieses Deutschlandbild hängt eng mit den Vorstellungen der Zielgruppe zusammen. Landeskundliche Textsammlungen können kaum wertneutral gestaltet werden. „Es kann nicht vorrangiges Ziel für die Auswahl von Texten [...] sein, Deutschland oder eines der Staatswesen mit deutscher Landessprache als besonders liebenswürdig darzustellen. [...]. Insbesondere dürfen die Texte [...] bei den ausländischen Adressaten nicht den Eindruck erwecken, dass sie nur Vorwand einer (positiven oder negativen) Selbstbespiegelung sind." (Beirat Deutsch als Fremdsprache 1987, 237) Man kann davon ausgehen, dass Deutschlerner ein gewisses Interesse für Deutschland haben. „Das bedeutet zugleich, dass [...] Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer die Stereotypen und Vorurteile der Schüler und die eigenen als vorhandene und das Fremdbild bestimmende Faktoren wahrnehmen und akzeptieren müssen." (Pauldrach 1992, 12) Dieser Tatbestand sollte bei der Textauswahl berücksichtigt werden. Eine zweite wichtige Frage ist aber, „ob im Unterricht nur das auf das fremde Land gerichtete Interesse befriedigt werden soll oder ob es ratsam wäre, innerhalb des Deutschunterrichts auch Erscheinungen des je eigenen Landes zu thematisieren." (van den Boom 1991, 280) Wodurch die Motivation der Lerner aber am meisten angeregt wird, ist nicht bekannt. Froehlich (1988) und Krusche (1983) vertreten dort entgegengesetzte Positionen. Der Erste ist der Meinung, dass nur Themen, die man auch in der eigenen Kultur kennt, motivieren, der Zweite meint aber, dass solche Themen in bestimmten Kulturen als ein Übergriff empfunden werden können. 3.2. Textauswahl Es liegt auf der Hand, dass in landeskundlichen Textsammlungen nur authentische

1082 Texte gewählt werden müssen. Wenn Statistiken gebracht werden, ist Kontrastivität angebracht, denn die Lerner und häufig auch die Sprachlehrer verfügen in der Regel nicht über das benötigte Vorwissen über die Begebenheiten im eigenen Land. Darüber hinaus veraltet landeskundliches Material schnell. Vielerseits hat man die Forderung erhoben, bei der Textauswahl besonders auf das Kriterium „Repräsentativität" zu achten. Dieses „Repräsentative" sollte aber nicht nur aus deutscher Perspektive gesehen werden, „denn was im deutschen Filter schließlich hängen bleibt, muss ja nicht auch für ausländische Lerner relevant sein." (van den Boom 1991, 281) Die Relevanz eines Textes für eine bestimmte Zielgruppe ist für die Regionalsammlungen ein wichtiges Kriterium. Relevanz im Allgemeinen hieße, dass der Text Denkanstöße geben sollte und zu Folgerungen in Bezug auf die eigene Situation anregen sollte. Darüber hinaus sollte er altersgemäß sein, kein allzu großes Vorwissen voraussetzen und sprachlich zu bewältigen sein. Ein weiteres Problem bei der Textauswahl bildet die landeskundliche Thematik. Realienkunde wird allerseits abgewiesen. Stattdessen versucht man zum Beispiel die Themenfindung auf universelle „Grunddaseinserfahrungen menschlichen Lebens" abzustimmen, von denen man annimmt, dass sie von allgemeinem Interesse sind. „Planung [...], wenn sie pädagogisch sinnvolle Ergebnisse erzielen will [...] müsste von der Frage nach elementaren verallgemeinerbaren Erfahrungsbereichen der „peergroup" der Zielsprachenkultur und der eigenkulturellen Erfahrungsmuster der Lernergruppe ausgehen." (Neuner 1984, 14) Bei Jugendlichen denkt man dabei an Erfahrungen im täglichen Leben, wie zum Beispiel das Erleben der Individualität, die Erfahrungen im Freundeskreis und in der Familie. Allerdings müssen diese Erfahrungen auf das Alter der Zielgruppe abgestimmt werden. Texte bilden ein wichtiges Medium in der interkulturellen Kommunikation zwischen den Lernern und Vertretern der Zielkultur. „Mit Hilfe exemplarischer Themen sollen die Lernenden befähigt werden, die eigene und fremde Kultur besser zu verstehen." (Pauldrach 1992,8) Auch hier spielen Bilder eine große Rolle. Die landeskundliche Funktion eines Bildes in einer Textsammlung ist unumstritten. „Bilder gehören [...] zu den [...] anschaulichen Phänomenen einer fremden Kultur, über die Schüler einen Zugang zu den Realien, den eigentlich kulturellen Entitäten, Daten und

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

Fakten, Normen und Werthaltungen gewinnen können. Inhaltlich umfassen sie ein breites Spektrum, das sehr unterschiedliche Motive, Personen, Landschaften, Orte, Ereignisse, Erscheinungen aus Gegenwart und Vergangenheit der Zielkultur vereinigt." (Reinfried 1994, 465) Zu fragen bleibt aber, inwieweit die ausgesuchten Bilder mit den Vorstellungen übereinstimmen, welche die einzelnen Lernergruppen sich von dem Land der Zielsprache gemacht haben. Denn Bilder „dokumentieren, vermitteln, reproduzieren Realien aus dem fremden Land einerseits, anderseits können sie das Dargestellte kommentieren, bewerten, propagieren und somit eine eigenständige kommunikative Aussage konstituieren. [...] Man unterscheidet eine denotative und eine vertiefend analysierende Bildlektüre. Erstere beschränkt sich auf die Beschreibung und die Bezeichnung des Bildes, letztere hat als Ergebnis eine Deutung des Dargestellten." (Reinfried 1994,465) Aber man sollte auch die Bilder, die im Kopf existieren, berücksichtigen. „Die Bilder, die einer vom fremden Land hat, haben oft mehr mit dem eigenen Kopf zu tun als mit der fremden Wirklichkeit. [...] Textsammlungen können durch eine einseitige Auswahl von Texten und Themen oft unbeabsichtlich Vorurteile verstärken." (Krumm 1992, 16) 3.3. Didaktische Kriterien Ein erstes didaktisches Kriterium sollte die Möglichkeit einer explorativen Annäherung sein, das heißt, dass die Texte das selbständige Erarbeiten von Informationen und Fertigkeiten ermöglichen sollen. Um selbständiges Arbeiten anzuregen, sollen die Texte genügend „kulturelle Zeichen" enthalten, das heißt, es sollen in einem Text genügend „Stolpersteine" vorkommen, welche die Betroffenheit des Schülers hervorrufen und zur Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Kultur anregen können. In Anlehnung an Neuner (1984) unterscheidet man bei den „kulturellen Zeichen" folgende Gruppen: (a) Zeichen, die in beiden Kulturen und Sprachen gleichbedeutend sind (b) Zeichen, die in beiden Kulturen und Sprachen nur scheinbar gleich sind (c) Zeichen, die in der Fremdkultur fehlen oder umgekehrt (d) Zeichen, die in beiden Kulturen im Gegensatz zueinander stehen „Die Eignung eines Textes [...] hängt nach lernpsychologischen Gesichtspunkten von ei-

110. Textsammlungen nem mittleren Maß an Fremdheit ab. Wenn der Text nichts Neues bietet, erzeugt er Langeweile, bietet er nur Fremdes und Unverständliches, wird er zurückgewiesen. Was zum „Stolperstein" wird, bestimmt jede Lerngemeinschaft, jedes Individuum letztlich für sich, beziehungsweise ergibt sich aus der Reaktion oder Nicht-Reaktion der Lernenden." (Groenewold 1985, 15) Ein didaktisches Kriterium bei der Textauswahl wäre demnach die Zahl derartiger „Stolpersteine." Ein zu hohes Maß an Fremdheit könnte ein Hindernis für die Schüler sein. 3.4. Aufgaben und Arbeitsformen Texte in landeskundlichen Textsammlungen sollen genügend Anlass zu handlungsorientierten Aufgaben bieten. Sie sollen Verstehenshilfen für die Informationsaufnahme enthalten und Aufgaben zur Informationsverarbeitung und Überprüfung der Leistung bieten. Da landeskundliche Textsammlungen im kommunikativen Deutschunterricht eine wichtige Rolle spielen, sollen sie kooperative Arbeitsformen (Partnerarbeit, Gruppenarbeit) ermöglichen (Neuner 1981). 4.

Literarische Textsammlungen

Bei literarischen Textsammlungen handelt es sich zunächst um Anthologien. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Blütenlese." Die Anthologie gehört zu den ältesten Textsammlungen im Fremdsprachenunterricht. Sie enthält eine Sammlung musterhafter Texte, die unter bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt werden. Man unterscheidet Anthologien mit Gedichten und solche mit kurzen Prosastücken oder eine Mischung von beiden Gattungen. Die reine Gedichtanthologie ist im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht kaum mehr vorhanden. Man vereint die Texte entweder chronologisch mit der Literaturgeschichte in einem Literaturgeschichtsbuch oder in einem breiteren Spektrum mit landeskundlichen Sachtexten zu Materialienbüchern für Anfänger und Fortgeschrittene (Boog 1988). Neuerdings erscheinen auch literarische Textsammlungen, die Zeitgeschichte dokumentieren (Kraus 1994). In allen Editionsformen sind Gedichte als vollständige, in der Regel kurze Kunstwerke stark vertreten. 4.1. Inhaltliche Kriterien Für literarische Textsammlungen ist besonders das Kriterium „repräsentative Relevanz"

1083 von Bedeutung. „Das Kriterium [...] betrifft eine zweifache Beziehung: die zur geltenden Kultur der Entstehungszeit und die zur geltenden Kultur in der Zeit der Aufnahme. [...] Die Relevanz eines literarischen Textes ist gegeben, wenn er kulturelle Tätigkeit ermöglicht, sodass der Bezug zur Gesamtschau der Text- und Leserkultur [...] erzeugt werden kann. Repräsentativ ist der Text dann, wenn der Aufnehmende dabei auf die Inkorporationstendenz der zentralen Kultur der Textumgebung trifft." (Hebel 1980,388; 406) Man hat versucht, Themenbereiche anzugeben, die für den Fremdsprachenlerner relevant sein können (Wierlacher 1987). Herausgeber von Literatursammlungen beleuchten die Literatur in der Regel nur aus deutscher Perspektive. Sie berücksichtigen dabei kaum, dass die Texte für eine Literaturstunde im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht bestimmt sind. Im Grunde genommen übernehmen sie die Zielsetzungen des Muttersprachenunterrichts in abgewandelter Form. Bei vielen ausländischen Herausgebern gilt das eigene Universitätsstudium als Leitfaden für die Auswahl. Es hat den Anschein, dass auch hier der Deutsch-als-Fremdsprache-Literaturunterricht genau wie der MuttersprachenLiteraturunterricht zu „einem Abbild der Universitätsgermanistik ,en miniature' geworden ist, die [...] als Endziel die Herausbildung kleiner Minigermanistinnen zu beabsichtigen scheint." (Schrodt 1995,239) Die Zielsetzung des Deutsch-als-FremdspracheUnterrichts ist aber grundsätzlich eine andere als im Muttersprachen-Unterricht. Die Textsammlungen sollen darauf Rücksicht nehmen. Regionale literarische Textsammlungen sind von der gegenwärtigen schulpolitischen Lage abhängig, in der es um Vermittlung von Sprachkenntnissen und auch häufig um historisch-landeskundliche Information geht. Sie sollen auf die Bedürfnisse des Fremdsprachenlerners in dem jeweiligen Land abgestimmt werden und mehr einen „Blick von draußen" repräsentieren. Der Deutsch-alsFremdsprache-Literaturkanon sollte neben literarhistorischen, ästhetischen, gesellschaftlich relevanten und persönlichkeitsentwikkelnden Elementen auch eine interkulturelle Komponente enthalten. Literarische Texte teilen ihren landeskundlichen Gehalt nicht ohne weiteres mit. Sie werden von den Schülern dann auch nicht immer als Teil der deutschen Landeskunde gesehen. Sogar traditionelle Schulkanongedichte werden häufig nicht als solche erkannt (Tuk 1994, 476).

1084 4.2. Textauswahl Bei der Auswahl literarischer Texte sucht man nach verbindlichen Richtlinien. In der Regel gibt es für den Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht in den einzelnen Staaten keine verbindlichen Vorschriften. Der Herausgeber von Textsammlungen hat dann auch in der Auswahl eine gewisse Freiheit. Literarische Texte werden in vielen Lesebüchern nicht so sehr nach ästhetischen Kriterien ausgewählt, als vielmehr nach dem Kriterium der Zuordnungsbarkeit zu den thematischen Bereichen des jeweiligen Bandes." (Schrodt 1995, 236) Es hat sich aber gezeigt, dass Regionalwerke sich häufig auf einen Kernkanon von Texten beschränken, die aus dem Schulkanon im Muttersprachen-Unterricht stammen (Tuk 1994). Dabei werden Experimente gescheut besonders wo „Ausländer selbst unterrichten, wird [...] stärker der Traditionskanon, auch im traditionellen Deutungsraum, gepflegt." (von Heydebrant 1993, 20) Texte, die zu einem Nachdenken über Deutschland und die anderen deutschsprachigen Länder anregen, sind für den Deutsch-als-Fremdsprache-Literaturunterricht sehr geeignet. Damit hat man die Chance, den kulturellen Mehrwert der Sprache für den ganzen europäischen Sprachraum in den Mittelpunkt zu stellen. Man sollte aber im Literaturunterricht auch die Schülermeinung bei der Auswahl der Texte berücksichtigen. Man braucht sich dabei nicht auf moderne, leichtverständliche Texte zu beschränken, auch anspruchsvolle Gedichte können gut ankommen (Tuk 1994). 4.3. Didaktische Kriterien Die Relevanz der Texte für die jeweilige Zielgruppe ist ein entscheidendes Kriterium. Ob eine Textsammlung im Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht gebraucht werden kann, ist von den jeweiligen Zielsetzungen des Literaturunterrichts abhängig. Man verfolgt mit Textsammlungen u. a. folgende Ziele: (a) sie sollen das historische und theoretische Literaturwissen fördern (b) sie sollen die Persönlichkeitsentwicklung des Lerners fördern (c) sie sollen zur Lektüre von hoher Literatur anregen (d) sie sollen zur Erweiterung der kommunikativen Kompetenz und Handlungsfähigkeit hinführen (e) alle Bereiche des Deutschunterrichts sollen in der Textsammlung zum Ausdruck kommen.

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand Y

4.4. Anordnung der Texte Die Anordnung der Texte ist vom sprachlichen Können und vom literarischen und kultursemantischen Vorwissen abhängig. Im Allgemeinen wird das sprachliche Niveau von den Herausgebern überschätzt. Das Lesen in der Fremdsprache ist ein verlangsamtes Lesen, zumal es sich um fiktionale Texte handelt, die ihre Bedeutung nicht immer voll ausformulieren. 4.5. Aufgaben und Arbeitsformen In der Regel findet man in literarischen Textsammlungen viele offene Fragen zum Text. Solche Aufgaben veranlassen eine vom Lehrer gesteuerte Behandlung. „Dabei werden die Schüler allzu oft dazu verführt, ihre Aufmerksamkeit nur noch darauf zu richten, was der Lehrer wohl hören möchte." (Spinner 1993,34) Ertragreicher sind handlunggesteuerte Arbeitsformen, welche die Zusammenarbeit zwischen den Schülern fördern. Ein literarischer Text enthält nach der Rezeptionstheorie in der Literaturwissenschaft sogenannte Leerstellen, „die vom Schüler gefüllt werden können." (Iser 1970, 15) Es ist eine didaktische Herausforderung, produktionsgerichtete Arbeitsformen zu entwickeln. Dabei restaurieren oder transformieren die Schüler einen Text. Restaurieren heißt, dass die Schüler die ursprüngliche Form so getreu wie möglich wieder herstellen. Im Transformieren geht man einen Schritt weiter. „Das ist eine ästhetische Handlung, in welcher der Schüler das Werk eines Künstlers nur zum Anlass für eigene Gestaltungen nimmt." (Haas/Menzel/Spinner 1994, 18) 5.

Literatur in Auswahl

Beirat Deutsch als Fremdsprache des Goethe-Instituts (1987): Texte in Lehrwerken des Deutschen als Fremdsprache. 34 Maximen. In: Alois Wierlacher (Hg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Bd. 13, 231-238. Beirat Deutsch als Fremdsprache (1992): 25 Thesen zur Sprach- und Kulturvermittlung. Im Fremdsprache Deutsch 6, 34-35. Boog, Henk; Kees van Eunen; Bernd Kast u. a. (1988): Lesespaß. München. Boom van den, Rüdiger (1991): Offene Materialien. Konzeptionsprobleme bei der Erstellung landeskundlicher Medien im Hinblick auf das Ausland. In: Alois Wierlacher (Hg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Bd. 17, 275-286. Eunen van, Kees; Jacques Moreau; Flip de Nijs u. a. (1990): Lesebogen. München.

1085

110. Textsammlungen Froehlich, Jürgen (1988): Lesen können — Lesen wollen. Zur Problematik der Textauswahl für den DaF-Unterricht. In: Info DaF 15/1, 56-60. Gnutzmann, Claus; Frank G. Königs (1992): Methodische und politische Dimensionen des Fremdsprachenunterrichts zu Beginn eines neuen Jahrzehnts. In: Claus Gnutzmann; Frank G. Königs; Waldemar Pfeiffer (Hg.): Fremdsprachenunterricht im internationalen Vergleich: Perspektive 2000. Frankfurt am Main. (Schriftenreihe für Studium und Praxis), 9-47. Groenewold, Peter (1985): Überlegungen zur Landeskunde. In: Arbeitsgruppe Landeskunde im Goethe-Institut Amsterdam: Unterrichtsmaterial zur Landeskunde. Projekt Wohnen III. Handbuch zum Nachschlagen und Nachsehen für Lehrer mit Lösungsblättern. München, 6—17. Haas, Gerhard; Wolfgang Menzel; Karl Heinz Spinner (1994): Handlungsproduktionsorientierter Deutschunterricht. In: Praxis Deutsch 21, 17—25. Hebel, Franz (1980): Die Rolle der Literatur in der Kulturvermittlung oder: Gibt es eine repräsentative Relevanz' von Texten?: Erörtert am Beispiel von Gerhart Hauptmanns Komödie ,Der Biberpelz'. Im Alois Wierlacher (Hg.): Fremdsprache Deutsch. Grundlagen und Verfahren der Germanistik als Fremdsprachenphilologie. Bd. 2. München, 387-409. Heydebrant, Renate von (1993): Problem des ,Kanons'-Probleme der Kultur und Bildungspolitik. In: Janos Janota (Hg.): Germanistik Deutschunterricht und Kulturpolitik. Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik. Vorträge des Augsburger Germanistentages 1991. Tübingen, 16-20.

Iser, Wolfgang (1970): Die Appellstruktur der Texte. Konstanz. Killinger, Robert (1995): Im Spannungsfeld von Lehrplan, Lehrbuch und Schüler. In: Paul Peter Wildner (Hg.): Deutschunterricht in Österreich. Versuch eines Überblicks. Frankfurt am Main. (Beiträge zur Geschichte des Deutschunterrichts 14), 263-270. Kraus, Hannes (Hg.) (1994): Vom Nullpunkt zur Wende. Essen. Krumm, Hans-Jürgen (1992): Bilder im Kopf. Interkulturelles Lernen und Landeskunde. In: Fremdsprache Deutsch 6, 16—19. Krasche, Dietrich (1983): Anerkennung der Fremde. Thesen zur Konzeption regionaler Unterrichtswerke. In: Alois Wierlacher (Hg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Bd. 9, 248-258. Leisinger, Fritz (1966): Elemente des neusprachlichen Unterrichts. Stuttgart.

Neuner, Gerd; Manfred Krüger; Ulrich Grewer (1981): Übungstypologie zum kommunikativen Deutschunterricht. Berlin. — (1984): Überlegungen zur Didaktik und Methodik des Textverständnisses im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Iii: Zielsprache Deutschi, 14. — (1990): Texte auf dem Prüfstand In: Fremdsprache Deutsch 2, 16-19. Ortmann, Wolf Dieter (1995): Arbeitsmittel für den Deutschunterricht an Ausländer. Berlin. Pauldrach, Andreas (1992): Eine unendliche Geschichte. Anmerkungen zur Situation der Landeskunde in den 90er Jahren. In: Fremdsprache Deutsch 6, 4-15. Riemenschneider, Rainer (1994): Bild und Text: eine problematische Symbiose? Im Internationale Schulbuchforschung. 16/4, 393-395. Reinfried, Marcus (1994): Landeskundliche Abbildungen in Französischlehrbüchern. Eine historische Darstellung. In: Internationale Schulbuchforschung. 16/4,465 -490. Schlewitt, Jörg (1993): Lesebuchexpertise 1993 (1). Eine vergleichende Betrachtung verschiedener Verlage. In: Deutschunterricht 46/4, 209-217. Schrodt, Heidi (1995): Das österreichische Lesebuch in den letzten zwanzig Jahren im Sekundarschulbereich. In: Paul Peter Wildner (Hg.): Deutschunterricht in Österreich, 235—245. Spinner, Kaspar H. (1993): Literaturdidaktik der 90er Jahre. Im Albert Bremerich Vos (Hg.): Handlungsfeld Deutschunterricht im Kontext. Frankfurt am Main, 23—36. Thijssen, Martin (1985): Der Literaturunterricht im Fach Deutsch als Fremdsprache an regulären höheren Mittelschulen und Oberschulen. Diss. Nijmegen. Tuk, Cornells; Hans de Valk (1985): Der doppelte Boden in der Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrerausbildung. Im Arbeitsgruppe Landeskunde im Goethe-Institut Amsterdam: Unterrichtsmaterial zur Landeskunde. Projekt Wohnen III, 21 — 39. — (1994): Deutsche Lyrik in der niederländischen Schule. Eine Untersuchung zur Kanonbildung von deutschen Gedichten im weiterführenden Unterricht in der Periode 1913—1990 und zur Rezeption von Gedichten aus dem traditionellen Kanon bei Schülern des Schuljahres 1991-1992. Diss. Utrecht. Wierlacher, Alois (1987): Zum Kanonproblem des Faches Deutsch als Fremdsprache. Im Wierlacher, Alois (Hg.): Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache. Bd. 13, 194-199. Wolff, Udo (1975): Textarbeit und Dossierkonstruktion — Zum Problem der Progression im Französischunterricht der Sekundarstufe II. Im Praxis des neusprachlichen Unterrichts 2211, 181 — 197. Cornells Tuk, Amsterdam

(Niederlande)

1086

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

111. Hörmaterialien 1. 2. 3. 4. 5. 6.

1.

Die Bedeutung des Hörens für das Sprachenlernen Authentisches und analytisches Hören Gesichtspunkte für die Auswahl von Hörmaterial Typen von Hörtexten Hörübungen Literatur in Auswahl

Die Bedeutung des Hörens für das Sprachenlernen

Hören, die Aufnahme von Sprache, ist zentrale Voraussetzung für den menschlichen Spracherwerb - Hören hat daher seit der direkten Methode (vgl. Art. 88) auch im Fremdsprachenunterricht stets eine wichtige Rolle gespielt, wobei die Gestaltung des Hörmaterials einerseits von den jeweiligen technischen Möglichkeiten (ζ. B. Auswirkungen der Erfindung von Schallplatte und Tonband auf die direkte Methode sowie Entwicklung der Sprachlabors im Zusammenhang mit der audiolingualen Methode; Entwicklung von Kassettenrecordern, die es erlauben, native speakers im Unterricht zu Gehör zu bringen; weltweite Rundfunk- und Fernsehprogramme, Videorekorder usf.) beeinflusst wurde, andererseits von sprachpsychologischen Grundannahmen. Musste Hörmaterial im Rahmen der audiolingualen Methode dazu verhelfen, Strukturmuster im Sprachmaterial zu erkennen und zu automatisieren, so dient Hörmaterial seit Beginn kommunikativer Methodenkonzeptionen vor allem dazu, Sprache in situativen Kontexten zu erfahren. Stephen Krashen (vgl. u.a. Krashen; Terrell 1988), hat seit Beginn der 70er Jahre die Wichtigkeit des Hörens mit seiner spracherwerbstheoretisch begründeten Unterscheidung von Erwerben (acquisition) und Lernen (learning) unterstrichen. In seiner Input-Hypothese geht er davon aus, dass wir Sprache erwerben, indem wir Input aufnehmen und verstehen, der geringfügig über den schon erworbenen Sprachstand hinausgeht. „Speaking fluency is thus not,taught' directly; rather, speaking ability ,emerges' after the acquirer has built up competence through comprehending input" (ebd. 32). So wie schon in der audiolingualen Methode behavioristischer Prägung (nichts sprechen, was nicht zuvor gehört worden ist, nichts schreiben, was nicht zuvor gelesen worden ist) bilden bei al-

len der Input-Hypothese verpflichteten Methoden das Hörverstehen (und das Lesen) Grundlage und Ausgangspunkt auch des Sprachlehrprozesses. Dabei ist wichtig, dass Input, soll er aufgenommen werden (intake), genau auf den Sprachstand des Lerners abgestimmt (ßnely-tuned) ist, d.h. die vorhandenen Sprachkenntnisse des Lernenden mobilisiert und zusätzliche Elemente enthält, die der Lernende aus dem Input erschließen und erwerben kann. Hinzu kommt, dass der Erwerb begünstigt wird, wenn der Input kommunikativ bedeutsam ist, d.h. der Fokus nicht auf der Sprachstruktur, sondern auf der Bedeutung liegt. Krashens Vorstellung, Sprechen sei nur ein Ergebnis des auf Input basierenden Spracherwerbs, ist insbesondere mit dem Hinweis auf die Interaktivität des Erwerbsprozesses vielfach in Frage gestellt worden, insbesondere auch ihre direkte Übertragung auf Prozesse des Sprachenlehrens und -lernens (vgl. die Diskussion bei Henrici 1995, 14ff.). Sie hat jedoch entscheidend mit dazu beigetragen, dass dem Hören und insbesondere auch der Gestaltung von Hörmaterialien seit den 80er Jahren - dann auch im Kontext anderer spracherwerbstheoretischer und methodischer Ansätze - verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wird (vgl. Art. 92). Dabei wird Hörverstehen einerseits im Sinne Krashens als Ausgangspunkt für die Kommunikationsfahigkeit insgesamt, andererseits als Teillernziel zur Entwicklung spezifischer Rezeptionsleistungen (der Verstehenskompetenz; vgl. Edelhoflf 1985) betrachtet und trainiert.

2.

Authentisches und analytisches Hören

Sowohl unter dem umfassenderen Gesichtspunkt der Bereitstellung von Input für den Spracherwerb insgesamt als auch im Hinblick auf die gezielte Schulung der Rezeptionsfahigkeit im engeren Sinne spielt die Frage der Authentizität von Hörtexten eine zentrale Rolle — für die Auswahl bzw. Entwicklung von Hörtexten ist sie von entscheidender Bedeutung. Fasst man den Begriff der Authentizität eng und bezieht ihn ausschließlich auf von Muttersprachlern für Muttersprachler ohne Rücksicht auf Lernende gesprochene Sprache, so geht schon mit der Hereinnahme solcher ,authentischer' Texte in den Unter-

111. Hörmaterialien rieht ihr ursprünglicher Kontext und Sprechanlass verloren, sie verlieren die Authentizität. Für unterrichtliche Zwecke wird solches Hörmaterial dennoch durchweg als authentisch bezeichnet, weil es — im Gegensatz zu speziell für Lehr-Lernzwecke geschriebenen und auf Band gesprochenen Texten — zumindest alle sprachlichen Merkmale einer realen Kommunikation enthält (vgl. zur Diskussion des Begriffs .authentisch' Weijenberg 1980, Solmecke 1996). Auch aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgenommene Texte bedürfen - so Solmecke (ebd. 87) - eines authentischen Hörens' im doppelten Sinne: zum einen muss der Lernende versuchen, die Sprecherintention herauszufinden, um verstehen zu können, was gemeint ist, zum andern hört er auch ,als er selbst', d.h. interpretiert das Gehörte vor dem Hintergrund eigensprachlicher und eigenkultureller Prägung. Ob und wie früh ein solches authentisches Hören im Deutsch als Fremdsprache-Unterricht eingesetzt werden kann, ist trotz der Aufwertung des Hörens seit der kommunikativen Wende weiterhin umstritten: so wird argumentiert, der komplexe Prozess des Hörverstehens müsse schrittweise aufgebaut werden, indem das Hören zunächst mit vereinfachten Hörtexten (ζ. B. ohne störende Nebengeräusche, ohne starke dialektale Färbungen o. ä.) trainiert wird, Verfechter eines authentischen Hörens vertreten dagegen die Auffassung, nur durch authentische Texte, die sämtliche Merkmale gesprochener Sprache enthalten, werde die Entwicklung von Hörstrategien auf Seiten der Lernenden erreicht und ein Hörschock bei der ersten Begegnung in außerunterrichtlichen Realsituationen vermieden (vgl. die Beiträge in Kühn 1996). In diesem Zusammenhang wird auch diskutiert, wie weit Nichtmuttersprachler mit ihrer markierten, evtl. auch fehlerhaften Aussprache in Hörmaterial vertreten sein sollen: solange das Hörmaterial im Sinne der audiolingualen Methode vor allem zur Entnahme sprachlicher Modelle diente, war das nicht zu vertreten. Geht man jedoch davon aus, dass Hörmaterial der Entwicklung der Verstehensfahigkeit von authentischer Sprache dient, so müssen auch deutsch sprechende Nichtmuttersprachler im Hörmaterial vertreten sein, bilden sie doch sowohl in der muttersprachlichen Umgebung als auch in einer Zweitsprachenlernsituation im deutschsprachigen Raum eine vielfach vertretene Hörquelle. Ein spezifisches Konzept für ,authentisches Hören' wurde in dem als Fremd-

1087 sprachenwachstum bezeichneten Ansatz des Fremdsprachenlernens entwickelt, einem didaktischen Konzept, in dem ähnlich wie in Krashens natural approach Erkenntnisse des ungesteuerten Spracherwerbs in den Fremdsprachenunterricht übernommen werden (vgl. Buttaroni 1997; zur kritischen Einschätzung Ortner 1998). Unter authentischem Hören wird im Fremdsprachenwachstum der methodisch präzise beschriebene - Versuch verstanden, der Sprachwahrnehmung in einer natürlichen' Hörsituation auch im Unterricht möglichst nahe zu kommen, zugleich aber durch ein systematisches Arbeiten mit dem Hörtext das Hörverstehen als Basis für die Entwicklung der Kommunikationsfahigkeit gezielt zu erweitern: authentische Texte werden wiederholt vorgespielt, zwischengeschaltet sind Phasen des Informationsaustauschs, in denen die Lernenden sich des jeweils Verstandenen vergewissern, den Wortschatz aufarbeiten usf. (vgl. Buttaroni 1997, 209ff.). Mit auf diese Weise erarbeiteten Hörtexten werden sodann stärker sprachbezogene Aktivitäten entwickelt: als LinguaPuzzle (Buttaroni 1997, 216ff.) wird die auf die linguistische Struktur des Hörtextes zielende Analyse bezeichnet; auch das sog. Analytische Hören (ebd. 219ff.) zielt auf die Bewusstmachung einzelner sprachlicher Elemente. Voraussetzung für solche Höraktivitäten ist die „natürliche Komplexität" des Hörmaterials von Anfang an (wobei der erste Informationsaustausch darüber dann auch in der Muttersprache der Lernenden stattfinden kann). Andererseits dürfen die Hörtexte, um sie einer solch vielfaltigen Bearbeitung zu unterziehen, eine Länge von ca. 3 Minuten nicht überschreiten. Hörmaterial für den Fremdsprachenunterricht ist, so sollte deutlich geworden sein, abhängig von den jeweils zu Grunde liegenden Vorstellungen vom Spracherwerbsprozess und methodischen Leitvorstellungen. 3.

Gesichtspunkte für die Auswahl von Hörmaterial

Als Hörtexte werden in der Regel medienvermittelte, d.h. als Tonkassette vorliegende Texte bezeichnet. Grundsätzlich bietet natürlich auch der Lehrer, wenn er im Unterricht berichtet, erzählt oder vorliest, ja auch in der unterrichtlichen Interaktion mit den Lernenden Hörtexte an (vgl. Solmecke 1993, 47ff.) vor allem muttersprachliche Lehrkräfte,

1088

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

Fremdsprachenassistenten und Lektoren werden gezielt eingesetzt, damit die Lernenden authentisch hören können. Im Unterschied zu medial vermittelten Hörtexten ist der im Klassenraum gesprochene Hörtext anpassbar an die Reaktionen der Lernenden: der Lehrer kann die Betonung, die Lautstärke, das Sprechtempo variieren, er kann auch die Wortwahl und Satzlänge, die sprachliche Komplexität und den Inhalt verändern beim Tonband beschränkt sich die Möglichkeit, auf die Lernenden einzugehen, auf die beliebige, aber in der Regel unveränderte Wiederholbarkeit des Hörtextes — es sei denn, es handelt sich tun spezielle, ζ. B. langsam gesprochene Lehrbuch-Hörtexte. Allerdings lernen Lehrkräfte nicht, ihre Lehrersprache gezielt als ,Hörtext' einzusetzen. Gegenüber dem Hörtext auf Kassette hat die reale Kommunikation im Klassenzimmer den Vorteil, dass auch nonverbale Elemente (Mimik und Gestik) als wichtige Aspekte eines Hörtextes darstellbar sind. Hör-Seh-Verstehen, wichtige Voraussetzung für das Gelingen von /ace-?o-/ace-Kommunikation, kann natürlich auch durch Einbeziehung von Film und Video trainiert werden (vgl. Schwerdtfeger 1989); so hat — nimmt man das Materialangebot des Goethe-Instituts zum Maßstab - sich die Zahl der Hör-Seh-Texte mit Video gegenüber den reinen Hörkassetten erheblich erhöht. Mit der Verbesserung der Tonqualität und Lautsprecher werden die MultimediaAngebote der Neuen Medien in Zukunft gleichfalls neue Möglichkeiten authentischen Hörens unter Einbeziehung nonverbaler Elemente sowie des situativen Kontextes eröffnen. Mit dem Kriterium der Authentizität ist sicherlich der entscheidendste Aspekt der Auswahl von Hörmaterial angesprochen: selbst Lehrwerke der Gegenwart liefern jedoch auf den beigegebenen Kassetten vielfach ,Lehrbuchsprache'. Das hängt insbesondere damit zusammen, dass unter dem Gesichtspunkt der Progression der Schwierigkeitsgrad authentischer Texte als zu groß angesehen wird. Insbesondere lehrbuchgebundene Hörtexte, die der Progression des Lehrbuchs folgen, sind daher häufig insbesondere in Lexik und Syntax dem jeweiligen Lernstand angepasst; auch eine reduzierte Sprechgeschwindigkeit und eine überdurchschnittlich genaue Aussprache werden vielfach als lernnotwendig angesehen. Umgekehrt fehlen den für Unterrichtszwecke entwickelten Hörtexten in der

Regel typische Merkmale spontan gesprochener Sprache: Pausen, Interjektionen, Partikeln, Abbrüche, Selbstkorrekturen, Versprecher, Redundanzen etc. (vgl. Schwitalla 1997). Sie sind entweder primär auf die Überbetonung bestimmter sprachlicher Mittel, oder aber ganz auf die referentielle Funktion reduziert, appellative und expressive Funktionen spielen bei speziell für den Unterricht entwickelten Hörtexten oft keine Rolle mehr. Eine solche „Säuberung" von Hörtexten kann auch das Hörverstehen erschweren, da die genannten Merkmale vielfach durchaus als Verstehenshilfen wirken (vgl. Little u.a. 1989). Kommunikationsorientierte Unterrichtskonzepte gehen daher davon aus, dass bei der Wähl von Hörtexten keine sprachliche, sondern nur oder doch primär eine Progression nach Themen sowie Sozio- und Regiolekten maßgebend sein sollte: so sollten nationale oder regionale Varietäten erst mit zunehmender Sprachbeherrschung verstärkt in Hörtexten aufscheinen — wobei der Lernort (im deutschen Sprachraum, in Nachbarschaft etwa zum österreichischen oder sächsischen Deutsch) berücksichtigt werden muss. Auch bei der Wahl der unterschiedlichen Textsorten kann Rücksicht auf Sprachstand und Lernmotivation genommen werden, wobei aber auch eine gewisse Vielfalt von Textsorten sichergestellt sein muss. Solmecke (1993, 44f.) nennt folgende vier Kriterien als grundlegend: 1. Umfang des Textes; 2. Textsorte: Eignung in bezug auf die Lernziele und die Vorerfahrungen der Lernenden; 3. thematische Eignung; 4. Textschwierigkeit: Verhältnis bekannter zu unbekannten Wörtern; Abweichungen von der Standardsprache; Informationsdichte und Abstraktionsgrad u. ä. Dirven (1977, 4f.) hält insbesondere soziolinguistische Faktoren für zentral bei der Einstufung der Schwierigkeit von Hörtexten: so sind standardsprachliche Texte leichter zu verstehen als Texte mit regionalem Standard; noch größere Schwierigkeiten bieten Nichtstandard-Texte; ähnliche Abstufungen lassen sich im Hinblick auf den Sozio- und Funktiolekt vornehmen. Entscheidend ist, dass der gewählte Hörtext genügend Anknüpfungspunkte für motivierende Lernaufgaben bietet, „deren Aus-

111. Hörmaterialien

1089

führung zu sinnvollen kommunikativen Tätigkeiten führt" (Solmecke 1993, 45; vgl. Abschnitt 5). 4.

Typen von Hörtexten

Gruppierungen und Klassifizierungen von Hörtexten lassen sich nach verschiedenen Gesichtspunkten vornehmen. 4.1. Grob unterscheiden lassen sich Hörmaterialien einmal nach dem Ort, den sie im Unterricht einnehmen: a) Den quantitativ größten Bereich bilden die lehrbuchbegleitenden Tonkassetten, die aber auch besonders viel Kritik hervorrufen, da sie vielfach nicht als authentisch eingestuft werden können (vgl. Honnef-Becker 1996); b) Lehrbuchunabhängige Hörmaterialien bieten in der Regel eine Vielfalt an Übungsaktivitäten und Textsorten, die von speziell für unterrichtliche Zwecke entwickelten Hörprogrammen bis zu didaktisierten authentischen Tondokumenten reichen (vgl. Abschnitt 4.2; eine gute Übersicht findet sich bei Dahlhaus 1994, Kap. 3). In der Regel sind ihnen Transkriptionen der Texte sowie Vorschläge für Übungsaktivitäten beigefügt. c) Schließlich können alle auditiv oder audiovisuell gespeicherten, nicht für Unterrichtszwecke adaptierten Materialien auch als Hörtexte eingesetzt werden. Das bietet sich insbesondere im Bereich der Landeskunde und der Literaturvermittlung an. Werden solche Materialien über Mittlerorganisationen wie etwa das Goethe-Institut und Inter Nationes vertrieben, so werden ihnen häufig wenigstens elementare didaktische Hilfen (Hintergrundinformationen, evtl. Wortlisten, evtl. auch Übungsvorschläge) beigefügt. d) Einen Sonderfall stellen Radio- und Fernsehsprachkurse dar, bei denen ein Großteil des gesamten Lehr-Lernprozesses auf den unterschiedlichsten Hörtexten beruht. Zu nennen sind hier vor allem der Kinder-Fernsehsprachkurs Anna, Schmidt

ά Oskar, der Fernseh-

sprachkurs Alles Oute! sowie der Radiosprachkurs Deutsch — warum nicht? Nach Untersuchungen über die Effekte solcher Lernformen in den 70er Jahren (vgl. Brodke 1975; Bufe u. a. 1984 sowie die Bibliographie von Gazdar 1979) stehen sie trotz großer Hörerzahlen und weltweiter Verbreitung erstaunlicher Weise kaum noch im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit (vgl. Jung 1995).

4.2. In Anlehnung an Dirven (1984) lassen sich Hörmaterialien entlang einer Skala von spontan gesprochener bis zu gelesener Schriftsprache auch nach dem Grad ihrer Authentizität gruppieren: a) Spontan gesprochene Hörtexte: Die spontan gesprochene, unvorbereitete Sprache zeichnet sich durch eine besonders starke Häufung der Merkmale gesprochener Sprache aus: die Erkenntnis, gerade im Hinblick auf solche sprachlichen Mittel auch spontan gesprochene Hörtexte in den Unterricht einzubeziehen, hat sich spätestens seit den Vorschlägen von Weydt zur Lehrbarkeit von Partikeln (Weydt 1983; vgl. auch EdelhofT 1985) durchgesetzt. Neben sprachlichen Argumenten wird auch der landeskundliche Wert solcher Hörtexte positiv gesehen. Allerdings werfen „erlauschte Dialoge" oft Probleme der technischen Qualität auf, so dass vielfach auf Mitschnitte von Diskussionen und Interviews aus dem Hörfunk zurückgegriffen wird (vgl. Bauer 1996), die vielfach nicht mehr alle Merkmale spontaner Sprache zeigen. Bei von den Lernenden selbst erarbeiteten Interviews dagegen spielen die akustischen Einschränkungen eine geringere Rolle; Projektunterricht bietet viele Möglichkeiten, authentische Hörmaterialien mit Hilfe der Lernenden zu erarbeiten und auch zum Training des Hörverstehens einzusetzen (vgl. Krumm 1991; Wicke 1995). Spontan gesprochene Hörtexte eignen sich insbesondere für die Entwicklung des Globalverstehens, können auf der Fortgeschrittenenstufe aber auch eingesetzt werden, um die spezifischen Merkmale gesprochener Sprache detailliert zu erarbeiten. Seit den 90er Jahren werden Hörtexte gezielt genutzt, um mit den nationalen oder auch regionalen Varietäten der deutschen Sprache vertraut zu machen; so verfolgt die Hörtextsammlung ,hören Γ (Fritz 1995) zusätzlich das Ziel, auch einen Einblick in die phonologischen, lexikalischen und syntaktischen Qualitäten des Österreichischen Deutsch zu geben. b) Spontan gesprochene, jedoch vorbereitete Texte: Ein großer Teil der dem Hörfunk und Fernsehen entnommenen Hörtexte fallt sicherlich in diese Rubrik; auch bei Interviews u. ä. werden die Originalaufnahmen für Rundfunksendungen in der Regel vorbereitet und oft auch noch geschnitten, so dass eine stärkere Strukturierung vorliegt als bei belauschten Gesprächen. Interviews, Diskussionen, wie sie auch zahlreiche Materialien des

1090 Goethe-Instituts (vgl. die jährlich erscheinende Materialienbroschüre; http://www. goethe.de), von Inter Nationes (vgl. die Materialien zur Landeskunde im jährlichen Programmkatalog; http://www.inter-nationes.de) liefern, enthalten durchweg alle Merkmale gesprochener Sprache, wenn auch Abbrüche und Selbstkorrekturen weniger häufig vorkommen und auch die Aussprache bereits im Hinblick auf eine größere Zuhörerschaft stärker kontrolliert wird (vgl. die Übersicht über die in Frage kommenden Textsorten bei Edelhoff 1985, 15—23). In zahlreichen Prüfungen wird die Fähigkeit, solche spontan gesprochenen Texte zu verstehen, geprüft. So sind für das britische General Certificate of Secondary Education GCSE Textsorten wie Wetterberichte, Rundfunknachrichten und Rundfunkinterviews vorgesehen (vgl. Little u.a. 1989, 114ff.); auch das Österreichische Sprachdiplom Deutsch stellt bereits in der Grundstufenprüfung 1 Höraufgaben mit authentischen Hörtexten, insbesondere Nachrichtensendungen (vgl. Glaboniat 1998, 159ff.). Mit dem in Dublin erscheinenden Materialdienst „Authentik" (http://www.authentik. com) wie auch mit dem „Österreich-Spiegel" (http://www.oesterreichinstitut.at) stehen für den Deutschunterricht regelmäßig erscheinende, d.h. sprachlich und landeskundlich aktuelle Hörmaterialien zur Verfügung, wobei allerdings die Kriterien, nach denen diese Materialdienste die Texte auswählen, nicht präzisiert sind. Beide Materialdienste liefern Transkriptionen sowie einige wenige didaktische Hinweise. Gerade bei Rundfunk- und Ferasehtexten ist der Übergang zwischen vorbereiteten, spontan gesprochenen, und nicht spontan gesprochenen Texten fließend; bei guten Sprechern kann ein Hörer nicht immer erkennen, ob Texte spontan gesprochen oder abgelesen werden. Auswahlkriterium sollte hier sein, dass möglichst viele der das Hörverstehen unterstützenden Merkmale gesprochener Sprache erhalten sind. Einen Sonderfall stellen in dieser Gruppe sicherlich Reden, Ansprachen und Vorlesungen dar, also Texte, die geschrieben wurden, um dann vorgetragen zu werden. Sie werden zwar nicht spontan gesprochen, aber auch nicht auswendig gelernt bzw. nach einem Drehbuch gestaltet. Solche Texte eignen sich insofern gut, als sie bewussten Gebrauch von Mitteln der gesprochenen Sprache machen, also Pausen, Wiederholungen, Betonungen gezielt einsetzen, so dass solche Mittel hier gut zu analy-

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

sieren sind. Andererseits weisen solche Hörtexte weniger Redundanz auf, d. h. sie bedürfen eines gezielten Hörtrainings mit eigenen Übungsformen. Dies gilt ζ. B. für Vorlesungen, die - vor allem auf Grund ihrer semantischen Dichte und spezifischer Merkmale von „öffentlichem Sprachgebrauch" wie ζ. B. rhetorischen Fragen, speziellen Gliederungssignalen — für internationale Studierende eine besondere Schwierigkeit darstellen. Bislang existieren für diese Textsorten kaum geeignete Hörmaterialien (vgl. jedoch Claudia Wiemer/ Dietrich Eggers/Gabriele Neuf (1997): Hörverstehen. 18 Vorträge mit Übungen und methodischen Hinweisen. Ismaning). c) Gedichte, Lieder, auf Tonträger gesprochene Literatur (Hörbücher), Hörspiele, Theaterstücke, Filme u. ä. bilden eine besondere Gruppe: sie verstoßen - so Dirven (1977) - gegen die meisten Regeln der spontan gesprochenen Sprache und weisen eine deutliche Nähe zur geschriebenen Sprache auf (vielfach handelt es sich um auswendig gelernte, „aufgesagte" geschriebene Texte), wobei je nach Textsorte auch bewusste Mischungen von Elementen der gesprochenen und geschriebenen Sprache eingesetzt werden. Unter Aspekten der Motivation sowie literarischer und landeskundlicher Zielsetzungen sind diese Textsorten für den Deutschunterricht von großer Bedeutung. In der Regel steht bei ihnen nicht das Hörverstehen als einzelne Fertigkeit, sondern der thematische bzw. ästhetische Aspekt im Zentrum der unterrichtlichen Betrachtung; Hörverstehen wird — und das ist eine wichtige Funktion solcher Hörtexte — beiläufig mitgeübt, und zwar in der Regel in Interaktion mit anderen Fertigkeiten. Berndt etwa kritisiert an der traditionellen Hörspieldidaktik den vor allem rezeptiven Umgang und entwickelt das Konzept einer „produktiven Hörspielarbeit" (Berndt 1994; zur Arbeit mit Filmen vgl. Schwerdtfeger 1989). Hörspiele, die speziell für den Deutsch als Fremdsprache-Unterricht ausgewählt und von didaktischen Hilfen für die Lehrenden sowie einem Übungsteil begleitet werden, liegen z.B. in einer leider nicht fortgeführten Hörspielreihe des KlettVerlages vor (vgl. insbesondere die Kurzhörspiele Dieter Hirschberg: Hilfe. Stuttgart 1985; Georg Kövary/Evelyn Reben/Roland Bäurle: Gute Nacht allerseits. Drei Kurzhörspiele. Stuttgart 1984; Horst Landau/Evelyn Reben: Das Orakel. Zwei Kurzhörspiele. Stuttgart 1986); auch Inter Nationes bietet

111. Hörmaterialien

Hörspiele an. Eine gewisse Sonderstellung nehmen musikalische Hörspiele ein, die durch die Kombination von Hörtexten und Musik eine besonders motivierende Wirkung ausüben (vgl. den Bericht von Villarmé 1997 zur Arbeit mit einem Stück von Orff sowie die Bearbeitung von Prokofjews Peter und der Wolf M. und R. E. Wicke 1993). In den Arbeitsvorschlägen für diese Hörtexte ist das Hören nur Ausgangspunkt weiter reichender, auf Sprachproduktion zielender Arbeit wie ζ. B. einer Aufführung der Stücke. Gedichte und Lieder haben einen festen Platz zumindest im schulischen Deutschunterricht (vgl. van Eunen 1992), dennoch gibt es erstaunlich wenige speziell für den fremdsprachlichen Deutschunterricht zusammengestellte Gedicht- und Liedsammlungen auf Tonträgern, die Lehrenden zusätzliche Hilfen für die Arbeit - bei Liedern ζ. B. transkribierte Texte sowie Übungsvorschläge — an die Hand geben. Für literarische Texte kann auf die Materialien von Inter Nationes verwiesen werden (ζ. B. Hans Weber: Vorschläge. Bonn 1990), für Lieder seien beispielhaft die aus dem vom Goethe-Institut betreuten Projekt POOL LIFDU Lieder für den Deutschunterricht hervorgegangenen Materialien erwähnt, ζ. B. Mein Gespräch, meine Lieder, Liedermacher im Deutschunterricht. Berlin u.a. 1986 mit ausführlichem Arbeitsbuch. Mit auf a liad (hg. von Maria Hirtenlehner/ Veronika Jax, Wien 1996) liegt auch eine österreichische Liedersammlung für den Deutschunterricht vor, die ein breites Spektrum (modernes Kinder- und Volkslied, Popsong, Chanson) abdeckt. Wie weit die zunehmend vertretene Gattung der (nicht didaktisierten) Hörbücher - auf Kassette oder CD gesprochene literarische Texte - auch im Deutsch als FremdspracheUnterricht eingesetzt wird, ist schwer einzuschätzen. 5.

Hörübungen

Wie weit es gelingt, mit Hörtexten tatsächlich die Verstehensfahigkeit zu entwickeln, hängt in starkem Maße von den Höraufgaben ab; die Art der Aufgabenstellungen entscheidet auch darüber, ob bereits in einem frühen Lernstadium mit komplexen Hörtexten gearbeitet werden kann. Nicht nur verschiedene Textsorten verlangen unterschiedliche Höraufgaben, auch die mit dem Hören verbundenen Lernziele können unterschiedlich sein

1091 und verschiedene Aufgaben erfordern (genauer vgl. Art. 92, Abs. 2 .Hörschulung'). Je nach Lernstand und Lernziel werden dabei die unterschiedlichen Hörstile zum Ausgangspunkt genommen: a) das Einhören bzw. orientierende Hören, bei dem es zunächst einmal um das Vertrautwerden mit Prosodie und Sprechatmosphäre geht, um das Identifizieren von Sprechrollen u. ä. b) das Globalverstehen (extensives Hören), bei dem erste Hörstrategien mobilisiert werden müssen; c) das analytische bzw. selektive Hören, bei dem je nach Aufgabenstellung sprachliche oder auch thematische und situative Aspekte im Vordergrund stehen können; d) das Wort-für-Wort-Verstehen (intensives Hören), das auch zu einer Erweiterung des Wortschatzes beitragen kann. Solmecke fasst die grundsätzlichen Überlegungen für die Gestaltung bzw. Auswahl von Hörübungen in vier Fragen zusammen: 1. Schulen diese Übungen das Textverstehen oder etwas anderes? 2. Steht das Verstehen oder das Behalten im Vordergrund? 3. Gehen die Lernenden mit einer Verstehensabsicht an den Text, die auch außerhalb des Unterrichts denkbar wäre? 4. Unterstützen die den Lernenden im Rahmen der Übung gestellten Aufgaben ihr Bemühen um das Textverstehen oder testen sie dieses? (Solmecke 1993, 46). Die von Adelheid Schumann (1995) entwikkelte Übungstypologie für die Arbeit mit Hörtexten unterscheidet zwischen Übungen zur Hördiskrimination, zur Semantisierung, zur Textstrukturierung, zur Situations- und Intentionsbestimmung sowie zur Erweiterung des Sprachwissens insbesondere im Hinblick auf die gesprochene Sprache. Little u. a. (1989, 3Iff.) legen eine Übungstypologie vor, die vom Textverstehen über Formen des analytischen Hörens zu produktiven Aufgaben führt (vgl. auch die Ausführungen zum Fremdsprachenwachstum in Abschnitt 2). Dahlhaus (1994) orientiert ihre Übungstypologie danach, ob die Aufgaben, vor dem, während des oder nach dem Hören gemacht werden. Als Tendenz lässt sich in allen vorliegenden Vorschlägen die Integration der Fertigkeit Hören in komplexere, interaktive Sprachhand-

1092

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

lungen, d. h. auch, die Verbindung von Hören und Sprechen bzw. Schreiben, festhalten. Mit der interkulturellen Orientierung des Deutschunterrichts wird auch die Frage nach den kulturellen Missverständnissen beim Hörverstehen genauer untersucht. Slembeck (1997, 93 ff.) weist darauf hin, dass Missverständnisse sich nicht erst ereignen, wenn deutliche kulturelle Unterschiede ins Spiel kommen, sondern bereits auf der konkreten sprachlichen Ebene, wenn z.B. Abweichungen von den (muttersprachlich geprägten) erwarteten Aussprache- und Satzstrukturmustern vorliegen. Ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit, Hörverstehensprobleme unter interkulturellen Aspekten zu analysieren, zeigt die Untersuchung deutscher und schwedischer Sprecher durch Baat u.a. (1993). Sie stellen fest, dass Schweden einen Sprecher ausreden lassen „Lata nagon prata til", d. h. eine deutliche Sekunde lang abwarten, ob jemand tatsächlich fertig ist oder nicht, ehe sie das Wort ergreifen. Im Gegensatz dazu verstehen Deutschsprachige eine solche Pause häufig als Ausdruck von Langsamkeit und Unbeholfenheit und nutzen sie, um ans Wort zu kommen. Dies wiederum wirkt auf Schweden aggressiv und dominant. Sprach- und kulturkontrastive Diskursanalysen sind nötig, um spezifische Missverständnisse dieser Art beim Höherverstehensprozess aufzudekken und entsprechende Hörübungen zu entwickeln.

6.

Literatur in A u s w a h l

Baat, Wolfgang u.a. (1993): Deutsche und Schweden. Interkulturelle Unterschiede in Gesprächssituationen. In: Fremdsprache Deutsch. Sondernummer 1993/11, 56-60. Bauer, Hans Ludwig (1996): Alltagsdialoge in Alltagssituationen. In: Peter Kühn (1996), 171-193. Bausch, Karl-Richard; Herbert Christ; Hans-Jürgen Krumm (Hg.) (1995): Handbuch Fremdsprachenunterricht. 3. Erw. Aufl. Tübingen. Berndt, Annette (1994): Produktiver Einsatz von neuen Hörspielen und auditiver Dichtung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. München (Studien Deutsch 19). Brodke, Dieter (Hg.) (1975): Schulfernsehen im fremdsprachlichen Medienverbund. Paderborn; Hannover (Paderborner Werkstattgespräche 6). Bufe, Wolfgang; Ingo Deichsel; Uwe Dethloff (Hg.) (1984): Fernsehen und Fremdsprachenlernen. Tübingen. Buttaroni, Susanna (1997): Fremdsprachenwachstum. Ismaning.

DaF-Curruculum-Kommission der niederländischen Lehrerausbildungsinstitute (Hg.) (1979): Amsterdamer Werkstattgespräch — Lehr- und Lernmaterialentwicklung zur gesprochenen Sprache für DaF-Lehrerstudenten. München. Dahlhaus, Barbara (1994): Fertigkeit Hören. Berlin u. a. (Fernstudieneinheit 5). Dirven, René (Hg.) (1977): Hörverständnis im Fremdsprachenunterricht — Listening comprehension in foreign language teaching. Kronberg. - (1984): Was ist Hörverstehen? Synopse vorhandener TTieorien und Modelle. In: Adelheid Schumann; Klaus Vogel; Bernd Voss (Hg.), Hörverstehen: Grundlagen, Modelle, Materialien zur Schulung des Hörverstehens im Fremdsprachenunterricht der Hochschule. Tübingen. 19-40. Edelhoff, Christoph (Hg.) (1985): Authentische Texte im Deutschunterricht. Einführung und Unterrichtsmodelle. München. Gadzar, Aban (1979): Fremdsprachenlernen mit Hörfunk und Fernsehen. Eine Bibliographie ausgewählter Fachliteratur. München (Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen, Bibliographischer Dienst Nr. 2). Glaboniat, Manuela (1998): Kommunikatives Testen im Bereich Deutsch als Fremdsprache. Innsbruck. Henrici, Gert (1995): Spracherwerb durch Interaktion? Eine Einführung in die fremdsprachenerwerbsspezifische Diskursanalyse. Baltmannsweiler. Honnef-Becker, Irmgard (1996): Hörverstehen in Sprachlehrwerken Deutsch als Fremdsprache. In: Peter Kühn (Hg.), 45-77. Jung, Udo H. (1995): Fremdsprachen durch Massenmedien. In: Karl-Richard Bausch u.a. (Hg.), 129-134. Krashen, Stephen D.; Tracy D. Terrell (1988): The Natural Approach. Language Acquisition in the Classroom. New York u. a. Krumm, Hans-Jürgen (Hg.) (1991): Unterrichtsprojekte. München (= Fremdsprache Deutsch, Heft 4). Kühn, Peter (1996): Hörverstehen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Frankfurt a. M. u. a. Little, David; Sean Devitt; David Singleton (1989): Learning foreign languages from authentic texts: theory and practice. Dublin. Ortner, Brigitte (1998): Alternative Methoden im Fremdsprachenunterricht. Ismaning. Schumann, Adelheid (1995): Übungen zum Hörverstehen. In: Karl-Richard Bausch u.a. (Hg.), 244-246. Schwerdtfeger, Inge C. (1989): Sehen und Verstehen. Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin u. a. Schwitalla, Johannes (1997): Gesprochenes Deutsch: eine Einführung. Berlin (Grundlagen der Germanistik 33).

1093

112. Audiovisuelle Medien Slembeck, Edith (1997): Mündliche Kommunikation — interkulturell. St. Ingbert. Solmecke, Gert (1993): Texte hören, lesen und verstehen. Berlin u. a. - (1996): Authentische Texte - authentisches Hören? In: Peter Kühn (1996), 7 9 - 9 2 . Van Eunen, Kees (1992): Life is music — oder etwa nicht? Lieder im Deutschunterricht. In: Fremdsprache Deutsch 7, 39-43. Villarmé, Stefanie (1997): Der Mond - ein kleines Welttheater von Carl Orff. In: Fremdsprache Deutsch 17, 39-43.

Weijenberg, Jan (1980): Authentizität gesprochener Sprache in Lehrwerken Deutsch als Fremdsprache. Heidelberg. Weydt, Harald u.a. (1983): Kleine deutsche Partikellehre. Stuttgart. Wicke, Mariele und Rainer E. (Bearbeitung) (1993): Serge Prokofjew: Peter und der Wolf. München (Stundenblätter Deutsch als Fremdsprache). Wicke, Rainer Ernst (1995): Kontakte Berlin u. a. (Fernstudieneinheit 9). Hans-Jürgen

Krumm,

Wien (

knüpfen.

Österreich)

112. Audiovisuelle Medien 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Vorbemerkung Das Sprachlabor Der Film Das Fernsehen Spezifische Arbeitsformen mit Video Perspektiven Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkung

Die beiden Bestandteile des aus dem Lateinischen stammenden Fachbegriffs audio-visuell bezeichnen zwei Medien, die beim Erwerb einer Fremdsprache von großer Bedeutung sind, das Hör- und das Bildmedium. Natürlich sind Hören und Sprechen äußerst eng miteinander verbunden, bei der Wahrnehmung gehören Bild und Ton zusammen (vgl. Art. 104). In der neueren europäischen Geschichte des Fremdsprachenunterrichts spielt das Bild seit Comenius (wieder) eine wichtige Rolle. Reine, isoliert eingesetzte Ton- und Bildträger interessieren uns hier nicht, und die beiden Medien getrennt, aber dennoch zueinander in Beziehung gesetzt, nur ganz am Rande. Dabei handelt es sich hauptsächlich um das elektronische Klassenzimmer und das Sprachlabor — Inbegriff der „audio-visuellen" Methode. Da aus unterschiedlichen Gründen der Film kaum mehr verwendet wird, bleibt heute als das audio-visuelle Medium schlechthin das Fernsehen/MAZ (Magnetische Aufzeichnung)/Video. Schließlich bieten auch die neuesten elektronischen Medien eine Verbindung von Ton und Bild, die noch weit über die Möglichkeiten von Fernsehen und Video hinausgehen, da sie „interaktiv" sind, da diese sog. Hypermedia einen

Dialog mit dem Benutzer erlauben (vgl. Art. 113). Der folgende Artikel konzentriert sich jedoch auf die ,klassischen' Medien, nicht zuletzt, weil diese von den Kosten und ihrer Verbreitung her immer noch im Zentrum des mediengestützten Fremdsprachenunterrichts stehen. 2.

Das Sprachlabor

Man verwandte und verwendet das Sprachlabor überall dort, wo man - meistens auf Grund institutioneller Vorgaben - der audiovisuellen Methode verhaftet ist. Das ihr zugrunde liegende behavioristische Lernmodell hat sich zwar als unzutreffend erwiesen, die Isolation vor allem jüngerer Schüler in „Zellen" hat oft zur Zerstörung der Labore geführt, der Mangel an Transfer, der Übertragung des in der Laborsituation Gelernten in die Sprachwirklichkeit hat daher zu der Einsicht geführt, dass das Sprachlabor eher für kurze Unterrichtssequenzen wertvolle Dienste leistet (vgl. Dakin 1973): - im Selbststudium - für die Ausspracheschulung — für kurze, wohlüberlegte Übungsphasen: pattern-drills, — Transkriptionsübungen, — Lückendiktate, - Introspektionsübungen beim Übersetzen u. ä. Tritt dabei das Diapositiv als zusätzliche Lernhilfe hinzu, so kann zumindest die Lernmotivation eine Steigerung erfahren. Auf der anderen Seite kann man wohl behaupten,

1094

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

dass die beschriebenen Leistungen durchweg auch von einem isolierten Kassettenrekorder erbracht werden können. Erwägt man das Für und Wider, so hat das Sprachlabor im gesteuerten Fremdsprachenunterricht mit größeren Gruppen den Vorteil, dass jeder Teilnehmer öfters zu Wort kommt. Da der Lehrer weiterhin nur wenige Minuten hat, jeden einzelnen zu überprüfen und zu korrigieren, können sich Fehler einschleichen und für immer festsetzen. Fasst man diese kurze Diskussion zusammen und fügt hinzu, dass auf der technischen Seite ein ziemlich hoher Anschaffungspreis und die Wartungskosten hinzu kommen, so erklärt dies, dass das Sprachlabor als audio-visuelles Medium zu einem „ungeliebten Bastard" (Nübold 1992) geworden ist.

3.

Der Film

Seit vor genau einhundert Jahren festgestellt wurde, dass das menschliche Auge ein Bild, das mehr als achtzehnmal in der Sekunde projiziert wird, als bewegt aufnimmt, hat der Film seinen Siegeszug angetreten. Zum Ton kamen die Farbe und immer neue Projektionsformate bis zu Super-8 hinzu, die es auch dem Fremdsprachenlehrer erlaubten, Filme im Unterricht zu verwenden. Die technischen Nachteile, so vor allem die Notwendigkeit, das Gerät heranzuschaffen, das oft komplizierte Einlegen des Filmes, die Abdunkelung des Raumes, haben es mit sich gebracht, dass viele vor dem Medium zurückschreckten und es heute keine nennenswerte Rolle mehr spielt, sieht man von Filmvorführungen im Bereich von Literatur und Landeskunde ab, die aber meist außerhalb des Unterrichts veranstaltet werden.

4.

Das Fernsehen

Fernsehen (mit welcher Technik auch immer, also auch als Magnetische Aufzeichnung MAZ) und Video haben sich zu dem audiovisuellen Medium des Fremdsprachenunterrichts schlechthin entwickelt. Sie bieten authentische Texte, d. h. Texte, die nicht für den Fremdsprachenunterricht bestimmt sondern aus realen Sprachverwendungssituationen entnommen sind. Sie fördern den Lernprozess ungemein, indem sie nahezu die gesamte Kommunikationswirklichkeit bieten, neugierig machen auf quasi-lebendige Menschen. Dennoch: riechen, tasten und berühren kann der Betrachter das Gesehene und Gehörte

nicht, und er kann nicht in einen Dialog mit den handelnden Personen eintreten. Mit gewissen Einschränkungen ist Fernsehen heute, hauptsächlich über Satellit vermittelt, weltweit zu empfangen. Das ist vor allem unter landeskundlichen Aspekten von größtem Wert (vgl. Art. 107). Sprachlernfilme, mit Begleitmaterial und als Fernkurs, manchmal mit Kontaktphasen, ergänzen institutionalisierten Fremdsprachenunterricht oder stellen eine Alternative zu diesem dar. Die direkt übertragene Fernsehsendung allerdings bringt in Schule oder Universität immer noch Nachteile mit sich. Denn nicht immer fallen Sendezeit und Unterrichtszeit zusammen, und der Fernsehfilm kann nicht angehalten, unterbrochen werden für Erklärungen. Schließlich lässt die Programmvorschau nicht immer eine eindeutige Entscheidung über die Eignung eines Filmes zu. Mitschnitte erlauben es dagegen, ein vielseitiges, immer wieder verwendbares und auch manipulierbares Videoarchiv anzulegen. Sprachlehrfilme, wie sie im Wesentlichen durch das Goethe-Institut in der Regel in Zusammenarbeit mit Inter Nationes produziert und den Fernsehanstalten zur weltweiten Ausstrahlung zur Verfügung stehen, werden, um die genannten Nachteile abzugleichen, in der Regel auch in Form von Videokursen mit Begleitmaterial angeboten, so dass eine von der Sendezeit unabhängige Arbeit entweder im Rahmen von begleitenden Sprachkursen oder aber im Selbststudium möglich ist (vgl. Art. 107).

5.

Spezifische Arbeitsformen mit Video

Wenn wir im Zusammenhang mit Fremdsprachenunterricht von Video sprechen, so meinen wir einerseits Mitschnitte des öffentlichen Fernsehens (Spielfilme, dokumentarische Sendungen u. ä.), andererseits aber auch mit der Videokamera für Lehr- und Lernzwecke selbst hergestellte Kurzfilme (vgl. Brandi 1996). Grundsätzlich ist zu bedenken, dass jedweder Fremdsprachenunterricht vielfaltigen Bedingungen unterliegt, gesellschaftlich-politischen, zu denen auch materielle zu rechnen sind ebenso wie individuellen und situationsbedingten. In dieses komplizierte Bedingungsgeflecht sind auch die Medien, in unserem Fall das audio-visuelle Medium Video einzuordnen. Ob es und wie es verwendet wird und den Lernprozess fördert, hängt auch von der Methode oder den methodi-

1095

112. Audiovisuelle Medien

sehen Prinzipien ab, die der Lehre und dem Lernen zugrunde liegen. Wir können dieses Gefüge sehr verknappt so darstellen (s. Abb. 112.1): Lehrer — Sprache — Schüler Î

audio-visuelle(s) Medium/Medien Î Medien Î Methode/Prinzipien Abb. 112.1: Unterrichtsbedingungen.

Videotexte sind zunächst solche, die der sprachlichen und außersprachlichen Rezeption von Kommunikationswirklichkeit dienen, was durchaus hoch einzuschätzen ist. Präsentations- und Übungsformen sollten aber so gestaltet werden, dass Selbsttun, Kreativität und kritische Einstellung gegenüber dem Medium gefördert werden. In idealen Fällen stellen Fremdsprachenlerner eigene Filme her. Beide Textsorten, rezeptive und produktive, können als Informations- oder Instrumentaltexte dienen, als Texte also, die

einerseits die zielsprachliche Kultur und Sprache sichtbar und hörbar, auf sie neugierig machen und motivieren, sich damit auseinanderzusetzen, mit der eigenen Kultur und Sprache zu vergleichen, oder andererseits als sprachliches und landeskundliches Übungsmaterial genutzt werden können. Der Einsatz von Videofilmen als Informations- oder Instrumentaltexten hängt nicht nur von den Lehrzielen ab - was selbstverständlich ist, sondern in ganz hohem Maße auch vom Sprachniveau. Videomitschnitte sind der „Alltag" der Spracharbeit mit Video. Es gibt hervorragende Filme, die über „Land und Leute" informieren. Sie bieten die beste Chance, in anderen, weit entfernten Ländern zielsprachliche Kultur lebendig werden zu lassen. Das Satellitenfernsehen stellt dafür alle denkbaren Möglichkeiten bereit. Allerdings bergen die kommerziellen Mitschnitte auch Gefahren in sich. Es kann ein falsches Bild des Zielsprachenlandes vermittelt werden; der Film kann so gestaltet sein, dass er Lernen behindert oder verhindert; auch spielen juristische Aspekte mit. Gerade Sprachlernfilme, mit denen die Verlage verständlicherweise auch kommerzielle Ziele verfolgen, zeichnen oft

Medientext

Nicht für den FSU bestimmte Texte

Für den FSU bestimmte Texte

2. 2

2.1 Mitschnitt

Dienen als

Fremde Produktionen

Informationstext der interkulturellen Kommunikation

Abb. 112.2: Medientexte.

Produktionen des Lehrenden

oder

2.3 Didaktisierung durch die Lernenden

Instrumentaltext der Spracharbeit: - Systemgrammatik - komplexe Sprachfertigkeiten - Fachsprachvermittlung

Informa- oder tionstext dem Erlernen des Lehrens

Instrumentaltext dem Erlernen des Lernens und dem Fremdsprachenerwerb

1096

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

ein Deutschlandbild, das der sozialen Wirklichkeit nicht entspricht. Es werden Hochglanzbilder vom Leben im gelobten Land entworfen, die völlig falsche Vorstellungen entstehen lassen - bei Germanistikstudierenden oft jenes von einem Lande, in dem Stipendien vom Himmel fallen. Hier müssen die Lehrerinnen viel eigene Kompetenz besitzen, auch andere Medien einsetzen, um das falsche Bild zu relativieren. Diese Bemerkung soll als eine Warnung in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Es gibt natürlich auch Filme, die äußerst bemüht sind, ein objektives Bild zu zeichnen, aber ein solches ,objektives' Bild kann es nicht geben, allein wegen der Uneinheitlichkeit, wegen der Unfassbarkeit moderner westlicher Kulturen (vgl. Art. 4 und 96) — von wahrnehmungstheoretischen Problemen einmal abgesehen: jeder Film ist subjektiv und manipuliert, auch ungewollt. Das gilt auch für jene Filme, die gerade aus diesem Dilemma heraus die Darstellung von „Wirklichkeit" ironisch überhöhen und damit das Lerngeschehen noch mehr belasten. Der zweite Teil der Warnung: Wir müssen uns dringend hüten, die westeuropäische Unterrichtswirklichkeit mit ihren enormen Möglichkeiten für selbstverständlich zu halten, unsere Methode ungefragt weiterzugeben. Vielmehr ist zu bedenken, dass in vielen Ländern beschränktere Möglichkeiten bestehen und die Vorführung der westeuropäischen Konsumgesellschaft Resignation oder auch Zorn hervorruft und Möglichkeiten der Relativierung nicht gegeben sind (vgl. Nestvogel 1991). Kommerzielle Filme folg(t)en häufig dem M u s t e r v o n Western, action-film,

Krimi.

Es

wird Spannung erzeugt durch — alles zusammengenommen - zu viel „Tempo": Kamerabewegungen, Zoom, Frequenzaufbau und Schnitt, Uberlagerung, d. h. gleichzeitige Verwendung aller Informationsebenen: Sprache, Schrift und Musik, dem Bildgeschehen noch überlagert. Das alles führt in der Tat zu Spannung; die Hektik des Erlebten führt aber auch zu erhöhtem Adrenalinausstoß und damit zu einem ca. 80prozentigen Informationsverlust. Ein Lernprozess findet also nicht statt. Nun verzichtet man auf so gemachte Spielfilme ohnehin im Fremdsprachenunterricht. Sie sind zu lang, nicht oder kaum sequenzierbar und von belanglosem inhaltlichen Interesse. Aber leider sind oft auch andere, wegen ihres Sujets gut verwendbare Reportagen, Features usw. von dieser Machart und müssen ausscheiden. Die juristische Lage bei der Verwendung von Videomitschnitten sei

nur gestreift: Es gibt keine einheitliche Rechtsprechung, vorliegende Gutachten sind widersprüchlich, auch ist die Situation in den einzelnen Ländern unterschiedlich. Mit dem Blick auf die Praxis sei gesagt: - Sog. geschlossene Gruppen, eine Schulklasse oder ein Universitätsseminar (im deutschen Sinne) dürfen Mitschnitte verwenden; alles, was nach öffentlicher Aufführung aussieht, schließt das Abspielen von Mitschnitten aus: eine Universitätsvorlesung oder ein Vortrag in der Volkshochschule; - Ausnahmen sind möglich, wenn es sich um kurze Ausschnitte handelt, deren Länge nicht präzise definiert wird und die als Zitate gelten. Das gilt auch für wissenschaftliche Arbeiten; - Nach dem „Deutschen Schulfunkparagraphen" dürfen Mitschnitte ein Jahr aufbewahrt und verwendet werden, müssen nach Ablauf des Kalenderjahres gelöscht werden. Videotexte als Instrumentaltexte zu „missbrauchen", ist immer dann gerechtfertigt, wenn keine anderen Mittel zur Verfügung stehen. Beispiele könnten sein: Die Verwendung von Diskussionsverhalten, Modalpartikeln in öffentlicher Rede, Frauensprache, Jugendsprache (Fernsehdiskussionen) — dies alles lässt sich - authentisch - nicht oder kaum, und auf jeden Fall nicht ganzheitlich, durch Lehrbuchtexte illustrieren. Allerdings, die Adjektivflexion durch ein auf den Bildschirm projiziertes Paradigma darzustellen, wäre nicht zu rechtfertigen. Die Gretchenfrage lautet: Was kann mit diesem Medium besser erreicht werden als mit anderen, oder zumindest unter gegebenen Umständen besser? Es steht außer Zweifel, dass das nahezu immer im Bereich des fachsprachlichen Fremdsprachenunterrichts der Fall ist (vgl. ζ. B. die vom Goethe-Institut München herausgegebenen Videomaterialien

für

Wirtschaftsdeutsch).

Für die Lehrenden stellt sich die schwierige Frage, welche Filme sie aussuchen sollen, wie sie sie einsetzen, bearbeiten und archivieren können, um sie bei Bedarf schnell wiederzufinden und auch anderen Lehrenden empfehlen und zugänglich machen zu können. Man kann natürlich auf die kommerziell von Lehrbuchverlagen bzw. durch das Goethe-Institut und Inter Nationes angebotenen Videotexte zurückgreifen, von denen man vermuten darf, dass sie sich als geeignet für den Deutschunterricht oder die Landeskunde erwiesen haben; häufig liegen diesen bereits

1097

112. Audiovisuelle Medien

Vorschläge für den Einsatz im Unterricht bei. Doch ist das Angebot begrenzt und entspricht sicher nicht immer den Interessen der jeweiligen Zielgruppe oder den Zielsetzungen des Curriculums. Das Suchen nach Texten, auch das nach Videotexten, stellt auch in diesem Zusammenhang die Hauptarbeit bei der Unterrichtsvorbereitung dar. Für die Didaktisierung (Einstieg, Sequenzierung, Nachar-

beit) sei auf die Vorschläge von Brandi (1996) verwiesen. Ein einmal vorbereiteter Film sollte dann allerdings, falls sein Inhalt es zulässt, auch über einige Zeit hinweg eingesetzt werden. Der folgende Beurteilungsbogen soll die Auswahl von Videotexten erleichtern (und ist hoffentlich auch ohne detaillierten Kommentar verständlich):

Dauer:

Titel: Quelle: Beschreibung in Stichworten

Eignung für Anfanger

Fortgeschrittene

Situation - Ort - Zeit - Sozio-kultureller Hintergrund

geringes Vorwissen

grösseres Vorwissen

Sprecherzahl

gering

Kommunikationsart — Monolog — Dialog — Chor

X

(x) X (χ)

Rollenkonstellation — gleichberechtigt — bevorrechtigt — untergeordnet

Sprachniveau — Hoch (z. B. Bühnen-)sprache — Standardsprache — Soziolekt — Dialekt — Ideolekt — Jargon — Sondersprache — Fachsprache Grad der Vorbereitetheit — vorbereitet — „halbspontan" — spontan Bild-Ton-Relation — redundant — komplementär — parallel — konträr

X

X X X X (χ)

X

X X X (χ) (χ) X X

X 00

X X X

X

X XX X

Öffentlichkeitsgrad — öffentlich — halböffentlich — nichtöffentlich — privat — sonst (z. B. innerer Monolog)

1098

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

Redemittel Parasprache - Gestik — Mimik Körpersprache — Intonation — Betonung — Tempo — Pausen — Timbre Zeitaspekt — vorzeitig — gleichzeitig — nachzeitig — nicht-linear Intention des Autors — (objektivere) Darstellung — (subjektivere) Belehrung — Abbilden von Interaktionen Textsorten — Nachricht/Meldung — Kommentar — Reportage — Bericht/Dokumentarsendung/Porträt — Dialog/Interview — Live-Sendung — Diskussion — Feature — Magazin Verwendung als — Instrumentaltext — Informationstext

χ X

X X X X

X X

X X X

X X X X

X X X X X X X X X

(χ)

X X

Abb. 112.3: Beurteilungsbogen für Videotexte.

Eigenschaften von Filmen, die für die Zwecke des Deutschunterrichts geeignet und günstig sind, müssen bei der Auswahl, bei der Bearbeitung und bei Eigenproduktionen beachtet werden. Positiv gewendet, fasse ich diese so zusammen: - „Langsame", ruhige Filme - Landeskundlich möglichst „objektive" Darstellung - viele Leerstellen, Neugier erweckende Szenen, die zu eigener Stellungnahme, zu kreativem Umgang einladen - sprachlich „angemessene" Filme (s. das Beurteilungsraster) - kurze (höchstens 15minütige) Filme, die sich unterteilen lassen in kürzere, ein- bis dreiminütige Sequenzen. Solche Unterteilungen muss die Lehrerin, muss der Lehrer vornehmen, was sich mit re-

lativ einfachen Mitteln erreichen lässt. Kann man nicht kopieren, so kann man schlicht stoppen. Man kann den Ton ohne Bild, das Bild ohne Ton weiterlaufen lassen usw. Für die Lernenden sollte immer deutlich sein, dass Video nicht der Unterhaltung dient, keine Belohnung oder ein Pausenfüller ist, sondern ein Medium, mit dem ebenso ernsthaft wie mit dem Lehrbuch und anderem, aber auf günstigere Weise gearbeitet wird (vgl. Erdmenger 1992; Raasch 1992). Wo und wann immer es möglich ist, sollten Lehrer und Schüler Filme, die ihnen und anderen im Lehr-/Lernprozess dienen, selbst herstellen. Freilich gilt die obige Einschränkung: Wo ist das möglich? Allein, das Drehen eines Filmes zu einem Inhalt, zu einem Lernobjekt, der Schüler wirklich interessiert, zeitigt Lernerfolge, die auf andere Weise nicht erreicht werden, vielleicht und nur beispiels-

112. Audiovisuelle Medien weise denen des kreativen Schreibens oder des TANDEM-Lernens gleichzustellen sind (vgl. die Anregungen bei Bufe zur Verwendung der Videokamera im interkulturellen Fremdsprachenunterricht — Bufe 1992). Video eignet sich darüber hinaus, um das Lernen zu lernen: Wenn Lehrer Filme für ihre Schüler herstellen, vielleicht um bestimmte Inhalte zu transportieren, und noch besser, wenn Schüler Filme allein oder mit ihren Lehrern drehen, ist das Lerngeschehen „selbstbestimmt", motiviert, macht Spaß und ist wie von allein von vielerlei Erfolg gekrönt. Video-Selbstproduktionen lassen sich in die Tradition der Freinet-Pädagogik einpassen, d. h. eines Unterrichtskonzeptes, das versucht, Lernende im Unterricht in Kontakt mit der außerunterrichtlichen Wirklichkeit zu bringen und sie zu einem kreativen Umgang mit Sprache zu befähigen (vgl. Dietrich 1995), sie lassen sich aber auch in anderen Kontexten wie z. B. beim TANDEM-Lernen und anderen kreativen und lernerautonomen Versuchen einbeziehen (vgl. B.-D. Müller 1989). Das Besondere bei Video-Selbstproduktionen gegenüber anderen kreativen Arbeitsformen ist das Medium: Zweitonkanal und Untertitelung fremdsprachlicher Filme erlauben ein spezifisches produktives Arbeiten — Lernende können z.B. selbst Untertiteln oder „live" übersetzen. 6.

Perspektiven

Während der klassische Film in seinen verschiedenen technischen Darbietungsformen für den Fremdsprachenunterricht ebenso wie das Sprachlabor an Attraktivität verliert, dürfte das Medium Fernsehen/Video auch neben den elektronischen Medien seine Bedeutung für einen lebendigen Sprachunterricht behalten. Allerdings sind seine Möglichkeiten so umfassend, dass bis jetzt keine spezifische Übungstypologie existiert. Zahlreiche mögliche Übungsformen decken sich mit auch sonst im Fremdsprachenunterricht gängigen Übungsformen, bedürfen aber einer medienspezifischen Anwendung (Anregungen hierzu bei Schwerdtfeger 1989, Brandi 1996). Auch gibt es noch keine verlässliche Darstellung für filmische Textsorten. Auch bei den Fernsehfachleuten, den Filmemachern gehen die Bezeichnungen durcheinander. Beispielsweise lässt sich nicht genau bestimmen, was denn ein feature sei, eine Textsorte, die in Radio und Fernsehen oft vorkommt, oder welche Übungsformen für Textsorten wie Spielszene,

1099 Nachrichten, Mediendialoge, Werbung, dokumentarische Sendeformen, didaktische Sendeformen, Musikvideos usw. besonders geeignet sind und deren sprachliches und landeskundliche Potential ausschöpfen. Deshalb sollen abschließend drei große Bereiche genannt werden, die eher Lehr- und Lernziele bezeichnen und denen bestimmte Übungstypen zugeordnet werden können: 1. Globale Information und Motivation 1.1. Seh- und Hörverstehen ganz allgemein, Neugierigmachen auf „lebendige" Menschen, Personenbeschreibung, Situationsbeschreibung z. B. bei Trennung von Bild- und Ton-Kanal 1.2. Parasprache: Körpersprache, Gestik, Mimik, Raumverhalten: beobachten und spekulieren, diskutieren 1.3. Kontrastive Analyse: Wie würden Sie oder Ihre Landsleute sich in einer solchen Situation verhalten? 1.4. Filmbearbeitung, aktives Umgehen mit Video: Gliederung des Filmes oder einzelner Sequenzen in Bezug auf Themenwechsel, atmosphärischen Wechsel, Sequenzierung 1.5. Größtmögliche Authentizität: Transkriptionsübungen z. B. von regional gefärbter Rede 2. Kritisches Hören und Sehen 2.1. Filmanalyse: Kameraführung, Perspektive, Schnitte, Bild-Tonverhältnis, Musik 2.2 Inhaltsanalyse: objektiv, subjektiv, aktuell u. a. 2.3. Linguistische Analyse: Redemittel, Fragetechnik bei Interviews, Öffentlichkeitsgrad u. a. 2.4. Vergleich der Textvorlage mit der filmischen Realisierung bei Literaturverfilmungen 3. Durch die Videotechnik ermöglichte Übungsformen 3.1. Rollenspiele u. a. vor der Kamera 3.2. Besondere Trickverfahren: Darstellung von Sprache durch Hände, Marionetten, die gefilmt werden 3.3. Vertextung eines (selbst gedrehten oder fremden) Filmes durch die Schüler 3.4. Videolearning: Schüler filmen andere Schüler und sich selbst im Unterricht, machen eine kritische Analyse 3.5. Videokorrespondenz: Austausch von selbst produzierten Videostreifen in zwei Zielsprachen

1100

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

3.6. Sprachsensibilisierung: (a) eher rezeptive Auseinandersetzung mit Filmen, die die zu lernende Sprache und Kultur „schmackhaft" machen; (b) Videointerviews im Zielsprachenland besonders zu einzelnen Begriffen, Semantisierungsproblem 3.7. Eigenproduktionen

7.

Literatur in Auswahl

Altmann, Rick (1989): The Video Connection - Integrating Video Into Language Teaching. Boston. Brandi, Marie-Luise (1996): Video im Deutschunterricht. Berlin/München. (Fernstudieneinheit 13). Bufe, Wolfgang (1992): Der Einsatz der Videokamera im interkulturellen Fremdsprachenunterricht. In: Udo O. H. Jung (Hg.), 199-213. Comte, Carmen (1993): La vidéo en classe de langue. Paris. Dakin, Julian (1973): The Language Laboratory and Language Learning. London. Dietrich, Ingrid (Hg.) (1995): Handbuch FreinetPädagogik. Weinheim/Basel. Dobra, Felicitas; Anne Freitag (1990): Video im Überblick. Eine Bibliographie: 1984-1988. In: DaF 1, 45-53. Ehnert, Rolf; Hans-Eberhard Piepho (Hg.) (1986): Fremdsprachen lernen mit Medien. Festschrift für Helm von Faber zum 70. Geburtstag. München.

Erdmenger, Manfred (1992): Die Arbeit mit dem Videorekorder. In; Udo O. H. Jung (Hg.), 177-187. Esselborn, Karl (1991): Beurteilungskriterien für adiovisuelle Lehrmaterialien. In: ZD 2, 64—78. Jung, Udo O. H. (Hg.) (1992): Praktische Handreichung für Fremdsprachenlehrer. Frankfurt a. M. (Bayreuther Beiträge zur Glottodidaktik 2). Müller, Bernd-Dietrich (1989): Anders lernen im Fremdsprachenunterricht. Berlin/München. Müller, Helmut (1989): Audiovisuelle Medien. In: Karl-Richard Bausch u. a. (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht, 266—268. Nestvogel, Renate (Hg.) (1991): Interkulturelles Lernen oder verdeckte Dominanz? Frankfurt a. M. Nübold, Peter (1992): Das Sprachlabor: Vom Hätschelkind zum ungeliebten Bastard. Im Udo O. H. Jung (Hg.), 165-175. Raasch, Albert: Arbeiten mit Video. Im Udo O. H. Jung (Hg.), 189-198. Röllecke, Renate (1991): Vom medialen Ersatzlehrer zum Diskussionsanlass. Dokumentarische Filme und audiovisuelle Rezeptionskompetenz im Fremdsprachenunterricht. In: Info DaF 405—419. Schwerdtfeger, Inge C. (1989): Sehen und Verstehen. Arbeit mit Filmen im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Berlin etc. Video in Sprachlehrveranstaltungen Deutsch als Fremdsprache. Dokumentation der 3. Internationalen Fachtagung (1983). (= Info DaF Jahrgang 1983/ 84, Nr. 4,4-68. Rolf Ehnert, Bielefeld

(Deutschland)

113. Elektronische Medien 1. 2. 3. 4. 5.

8. 9.

Vorbemerkung Begriffsklärung Historischer Überblick Spezifika des Mediums Computer Problematische Aspekte des Computereinsatzes im Fremdsprachenunterricht Typen von im Fremdsprachenunterricht verwendbaren Computerprogrammen Zur Didaktik computerunterstützter Aktivitäten im Sprachunterricht Ausblick Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkung

6. 7.

Angesichts der ausgesprochen schnellen Entwicklung auf dem Sektor der elektronischen Medien kann in diesem Artikel nicht auf ein-

zelne Anwendungen (Software) oder Geräte (Hardware) eingegangen werden, da die Angaben allzu rasch veralten würden. Es soll hingegen versucht werden, einen Einblick in die Möglichkeiten, Probleme und Entwicklungsperspektiven des Mediums zu geben. Für aktuelle Informationen (Programmbeschreibungen, Gerätekonfigurationen etc.) muss auf Fachzeitschriften sowie auf die Informationsmöglichkeiten im Internet verwiesen werden. Wo immer möglich, wurde versucht, deutsche Terminologie zu verwenden, auch wenn das im Computerbereich oft selbst dann nicht gemacht wird, wenn deutsche Bezeichnungen existieren. In den Fällen, in denen die deutschen Ausdrücke eher ungebräuchlich sind, wurden die englischen Begriffe in Klammern hinzugefügt, um Unklarheiten zu vermeiden.

113. Elektronische Medien 2.

Begriffsklärung

Der Begriff „elektronische Medien" kann sehr weit gefasst werden und umfasst dann einen Großteil der im Unterricht verwendeten modernen Bild- und Tonmedien (ζ. B. Videorekorder oder CD-Spieler) (vgl. Art. 104). Hier soll aber ein engeres Verständnis von elektronischen Medien zugrunde liegen, ein Bereich, der oft auch als neue elektronische Medien bezeichnet wird. Wir folgen dabei der Definition von Tulodziecki (1996, 12): „Unter der Bezeichnung ,neue elektronische Medien' werden computerbasierte Systeme verstanden, mit Hilfe derer Text, Bild, Film oder Ton präsentiert oder verarbeitet werden können." Noch detaillierter lässt sich unser Gegenstandsbereich mit der englischen Abkürzung CALL (für: computer assisted language learning = computerunterstützter Sprachunterricht) bezeichnen. Nach Hardisty/Windeatt (1989, 50) bezeichnet dieser Terminus den Gebrauch von Computern als Teil eines Sprachkurses, d.h. als ein Unterrichtsmedium im Sprachunterricht wie Lehrbuch, Wandtafel oder Kassettenrekorder. Damit ist bereits gesagt, dass wir nicht davon ausgehen, dass Unterricht mit Computer(n) etwas grundsätzlich anderes ist als der Unterricht mit beliebigen anderen Medien. Der Kürze halber wird im folgenden vom Computer als Medium die Rede sein, obwohl im computerunterstützten Sprachunterricht strenggenommen oft nicht der Computer, d. h. der Rechner selbst das Medium ist, sondern verschiedene Peripheriegeräte. 3.

Historischer Überblick

Der Einsatz von elektronischen Rechnern im Unterricht kann bereits auf eine fast vierzigjährige Tradition zurückblicken. In den sechziger und siebziger Jahren arbeiteten Experten zunächst in den USA und später auch im deutschsprachigen Raum an sogenannten Lehrmaschinen (vgl. Klotz 1967; Corell 1970), die nach den Vorstellungen des Behaviourismus den Lernstoff in viele kleine, jeweils leicht zu erlernende Einzelschritte aufteilten und präsentierten. Dieses Verfahren wurde als „Programmierte Instruktion" bezeichnet und diese Art von Didaktik wurde zunächst als besonders geeignet für den Unterricht mit Computern angesehen (vgl. Rüschoff 1988, 8; Dodigovic 1994, 185). Angesichts der geringen Fortschritte und sehr beschränkten di-

1101 daktischen Möglichkeiten schliefen die Aktivitäten auf diesem Sektor jedoch allmählich ein. An den Universitäten wurden dann nach und nach zur Bewältigung verschiedener wissenschaftlicher Aufgaben, vor allem im naturwissenschaftlichen und statistischen Bereich, Großrechenanlagen, sogenannte Mainframes, eingerichtet, an die eine größere Anzahl von Terminals, Computerarbeitsplätze ohne eigene Rechen- und Speicherkapazität, angeschlossen waren. In den USA begann man schon in den sechziger Jahren, diese Großrechner auch für den Fremdsprachenunterricht zu nutzen. Aufwendige Großprojekte wurden teils mit Unterstützung der Computerindustrie durchgeführt, verschiedene Probleme standen jedoch einer größeren Verbreitung dieser Art des computerunterstützten Unterrichts entgegen: Dazu gehörten technische Schwierigkeiten wie die aufwendige Programmierung und Instandhaltung der Systeme, die hohen Kosten und der Mangel an geschultem Personal, aber auch grundsätzliche Erwägungen, die die mangelnde didaktische Qualität und geringe Effizienz von computerunterstütztem Unterricht betrafen (vgl. Hope/Taylor/Pusack 1985, 11 f.). Eine grundsätzlich neue Situation ergab sich dann Anfang der achtziger Jahre durch die Verfügbarkeit von Mikrocomputern, in der Form von sogenannten Heimcomputern und Personalcomputern (vgl. Rüschoff 1988, 9; 30). Sie machten computerunterstützten Unterricht unabhängig von großen, teuren und wenig flexiblen Großrechnern und ermöglichten es auch kleineren Bildungsinstitutionen, sich mit dieser Technologie auszustatten. Immer größere Leistungsfähigkeit bei sinkenden Preisen auch im Bereich der Peripherie (Bildschirme, Drucker) - gemeinsam mit großen Fortschritten bei der Benutzerfreundlichkeit — gestattet heute auch auf preisgünstigen Geräten anspruchsvolles Arbeiten (vgl. Hardisty/Windeatt 1989, 155ff.). Von besonderem Interesse für den Sprachunterricht ist dabei die Multimediafähigkeit moderner Computer, die die Verwendung von Ton- und Videodokumenten möglich macht und damit auch das Hörverstehen in den computerunterstützten Unterricht miteinbezieht. Eine weitere Entwicklung, die in den letzten Jahren an Dynamik ständig zugenommen hat, ist das Wachstum von Computernetzwerken, sowohl innerhalb von Institutionen (Intranet), als auch im weltumspannenden Verbund von lokalen, regionalen und nationalen Netzen (Internet). Dabei ist, im Unterschied zum

1102

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

alten Mainframe-System, jeder angeschlossene Computer auch unabhängig vom Netzwerk arbeitsfähig, kann aber je nach Bedarf mit anderen Teilnehmern im Netz kommunizieren. 4.

Spezifika des Mediums Computer

In diesem Abschnitt werden allgemein die Möglichkeiten, die das Medium Computer bietet, erörtert, ohne auf einzelne Programmtypen einzugehen. An erster Stelle ist hier eine Eigenschaft zu nennen, die eine ganz wesentliche Komponente des Verhältnisses von Lehrenden und Lernenden abbildet: gemeint ist die Interaktivität des Computers, also die Fähigkeit, auf Impulse seitens der Benützerin angemessen zu reagieren. Allerdings ist diese nicht mit menschlicher Kommunikation gleichzusetzen. So warnen Hope/Taylor/Pusack (1985, 16) vor einer Überbewertung der Mensch-Maschine-Interaktion: „Während die menschliche Interaktion selbst auf ihrem niedrigsten Niveau ein reiches Netz an sinnvollen kommunikativen Bezügen zwischen Individuen knüpft, sind die interaktiven Fähigkeiten des Computers einfach und mechanisch. Wir ziehen es vor, die Interaktion zwischen einem Schüler und dem Computer, sei sie auch noch so sehr ausgebaut, als nicht-kommunikativ zu betrachten." Gut aufgebaute Programme können zwar die „Illusion einer Kommunikation" (ebd.) entstehen lassen, auch dabei basieren die Reaktionen des Computers letztlich immer auf ganz mechanischen Routinen und sehr kleinteiligen Entscheidungen. Eine Form dieser Interaktivität ist die sofortige und immer wieder neu generierte Rückmeldung (feedback) an die Benützerin, die sehr ausgefeilt sein und sehr spezifisch auf die Eingabe der Lernenden eingehen kann (vgl. Walti 1992, 150f.). Die Möglichkeiten dafür werden durch eine weitere Eigenschaft, die den Computer auszeichnet, vervielfacht: Mit dem Computer ist es möglich, die Linearität, auf die andere Medien beschränkt sind, zu transzendieren und in Form von Verzweigung (branching) und Subroutinen neue Informationsebenen einzuführen. So kann beispielsweise eine Verbeinsetzübung so programmiert werden, dass das Programm nach dem n-ten Fehlversuch die Übung unterbricht und eine Tabelle der möglichen Verbformen mit einem didaktischen Kommentar einblendet. Neben solchen automatischen Verzweigungen sind auch von den

Benützerinnen selbst eingeschlagene , Seitenpfade' möglich. Insbesondere Hypertext-Systeme sind für diese Aufgabe sehr gut geeignet: Dabei werden markierte Textstellen mit der Maus ,angeklickt' und dadurch automatische Verknüpfungen zu anderen Textstellen aktiviert. Diese Systeme ermöglichen ein individuelles Navigieren in einer virtuellen Welt (vgl. Fechner 1994, 16; Späth 1994, 82 ff.). Mit solchen Möglichkeiten ist ein zusätzlicher Vorzug des Computers verbunden: sein gegenüber anderen Medien viel größeres Individualisierungspotential. Statt ein vorgefertigtes Produkt von Anfang bis Ende durchzuarbeiten, können die Lernenden Einfluss nehmen, Entscheidungen treffen und in vielen Fällen das Programm auch mit eigenen Inhalten ergänzen. Außerdem kann sich ein gutes Lernprogramm in gewissem Umfang automatisch auf die jeweilige Benützerin einstellen und ihr Verhalten genau protokollieren und auswerten, was Einschätzung der erbrachten Leistung durch Lehrende und Lernende erleichtert. Aus diesen Möglichkeiten ergibt sich auch die besondere Eignung des Computers als Instrument der Lernerautonomisierung. Unabhängig von diesen Eigenschaften ist der Computer ganz einfach ein ungemein leistungsfähiges Werkzeug: Verschiedenste Aufgaben können mit dem Computer um vieles einfacher, schneller und bequemer erledigt werden. Deshalb sind Computer ja auch zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der Arbeitswelt und auch der Freizeitgestaltung geworden. Für den Sprachunterricht von Bedeutung ist dabei vor allem die enorme Kapazität zur Speicherung und Manipulation von Daten, d. h. insbesondere Texten, Grafiken, Tondateien und bewegten Bildern. Der Zugriff zu einzelnen Dokumenten kann in Sekunden erfolgen, das Ergebnis der Bearbeitung ist sofort sichtbar, kann gespeichert, ausgedruckt, korrigiert, beliebig weiterbearbeitet oder ganz einfach wieder gelöscht werden (vgl. Rüschoff 1988,30). Das eröffnet faszinierende Möglichkeiten des flexiblen, geradezu spielerischen Umgangs mit Texten (und anderen Daten), die sich schon der Benützerin eines einfachen Textverarbeitungsprogramms erschließen. Diese Manipulationsfahigkeit ist besonders nützlich etwa in Form eines Zufallsgenerators, der zum Beispiel eine Übungssequenz ganz willkürlich „verwürfelt" (Rüschoff 1988, 34; Walti 1992, 150), um bei wiederholter Bearbeitung durch eine neue Reihenfolge Interesse und Auf-

1103

113. Elektronische Medien

merksamkeit der Lernenden zu erhöhen. Auch andere verhältnismäßig einfache Routinen wie das Suchen nach bzw. das Ersetzen oder selektive Tilgen von einzelnen Elementen, das Sortieren nach verschiedenen Kriterien, die Möglichkeit, Textteile auszuschneiden, zu kopieren oder zu verschieben oder auch die statistische Auswertung der Frequenz verschiedener Elemente bieten schon ein interessantes Potential für die Nutzung des Computers als Instrument zur Bearbeitung von Texten, insbesondere für Lehrende. Darüber hinaus verfügen schon die einfachsten marktüblichen Textverarbeitungsprogramme über eine ganze Reihe zusätzlicher Funktionen, so etwa verschiedenste Formatierungsmöglichkeiten, eine Rechtschreibprüfung oder ein Synonymenwörterbuch (Thesaurus), die sich durchaus im Unterricht einsetzen lassen (vgl. Göttmann 1996,70f.). Speziell für Unterricht oder Selbstlernaktivitäten verfasste Programme erweitern das Nutzungspotential zusätzlich. Durch die letzten Entwicklungen auf dem Sektor der Vernetzung von Computern wurde eine gänzlich neue Dimension der Kommunikativität eröffnet: Computer dienen mehr und mehr dazu, Kommunikation zwischen ihren Benützerinnen herzustellen, sei es nun die Angehörige einer Institution, die an ihre Kollegin im selben Gebäude eine kurze Aktennotiz schickt, oder sei es eine Schulklasse in Neuseeland, die mit einer Schulklasse in Norwegen kommuniziert und ein gemeinsames Projekt bearbeitet. Die verschiedenen Computernetzwerke ermöglichen Kommunikation in bisher ungekannter Geschwindigkeit und Übertragungsqualität bei gleichzeitig deutlich niedrigeren Kosten als vergleichbare Informationskanäle. Besonders interessant ist — gerade für den Sprachunterricht — das Internet, zu dem weltweit Millionen Benützerinnen Zugang haben und an das täglich Hunderte neue Computer angeschlossen werden. Das Internet kann nicht nur der direkten Kommunikation zwischen Personen oder Personengruppen in Form von elektronischer Post (e-mail) oder Diskussionsforen (newsgroups) dienen, es eröffnet gleichzeitig auch den Zugang zu einer geradezu verwirrenden Vielfalt von Informationen, die in Form von Bibliothekskatalogen, Datenbanken u. ä. irgendwo auf der Welt auf Computern lagern und heute zumeist über Leitseiten (Home Pages) im World Wide Web (WWW) zugänglich gemacht werden. Die bemerkenswerten Möglichkeiten, die das WWW für Recherche und für Zugang zu einer nahezu un-

endlichen Menge an authentischen Texten bietet, werden als Ressource für den Sprachunterricht noch längst nicht ausgenutzt — sicherlich gibt es hier auch in der Lehrerausund -fortbildung und der Fremdsprachenforschung Nachholbedarf.

5.

Problematische Aspekte des Computereinsatzes im Fremdsprachenunterricht

An kritischen Stimmen zum computerunterstützten Sprachunterricht mangelt es auch in neueren Publikationen nicht: „Die Programme für Deutsch als Fremdsprache, die heute auf dem Markt erhältlich sind, rechtfertigen die Ausgaben für ein Computerlabor noch nicht" (Walti 1992, 167). „Uns ist kein einziges computergestütztes Lernprogramm bekannt, das den Anforderungen der neueren Didaktik und Methodik des Fremdsprachenunterrichts auch nur annähernd gerecht würde" (Freibichler/Menrath 1995, 577).

Hintergrund für diese Skepsis sind eine Reihe von problematischen Aspekten des Mediums Computer: Zunächst einmal sind Computer noch immer - zumindestens was die Anschaffung angeht — ein ausgesprochen teures Medium, vor allem dann, wenn die Lernenden in Kleingruppen oder gar individuell an den Geräten arbeiten sollen. Um die hohen Anschaffungskosten zu rechtfertigen, wäre eine Effizienzsteigerung des Unterrichts nachzuweisen, was wohl nur in wenigen Fällen möglich ist. Außerdem ist der Zugang zum Medium Computer trotz erhöhter Benutzerfreundlichkeit weiterhin dadurch erschwert, dass die Benützerinnen zumindest über ein Minimum an Basiskenntnissen verfügen müssen, um von der Arbeit am Computer zu profitieren - es geht ja schließlich nicht nur darum, das Gerät ein- und dann irgendwann wieder auszuschalten. Insbesondere Lehrende, die mit computerunterstützten Übungen arbeiten wollen, müssen mit langen Vorbereitungszeiten rechnen, schon um sich mit Geräten und Programmen vertraut zu machen. Walti (1992, 152) beziffert den Aufwand für die Vorbereitung mit zwei bis zwanzig Stunden je nach Programmtyp. Sehr viel aufwendiger gestaltet sich die Herstellung von Übungen: „Zur Herstellung einer Übung (ca. 12—15 Aufgaben) ... sollte mit einem Zeitaufwand von ca. 8 Stunden gerechnet werden, auch wenn die Bearbeitungszeit der Lerner nicht mehr als 5—10 Minuten beträgt" (Walti 1992, 153).

1104 Schulz (1994, 159) gibt für die Relation zwischen Herstellungs- und Bearbeitungszeit eines Lernprogramms den Faktor 50 bis 500 (!) an. Sicher sind diese Zahlen davon abhängig, wieviel Computererfahrung die betreffende Person hat. Grundsätzlich gibt es das Problem, daß die Doppelqualifikation Sprachlehrerin-Computerexpertin zwar wünschenswert, aber (noch) äußerst selten ist und daher beide Seiten die Kooperation suchen müssen. Wohl auch wegen dieses Qualifikationsproblems scheinen die speziell für den Sprachunterricht verfassten Programme in mancher Hinsicht mit der rasanten Entwicklung des allgemeinen Softwaremarktes nicht Schritt zu halten. Das gilt einerseits in technischer Hinsicht: In einer Dokumentation zum computergestützten Unterricht in Deutsch als Fremdsprache aus dem Jahre 1992 werden 46 Programme beschrieben, von denen nur 31 überhaupt auf damals zeitgemäßer Hardware laufen (Desjardins/Martin/Walti u.a. 1992, 168 ff.). Und auch diese Programme boten oft nur eine veraltete, unattraktive Benutzerführung (ohne Farbe, Grafik und Maussteuerung) an. Der Marktstandard waren zu dieser Zeit längst farbige grafische Benutzeroberflächen mit Maussteuerung. Auch RöllinghofF (1993, 47ff.) und Göttmann (1996, 79f.) kritisieren die veraltete bzw. nicht dem Standard entsprechende Benutzerführung bei vielen Sprachlernprogrammen und machen Vorschläge zur Verbesserung. Wenn die im computerunterstützten Unterricht verwendeten Programme gegenüber den marktüblichen Programmen, die den Lernenden oft aus eigener Anschauung bekannt sind, so deutliche Mängel aufweisen, ist das mit Sicherheit kein motivierender Faktor im Unterricht. Andererseits weisen viele Programme auch in didaktischer Hinsicht Mängel auf: Besonders kritisiert werden extrem einfach aufgebaute reine Drillprogramme nach Art eines Vokabeltrainers, die noch dazu keine wirkliche Antwortanalyse betreiben, sondern lediglich die Reaktion „richtig" oder „falsch" (manchmal in bemüht launiger Form) produzieren (Rüschoff 1988, 48f.) - was, auch wenn es von fetzigen „Sounds" begleitet wird, eben nicht mehr den auch für Computerprogramme zu setzenden methodischen Standards entspricht. Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit Computersprachlernprogramme, die doch zu einem Großteil Vokabel· und Grammatiktraining in Form von Auswahlantworten (multiple choice) oder Lückentexten u. ä. anbieten und sich zumeist

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

auf schriftliches Sprachmaterial beschränken, eigentlich in einen kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterricht passen. Auch wenn bei einzelnen Programmen in beeindruckender Weise versucht wird, die multimedialen Möglichkeiten zu nutzen, scheint der Aufwand doch oft in keinem sehr günstigen Verhältnis zum Nutzen zu stehen, so etwa wenn ein sehr ausgefeiltes Programm namens „Endung" ausschließlich der Übung der Reduktion akzentloser Endungen gewidmet ist (vgl. Rausch 1994, 160 ff.) oder Software im Umfang von 80 Disketten (!) für einen Vokabeltrainer „Fachwortschatz für Spediteure" mit akustischer Sprachausgabe benötigt wird (vgl. Küffner 1994, 165 ff.). Da scheint der Kassettenrekorder bzw. das Sprachlabor doch noch die zugänglichere Technologie zu sein. Allerdings verbessern sich die Fähigkeiten von Computern zur Bearbeitung von Tondateien rasch, und Programme mit integrierter Sprachausgabe sind sicherlich der Steuerung externer Geräte über den Computer, die als Zwischenlösung einige Verbreitung gefunden hat (vgl. Rüschoff 1988, 98ff.), weit überlegen und werden wohl in absehbarer Zeit zum Standard werden. Manche Kritiker vermuten auch hinter der Computerisierung des Lernens einen Ausschließlichkeitsanspruch ähnlich dem, der in den sechziger und siebziger Jahren die Einführung der Sprachlabors in die Bildungseinrichtungen bewirkte, und warnen vor einer Ernüchterung, wie sie im Bereich des Sprachlabors mit etwa zehnjähriger Verzögerung nach seiner Einführung erfolgte (vgl. Löschmann 1994, 26f.; Schwanke 1996, 103). Tatsächlich gibt es einige Parallelen des Computereinsatzes zum Einsatz des Sprachlabors, bis hin zu der Tatsache, dass in einigen Institutionen die ausrangierten Sprachlabors direkt in Computerlabors umgewandelt wurden. Auch ist — in der Tradition der Lehrmaschinen — anfangs vielleicht tatsächlich ein ähnlich weitreichender Anspruch verfolgt worden wie mit dem Sprachlabor. Dieser Anspruch ist aber schon aus technischen Gründen sicherlich überzogen, denn einerseits war die Arbeit am Computer lange praktisch ausschließlich mit schriftlichen Texten möglich, andererseits sind Computerbildschirme gar nicht geeignet zur Präsentation längerer Texte (vgl. Göttmann 1996, 73). Das heißt, computerunterstützter Sprachunterricht war bisher meist auf einen Teilbereich der Fertigkeit Lesen und der Fertigkeit Schreiben beschränkt, und für viele derzeit in Bildungsein-

113. Elektronische Medien

richtungen vorhandene Geräte-ProgrammKonfigurationen gilt das auch heute noch. Andererseits ist der Computer keineswegs so einseitig einer methodischen Richtung verpflichtet wie das Sprachlabor der audiolingualen Methode verpflichtet war, und ist für einiges mehr geeignet als nur Sprache zu hören bzw. aufzusprechen — zum Beispiel dazu, gar nicht mit Sprache im engeren Sinne, sondern mit beliebigen anderen Daten zu arbeiten. Außerdem hat der Computer bereits seinen festen Platz in unserer Alltagswelt, und daraus leitet sich auch der Anspruch an die Bildungseinrichtungen ab, zur Förderung von Computergrundbildung (computer literacy) den Computergebrauch — insbesondere in Form der Produktion schriftlicher Texte als generelle „Kulturtechnik" (Göttmann 1996,70f.) einzuüben. Dazu eignen sich marktübliche Programme, die nicht speziell für den Unterricht aufbereitet sind, dafür aber in großen Auflagen vertrieben und ständig aktualisiert werden und den Einsatz im Alltag außerhalb der Bildungsinstitution auf authentische Weise vermitteln (vgl. Abschnitt 6).

6.

Typen von im Fremdsprachenunterricht verwendbaren Computerprogrammen

Die Brauchbarkeit einer Computeranlage steht und fallt mit der Qualität der darauf installierten (bzw. installierbaren) Programme (Software). Wie schon einleitend festgestellt wurde, werden hier nicht einzelne Programme erläutert, sondern es werden verschiedene Programmtypen vorgestellt, die für den Fremdsprachenunterricht nutzbar sind. In diesem Abschnitt werden die Programmtypen nur kurz beschrieben, in Abschnitt 7 soll dann näher auf didaktische Fragen eingegangen werden. Hardisty/Windeatt (1989, 15 ff.) verwenden eine sehr einfache, einsichtige Typologie, die auch an anderer Stelle positiv bewertet wird (vgl. Dodigovic 1994, 191) und an die wir uns hier anlehnen wollen. Die Programme werden zunächst nach dem Ort ihres Ursprungs bzw. der hauptsächlichen Verwendung in vier Kategorien eingeteilt: Schule (Lückentext, Multiple Choice, Sequenzierung, Übereinstimmung [matching] und Totalrekonstruktion [total deletion]), Büro (Textverarbeitung, Datenbank, Grafik-/ Schreibtisch-Satz [desktop publishing], Kom-

1105 munikation und Tabellenkalkulation), Bibliothek (Datensicht- [viewdata] und Konkordanzprogramme) und Heim (Simulation und Abenteuer[spiel]). Das macht gleich deutlich, dass die eigentlichen Lernprogramme (in der Kategorie Schule) nur einen kleinen Teil der im Unterricht verwendbaren Programme ausmachen. Die grundlegende Unterscheidung zwischen der Rolle des Computers innerhalb und außerhalb des Unterrichts wurde schon von Higgins/Johns (1984, 39) getroffen und sie soll hier insoweit übernommen werden, als in der weiteren Darstellung zwischen Lernprogrammen und Programmen für den allgemeinen Gebrauch unterschieden werden soll — wobei nochmals darauf hinzuweisen ist, dass der ursprüngliche Gebrauchskontext noch nichts über die Verwendbarkeit im Unterricht aussagt. Eine Sonderstellung nehmen Multimedia-Programme ein (vgl. Abschnitt 6.3.). 6.1. Lernprogramme Zur Beschreibung und Typisierung von Lernprogrammen gibt es bei diversen Autorinnen ganz verschiedene Ansätze. Hier wird keine erschöpfende Darstellung dieser Typologien gegeben, nur die wesentlichsten Differenzierungen werden angeführt. Die grundlegende Differenzierung etwa zwischen (schlüssel-)fertigen (turnkey, dedicated) Programmen und Autoren- (authoring) Programmen wird durchgängig verwendet (vgl. Rüschoff 1988, 84ff.; 128f.; Walti 1992, 151 f.; Fechner 1994, 12f.). Bei fertigen Programmen sind die sprachlichen Inhalte, das Material, mit dem das Programm arbeitet, auf ein vorgegebenes Textkorpus und oft auf nur einen Übungstyp fixiert. Bei Autorenprogrammen können die sprachlichen Inhalte verändert oder gänzlich ausgetauscht und so die Aktivitäten viel genauer auf verschiedene Gruppen von Lernenden zugeschnitten werden als bei fertigen Programmen. Dafür sind fertige Programme eben fertig, d.h. sie können ohne weiteren Aufwand sofort eingesetzt werden. Sogenannte Autorensysteme ermöglichen eine freiere Gestaltung der Lernaufgaben (Bildschirmgestaltung, Ablauf, Subroutinen) und stellen mehrere Übungstypen zur Wahl, sie erfordern damit aber einen noch höheren Arbeitsaufwand (Walti 1992, 152f.). Daneben gibt es sogenannte Autorensprachen, die im Grunde vereinfachte Versionen von Programmiersprachen sind und eine sehr freie Gestaltung ermöglichen, aber zumindest ein gewisses Programmierverständnis bei den

1106 Lehrenden (bzw. bei denjenigen, die die Übung schreiben) erfordern (vgl. Rüschoff 1988, 89). Foelsche (1993, 43ff.) fügt diesen Kategorien noch die der Lernwelt hinzu, bei der verschiedene Programme sowie Text-, Bild- und Tondokumente zu einem multimedialen Gesamtkonzept vereinigt werden, in dem die Lernenden sich frei bewegen können — diese Lernwelt muss natürlich nicht nur Lernprogramme im engeren Sinne enthalten. Nun zu den Bezeichnungen für die einzelnen Programmtypen, die entweder als fertige Programme vorliegen, in einem Autorenprogramm geschrieben bzw. editiert oder in eine Lernwelt integriert werden können: Sehr verbreitet sind die von Hope/Taylor/Pusack (1985, 18) gebrauchten Begriffe Tutorien (tutorials), Drills, Problemlösungsaufgaben, Simulationen und Spiele. Die beiden letztgenannten Typen sind oft nicht als Lernprogramme im eigentlichen Sinne zu verstehen, und sie werden daher im Abschnitt über Programme für den allgemeinen Gebrauch behandelt. Unter Tutorien werden Programme verstanden, die neue Information vermitteln und oft auch gleich Gelegenheit zur Anwendung bzw. Überprüfung des neuen Wissens geben. Drills sind Wiederholungsübungen für schon gelernte Inhalte, hier liegt der Akzent also nicht auf der Vermittlung, sondern auf der Festigung von Wissensinhalten. Dazu werden die Wissensinhalte oft in die kleinstmöglichen Einheiten unterteilt. Problemlösungsaufgaben hingegen erfordern komplexere, mehrschrittige Entscheidungen, die den Einsatz von ganzheitlichen Strategien voraussetzen. Oft kann der Computer dabei zugleich als Ressource eingesetzt werden, um die für die Lösung notwendigen Informationen zusammenzutragen. Es gibt deutlich differenziertere Versionen dieser Typologie, so führen Higgins/Johns (1984, 39) schon zehn Typen an. Auch ganz andere Klassifikationen sind denkbar; so teilt Siegrist (1994, 224) die Lernprogramme nach „semantischen Kriterien", d. h. nach ihren Inhalten ein: das Üben von sprachlichen Fertigkeiten (Lesen, Schreiben, Sprechen und Hören) einerseits und die Information über kulturelle und landeskundliche Gegebenheiten andererseits. Er erwähnt auch den Programmverbund zur Generierung von Übungen als Hilfsmittel für die Lehrenden (Siegrist 1994, 232), gleichsam das Gegenstück zur Lernwelt auf der Seite der Lernenden. Hardisty/Windeatt (1989, 15 ff.) teilen die von ihnen der Schule zugeordneten Programme nach verschiedenen Übungsformen ein. Eine sehr differenzierte Typologie

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

verschiedener Übungsformen im computerunterstützten Sprachunterricht bietet Brücher (1994, 118): Sie umfasst die Übungsarten Textproduktion, -reproduktion, -rekonstruktion und -anordnung, Simulation, Vokabeldatenbank, Lückentext, Auswahl, Zuordnung und Umformung, die jeweils noch in verschiedene Übungsformen unterteilt sind. Viele dieser Übungsformen sind keineswegs spezifisch für den Fremdsprachenunterricht, lassen sich aber auf dem Computer mit zusätzlichen Möglichkeiten realisieren. Ein besonders eindrückliches Beispiel dafür ist die Totalrekonstruktion, bei der ein Text vollständig gelöscht wird und nur die Satzzeichen sichtbar bleiben und die Anzahl der Wörter bzw. Buchstaben durch Platzhalter angezeigt wird. Diese Übungsform wird von verschiedenen Autoren als ausgesprochen flexibel und ertragreich beschrieben (Hardisty/Windeatt 1989, 26ff.; Rüschoff 1988, 66ff.; 122ff). Typologisierungen von Programmen anhand von Übungstypen können sicher eine heuristische Funktion erfüllen, greifen aber zumeist doch etwas kurz, da die Programme immer multifunktionaler werden und verschiedene Übungstypen anbieten. So formuliert Siegrist (1994, 230) die Minimalanforderungen an ein Autorenprogramm in bezug auf die möglichen Übungsformen: Sie umfassen Auswahl (Multiple choice); Lückentext; Übersetzung (in beide Richtungen); Umstellung von Buchstaben, Wörtern, Sätzen, Absätzen; Sätze ergänzen und Sätze bauen. 6.2. Programme für den allgemeinen Gebrauch Für den Unterrichtseinsatz besonders viel bieten sicher die für den Büroalltag entwikkelten Programmtypen Textverarbeitung, Datenbank, Grafik, Kommunikation und Tabellenkalkulation. Insbesondere Textverarbeitungsprogramme haben weite Verbreitung im Unterricht gefunden (vgl. Rüschoff 1988, 80f.; Hardisty/Windeatt 1989, 30ff.; Grüner 1994, 49ff.). Sie eröffnen weitgehende Redaktionsmöglichkeiten beim Verfassen von Texten und bieten sich vor allem für Schreibaktivitäten an. Hilfsprogramme wie Rechtschreibprüfung oder Synonymenwörterbuch bieten zusätzliche Möglichkeiten, wenn der Umgang mit diesen Werkzeugen im Fremdsprachenunterricht auch erst gelernt werden muß (vgl. Göttmann 1996, 71). Datenbankprogramme können ebenfalls für eine Reihe von Aktivitäten eingesetzt werden: Eine Form der Nutzung, die sich anbietet, ist das Anlegen von Wortschatzdateien, am besten

113. Elektronische Medien

durch die Lernenden selbst, die zum Lernen und Wiederholen des Wortschatzes dienen (vgl. Rüschoff 1988, 80). Das muss keineswegs ein primitives Karteikartensystem sein - Röllinghoff (1993, 54ff.) etwa stellt interessante Möglichkeiten des ganzheitlich orientierten computerunterstützten Wörterlernens vor. Hardisty/Windeatt (1989, 35ff.) zeigen, wie sich die Erstellung einer Datenbank im Unterricht mit kommunikativen Aktivitäten verbinden läßt. Datenbanksysteme lassen sich aber nicht nur verwenden, um selbst Daten einzugeben und zu verwalten, sondern auch dazu, auf Daten aus Informationssystemen zuzugreifen. Das sind kommerziell vertriebene oder auch öffentlich zugängliche Datenbanken, die Informationen zu einem bestimmten Thema enthalten, so etwa landeskundliche Information oder auch sprachliche Informationen, ζ. B. Sprachcorpora, mehrsprachige Wörterbücher oder Enzyklopädien (vgl. Schwanke 1996, 104fT.), die sich im Unterricht als von den Lernenden selbst zu erschließende Informationsquellen einsetzen lassen. Diese Datenbanken werden heute typischerweise auf Nurlesespeicher-Kompaktdisketten (CD-ROM) angeboten, auf denen sich besonders große Datenmengen speichern lassen. Viele Datenbanken (Bibliothekskataloge, Archive öffentlicher Einrichtungen etc.) sind heute auch über das Internet bzw. das WWW per Datenfernübertragung (Online) direkt zugänglich, was die Recherchemöglichkeiten zu bestimmten Themen sehr erweitert (vgl. Hilt 1995, 348ff., Liddell 1995, 559f.). Grafik- und Schreibtisch-Satz-Programme dienen dazu, Grafiken, Zeichnungen und auch Fotos in Dokumente zu integrieren und die einzelnen Druckseiten zu gestalten. Die meisten dieser Programme haben einen Zeichenmodus, in dem Grafiken selbst erstellt werden können, viele bieten auch eine umfangreiche Sammlung vorbereiteter Grafiken an. Mit diesen Programmen können sehr professionell aussehende Produkte gestaltet werden, vor allem dann, wenn auch ein hochauflösender Drucker (ζ. B. ein Laserdrucker) zur Verfügung steht. Sie bieten sich etwa für kreative Projektaktivitäten wie die Herstellung einer Klassen- oder Kurszeitung, von Plakaten und anderen Erzeugnissen, bei denen es auf die Verbindung von Bild und Wort ankommt, an. Kommunikationsprogramme können eine besondere Bereicherung für den Unterricht sein, weil es mit ihnen möglich ist, über die simulierte Kommunikation im Un-

1107 terricht heraus reale Kommunikation in der Zielsprache zu betreiben — mit Computerbenützerinnen im Zielsprachenland oder mit anderen Lernerinnen in einem Drittland. In vielen Ländern wird der Anschluss von Bildungseinrichtungen an Computernetze besonders gefördert, und die Nutzung dieser Kommunikationsmöglichkeiten für den Fremdsprachenunterricht drängt sich geradezu auf. An erster Stelle der Nutzungsmöglichkeiten steht wohl die elektronische Post (E-Mail), die von der Geräte- und Programmausstattung keine besonders hohen Anforderungen stellt und faszinierende Möglichkeiten bietet. Zur Nutzung der elektronischen Post im Unterricht gibt es bereits einige Literatur (vgl. Eck/Legenhausen/Wolff 1994, 63ff.; Musekamp 1995, 561 ff.; Telia 1991, 51 ff.). Besonders verbreitet sind Tandemprojekte, bei denen zwei Partner zum gegenseitigen Sprachlernen die Möglichkeiten der elektronischen Post nutzen (vgl. Schröder/Zimmer 1995, 360 f.). Aber die Nutzung von Kommunikationsprogrammen bietet noch zahlreiche andere Möglickeiten: Zu den nützlichsten Anwendungen im Internet gehören: Nachrichtengruppen; elektronische Zeitungen und Zeitschriften; Listen („listservs"); virtuelle Welten und elektronisch abrufbare Bücher, Artikel, Bilder und Ton (Liddell 1995, 558).

Es ist offensichtlich, dass diese Anwendungen für den Unterricht einiges Potential besitzen: neben der Verfügbarkeit einer nahezu unbegrenzten Menge an authentischen Texten sowie Bild- und Toninformationen bieten sie die Möglichkeit, mit anderen Computerbenützerinnen weltweit auf verschiedenste Art in Kontakt zu treten: durch die Beteiligung an der Diskussion in einer Nachrichtengruppe/einem Diskussionsforum oder einer Liste oder auch virtuellen Begegnungen in sogenannten Mehrbenützerdomänen (multi user domain - MUD). Nicht auf den ersten Blick so für den Sprachunterricht geeignet scheinen Tabellenkalkulationsprogramme zu sein, die dazu gedacht sind, mit Zahlen verschiedenste Berechnungen nach von der Benützerin bestimmten Formeln anzustellen und die Ergebnisse in eine Tabelle einzutragen. Dabei werden Änderungen an einer Zahl automatisch sofort in allen Teilen der Tabelle berücksichtigt. Diese Programme sind zwar nicht so sprachorientiert, sie lassen sich aber etwa für Problemlösungsaktivitäten oder Simulationen nützen, in denen die Lernenden ein bestimmtes Kapital für diverse Nutzungen aufteilen müssen (vgl. Hardisty/Windeatt 1989, 44ff.).

1108

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

Als nächstes sollen die beiden Programmtypen vorgestellt werden, die von Hardisty/ Windeatt (1989, 47 ff.) dem Bereich Bibliothek zugeordnet werden. Es handelt sich dabei im Datensicht- und um Konkordanzprogramme. Datensichtprogramme dienen der Präsentation von Daten auf einem Monitor, wobei Schrift und verschiedene grafische Elemente, Farbe und auch Bewegung eingesetzt werden können. Diese Programme eignen sich dafür, für die Öffentlichkeit bestimmte Informationen aufzubereiten. Ihre Nutzung im Unterricht könnte etwa die Information der Mitschülerinnen über eine Projektaktivität bzw. — simulierte oder reale — ,Werbe' Aktivitäten einschließen. Konkordanzprogramme sind eine Art von Suchprogrammen, die es ermöglichen, ein Textkorpus nach bestimmten Elementen (einzelnen Wörtern, Phrasen, Wendungen) zu durchsuchen und dann die verschiedenen Kollokationen dieser Elemente aufzulisten. Solche Programme werden schon lange im Bereich der linguistischen Forschung eingesetzt, sie sind aber auch sehr gut im Unterricht einsetzbar, etwa für die Erläuterung und Übung bestimmter syntaktischer oder lexikalischer Strukturen an authentischen Textbeispielen (vgl. Hardisty/Windeatt 1989, 50 ff.) oder zu Wortfrequenzanalysen, die für bestimmte Texte typische Wortverwendungen aufzeigen und als Ausgangspunkt zur Interpretation dienen können (vgl. Rüschoff 1988, 79f.). Schließlich sind Konkordanzprogramme auch für die Unterrichtsvorbereitung interessant, um etwa automationsunterstützt Arbeitsblätter zu bestimmten Fragestellungen zu produzieren oder authentische Texte auf ihre Verwendbarkeit im Unterricht hin auszuwerten. Ein verwandter Programmtyp sind Sprachanalyseprogramme, die einen Text etwa auf bestimmte stilistische Fehler hin untersuchen können (vgl. Siegrist 1994, 222 f.). Abschließend sollen noch zwei Programmtypen erläutert werden, die eigentlich Unterhaltungscharakter haben und daher der Sphäre Heim zugeordnet werden, und zwar Abenteuer- und Simulationsprogramme. Abenteuerprogramme existieren in vielfachen Varianten für den Unterhaltungsbereich. Zumeist geht es dabei darum, eine Art Labyrinth zu durchqueren und dabei verschiedensten Gefahren zu begegnen. Es gibt sie in reiner Textform oder mit grafischer Unterstützung. Diese Programme haben in der Regel Spielcharakter und sind oft sehr spannend, sie sind sehr gut geeignet zur Stimulation münd-

licher Kommunikation in der Gruppe bei der Lösung der auftretenden Schwierigkeiten (vgl. Hardisty/Windeatt 1989, 52ff). Einzelne Abenteuerprogramme wurden speziell für den Einsatz im Sprachunterricht entwickelt (vgl. Rüschoff 1988, 72ff.; 122). Simulationsprogramme sind ähnlich aufgebaut wie Abenteuerprogramme und die Übergänge zwischen den beiden Typen sind fließend. Typischerweise sind Simulationen jedoch komplexer und erfordern Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen, außerdem sind die Möglichkeiten für den Ausgang der Aktivität breiter gestreut, zudem spielen bei vielen Simulationen Zahlen eine wichtige Rolle (vgl. Hardisty/Windeatt 1989, 55ff.). Bei vielen Simulationen sollen imaginäre Betriebe geleitet oder Länder regiert werden. Dabei muss über die Allokation von Ressourcen entschieden werden, und diese Entscheidungen bestimmen dann den weiteren Verlauf der Simulation. Auch hier liegt der hauptsächliche Akzent im Unterricht auf der mündlichen Kommunikation beim Aushandeln der Entscheidungen in der Gruppe. Der Vorteil dieser und anderer Spielprogramme ist, dass es möglich ist, Gruppen bzw. Teams gegeneinander spielen zu lassen und so die Lernenden zusätzlich zu motivieren. 6.3. Multimediale Programme Seit etwa der Mitte der achtziger Jahre sind Mikrocomputer mit der entsprechenden Ausstattung in der Lage, Töne und (bewegte) Bilder zu verarbeiten. Seitdem hat sich die Technologie schnell weiterentwickelt, so dass heute ein multimediafahiger Computer kein teures Spezialgerät mehr ist und langsam zum Marktstandard wird. Multimediale Programme sind nun im Sinne der hier verwendeten Einteilung kein eigener Programmtyp, sondern ein zusätzliches Ausstattungsmerkmal von Programmen der oben erläuterten Typen. Das können Lernprogramme (Tutorien, Simulationen) und Programme für den allgemeinen Gebrauch (Navigationssoftware für das WWW, Datensichtprogramme, Abenteuerprogramme etc.) sein — eigentlich alle Anwendungen, die nicht ausschließlich der Manipulation von Texten dienen. Diese multimedialen Anwendungen sind für den Sprachunterricht von besonderem Interesse, da die gesprochene Sprache besser in den computerunterstützten Unterricht einbezogen werden kann und auch etwa landeskundliche Informationsvermittlung mit dem Computer mit Farbillustrationen oder Videos we-

113. Elektronische Medien sentlich umfassender und ,lebensechter' wird. Zudem sind die multimedialen Anwendungen in der Regel äußerst benutzerfreundlich (grafische Benutzeroberfläche, Maussteuerung, Hypertext-System etc.) und erleichtern den Lernenden den Einstieg in die Computerbenützung. Multimediaprogramme für den Fremdsprachenunterricht sind charakteristischerweise integrativ und umfassen mehrere der oben beschriebenen Übungsformen, lassen sich also in die üblichen Übungstypologien schlecht einordnen. Bayerlein präsentiert eine Übungstypologie für multimediale Übungen, die für ihn dadurch gekennzeichnet sind, dass „durch die Kombination von verschiedenen Medien in einer Übungssequenz ... eine möglichst hohe Verarbeitungstiefe" (Bayerlein 1996,729) erreicht wird. Hervorzuheben wäre, dass sich mit den multimedialen Möglichkeiten auch besonders realistische Übungssequenzen konzipieren lassen, die der Simulation einer zielsprachlichen Kommunikation sehr nahe kommen (vgl. Freibichler/Menrath 1995, 579ÍT.). Oft werden in multimedialen Programmen auch tutorielle Elemente mit Drill- bzw. Übungsaktivitäten und Recherchefunktionen kombiniert. Zur Erstellung dieser Art von Programmen stehen einige Autorensysteme zur Verfügung (vgl. Hahn 1995, 122ÍT.). Ein anderer Bereich, in dem die Multimedialisierung ständig fortschreitet, ist das WWW, das für entsprechend ausgestattete Benützerinnen mit Internetzugang zahlreiche multimediale Ressourcen bereithält (vgl. Hilt 1995, 349). Zu ihrer Nutzung im Fremdsprachenunterricht laden einige über das Internet zugängliche Aufgabensammlungen ein, die zu verschiedenen Adressen (URL = Universeller Ressourcen Lokator) im WWW führen und sprachliche Übungen und Problemlösungsaufgaben mit dem dort vorgefundenen Material bereithalten. Das bedeutet, es sind Didaktisierungen für authentisches Material auf dem selben Weg erhältlich wie das authentische Material selbst - was vor allem für Selbstlernende interessante Möglichkeiten bietet.

7.

Zur Didaktik computerunterstützter Aktivitäten im Sprachunterricht

„Gibt es eine spezielle Methodologie des computerunterstützten Sprachunterrichts?" fragen Hardisty/Windeatt (1989, 8) und fahren fort: „Der wichtigste Punkt ist, dass

1109 Computer nicht sehr gut darin sind, selbständig zu unterrichten". Das heißt, Lehrende können und sollen das Unterrichten nicht dem Computer bzw. dem Programm überlassen. Alle computerunterstützten Unterrichtsaktivitäten müssen in eine allgemeine Bildungskonzeption bzw. in ein didaktisches Gesamtkonzept eingebunden sein (vgl. Hahn 1995, 123), analog zur Benutzung anderer Medien. Das heißt, computerunterstützte Aktivitäten bedürfen einer adäquaten Vor- und Nachbereitung im Unterrichtsgespräch bzw. mit Hilfe anderer Medien (Tafel, Lehrbuch, Arbeitsblätter etc.). Walti (1992, 163f.) etwa schlägt vor, der Computerarbeit eine Einführungsphase vorangehen zu lassen und die eigentliche Computerarbeit vor der Pause oder am Schluss einer Unterrichtseinheit anzusetzen, damit eine autonome Arbeitseinteilung der Lernenden erleichtert wird. Hardisty/ Windeatt (1989, lOff.) teilen die Aktivitäten, die sie vorschlagen, grundsätzlich in eine VorComputer, Computer- und Nach-ComputerArbeitsphase ein, wobei die Arbeitszeit am Computer sehr begrenzt sein kann und unter Umständen nur wenige Minuten umfasst. Daraus lässt sich ableiten, dass die Verfügbarkeit von Computern in einem normalen Unterrichtsraum der laborähnlichen Unterbringung in einem Sonderraum vorzuziehen ist. In diesem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass ein eigenes Gerät für jede einzelne Lernerin keineswegs Voraussetzung für computerunterstützte Aktivitäten ist und dass für eine Vielzahl von Aktivitäten schon ein einziges Gerät ausreichende, wenn auch nicht immer optimale Voraussetzungen bietet (vgl. Hardisty/Windeatt 1989, 149). So kann der Computerbildschirm bei der gemeinsamen Bearbeitung von Lernprogrammen im Unterricht „die Rolle einer Art intelligenten' Tafel" (Rüschoff 1988, 47) übernehmen. Die Unterbringung von Computern in einem Sonderraum hat wiederum Vorteile für Selbstlernaktivitäten, wenn der individuelle Zugang der Lernenden gesichert wird. Aber auch wenn Computer nur zum Selbstlernen genutzt werden sollen, ist eine Einführung und Anleitung zur sinnvollen Nutzung sowie eine Einbettung in das Programm des Gruppenunterrichts wichtig, damit Frustrationen vermieden werden und das Potential des Mediums bestmöglich genutzt wird. Durchaus denkbar sind auch kombinierte Formen von Computereinsatz in der Lerngruppe und im Selbstunterricht, bei denen die Lernenden Gelegenheit erhalten, Unterrichtsinhalte

Ilio

XIV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand V

autonom nachzubearbeiten. Fremdsprachendidaktische Grundsätze, denen der Unterricht in seiner Gesamtheit verpflichtet ist, sollten für computerunterstützte Aktivitäten — sei es Selbstlernen oder Gruppenunterricht - nicht plötzlich außer Kraft gesetzt werden. Das bedeutet zum Beispiel, dass, wenn das Gesamtunterrichtskonzept auf Kommunikativität, Lernerorientierung und Authentizität abhebt, auch die computerunterstützten Aktivitäten sich nicht in simplen Vokabel- und Grammatikdrills erschöpfen dürften. Insofern sind Konzepte, die eine Entlastung der kommunikativen Sprachunterrichts durch die Verlagerung von „repetitiven, jedoch unbedingt notwendigen" (Walti 1992, 155) Aktivitäten an den Computer anstreben, auf die Ernsthaftigkeit ihrer kommunikativen Orientierung hin zu hinterfragen, ganz abgesehen davon, dass computerunterstützte Aktivitäten, die sich nur im Bereich des Repetitiven abspielen, für die Lernenden auf die Dauer wohl nicht sehr motivierend sind. Auch für Computerprogramme bzw. ihre Anwendung im Unterricht sind zeitgemäße didaktische Maßstäbe anzulegen: Handlungsorientierung, Lernerzentriertheit, Kommunikativität und Authentizität sind fremdsprachendidaktische Grundorientierungen, die bei entsprechender didaktischer Einbettung auch im computerunterstützten Unterricht verwirklicht werden können (vgl. Rüschoff 1988, 78), bzw. er eignet sich zum Teil zur Verfolgung dieser Ziele sogar besonders. 8.

Ausblick

„Es gibt beim Lernen der deutschen Sprache nichts, wozu man unbedingt einen Computer braucht" (Göttmann 1996, 69) - diese Feststellung ist für den Moment sicherlich richtig. Doch vollzieht sich die Entwicklung im Bereich des computerisierten Lernens mit einer solchen Geschwindigkeit, dass wir für die Zukunft nicht ausschließen können, dass diese Feststellung etwas von ihrer Richtigkeit einbüßt. Elektronische Wörterbücher sind zum Beispiel derzeit zwar bequemer, flexibler und schneller als ihre papierenen Gegenstücke, aber nicht so leicht verfügbar und in mancher Beziehung nicht so ausgefeilt. Es spricht manches dafür, dass die Computerisierung des Lebens weiter zunimmt und viele Nachteile der Computerbenützung damit obsolet werden. So wie heute schon viele Bibliothekskataloge werden dann vielleicht auch Wörter-

bücher und andere Ressourcen für den Sprachunterricht nicht mehr in Papierform, sondern nur in elektronischer Form zur Verfügung stehen. Auch die Multimedialisierung des Unterrichts wird weiter fortschreiten, heute noch recht ungebräuchliche Anwendungen wie virtueller Unterricht (vgl. Schröder/ Zimmer 1995, 359) oder synchrone Bild/TonVerbindungen nach Art einer Videokonferenz über das Internet (vgl. Liddell 1995, 559) werden dann vielleicht ganz alltäglich sein. Dennoch wird im Mittelpunkt des Fremdsprachenunterrichts immer die menschliche Person stehen und ein Ersatz der Sprachlehrerin durch den Computer ist nicht zu befürchten. Entscheidend ist, dass bei der Weiterentwicklung der medialen Möglichkeiten im Sprachunterricht die Unterrichtenden eine zentrale Rolle bei der Adaption neuer Technologien einnehmen, damit angemessene und verwertbare Resultate für den Unterricht erreicht werden können. Eine kritische Auseinandersetzung der Sprachunterrichtsexpertinnen mit den elektronischen Medien wäre äußerst wünschenswert, weil dadurch deren Einsatz in pädagogisch sinnvoller Form erfolgen könnte und die Gefahr verringert würde, im Unterricht hinter bereits erreichte Standards zurückzufallen. 9.

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XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI: Lehrerinnen und Lehrer 114. DaF-Lehren als Beruf 1. 2.

4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Einleitung Quantitativer Forschungsansatz: Behaviorismus Qualitativer Forschungsansatz: Kognitionspsychologie Berufsanfanger Rollenverhalten Der Lehrprozess Das institutionelle Umfeld DaF-Lehren in kulturdistanten Ländern Perspektiven Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

3.

Obwohl die unterrichtlichen Tätigkeiten von Lehren und Lernen in Terminus und Forschungsfeld der Sprachlehr-Ilernforschung nominell gleichberechtigt verwendet werden, ist in den letzten zwei Jahrzehnten wesentlich mehr Fachliteratur über den Lern- als über den Lehrprozess veröffentlicht worden. Dies ist nicht zuletzt ein Resultat des seit Beginn der achtziger Jahre dominanten lernerzentrierten Ansatzes von Fremdsprachenunterricht, der - völlig zu Recht - alle unterrichtlichen Maßnahmen am Lerner und seinen Bedürfnissen ausrichtet — einschließlich des Lehrens. Dennoch steht außer Zweifel, dass die Lehrkraft im institutionellen Unterricht eine zentrale Stellung einnimmt, ist es doch sie, die nicht nur die komplexe alltägliche Unterrichtspraxis auf verschiedenen Ebenen gestaltet, sondern auch die kulturkompetente Interpretin zwischen den in den Unterrichtssprachen repräsentierten Kulturen sowie aus Lernerperspektive — die Personifizierung der Institution ist. Nachdem die behavioristisch orientierte Sprachlehrforschung hauptsächlich den Einfluss beobachtbarer Variabein auf das Lehrverhalten und den Lehrprozess untersuchte, gewannen mit dem Paradigmawechsel vom Behaviorismus zum Kognitivismus in den siebziger Jahren die subjektiven Auffassun-

gen und Interpretationen des Unterrichtsgeschehens seitens der Lehrerinnen und Lehrer eine große Bedeutung für die Analyse ihres faktischen Lehrverhaltens; in den letzten fünfzehn Jahren ist diese Forschungsrichtung um eine ,ökologische' Dimension erweitert worden, d. h. es werden die vielfaltigen Einflüsse des soziokulturellen und institutionellen Umfeldes auf die Lehrtätigkeit untersucht. Angesichts der Komplexität dieser Einflussfaktoren auf den Unterricht konzentrieren sich wissenschaftliche Untersuchungen über DaF-Lehren bzw. über schulischen Unterricht in der Regel auf bestimmte partikularisierte Aspekte insbesondere des Lehrverhaltens, des Lehrerbewusstseins, der Ausund Fortbildung sowie der Qualifikation. Interdisziplinäre, faktorenübergreifende Untersuchungen finden sich hauptsächlich auf dem Gebiet länderspezifischer Analysen des DaFUnterrichts (vgl. Ngatcha 1991; Hess 1992; Witte 1996), die jedoch nur für die betreffende Region Geltung beanspruchen können.

2.

Quantitativer Forschungsansatz: Behaviorismus

Das bis in die siebziger Jahre dominante Forschungsparadigma zum Lehrverhalten war das lineare Input-Output-Schema, das dem behavioristischen Ansatz der quantitativen Sozialforschung verpflichtet war. Charakteristisch für diesen Ansatz ist ein objektives analytisches Wissenschaftsverständnis mit einer technischen Vorstellung vom Lehrprozess, das der Überprüfung von Hypothesen dient. In empirischen Untersuchungen zur Lehrtätigkeit wurde der Effekt bestimmter kontrollierter Input-Variabein, wie ζ. B. Elemente des Lehrverhaltens, auf den Output, d. h. entsprechender kontrollierbarer Aspekte von Lernerleistungen, analysiert. Das Ziel dieser Untersuchungen bestand in einer Verbesserung bestimmter beobachtbarer Variablen des leh-

1113

114. DaF-Lehren als Beruf

rerseitigen Input, der — so wurde angenommen - automatisch eine Verbesserung des lernerseitigen Output zur Folge habe. Entsprechend wurde versucht, die empirisch erforschten Optimierungsverfahren des Unterrichts in die Lehreraus- und Lehrerfortbildung einzubringen, was wiederum durch Analysetechniken wie das vor allem im anglophonen Raum verbreitete Microteaching kontrolliert wurde. Im Microteaching wurde in systematischer Unterrichtsanalyse das Lehrverhalten einzelner Lehrkräfte zu optimieren versucht, indem sie im Rahmen von positivem Verhaltenstraining mit ihren defizitären Lehrverfahren konfrontiert wurden. Im deutschsprachigen Raum haben die Arbeiten von Krumm (1973) und Nehm (1976) dazu beigetragen, dass Unterrichtsbeobachtung und anschließende Optimierung jeweils praktizierter Lehrtechniken in der fremdsprachlichen Lehreraus- und Lehrerfortbildung weite Verbreitung fanden. Der Ausgangspunkt dieser Vorgehensweise besteht darin, dass die Eigenschaften des ,guten' Fremdsprachenlehrers als Fertigkeiten aufgefasst werden, die man aus einer theoretisch beschreibbaren „Fachlichkeit des Lehrerverhaltens" (Krumm 1973, 35) ableiten könne. Repräsentativ für diese Forschungsrichtung sind die Arbeiten Politzers (1966; 1967), der versuchte, aus Unterrichtsbeobachtungen bestimmte Verhaltenskriterien (performance criteria) für Fremdsprachenlehrkräfte zu gewinnen und entsprechend einen allgemeingültigen Katalog von Lehrtechniken (technical skills approach) zu definieren, wobei er jedoch unmittelbar von beobachtbaren Kriterien des Lehrverhaltens auf die personale Verfassung des .erfolgreichen Fremdsprachenlehrers' (Politzer/Weiss o. J.) schloss. Man versuchte, im Sinne des quantitativen Forschungsparadigmas das gesamte komplexe Aufgabenfeld der Fremdsprachenlehrkraft analytisch aufzuschlüsseln und eine möglichst umfassende Taxonomie der „Tätigkeitsmerkmale des Fremdsprachenlehrers" (Bludau et al. 1973) mit sowohl deskriptivem wie auch präskriptivem Charakter zu erstellen, an der sich das Training ,guter' Fremdsprachenlehrer normativ orientieren konnte. Diese aufgrund der längerfristigen Beobachtung besonders .effektiver' Fremdsprachenlehrkräfte eruierten Lehrtechniken (Politzer/ Weiss o. J.; Moskowitz 1978; Sanderson 1982) haben ergeben, dass Kriterien ,guten' Fremdsprachenlehrens die Schaffung eines vertrauensvollen Sozialklimas im Klassenraum,

klare Handlungsanweisungen, persönlicher Einsatz, flexible Stundenstruktur mit differenziertem Medieneinsatz, möglichst weitgehende Lernerorientierung von Lernmaterialien und Unterrichtsführung, eine hohe fremdsprachliche Kompetenz seitens der Lehrkraft sowie häufiger Zielsprachengebrauch in der unterrichtlichen Interaktion sind. Doch diese Auflistung von Merkmalen ,guten' Fremdsprachenunterrichts beschreibt Aufgaben und Formen des optimalen Lehrens mit der fragwürdigen Implikation, dass dies automatisch auch das personale Porträt der guten Lehrkraft ergebe.

3.

Qualitativer Forschungsansatz: Kognitionspsychologie

Im Gegensatz zu dem mechanistischen Menschenbild des Behaviorismus rückt das qualitative sozialwissenschaftliche Forschungsparadigma die im Unterricht Agierenden als soziokulturell geprägte Subjekte mit bestimmten Wertorientierungen, als Inhaber sozialer Positionen mit bestimmten Handlungsmustern, Rollenidentitäten und Deutungsmustern sowie als Individuen mit spezifischen Erwartungen und Interessen, Hoffnungen und Ängsten in den Mittelpunkt der Forschung: Nicht mehr die scheinbar objektiv messbaren Phänomene der beobachtbaren sozialen Realität — wie z. B. das Lehrerverhalten - werden analysiert, sondern die subjektiv generierten Bedeutungsstrukturen der Individuen, die in einer zu analysierenden Situation auftreten, z.B. das Lehrerbewusstsein. Dies geschieht unter der Prämisse, dass soziale Wirklichkeiten wie die des fremdsprachlichen Klassenzimmers nicht auf eine naturhaft-objektive Realität verweisen, „sondern auf eine gesellschaftlich-intersubjektive Welt, die [...] von den Handelnden unter kognitiven, expressiven und normativen Gesichtspunkten aktiv hergestellt wird" (Bonß 1982, 44) und daher eben nicht objektiv messbar sind, sondern von ihrem Bedeutungsgehalt her situativ jeweils anders interpretiert werden. Daher wird in der Forschung ein epistemologisches Subjektmodell zugrunde gelegt, das dem Untersuchungsobjekt nicht in behavioristischer Tradition die subjektiven Fähigkeiten zu Autonomie und kognitivem Konstruieren abspricht, sondern das Erkenntnis- Objekt als handelndes Subjekt mit den Merkmalen der Intentionalität, Reflexivität, potentiellen Rationalität und sprachli-

1114 chen Kommunikationsfähigkeit ernst nimmt und als gleichberechtigten Partner im Untersuchungsprozess begreift. Ziel dieser qualitativen Sozialforschung ist es, „den Konstitutionsprozess von Wirklichkeit zu dokumentieren, analytisch zu rekonstruieren und schließlich durch das verstehende Nachvollziehen zu erklären" (Lamnek 1988, 25), ohne dabei - wie in der quantitativen Sozialforschung - entsprechend des Primats der Methode den zu untersuchenden Gegenstandsbereich symbolisch vorzustrukturieren, um eine scheinbare Objektivität der Darstellung zu erreichen. Insofern ist die qualitative Forschungsrichtung holistisch ausgerichtet; sie dient nicht der Überprüfung, sondern der Gewinnung von Hypothesen. 3.1. Subjektive Unterrichtstheorien Das unterrichtliche Phänomen, mit dem die Denkprozesse von Lehrern in die lernpsychologische Forschung eingebracht wurden, war der Pygmalion-Effekt (d.h. die Erkenntnis, dass sich Lerner im Unterricht weitgehend entsprechend der an sie gestellten Lehrererwartungen verhalten), der nicht mehr mit den behavioristisch-quantitativen Kategorien erklärt werden konnte, da nun Aspekte von individuellem Lehrerbewußtsein und -handeln im Zentrum des Interesses stehen. Dieses wird anhand kognitionspsychologischer Ansätze (im Rahmen des qualitativen Forschungsparadigmas) interpretiert, die den Denkprozessen der individuellen Lehrkraft einen entscheidenden Einfluss auf ihr unterrichtliches Verhalten zubilligen. Forschungsarbeiten dieser Richtung haben ergeben, dass für das faktische Unterrichtshandeln der Lehrkräfte ihre subjektiven Unterrichtstheorien (auch psychologisches Alltagswissen, naive Verhaltenstheorie, pragmatische Alltagstheorie, Berufstheorie, Lehrtheorie u.a. genannt) von zentraler Bedeutung für ihr faktisches Lehrverhalten sind. Das Theorem der subjektiven Unterrichtstheorie basiert auf der Prämisse, dass im Rahmen des zielgerichteten Handelns die Lehrkraft ihren Handlungsraum aktiv-kognitiv strukturiert, d.h. dass sie die oft mehrdeutigen, rasch wandelbaren, teilweise unvorhersehbaren und immer kontextabhängigen und mehrdeutigen Situationen, mit denen sie im Unterrichtsprozess konfrontiert wird, fortlaufend analysiert, interpretiert und in bestimmter Weise rekonstruiert, um schließlich eine subjektive Handlungslinie zu entwickeln, die durch ihre Realisierung wiederum neue Unterrichtssituatio-

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

nen schafft. Subjektive Unterrichtstheorien sind die relativ stabile Basis für die Handlungsentscheidungen, die Lehrkräfte im Unterrichtsprozess unter großem Zeitdruck (die Klasse wartet!) permanent treffen müssen und die im Prinzip aus sechs Teilprozessen bestehen: „das Verfügen über Zielpräferenzen, das Diagnostizieren von situativen Gegebenheiten, das Aktivieren der für die betreffende Situation prinzipiell geeigneten Handlungsentwürfe, die Antizipation von Ergebnissen für jeden Handlungsentwurf, das Abwägen wünschenswerter gegen unerwünschte Ereignisse im Hinblick auf die Zielvorstellungen, [...] die Wahl des optimalen Entwurfs." (Hofer 1986,260) Bei diesem komplexen Handlungsprozess greifen die Lehrkräfte auf Wissensbestände zurück, die nur zu einem Teil in der formalen Lehrerausbildung, teilweise auch schon vorher durch Erfahrungen in der eigenen Schulzeit und zum großen Teil erst durch die eigene Lehrpraxis erworben wurden (Dann 1989, 82). Diese subjektiven Kognitionen der unterrichtsbezogenen Selbstund Weltsicht der Lehrkräfte bilden ein komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das durch die alltägliche Unterrichtspraxis permanent weiter modifiziert wird. Sie können als subjektive Unterrichtstheorien bezeichnet werden, die das unterrichtliche Handeln der Lehrkraft strukturieren und legitimieren (Groeben et al. 1988, 19); sie haben sich als erstaunlich resistent gegenüber der Vielzahl von theoretischen Ansätzen und Impulsen in der Fremdsprachendidaktik erwiesen. Da die subjektiven Unterrichtstheorien individuell verschieden entsprechend den unterschiedlichen soziokulturellen, institutionellen und individuell-sozialisatorischen Bedingungen determiniert sind — eben subjektiv - , kann man sie nur schwer erheben und validieren. Dies trifft um so mehr zu, da jeder Augenblick des Unterrichts eine Vielzahl von simultanen kognitiven, affektiven und motorischen Handlungen sowohl auf Schüler- als auch auf Lehrerseite enthält, die nicht nur in sich außerordentlich komplex geartet sind, sondern auch in einem vielschichtigen Beziehungsgeflecht miteinander verwoben sind. Die wissenschaftlichen Zugriffsmethoden konzentrieren sich daher nur auf bestimmte Aspekte der komplexen subjektiven Unterrichtstheorien in der Annahme, sich diesen so weit annähern zu können, dass sie für den wissenschaftlichen Diskurs bis zu einem bestimmten

1115

114. DaF-Lehren als Beruf

Grad verwendbar und verallgemeinerbar zu machen seien. In der Regel orientieren sich diese Unterrichtsbeobachtungen an speziellen isolierbaren Phänomenen im Unterrichtsprozess, ζ. B. „Förderung von Schülern" (Treiber 1980), „Aggression in der Schule" (Dann et al. 1982), „Leistungs- und Störungsepisoden im Unterricht" (Wahl et al. 1983), „Bewusstseinskonflikte im Schulalltag" (Wagner et al. 1984), „Aufgreifen von Schüleräußerungen" (Koch-Priewe 1986) u.a. Dass die Entwicklung subjektiver Unterrichtstheorien durchaus nicht immer geradlinig und unproblematisch verläuft, sondern auch zirkulär und „verknotet", hat Wagner (1981; 1984) in ihren Untersuchungen nachgewiesen: Gerade in schwierigen Situationen der Unterrichtsführung versuchen Lehrkräfte, sich an selbsterstellte Imperative zu halten („Ich muss diese Stunde pünktlich beenden" oder „Ich darf nicht unsicher wirken"), die auf eine eingeschränkte subjektive Wahrnehmung und Analyse der aktuellen Gesamtsituation zurückzuführen sind, was wiederum zu verstärkter, oft selbstinszenierter Spannung und Angst führt, die eine differenzierte Wahrnehmung und Lösung von Unterrichtsproblemen erschweren.

4.

Berufsanfänger

Subjektive Unterrichtstheorien sind qualitativ unterschiedlich nicht nur hinsichtlich ihrer personenspezifischen Ausprägung, sondern generell auch in bezug auf die Dauer von Unterrichtserfahrung der jeweiligen Lehrkraft. Limitierte Wahrnehmung im Klassenzimmer findet man insbesondere bei in der Ausbildung befindlichen oder gerade eingestellten Lehrern (Berliner 1987), die in der Regel aus Verhaltensunsicherheit überproportionale Emphase auf kognitive Vermittlung von Unterrichtsinhalten unter Vernachlässigung sozialer und affektiver Aspekte legen. Viele Berufsanfänger erfahren die unterrichtliche Überforderungssituation, in der sie nicht mehr in einer Gruppe von Studenten lernen, sondern plötzlich allein einer Klasse von Schülern gegenüberstehen, als Praxisschock (Müller-Fohrbrodt et al. 1978). Nach der inhaltsorientierten ersten Phase der Lehrerausbildung, die in Deutschland an Universitäten stattfindet und oft zu progressiven Einstellungen zum Unterricht führt, erlernt die zukünftige Fremdsprachenlehrkraft in der

praxisorientierten zweiten Ausbildungsphase didaktische und methodische Unterrichtsverfahren kennen, die sich ihr jedoch häufig als wenig hilfreich in faktischen Unterrichtssituationen erweisen. Diese Diskrepanz bedingt häufig Verhaltensunsicherheit, die noch durch den enormen Anpassungsdruck verstärkt wird, der angesichts sinkenden Lehrerbedarfs an den stark selektierenden Studienseminaren herrscht; daher führt sie häufig zu Einstellungsrevisionen in konservativer Richtung (vgl. zur Lehrerausbildung Art. 115). Da die in Studienseminaren erlernte Theorie („Feiertagsdidaktiken") entgegen den Erkenntnissen der Kognitionspsychologie nicht auf die personale Verfassung des Referendars Rücksicht nimmt, mithin weitgehend entfremdet ist, sind viele Berufsanfänger besonders offen für Unterrichtsrezepte (Grell/Grell 1979; Meyer 1980), die eine praktische Lösung für standardisierte unterrichtliche Probleme anbieten. Allerdings haben diese Unterrichtsrezepte nur begrenzte Validität, da sie das konkrete Erziehungsgeschehen verkennen, eine dogmatische Unterrichtspraxis begünstigen sowie unreflektierte normative Handlungsanweisungen beinhalten; sie können eigene Erfahrung nicht ersetzen. Folglich gibt es Überlegungen, die eine an Fallbeispielen orientierte Lehrerausbildung fordern, um Erfahrung durch Anschauung zu fördern (Shulman 1986). Da jedoch nicht alle erdenklichen Unterrichtssituationen derart erfasst werden können, könnte dies lediglich eine Ergänzung zum Lehrertraining bilden, es jedoch nicht ersetzen.

5.

Rollenverhalten

Subjektive Unterrichtstheorien sind den handelnden Lehrkräften keineswegs jederzeit kognitiv gegenwärtig. Im konkreten Unterrichtsprozess treten sie u. a. in sedimentierter Form als bestimmte Lehrroutinen auf, die sich insbesondere auf soziale und affektive Aspekte des Lehrerverhaltens beziehen und dazu dienen, die bewusste Aufmerksamkeit der Lehrkraft zu entlasten (Bromme 1992). Während Lehrer sich durch routiniertes Verhalten bewusst bestimmten anderen Teilaspekten des Unterrichts widmen können, ist für die Lerner somit eine gewisse wahrnehmbare Stabilität und Vorhersagbarkeit des Lehrerverhaltens gegeben, die einen Teil des beiderseitigen Rollenverhaltens begünstigt. Dabei hat die Lehrerrolle eine prägende Funk-

1116 tion für die Schülerrolle im Sinne einer bezugnehmenden definitorischen Reaktion, während dies umgekehrt nur in einem eingeschränkten Maße gilt (Gößling 1978, 121). Lehrer und Schüler definieren sich nicht nur durch ihre individuelle Begegnung im aktuellen Unterrichtsprozess, sondern auch und gerade als Inhaber sozial und institutionell vermittelter Rollen. Viele verschiedene und komplexe Faktoren sowohl hinsichtlich interpersonaler Aspekte (Status, Position, Haltungen und Werte) als auch aufgabenbezogener Aspekte (Erwartungen bezüglich der Art von Lernaufgaben, Wege zur Bewältigung der Lernaufgaben) beeinflussen die Rollen, die Lehrer und Schüler im Klassenzimmer einnehmen (Wright 1987). Eine Würdigung dieser Faktoren ist essentiell für das Verständnis von Lehr- und Lernaktivitäten, denn Kommunikation in Rollenverhältnissen geschieht oft in spezieller Weise, indem ihre Form standardisiert und ritualisiert ist (McCarthy 1991). Gerade Lehrkräfte, die langfristig in der Praxis tätig sind, beklagen sich über die massiven Einschränkungen des Lehrprozesses, denen sie — zumindest im öffentlichen Schulwesen Deutschlands - als vereidigte Staatsbeamte und „hoheitliche Funktionsträger" (Gutte 1994) unterworfen sind. Ihnen wird lediglich eine moderate pädagogische Freiheit im Rahmen staatlich genehmigter Lehrwerke und zwingend vorgeschriebener Lehrpläne gewährt. Schüler andererseits nehmen den Lehrer als mit Disziplinargewalt versehenen Repräsentanten der Institution Schule wahr, dessen Interesse nicht der Person der Schüler gilt, sondern einem abzuarbeitenden vorgegebenen Lehrplanprogramm. Nach einem etwa zwanzigjährigen Rollentraining als Schüler haben einige Lehrkräfte, insbesondere in der beruflichen Anfangsphase, wiederum Probleme mit dieser reziproken Rollenzuweisung, die sich in Rollenunsicherheit und Rollenkonflikten niederschlagen kann (Mönnighoff 1992). Darüber hinaus werden Lehrer permanent mit einer Vielzahl divergierender Rollenerwartungen von ihren Interaktionspartnern (Schüler, Eltern, Kollegen, Schulaufsichtsbeamte) konfrontiert, was sich im Kontext mangelnder Möglichkeiten der Überprüfung, inwieweit sie persönlich diesen Erwartungen entsprechen, konflikthaft auf die eigene Rollenwahrnehmung auswirken kann. Lehrer und Schüler begegnen sich in der Institution Schule nicht auf freiwilliger Basis, sondern in einem vorweg definierten Bezie-

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

hungsverhältnis, das trotz aller vorgeblicher Demokratisierungsversuche im Rahmen des Unterrichtsprozesses höchst asymmetrisch ist. Auch wenn der Lehrer bereit wäre, seine soziale Rolle als Lehrer zugunsten seiner didaktischen Lehrerrolle im Interesse eines emanzipatorischen Unterrichts zurückzunehmen, so kann er dennoch nicht mit seinen Schülern auf gleicher Ebene interagieren, da der Lehrer immer zugleich als Bewertungsund Kontrollinstanz fungiert; zumindest aus Lernerperspektive nimmt er die Äußerungen der Schüler immer auch unter dem Aspekt einer gewissen Notenrelevanz auf. An diesem institutionell begründeten Rollendilemma können letztlich progressive Konzepte eines kommunikativen DaF-Unterrichts scheitern, die von einer symmetrischen Kommunikationsbasis der Beteiligten ausgehen, denn der fremdsprachliche Dialog im Klassenzimmer ist zumeist ein elliptischer Pseudodialog. Eine stabile Rollenerwartung, die Lehrer und Lerner gleichermaßen an die Fremdsprachenlehrkraft stellen, ist jene als selbstbewusster und kompetenter Fremdsprachenbenutzer. Die sichere Beherrschung der Zielsprache ist die allgemeinste und wichtigste Grundlage jeglichen Bewusstseins von Fachkompetenz, die sich nicht nur in konstruktivem Selbstrespekt der Lehrkraft, sondern auch der Anerkennung der Lehrerpersönlichkeit von Lernern, Kollegen und im außerschulischen Bereich manifestiert sowie motivationale Bedeutung für Lerner hat, sofern die Sprachkompetenz nicht vom Lehrer als Mittel zur Demonstration eigener Überlegenheit missbraucht wird (Alfes 1982,24; Wright 1991, 68 f.). Sichere Sprachbeherrschung macht zudem die Lehrkraft im Unterrichtsprozess frei für ein einfühlsames didaktisch-methodisches Eingehen auf die Lernergruppe bzw. auf einzelne Lerner und deren Lernprobleme, während sich andererseits Sprachunsicherheit verhängnisvoll auswirken kann: Sie kann auf Lehrerseite zu Rollenunsicherheit und Angst führen, während sie auf Lernerseite in Sprachgleichgültigkeit umschlagen und entsprechend demotivierend wirken kann. Insofern trägt die sichere Beherrschung der Zielsprache nicht nur zu einem stabilen Rollenverständnis bei, sondern nimmt auch eine wichtige Funktion als Faktor zur Schaffung und Beibehaltung lernerseitiger Motivation im Lernprozess ein (Alfes 1982). Es ist erstaunlich, dass es bislang kaum Untersuchungen gibt, die sich mit den Auswirkungen

1117

114. DaF-Lehren als Beruf

zielsprachlicher (In-)Kompetenz der Lehrkraft auf den Unterricht und den Lehr-/Lernprozess befassen. 6.

D e r Lehrprozess

Lehrkräfte treten im institutionellen Bildungswesen heutzutage nicht mehr als allwissende Autoritäten auf, die in ihrem Unterricht eindimensionalen Wissenstransfer an passiv-rezeptive Lerner im Sinne eines Auffüllens leerer Behälter betreiben. Charakteristisch für den Einfluss des epistemologischen Subjektmodells im Rahmen der qualitativen Sozialforschung ist — neben der Emphase auf die Lehrerpersönlichkeit — auch jene auf die Lernerpersönlichkeit und deren Lernbedürfnisse, -Umgebungen und -fáhigkeiten, auf die der Unterrichtsprozess grundlegend Rücksicht nehmen muss. Basierend auf Erkenntnissen der Gestaltpsychologie wird Lehren daher als ein Integrieren neuer Wissenselemente in schon vorhandene Wissensstrukturen verstanden (Legutke/Thomas 1991, 33 ff.), bei dem der Lerner sich nicht passiv verhält, sondern äußerst aktiv mitwirkt, indem er derjenige ist, der die Integration neuen Wissens vornimmt und dabei eigene Lernstrategien entwickelt (Oxford 1990). Der Lehrer tritt bei diesem Lernprozess weitgehend in den Hintergrund und fungiert als fachkundiger, einfühlsamer und flexibler Lernberater, der die Vielfalt lernerseitiger Lernstile und Lernstrategien durch seinen Unterricht abzudecken hat, um so eine möglichst weitgehende Autonomie der Lerner zu fördern. Dabei muss das unnötige,Kleben' an einer Stundenverlaufsplanung durchlässig gemacht werden zugunsten eines Eingehens auf schülerseitige Lernoperationen, denn Lehren kann selbst nicht Lernen hervorrufen oder gar erzwingen, sondern es lediglich ermutigen und anleiten. Je autonomer und verantwortungsbewusster sich der Lerner im Lernprozess verhält, desto selbstsicherer lernt er und kann auf kognitive und metakognitive Strategien zurückgreifen (Wenden/Rubin 1989), die wiederum Sprachbewusstsein (language awareness) fördern (James/Garrett 1991; van Lier 1996), obgleich natürlich die Gesamtverantwortung für den Unterricht und dessen Organisation weiterhin bei der Lehrkraft liegt. Eine ideale Lehrkraft, die diese Art von Lernerautonomie (Little 1991) anstrebt, verfügt über die Fähigkeit, Aufgaben zielgruppengerecht auszuwählen, den Zeitpunkt von

Interventionen angemessen auszuwählen, mit den Lernern auszuhandeln, wie (und was) sie lernen möchten, ehrliches und unterstützendes Feedback zu leisten, auf einzelne Lerner eingehen zu können, sich zu behaupten, andere Ansichten gelten zu lassen sowie sprachbezogene (accuracy) und mitteilungsbezogene (fluency) Aufgaben ausgewogen zu verwenden (Legutke/Thomas 1991, 294). 7.

D a s institutionelle U m f e l d

Diese gerade dargestellte Form eines adressatenzugewandten Unterrichts stellt besondere Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie ist - und das wird in der wissenschaftlichen Literatur nicht verschwiegen — sicherlich ein Idealbild, das nicht für den tatsächlich praktizierten Fremdsprachenunterricht repräsentativ ist. Unter dem Druck der Erfüllung des staatlich vorgeschriebenen Curriculums und angesichts großer Klassen mit einem weiten Spektrum von Leistungsbereitschaft und -fähigkeit der Schüler sieht der alltägliche Fremdsprachenunterricht an europäischen Staatsschulen in der Regel anders als dieses Ideal der Forschungsliteratur aus: Er wird „fast ausschließlich lehrbuchdeterminiert, frontal, ohne den stützenden und aktivierenden Einsatz von auditiven und visuellen Medien erteilt. Planungskriterien sind stoffliche Vorgaben (Lektionen) und grammatische Sequenzen, die zwar nie zur Beherrschung führen, aber immer so durchgenommen werden, als sei Beherrschung zumindest als abtestbare ,Leistung' das Ziel." (Piepho 1986,131) Eine wichtige institutionelle Funktion des Lehrers ist die des selektiven Prüfers und Testers, der das erlernte Schülerwissen individuell prüft und bewertet. Im institutionellen Bildungswesen können Tests zwar auch die Funktion von Sprachstandserhebungen haben, die lediglich der weiteren Förderung der Lernenden dienen (vgl. Art. 103), jedoch enthalten sie zumeist selektive Aspekte. Oftmals verselbständigen sich Prüfungsinhalte in dem Sinne, dass sie die Unterrichtsinhalte und -methoden bestimmen, nämlich wenn Motivation und Lernziele nicht aus pragmatischen Sprachverwendungsgründen bestimmt sind (Witte 1996, 161 fT.). Da es in der Regel keine von Lehrbuchautoren vorbereiteten Leistungskontrollen gibt, obliegt es dem didaktischen Geschick der

1118 Lehrkraft, diese innerhalb der institutionellen Vorgaben zu entwerfen und dabei sowohl das schülerseitige Interesse als auch rezeptive, reproduktive und produktive Verfahren unter Einbeziehung der verschiedenen Fertigkeiten zu berücksichtigen (Doye 1988). Entgegen dem Postulat, dass die Prüfung das abprüfen sollte, was per Lernzielbestimmung und Lehrplanentwicklung festgeschrieben wurde, sieht der Prüfungsalltag an vielen Institutionen eher umgekehrt aus (Putzer 1990). Konkret kann jedoch das subjektive Bewusstsein, dieses Postulat in der eigenen Unterrichtspraxis nicht erfüllen zu können, obwohl es doch so offensichtlich in der Literatur vorgeschrieben ist, zu erheblicher Angst des Lehrers vor seinen Schülern, Kollegen und Vorgesetzten führen (Brück 1979; Raether 1982), die bislang für den Bereich von Fremdsprachenlehrern noch nicht genauer in ihrem Ursachenkomplex erforscht wurde. Es bleibt ein Desiderat, diese Angst zu thematisieren und - etwa in Maßnahmen der Lehrerfortbildung — analytisch zu beheben. Eine Wandlung des Lehrerverhaltens in Richtung Lernberater ist eher im außerschulischen Bereich der Erwachsenenbildung als in der staatlichen Institution Schule zu finden, wo der curriculare und disziplinarische Druck so viel geringer ist, dass sogar der „Praxisschock" für Lehrkräfte in der Weiterbildung ausbleibt (Christ 1990, 66 ff.). Zudem ist das Alter ein wichtiger Faktor bei dem Fremdsprachenlernen und -lehren (vgl. den Überblick in Edmondson/House 1993, 165ff.), so dass bei erwachsenen Lernern, die man in der Weiterbildung antrifft, disziplinarische Planungsüberlegungen und Handlungen unterbleiben können, während gleichzeitig die didaktische Reduktion der Unterrichtsinhalte geringer ist. Insofern ist die Unterrichtsatmosphäre entspannter und gleichberechtigter, was naturgemäß einem adressatenorientierten Unterricht entgegenkommt. In einer Untersuchung zum Berufsbild des Fremdsprachenlehrers in der Weiterbildung charakterisieren die 93 von Herbert Christ befragten Lehrkräfte ihre Unterrichtspraxis so, „daß der Fremdsprachenunterricht als eine Veranstaltung gesehen wird, in der es nicht nur um den Erwerb formaler Sprachkenntnisse geht, sondern auch um die Befähigung, auf den anderssprachigen Partner mit seinen jeweiligen kulturellen Hintergründen einzugehen." (Christ 1990, 140) Dies wird dadurch gefördert, dass die Institutionen der Weiterbildung, ζ. B. die Volkshochschulen, das Curri-

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

culum nicht dermaßen dezidiert wie die Staatsschule vorgeben, so dass die am Unterricht Beteiligten ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse wesentlich stärker einbringen können. Die Lehrkraft hingegen unterliegt nicht jenem enormen curricularen Druck und den Ängsten, die die große staatliche Institution Schule mit ihrer Hierarchie und ihrem Verwaltungsapparat generieren kann. Allerdings leiden viele in der Weiterbildung beschäftigten Lehrkräfte unter dem vergleichsweise schlechten Gehalt, was sie häufig dazu zwingt, mehr Unterrichtsstunden zu erteilen als ihre Kollegen in staatlichen Schulen, was wiederum negative Konsequenzen für die Qualität des Unterrichts haben kann. Ebenso wirkt sich langfristig die Berufsunsicherheit negativ aus, da die weitaus meisten in der Weiterbildung tätigen Lehrkräfte auf Honorarbasis oder auf zeitlich befristeter Vertragsbasis arbeiten.

8.

DaF-Lehren in kulturdistanten Ländern

Weltweit sind die weitaus meisten DaF-Lehrkräfte in ihren Heimatländern tätig, d.h. außerhalb des deutschen Sprachraums. Ihre Unterrichtspraxis kann wesentlich weiter von dem oben dargestellten, auf westeuropäische Verhältnisse zugeschnittenen Idealis der Fremdsprachlehrkraft entfernt liegen als die ihrer Kollegen in Zentraleuropa, denn prägend für ihr faktisches Unterrichtsverhalten ist das soziokulturelle Bedingungsgefüge ihres Unterrichtskontextes vor Ort. Dieser konkretisiert sich in der Unterrichtspraxis auf verschiedenen Ebenen, etwa der Rollenerwartung, der mehr oder weniger autoritätsorientierten Lehr- und Lerntraditionen, der zur Verfügung stehenden Medien, des institutionellen Umfeldes, der Bildungstraditionen, der lernerseitigen Vorerfahrungen und Erwartungen, der sprachlichen Vorprägung der Lernenden, der gesellschaftlichen Wertorientierungen, des Status der Lehrkräfte u.v.a.m. (Neuner 1989). Diese Faktoren haben nicht nur einen direkten Einfluss auf die Unterrichtspraxis, sondern auch einen über die jeweiligen subjektiven Unterrichtstheorien der Lehrkräfte vermittelten. Schließlich sind diese in ihrer Genese keine ausschließlich subjektiven Konstrukte, sondern basieren zu einem großen Teil auf verinnerlichten gesellschaftlichen Normen und Werten. Es kann dem Deutschunterricht in nichtdeutschsprachigen Ländern nicht um einen

114. DaF-Lehren als Beruf

einseitigen Methodentransfer und eine missionarische Germanisierung der je einheimischen Lehrpläne gehen, sondern er muss sich zunächst Klarheit über die vor Ort gegebene Theorie und Praxis des Unterrichts verschafft haben und darauf alle unterrichtlichen Überlegungen gründen. Die kompetenten Fachleute für diese Aufgabe sind die vor Ort tätigen Lehrkräfte, die dies für jeweils ihr soziokulturelles Umfeld notwendigerweise in ihrer alltäglichen Unterrichtspraxis seit jeher tun. Es gibt jedoch in dem Grad der Anpassung (oder Ablehnung) europäisch orientierter Überlegungen zum Deutschunterricht erhebliche Unterschiede zwischen den Regionen der Welt, etwa den soziokulturell sehr ähnlich strukturierten Ländern Europas und Nordamerikas einerseits und den teilweise sehr kulturdistanten Ländern Asiens und Afrikas andererseits. Im folgenden soll auf das Lehren in kulturdistanten Ländern eingegangen werden, um die Divergenzen zu den vorher dargestellten eurozentrischen Überlegungen zum Fremdsprachenlehren deutlicher hervortreten zu lassen. 8.1. Regionalisierung der Lehrinhalte Seit den achtziger Jahren hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass die universell konzipierten DaF-Lehrwerke wegen mangelndem Zielgruppenbezug in der methodischen und didaktischen Strukturierung sowie bei der Auswahl der zielsprachlichen Handlungssituationen in der Praxis nicht ohne erhebliche Probleme der Anpassung an vor Ort geltende Traditionen eingesetzt werden können (Rosier 1984); sie behindern einen kulturangemessenen, innovativen und explorativen Unterricht. Daher entwickelten sich Ansätze zu einer Regionalisierung von einer Didaktik und Methodik DaF (Gerighausen/Seel 1984), die inzwischen ihren Niederschlag in zahlreichen regionalspezifischen DaF-Lehrwerken für kulturdistante Regionen (vgl. Art. 106) sowie länderspezifischen Untersuchungen zu Theorie und Praxis des DaF-Unterrichts vor Ort (Hess 1992; Ngatcha 1991; Witte 1996 u.a.) gefunden haben. Das Erstellen regionalspezifischer Lehrwerke ist nicht nur in inhaltlicher und didaktischer Hinsicht geboten, da der Lerner die fremdsprachliche Welt nur vom Boden seiner eigenen Kultur erschließen kann, sondern auch in methodischer Hinsicht, denn die Lehrbedingungen in vielen Ländern - nicht nur der sogenannten Dritten Welt - unterliegen oft vielfachen Beschränkungen: mangelnde Regelung der Ausbildung

1119 von DaF-Lehrkräften, Überbelastung durch hohes Stundendeputat, schlechte Bezahlung, Mangel an Unterrichtsmedien, praktische Unmöglichkeit der täglichen gründlichen Stundenvorbereitung u. a. Das verwendete Lehrwerk übernimmt daher häufig die Funktion der methodischen Unterrichtsstrukturierung, insofern es Auswahl, Anordnung, Reihenfolge, Darbietungsformen usw. vorgibt, so dass das Unterrichtsmaterial kulturangemessen „so angeordnet sein muß, daß der Lehrer quasi von der Hand in den Mund unvorbereitet damit arbeiten kann." (Seel 1986, 12) 8.2. Kulturangemessenes Lehrverfahren Der Imperativ der Kulturangemessenheit von fremdsprachlichen Unterrichtsinhalten impliziert - konsequent weiterverfolgt — auch den Einsatz kulturangemessener Unterrichtsmethoden seitens der Lehrkraft. Ebenso wie Unterrichtsinhalte können Unterrichtsmethoden keinen universalen Geltungsanspruch für eine nirgends existente internationalisierte DaF-Lehrpraxis erheben; Unterrichtsmethoden sind immer abgeleitet aus den jeweiligen soziokulturellen Traditionen und beziehen sich auf die konkreten Lehr- und Lernbedingungen vor Ort. Insofern sollten die kulturspezifischen Lehrtraditionen nicht in eurozentrischer Arroganz als rückständig, veraltet, unvollkommen und defizitär in Relation zu überlegenen westlichen Leistungen abgetan werden, sondern „in Umkehrung der bisherigen Blickrichtung als eigenständige Anpassungsleistung gewürdigt werden." (Krumm 1986, 19) Daher können Unterrichtsmethoden wie Frontalunterricht, die im europäischen Verständnis - obwohl praktisch die Norm - als rückständig gelten, in traditional autoritätsfixierten Gesellschaften durchaus ihre Berechtigung haben, während andererseits Methoden und Sozialformen, die einen Abbau der Autoritätsrolle des Lehrers im Unterricht voraussetzen, auf völliges Unverständnis der Lerner stoßen können, mithin kulturunangemessen und ineffektiv sind (Witte 1996, 338ff.). In einer Studie über interkulturelle Rollenerwartungen im fremdsprachlichen Lernkontext kommt etwa McCargar (1993, 198) zu dem Ergebnis, dass zur Überraschung ihrer USamerikanischen Lehrkräfte insbesondere arabische und iranische Studenten aufgrund ihrer entsprechenden kulturellen Vorprägungen die im westlichen Sinne als fortschrittlich eingeschätzte Gruppenarbeit wie auch offene Fragen emphatisch ablehnten. Statt dessen forderten sie Frontalunterricht und enge Fra-

1120

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

gen, die mechanische Antworten verlangten, wie sie dies aus der eigenkulturellen Sozialisation gewohnt waren. Ein wesentliches Element des Deutschlehrens in kulturdistanten Ländern ist somit - bei aller Regionalspezifik der Lehrwerke — die kulturangemessene Adaption der Unterrichtsmethoden an vorhandene Muster der sozialen Beziehungen, was einen hohen Personalisierungsgrad dieser Beziehungen einschließt, der die inhaltliche Unterrichtsebene überlagern kann (Bosse 1985). Insofern wird etwa aus afrikanischer Perspektive zu Recht die Forderung gestellt, dass es „in Lehre und Forschung, die bisher ausländischen Mustern entsprachen, einer grundsätzlichen Neukonzeptualisierung und Neuorientierung [bedarf], die afrikanischen Verhältnissen und Bedürfnissen wesentlich Rechnung tragen." (Ndumbe III 1990, 168) 8.3. Zusätzliche Lehrerqualifikationen Im Vergleich zur DaF-Lehrkraft in Zentraleuropa beinhaltet der Aufgabenbereich von Deutschlehrerinnen und -lehrern in kulturdistanten Ländern zusätzliche Anforderungen, da Fremdsprachenunterricht immer zugleich auch Fremdkulturunterricht ist, sofern er nicht in der Rezitation abstrakten grammatischen Regelwissens verharren soll. Es ist in der Regel die Lehrkraft, die im Zweifelsfalle Informationen über kulturell verschlüsselte Hintergründe und Bedeutungsebenen von Lehrbuchtexten (oder literarischen Texten) gibt, die dem einheimischen Lerner ansonsten aufgrund seines kulturell anders geprägten Vorverständnisses verborgen bleiben. Erst wenn von der Lehrkraft, dem Lehrwerk oder dem Lerner relevante Anknüpfungs- und Kontrastpunkte zwischen Ausgangs- und Zielkultur sinnvoll in den Unterricht eingebracht werden, kann sich ein konstruktiver Verstehungsprozess seitens der Lerner entfalten (vgl. Art. 4, Ihekweazu 1985,300). Es bleibt dabei dem pädagogischen Geschick der Lehrkraft überlassen, in diesen Prozess nicht zu stark steuernd einzugreifen, um die Lernmotivation nicht zu unterminieren. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der fremden Sprache und - durch sie vermittelt — der fremden Kultur sind auch Lernstrategien einzuüben, die den Lerner in seinem Lernverhalten autonomer werden lassen. Aber auch die Lernstrategien sind in ihrer Struktur kulturgebunden, da sie von dominanten Lerntraditionen und Lehrverfahren der jeweiligen Gesellschaft abgeleitet werden.

Die in kulturdistanten Ländern tätige Lehrkraft kann dabei jedoch stärkeren Restriktionen unterworfen sein, indem ihre Funktion — vor allem in autoritären Gesellschaften - wesentlich stärker in affirmativer Funktion denn als kritikfördernd angesehen wird, obwohl natürlich jede Erziehung letztlich auf gesellschaftliche Konformität angelegt ist. Insofern muss sie sich ihrer gesellschaftlichen Rolle bewusst sein und die Lehrziele europäisch geprägter Deutsch-Curricula sowie der Interkulturellen Germanistik kritisch hinsichtlich ihrer Adaptionsmöglichkeiten in ihrer Kultur prüfen, beispielsweise jenes der Kulturmündigkeit von Lernern (Wierlacher 1980, 22) oder der Umgestaltung bestehender Verhältnisse (Sow 1986, 179). Es bleibt der Lehrkraft überlassen, inwieweit sie bereit ist, emanzipative Elemente in den Unterricht zu integrieren, die aus westlicher Sicht sicherlich als wünschenswert und gar adressatenorientiert gelten; fraglich wird jedoch eine Dominanz solcher Inhalte dann, wenn sie den tatsächlichen Interessen der Lerner zuwiderlaufen, da häufig ein Interesse an einem möglichst guten Abschlusszertifikat zwecks vertikaler sozialer Mobilität besteht, dem emanzipative, nicht prüfungsrelevante Unterrichtsinhalte wenig dienlich sein können (Witte 1996; Shin 1991). Doch nicht nur hinsichtlich der Adaption europäisch generierter Konzepte an den soziopolitischen Möglichkeitshorizont ihres Landes muss die Deutschlehrkraft in kulturdistanten Ländern kritisch aufgeschlossen sein, sondern auch hinsichtlich ökonomisch verschleierter internationaler Machtverhältnisse, die durch ein harmonisierendes Konzept einer interkulturellen Kommunikation verhandlungsfähig gemacht werden sollen (vgl. die Beiträge in Zimmermann 1989). Insofern ist ein kritisches politisches Bewusstsein der Deutschlehrkraft in der sogenannten ,Dritten Welt' unabdingbar.

9.

Perspektiven

Bezogen auf das Deutschlehren weltweit gibt es immer noch zu wenige empirische Untersuchungen zu kulturangemessenen Adaptionen von Unterrichtsverfahren, die die alltägliche Unterrichtspraxis des Deutschunterrichts in ihrem soziokulturellen Bedingungsgefüge einschließlich der subjektiven Interpretationen des Unterrichts analysieren, mithin den Realis statt des Idealis des fremdsprachlichen Lehrens ins Zentrum des Interesses rücken. Ge-

1121

114. DaF-Lehren als Beruf

schähe dies auf konsistenter Basis für bestimmte Regionen der Welt, könnte man zu neuen Einsichten über Kategorien faktischen fremdkulturellen Lehrverhaltens kommen, die wiederum Rückwirkungen auf die immer noch eurozentrisch geprägte Theoriebildung einerseits sowie auf die Lehreraus- und Fortbildung vor Ort andererseits haben. Osterloh (1974, 353) stellt anschaulich das Scheitern von europäisch initiierten Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte in der Dritten Welt dar, wenn sie einheimische Traditionen ebenso ignorieren wie den vor Ort gegebenen Möglichkeitshorizont der Unterrichtspraxis: Die Fortbildner stehen vor leeren Bänken, weil sich wegen der Irrelevanz der Fortbildungsmaßnahmen für die konkrete Unterrichtspraxis vor Ort keiner dafür interessiert. Eine Auseinandersetzung mit administrativen und finanzpolitischen Bedingungen des Deutschunterrichts vor Ort müsste stärker als bisher akzentuiert werden, denn die Untersuchung des Lehrverhaltens greift zu kurz, wenn sie sich auf Unterrichtsanalysen und Erhebungen zu den subjektiven Einstellungen beschränkt. Die institutionellen Bedingungen von Aus- und Fortbildung könnten beispielsweise durch biographische Recherchen und Institutionsanalysen dem wissenschaftlichen Diskurs zugänglich gemacht werden, um auf diese Weise ihren Einfluss auf das Lehrerhandeln genauer zu erfassen. In der Sprachlehrforschung müssen theoretische Erkenntnisse und aus ihnen abgeleitete Forderungen für eine konstruktive Unterrichtspraxis auf konsistenter Basis und in realistischer Weise ausgerichtet sein. Eine unnötige Vagheit von Forschungsergebnissen in dieser Richtung erweist sich in der Praxis als Bremsklotz, wie es etwa in den Aufsätzen des von James und Garrett (1991) herausgegebenen Bandes über Language Awareness häufig in dem undifferenzierten Diktum zum Ausdruck kommt, die Umsetzung der theoretisch abgeleiteten Forderungen zur Schaffung eines Sprachbewusstseins bei Schülern hänge allein von der Bereitschaft und den Fähigkeiten der Lehrkraft ab. Dies soll natürlich nicht heißen, dass aus der Forschung direkte Handlungsanweisungen für Lehrkräfte abgeleitet werden sollen oder können; diese Art von Pragmatismus wäre nur eine unnötige Verengung pädagogischer Freiheit des Lehrens. Lehren wird oft als ein einsames Geschäft betrachtet, dem die Lehrkraft hinter geschlossenen Klassentüren nachgeht. Es ist wichtig, dass Lehrkräfte durch Aus- und Fortbildungsmaßnahmen veranlasst werden, ihre

Professionalität nicht als internes individuelles Persönlichkeitsmerkmal zu betrachten, sondern sie zu einem großen Teil mit Kollegen und Forschern zu teilen, so dass ihre Einsichten und Erfahrungen auf breiter Basis zugänglich gemacht werden können, was wiederum dem wissenschaftlichen Diskurs zugute kommt. Mit Widdowson (1990,7) könnte man sogar sagen, dass der fremdsprachliche Unterricht selbst eine Art operationaler Forschung ist, indem der Lehrer als Primarforscher fortlaufend Lösungen für mehr oder weniger komplexe Probleme des Lehrens findet. Eine wissenschaftliche Hilfestellung, mithin eine demokratischere und engere Kooperation von akademischer Sprachlehrforschung und Unterrichtspraxis ist unumgänglich, wenn die alltägliche Unterrichtspraxis Theorierelevanz und umgekehrt theoretische Forschungsergebnisse Praxisrelevanz erlangen wollen. 10. Literatur in Auswahl Alfes, Leonhard (1982): Der Lehrer als Motivationsfaktor — „whatever the method used". In: Englisch 17, 2 2 - 2 7 . Berliner, David C. (1987): Ways of Thinking About Students and Classrooms by More and Less Experienced Teachers. In: James Calderhead (Hg.): Exploring Teachers' Thinking. London, 60—83. Bludau, Michael u.a. (1973): Die Tätigkeitsmerkmale des Fremdsprachenlehrers. In: Neusprachliche Mitteilungen 4, 194-198. Bonß, Wolfgang (1982): Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung. Frankfurt/M. Bosse, Hans (1985): Inszenierungen. Die Aneignung der Fremde und die Behauptung der eigenen Kultur über ritualisierte Bildungsprozesse. Anhand der Interpretation einer Schulfeier in Westafrika. In: Josef Gerighausen; Peter C. Seel (Hg.): Sprachpolitik als Bildungspolitik. Dokumentation eines Werkstattgesprächs des Goethe-Instituts München vom 20.-22. September 1984. München, 299-345. Bromme, Rainer (1992): Der Lehrer als Experte: zur Psychologie des professionellen Wissens. Bern. Brück, Horst (1978): Die Angst des Lehrers vor seinem Schüler. Reinbek. Christ, Herbert (1990): Der Fremdsprachenlehrer in der Weiterbildung. Eine empirische Untersuchung. Tübingen. Dann, Hans-Dietrich (1989): Was geht im Kopf des Lehrers vor? Lehrerkognitionen und erfolgreiches pädagogisches Handeln. In: Psychologie in Erziehung und Unterricht 36, 81—90. — u. a. (1982): Arbeits- und Ergebnisbericht des Projekts „Aggression in der Schule". Zentrum für Bildungsforschung SFB 23. Konstanz.

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XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

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(Irland)

115. Ausbildung und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Inhalte und Formen 1. 2.

9.

Vorbemerkungen Grundsätzliche Aspekte der Lehrerausbildung Die Lehrerausbildung für Deutsch als Zweitund Fremdsprache in Deutschland und Österreich Perspektiven der Lehrerausbildung Grundsätzliche Aspekte der Lehrerfortbildung Neue Konzepte und Formen der Lehrerfortbildung Der institutionelle Ort der Lehrerfortbildung Brennpunkte der Lehrerfortbildung im Bereich Deutsch als Fremdsprache Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkungen

3. 4. 5. 6. 7. 8.

Die Aus- und Fortbildung von Lehrern für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache lässt

sich in einem Artikel nicht flächendeckend und vollständig darstellen. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass systematische Analysen weder für den Bereich der Aus- noch für den der Fortbildung vorliegen, sondern ganz entschieden auch mit den höchst unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Deutschunterricht stattfindet und die Aus- und Fortbildung der Lehrenden geregelt ist. So ist grundsätzlich zu unterscheiden zwischen Ländern, in denen schulischer Deutschunterricht und die entsprechende Lehrerausbildung eine staatliche Angelegenheit sind, so dass staatliche Regelungen die Ausbildung bestimmen, und solchen, wo dies nicht der Fall ist und wo jede Schule eigene Anforderungen an die Lehrkräfte artikuliert. Aber selbst in den Ländern, die die Lehrerausbildung staatlich re-

1124

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

geln, herrschen höchst unterschiedliche lokale, regionale und nationale Strukturen; noch stärker differieren die Systeme im Bereich der Lehrerfortbildung, die — falls überhaupt — sehr unterschiedlich institutionalisiert ist. Schließlich ist zu beachten, dass es je nach Land und Situation gemeinsame oder unterschiedliche Strukturen für die Ausbildung zum Deutsch-, Englisch- oder Spanischlehrer usf. gibt, abhängig davon, ob die jeweilige Sprache zum Pflichtangebot gehört, ob sie bereits in der Primarstufe oder nur an bestimmten weiterführenden Schulen angeboten wird. Ein grundsätzlicher Unterschied ist schließlich im Hinblick auf den Zweitsprachenunterricht im deutschen Sprachraum und den Fremdsprachenunterricht in nichtdeutschsprachigen Ländern zu machen. Der vorliegende Beitrag muss sich auf Grundsätzliches und exemplarische Darstellungen konzentrieren. Für Spezifika der einzelnen Länder sei daher auf die Artikel 143fT. des XXIII. Kapitels des vorliegenden Handbuchs verwiesen.

2.

Grundsätzliche Aspekte der Lehrerausbildung

2.1. Zur Situation der Fremdsprachenlehrerausbildung Die Vermittlung von Fremdsprachen war bis in das 18. Jh. hinein eine Aufgabe von Gouvernanten und Sprachmeistern, also muttersprachlichen Autodidakten - eine Tradition, die bis heute in der Beliebtheit von native speakers als Sprachlehrkräften fortbesteht (vgl. Abschnitt 2.3.). Die Muttersprache - so der Gedanke — beherrsche jeder Mensch so gut, dass er sie auch als Fremdsprache vermitteln könne. Erst mit dem Ende des 18. Jhs., im Zuge einer stärkeren staatlichen Regulierung des Unterrichtswesens entstehen Regelungen für eine systematische, fachlich fundierte Lehrerausbildung (zur Geschichte der Lehrerausbildung allgemein vgl. die Angaben bei Gerner 1975; zur Entwicklung der Fremdsprachenlehrerausbildung vgl. von Bhück 1995). Die heute weitgehend übliche Ausbildung von Fremdsprachenlehrern (für die Sekundarstufe) im Rahmen der Philologien entwickelte sich in Parallelität zu den Studien in Griechisch und Latein, um für die lebenden Fremdsprachen ein ähnliches Prestige zu etablieren. Die Neuphilologie an den Universitäten verdankt der Lehrerausbildung weitgehend ihre Institutionalisierung, ohne allerdings die Studieninhalte auf die künftige

Berufsrolle ihrer Absolventen abzustimmen. Universitäten sahen und sehen sich teilweise noch heute nicht als Ausbildungsstätten, sondern orientieren sich in ihrem Unterrichtsprogramm an der Fachsystematik: wer sein Fach versteht, so der Grundgedanke, könne es dann auch gut unterrichten (vgl. die diesbezüglichen Äußerungen von Glück 1997, der Berufsbezug als „Turbodidaktik" diffamiert). So berechtigt auch heute noch in zahlreichen Ländern ein vorwiegend philologisch orientiertes Germanistikstudium, in dessen Zentrum Mediävistik, Sprach- und Literaturwissenschaft stehen, zu einer Tätigkeit als Deutschlehrer, auch wenn inzwischen zum Teil ergänzende pädagogische Studien (pädagogisches Begleitstudium, Referendariat, Unterrichtspraktikum o.ä.) hinzugekommen sind. Seit Beginn der 70er Jahre wird an diesem Zustand zunehmend Kritik geübt: „Es dürfte wohl nicht übertrieben und ungerecht sein, der akademischen Funktionselite ... einen Habitus zu bescheinigen, der sich (nicht selten) durch seinen bewusst kultivierten Gegensatz zu jeder Form von praktisch verwertbarem Wissen oder Berufsbezogenheit der wissenschaftlichen Lehre auszeichnet. ... Meine Kritik richtet sich primär gegen die tradierte, aber nicht mehr zukunftsfähige fachwissenschaftliche Fixierung philologisch-literarischen Zuschnitts im Studium der künftigen Fremdsprachenlehrerinnen und -lehrer." (Zydatiß 1998,239)

Das Zusammenwachsen Europas, die Globalisierung der Wirtschaft und die Internationalisierung der Kommunikation durch Medien, Tourismus und Migration stellen neue Anforderungen an Fremdsprachenunterricht und Fremdsprachenlehrer. So formuliert das Madrider Manifest (Das Madrider Manifest 1987,40 f.): „In ihrer heutigen Form entsprechen weder das Philologiestudium an den Hochschulen noch die anschließende pädagogische Ausbildung ausreichend den Bedürfnissen interkultureller Kommunikation. Die übliche Lehrerausbildung ist meist zu ausschließlich literarisch, in zu engem Sinne linguistisch oder auf eine nur folkloristische Landeskunde beschränkt und vernachlässigt die Geschichte, die Kenntnis der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse und die Einführung in interkulturelle Fragen. Viele Lehrer tun selbst nicht, was sie ihren Schülern vermitteln sollten. Es geht um nichts Geringeres als eine Neudefinition der Rolle des Lehrers als Anreger und Führer durch die fremde Kultur. Lehrerbildung sollte also bei allen Erneuerungsbemühungen hohe Priorität genießen."

Solche Aufrufe zur Reform der Fremdsprachenlehrerausbildung haben keine nennens-

115. Ausbildung u. Fortbildung von Lehrerinnen u. Lehrern für Deutsch als Fremd- u. Zweitsprache

werten Auswirkungen gehabt, so dass Zydatiß (1998) eine Sammlung von Stellungsnahmen zur Fremdsprachenlehrerausbildung in der Bundesrepublik Deutschland mit der Überschrift „Fremdsprachenlehrerausbildung — Reform oder Konkurs" versieht. Während die Lehrerausbildung in Westeuropa seit den 50er Jahren stagniert, sind mit dem durch die Öffnung des „Eisernen Vorhangs" entstandenen großen Bedarf an qualifizierten Fremdsprachenlehrern in zahlreichen mittel- und osteuropäischen Ländern neue Wege der Lehrerausbildung beschritten worden. Mit dem Wegfall des Russischen als Pflichtfremdsprache und der Öffnung nach Westeuropa explodierte die Nachfrage nach Fremdsprachenunterricht vor allem in Deutsch und Englisch; die mittel- und osteuropäischen Reformstaaten standen vor der Notwendigkeit, rasch möglichst viele Lehrkräfte zu qualifizieren. Da die Universitäten mit ihrer philologischen Tradition als zu schwerfällig erschienen, wurde in manchen Ländern ein neuer Weg beschritten: in Polen und in der Tschechischen Republik ζ. B. wurden unabhängig von den Universitäten Kurzstudien an eigens gegründeten Lehrerkollegs bzw. Zentren eingeführt, die mit einer dreijährigen Ausbildung (gegenüber dem traditionell fünfjährigen Universitätsstudium) Deutschlehrer qualifizieren sollten: in Ungarn wurden solche Kurzstudiengänge an den Hochschulen etabliert (vgl. zur Ubersicht Kast/Krumm 1994; Krumm 1999). 2.2. Die Rolle der Deutschlehrerausbildung im Rahmen der Germanistik Dass ein germanistisches Studium allein nicht diejenigen Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, die ein Lehrer braucht, um zu unterrichten, liegt auf der Hand: „Wir wissen heute, dass der Sprachunterricht und die Fremdsprachenmethodik mehrere Grundlagenwissenschaften haben, von denen die Sprachwissenschaft nur eine ist. Wir wissen aber noch nicht genau, in welchem Verhältnis diese Grundlagenwissenschaften zueinander stehen, welche Leistungen von welchen Wissenschaften an welcher Stelle für eine Optimierung des Fremdsprachenunterrichts erbracht werden müssen." (Heibig 1975, 6) Insofern bestimmt die Frage, welche Inhalte unverzichtbar sind und wie die einzelnen Ausbildungskomponenten zu gewichten seien, ohne das Studium zu überfrachten, die Diskussion um die Fremdsprachenlehrerausbildung seit den 70er Jahren (vgl. auch die Diskussion um

1125

die Struktur des Faches Deutsch als Fremdsprache in der Zeitschrift Deutsch als Fremdsprache 1996ff.; vgl. Art. 1). Eine Ausrichtung der Lehrerausbildung auf das künftige Berufsfeld bedeutet vor allem, außer den sprach- und literaturwissenschaftlichen auch sprachdidaktische und landeskundliche Studienelemente einzubeziehen, was nicht ohne eine Überprüfung auch der germanistischen Ausbildungsinhalte erfolgen kann. Damit ist, auch wenn Kritiker dies gelegentlich unterstellen (so etwa Glück 1997, 60 ff.), nicht gemeint, auf eine solide germanistische Ausbildung zu verzichten; vielmehr geht es darum, diese durch eine ebenso fundierte, auf die Lehraufgaben zugeschnittene Ausbildung zu komplettieren: „Die Grundfrage der curricularen Reform der Deutschlehrerausbildung lautet also: wie müsste eine Konzeption aussehen, in der die Ansprüche des fachwissenschaftlich orientierten Germanistikstudiums mit den Anforderungen einer praxisorientierten Berufsbildung ,unter einen Hut gebracht' werden?" (Neuner 1994, 12) Es ist allerdings ein völliges Missverständnis von Sprachdidaktik, wenn diese auf die bloße „Umsetzung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse in die systematische Lehre" (Glück 1997, 63) verkürzt wird. Die Dynamik des Lehr-Lernprozesses bildet einen eigenständigen Studienbereich, in dem neben sprachbezogenen auch die Vielfalt lerner- und interaktionsbezogener Aspekte zu berücksichtigen sind, d. h. dass ein berufsorientiertes Lehrerstudium interdisziplinär anzulegen ist (vgl. auch Heibig 1997, 93). Der Fachverband Moderne Fremdsprachen hat 1978 ein umfangreiches Konzept vorgelegt, das die folgenden Elemente als Grundbestandteile eines Ausbildungscurriculums enthält (vgl. auch Art. 114): Sprachpraxis, Sprachdidaktik, Fremdsprachenpolitik und -bedarfsforschung, Spracherwerbstheorie, Linguistik, Text- und Literaturwissenschaft, Landeskunde, Methodenlehre und Lehrtraining, Medienkunde, Leistungskontrolle, Unterrichtsorganisation, Rollenverständnis des Fremdsprachenlehrers (Bludau u.a. 1978). Christ (1990, 32-42) stellt auf Grund einer Befragung von Lehrenden in der Erwachsenenbildung über 100 solcher Tätigkeitsmerkmale zusammen. Seit Ende der 80er Jahre wird unter den Anforderungen an Fremdsprachenlehrer verstärkt ihre besondere Rolle als Mittler zwischen den Kulturen betont: „Der Fremdsprachenlehrer ist nie nur Fachlehrer, sondern immer auch Lernberater und kultureller Mitt-

1126 1er, der (z.B. im Rahmen des Schüleraustauschs) auch Kulturschock-Erfahrungen helfen muss zu verarbeiten." (Krumm 1993b, 282) — „Interkultureller Unterricht kann nur Wirklichkeit werden, wenn die Lehrerinnen und Lehrer über entsprechende Einstellungen zur Mehrsprachigkeit und Interkulturalität verfügen." (ebd. 281) Die Außenperspektive ist das unterscheidende Merkmal zwischen einer Lehrerausbildung für den muttersprachlichen und den fremdsprachlichen Deutschunterricht (vgl. Heibig 1997, 95 ff.). Insgesamt hat die Auflistung von „Tatigkeitsmerkmalen" die Erkenntnis verstärkt, dass die Ausbildung allein überfordert wäre, alle diese Qualifikationen in umfassender Weise zu vermitteln, dass es vielmehr einer Kombination von Lehreraus- und Fortbildung bedarf, eines lebenslangen Lernens, damit Lehrende den Anforderungen an ihre Tätigkeit gerecht werden können. Die Diskussion um das Anforderungsprofil an Fremdsprachenlehrer hat sich jedoch auch in einer Reihe von Grundsätzen im Hinblick auf eine tatsächliche Professionalisierung angehender Deutschlehrer allgemein niedergeschlagen, die zumindest ansatzweise in neueren Curricula aufgegriffen werden: Krumm (1993a; 1994a) hat die Ziele und Inhalte einer solchen berufsbezogenen Deutschlehrerausbildung in sechs Dimensionen zusammengefasst (vgl. auch Neuner 1994): 1. Die sprachliche Dimension: Sprachkönnen, Sprachwissen 2. Die Dimension des Lernens: Lernbedingungen und Lernvoraussetzungen, Motivation, Relation Mutter- und Fremdsprache; autonomes Lernen 3. Die Dimension des Lehrens: Methodik; Lehrverhalten; Unterrichtspraktika 4. Die Inhaltsdimension: Texte und Themen, Literatur und Landeskunde, evtl. Fachsprache 5. Die interkulturelle Dimension: Aspekte der Fremdwahrnehmung und interkulturellen Kommunikation 6. Die sprachenpolitische Dimension: institutionelle Aspekte; Rolle der deutschen Sprache, Beziehungen Heimatland - D, A, CH. Ein solches nicht bloß philologisches, sondern auch die Vermittlung von Lehrfähigkeit einschließendes Verständnis der Lehrerausbildung hat in einigen Ländern zur Einrichtung fremdsprachendidaktischer Abteilungen im Rahmen der Germanistik bzw. zu in-

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

tegrierten germanistisch-erziehungswissenschaftlichen Ausbildungskonzeptionen und zur verstärkten Einbeziehung praktischer Phasen in die Lehrerausbildung geführt. Die Interkulturelle Germanistik versucht über die Lehrerausbildung hinaus, den Gedanken der Fremdwahrnehmung und Interkulturalität als Grundkategorie in der Auslandsgermanistik zu verankern und damit die Ausbildung von Deutschlehrern aus der Bindung an binnengermanistische Modelle zu lösen, in denen die Kategorie der Fremdheit nicht konstitutiv ist (vgl. Krusche 1985; Wierlacher 1987). Für die Entwicklung von Lehrerausbildungscurricula haben solche Überlegungen unmittelbare Konsequenzen im Hinblick auf die Gewichtung der verschiedenen Studiengebiete: während traditionelle germanistische Studien auch für angehende Deutschlehrer eine Gewichtung von Sprachpraxis (ca. Vi) - Sprachwissenschaft/Literaturwissenschaft einschließlich Sprach- und Literaturgeschichte (ca. 2Δ) vornehmen, sieht die Deutschlehrerausbildung an den polnischen Lehrerkollegs eine Aufteilung von Sprachpraxis (30%) - Methodik (45%) - „Ergänzungsdisziplinen" (einschließlich Sprach- und Literaturwissenschaft) (25%) vor (vgl. Günther/Stasiak 1994). Die vorliegenden Curricula beanspruchen nicht, als universale Modelle zu gelten, sie stellen vielmehr, wie das polnische Beispiel zeigt, Antworten auf konkrete Entwicklungen und Bedarfssituationen dar (vgl. F. Grucza 1993, 10). 2.3. Die sprachpraktische Ausbildung Vielfach wird als selbstverständlich angenommen, dass native speakers, die ihre Muttersprache als Fremdsprache vermitteln, schon auf Grund der besseren Sprachkenntnisse den nichtmuttersprachlichen Deutschlehrern überlegen und die besseren Sprachlehrer seien. Seit Beginn der 90er Jahre wird diese überlegene Rolle der Muttersprachler jedoch zur Diskussion gestellt (vgl. Seidlhofer 1995, Kramsch 1997): zum einen zeigte sich, dass Lehrkräfte, die ihre Muttersprache als Fremdsprache vermitteln, keine besonders guten Sprachmodelle für das Erlernen einer Sprache liefern, zum andern wurde deutlich, dass sie in sprachdidaktischer Hinsicht nichtmuttersprachlichen Lehrkräften teilweise sogar unterlegen sind. So weist Zawadzka darauf hin, dass sie keineswegs — wie vielfach angenommen — toleranter gegenüber Normabweichungen seien (Zawadzka 1991), Seidlhofer hebt hervor, dass ihnen die Sensibilität

115. Ausbildung u. Fortbildung von Lehrerinnen u. Lehrern für Deutsch als Fremd- u. Zweitsprache

für die besonderen Lernprobleme ihrer Muttersprache als Fremdsprache fehle, ebenso aber vielfach auch die Kenntnis der Ausgangssprache als Grundlage für das Erkennen von Lernproblemen: „Non-Native Speakers haben durch ihre eigene eingehende Erfahrung als Lernende eine erhöhte Sensibilität für genau diese Belange" und können daher „den sprachlichen Erwartungshorizont der Lernenden" besser einschätzen. (Seidlhofer 1995, 221) Für Muttersprachler wird daher immer wieder vorgeschlagen, eine Phase des Erwerbs einer ihnen unbekannten Fremdsprache in die Deutschlehrerausbildung zu integrieren, um sie für diese Fremdsprachenlernperspektive zu sensibilisieren (vgl. Krumm 1973, 124ff.). Dass für nichtmuttersprachliche Deutschlehrer eine möglichst umfassende Beherrschung der Zielsprache wünschenswert ist, steht außer Frage. Die Sprachvermittlung dominiert daher zumindest die erste Studienphase in den meisten auslandsgermanistischen Studiengängen (vgl. Kerschhofer-Puhalo/Krumm 1997). Dabei ist zu unterscheiden zwischen Studiengängen, in denen Studierende ohne nennenswerte sprachliche Vorkenntnisse ein Deutschlehrer-/Germanistikstudium aufnehmen — in der Regel dort, wo Deutsch nicht an Schulen angeboten wird —, und jenen, in denen eine relativ gute Sprachbeherrschung Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums ist und daher von Anfang an das Studium stärker fachliche Akzente setzen kann. Angesichts der konstitutiven Bedeutung von Sprachkenntnissen für (angehende) Deutschlehrer ist es erstaunlich, dass wenig darüber bekannt ist, welche spezifischen sprachlichen Kenntnisse ein Deutschlehrer braucht; so wurden bislang auch nur in Ausnahmefallen Sprachkurse entwickelt, die unterrichtsspezifische Sprachkenntnisse vermitteln, etwa spezifische Argumentationsund Diskussionstechniken oder die Fähigkeit, Klassengespräche zu strukturieren (vgl. Kardos 1996 und die Beiträge in Petneki u. a. 1994). Bei der Gestaltung der sprachpraktischen Ausbildung muss es darum gehen, die Isolierung der Sprachkurse vom übrigen Lehrangebot zu überwinden, befindet sich der Lehrerstudent doch in einer spezifischen Doppelrolle als Sprachlernender einerseits und (angehender) Sprachlehrer andererseits. Lehrer unterrichten so, wie sie selbst eine Sprache gelernt haben. Sprachpraktische Kurse im Rahmen der Lehrerausbildung müssen daher sprachdidaktische Modelle

1127

darstellen, die im Rahmen der methodischen Ausbildung ausgewertet werden (vgl. Krumm 1976; Petneki u.a. 1994). Als Beispiel für ein sprachpraktisches Lehrangebot, das die angehenden Lehrkräfte als Sprachexperten qualifizieren, zugleich aber eine Brücke zu ihrer Lehrerrolle und ihren anderen Studiengebieten schlagen soll, sei hier das Curriculum der Eötvös Loránd Universität in Budapest dargestellt: Programm für Sprachpraxis und Landeskunde fünfjährige Ausbildung (Reihenfolge frei wählbar) 1. Grammatik 2. Grammatik 3. Textanalyse, Textproduktion 4. Mündliche Ausdrucksformen 5. Schriftliches und mündliches Übersetzen 6. Landeskunde 7. SpezialÜbung

2 2 2 2

Std. Std. Std. Std.

2 Std. 2 Std. 1 Std.

insgesamt: 13 Stunden dreijährige Ausbildung (Reihenfolge im Curriculum festgelegt) 1. Studienjahr je Semester 2 Std. Grammatik 3 Std. Mündliche Ausdrucksformen 3 Std. Textanalyse, Textproduktion 2. Studienjahr je Semester 2 Std. Grammatik 2 Std. Schriftliches und mündliches Übersetzen 3 X 2 Std. Landeskunde (frei wählbar in den ersten vier Semestern) 3. Studienjahr je Semester 2 Std. SpezialÜbung insgesamt: 34 Stunden Abb. 115.1: Programm für Sprachpraxis und Landeskunde (Hajdú 1994, 40).

2.4. Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung in der Lehrerausbildung Mit der Forderung nach einem stärkeren Berufsbezug der Deutschlehrerausbildung hat die Bedeutung der unterrichtsbezogenen Fragestellungen in lehrerausbildenden Studiengängen zugenommen, wobei sich die Situation je nach Land höchst unterschiedlich darstellt: in den Studiengängen für Deutsch als Fremdsprache in der Bundesrepublik Deutschland stehen Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung vielfach im Zen-

1128 trum, in der Auslandsgermanistik hängt dies vom Stand der Studienreform bzw. der traditionellen Rolle von Glottodidaktik bzw. Angewandter Linguistik im Rahmen des Germanistikstudiums ab. Bei der Entwicklung von Curricula für die Deutschlehrerausbildung in den mittel- und osteuropäischen Ländern wurde die Orientierung auf die „Unterrichtskompetenz" der künftigen Lehrer besonders konsequent umgesetzt: so sehen die Lehrerstudiengänge in Polen wie in Ungarn für das Studium durchgehend Lehrveranstaltungen zur Fremdsprachendidaktik im Umfang von insgesamt ca. 12-18 Wochenstunden vor, wobei ein breites Spektrum an Fragestellungen einschließlich der Literatur- und Landeskundedidaktik abgedeckt wird (vgl. die Beiträge in Kast/Krumm 1994). Drei Gesichtspunkte spielen bei der Einbeziehung methodisch-didaktischer Aspekte in die Deutschlehrerausbildung eine besondere Rolle (vgl. Krumm 1976; 1993a): 1. die Verknüpfung von Theorie und Praxis: zu den sprachdidaktischen Lehrveranstaltungen gehören daher in der Regel Unterrichtspraktika, die es den angehenden Lehrern erlauben, die Umsetzung von Konzepten in die Unterrichtspraxis zu beobachten bzw. selbst zu erproben (vgl. Abschnitt 2.6.); 2. die Verknüpfung des fachwissenschaftlichen mit dem fremdsprachendidaktischen Studium, so dass die Studierenden aus der didaktischen Perspektive heraus Rückfragen an die Sprach- und Literaturwissenschaft stellen können; 3. die Einbeziehung des forschenden Lernens: die künftigen Lehrer sollen es lernen, selbst ein Stück weit,Klassenzimmerforschung' zu betreiben, d. h. die ablaufenden Lehr- und Lernprozesse zu analysieren, um den besonderen Lehr- und Lernproblemen auf die Spur zu kommen. Um dies zu verwirklichen, können zum Teil die Abschlussarbeiten auch in auslandsgermanistischen Studiengängen im Bereich der Sprachdidaktik geschrieben werden: So heißt es im Ausbildungsplan für die dreijährige Ausbildung der Eötvös-Loränd-Universität in Budapest: „Das Thema der Abschlussarbeit kann im Sinne der eigenen Sprachlehrforschungstätigkeit auf den eigenen schulischen Unterricht bezogen sein." (Ausbildungsplan S. 10, zitiert nach Petneki 1994,46)

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

2.5. Die Landeskunde in der Deutschlehrerausbildung Landeskunde spielt in der Ausbildung von Deutschlehrern eine gewichtige Rolle. Das Verständnis dessen, was hier zu vermitteln und wie dieses Lehrangebot zu organisieren ist, hat sich allerdings seit den 80er Jahren grundlegend gewandelt (vgl. Art. 4 und 96). So konkurrieren in der Lehrerausbildung unterschiedliche Modelle: Reinbothe rückt die „geographischen, ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Verhältnisse in Deutschland" in den Mittelpunkt (Reinbothe 1997), während die ABCD-Thesen zur Landeskunde (1990) die Einbeziehung des gesamten deutschsprachigen Raumes fordern und statt der Anhäufung von Faktenwissen für eine verstärkte Kompetenz der Lehrkräfte im Bereich der Kultursensibilisierung, des Vergleichens und des interkulturellen Lernens plädieren (vgl. Krumm 1998). Die konkrete Entscheidung für einen bestimmten Zugriff wird wesentlich durch den Lernort bestimmt: aus einer europafernen Perspektive liegt der Blick auf die deutschsprachigen Länder im europäischen Kontext nahe. Innerhalb Europas und in Nachbarschaft zu deutschsprachigen Ländern rücken neben den Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz stärker in den Blick; Landeskunde gehört hier als integrierter Bestandteil zur sprachpraktischen und sprachdidaktischen Ausbildung — was separate Seminare nicht ausschließt. Innerhalb des deutschen Sprachraums dominieren interkulturelle Ansätze, kombiniert mit Verfahren der erlebten Landeskunde, d.h. Recherchen und Erkundungen (vgl. Art. 4 und 96). Das bedeutet nicht, auf systematisches Wissen zu verzichten, sondern dieses im Hinblick auf die künftige Lehrtätigkeit zu fokussieren: „Zukünftige Lehrer müssen in besonderer Weise die Kontraste zwischen Eigenkultur und Fremdkultur, den Humor und die Regeln der Höflichkeit nicht weniger als die aktuellen politischen Konflikte oder die Funktionsweise der Medienöffentlichkeit verstehen, weil sie nur in diesem Gesamtzusammenhang ihren Schülern mehr als trockene Sprache, nämlich ein lebendiges, konkretes und vielfaltiges Bild des Partnerlandes vermitteln können." (Roggausch 1997,479).

2.6. Praktika In vielen europäischen Ländern, so auch in Deutschland und Österreich, ist die Lehrerausbildung zweiphasig angelegt: an das philo-

115. Ausbildung u. Fortbildung von Lehrerinnen u. Lehrern für Deutsch als Fremd- u. Zweitsprache

logische Studium schließt sich eine Phase der Praxiseinführung und Praxiseinübung an (Referendariat, unterrichtspraktisches Jahr o. ä.), die in der Regel nicht mehr in der Verantwortung der ausbildenden Hochschule, sondern spezieller Institutionen (in Deutschland ζ. B. der Studienseminare) durchgeführt wird. Die Überwindung dieser starken Trennung in eine wissenschaftlich-theoretische und eine praktische Ausbildungsphase in einer einphasigen Lehrerausbildung ist seit langem als Notwendigkeit erkannt (vgl. Krumm 1976) und wurde im Bereich der Deutschlehrerausbildung insbesondere in den mittel- und osteuropäischen Reformprojekten realisiert. So wird im Curriculum für die Deutschlehrerausbildung am Fremdsprachenlehrerkolleg der Universität Gdansk vom ersten Semester an systematisch auch die praktische Handlungsfähigkeit der angehenden Deutschlehrer entwickelt, zum einen in Form von Seminaren ab dem ersten Semester, zum andern in Form von Schulpraktika (zwei Wochenstunden im 3. und 4. und je drei Wochenstunden im 5. und 6. Semester) (vgl. Badstübner-Kizik 1994; für eine vergleichbare Entwicklung in der Budapester Deutschlehrerausbildung vgl. Morvai 1994). Speziell fortgebildete Lehrkräfte übernehmen als Mentoren in Zusammenarbeit mit den Lehrkräften für Sprachdidaktik der Hochschule die Betreuung dieser Praxisphasen (vgl. Schmidt 1998). In Westeuropa ist es dagegen weitgehend bei einer zweiphasigen Ausbildung geblieben, allerdings haben auch hier in unterschiedlicher Form Praxisphasen Eingang in die Ausbildung gefunden. So wurden Anfang der 90er Jahre in Frankreich Institutes Universitaires de Formation des Maîtres gegründet, die am Übergang von Hochschule zu Lehrberuf (nach der Licence) didaktische und schulpraktische Studien anbieten; eine ähnliche Funktion haben die an den portugiesischen Hochschulen geschaffenen Stellen von Orientadores, die die erste Praxisphase angehender Lehrer begleiten. Insgesamt zeigt die Praxis der Lehrerausbildung eine Vielfalt von Formen, den künftigen Lehrern Erfahrungen mit ihrem künftigen Berufsfeld bereits im Rahmen der Erstausbildung zu ermöglichen: a) Unterrichtsbeobachtung und Hospitationen: Eine Einführung in die systematische Unterrichtsbeobachtung gehört vielfach zum festen Bestandteil der sprachdidaktischen und unterrichtspraktischen Ausbildung: an-

1129

gehende Lehrerinnen und Lehrer müssen es zunächst lernen, ihr künftiges Praxisfeld, das sie bislang nur aus der Schülerperspektive kennen, aus der Lehrperspektive, d.h. auch unter fachlichen und didaktischen Aspekten, wahrzunehmen. Das kann mit Hilfe von Unterrichtsaufzeichnungen oder durch angeleitete Hospitationspraktika geschehen (vgl. Art. 116). b) Microteaching und Unterrichtspraktikum: Beobachten allein befähigt nicht zu Handlungskompetez. Microteaching lässt sich als eine Art Videotraining beschreiben und hat sich als Element der schulpraktischen Ausbildung und Vorstufe zu Richtigem' Unterrichten bewährt: die Studierenden können erste Schritte des Unterrichtens unter Reduktion der Komplexität des Unterrichtsprozesses und mit wenigen gutwilligen' Lernenden (meist ihren Mitstudenten) ausprobieren und gezielt einzelne Lehrfertigkeiten trainieren, ehe in einem Unterrichtspraktikum reale Unterrichtserfahrungen gesammelt werden (vgl. Krumm 1973; Nehm 1976; B. Grucza 1993). c) Bei den Studiengängen für Deutsch als Fremdsprache im deutschsprachigen Raum gibt ein Auslandspraktikum den Studierenden Gelegenheit, Unterrichtserfahrungen in einem anderen kulturellen Kontext zu sammeln (vgl. Fandrych 1993) 3.

Die Lehrerausbildung für Deutsch als Zweit- und Fremdsprache in Deutschland und Österreich

Für die Ausbildung zur Lehrkraft für Deutsch als Fremdsprache im deutschsprachigen Raum gelten besondere Bedingungen: zum einen sind die Studierenden überwiegend solche, die es lernen wollen, ihre Muttersprache als Fremdsprache zu unterrichten, zum andern ist Deutsch an deutschen und österreichischen Schulen keine Fremdsprache, so dass die Studiengänge für Deutsch als Fremdsprache in beiden Ländern nicht als Lehramts·, sondern als Magister- bzw. Diplomstudien angelegt sind. Davon zu unterscheiden sind Qualifikationen, die Lehrende im Schulbereich für den Unterricht mit nichtdeutschsprachigen Kindern benötigen, die in Studienangeboten für Deutsch als Zweiisprache vermittelt werden (für die wiederum anders gelagerte Situation in der Schweiz vgl. Art. 9).

1130 3.1. Studiengänge und Zusatzqualifikationen für den Unterricht Deutsch als Zweitsprache Zu Beginn der 70er Jahre war im deutschen Bildungswesen die Anwesenheit einer wachsenden Zahl von Kindern nichtdeutscher Muttersprache nicht mehr zu übersehen; Rufe nach einer Qualifizierung von Lehrkräften für den Unterricht mit Migrantenkindern bzw. in gemischten Klassen wurden laut und führten zur Entwicklung von Studiengebieten und Studiengängen für Deutsch als Fremdund Zweitsprache (vgl. auch Art. 1; Art. 5; Art. 7). So entstanden — zunächst in den erziehungswissenschaftlichen Fachbereichen, später auch im Rahmen der Germanistik oder als interfakultäre Studien — Ergänzungsstudiengänge, die zunächst unter dem Etikett „Ausländerpädagogik" firmierten, seit Mitte der 80er Jahre dann als Studien für „Lehrer von Schülern verschiedener Muttersprache" bzw. „Interkulturelle Pädagogik" weiterentwickelt wurden. Die Übersicht von Krumm (1994b) führt für die Bundesrepublik zwei Vollstudiengänge sowie 21 Ergänzungsoder Aufbaustudiengänge im Rahmen eines Lehramtsstudiums auf; in Österreich bieten die Pädagogischen Institute und Akademien Möglichkeiten einer Zusatzqualifikation. Im Zentrum der Ausbildung für den Unterricht mit nichtdeutschsprachigen Schülern stehen in der Regel folgende Studienkomponenten (vgl. Landesinstitut 1987): 1. Der Erwerb einer der Migrantensprachen, der den angehenden Lehrern zugleich eine Erfahrung als Sprachlernende vermitteln soll; 2. Eine praxisbezogene sprachwissenschaftliche Komponente, die Fragen des Sprachvergleichs und der Fehleranalyse stark betont; 3. Ein pädagogisch-psychologisches Studienangebot, in dem u.a. Fragen der Identitätsentwicklung unter den Bedingungen der Migration thematisiert werden; 4. Schließlich eine interkulturelle Komponente, die die Vermittlung von Kenntnissen über Ursachen und Folgen der Migration und die Herkunftsländer von Migrantenkindern umfasst, aber auch Fragen des Umgangs mit Rassismus und die Rolle der Lehrenden als kultureller Mittler einschließt. Versuche, die „Ausländerpädagogik" zu einem gemeinsamen Lernen deutschsprachiger und nichtdeutschsprachiger Schüler als Vor-

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

bereitung auf das Leben in einem multikulturellen und vielsprachigen Europa weiterzuentwickeln, werden seit Beginn der 90er Jahre in einigen deutschen Bundesländern in Form von Modellversuchen umgesetzt: hier nehmen die Anforderungen an die Lehrenden, mit Verschiedenheit umgehen zu können, interkulturelles Lernen zu ermöglichen, breiten Raum ein und führen zu Akzentverschiebungen in den Studienangeboten (vgl. Landesinstitut 1995). In Österreich wurden Bildungsangebote für nichtdeutschsprachige Schüler in den 70er und 80er Jahren durchweg im Rahmen von Schulversuchen realisiert, so dass auch keine systematischen Angebote für die Lehrer entstanden. 1992/93 erst wurden Angebote zur sprachlichen und kulturellen Integration nichtdeutschsprachiger Schüler in das Regelschulwesen übernommen (vgl. Art. 8 und 142), was auch eine Zunahme von Lehrangeboten (Zusatzstudien) in der Lehrerausbildung zur Folge hatte, allerdings im Wesentlichen an den Pädagogischen Akademien und Instituten für die Volksschullehrer, während für die gymnasiale Lehrerausbildung an den Universitäten lediglich einzelne Lehrveranstaltungen im Rahmen der Erziehungswissenschaft angeboten werden; von einer systematischen Lehrerausbildung im Bereich des Deutschen als Zweitsprache kann daher keine Rede sein. 3.2. Studiengänge und Lehrangebote für Deutsch als Fremdsprache in Deutschland und Österreich Die Studiengänge Deutsch als Fremdsprache, die an deutschen und österreichischen Hochschulen absolviert werden können (in der Übersicht von Krumm 1994b sind 14 Vollstudiengänge verzeichnet), sind nur bedingt als lehrerausbildende Studien zu bezeichnen, schließen sie doch mit einer Magister- bzw. Diplomprüfung ab, die nicht zu einer Tätigkeit im deutschen bzw. österreichischen Schulwesen berechtigt und deshalb auch verhindert, dass die Absolventen im Rahmen der deutschen Auslandschulen tätig werden. Andererseits sind die Absolventen solcher Studiengänge nach dem Studium überwiegend als Deutschlehrer tätig, und zwar in der Erwachsenenbildung und im Hochschulbereich. Um die Chancen ihrer Absolventen im Unterrichtsbereich zu verbessern, wurden in diesen Studiengängen in Ermangelung eines Referendariats umfangreiche Praktika im In- und Ausland eingeführt, die neben fachlichen

115. Ausbildung u. Fortbildung von Lehrerinnen u. Lehrern für Deutsch als Fremd- u. Zweitsprache

auch unterrichtspraktische Fertigkeiten vermitteln sollen (vgl. Fandrych 1993). Entstanden sind viele dieser Studienangebote auf Grund der Nachfrage nach muttersprachlichen Lehrkräften, die auf die Vermittlung der deutschen Sprache als Fremdsprache spezialisiert sind: Methodik/Didaktik und Landeskunde bilden daher Schwerpunkte dieser Studien, während die Frage nach dem Umfang der allgemein germanistischen Studieninhalte strittig ist (vgl. Abschnitt 2.1.).

4.

Perspektiven der Lehrerausbildung

Die in den 90er Jahren in mittel- und osteuropäischen Ländern entwickelten Curricula für die Deutschlehrerausbildung können in vieler Hinsicht als vorbildlich gelten: weitgehende Integration von Theorie und Praxis (einphasige Ausbildung), gleichgewichtige Einbeziehung von Methodik und Landeskunde und eine stärkere Integration der Teilfacher können als herausragende Merkmale genannt werden (vgl. Kast/Krumm 1994). Allerdings stellen sich zwei Fragen: die eine betrifft den Übergang vom Studium in den Lehrberuf — auf Grund der schlechten Bezahlung der Lehrer und des großen Bedarfs an sprachkundigen Mitarbeitern in der Wirtschaft nehmen teilweise nur ca. 30% der Absolventen eine Tätigkeit als Deutschlehrer auf. Eine Verbesserung der Ausbildungsqualität allein reicht also nicht aus, die Lehrtätigkeit attraktiver zu machen. Die zweite Frage gilt der Überwindung der Zweigleisigkeit von Deutschlehrer- und Germanistenausbildung: wie weit können die dreijährigen Studiengänge der Lehrerausbildung (die Kollegausbildung) und die fünf] ährigen germanistischen Studiengänge in Zukunft integriert werden? Das könnte die durchaus positive Folge haben, dass die germanistischen Studiengänge sich verstärkt auch methodischen und schulpraktischen Fragestellungen öffnen müssten, während die Deutschlehrerausbildung den sprach- und literaturwissenschaftlichen Studieninhalten mehr Gewicht einräumen müsste. Die allgemeinere Frage, die sich auch den Studiengängen für Deutsch als Fremdsprache in den deutschsprachigen Ländern stellt, liegt in der Zukunft einer stark spezialisierten Ausbildung insgesamt: innerhalb der deutschsprachigen Länder existiert Deutsch als Fremdsprache nicht als Schulfach, so dass hier nur eine Tätigkeit im außerschulischen Sprachun-

1131

terricht in Frage kommt — diese aber wird überwiegend in der Form stundenweiser und befristeter Arbeitsverträge angeboten, da Volkshochschulen und private Kursanbieter kaum feste Lehrer anstellen. Auch der LehrerArbeitsmarkt in den mittel- und osteuropäischen Ländern wird auf die Dauer gesättigt sein, so dass für die Absolventen auch andere Berufsfelder (Erwachsenenbildung, Kulturaustausch) eröffnet werden müssen. Bei allem Interesse an einer professionellen Lehrerausbildung müssen die lehrerausbildenden Studiengänge daher auch berufsunabhängige Qualifikationen vermitteln und dürfen sich nicht ausschließlich als Lehrerausbildung verstehen (vgl. Roggausch 1997). Ein Desiderat ist abschließend anzumerken, nämlich eine bislang fehlende Ausbildungsforschung {vg\. Krumm 1993a). Studien zur Berufssozialisation von Lehrern in den 60er Jahren haben im deutschsprachigen Raum bzw. bezogen auf die Ausbildung von Deutschlehrern nur vereinzelt eine Fortsetzung gefunden (vgl. Krumm 1973, Nehm 1976; vgl. auch Bosenius 1992).

5.

Grundsätzliche Aspekte der Lehrerfortbildung

Lehrerfortbildung wird in Deutschland auch als die dritte Phase der Lehrerbildung bezeichnet. Während die beiden vorangegangenen Phasen (Universitätsstudium und Referendariat) durch Studiengänge und Examina strukturiert und zeitlich begrenzt sind, erstreckt sich die dritte Phase über das gesamte Berufsleben der Lehrenden, die für die Strukturierung dieser Phase in der Regel selbst verantwortlich sind. Gewöhnlich werden unter Lehrerfortbildung alle jene Prozesse gefasst, die die erworbenen Qualifikationen (Wissen und Können) erhalten, aktualisieren und dem gesellschaftlichen Wandel anpassen helfen. Zwei aufeinander bezogene Handlungsweisen sind hervorzuheben: Neben die persönliche Tätigkeit (wie reflektierende Unterrichtsvorund -nachbereitung, Studium von Fachliteratur, Gespräch mit Kollegen) tritt die veranstaltete Fortbildung. Letztere versteht sich immer auch als gesellschaftlich notwendiger Beitrag zur Unterrichts- und Schulinnovation (vgl. Edelhoff 1990). Die Veranstaltungsformen reichen — je nach regionalen Möglichkeiten und Angeboten — von mehrwöchigen Intensivkursen an Akademien, Universitäten oder Goethe-Instituten bis hin zu zweistündi-

1132 gen Seminaren an einer Schule, von der lokalen Arbeitsgruppe bis hin zur Deutschlehrertagung, die vielfach das einzige anerkannte Fortbildungsangebot darstellt. Konzepte veranstalteter Lehrerfortbildung waren lange Zeit an Denkweisen technischer Rationalität orientiert (vgl. Schoen 1983, 1987), die davon ausgehen, dass für Lehrende relevantes Wissen vorwiegend jenseits von deren Handlungskontexten, etwa an den Universitäten, erzeugt wird. Der Didaktik fallt dann die Aufgabe zu, mit Hilfe der Lehrerfortbildung dafür zu sorgen, dass Lehrende die Erkenntnisse der Fachwissenschaften in richtige Praxis umsetzen. Während sich die Praktiker noch um Anwendung bemühen, ist die Forschung bereits mit neuen Konzepten befasst. Die Wissensbestände von Lehrenden müssen unter solchen Rahmenbedingungen unweigerlich als defizitär erscheinen. Da zudem die von der Wissenschaft erarbeiteten Modelle nur selten in der erwarteten Weise in die Praxis umgesetzt werden können, erscheint auch die Unterrichtspraxis der Lehrenden als defizitär. Lehrende sind folglich immer noch nicht oder noch nicht ganz da, wo sie nach Vorstellungen der Wissenschaft und der ihr verpflichteten Lehrerfortbildung sein sollten (vgl. Legutke 1995a, Altrichter/Posch 1990, 259 ff.). Der rationalistischen Vorstellung vom Wissenstransfer durch Lehrerfortbildung entsprach in der Regel eine dreischrittige Vermittlungsform: (i) der Vortrag durch einen ausgewiesenen Experten, (ii) die anschließende Diskussion und (iii) die erwartete praktische Umsetzung der neuen Erkenntnisse durch die Lehrenden. Auch wenn derartige Konzepte in den letzten Jahren immer wieder kritisiert worden sind, ist die klassische Trias keinesfalls aus der Fortbildungspraxis verschwunden. Professionalisierung von Deutschlehrenden wird nach wie vor in vielen Teilen der Welt allein mit den Mitteln des Wissenstransfers betrieben. Für eine konzeptionelle Erneuerung von Lehrerfortbildung und eine Erweiterung der Lehr- und Lernformen sprechen eine Reihe von Argumenten (vgl. Ehlers/Legutke 1998). Neuere erwachsenenpädagogische Ansätze zum Lehrerwissen gehen nicht mehr von einer Defizit-These, sondern vielmehr von einer Differenz-These aus, die besagt, dass das Lehrerwissen „praktisches" und persönliches Wissen ist, welches aus vielfaltigen Quellen gespeist wird (aus in der Ausbildung erworbenem Wissen, aus der Lernbiographie, aus den Alltagserfahrungen im Unterricht, aus

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

weiterführender privater Lektüre usw.). Dieses Wissen kann nicht am wissenschaftlich über Unterricht erzeugten Wissen gemessen werden. Beide Wissensformen, unter kontextspezifischen Bedingungen entstanden, stehen nebeneinander und können nicht wechselseitig substitutiert werden. Aus der Perspektive der Differenz-These sind die Vertreter beider Wissensbereiche Dialogpartner. Fortbildung hat dann nicht die Aufgabe, Defizite zu beheben, sondern einen Dialog über Unterricht zu ermöglichen, in dem Vertreter beider Bereiche, der Wissenschaft und der Unterrichtspraxis, sich um ein Verständnis und eine Verbesserung fremdsprachlicher Lehr- und Lernprozesse bemühen. Lernpartnerschaft kann nur gelingen, wenn die Interpretationen, die die Lehrenden zu ihrer eigenen Praxis liefern, nicht als Ausdruck „naiver" Theorien betrachtet, sondern als eigenständige und gleichwertige Argumente im Diskurs akzeptiert werden (vgl. Freeman/Richards 1996). Kritische Impulse liefert ferner die Handlungsforschung. Sie macht darauf aufmerksam, dass der Zusammenhang von Wissen und Handeln höchst komplex ist. Danach muss die Annahme, dass Transferbemühungen auf direktem Wege zur Aufnahme neuen Wissens und dann gar zu verändertem Handeln führen, als naiv gelten. Wenn Lehrende in ihrem Unterricht wenig von dem umsetzen, was ihnen in der Fortbildung vermittelt wurde, liegt das in der Regel nicht an mangelnder Bereitschaft, sondern eben gerade daran, dass kein direkter Weg vom Wissen zur Absicht und von der Absicht zum Handeln führt. Es genügt eben nicht, einen „aktuellen Forschungsstand" oder ein neues „Unterrichtsmodell" per Referat oder Text vorzulegen und es den Lehrenden zu überlassen, daraus ihre Praxis zu gestalten. Gerade weil sich Fachdidaktik und Lehrerfortbildung viel zu wenig mit dem Verarbeitungsund Umsetzungsprozess beschäftigt haben, fallen Theorien über Unterricht und Praxis oft so weit auseinander (vgl. Wahl 1991). Studien zur Berufsbiographie legen die begründete Vermutung nahe, dass die schulische Sozialisation der Lehrenden, die sie in der Lernerrolle erlebt haben, sowie die in der wissenschaftlichen Ausbildung erfahrenen Lehr- und Lernformen einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise ausüben, wie sie später selbst unterrichten. Auf dem Hintergrund dieser Einflüsse sind Inhalte und Formen von Lehrerfortbildung neu zu durchdenken. Wenn die Lehrerfortbildung über-

115. Ausbildung u. Fortbildung von Lehrerinnen u. Lehrern für Deutsch als Fremd- u. Zweitsprache

wiegend auf Formen des Wissenstransfers setzt und dabei noch die traditionellen Lehrund Lernformen der Ausbildung (Vorlesung und Referat) fortschreibt, sind zumindest Zweifel angebracht, ob Lehr- und Lernkonzepte beeinflusst und im Sinne von Innovation verändert werden können. Nicht nur solche Erkenntnisse verlangen nach einer kritischen Distanz zu bisheriger Fortbildungspraxis. Neben den Lerngeschichten sind auch die unterschiedlichen Phasen beruflicher Entwicklung zu berücksichtigen, wenn es gilt, die Lernbereitschaft berufstätiger Erwachsener zu begreifen und zu fördern. Denn Lehrende formulieren unterschiedliche, teils sogar divergente Bedürfnisse und Ansprüche an die Lehrerfortbildung. Die Arbeit mit Berufsanfangern in der Konsolidierungsphase ihrer beruflichen Entwicklung müsste sich deshalb von solchen Maßnahmen unterscheiden, die sich vor allem an Lehrende in der Mitte ihrer Laufbahn richten. Letztere scheinen eher an einer Revitalisierung ihres bereits stark routinisierten Berufsalltags interessiert. Folglich stellen die Einsichten der Berufsforschung eine besondere Herausforderung an die Lehrerfortbildung dar (Appel 1995). Überlegungen zur Lehrerpersönlichkeit etwa aus dem Umfeld der Humanistischen Psychologie und der Gestaltpädagogik heben den Aspekt professionellen „Wachstums" hervor: Berufliches Lernen wird als ganzheitlicher und komplexer Prozess gesehen, in dessen Verlauf nicht nur die kognitiven Kapazitäten angesprochen und ausgebaut werden, sondern affektive Faktoren genauso berücksichtigt werden müssen wie praktisch-sinnliche Tätigkeiten und Fertigkeiten. Weil Aufnahme und Integration von Neuem immer die ganze Lehrperson betreffen und als Ausbau vorhandenen Potentials zu begreifen sind, ergeben sich daraus komplexe Anforderungen an die Lehrerfortbildung. So muss sie zum Beispiel mit Schwierigkeiten und möglichen Gefährdungen, die Veränderungen mit sich bringen können, rechnen: mit Ängsten und Abwehr. Veränderung ist stets auch mit dem Risiko verbunden, über Vertrautes und Gewohntes hinauszugehen. Fortbildung kann nur dann zur Risikobereitschaft ermutigen, wenn sie zugleich das Standvermögen der Fortzubildenden fördert, das Selbstbewusstsein stützt und entsprechende Hilfen bereitstellt. Sie muss sowohl praktisch sein, d.h. neue Handlungsmöglichkeiten verfügbar machen, Erprobungen anbieten und stützen, als auch zum Nachdenken über die eigene Praxis

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herausfordern. Nur wenn die Angebote der Lehrerfortbildung einsichtig und nachvollziehbar sind, wenn sie Selbst- und Fremdwahrnehmung fördern und die Lehrenden darin stärken, ihre Möglichkeiten zur Selbstveränderung zu entdecken, werden sie dem professionellen „Wachstum" dienen. Lehrerfortbildung, die weiterhin im wesentlichen auf Wissenstransfer setzt, greift folglich in mehrfacher Weise zu kurz (vgl. Edge 1994). Deutliche Kritik kommt ferner aus dem Lager der Organisationsentwicklung (Oswald 1990). Vertreter aus diesem Feld betonen, dass Innovation pädagogischer Institutionen nur gelingen kann, wenn Fortbildung den Handlungskontext der Beteiligten nicht nur abstrakt mitdenkt, sondern direkt tangiert. Fortbildung sollte demnach auch direkt am Arbeitsplatz, in der Institution selbst, stattfinden und zumindest relevante Teilgruppen ihrer Vertreter einschließen (alle Fremdsprachenlehrer einer Schule, Vertreter der Schulleitung, die Institutsleitung etc.). Erst wenn Lehrende an ihrem Handlungsort die Isolation aufgeben, wenn sie lernen zu kooperieren und Schule oder das Institut selbst als lebenswerten Ort zu gestalten, indem sie ihn, gemeinsam forschend, verändern, werden sich auch die Lernbedingungen für die Lernenden, um die es letzten Endes geht, verbessern. Soziale Kompetenz und Teamfähigkeit, Kreativität und lebendige Lernprozesse, Dezentralisierung statt Zentralisierung, selbständiges Denken statt Kontrolle sind nur einige Schlagworte aus diesem Feld. Wesentliche Argumente für eine Neuorientierung werden von den Vertretern der Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung vorgebracht, die die Sprachlehr- und Sprachlernprozesse im Klassenzimmer in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Analyse und Reflexion rücken. Die Anstrengungen gelten der Rekonstruktion tatsächlicher Lehr- und Lernprozesse mit dem Ziel, ihr komplexes Bedingungsgefüge aufzuhellen und Wege ihrer Optimierung zu entdecken. Durchdringung und Deutung der Lehr- und Lernprozesse erfordert eine doppelte Partnerschaft, um die sich die so orientierte Didaktik bemüht. Sie braucht sowohl den Dialog mit den Sprach-, Text- und Kommunikationswissenschaften als auch die partnerschaftliche Mitwirkung derer, die täglich Unterricht planen, inszenieren und auswerten. Eine solche Didaktik hat deshalb ein verändertes Verhältnis von Wissenschaftlern und Lehrenden im Auge, es geht ihr um kooperative Forschung,

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XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

d.h. die Mitarbeit der Lernenden und Lehrenden und deren Interpretationen des Unterrichtsgeschehens. Eine Fachdidaktik, die die Unterrichts/7raxw zum Ausgangs- und Zielpunkt ihrer Anstrengungen macht, legt nicht nur Wert auf das Wissen, das Lehrende erwerben müssen, sondern auch auf deren Können sowie ihre Fähigkeit zum analytischen Umgang mit eigenem und fremden Unterricht. Sie betreibt die Analyse von Unterrichtskommunikation und bemüht sich um die Entwicklung und Analyse von Lernmaterial für konkrete Kontexte. Mit solcher Art Forschungsinteresse und Schwerpunktsetzung verbindet sich folgerichtig die Kritik an herrschenden Formen der Fortbildung, die immer noch einseitig am Wissenstransfer orientiert sind und die Unterrichtswirklichkeit der Beteiligten ausgrenzen (vgl. Krumm 1993b). Die Aufwertung konkreter Lehr- und Lernprozesse als Fundament von Fortbildung geht Hand in Hand mit einer Aufwertung lokalen Wissens und lokaler Expertise gegenüber einer von deutschsprachigen Ländern bestimmten und exportierten Fachdidaktik. Während rationalistische, Top-Down-Konzepte, muttersprachlichen Experten (native speakers) eine herausragende Stellung im Fortbildungsprozess zuweisen - durch etablierte Praxis der Mittlerorganisationen zementiert — fordern kritische Stimmen eine Regionalisierung der Fremdsprachendidaktik. Im Dialog zwischen muttersprachlichen und nicht-muttersprachlichen Experten müsse das regional Geeignete, das kontextspezifisch Angemessene entwickelt werden. Ergebnis sind regionale Curricula, regionale Lehrwerke und Ansätze der Fortbildung (vgl. Holliday 1994, Kramsch 1997). Die hier nur thesenartig zusammengefasste Kritik hat sich seit Anfang der achtziger Jahre im Bereich der neuen Sprachen auch in praktischen Initiativen der Lehrerfortbildung artikuliert. Vier markante Tendenzen sind dabei zu erkennen: handlungsorientierte, schulinterne und lokal- bzw. regionalspezifische Ansätze sowie Projekte zur kollegialen Lehrerforschung (vgl. Legutke/Pavlovic 1999). 6.

Neue Konzepte und Formen der Lehrerfortbildung

Die erste Tendenz zeigt sich in einer Neukonzeption der Lernformen. Ihr liegt ein Lernbegriff zugrunde, nach dem professionelles Lernen nicht durch Transfer von oben nach unten und durch Vermitteln von Fakten erfolgt,

sondern vielmehr im Zusammenspiel von drei Aspekten: a) Die Fortbildung muss erwachsenengemäße Lernerfahrungen im Umgang mit relevanten Themen und Aufgaben ermöglichen. b) Begleitende Reflexionen helfen, die konkrete Erfahrung zu verallgemeinern, auf bestehende Wissens- und Erfahrungsbestände zu beziehen. c) Schließlich geht es darum, auf der Basis der Erfahrungen und ihrer Reflexion neue Handlungsmöglichkeiten für die eigene Praxis zu entwerfen und langfristig zu erproben. Damit professionelles Lernen in Gang kommt, erfahren Lehrer folglich an sich selbst, wie neue Lehrverfahren funktionieren; sie lassen sich auf den kreativen Umgang mit einem Gedicht von Hölderlin ein, erproben Höraufgaben, inszenieren Rollenspiele oder führen ein Email-Projekt durch, um dann durch Reflexion und im Diskurs mit anderen die Lernerfahrung der Fortbildung mit dem vorhandenen eigenen Wissen und Können und mit fachdidaktischen Wissensbeständen in Bezug zu setzen. Schließlich entwerfen sie Drehbücher für eigenen Unterricht. Solche Verfahren sind anspruchsvoll, verlangen nach Zeit und Kontinuität, weil sie zyklisch angelegt sind. Außerdem weisen sie den Experten von außen eine neue Rolle zu. Diese müssen sich auf konkrete Lernprozesse und lokale Voraussetzungen einlassen, wenn sie in solchen Seminarformen mit den Teilnehmenden in einen Dialog treten wollen (vgl. Legutke 1995b, 7-11). Die zweite Tendenz betont die Wichtigkeit des Ortes, an dem Fortbildung stattfindet und nimmt Bezug auf Konzepte schulinterner Lehrerfortbildung (vgl. Greber u.a. 1991, Miller 1991, Oswald 1990): Lehrende werden nicht vereinzelt angesprochen, vielmehr wird der Berufskontext unmittelbar in der Fortbildung berücksichtigt. Schulinterne Lehrerteams entwickeln im Kontakt mit externen Moderatoren eine Problem- und Situationsanalyse, planen Arbeitswege und entwickeln realistische Handlungskonzepte. Vertreter dieser Richtung äußern sich kritisch gegenüber dem tendenziellen Isolationismus traditioneller Seminarfortbildung außerhalb des Berufskontextes, die immer nur Einzelne erreicht. Allerdings kann eine Kombination von schulexternen und -internen Maßnahmen besonders effektiv sein, wenn die Impulse von außen von einer ganzen Fachschaft oder allen Fremdsprachenlehrern aufgenom-

115. Ausbildung u. Fortbildung von Lehrerinnen u. Lehrern für Deutsch als Fremd- u. Zweitsprache

men und gemeinsam durchgearbeitet werden. Damit stellen sich solche Initiativen einem zentralen Problem pädagogischer Innovation: der notorischen Vereinzelung von Lehrern und der Spaltung von Individuum und Institution. Die Entwicklung von Kooperationsfähigkeit von Lehrern an ihrem Handlungsort steht hier im Vordergrund, verbunden mit dem Aufbau von kollegialen Netzwerken mit Ideenbörsen, Materialaustausch und partnerschaftlicher Supervision, aber auch mit gemeinsamer Zieldefinition, Handlungsplanung und Evaluation geleisteter Arbeit. Vor allem die Mobilisierung von Synergie-Effekten ist es, unter anderem durch den gemeinsamen Diskurs über Unterricht, über die ein Wandel der Schulkultur erreicht werden soll. Entscheidend dabei ist, dass die Pläne zum Wandel auch aus der Fachperspektive von allen Deutschlehrern, von allen Fremdsprachenlehrern, formuliert, entwikkelt und umgesetzt werden. Interdisziplinarität ist damit jedoch keineswegs ausgeschlossen. Die dritte Tendenz greift die Forschungen des Handlungstheoretikers Donald Schön (1987, 1991) auf und betont, dass Berufstätigkeit in komplexen Situationen nicht allein als „Anwendung generellen Wissens" konzipiert werden kann. Um die „nicht-routinehaften", komplexen, ambivalenten und durch Wertund Interessenkonflikte geprägten Anforderungen ihrer Praxis zu bewältigen, müssen hochqualifizierte Professionelle, zu denen auch Fremdsprachenlehrer gehören, in einer Art „Forschung im Kontext der Praxis" lokales Wissen produzieren, in der „Anwendung" evaluieren und ständig weiterentwickeln. Lehrerfortbildung müsste deshalb stärker als forschende Weiterentwicklung von Praxis gesehen werden und die Fähigkeit der Lehrenden dazu fördern. Lehrerfortbildung ist dann gleichzeitig auch praktische Entwicklung von Theorien (Altrichter; Posch 1990). Wichtige Aspekte einer solchen durch Lehrerforschung betriebenen Professionalisierung sind: a) Lehrer bearbeiten Fragestellungen aus der eigenen Praxis, wobei eine enge Beziehung von Reflexions- und Aktionskomponenten besteht. b) Die Forschungstätigkeiten sind in die Gesprächskultur einer „professionellen Gemeinschaft" am Handlungsort Schule integriert; Beginn, Steuerung und Beendigung der Prozesse liegen bei den forschen-

1135

den Lehrern. Die Interpretation von Ergebnissen wird im kollegialen Gespräch ausgehandelt. c) Die Beteiligten werden ermutigt, ihre eigenen Erfahrungen zu veröffentlichen. d) Die Forschungstätigkeiten unterliegen einem „ethischen Code". e) Externe Kursleiter, Fortbilder, Wissenschaftler haben lediglich die Rolle von Beratern, Moderatoren (facilitators) und kritischen Freunden, die ihre eigene Aktionsforschung betreiben können (second order action research). Lehrerforschungsansätze sind bisher fast ausschließlich aus dem Bereich Englisch als Fremd- und Zweitsprache dokumentiert (Edge/Richards 1993, Freeman 1998; vgl. auchLegutke 1995a, 12-16). Die vierte ist zugleich die umfassendste Tendenz, die sich cum grano salis um die Integration der bereits skizzierten Tendenzen zu einem Gesamtkonzept von Fortbildung bemüht. Im Gegensatz zu den anderen handelt es sich um eine originäre Entwicklung aus dem Bereich Deutsch als Fremdsprache Nordamerikas (Enns/Jahn 1995). Zentrum des Konzepts ist eine neue Tagungsdidaktik. Diese grenzt sich von rationalistischen, im wesentlichen dem Wissenstransfer durch Vorträge und Präsentationen verpflichteten, inhaltlich oft arbiträren Fachtagungen ab. Letztere seien nicht geeignet, gemeinschaftliche Arbeit an konkreten, für die Lehrenden relevanten, langfristigen und schöpferischen Fortbildungsprojekten zu fördern. Ihre ritualisierte Hermetik verhindere den professionellen Diskurs aller Beteiligten. Die neuen Tagungsformen, die weitgehend auf Vorträge verzichten und vielmehr vielfaltige Arbeitsmöglichkeiten in Themengruppen bieten, sollen gleichzeitig lokale und regionale Initiativen bündeln und perspektivieren. Die Fachtagung wird so zur professionellen Lernwerkstatt und ist Teil eines Gesamtkonzepts beruflichen Lernens, ihre Inhalte und Lernangebote sind Bausteine eines regionalen Fortbildungscurriculums, an dem Fachvertreter aller Bildungseinrichtungen und Deutschlehrerverbände mitwirken (vgl. auch Ehlers 1995, Legutke 1994). 7.

Der institutionelle O r t der Lehrerfortbildung

Während für die Lehrerausbildung die wissenschaftlichen Hochschulen als die zuständigen Institutionen etabliert sind, fehlt für die

1136 Lehrerfortbildung eine eindeutige Verantwortung im Bildungswesen bzw. ist diese je nach Land höchst unterschiedlich geregelt: neben staatlichen Einrichtungen - teils den Universitäten, teils staatlichen Lehrerfortbildungseinrichtungen — existieren offenere Formen, nach denen sich Lehrer selbst Fortbildungsangebote auf dem freien Markt suchen können bzw. müssen. Damit verbunden ist die Frage, ob Lehrer überhaupt zur Fortbildung verpflichtet sind bzw. eine Fortbildung sich positiv auf ihre Berufslaufbahn (z.B. in der Bezahlung) auswirkt (vgl. die Länderberichte Kap. XXIII, Art. 143 ff.). Eine besondere Rolle spielen im Fortbildungsbereich die nationalen Deutschlehrerverbände (vgl. Art. 141, 142), die selbst Fortbildung anbieten (in Form von Deutschlehrertagen, speziellen thematischen Seminaren, Zeitschriften) bzw. entsprechende Angebote stimulieren. Sie arbeiten hierbei vielfach mit den Mittlerorganisationen aus den deutschsprachigen Ländern zusammen. Insbesondere das Goethe-Institut, aber auch die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen und seit den 90er Jahren zunehmend auch österreichische und Schweizer Einrichtungen, haben die Lehrerfortbildung ins Zentrum ihrer Arbeit gerückt und vor allem in Mittel- und Osteuropa ein vielfaltiges Angebot entwickelt, das von der Umschulung von Russisch- zu Deutschlehrern bis zur Qualifizierung von Mentoren für die schulpraktische Betreuung der Lehrerstudenten und zu ganz konkreten themenbezogenen Fortbildungsprojekten reicht (vgl. die Berichte der Mittlerorganisationen in Krumm 1999). Zwei Projekte verdienen gesondert hervorgehoben zu werden: a) 1989 bis 1991 hat das Goethe-Institut in einer weltweiten Umfrage den Fortbildungsbedarf zu ermitteln versucht und ein Fortbildungsprojekt initiiert, aus dem ein Fortbildungshandbuch für die Planung und Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen, aber auch eine Konzeption für die langfristige Weiterentwicklung der Lehrerfortbildung hervorgegangen ist (vgl. Legutke 1995a). Langfristig angelegt, soll dieses Projekt alle, die im Fortbildungsfeld Deutsch als Fremdsprache tätig sind, anregen, eigene Lernprozesse in und mit Fortbildung zu rekonstruieren, zu dokumentieren und zu analysieren. Es bietet die Chance systematischer Spurensicherung, indem es besondere Kontextbedingungen transparent und übergreifende Fragestellungen zugänglich macht.

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

b) Seit 1987 haben die Universität Kassel, das Goethe-Institut und das Deutsche Institut für Fernstudien ein Fernstudien-Programm entwickelt: die hier entstandenen Materialien - gedruckte „Studienbriefe", die als Grundlage für das Selbststudium, aber auch für angeleitete Fortbildungsveranstaltungen konzipiert sind — wenden sich an ein breites Zielpublikum: Lehrende, Germanisten, Studierende und Fortbildner (vgl. Lehners/Neuner 1998). Auf der Grundlage dieser Materialien wurde 1995 ein von der Universität Kassel betreuter Fernstudienkurs „Fremdsprachlicher Deutschunterricht in Theorie und Praxis" eingerichtet, der mit einem Zertifikat abgeschlossen werden kann. Regionalisierte Fernstudieneinheiten werden in einzelnen Ländern wie z.B. Italien und Spanien, einigen mittel- und osteuropäischen Ländern und Rußland im Rahmen nationaler Weiterbildungsprojekte eingesetzt (vgl. die Darstellungen bei Lehners/Neuner 1998). 8.

Brennpunkte der Lehrerfortbildung im Bereich Deutsch als Fremdsprache

Neben der Auseinandersetzung mit diesen Tendenzen muss sich die Fortbildungsdidaktik als Teil der Didaktik Deutsch als Fremdsprache mit einer Reihe von Brennpunkten befassen, die sich aus dem gegenwärtigen Diskussionsstand herauslösen lassen: a) Es besteht wenig Klarheit über den Zusammenhang von didaktisch-methodischen und sprachlichen Aspekten von Fortbildung. Die Annahme, dass Fortbildung in der Zielsprache sinnvoll ist, weil sie die sprachliche Kompetenz fördere, muss zumindest als problematisch gelten. Denn der Kommunikationszusammenhang „Fortbildung" ist bis heute nicht in Hinblick auf notwendige Sprachhandlungs- und Bezeichnungsmittel systematisch erschlossen. Haben Deutschlehrende gelernt, sich zu Lehr- und Lernprozessen, zu Aspekten der Gruppendynamik, der Curriculumsplanung und Materialentwicklung in der Zielsprache zu äußern? b) Der zweite Brennpunkt thematisiert die Frage nach den Fortbildungscurricula, die regional und kooperativ zu entwickeln und realisieren sind. Solche Curricula liegen, wenn überhaupt, nur in Ansätzen vor und sind stets in Gefahr von deutschsprachigem Didaktikexport vereinnahmt zu werden.

115. Ausbildung u. Fortbildung von Lehrerinnen u. Lehrern für Deutsch als Fremd- u. Zweitsprache c) Die Institutionalisierung von Fortbildung, die Bündelung und Vernetzung von Ressourcen, Kompetenzen und Ideen ist ein weiterer Brennpunkt. Denn eine staatlich finanzierte, organisierte und flächendeckende, veranstaltete Fortbildung ist für Deutsch als Fremdsprache die Ausnahme. Nur wenige Regionen verfügen über entsprechende Institutionen. d) Der vierte Brennpunkt beinhaltet die Fortbildung der Fortbilder und wirft Fragen wie die folgenden auf: Wer sind die Fortbilder? Wer bildet sie aus und fort? Welche Curricula müssen für diese Gruppe entwickelt werden. e) Angesichts der Forderungen nach einer regionalisierten Fremdsprachendidaktik und in Hinblick auf die generelle Aufwertung der unterrichtlichen Lehr- und Lernprozesse muss die Rolle der nationalen Mittlerorganisationen der deutschsprachigen Länder neu diskutiert und bestimmt werden, um möglichen Gefahren eines didaktischen Imperialismus durch Methoden- und Materialexport zu begegnen. Alle diese Komplexe sind als Teilaspekt einer durch empirische Forschung gestützten Fortbildungsdidaktik für Deutsch als Fremdsprache zu begreifen. Eine solche Fortbildungsforschung für den Bereich Deutsch als Fremdsprache ist - von wenigen Ausnahmen abgesehen (vgl. u.a. Meyermann 1995, Duxa 1999) - so gut wie nicht vorhanden. Wichtige Impulse für weitere Arbeiten kommen auf diesem bisher vernachlässigtem Gebiet aus anderen Fremdsprachendidaktiken (Schocker-Ditfurth 1992, Bailey/Nunan 1996, Freeman 1988). Der professionelle Diskurs über Fortbildung für Deutsch als Fremdsprache hat in den 90er Jahren gerade erst begonnen.

9.

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116. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse 1. 2.

7.

Vorbemerkung Zielsetzungen von Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse Verfahren der Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse in der Lehreraus- und Lehrerfortbildung Spezifika der Unterrichtsbeurteilung Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse als Forschungsverfahren Literatur in Auswahl

1.

Vorbemerkung

3. 4. 5. 6.

Kommunikationsfahigkeit als Ziel des Fremdsprachenunterrichts steht seit den siebziger Jahren im Mittelpunkt der Diskussion

(vgl. Art. 86) — die Verwirklichung dieses Ziels wurde und wird vielfach dadurch versucht, dass außerunterrichtliche Kommunikation im Unterricht simuliert oder durch Medien (Hörtexte, Video) präsentiert wird. Solche Kommunikation bleibt im Unterricht jedoch vielfach künstlich, weil zwischen den Beteiligten festgelegte Rollen und Muster der Interaktion bestehen, z.B. Lehrer fragt Schüler antwortet. Der Unterrichtsprozess selbst, die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden, stellt den Rahmen dar und schafft die Voraussetzungen oder auch Behinderungen für die Entfaltung unterrichtlicher Kommunikation. Und nur wenn die Lernenden im Unterricht selbst, in der Interaktion miteinander und mit dem Lehrer, Gelegen-

1140

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

heit haben, Kommunikation zu erproben, sind sie in der außerunterrichtlichen Interaktion kommunikationsfähig: „... da wir annehmen dürfen, dass Fähigkeiten nur dann entwickelt werden können, wenn der Lernende die Möglichkeit hat, sie auch auszuüben; d. h. interaktioneile Fähigkeiten werden nicht automatisch erworben; die für diesen Erwerbsprozess notwendigen Bedingungen müssen in unterrichtlichen Aktionen vorhanden sein." (Edmondson 1995, 176)

Die deutsche Sprache ist im Unterricht nicht nur Lerngegenstand, sondern zunehmend auch Medium der sozialen und pädagogischen Interaktion. Unterrichtsbeobachtung und -analyse zielen darauf, das Bedingungsgefüge unterrichtlicher Interaktion und Kommunikation aufzuhellen. Unter unterschiedlichen Bezeichnungen wie Kommunikationsanalyse, Interaktionsanalyse, Diskursanalyse ist die Beobachtung und Analyse von Unterrichtsprozessen Gegenstand verschiedener Forschungsdisziplinen, der Kommunikationstheorie und Diskursforschung, der Wahrnehmungspsychologie, der interkulturellen Kommunikation und der Erziehungswissenschaft und hat seit Beginn einer systematischen Erforschung und Ausbildung im Bereich Deutsch als Fremdsprache auch hier Eingang gefunden. Die zentralen Begriffe Interaktion und Kommunikation werden in der Fachliteratur unscharf voneinander abgegrenzt. Im folgenden soll Interaktion als Oberbegriff und weiter gefasster Terminus benutzt werden, der sich auf menschliches Handeln bezieht, das eben durchweg nicht isoliert stattfindet, sondern fast immer als Miteinander-Handeln zu verstehen ist. Interaktion ist der Begriff, mit dem die Sozialwissenschaften, die Pädagogik und die Psychologie dieses menschliche Handeln analysieren. Kommunikation zielt demgegenüber stärker auf die Sprache, zum einen als das Medium, in dem wir unsere Handlungen organisieren (sprachliche Interaktion: face-to-face, medial), zum andern in den Eigenschaften, die die Herstellung von Beziehungen und die Übermittlung von Nachrichten möglich machen (sprachliche Mittel und Verfahren) (vgl. Edmondson 1995; House 1995). Kommunikative Kompetenz meint daher die Fähigkeit des Menschen, Sprache zu erwerben und zu gebrauchen-, die handlungsauslösende, interaktionale Qualität von Sprache spielt eine zentrale Rolle in der kommunikativen Kompetenz. Kommunikation betont diesen Handlungscharakter von Sprache, während Interaktion demgegenüber

die Bedingungen, unter denen Handeln möglich ist, die Konstellationen, die Rollen, die dann zu bestimmten Ausprägungen des sprachlichen Verhaltens führen, ins Zentrum rückt. Beides, das sprachliche Handeln wie die Bedingungen und Kontexte dieses Sprachhandelns im Rahmen der Institution Unterricht' (vgl. Ehlich; Rehbein 1983) ist Gegenstand von Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse, weshalb in diesem Beitrag auch diese Begriffe gegenüber den in die eine oder andere Richtung stärker akzentuierten Begriffen der Interaktions- und Kommunikationsanalyse bevorzugt werden. 2.

Zielsetzungen von Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse

Das Verhalten von Lehrenden und Lernenden war immer schon Gegenstand von Beobachtung, Analyse und auch der Beurteilung: aus wissenschaftlicher Neugier, um mehr über den Lehr-Lernprozess zu erfahren, mit pädagogischer Absicht, um Schwachstellen im Lehr-Lernprozess aufzudecken und Lernerfolg zu sichern, im Hinblick auf eine gezielte Aus- oder Fortbildung der Lehrenden und nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Erteilung von Zeugnissen und die Entscheidung über Versetzung (bei den Lernenden) bzw. Einstellung oder Weiterbeschäftigung (bei den Lehrenden). Allerdings waren solche Beobachtungsverfahren in der Vergangenheit oft punktuell und wurden nur aus besonderem Anlass vorgenommen - bei Lehrkräften in der Regel im Rahmen von Einstellung oder Beförderung (z.B. Lehrproben) oder aber, wenn es Klagen über die Qualität des Unterrichts gab (vgl. Tilmann 1981). In den 30er Jahren entwickelte die Reformpädagogik mit der „Pädagogischen Tatsachenforschung" von Peter Petersen erste Ansätze einer systematischen, auf genauer Beobachtung ruhenden Erforschung von Unterrichtsprozessen. Auf die Möglichkeit, Lehrverhalten zu ändern, zielt das in den 60er Jahren von dem amerikanischen Psychologen Ned Flanders entwickelte Verfahren der Interaktionsanalyse (vgl. Flanders 1970; zur Rezeption im deutschen Sprachraum vgl. Zifreund 1976; Krumm 1973): mit Hilfe der Beobachtung und Analyse des eigenen Unterrichts sollten Lehrende ihren Lehrstil erkennen, sich quasi im Spiegel sehen und dadurch befähigt werden, ihr eigenes Lehrverhalten zu ändern. Mit

1141

116. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse

der stark durch die Arbeiten in den Vereinigten Staaten beeinflussten Aufnahme der Unterrichtsanalyse hat in den 60er und 70er Jahren auch für die Sprachlehrforschung und Fremdsprachenlehrerausbildung im Bereich Deutsch als Fremdsprache eine bis heute andauernde Entwicklung eingesetzt, die Unterrichtsbeobachtung in vielfältigen Formen und mit unterschiedlichen Zielsetzungen verwendet. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis von der grundsätzlich anderen Struktur von Kommunikationsprozessen innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Für die Unterrichtsbeobachtung heißt das: a) Fremdsprachenunterricht stellt eine Interaktions- und Kommunikationssituation eigener Art dar, deren Spezifika die Lehrenden kennen sollten, um zu prüfen, wie weit der Unterricht selbst Möglichkeiten der Einübung in kommunikatives Handeln eröffnet (vgl. Krumm 1997); b) Lehrende (das gilt in gleicher Weise natürlich auch für die Lernenden) nehmen das Unterrichtsgeschehen oft nur verzerrt und einseitig wahr, je nach ihren Vorerfahrungen und spezifischen Erwartungen. Lehrerinnen und Lehrer müssen die genaue Beobachtung des Unterrichts, insbesondere ihres eigenen Lehrverhaltens lernen, wenn ihr Handeln nicht blind impliziten Theorien folgen soll (vgl. Krumm 1987); c) Die unstrukturierte Beobachtung fokussiert oft stark auf die handelnde Person des Lehrenden. Das ist verständlich insbesondere auf Grund der Zielsetzung, Beiträge zur Lehreraus- und Lehrerfortbildung zu liefern. Damit wird jedoch zugleich die unterrichtliche Komplexität zu stark reduziert — es wird daher bei der Analyse unterrichtlicher Kommunikation und Interaktion stets darauf ankommen, auch die Lernenden und ihre Wahrnehmung des Unterrichtsprozesses in die Analyse einzubeziehen und die sozialen und institutionellen Aspekte in Rechnung zu stellen. So lassen sich bei der Unterrichtsbeobachtung und -analyse im Bereich Deutsch als Fremdsprache die folgenden — sich in der Praxis durchaus überlagernden - Erkenntnisinteressen unterscheiden: 2.1. Die empirische Unterrichtsforschung hat die Unterrichtsbeobachtung als wichtiges Forschungsinstrument (wieder)entdeckt und trägt seit den 70er Jahren zu unserer Kenntnis der Auswirkungen von Lehr- auf Lernverhalten bei (vgl. Kap. 6.).

2.2. Im Zusammenhang mit der empirischen Wende der Unterrichtsforschung hat auch die Lehreraus- und Lehrerfortbildung seit den 70er Jahren eine ,empirische Wende' vollzogen und nutzt Verfahren der Unterrichtsbeobachtung (vgl. Kap. 4.). 2.3. Versuche, die Qualität von Unterricht und Lehrkräften zu messen und zu beurteilen, haben sich seit den 70er Jahren unter Stichworten wie Professionalisierung, Lerner-ITeilnehmerorientierung, Supervision und Evaluation im Bereich von Unterricht und Weiterbildung etabliert und werden zunehmend auch im Bereich der Sprachkursanbieter für Deutsch als Fremdsprache praktiziert (vgl. Kap. 5.).

3.

Verfahren der Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse

Allwright (1988, Kap. 1 und 2) beschreibt die Entwicklung von Verfahren der Unterrichtsbeobachtung und -analyse insbesondere als Suche nach geeigneten Beobachtungskategorien, um einerseits Einsichten in den Sprachlehr-, eventuell sogar den Sprachlernprozess zu gewinnen und andererseits Lehrenden Einsichten in die Konsequenzen des eigenen Lehrerhandelns zu vermitteln, wobei die Verquickung beider Zielrichtungen bis heute einerseits dem Ziel einer „Klassenzimmerforschung" der Lehrenden selbst entgegenkommt, andererseits auch die einseitige Orientierung der Beobachtungs- und Analyseverfahren am Lehrverhalten mit verursacht. Mit dem Interesse an Möglichkeiten, Lehrverhalten zu ändern, haben sich in den 60er Jahren Unterrichtsbeobachtung und -analyse zunächst in der Lehreraus- und Lehrerfortbildung durchgesetzt. Der stärkste Impuls ging von dem von Flanders (1970) entwickelten Beobachtungssystem FI AC (Flanders' Interaction Analysis Categories) aus. Unverkennbar ist bei Flanders eine pädagogische Absicht: er geht davon aus, dass ein indirekter Lehrstil — die Kategorien 1—4 beim Lehrer (Loben, Aufgreifen, Fragen) und 9 (freie Antworten) bei den Schülern — einen besonders effektiven Unterricht ergeben, während direktives Lehrverhalten (Vortragen, Anweisen, Kritisieren) negativ gesehen wird. Allerdings: Lehrern wird hier nicht gesagt, wie sie unterrichten sollen, sie können vielmehr durch die Unterrichtsanalyse den eigenen

1142 Lehrstil erkennen, beobachten, wie ihre Schüler darauf reagieren und ihr Verhalten entsprechend ändern. Flanders geht hier von einer noch sehr eindimensionalen Vorstellung von Unterricht aus, sein Analyseinstrument ist insbesondere, was die Schüleraktivitäten betrifft, mit lediglich zwei Kategorien auch zu wenig auf die Interaktion im Klassenzimmer hin orientiert. Sein Ansatz hat jedoch die Entwicklung pädagogischer Unterrichtsanalysen bis heute beeinflusst, einmal im Hinblick auf stärker forschungsorientierte Erweiterungen (vgl. hierzu Allwright 1988, 125ÍT.), zum andern im Hinblick auf die praktische Anwendung in der Lehreraus- und Lehrerfortbildung (vgl. hierzu Malamah-Thomas 1987). Für den Fremdsprachenunterricht hat Gertrude Moskowitz schon 1967 eine Adaption des Flanders'schen Verfahrens vorgelegt, in dem sie spezifische Elemente des Fremdsprachenunterrichts wie zum Beispiel den Gebrauch von Mutter- und Fremdsprache berücksichtigt. Erkennbar ist bei Moskowitz — und das wird in späteren Analysesystemen fortgeführt —, dass versucht wird, Interaktion im Klassenzimmer als Bestandteil von Spracherwerbsprozessen zu verdeutlichen, also zwischen dem Gebrauch von Mutterund Zielsprache, zwischen sprachlichen Äußerungen als Modell/Drill bzw. „real" zu unterscheiden. Einen Schritt weiter in dieser Hinsicht gehen Jarvis (1968) und Krumm (1973), bei denen der Bezug zur audiolingualen bzw. audiovisuellen Methode wie bei Moskowitz deutlich erkennbar ist. Beide Kategoriensysteme gehen davon aus, dass auch die Lernenden einen stärkeren aktiven Anteil am Unterricht haben, der in der Analyse darzustellen ist: auch die Lernenden können Antworten hervorrufen. Den Analysesystemen der 60er und 70er Jahre liegt eine für das Training von Lehrverhalten durchweg nützliche Prozess-Produkt-Vorstellung zugrunde: das Lehrverhalten bewirkt Lernverhalten/Lernen, die aber gerade wegen der Konzentration auf den Lehrer als Akteur die Komplexität unterrichtlicher Interaktionen im Fremdsprachenunterricht stark verkürzt. Sie eignen sich daher für die Analyse der verbalen Unterrichtssteuerung durch den Lehrer insbesondere im Frontalunterricht, erlauben es jedoch nicht, pädagogische Interaktion im Klassenraum darüber hinausgehend (und eventuell auch in ihren Defiziten) transparent zu machen. In der Studie von Peck (1988) sowie in der Zusammenstellung von Beobachtungsinstrumenten bei Malamah-Thomas

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(1987) finden sich eine Vielzahl von konkreten Vorschlägen, Einzelaspekte von Fremdsprachenunterricht in diesem Sinne zu analysieren unter der Fragestellung: was kann Lehrverhalten im Unterricht bewirken, welche Rolle spielt das Lehrerhandeln in der unterrichtlichen Interaktion? Diese klassischen' Analysesysteme basieren darauf, dass das Unterrichtsgeschehen durch Beobachter interpretiert oder aber vom Lehrenden selbst unter vorgegebenen Kriterien reflektiert wird. Die Unterrichtsforschung hat jedoch seit den 80er Jahren deutlich gemacht, dass eine solche Außensicht auf Lehr-Lernprozesse nicht ausreicht, um das unterrichtliche Wirkungsgefüge zu analysieren. Beobachtung reicht als Datenquelle nicht aus (vgl. Greve; Wentura 1997), sie muss durch introspektive Daten ergänzt werden, wie sie z. B. durch Lerntagebücher, Lautes Denken über den eigenen Unterricht u. ä. Verfahren gewonnen werden (vgl. Huber/Mandl 1982/1994, Grotjahn 1993). Die Außensicht durch ,objektive' Kategorien und Beobachtungsraster muss in Beziehung gesetzt werden zur Innensicht der Betroffenen und Beteiligten: Lehrende und Lernende haben eine Geschichte miteinander, die sich der Beobachtung in einer einzelnen Stunde entzieht. Unterricht besteht ja nicht aus in sich abgeschlossenen Stunden, sondern aus übergreifenden Einheiten, von denen in der einzelnen Stunde jeweils nur ein Teil sichtbar wird. Wenn erreicht werden soll, dass Lehrende sich der Strukturen der unterrichtlichen Interaktion bewusst werden und ihr Verhalten ändern, so müssen sie selbst (und nach Möglichkeit die Lernenden) einbezogen werden, und zwar nicht nur, indem sie es lernen, vorgegebene Beobachtungsaspekte am eigenen Unterricht zu verfolgen, sondern indem sie auch ihre Beweggründe, ihre begleitenden Emotionen und Motive mitreflektieren. Wie man sich in Interaktionen verhält, das ist ja nicht allein davon abhängig, welches Ziel die Interaktion hat, sondern vor allem auch davon, wie wir Situationen und Menschen wahrnehmen, welche Befindlichkeit das Agieren unserer Partner in uns auslöst, d.h. die Interaktion wird stark auch durch unsere subjektiven Theorien über den Unterricht beeinflusst, wie Kallenbach (1996) dies z. B. in einer Studie zu den subjektiven Theorien von Lernenden über ihren Fremdsprachenunterricht deutlich gemacht hat (vgl. auch Hu 1996; zu den subjektiven Theorien der Lehrenden vgl. Woods 1996; vgl. Art. 80; 114). Ferner muss bedacht werden, dass die

1143

116. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse

Interaktion zwischen Lehrer und Schüler nicht nur eine Interaktion zwischen zwei Personen, sondern zwischen dem Lehrer und der Lerngruppe, also eine Interaktion in und mit Gruppen ist. Dieser Aspekt fehlt in den traditionellen unterrichtsanalytischen Systemen; Studien zur Beobachtung von Gruppenprozessen liegen nur vereinzelt vor (vgl. Art. 79). Für die Analyse pädagogischer Interaktionen ergibt sich, sollen die an der Interaktion Beteiligten einbezogen werden, die Notwendigkeit einer kommunikativen Validierung, d.h. einer Aushandlung der Rekonstruktion von Unterricht durch den Außenbeobachter/Interpreten mit dem/den Agierenden (vgl. Thiemann 1979, 86ff.). An die Stelle der Suche nach möglichst allgemeingültigen Beobachtungskategorien ist der Versuch getreten, Unterricht aus einer Vielzahl von Perspektiven heraus, der subjektiven von Lehrenden und Lernenden ebenso wie der Fremdperspektive eines Beobachters, als mehrdimensionalen, dynamischen Prozess zum Gegenstand der Forschung und der Reflexion in Aus- und Fortbildung zu machen; das hat die Bedeutung von Beobachtungsrastern relativiert und dazu geführt, dass für spezifische Zwecke in Forschung und pädagogischer Praxis je unterschiedliche Beobachtungsverfahren zusammengestellt bzw. selbst entwickelt werden (vgl. Krumm 1982). Die Analyse der pädagogischen Interaktion im Fremdsprachenunterricht zielt auf die Aufhellung der Komplexität unterrichtlicher Wirkungszusammenhänge. Um dies zu erreichen, gibt es nicht ein richtiges, gültiges Analyseverfahren, die Wahl der Analysekategorien ist vielmehr abhängig vom jeweiligen Forschungs- und Erkenntnisinteresse und den praktischen Zielsetzungen: die Diskursanalyse etwa rückt neuralgische Aspekte der verbalen Interaktion wie ζ. B. Sprecherwechsel und Korrekturverfahren in den Mittelpunkt; die psychologisch fundierte Interaktionsanalyse macht Fragen der (wechselseitigen) Wahrnehmung der beteiligten Personen zum Thema, die stärker soziologisch orientierte Rollenanalyse fragt (unter anderem) nach dem Rollenverständnis von Lehrenden oder dem Funktionieren der Zusammenarbeit in Lerngruppen, eine fachdidaktisch motivierte Unterrichtsanalyse schließlich untersucht die Abfolge methodischer Schritte und Unterrichtsphasen oder die Wirkungen einzelner Lehr- und Lernverfahren - im Hinblick auf eine Sensibilisierung der Lehrenden und Veränderung der Unterrichtspraxis kann

sich die Analyse pädagogischer Interaktionen all dieser Zugänge bedienen - eine valide Beobachtung sollte jedoch auch bei unterschiedlichen Akzentuierungen in jedem Fall die eigene Interpretation der Betroffenen einschließen. Verfahren der Methodentriangulierung wie z. B. die Kombination von Fremdbeobachtung und Selbstaussagen (vgl. Grotjahn 1995) bieten sich hierfür an.

4.

Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse in der Lehreraus- und Lehrerfortbildung

Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse haben in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften einen festen Stellenwert: in der Lehrerausbildung wird die Beobachtung meist mit fachdidaktischen Seminaren gekoppelt und stellt die Vorstufe zu eigenen Unterrichtsversuchen angehender Lehrer dar. Mit Hilfe von Videoaufzeichnungen kann im Rahmen der pädagogischen oder sprachdidaktischen Lehrerausbildung eine systematische Hinführung zur komplexen Unterrichtssituation bewirkt und ein Beobachtungstraining etabliert werden (vgl. Boocz-Barna 1997). Im Verfahren des Microteaching (vgl. Krumm 1973, Kap. 4; Nehm 1976; Kast 1994) werden kleinschrittige Unterrichtsversuche (mit wenigen Schülern und bezogen auf Teillernziele) mit einer genauen Analyse und Wiederholung der Lehrversuche kombiniert. Für die Lehrerfortbildung stellen Unterrichtsbeobachtung und -analyse einerseits Möglichkeiten einer gezielten Auseinandersetzung mit einem eigenen Unterricht bis hin zur Aktionsforschung (vgl. Abschnitt 6.3.) bereit, sie können jedoch auch im Rahmen der Qualitätssicherung der jeweiligen Institution als objektivierende Verfahren eingesetzt werden. Insgesamt ist Unterrichtsbeobachtung dabei nur ein Element im Rahmen der Qualitätssicherung. So heißt es in den Leitlinien des Deutschen Volkshochschulverbandes (Arbeitskreis 1997, 71): Volkshochschul-Kursleiterinnen werten ihren Unterricht regelmäßig aus. Sie sind an der Qualitätssicherung durch die Volkshochschule unmittelbar beteiligt und unterstützen alle angemessenen Evaluationsverfahren - z. B. Hospitationen, gegenseitige Unterrichtsbesuche, Auswertungsgespräche im Fachbereich und schriftliche Befragungen der Teilnehmerinnen.

1144 Die besondere Bedeutung der Unterrichtsbeobachtung für Lehrerfortbildung und Qualitätssicherung liegt darin begründet, dass die Lehrsituation professionelle Deformationen produziert, denen aktiv entgegengearbeitet werden muss. Und stärker als theoretische Fortbildung zielt Unterrichtsbeobachtung auf eine Reflexion des Handelns der Beteiligten und des eigenen Verhaltens, d. h. sie trägt zur Weiterentwicklung des Lehrverhaltens bei. In der Ausbildung wird die Fähigkeit zu einer realistischen Beobachtung des eigenen Unterrichts nicht ausreichend vermittelt; um die Diskrepanzen zwischen eigenen Einsichten und realem Verhalten im Unterricht zu erkennen und gegebenenfalls zu überwinden, bedarf es eines systematischen Beobachtungstrainings. Die eigene Wahrnehmung der Lehrkraft reicht schon in einer Gruppe mit 10 bis 15 Teilnehmern nicht aus zu erfassen, ob alle Lernenden durch Aufrufen und Drankommen, Lob und Aktivierung die gleichen Kommunikationschancen bekommen, und gar noch zu prüfen, ob dabei auch alle gleichermaßen relevante Sprechanlässe erhalten und nutzen, wie die Lernenden miteinander kommunizieren und welche Nebenwirkungen und Nebenkommunikationen entstehen. Lehrtätigkeit ist gekennzeichnet durch ein weitgehendes Fehlen von Rückmeldungen über den Erfolg der Arbeit, die tatsächliche Wirkung des eigenen Verhaltens: „Lehrer verhalten sich in ihrer Schulpraxis häufig anders, als sie eigentlich handeln möchten ...; diese negativen Effekte scheinen sich mit zunehmender Länge zu verstärken" (Zifreund 1982, 296). Feedback-Elemente und Verfahren der Selbstevaluation sind nötig, um Lehrenden Rückmeldungen über ihre Lehrtätigkeit und deren (oft unerwartete, manchmal auch unerwünschte) Nebenwirkungen zu verschaffen. So hat das Goethe-Institut ζ. B. in den Lehrplänen für seine Inlandsinstitute (Goethe-Institut 1996) die Selbstevaluation verankert und eine Kursteilnehmerbefragung vorgelegt, die zur systematischen Verwendung von Feedbackverfahren anregen. Unterrichtsbeobachtung als Feedback-Verfahren kann helfen, bessere Rückmeldungen über das eigene Lehrverhalten und dessen Wirkungen im Unterricht zu erhalten und damit die Diskrepanz zwischen dem eigenen methodischen Wissen und dem (dahinter zurückfallenden) tatsächlichen Verhalten zu verringern. Schließlich ist das Kennenlernen alternativer Unterrichtsformen eine wichtige Voraussetzung für einen an den Lernenden orien-

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tierten Deutschunterricht. Geht man davon aus, dass es nicht eine richtige Methode für alle gibt, sondern unterschiedliche Lernende in unterschiedlichen Situationen auch unterschiedliche Hilfen und Hinweise brauchen, so besteht die Schwierigkeit eines Lehrers nicht darin, das eine (gar nicht existierende) sichere Rezept zu finden, sondern sie besteht vielmehr darin, zu sehr auf eine Art des Unterrichtens festgelegt zu sein und nicht über ein Repertoire von Handlungsalternativen zu verfügen, aus denen dann situationsbezogen ausgewählt werden kann. Mit Hilfe der Unterrichtsbeobachtung können unterschiedliche Formen der Unterrichtsgestaltung präziser verfolgt und damit die Flexibilität der Lehrenden erhöht werden. Solche Konzepte können sich auf Erkenntnisse der pädagogischen und der Wahrnehmungspsychologie darüber stützen, unter welchen Umständen Menschen ihr Verhalten ändern (Wagner 1976): Kritik ist bedrohend, wird abgewehrt und führt zur Verteidigung bzw. Legitimation des eigenen Verhaltens — oder aber sie destabilisiert und verunsichert: Lehrverhalten ändert sich, wenn wünschenswerte Modelle vorgeführt und die Diskrepanzen zum eigenen Verhalten bewußt gemacht werden (vgl. Ziebell 1998). 5.

Spezifika der Unterrichtsbeurteilung

Im pädagogischen Bereich dienen Unterrichtsbeobachtungen durchaus auch der Beurteilung der Lehrkräfte und der Qualität ihres Unterrichts, wobei die Ableitung von Beurteilungsmaßstäben, um Lehrverhalten oder Unterricht als ,gut' oder ,schlecht' zu bezeichnen, ein höchst subjektiver Vorgang bleibt (vgl. Thiemann 1979). Für die Fortund Weiterbildung von Lehrkräften hat es in der Regel negative Auswirkungen, wenn die gleiche Institution, oft auch die gleiche Person (Inspektor, Fachleiter o. ä.) Unterricht einmal beobachtet, um Feedback zu geben und die Beobachtung für Fortbildungszwecke zu nutzen, ein ander Mal, um zu beurteilen. Diese Mischung ist oft institutionell nicht zu vermeiden, für die Qualitätssicherung und -Verbesserung ist sie jedoch kontraproduktiv. Beurteilungssituationen produzieren unerwünschte Nebenwirkungen; dazu gehören insbesondere a) die Entwicklung einer Defensivhaltung bei den Lehrenden: wird man kritisiert, so

116. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse

verteidigt man eventuell etwas, womit man sonst vielleicht selbst nicht zufrieden gewesen wäre; b) die Herstellung von Unsicherheit und damit eine Schwächung des Selbstvertrauens der Lehrperson, was sich dann auch in tatsächlich , schlechterem' Unterricht niederschlägt; c) eine Abwehrhaltung auch bei solchen Unterrichtsbeobachtungen, die der Fortbildung dienen: Beurteilende verlieren ihre Überzeugungskraft für Fortbildung, da aus Sorge vor einem Niederschlag in negativer Beurteilung auch in Fortbildungssituationen Fragen und Unsicherheiten verschwiegen werden. Für die Praxis der Unterrichtsbeobachtung sollte daher versucht werden, diese beiden Aspekte — Beobachtung im Rahmen von Qualitätssicherung und Fortbildung/Beobachtung als Grundlage für eine Beurteilung - weitgehend zu trennen. Ist eine personelle Trennung dieser beiden Rollen nicht möglich und müssen Fachreferenten beide Rollen übernehmen, die des Beurteilenden und die des Beraters und Fortbildners, so ist absolute Transparenz und Klarheit über die jeweilige Funktion der Unterrichtsbeobachtung notwendig. Ein Vorbereitungsgespräch ist dann eine wichtige Vorbedingung. Für die Unterrichtsbeobachtung bei einer .Lehrprobe' sind daher eigene Beobachtungsbögen empfehlenswert, die auch dem Beobachter den Ubergang von der Datenerhebung zur Interpretation bewusst machen (vgl. Thiemann 1979, Krumm 1984). Während Unterrichtsbeobachtung zum Zwecke der Fortbildung im Regelfall auf Kooperation zwischen Beobachter und Beobachtetem basiert und Beobachtungsfehler möglicherweise in einem Nachgespräch aufgelöst werden können, sind Fehler in einem Beurteilungsverfahren gravierender und - auf Grund eines eventuell nicht vorhandenen Kooperationsverhältnisses der Beteiligten - auch schwerer zu erkennen und auszuräumen. Insbesondere in folgenden Bereichen treten systematische Fehler auf: 1. Die Verwechslung von Unterrichts- und ZeArerbeurteilung: zu prüfen ist, ob die beobachteten Merkmale einer Unterrichtsstunde etwas über die Qualifikation der Lehrperson aussagen können. Beurteilungsbögen versuchen daher in der Regel zu trennen zwischen der möglichst deskriptiven Notierung während des Unterrichts und der nachträglichen Interpretation und Bewertung, die nicht un-

1145 ter Zeitdruck während der Beobachtung erfolgen sollte. 2. Die Verwechslung von Lehrer- und Persön/z'cAfcei'isbeurteilung: zwar gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die auch für die Beurteilung der Lehrqualifikation heranzuziehen sind — etwa (vgl. Jendrowiak/Kreuzer 1980), dass es nützlich ist, sachlich zu sein, die Namen der Schüler zu kennen, Sinn für Humor zu haben und dass Sarkasmus, die Bevorzugung von Lieblingsschülern und das Spekulieren mit Ängsten zu vermeiden sind — von solchen ganz wenigen Aspekten abgesehen aber ist darauf zu achten, dass es nicht um eine Persönlichkeitsbeurteilung geht, sondern um Lehrtätigkeit. Beurteilende sind, was die Einstellung zu Persönlichkeiten betrifft, selbst absolut subjektiv und in eigenen subjektiven Persönlichkeitskonzepten gefangen. Für Personen, die Unterricht beurteilen, ist daher ein systematisches Wahrnehmungstraining wichtig. 3. Die Verwechslung von Planung und Realisierung: Die Unterrichtsskizze ist wichtiger Bestandteil einer Beurteilung von Lehrqualifikation, sie darf aber nicht die Folie für die Beurteilung der Unterrichtsdurchführung darstellen, sondern ist in ihrem Eigenwert zu sehen. Die Beurteilung des Unterrichts von der Planung her („Lehrziel erreicht", „Unterrichtsplanung eingehalten") würde eine unvertretbare Verkürzung der situativen und interaktiven Dimensionen von Unterricht bedeuten und Lehrende zu Marionetten ihrer Planung degradieren. 4. Die Selektivität der Beobachtung: Beobachtung ist notwendig selektiv - eine unbewusste Selektion kann über das strikte Verfolgen der Vorgaben auf Beobachtungsbögen ein Stück weit vermieden werden. Noch besser ist es, hier durch einen zweiten Beobachter ein Korrekturelement einzubauen, wie dies ζ. B. bei amtlichen Lehrproben im Schulwesen meist der Fall ist. Auch der Videomitschnitt gibt Gelegenheit, Wahrnehmungen im Nachhinein zu überprüfen. Fasst man die Hinweise in verschiedenen Publikationen zur Unterrichtsbeurteilung zusammen, so lassen sich Beurteilungsfehler am ehesten vermeiden durch wiederholte Beobachtungen (Unterrichtsbeurteilung sollte nicht auf einer einzigen Stunde beruhen), objektivierte Beobachtung durch zwei Beurteiler, durch vorausgehendes Beobachtungstraining und ggfs. Aufzeichnung der Lehrprobe, festgelegte Beobachtungsgesichtspunkte und Be-

1146

XV. Lehren als didaktisch-methodischer Gegenstand VI

wertungsmaßstäbe (dabei ist die Trennung der Vorgänge Beobachtung — Bewertung wichtig); wenige Beobachtungsgesichtspunkte und Beurteilungskriterien helfen, Fehler zu reduzieren; die Einbeziehung der Lernenden (Befragung) kann Beobachtungsfehler ausgleichen; eine wichtige Funktion bei der Korrektur möglicher Beobachtungsfehler hat das Nachgespräch, in dem auch die Argumente der betroffenen Lehrkraft gehört und in die Bewertung einbezogen werden (vgl. Jendrowiak/ Kreuzer 1980, S. 120fT.). Die Vermeidung von Beobachtungs- und Beurteilungsfehlern hängt nicht zuletzt auch von der Qualifikation derjenigen ab, die für diese Verfahren verantwortlich sind und sie durchführen. Ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch sowie eine periodische Fortbildung der Fortbildner/Fachreferenten bildet eine entscheidende Grundlage für die Qualitätssicherung.

6.

Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse als Forschungsverfahren

Unter den divergierenden Forschungsrichtungen, die sich der Unterrichtsbeobachtung und -analyse bedienen, sind für Deutsch als Fremdsprache insbesondere die folgenden Akzentuierungen von Bedeutung: 6.1. Die Kommunikationsforschung, insbesondere die Diskursanalyse, untersucht die Unterrichtskommunikation als Beispiel für „Sprache in Institutionen" (ζ. B. im Vergleich mit der Arzt-Patienten-Kommunikation), um institutionentypische sprachliche Handlungsmuster herauszuarbeiten (vgl. Ehlich/Rehbein 1983). Henrici (1995) ζ. B. kann in seiner Studie deutlich machen, dass eine Veränderung der interaktiven Bedingungen den Fremdsprachenerwerb erfolgreicher machen kann. Verbale Muster unterscheiden sich aber auch von Kultur zu Kultur, sodass die Untersuchung interkultureller und kulturgeprägter Kommunikationsstrukturen und Verhaltensweisen gerade im Bereich der Unterrichtskommunikation deutlich gemacht hat, wie ζ. B. native speakers durch unbewusste Übertragung von Rollenverhalten und Sprachhandlungen im Fremdsprachenunterricht Missverständnisse produzieren (vgl. Rehbein 1985; House; Blum-Kulka 1986). Eßer (1997) z.B. führt unterschiedliche Auffassungen über den Texttyp ,Seminarreferat' zwischen Mexiko und Deutschland auf die unterschiedlichen Tradi-

tionen des mexikanischen und deutschen Bildungswesens zurück. Die Institution Schule bzw. Hochschule in ihren je historisch-kulturellen Ausgestaltungen bestimmt die mündliche wie auch schriftliche Kommunikation der Lehrenden und Lernenden und legt ihre Kommunikationsrollen und -erwartungen fest. Im Gefolge des Konstruktivismus relativiert die Diskursanalyse den institutionellen Kontext (ohne ihn ganz zu negieren) und interpretiert den Unterrichtsprozess noch stärker als Produkt der Interaktion der Beteiligten: die Mikroanalyse der (verbalen) Interaktion von Lehrenden und Lernenden soll Aufschluss darüber geben, mit welchen Strategien diese den Unterrichtsprozess strukturieren und welche Handlungsmuster die unterrichtliche Interaktion erfolgreich gestalten (vgl. beispielhaft die Analysen von Lauerbach 1997). 6.2. Die Unterrichtsforschung hatte sich zunächst zum Ziel gesetzt, Merkmale ,guten Unterrichts' zu erarbeiten (vgl. Brophy/Good 1974/1976). Unterrichtsbeobachtung spielte daher in den Vergleichsuntersuchungen zur Effektivität von Unterrichtsmethoden eine wichtige Rolle (vgl. von Elek/Oskarsson 1973). Dazu gehörte die Untersuchung der Auswirkungen des Lehrverhaltens auf die Lernergebnisse und Lernprozesse, um Charakteristika eines ,guten Fremdsprachenlehrers' empirisch zu ermitteln (vgl. Allwright 1988; Peck 1988), ebenso wie die Suche nach den Bedingungen für gute Lernergebnisse auf Seiten des ,guten Sprachenlerners' (vgl. Nai-

man u. a. 1978). Im Bereich der Lehrerausbildung entwickelten Krumm (1973) und Nehm (1976) Verfahren der Evaluation von Ausbildungskonzepten mit Hilfe von Microteaching und Unterrichtsbeobachtung. Unter der Bezeichnung Aktions- oder Handlungsforschung ist die Analyse von Unterrichtsprozessen mit dem Ziel einer gezielten Weiterentwicklung insbesondere im angelsächsischen Raum, aber auch in Österreich fester Bestandteil der Lehrerfortbildung (Legutke/Thomas 1991, 304fr.). 6.3. Mit den 80er Jahren ist an die Stelle einer mehr oder weniger ausschließlich auf Beobachtungsdaten basierenden Forschung die Kombination der Fremdbeobachtung mit introspektiven Daten getreten (vgl. Kap. 3.) und auch die Sprachlehrforschung hat ihr Methodenrepertoire entsprechend erweitert. So hat Mummert (1984, besonders Teil III)

116. Unterrichtsbeobachtung und Unterrichtsanalyse

für die vergleichende Untersuchung von Deutschunterricht in Frankreich und Französischunterricht in Deutschland ein spezifisches Instrumentarium der kommunikativen Unterrichtsbeobachtung' entwickelt und dafür Unterrichtsbeobachtungen in ein Konzept der Handlungsforschung integriert: Lehrende und Lernende reflektieren die Beobachtungsergebnisse gemeinsam mit dem Beobachter, um sich über die je subjektiven Interpretationen des Beobachteten zu verständigen. Zimmermann (1984; 1990) kombiniert Unterrichtsbeobachtungen mit Lehrer- und Schülerinterviews, um dem Widerspruch zwischen methodischen Einsichten und konkretem Lehr- und Lernverhalten bei der Grammatikvermittlung im Fremdsprachenunterricht auf die Spur zu kommen. Im Bochumer Tertiärsprachenprojekt (Kleppin/Königs 1991; Bahr u.a. 1996) wurden Unterrichtsbeobachtungen und -aufzeichnungen im Verbund mit introspektiven Daten genutzt, um Spezifíka des Lehrverhaltens und der Lernenden beim Umgang mit Fehlern und Korrekturen, bei der Semantisierung, im Hinblick auf die Einsprachigkeit und die Kogniti vierung herauszuarbeiten. Unterrichtsbeobachtung hat sich im Bereich der Sprachlehrforschung zur Untersuchung des Vermittlungsaspektes als Bestandteil eines forschungsmethodischen Gesamtkonzepts etabliert (vgl. Bahr u.a. 1996, 24ff.). Insgesamt belegt die empirische Forschung, dass trotz der Zielsetzung „Kommunikationsfahigkeit" der Fremdsprachenunterricht bis heute zahlreiche Merkmale aufweist, die ihn von außerunterrichtlicher Kommunikation unterscheiden und das Erreichen dieses Lernziels erschweren (vgl. Lörscher 1983; Edmondson 1995). Als stabile Tendenzen lassen sich festhalten: die (verbale) Dominanz der Lehrenden: über 50% aller Lehreräußerungen haben eine lenkende Funktion, demgegenüber sind freie Schüleräußerungen und Schülerfragen selten; eine spezifische Unterrichtssprache, für die die Annäherung der gesprochenen an die Schriftsprache charakteristisch ist, deutlich u.a. in eingeschränkter Intonation (Aussagesätze häufig mit Frageintonation: der Schüler fragt implizit stets mit, ob seine Äußerung so richtig sei), kaum fremdsprachliche Interjektionen, reduzierte Mimik und Gestik, auf den Lehrer konzentrierte Blickkontakte, das Fehlen von „Bitte"); das Element der ,Bewertung' (d.h. eine spezifische Rolle des Lehrers und seiner sprachlichen Äußerung). Die Rollen sind in der Kom-

1147 munikationssituation Unterricht festgelegt und nicht einfach zu ändern, sie sind nicht reziprok, sondern hierarchisch und asymmetrisch. Mit den verschiedenen Rollen verbinden sich dann auch noch spezifische Tätigkeiten; vereinfacht lassen sie sich charakterisieren in der Abfolge: Lehrer fragt/fordert auf — Schüler reagiert - Lehrer bewertet. Diese Abfolge (vgl. Sinclair/Coulthard 1977) dominiert bis heute den lehrerzentrierten Unterricht. Diskursanalytische Untersuchungen illustrieren diese einseitige, teilweise verarmte Kommunikationsstruktur häufig an den folgenden Strukturelementen der sprachlichen Interaktion: a) Organisation des Sprecherwechsels: Sprecherwechsel wird durchweg vom Lehrer organisiert; um ans Wort zu kommen, müssen die Lernenden in der Regel durch Handaufheben ihre Antwortbereitschaft signalisieren. Der Lehrer ist in der Regel jedoch nicht an das Signal zur Übernahmebereitschaft der Sprecherrolle gebunden, sondern er kann einen Sprecherwechsel auch an solche Personen organisieren, die gerade nicht reden wollten; b) Lehrerfragen: Ein Merkmal von Unterricht insgesamt sind die ,unechten Lehrerfragen', bei denen der Lehrende eine Frage stellt, auf die er selbst die Antwort sehr genau kennt; c) Korrektur: Insbesondere die sprachliche Richtigkeit spielt im Fremdsprachenunterricht eine zentrale Rolle — sie wird durchweg vom Lehrer überwacht, der in der Regel über ein ganzes Repertoire an Korrekturmaßnahmen verfügt. Sehr oft werden Schüleräußerungen überhaupt nur elizitiert, um zu überprüfen, ob der Schüler es schafft, eine in den Augen des Lehrers korrekte Äußerung zu produzieren (vgl. Kleppin/Königs 1991). Fragt man sich, wieso sich eine solche spezifische Struktur der Unterrichtskommunikation trotz aller Veränderungen in den Zielsetzungen des Fremdsprachenunterrichts so fest etabliert hat, so lassen sich verschiedene strukturelle, in der Institution Unterricht' liegende Gründe anführen, die bewirken, dass Einsicht allein etwa bei den Lehrenden nicht zu einer Änderung des Kommunikationsverhaltens führt: 1. Die ,Amtsautorität' der Lehrenden: vergeben die Schulnoten, sie bestimmen Spielregeln (setzen z. B. Anfang und Ende Unterrichts fest), sie dürfen belohnen und

sie die des be-

1148 strafen. Im schulischen Fremdsprachenunterricht ist die pädagogische Interaktion durch diese Lehrfunktion bewusst eingeschränkt. Eine solche Amtsautorität verhindert bzw. löst Disziplinprobleme und schafft klare Verantwortung, weshalb sie insbesondere bei großen Lerngruppen immer wieder als notwendig angesehen wird. Bei Erwachsenen könnte diese Amtsautorität der Lehrkraft schwächer ausgeprägt sein, Erwachsene bringen aber vielfach eine korrespondierende Haltung gegenüber dem Lehrer „als Amtsperson" aus der Schulerfahrung mit und verhalten sich entsprechend. 2. Die ,Sachautorität' der Lehrenden: sie beherrschen/besitzen als einzige die Fremdsprache, d. h. die Lernenden sind hier stärker noch als in anderen Unterrichtsfächern auf den Lehrer angewiesen, um die Richtigkeit ihrer eigenen sprachlichen Handlungen bestätigt zu bekommen. Das Bewusstsein, der Lehrer verfüge über die erforderliche Sachautorität, kommt den Lernenden, auch erwachsenen Lernenden, in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung entgegen. 3. Die Rahmenbedingungen: die Sitzordnung ζ. B. trägt entscheidend dazu bei, festzulegen, wer wen anschauen und mit wem Kontakt aufnehmen kann. In der Regel wird durch schulische Einrichtungen (zentraler, manchmal noch erhöhter Platz des Lehrers, feststehendes Mobiliar in Frontalausrichtung) ein starrer Kommunikationsrahmen vorgegeben. Ähnliche Wirkungen haben der zeitliche Rahmen, die Vorstrukturierung durch Lehrpläne und Lehrmaterialien usf. 4. Die Lernerwartung: viele Lernende haben verinnerlichte Lernmodelle (subjektive Theorien, wie erfolgreiches Lernen funktioniert), dazu gehören ζ. B. die Auffassung, Sprachenlernen setze Belehrung voraus, Sprachenlernen heiße, erst einmal viel hören, und nur der Lehrer könne entscheiden, ob das Gelernte richtig verarbeitet würde. 5. Die Gruppendynamik: zu Überwindung von Lernangst und Konkurrenzdruck suchen Gruppen nach einem aktiven Moderator gerade in Phasen der Unsicherheit beim Fremdsprachenerwerb übernimmt der Lehrer hier die zentrale Schiedsrichterrolle. 6. Die Muttersprache: in nichtdeutschsprachigen Ländern könnten eigentlich alle Anwesenden in ihrer eigenen Muttersprache kommunizieren. Kommunikation auf Deutsch ist daher im Fremdsprachenunterricht prinzipiell künstlich und bedarf expliziter Spielregeln und eines »Spielleiters' (des Lehrers), der die

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Einhaltung der Spielregeln überwacht und dafür auch die erforderliche Amtsautorität einsetzen kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Unterrichtskommunikation ist in der Regel an feste Rollenverteilungen und Routinen gebunden, die wir im Unterschied zur außerunterrichtlichen Kommunikation als „künstlich" und „unecht" empfinden. Für Lehrende und Lernende ist diese Struktur vertraut und gibt Sicherheit - Abweichungen verunsichern und werden daher auch von den Lernenden oft abgelehnt. Erst andere Sozialformen und Unterrichtskonzepte wie Projektunterricht und ,autonomes Lernen' (vgl. Art. 79) bewirken eine grundlegende Aufhebung dieses Kommunikationsmusters . 7.

Literatur in Auswahl

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Hans-Jürgen

Krumm,

Wien (

Österreich)

XVI. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik 117. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der europäischen Auslandsgermanistik 1. 2. 3. 4. 5.

9.

Einleitung Zielgruppen Vorkenntnisse der Studierenden Sprachliche Lernziele Natürliches und institutionell angeregtes Lernen Institutionell gesteuertes Lernen Autonomes Lernen, neue Medien und Selbstlernen Das Verhältnis von fachlichen und sprachlichen Lehrveranstaltungen Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

6. 7. 8.

An anderer Stelle (vgl. Art. 143 ff.) wird konkret auf das Deutschlernen an den Universitäten verschiedener europäischer Länder eingegangen. In diesem Artikel wird der Versuch gemacht, typisierend das Deutschlernen am Lernort Universität im europäischen Ausland zu beschreiben. Dadurch entsteht der Eindruck einer größeren Homogenität, als es der europäischen Wirklichkeit entspricht und als es wünschenswert ist. Zwar lassen sich inzwischen im Rahmen des European Credit Transfer System Lehrangebote an Universitäten in verschiedenen Ländern formal als äquivalent beschreiben und wahrscheinlich ist auf Grund der Dominanz der Verlage aus dem deutschsprachigen Raum zumindest im Bereich des universitären Deutschlernens ohne Vorkenntnisse das Lehrmaterialangebot gleichförmiger, als dies die unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Ausgangslagen der Lernenden eigentlich zulassen sollten, doch wäre es auf Grund der unterschiedlichen Nähe und Ferne zum deutschsprachigen Raum, des unterschiedlichen Status, den Deutsch im jeweiligen Schulcurriculum und in der Lehrerausbildung hat, auf Grund der unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen kontrastiven Komponenten, der unterschiedlichen Sprach-

lernerfahrungen usw. nicht angemessen, eine europaeinheitliche DaF-Entwicklung anzunehmen. Auch ist eine Person nicht in der Lage, einen Überblick über die gesamte europäische Szene zu geben, es sei denn, sie beschränkte sich auf den Papier-Vergleich von Curricula, stellte Studentenzahlen und Namen von Lehrveranstaltungen gegenüber. Zwar sind vergleichende Sätze der Art ,1m Land X haben die Studierenden im zweiten Studienjahr mehr Übersetzungskurse als im LandY' nicht uninteressant, sinnvoll aber wohl nur im Rahmen einer umfassenderen Studie und nicht als Beispiele in einem Handbuchartikel. So bleibt nur, eine insg. dreizehnjährige Lehr- und Lernorganisationserfahrung in Irland und England und damit einen nordwesteuropäischen Blickwinkel zu deklarieren und zu versuchen, den Lernort Universität mit seinen Zielgruppen, Lernzielen und Lernweisen so allgemein wie gerade noch vertretbar zu charakterisieren. Als Beispiele für die Beschreibung landesspezifischen universitätsrelevanten Lernens zwischen so unterschiedlichen Polen wie Anfanger- und Fortgeschrittenenunterricht, Literatur- und Landeskundeorientierung oder allgemein- oder fachsprachlicher Spracherwerb vgl. Zeyringer 1991 (Frankreich), Schröder 1983 (Finnland), Steinig/Elsässer 1989 (Griechenland), Serena 1987 (Italien), Kolinsky 1993 oder Tenberg 1993 (Großbritannien), Petneki/Zalán-Szabyár 1993 oder Petneki/ Schmitt/Zalán-Szablyár 1994 (Ungarn) oder einige der Beiträge in Müller/Neuner 1984 oder Ehlers/Karcher 1987. 2.

Zielgruppen

Deutsch als Fremdsprache findet man an der Universität für zwei sehr unterschiedliche Zielgruppen (vgl. Abb. 117.1), zum einen für

1152

XVI. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik Universitäres DaF-Lernen

Zielgruppe: Germanistikstudenten

Zielgruppe: Studenten anderer Fächer Praktika

Übernahme der Lehre Vorkenntnisse: Abitur o. ä.

Anfänger

Curriculum geht vom Abitur aus

Curriculum geht von Anfangern aus

Trennung vs. Interaktion vs. Integration von ,Fach-' und .Spracharbeit' (inkl. Problem der Wahl der Unterrichtssprache). Einfluss von Zweitfächern etc. auf das Sprachcurriculum (European Studies, Business Studies etc.).

zentral organisiert

Regie des jeweiligen Faches

Pflicht vs. freiwillig. Fach- und fertigkeitsbezogen vs. gemeinsprachlich.

Abb. 117.1

die Zielgruppe der Germanistikstudenten, die Deutsch entweder in Kombination mit einer anderen Fremdsprache oder mit einem anderen traditionellen geisteswissenschaftlichen Fach oder allein mit traditioneller sprachund/oder literaturwissenschaftlicher Ausrichtung studieren oder in neueren GermanistikSpielarten wie area/cultural studies oder auch Kombinationsstudiengängen wie European Studies oder Sprache plus Wirtschaft. (Diese Ausdifferenzierung der Auslandsgermanistik ist jedoch nicht auf Europa beschränkt (vgl. z. B. die amerikanische Diskussion in Roche/ Samulets 1996)). Daneben gibt es noch Kombinationen, in denen der Deutscherwerb Teil des Studiengangs ist und auch in dessen Namen auftaucht, z.B. Chemistry with German, bei denen der

Anteil des Deutschen im Gegensatz zu den vorher erwähnten Kombinationen jedoch ganz oder fast ausschließlich aus Sprach- und damit gekoppeltem Landeskundeerwerb be-

steht und nicht auch aus gleichberechtigten fachlichen germanistischen Lehrveranstaltungen. Die andere große Zielgruppe sind die Hörer anderer Fachbereiche, z. B. Studenten der Elektrotechnik oder Biologie, für die das Sprachenlernen oft nicht inhaltlich mit ihren Fachgegenständen verbunden ist. In diese große Zielgruppe gehören aber auch Kurse wie Deutsch für Musikwissenschaftler, wenn diese obligatorische oder fakultative zusätzliche fachorientierte Sprachkurse für Studierende der entsprechenden Fächer und nicht Teil eines Kombinationsstudiums sind. Bei diesen Kursen für Hörer aller Fachbereiche ist unter motivationalen Gesichtspunkten zu unterscheiden zwischen solchen, bei denen die Teilnahme an Sprachkursen eine freiwillige Tätigkeit ist, im Hinblick auf die Verbindlichkeit prinzipiell nicht anders als eine an einem Chor oder an einem Fitnessprogramm, und solchen, bei denen es obligato-

117. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der europäischen Auslandsgermanistik

risch ist, dass man den Erwerb einer fremden Sprache nachweist, auch wenn diese selbst nicht Teil des Namens des Studiengangs ist, wobei je nach Studienorganisation lediglich der Nachweis der absolvierten Teilnahme zu erbringen ist oder die Note im Sprachexamen Teil der Gesamtnote ist. Diese Kurse für Studenten anderer Fächer können von den jeweiligen Sprachfachbereichen oder von einer zentralen Sprachlehreinrichtung betreut werden. Finden sie unter die Regie des jeweiligen Sprachfachs statt, so könnten theoretisch die Germanistikstudenten, so sie einen Lehrerberuf anstreben, in diesem Bereich Praktikumserfahrungen machen, eine Möglichkeit, von der aber meines Wissens wenig Gebrauch gemacht wird. Ebenfalls möglich, und mancherorts nicht ohne hochschulpolitische Brisanz, ist es, dass die zentrale Sprachlehreinrichtung auch die sprachpraktische Ausbildung der Germanistikstudenten übernimmt und die Fachgermanisten von der Spracharbeit ,befreit'. Diese Variante ließe sich zum einen interpretieren als Beitrag zur weitergehenden Professionalisierung der Sprachlehre und Anerkennung der Tatsache, dass Sprachunterricht nicht einfach von Literatur-, Medien- und Wirtschaftsfachleuten ,nebenbei' gemacht werden sollte, gestützt auf ihre eigene Erfahrung als Lernende (vgl. zur Bedeutung dieser Lernerfahrung für das Lehrverhalten Legutke (demnächst)). In der Realität wird sie aber wohl eher von den Ansprüchen der Administration, den Sprachunterricht billiger zu machen und zentral mit Teilzeitkräften zu organisieren, geleitet und trüge auf Grund der damit einhergehenden größeren Unverbindlichkeit der Betreuung eher zu einer Verschlechterung des Studiums bei (Zur Rolle der DAAD-Lektoren in der Auslandsgermanistik vgl. Fröhlich/Geliert 1996. Zum Beitrag, den die Bildungsstätten im deutschsprachigen Raum für die Ausbildung von DaF-Lehrern (nicht) leisten können, vgl. Krumm 1996; vgl. auch Art. 115). 3.

Vorkenntnisse der Studierenden

Grob unterteilt gibt es bei den GermanistikStudiengängen mindestens zwei Ebenen der sprachlichen Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums: entweder werden abiturähnliche Vorkenntnisse in der deutschen Sprache vorausgesetzt, oder es werden auf Grund der Tatsache, dass Deutsch an den Schulen kaum erste Fremdsprache ist (vgl.

1153

Bausch/Heid 1990) und nicht ausreichend Studienbewerber mit Vorkenntnissen vorhanden sind, Einstiegsmöglichkeiten für Anfänger geschaffen, sei es durch eine intensive erste Sprachphase, sei es durch ein Curriculum, das von Anfangern ausgeht. Akzeptiert eine traditionell nur Fortgeschrittene aufnehmende Institution zusätzlich zu ihrer gewohnten Klientel auch Anfanger, dann werden eine Analyse der Lernwege und vor allem eine genaue Bestimmung der Übergangsstellen notwendig. Wird der Sprachunterricht dabei von den Dozenten, die bisher für germanistische Fachkurse und Sprachunterricht für Fortgeschrittene verantwortlich waren, abgehalten, erwartet diese eine umfangreiche Neuorientierung, die nicht ohne begleitende Dozentenfortbildung auskommen sollte (vgl. zur Neueinführung von Anfangsunterricht im universitären Bereich Rosier 1996). Die Unterteilung in zwei sprachliche Voraussetzungsgruppen, in Anfanger und Fortgeschrittene, verdeckt, auch wenn letztere an eine landesweit einheitliche Prüfung gekoppelt ist, dass diese Fortgeschrittenen alles andere als eine sprachlich homogene Gruppe sind. Zum einen verursachen die biographischen Unterschiede (Verwandte, längere Aufenthalte im deutschsprachigen Raum usw.) und Studienbewerber, die mit anderen als den landeseigenen Schulabschlüssen oder zusätzlichen Sprachdiplomen wie z. B. vom GoetheInstitut (vgl. Art. 84) das Studium aufnehmen, eine sprachliche Ausgangsvielfalt in der Gruppe der Studienanfänger, zum anderen garantiert auch der landeseinheitliche Schulabschluss keine Sprachhomogenität, da sich in den meisten Fällen unterschiedliche Landeskunde- und Wortschatzkenntnisse und Fertigkeitsprofile entwickelt haben. Ein 1ernerbezogenes Sprachcurriculum muss deshalb gerade bei der Aufnahme Fortgeschrittener mit einer Sprachstandsdiagnose (vgl. Art. 103), mit einer Bestandsaufnahme des Ist-Zustands, beginnen. Besonders in Zeiten von radikalen Umbrüchen im Schulcurriculum, bei denen jeweils die Gefahr besteht, dass die Begeisterung für den Neuansatz Defizite in angestammten Sprachbereichen mit sich bringt, müssen universitäre Sprachcurricula antizyklisch vorgehen. Hatten sie vielleicht bei einem stark grammatik-, literatur- und wissensorientiertem Schulcurriculum im ersten Studienjahr besonderen Wert darauf gelegt, die neuen Studierenden ,zum Reden zu bringen', so

1154

XVI. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik

kann es fünf bis zehn Jahre nach der Einführung eines dominant alltags- und kommunikationsorientierten Schulcurriculums im universitären Bereich notwendig werden, besonders am Anfang verstärkt bestimmte Ebenen des schriftlich korrekten Ausdrucks zu sichern. Das durch die Veränderung im Schulcurriculum bewirkte Anderssein des Fertigkeitsprofils der Lernenden kann von den Hochschullehrern als reines Defizit wahrgenommen werden; in den meisten Fällen wird jedoch lediglich eine Schwäche der Lernenden in einem Bereich ausgeglichen durch eine Schwäche in einem anderen, in diesem Beispiel allerdings in einem, dessen Wertschätzung im universitären Kontext sehr hoch ist und sein muss. Vgl. als Beispiel für den Übergang von einem grammatik- in ein kommunikationsorientiertes Schulcurriculum und die dabei für die Universitäten entstehenden Herausforderungen (Durreil 1993 und Townson/ MusolfT 1993). 4.

Sprachliche Lernziele

Grob unterschieden sind drei Varianten möglich: a) ein fach- und fertigkeitsspezifische Zielsetzung, wie man sie ζ. B. in einem Kurs zum Erwerb der Lesefertigkeit von wissenschaftlichen deutschen Texten einer bestimmten Fachrichtung findet. Hier beschränkt man sich auf den Erwerb einer Fertigkeit und auf einen bestimmten Wirklichkeitsausschnitt, ζ. B. auf das Lesen von Texten aus dem Fachgebiet Physik. Dieses Lernziel ist im Wesentlichen für Hörer aller Fachbereiche von Bedeutung, evtl. auch noch für Studierende, bei deren Fachkombination die Komponente Deutsch auf den Spracherwerb reduziert ist. Für diese Art von fach- und fertigkeitsbezogenem Spracherwerb, der de facto fast ausschließlich der Erwerb der Lesefertigkeit (vgl. WesthofT 1987) ist, liegen eine ganze Reihe von Lehrmaterialien und besonderen Grammatikbeschreibungen vor (vgl. ζ. B. Bernstein 1990), die von der rezeptiven Lernsituation ausgehen. Einen guten Überblick über vorhandene fach- und fertigkeitsspezifische Materialien findet man in der jährlich aktualisierten Übersicht über in der Bundesrepublik Deutschland erschienene Arbeitsmittel für den Deutschunterricht an Ausländer im Goethe-Institut München (1996). b) Ein gemeinsprachlicher Erwerb des Deutschen in allen Fertigkeitsbereichen und

c) ein fachlich orientierter, gemeinsprachlicher Erwerb des Deutschen in allen Fertigkeitsbereichen. Dies ist zu verstehen als ein Versuch, neben der extremen Fertigkeitsreduktion, neben der ausschließlichen Konzentration auf die Gemeinsprache und neben den vielen fachspezifischen Kursen, die erst nach ca. 200 Stunden gemeinsprachlichen Unterrichts zum Tragen kommen, eine Kombination von Fach- und Gemeinsprache von Anfang an zu etablieren, ein Vorgehen, das zumindest überall da, wo Deutsch in einer Fächerkombination mit Wirtschaft angeboten wird, vermehrt zum Tragen kommt (vgl. als Beispiel für ein fachsprachlich ausgerichtetes Lehrwerk für Anfanger Macaire/Nicolas 1996). Neben den für jede Art von institutionellem Fremdsprachenlernen relevanten Fragestellungen der Lernzielbestimmung, Progressionsfestlegung, Wahl der Arbeitsformen, Bestimmung von Vermittlungsformen usw. ist beim universitären Fremdsprachenlernen die Frage von Bedeutung, inwieweit bei Fächerkombinationen oder integrierten Studiengängen wie European Studies das Sprachcurri-

culum auf diese Zweitfächer zugeschnitten werden soll, und das heißt häufig, inwieweit wirtschafts- und sozialwissenschaftliche fachsprachenbezogene Kurse in traditionell gemeinsprachliche Curricula mit inhaltlich geisteswissenschaftlicher Ausrichtung integriert werden sollen. Die Unterschiede in den sprachlichen Lernzielen und in der obligatorischen und fakultativen Integration in die jeweiligen Curricula werden unterschiedliche Vorgehensweisen zur Folge haben; sie haben Konsequenzen für die Stoffauswahl, für die Steilheit der Progression, die Stundenzahl, das angestrebte Fertigkeitsprofil, die Zusammenarbeit mit anderen Fächern, die (meist nicht ausgereizte) Interaktion von Sprach- und Fachstunden und für die Sprachwahl in den Fachveranstaltungen. So wird ζ. B. ein fachsprachenspezifischer Lesekurs für Hörer aller Fachbereiche eine steile Grammatikprogression haben, aber eine eindeutig andere als ein ebenfalls mit einer steilen Grammatikprogression arbeitender Intensivkurs für traditionelle Germanistikstudenten ohne Vorkenntnisse, die im zweiten oder dritten Studienjahr mit parallel zu ihnen Studierenden mit Vorkenntnissen zusammengeführt werden sollen. Bei der Entwicklung eines fakultativen allgemeinen

117. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der europäischen Auslandsgermanistik

Sprachkurses für Hörer anderer Fachbereiche, die in ihren jeweiligen Fächern mit hohen Lernpensen zu kämpfen haben, wird man sich hingegen keine Illusionen über die Steilheit der Wortschatz- oder Grammatikprogressionen machen können. Während die Text- und Themenauswahl bei fachsprachlichen und fachlich orientierten Kursen weitgehend auf die Fächer der Lernergruppe Bezug nehmen und damit recht konkret auf diese zugeschnitten werden kann, wird sie bei Anfangerkursen für Germanistikstudenten das Ergebnis eines Kompromisses sein. Zwar bietet sich auch hier auf den ersten Blick eine Parallelisierung mit den Inhalten des Fachstudiums an, dieser sind jedoch durch das mangelnde Sprachniveau bestimmte Grenzen gesetzt. Generell wird man je nach Studiengang von stärker wirtschaftsbezogenen, literaturbezogenen oder landeskundlich bestimmten Themenauswahlen ausgehen können; dieser allgemeine Satz verdeckt jedoch, dass die Themenauswahl, die ja im Anfangerunterricht im Zusammenspiel mit Textsortenvielfalt, Grammatikphänomenen, kommunikativen Strategien usw. erfolgen muss, in den seltensten Fällen ideal sein wird. Je stärker eine klare Bindung von gemeinsprachlichem Lernziel und fachlicher Thematik eingegangen werden kann, desto genauer bzw. weniger ungenau werden sich die Themenfestlegungen auf die jeweilige Gruppe beziehen lassen. 5.

Natürliches und institutionell angeregtes Lernen

Abb. 117.2 zeigt die unterschiedlichen Lernarten, die am Lernort Universität stattfinden können. Auch wenn man beim Lernen einer

Fremdsprache an einer Universität außerhalb des deutschsprachigen Raums erst einmal an den Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden im Klassenzimmer, an das institutionell gesteuerte Lernen denkt, sollten die anderen Spracherwerbsformen nicht nur nicht vergessen, sondern gezielt unterstützt werden. Natürlicher Spracherwerb ergibt sich ζ. B. aus Kontakten mit deutschsprachigen SOCRATES-Studenten und medial - per Satellitenfernsehen, Zeitungen, Radio, Internet usw. Er ist als individuelle Kontaktsituation nicht planbar, gleichwohl kann die Universität durch die Bereitstellung von Räumen, die Anschaffung der entsprechenden Medien, die Teilnahme an Austauschprogrammen und vor allem durch eine Prüfungsordnung, die diese Kontakte nicht erschwert, und die Schaffung eines Lernklimas, das sie aktiv fördert, das natürliche Deutschlernen zumindest anschieben. Institutionell angeregter Spracherwerb, eine nicht ganz trennscharfe Kategorie, umfasst Aktivitäten, die auch jeweils als natürliche oder mancherorts als in das Curriculum integrierte Varianten auftauchen können. Hierher gehören alle Lernaktivitäten, die zwar durch die Bereitstellung von Material, Raum, Gerät, Zeit und auch begleitendes oder gar initiierendes Personal institutionsbezogen sind, bei denen aber die inhaltliche und ästhetische Gestaltung und Entscheidungen über die Intensität des Umgangs mit der Sprache und die Interaktion mit Deutschsprachigen in den Händen der Lernenden liegen. Es handelt sich also um Aktivitäten, bei denen eine starke autonome Komponente vorhanden ist. Derartige institutionell angeregte Aktivitäten können die räumliche Di-

Universitäres Fremdsprachenlernen

SOCRATESStudenten, Medien etc.

Abb. 117.2

z.B. z.B. E-mail-Tandem, Theaterstück, Partnerprojekte Tandem-Lernen

1155

1156

XVI. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik

stanz zum Land der Zielsprache überwinden, ζ. B. durch Partnerprojekte mit Institutionen im deutschsprachigen Raum oder durch E-mail-Tandems. Vor Ort können institutionell angeregte Aktivitäten ζ. B. zur Produktion deutscher Videos und Theaterstücke führen (Zur Bedeutung dramapädagogischen Arbeitens beim Deutschlernen vgl. Schewe o. J.). Der Aufenthalt im deutschsprachigen Raum als Teil des Curriculums kann, wie z.T. in Großbritannien, ein Viertel des gesamten Studiums ausmachen, aber auch einen weitaus geringeren Anteil haben. Er kann obligatorischer Teil des Studiums sein oder nur als wünschenswert dargestellt werden, er kann sich auf die vorlesungsfreie Zeit beschränken oder prüfungsrelevant in das Curriculum im eigenen Land eingeplant sein. Die Zeit im deutschsprachigen Raum kann genutzt werden als Berufspraktikum, Studium an einer deutschen Universität oder unterrichtend als Fremdsprachenassistent für die eigene Sprache an einer Schule im deutschsprachigen Raum. Das sich vom institutionellen Lernen an der Universität beträchtlich unterscheidende natürliche Lernen während der Zeit im deutschsprachigen Raum kann zu großen Lernfortschritten führen, die nicht unbeträchtliche Zahl von Fossilisierungen bei manchen Lernenden zeigt jedoch, dass es sich beim Aufenthalt im deutschsprachigen Raum nicht notwendigerweise um das Zaubermittel für die Akzeleration des Spracherwerbs handelt, als das es des öfteren gesehen wird, und dass der Aufenthalt einer kompetenten Vorund Nachbereitung bedarf (und auch einer möglichst integrierten Betreuung während des Aufenthalts), wenn er optimal für den Deutscherwerb genutzt werden soll und nicht lediglich als Anwachsen von Wortschatz- und Landeskundekenntnissen verstanden wird. Der Bereich Auslandsaufenthalt war lange ein Stiefkind der Sprachlehrforschung. Dies liegt u. a. daran, dass der Gegenstand natürliches Sprachenlernen innerhalb des deutschsprachigen Raums von Nicht-Migranten verbunden mit gesteuerter Vor- und Nachbereitung an einer Institution außerhalb des deutschsprachigen Raums im Niemandsland der Forschungsarbeitsteilung von migrationsorientierter Zweitspracherwerbsforschung und eher vermittlungsorientierter Fremdsprachendidaktik (vgl. die Unterteilung der Forschung in eine Auslands- und Migrantenforschung bei Glück 1991) leicht verloren gehen kann.

6.

Institutionell gesteuertes Lernen

Je nach Ausrichtung des Studiengangs, Eingangsniveau der Studierenden, lokalen Lehrund Prüfungstraditionen usw. spielt sich die Vermittlung der deutschen Sprache unterschiedlich stark in verschiedenen Formen ab. Neben mehr oder weniger intensiven Kursen für Anfanger finden sich, häufig als alleinstehende fertigkeitsorientierte Kurse ausgewiesen, Vermittlungsaktivitäten wie: — Grammatikunterricht (zur Integration der Grammatikvermittlung in das universitäre Sprachcurriculum vgl. Rosier 1993), - Schreibtraining (vor allem von Aufsätzen), - Konversationsklassen, — Verstehensschulung (Hör- und Leseverstehen, Hör-Seh-Verstehen), — Fachsprachenkurse und, an vielen Universitäten mit einem verglichen mit anderen Sprachlerninstitutionen besonders hohen Status, - Übersetzungsklassen. (Vgl. die ausführlichen Literaturangaben zu diesen und anderen Unterrichtsaktivitäten in Art. 8 8 99). Je weiter das universitäre Curriculum sich von der formalen Zuordnung von Unterrichtsstunden und Fertigkeiten wegentwickelt zu einem themengeleiteten, fertigkeitsintegrierten Sprachcurriculum, das die verschiedenen sprachlichen Fertigkeiten in inhaltlich bestimmte Sprachlerneinheiten integriert, die Projektarbeit möglich machen, desto weniger schwierig wird es sein, der beklagten Langeweile und Demotivierung von lehrerzentrierten Übersetzungsklassen oder schweigsamen Konversationsstunden zu entgehen (vgl. Krumm 1991 zum Projektunterricht und Rosier 1996a als ein konkretes Beispiel für die Integration des Übersetzungsunterrichts in ein themengeleitetes Sprachcurriculum).

7.

Autonomes Lernen, neue Medien und Selbstlernen

Die Autonomie des Lernens (vgl. als Einführung Little 1990) ist in der gegenwärtigen Didaktikdiskussion ein zweischneidiges Konzept. Auf der einen Seite ist hier, angelehnt an alte emanzipatorische Konzepte, der Versuch zu sehen, die Lernenden über ihr eigenes Lernen entscheiden zu lassen, selbstbestimmt in Inhalt, Vorgehensweise und zeitlichem

117. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der europäischen Auslandsgermanistik

Rahmen. Auf der anderen Seite kann Autonomie, meistens in Verbindung mit dem Einsatz der neueren Medien, reduziert auf den Zeitaspekt, immer mehr zu einem Vorwand für die Einsparung von Lehrenden werden. Nicht mehr die Optimierung des Lernens durch Selbstbestimmung und Motivation steht dann im Vordergrund, sondern die Optimierung des ökonomischen Aspekts des Fremdsprachenlernens. Dies gilt besonders für Anfangerkurse, bei denen mit dem Hinweis auf die Verfügbarkeit von Material für das Selbststudium die Zahl der Unterrichtsstunden kleingehalten werden soll. Zwar ist dort autonomes Lernen ein Muss; ohne ein hochmotiviertes Arbeiten, selbstbestimmt und unter Ausnutzung aller technischen Möglichkeiten, seien es Grammatikübungen am Computer, seien es hochentwickelte interactive vttfeo-Studieneinheiten, sei es ein traditioneller Videoselbstlernkurs, sei es die ungesteuerte Rezeption von Satellitenfernsehen, Deutscher Welle, Tageszeitungen usw., ist ein Germanistikstudium ohne sprachliche Vorkenntnisse ohne Niveauverlust für das Gesamtcurriculum nicht möglich. Diese Maximierung des Einsatzes von selbstbestimmtem Lernen im Anfängerunterricht ist aber strikt zu unterscheiden von einer nicht mehr funktionalen Abhängigkeit des gesamten Kurses von Selbstlernaktivitäten. Autonomes Lernen ist mehr als Selbstlernen, ein gut bestücktes Selbstlernzentrum ist jedoch eine wichtige Voraussetzung für autonomes Lernen.

1157

täre Deutschlernen ab (eine umfassende Adressensammlung von DaF-Aktivitäten im Internet bietet Andreas Lixl-Purcell unter der Adresse: http://www.uncg.edu/~lixlpurc/publications/NetzUeb.html):

Die neuen Medien sind für das autonome Lernen im universitären Bereich von unterschiedlicher Bedeutung. CD-ROM-Anfángerkurse, die mit dem Schlagwort autonomes Lernen Werbung machen, sind autonom weitgehend nur im Hinblick auf den Zeitpunkt des Ein- und Ausschaltens und einige Lernpfade, im Hinblick auf die möglichst weitgehende Selbstbestimmung von Inhalten und Lernformen aber ebenso wenig autonom wie traditionelle Lehrwerke. Im Gegensatz dazu ermöglichen die Kommunikationsform E-mail und das Internet im Prinzip projektorientierten und selbstbestimmten Unterricht. Per E-mail erreicht das klassische TandemLernen eine raumüberschreitende Dimension (vgl. Little/Brammerts 1996, den Tandem-Server der Ruhr-Universität Bochum (http:// www.slf.ruhr-uni-bochum.de/) als Kontaktort und dort auch die Bibliographie zum TandemLernen von Helmut Brammerts).

a) Informationsaustausch. Zum Einen ermöglicht die gleichzeitige Zentralisierungsund Dezentralisierungsfunktion des Internet die Schaffung von Informationssammlungen, die, aus der weltweiten Vielfalt von Unterrichtserfahrungen gespeist, der tausendfachen Verschwendung guter Ideen Einhalt gebieten und viele schnell auffindbare und auch tatsächlich realisierbare Anregungen für den konkreten Unterricht vor Ort bereitstellen, ohne einengende zentrale Unterrichtsmodelle durchzusetzen (vgl. dazu als Beispiel den Versuch, bei einem Studiengang European Studies, in dem das Deutschlernen auf der Anfangerebene beginnt, bezogen auf das Kursbuch Themen vorhandene (nicht nur) computergestützte Materialien in einen Sprachlernkurs zu integrieren und den Unterricht unterstützende Selbstlernpfade anzubieten (vgl. http://www.hkbu.edu.hk:80/~europe/ themen.html). b) Aktuelle Landeskunde. Ein großer Teil der angebotenen Texte und Übungen bezieht sich auf Landeskundliches. In den Übungen werden die Lernenden aufgefordert, deutsche Web-Seiten anzusteuern und auf der Basis ihrer Recherche Fragen zu beantworten (vgl. als ein Beispiel für Sprünge zu anderen Orten innerhalb eines DaF-Lernkonzepts: http:// castle.uvic.ca/german/149/3index.html). Die Themenbereiche umfassen sowohl deutsche Geographie, Wirtschaft, Politik und Geschichte als auch Fragen des Alltagsleben wie Zeit, Wetter, Wohnen, Essen, Berufe, Freizeit, Fernsehen, Einkaufen, Verkehrsmittel etc. (vgl. die Zusammenstellung http://www. artsci.wustl.edu/~langlab/gerte achaid.html). Je fortgeschrittener die Lernenden sind, desto einfacher lassen sich solche landeskundlichen Erkundungen an authentischen Quellen durchführen. c) Sprachlernmaterial. Beispiele für kommerzielle Deutschkurse findet man unter Adressen wie http://www.open.ac.uk/OU/ CourseDetails/1130.html oder http://www. dialnsa.edu/course3.html#forlang. Unter der Adresse http://www.ualberta.ca/~german/present.html beschreibt Manfred Prokop die verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten für interaktive Sprachübungen im Internet.

Durch das Internet zeichnen sich eine Reihe von Veränderungen für das universi-

Je stärker der Umgang mit dem Internet für Studierende zur Selbstverständlichkeit wird

1158

XVI. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik

und je eher es gelingt, für sprachlernrelevante Einträge im Internet Qualitätskriterien zu entwickeln, desto normaler werden Interaktionen und die Beschaffung und Verwendung von Informationen im Internet im Sprachlernangebot von (nicht nur) universitären Deutschkursen werden.

8.

Das Verhältnis von fachlichen und sprachlichen Lehrveranstaltungen

Zum Verhältnis von Fach- und Sprachveranstaltungen und zur Sprachwahl in den Fachveranstaltungen gibt es zwei sich widersprechende Positionen. Die erste behauptet, Deutsch sei ein Fach wie jedes andere, wie Geschichte, Physik oder die Muttersprachenphilologie. Ein Verzicht auf akademische Qualität, die mit dem Verzicht auf die Ausgangssprache in Seminaren einhergehe, sei deshalb nicht akzeptabel. Die Gegenposition argumentiert, dass man es mit einer lebenden Sprache zu tun hat und dass deshalb Sprache und fachrelevanter Inhalt gleichzeitig vermittelt werden müssen. Von ihren jeweiligen Zielen her gesehen — Optimierung des Sprachenlernens und Aufrechterhaltung der intellektuellen Herausforderung — haben beide Positionen recht, beide übersehen jedoch, dass Deutsch gleichzeitig als Spracherwerbsbereich und Studienobjekt fungiert. Ein Germanistikstudium, in dem angenommen wird, dass die Studierenden Goethe und Mann im Original lesen, dass man ihnen jedoch ein auf Deutsch abgehaltenes Seminar zu diesen Texten nicht zutrauen kann, macht sich entweder Illusionen über die Sprache, in der die Texte tatsächlich gelesen werden, oder es verschenkt eine mögliche weitergehende Förderung seiner Studierenden. Umgekehrt: Wer jeden Inhalt nur unter dem Gesichtspunkt der Sprachmaximierung sieht, muss sich fragen lassen, ob er nicht tatsächlich eine Berlitz-Universität und einer akademischen Dequalifikation der Studierenden das Wort redet. Interessant sind an dieser Kontroverse weniger die Extreme sondern die Frage nach möglichen Mittelwegen. Wenn ein ausgangssprachlicher Lehrer ein Seminar mit einer homogenen ausgangssprachlichen Gruppe von Lernenden veranstaltet, dann ist es vom Standpunkt der natürlichen Kommunikation her nicht besonders funktional, dass alle Beteiligten Deutsch sprechen; man kann diese Künstlichkeit der Kommunikation aber in einem Fachseminar

ebenso akzeptieren wie im Sprachunterricht. Ist der Lehrende muttersprachlicher Sprecher des Deutschen, gibt es in der speziellen Situation Studium der Germanistik eine kommunikative Berechtigung für die Verwendung des Deutschen. Hinzu kommt, dass durch die generelle Mobilität von Studenten in Europa und durch SOCRATES oder ähnliche Förderprogramme die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine sprachhomogene Lernergruppe handelt, geringer wird. Wird der Unterricht auf Deutsch durchgeführt, so kann es bei einer Gruppe mit starken Unterschieden in den Deutschkenntnissen leicht zu besonderen Schwierigkeiten für die schwächeren Lernenden kommen. Dem kann man entgegenwirken durch Hilfen wie vorher ausgearbeitete Wortschatzlisten, vor allem aber durch die Ausnutzung der genuin bilingualen Situation (vgl. Romaine 1995). Es gibt keinen Grund, warum nach einer nonverbalen Kommunikation des Nichtverstehens durch einen Lernenden ζ. B. der Lehrende das Gesagte nicht kurz in der Ausgangssprache zusammenfassen soll, genau wie es evtl. auch ohne Feedback möglich sein mag, vorher Zusammenfassungen in der Ausgangssprache zu geben. Die generelle Akzeptanz der bilingualen Situation muss darüber hinaus zur Akzeptanz von code-switching führen, Lernende müssen es als natürlich empfinden können, dass sie auf einen deutschsprachigen Vortrag oder Redebeitrag eines muttersprachlichen Sprechers des Deutschen mit einem Beitrag in ihrer Muttersprache antworten können, ohne dass dies zu Minderwertigkeitsgefühlen führt. Dies verlangt auf Seiten der Lehrenden die Bereitschaft, code-switching klar von Interferenzen zu trennen und bei Lehrenden und Lernenden die Bereitschaft, zwischen einem bilingualen Fachunterricht und einem stärker auf die deutsche Sprache reduzierten Sprachunterricht zwar zu unterscheiden, die Grenzen aber nicht absolut zu setzen.

8.

Literatur in Auswahl

Hinweise auf Publikationen im Internet wurden im Text mit dem Erscheinungsort zitiert. Sie werden im Literaturverzeichnis nicht noch ein zweites Mal angegeben. Bausch, Karl-Richard; Manfred Heid (Hg.) (1990): Das lehren und Lernen von Deutsch als zweiter oder weiterer Fremdsprache: Speziflka, Probleme, Perspektiven. Bochum.

117. Lehren und Lernen von Deutsch als Fremdsprache in der europäischen Auslandsgermanistik Bernstein, Wolf (1990): Leseverständnis als Unterrichtsziel. Heidelberg. Durrell, Martin (1993): Can we teach grammar to students? In: Harden, Theo; Cliona Marsh (Hg.): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? München, 56-74. Ehlers, Swantje; Günther Karcher (Hg.) (1987): Regionale Aspekte des Grundstudiums Germanistik. München. Fröhlich, Werner; Claudius Geliert (1996): Die Lektoren des Deutschen Akademischen Austauschdienstes. Frankfurt/M. Glück, Helmut (1991): Deutsch als Fremdsprache und als Zweitsprache: eine Bestandsaufnahme. In: ZFF2, 12-63. Goethe-Institut München (1996): Arbeitsmittel für den Deutschunterricht an Ausländer — erschienen in der Bundesrepublik Deutschland. 31. Aufl. München. Kolinsky, Eva (1993): Survey of German at the ,old' universities. In: Tenberg, Reinhard; Roger Jones (Hg.), German Studies in the United Kingdom. Cambridge. 81-134. Krumm, Hans-Jürgen (1991): Unterrichtsprojekte — praktisches Lernen im Deutschunterricht. Itr FD 4, 4 - 8 . — (1996): Was kann das Fach Deutsch als Fremdsprache in den deutschsprachigen Ländern zur Entwicklung der Deutschlehrerausbildung außerhalb des deutschen Sprachraums (nicht) beitragen? In: Info DaF 23/5, 523-540. Legutke, Michael (1997): Understanding Teacher Learning in Language Teaching: Anmerkungen zur Ausbildungsforschung im Bereich Fremdsprachen. In: Bausch, K.-Richard u. a. (Hg.): Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung als Ausbildungsund Forschungsdisziplin. Tübingen, 118—125. Little, David (1990): Autonomy in Language Learning. In: Gathercole, Ian (Hg.): Autonomy in Language Learning. London, 7—15. - ; Helmut Brammerts (Hg.) (1996): A guide to language learning in tandem via the Internet. CLCS Occasional Paper No. 46. Dublin. Macaire, Dominique; Gerd Nicolas (1996): Wirtschaftsdeutsch für Anfänger. München. Müller, Bernd-Dietrich; Gerd Neuner (Hg.) (1984): Praxisprobleme im Sprachunterricht. München. Petneki, Katalin; Anna Szablyár (1993): Das neue Ausbildungsmodell ,Didaktik/Methodik' am Germanistischen Institut der ELTE. In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik, 107—119. - ; Wolfgang Schmitt; Anna Szablyár (Hg.) (1994): Curriculumevaluation der Deutschlehrerausbildung aus didaktischer Sicht. Budapest.

1159

Roche, Jörg; Thomas Salumets (Hg.) (1996): Germanics under construction. Intercultural and interdisciplinary prospects. München. Rosier, Dietmar (1993): The Role of grammar in the language component of a modern languages university degree course. In; Harden, Theo; Cliona Marsh (Hg.): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? München, 87—98. - (1996): The context of ab initio language learning. Factors influencing the development of ab initio courses. In; Leder, Gabriele; Nicola Reimann; Riana Walsh (Hg.): Ab initio language learning. A guide to good practice in universities and colleges. The example of German. London, 28—43. - (1996a): Paul Klee ,Angelus Novus' - Walter Benjamin ,Der Engel der Geschichte' — Laurie Anderson ,The Dream Before (For Walter Benjamin)'. Bildbetrachtung — Übersetzung Deutsch-Englisch - Musikinterpretation — Übersetzung EnglischDeutsch. In: DAAD-Arbeitsgruppe Musik (Hg.): Play it again, Lektor! Musik im Sprach- und Landeskundeunterricht. o. O. (London), 40—48. Romaine, Suzanne (1995): Bilingualism. 2. Aufl. Oxford. Schewe, Manfred (o. J.): Fremdsprache inszenieren. Oldenburg: Zentrum für pädagogische Berufspraxis. Schröder, Hartmut (1983): Deutsch als Fremdsprache für Nichtphilologen an finnischen Hochschulen. In: Info DaF 10/6, 39-46. Serena, Silvia (1987): DaF in Italien: Kampf gegen ein Spinnennetz. In: Info DaF 14/4, 133—137. Steinig, Wolfgang; M. Elsässer (1989): Zur Situation der Studenten an der Deutschen Abteilung der Aristoteles Universität Thessaloniki. In: Wissenschaftliches Jahrbuch der Philosophischen Fakultät, Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie, Bd. 1, Thessaloniki, 23-55. Tenberg, Reinhard (1993): Survey of German at the ,new' universities (formerly polytechnics). In: Tenberg, Reinhard; Roger Jones (Hg.): German Studies in the United Kingdom. Cambridge, 135-168. Townson, Michael; Andreas Musolff (1993): From caterpillar to butterfly or: what happens to Chrysallis? In: Harden, Theo; Cliona Marsh (Hg.): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? München, 30-46. Westhoff, Gerard (1987): Didaktik des Leseverstehens. München. Zeyringer, Klaus (1991): Aus-Wahl-Verwandtschaften — ein Literaturkanon. Zur Germanistik an französischen Universitäten. In: Info DaF, 18/1, 40-54. Dietmar Rosier, Gießen

(Deutschland)

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte 118. Geschichte und Konzepte der Landeskunde 1. 2. 3. 4. 5.

Einleitung Zur Geschichte der Landeskunde Neuere Entwicklungen der Landeskunde — ein Überblick Schlussbemerkung Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

Die Geschichte der Landeskunde ist eine Geschichte periodisch wiederkehrender Kontroversen (vgl. Art. 4 und 96). Unumstritten geblieben sind weder der Begriff der „Landeskunde" als solcher, noch vor allem der Gegenstandsbereich, der dadurch bezeichnet oder bestimmt wird. Vor hundert Jahren hieß die Landeskunde im deutschsprachigen Raum einmal „Kulturkunde", und aktuelle Definitionen der Landeskunde sehen anders aus als vor 20, 30 oder 40 Jahren. Das Spektrum der unterschiedlichen Auffassungen und Lehrformen ist in der Gegenwart so groß wie noch nie. Dennoch ist unverkennbar, dass die Landeskundedebatte, als Ganzes betrachtet, in bestimmte Richtungen verläuft. Eine moderne Landeskundedefinition — dies eine erste Entwicklung, die sich durchzusetzen scheint — kommt ohne Bezug zum jeweiligen Lernenden und die Mitberücksichtigung der interkulturellen Verstehensproblematik kaum noch aus. Damit hängt zweitens zusammen, dass heutige Landeskundekonzeptionen in einem elementaren Sinne didaktisch angelegt sind, d.h. auf die Erkenntniserweiterung der lernenden Subjekte zielen und damit zusehends den Anspruch aufgeben, die „Wirklichkeit" eines Landes oder Sprachraumes „objektiv" in ihrer gesamten Komplexität zu erfassen. Von hier aus lässt sich Landeskunde definieren als die Gesamtheit aller Informationen und Deutungstheoreme, die dazu dienen, das Interaktionswissen (ζ. B. Begrüßungsformeln, Wahrnehmungs- und Mentalitätsunterschiede) eines jeweiligen Sprachlerners zu optimieren, sein Verständnis der Zielkultur und ihrer historischen und gesellschaftlichen Be-

dingungen zu verbessern und ihn darüber hinaus in die Lage zu versetzen, sich der verschiedenen Mechanismen der fremdkulturellen Lern- und Wahrnehmungsprozesse bewusst zu werden. Ein derart umfassender Vermittlungszusammenhang, der noch dazu abhängig ist von den unterschiedlichsten Lern- und Lehrsituationen, lässt sich natürlich weder auf einfache didaktische Prinzipien reduzieren, noch durch eine einzelne Lehrperson kompetent vertreten. Die Klagen über die mangelnde wissenschaftliche Fundierung und Grenzenlosigkeit der Landeskunde einerseits sowie über die sich dadurch ergebende Überforderung des Lehrpersonals andererseits sind deshalb uferlos. Dagegen steht ebenso unumstößlich fest, dass jeder, der eine fremde Sprache unterrichtet, gar nicht umhin kommt, zugleich Landeskunde zu betreiben und als Kulturvermittler zu fungieren. ,Unausweichliche Notwendigkeit' einerseits sowie ,eingeschränkte Perfektibilität' andererseits sind die beiden Hauptkennzeichen, die die Landeskunde einschließlich der Versuche ihrer theoretischen Selbstreflexion prägen. Das ist ein Zustand, der gewiss nicht befriedigen kann, zumal wenn man gewohnt ist, in wissenschaftlichen Idealkategorien zu denken. Doch andererseits zeigt gerade die Entwicklung der letzten 30 Jahre, dass heute kein Anlass dazu besteht, im Hinblick auf das, was Landeskunde sein und leisten kann, pessimistisch zu sein. Nicht nur die aktuellen Lehrwerke sind weitaus informativer als jene der Nachkriegszeit; auch die theoretische Debatte über Aufgabe und Stellenwert der Landeskunde ist inzwischen substanziell vorangebracht worden. Um den Erkenntnisgewinn der heutigen Landeskunde-Diskussion deutlicher hervortreten zu lassen, blicken wir deshalb kurz zurück auf die Geschichte des Sprach- und Landeskundeunterrichts.

118. Geschichte und Konzepte der Landeskunde 2.

Z u r Geschichte der Landeskunde

Die Landeskunde hat ihre Wurzeln in den kulturkundlichen Konzepten des 19. Jhs., die bis in die späten 50er Jahre dieses Jahrhunderts den Fremdsprachenunterricht in mehr oder minder starker Form prägten. Im Zentrum der kulturkundlichen Didaktik stand zunächst ein elitäres Kulturverständnis, das sich zum Ziel setzte, die bedeutenden geistig-schöpferischen Leistungen der Zielkultur zu vermitteln und durch die Betonung des abendländisch-christlichen Kulturerbes eine Identität der Gemeinschaft der Gebildeten aufzubauen (Neuner 1994). Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Vermittlung enzyklopädischen Tatsachenwissens, was in dem Konzept der Realienkunde seinen Niederschlag fand. Kennzeichnend für die kulturkundlichen Vorstellungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde sodann das Bemühen, den fremden Volkscharakter herauszuarbeiten und die Schüler zu befähigen, die wesentlichen Unterschiede zu den charakteristischen Eigenarten des eigenen Volkes aufzuspüren. Dabei ging es nach und nach nicht mehr nur darum, die ,Stärken' und ,Schwächen' des fremden Nationalcharakters im Unterschied zum deutschen Nationalcharakter herauszustellen, sondern die nationalpolitische Bildung und die Herausbildung des „deutschen Menschen" zu gewährleisten (Neuner 1994). Konkretes Ziel der nationalsozialistischen Herrschaftsträger war entsprechend der Versuch, die Überlegenheit der deutschen Kultur gegenüber allen Fremdkulturen zu unterstreichen. Auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft lebte das kulturkundliche Erbe partiell noch einige Zeit im gymnasialen Fremdsprachenunterricht fort (Buttjes 1995). Auffällig ist, dass die Ideologisierung der Landeskunde, wie sie in der Zeit des Dritten Reiches so offenkundig wurde, auch in den 50er und frühen 60er Jahren unter geänderten Vorzeichen fortbestand. Während man sich im Landeskundeunterricht der jungen Bundesrepublik an den Wertvorstellungen des englisch-amerikanischen Kulturkreises orientierte, war die landeskundliche Didaktik in der DDR darum bemüht, dem Konzept der Entwicklung der „sozialistischen Persönlichkeit" zu dienen (Neuner 1994). Auch hier galt es, wie schon in früheren Zeiten, die jeweils fremde Welt im Kontrast zu der eigenen Wirklichkeit darzustellen, um die ,Errungenschaften' der eigenen Welt besonders zu betonen.

1161 3.

Neuere Entwicklungen der Landeskunde — ein Überblick

Eine nachhaltige Wende erfuhr die Entwicklung der Landeskunde erst in den 60er Jahren des 20. Jhs., als durch die Bildungsreformen zu Beginn und die studentischen Protestbewegungen am Ende des Dezenniums die kulturkundliche Dominanz in der Landeskunde aufgegeben wurde und sich zunehmend ein pragmatisches Verständnis der Fremdsprachenvermittlung durchsetzte. Beflügelnd wirkte hierbei nicht zuletzt die Öffnung des Fremdsprachenunterrichts für alle gesellschaftlichen Schichten, insbesondere die Einführung des Englischunterrichts an Hauptschulen. Der Fremdsprachenunterricht erfuhr nun eine neue Legitimation: Anstelle des früheren elitären Lern- und Bildungsideals traten die ersten Versuche, den Fremdsprachenunterricht als ein Medium der Völkerbewegung und Völkerverständigung neu zu begründen. Für die Landeskunde resultierte daraus ein starker Bedeutungszuwachs, der in der Erarbeitung zahlreicher Unterrichtskonzepte und einer Vielzahl von fachtheoretischen Reflexionen seinen konkreten Niederschlag fand. Immer häufiger fanden sich in den einschlägigen Fachorganen wie in Zielsprache Deutsch oder im Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache landeskundliche Beiträge, bis Info DaF 1989 erstmals ein ganzes Heft der landeskundlichen Debatte widmete. Durch den Fall der Berliner Mauer und die damit einhergehenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen wurde das Interesse an der Landeskunde zusätzlich stimuliert und erweitert. Wer heute Landeskunde unterrichtet, sieht sich einer Vielfalt von Definitionen, Zugängen und Modellversuchen gegenüber. Ansätze der 70er Jahre wie „transnationale Landeskunde", „kritische Deutschlandkunde" oder „pragmatische Landeskunde" bestehen dabei weiterhin fort und prägen zusammen mit neueren Begründungsversuchen wie der „Land- und Leutekunde", der „erlebten Landeskunde" und der „interdisziplinären Germanistik" das Bild einer pluralen Unterrichtswirklichkeit. Den bisher überzeugendsten Versuch, typologische Klarheit in die ausufernde Landeskunde-Debatte zu bringen, verdanken wir einem Beitrag von Pauldrach (1992), der in Anlehnung an Weimann/Hosch (1991) zwischen einem „kognitiven", einem „kommunikativen" und einem „interkulturellen" Ansatz der Landeskunde unterscheidet. Während der

1162 „kognitive" Ansatz auf landeskundliches Wissen, auf Realien, Fakten und Institutionenkunde setze und dem Ziel verpflichtet sei, ein beziehungsreiches, zusammenhängendes System deutscher Wirklichkeit zu vermitteln (Delmas/Vorderwülbecke 1989), sieht Pauldrach den „kommunikativen" Ansatz als Sammelbecken all jener Modelle, die der Landeskunde die Funktion zumessen, „das Gelingen sprachlicher Handlungen im Alltag und das Verstehen alltagskultureller Phänomene" zu unterstützen (Pauldrach 1992, 7). Nachdem beide Ansätze fast zwei Jahrzehnte hindurch in der Theorie und Praxis des Fremdsprachenunterrichts halb konkurrierend, halb komplementär nebeneinander standen, werden sie in der jüngsten Zeit durch die Entwicklung einer „interkulturellen Landeskunde" in den Hintergrund gedrängt. Die Konjunktur des „Interkulturellen" erklärt sich dabei ebenso aus der Etablierung einer „interkulturellen Germanistik" wie vor allem aus einer allgemeinen kulturellen Wende der Geistes- und Sozialwissenschaften, die ihrerseits den heutigen Prozess der ökonomischen und politischen Globalisierung reflektiert. Laut Pauldrach geht es der „interkulturellen Landeskunde" nicht einfach nur um Sprachkompetenz und Realienkenntnis als solche, sondern ebenso sehr „um die Entwicklung von Wahrnehmungs- und Empathiefahigkeiten" (Pauldrach 1992, 12) sowie um die Relativierung ethnozentristischer Sichtweisen und das Erlernen fremdkultureller Verstehensstrategien. So sehr Pauldrachs Typologie als zusammenfassender Überblick besticht, so offenbart sie bei näherer Betrachtung doch auch Widersprüche und Schwächen. Die Kritik richtet sich dabei sowohl gegen die fehlende definitorische Klarheit des Begriffs „kognitiv" als auch gegen die Überhöhung der interkulturellen Komponente zu einem eigenständigen und vermeintlich geschlossenen Ansatz (Thimme 1995). Das, was unter „interkulturell" konkret verstanden wird, kann nämlich im Einzelfall stark differieren. Aus der Sicht der Fremdsprachendidaktik bedeutet die interkulturelle Reflexion zunächst eine notwendige Erweiterung des kommunikativen Modells, wohingegen die interkulturelle Vorurteils-Verstehensforschung durchaus und auch als eigenständige Disziplin, d.h. unabhängig vom Fremdsprachenunterricht, betrieben werden kann. Insgesamt — das zeigt sich auch bei Pauldrach - ist der Versuch, die Vielfalt der landeskundlichen Arbeit in ver-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

schiedene Ansätze einzuteilen und diese konkurrierend gegeneinander zu stellen, wohl eher mit Problemen belastet. Hilfreicher als die Darstellung und Bewertung verschiedener Ansätze erscheint uns deshalb das Beschreiben eines allgemeinen Problem- und Arbeitshorizonts der Landeskundevermittlung, innerhalb dessen sich die jeweiligen konkreten Unterrichtsprojekte einordnen lassen, ohne dass man sie einem bestimmten Ansatz zurechnen müsste. Als essentiell für die landeskundliche Arbeit betrachten wir zwei Grundentscheidungen: Zu klären ist erstens, ob die Vermittlung landeskundlicher Problemfelder eng mit der Sprachdidaktik verbunden und dieser völlig untergeordnet wird oder ob Landeskunde ganz für sich selbst, nach eigenen didaktischen Zielen und Überlegungen, betrieben wird. Beides sind Extrempositionen; die Wirklichkeit spielt sich erfahrungsgemäß zumeist dazwischen ab, doch kommt es darauf an, zu welchem der beiden Pole sich ein gegebenes Konzept hin orientiert. Das Gleiche gilt für die zweite Grundentscheidung, ob bei der landeskundlichen Arbeit allein die Darstellung der jeweiligen Zielkultur im Vordergrund steht oder ob größeres Gewicht darauf gelegt werden soll, den interkulturellen Lernprozess bewusst zu machen und auf bestimmte methodische Standards hin zu entwickeln. Auch hier schließt das eine Ziel keineswegs das andere aus. Graphisch lassen sich beide Möglichkeiten durch eine horizontale und eine vertikale Achse in Form einer Tabelle verdeutlichen. Das dadurch entstehende Koordinatensystem haben wir in vier Felder aufgeteilt, die wir im Folgenden näher erläutern wollen. Diese vier Felder stehen aber nicht für vier verschiedene Ansätze der Landeskunde, sondern lediglich für verschiedene Schwerpunktsetzungen, die sich im Rahmen eines langjährigen Vermittlungsprozesses auch verschieben und verändern können. Feld A: Zielsprachlich-kommunikationsorientierte Ansätze Im Zentrum des hier skizzierten Landeskundeverständnisses steht die Auffassung, dass landeskundliche Inhalte und Ziele im Fremdsprachenunterricht nur eine zweitrangige Rolle zu spielen haben und den sprachbezogenen generell unterzuordnen sind. Landeskunde tritt dabei allenfalls als implizite Alltagserfahrung in Erscheinung und wird ganz in den Sprachlernprozess integriert. Gleich-

118. Geschichte und Konzepte der Landeskunde

1163

Tabelle 118.1: Problem- und Arbeitshorizont der Landeskundevermittlung.

zielkulturorientiert

adressatenspezifischinterkulturell

sprachgebunden

realitäts- und problemorientiert

Feld A: zielsprachlichkommunikationsorientiert

Feld B: problemorientiertdeutschlandkundlich

Bsp.:

Bsp.:

„Sprachbezogene LK" (Erdmenger/Istel)

„Deutschlandstudien" (Picht) „Landesbild DDR" (Fischer)

Feld C: kommunikationsorientiertinterkulturell

Feld D: problemorientiertinterkulturell

Bsp.:

Bsp.:

„Land- und Leutekunde" (Krumm/Neuner)

zeitig bleibt sie in der Hauptsache auf die Zielkultur bezogen, wobei die spezifische Perspektive der Lernenden weitgehend unberücksichtigt bleibt. Besonders offenkundig wird dieses sprachinhärente Verständnis, das zum Teil noch in den 70er Jahren als „sprachbezogene Landeskunde" (Erdmenger/Istel 1973) in der fremdsprachendidaktischen Diskussion für den Unterricht im Schulwesen vertreten wurde, in der Konzeption einer ganzen Reihe von frühen Lehrwerken, und zwar sowohl in den Ausgaben der 20er und 30er Jahre, die zum Teil nach dem Krieg wieder neu aufgelegt wurden und bis in die frühen 60er Jahre hinein wirkten, als auch in den Editionen der audiolingualen oder audiovisuellen Lehrwerke. Landeskunde erscheint dabei entweder als „Anwendungsfall der Grammatik" oder fungiert lediglich als Sprechimpuls für Konversationsübungen; relevante Informationen treten — falls überhaupt — als Nebenprodukte auf, die der semantischen Vertiefung im Sprachlernprozess zu dienen haben; oft werden sie dabei banalisiert oder fehlen völlig (Delmas/Vorderwülbecke 1989). Charakteristische Beispiele für diese so genannte erste und zweite Lehrwerkgeneration (Götze 1994) wären u.a. Schulz/Sundermayer: „Deutsche Sprachlehre für Ausländer" (1929), Klee/Gerken: „Gesprochenes Deutsch" (1939), Schulz/Griesbach: „Deutsche Sprachlehre für Ausländer" (1956) oder auch das audiolinguale Lehrwerk „Vorwärts". Schulz/Griesbach, dessen Anfange in

„Interkulturelle Germanistik" (Wierlacher) „Interkulturelle Landeskunde" (Pauldrach)

den 50er Jahren liegen, markiert allerdings bereits den Übergang in eine neuere Phase, in der landeskundliche Themenbereiche im Fremdsprachenunterricht deutlicher in Erscheinung treten und spürbar an Gewicht gewinnen, allerdings ohne sich schon aus dem Primat sprachlicher Zielvorstellungen zu befreien. Deutlicher zum Ausdruck kommt diese neue Ausrichtung in den beiden Lehr* werken „Deutsch aktiv" (Neuner u.a. 1979) und „Themen" (Eisfeld u. a. 1983). In beiden Fällen ist Landeskunde zwar noch den sprachlichen Zielen untergeordnet; dennoch dient sie nicht mehr nur als purer Sprechanlass, Motivationsvehikel oder Instrument der Wortschatzerweiterung, sondern wird — und das ist wirklich neu — in den Prozess des Lernens von Kommunikation integriert. Dabei vollzieht sich in Bezug auf die Inhalte ein Paradigmenwechsel. Standen früher gleichsam überzeitliche Themenbereiche, ,ewige' Werte, Realien und Bestandteile der Institutionenkunde im Vordergrund, die allesamt anhand der „Gegenstände" der Zielkultur gewonnen wurden, so orientiert man sich nun zusehends an den Bedürfnissen, Einstellungen, Erfahrungen und Kenntnissen der Lernenden und konzentriert sich in der Hauptsache auf die aus der Sozialgeographie entlehnten Grunddaseinsfunktionen wie Wohnen, Arbeiten, Erholen, sich Versorgen, sich Bilden, miteinander in Verbindung treten, am Gemeinwesen teilnehmen etc. Auch wenn in diesem Verständnis in erster Linie das Gelingen sprachlicher Hand-

1164 lungen gewährleistet werden sollte und damit das Konzept der sprachbezogenen Landeskunde, das im Übrigen in der DDR und in Osteuropa im Konzept der Linguo-Landeskunde mit gewissen Veränderungen (vgl. Art. 123) sein Pendant hatte, weiter seine Gültigkeit behielt, so ist dennoch der Weg nicht mehr weit zu einer die Fremdperspektive der Lernenden in den Mittelpunkt rükkenden interkulturellen Fremdsprachendidaktik, wie sie in den 80er Jahren entwickelt wurde. Feld B: Problemorientiert-deutschlandkundliche Ansätze Die hier vorgestellten Ansätze lassen sich als Ausdruck eines veränderten Stellenwertes der Landeskunde deuten, die seit dem Ende der 70er Jahre zunehmend an Eigengewicht und Eigenständigkeit gewann. Konkret handelt es sich um sozial-wissenschaftlich fundierte Konzepte, in denen die Ermittlung eines komplexen realistischen Deutschlandbildes intendiert wurde. Als herausragende Vertreter dieser Richtung treten auf bundesdeutscher Seite u.a. Delmas; Vorderwülbecke und Picht in Erscheinung, die die Diskussion entscheidend vorangebracht haben. Die Ergebnisse ihrer Bemühungen um eine Konturierung des Gegenstandes, die sich im Großen und Ganzen in den Konzepten der „kritischen Deutschlandkunde" (Witte) oder der „transnationalen Landeskunde" (Picht) wiederfinden, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Eine ,Allroundwissenschaft', die als Desiderat sämtlicher eine Gesellschaft beschreibender Grundlagenwissenschaften fungiert und der Landeskunde eine gesicherte wissenschaftstheoretische Grundlage zur Verfügung stellt, kann es nicht geben. Zu fordern ist stattdessen die interdisziplinäre Zusammenarbeit gleichberechtigter Disziplinen, die keine Dominanz einer übergeordneten Leitwissenschaft erlaubt. 2. Landeskunde ist grundsätzlich immer zu definieren in ihrem Verhältnis zum Fremdsprachenunterricht; insofern ist das „gesamte Wissen über Ökonomie, Politik, staatliche, juristische, militärische Organisation, Kulturund Bildungswesen eines Landes [...] allenfalls Gegenstand der [...] Regional- oder Länderwissenschaften." (Grosse 1981, 65). 3. Die Totalität der Welt erfassende Erklärungsschemata sind infolgedessen unangebracht und überdies in aller Regel zum Schei-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

tern verurteilt. Picht (1989) spricht in diesem Zusammenhang von „Aporien der Totalität". 4. Für die praktische landeskundliche Arbeit ergibt sich daraus das Postulat, sich bei der Auswahl der Themenbereiche solcher Inhalte zu bedienen, die paradigmatischen Charakter für die zu beschreibende Gesellschaft eines bestimmten Landes haben. Dabei lässt sich auf das Kriterium der Exemplarität zurückgreifen (Buttjes 1995). Zu durchaus vergleichbaren Ergebnissen fand auch die Landeskundediskussion in der DDR, die im Wesentlichen durch Fischer und Uhlemann geprägt wurde (vgl. Art. 7; Fischer 1989). Auch hier wird als Gegenstandsbereich der Landeskunde die komplexe gesellschaftliche Realität in ihrer historischen Ausformung in den Mittelpunkt gerückt und die Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit der Grundlagenwissenschaften unterstrichen. Als wesentlicher qualitativer Unterschied erweist sich jedoch die Hervorhebung der Ideologiegebundenheit landeskundlicher Inhalte und die ideologische Bewusstseinsbildung der Lerner. Weitgehend vernachlässigt blieb lange Zeit die Perspektive der übrigen deutschsprachigen Länder, die nicht zuletzt auch in den Lehrwerken meist als ,Anhängsel' Deutschlands behandelt wurden. Mit Recht wurde daher für eine stärkere Integration aller deutschsprachigen Regionen plädiert, um den unterschiedlichen historischen, politischen, kulturellen und sprachlichen Entwicklungen gerecht zu werden (Langner 1992). Gleichwohl blieben länderkundliche Profile der Schweiz und Österreichs bis heute die Ausnahme. Auch Mog und Althaus orientieren sich in ihrem Tübinger Modell einer integrativen Landeskunde ausschließlich - wenn auch in einem kulturkontrastiven Zugriff — an der sozialen und politischen Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Im Zentrum ihres im Rahmen eines interdisziplinären Gesprächskreises entstandenen Konzeptes, das ausdrücklich auf den Anspruch verzichtet, eine vollständige Deutschlandkunde zu sein, steht die Untersuchung soziokultureller Grundmuster deutscher Mentalität und der sozialen, historischen und politischen Strukturen Deutschlands (Mog 1989). Es liegt damit in gedanklicher Nähe zu dem Saarbrücker Modell zur Landeskunde, das spezifische gesellschaftliche Spannungsfelder bundesdeutscher Wirklichkeit ins Zen-

1165

118. Geschichte und Konzepte der Landeskunde

tram der Betrachtung rückt und in einer Art Netzwerk, das Teile von der Komplexität und Korrelation gesellschaftlichen Lebens widerzuspiegeln versucht, sein didaktisches Ziel sieht (Bleicher et al. 1989). Allen hier vorgestellten landeskundlichen Ansätzen ist gemeinsam, dass in ihnen schon mehr oder weniger explizit interkulturelle Bezüge angelegt sind. Feld C: Kommunikationsorientiertinterkulturelle Ansätze Die Forderung nach Überwindung ethnozentristischer Betrachtungsweisen im Fremdsprachenunterricht, die nicht zuletzt im Zusammenhang mit den weltweiten Wanderungsbewegungen und den daraus entstandenen multikulturellen Gesellschaften zu sehen ist, führte in den 70er und frühen 80er Jahren dazu, dass man in der Landeskundedidaktik die ausschließliche Orientierung an der Zielkultur aufgab und stattdessen stärker die Perspektive der Lerner in den Blickpunkt rückte. Dabei erwies sich die kommunikative Didaktik als durchaus hilfreich, da in ihrem didaktischen Konzept die Lernerperspektive bereits vorgesehen war. Augenfällig in Erscheinung trat diese neue Akzentsetzung in der sog. Alltags- und Leutekunde, wie sie u.a. von Krumm (1988) und Neuner (1994) ansatzweise entwickelt wurde. In ihrem Kern knüpft sie an die Erkenntnis an, dass Verständigungshandlungen nur gelingen können, wenn neben sprachlichen Wissensbeständen gleichzeitig ein spezifisches Kontext- oder Interaktionswissen vermittelt wird. Konkret führte dies dazu, dass Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale, Anredekonventionen, aber auch „allgemeine Kommunikationsnormen (z. B. wann man in Gesprächen das Wort ergreift (turntaking)" oder „Gebrauchskonventionen über Sprachhandlungen und Textmuster (z. B. wann man dankt, wann man eine Tischrede hält), über Sprachhandlungsstrukturen [...] und über Sprachhandlungsstile [...]" (Feigs 1993, 79) ebenso zum Gegenstand der Landeskunde erhoben werden wie spezifische Kenntnisse über die politische Verfasstheit oder Wirtschaftsstruktur einer Zielsprachengesellschaft. Gefordert wird also ein Konzept einer Landeskunde, das eine Verbindung von Sprachwissen und Weltwissen im Kommunikationsprozess anstrebt und gleichzeitig dem Fremdsprachenlerner einen Zugang zu der fremden Welt der Zielkultur ermöglicht.

In diesen Kontext ist auch die Systematik Neuners einzuordnen, der bei der Arbeit an „Deutsch aktiv neu" ein Konzept entwikkelte, das auf der Grundlage sogenannter allgemeiner elementarer Daseinserfahrungen — u.a. nennt er Geburt und Tod, personale Identität, Leben in einer Familie, Leben in einer größeren politischen Gemeinschaft, Partnerbeziehungen, Wohnen, Umwelt, Arbeiten, Ausbildung, etc. - eine Verstehensbrücke zwischen Eigenerfahrung und der Begegnung mit der neuen Welt zu bauen versucht (Neuner 1994). Der Vorteil dieser Themenbereiche, die im Übrigen zum großen Teil auch in der Themenliste der Rahmenbeschreibung für das Zertifikat Deutsch als Fremdsprache des Goethe-Instituts und des Deutschen Volkshochschulverbandes erscheinen, liegt darin, dass sie in der Regel unmittelbar dem Erfahrungs-, Erlebnis-, Gefühls- und Kenntnishorizont der Lerner zugänglich sind. Damit werden in besonderer Weise spezifische Rückkoppelungsprozesse von Aspekten der fremden Welt mit Erfahrungen und Wissensbeständen der eigenen möglich (zur Problematik des Vergleichs siehe Pauldrach 1992, 4f.), die bei angemessener Handhabe ganz wesentliche Lernfortschritte in Richtung auf eine interkulturelle kommunikative Kompetenz sichern können. Feld D: Problemorientiert-deutschlandkundliche Ansätze Dass fremdsprachliches Lernen immer auch kulturelles Lernen bedeutet und nicht unabhängig von diesem entwickelt werden kann — diese Grundüberzeugung vereint alle landeskundlichen Ansätze, die sich dem Begriff „interkulturell" und den damit implizierten Erklärungsansprüchen verpflichtet fühlen. In der Praxis stellt es indessen keinen geringen Unterschied dar, ob die „interkulturelle Landeskunde" lediglich als ein notwendiges Grundlagenwissen für die Entwicklung einer möglichst zielkulturadäquaten Interaktionsfähigkeit angesehen wird, oder ob es darum geht, die Fremdsprachenphilologie insgesamt als „angewandte Kulturwissenschaft" neu zu begreifen. In das graphische Feld D lassen sich demzufolge all jene landeskundlichen Beiträge und Modelle einordnen, die die nichtsprachlichen Ziele des Fremdsprachenunterrichts zumindest als gleichwertig erachten. Wichtige Pionierarbeit auf diesem Gebiet wurde hierzulande besonders von Wierlacher geleistet, dessen Konzept einer „interkulturellen Ger-

1166 manistik" zwar in der Fachwissenschaft nicht unumstritten geblieben ist, dem Diskurs über „das Eigene und das Fremde" in der Fremdsprachendidaktik jedoch vielfältige Impulse gegeben hat. Wierlachers Verdienst ist es auch, die landeskundliche Bedeutung literarischer Lesestoffe auf der theoretischen Basis einer „Hermeneutik der Distanz" von neuem herausgearbeitet und für den interkulturellen Sprach- und Literaturunterricht fruchtbar gemacht zu haben. Allgemein hat die Erforschung des interkulturellen Lern- und Verstehensprozesses gerade in den letzten zehn Jahren einen enormen Aufschwung genommen. Obwohl die betreffenden Beiträge zumeist noch explorativen Charakter haben, lassen sich zunehmend grundlegende Übereinstimmungen zwischen den beteiligten Autoren (Neuner 1994, Wierlacher 1980, 1985, Thum 1984, Ramin 1989, Pauldrach 1992, Krumm 1988 u.a.) erkennen. Einige der wichtigsten Ergebnisse fassen wir im Folgenden zusammen: 1. Interkulturelles Lernen setzt einen erweiterten und dynamischen Kulturbegriff voraus. Alltagskultur und interkulturelle Verflechtungen, die lange Zeit im kultur- und landeskundlichen Unterricht vernachlässigt wurden, werden zu wichtigen Gegenständen der Kulturanalyse, die nicht auf die Aufarbeitung der historischen Dimension kultureller Prozesse verzichten kann. „Denken, Verhalten und Handeln sind in erheblichem Maße durch das kulturelle Erbe in Mentalitäten und Institutionen geprägt. Dabei ist zwischen den allgemein anerkannten ,Traditionen' und den verdeckten Bereichen des kulturellen Erbes zu unterscheiden." (Ramin 1989, 230) 2. Als Bezugswissenschaft der „interkulturellen Landeskunde" gewinnen kulturanthropologische Ansätze zunehmend an Bedeutung. Es dürfte in der Forschung aber im Wesentlichen Einigkeit darüber bestehen, dass eine problemorientierte Aufarbeitung interkultureller Kommunikationsprozesse zwingend einen interdisziplinären Zugriff benötigt. 3. Transkulturelle Universalthemen (Raum, Zeit, Wohnen etc.) erleichtern den Einstieg in den interkulturellen Dialog, sind aber dort von geringerem didaktischen Wert, wo es darum geht, das Einzigartige und die Komplexität einer jeweiligen Kultur zu erfassen. Als weiterführend erweist sich die Behandlung kulturspezifischer Leit- und Gegenthemen, wie sie in Anlehnung an Opler von

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

Thum (1985) in die Landeskunde-Didaktik eingeführt wurde. 4. Die bildungspraktische Notwendigkeit fremdsprachlicher und interkultureller Kompetenzen in einer zusammenwachsenden Welt zwingt dazu, den Fremdsprachenunterricht vielen neuartigen Lernergruppen aus den unterschiedlichsten nichtakademischen Berufen zu öffnen, wodurch im Sprach- und Landeskundeunterricht neuartige motivationale Anreize geschaffen werden müssen. Zurecht plädiert Schwerdtfeger (1991) vor diesem Hintergrund für die Behandlung kultureller Symbole (ζ. B. die Bedeutung von Licht und Farben in verschiedenen Kulturen) im Unterricht, „weil sie es den Lernenden ermöglichen, in neuer Weise einen ganz persönlichen emotionalen Zugang zur Zielsprache und Zielkultur herzustellen." (Schwerdtfeger 1991, 249) 5. Obwohl der Lernende beim Kennenlernen einer fremden Sprache und Kultur nicht umhin kommt, ständig Vergleiche zwischen dem Eigenen/Vertrauten und dem Fremden/ Neuen anzustellen, liegt gerade in solchen spontanen und häufig vorschnellen Vergleichsoperationen eine der Hauptquellen kultureller Missverständnisse und Fehldeutungen. Da kulturelle Einzelphänomene nicht isoliert, sondern in ihrer Einbettung in das Kultursystem betrachtet werden müssen, bedarf es im Landeskundeunterricht einer „reflektierten Vergleichsdidaktik" (Pauldrach 1992, 13), die nicht nur Vorzüge und Nachteile bilanziert, sondern jedes Kultursystem in seiner Einzigartigkeit würdigt und bestehen lässt. 6. Um die Andersartigkeit der fremden Welt im interkulturellen Lernprozess nachvollziehbar werden zu lassen, sollte der Landeskundeunterricht nicht einfach abstraktes Wissen und Zusammenhänge vermitteln, sondern nach Möglichkeit ein inneres Erleben des Fremden ermöglichen. Als besonders fruchtbare Methoden haben sich in diesem Zusammenhang Rollenspiele und Simulationen wie ζ. B. „Biographiesimulationen" (Koreik 1993) bewährt, aber auch die vom Goethe-Institut in seinen Fortbildungsveranstaltungen durchgeführten „Bedeutungserkundigungen" und „Mitmachtage". 7. So sehr der inter kulturelle Lernprozess nachweislich durch besonders hohe Verstehensbarrieren belastet ist, so sehr setzt sich andererseits die Erkenntnis durch, dass auch die interkulturelle Aneignung letztlich dem gleichen Mechanismus wie jede andere Form der Wissens- und Erfahrungserweiterung

1167

118. Geschichte und Konzepte der Landeskunde folgt. Neuner (1994) schreibt dazu: „Ich sehe aus der Lernperspektive keinen entscheidenden qualitativen Unterschied zwischen der Art, wie wir aus Elementen, Einheiten und Strukturen von Wissen und Erfahrungen das Bild unserer eigenen Welt im Kopf strukturieren, und der Art, wie wir uns ein Bild von der fremden Welt machen. Vielmehr entwikkelt sich dieses Bild von der fremden Welt als Teil eines umfassenden ,Mosaiks', das man übergreifende Welterfahrung nennen könnte. Wenn das so ist, dann geht es auch nicht um den Aufbau kontrastiver Bilder im Fremdsprachenlernen, sondern eher um die Ausweitung und Differenzierung vorhandener Strukturen von Weltwissen und Welterfahrung in der Begegnung mit der fremden Welt." (Neuner 1994, 35)

4.

Schlussbemerkung

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es hier nicht darum gehen sollte, einzelne landeskundliche Konzepte als idealtypische Modelle für den Fremdsprachenunterricht anderen vorzuziehen. Die Frage, welcher Landeskundeunterricht der beste ist, lässt sich theoretisch nicht vorwegnehmen, sondern ist jeweils in Abhängigkeit zu sehen von den konkreten Variablen und Bedingungen der Unterrichtssituation (anthropologische und soziokulturelle Voraussetzungen). Dazu gehört zunächst die jeweilige Motivation des Lerners (Geschäftsmann, Urlaubsreisender, Student), aber auch ganz entscheidend die Beantwortung der Frage, wo der Unterricht (ob in einem deutschsprachigen Land oder im Ausland) stattfindet und wie er dort organisiert ist (institutionelle Rahmenbedingungen). Allgemeingültige Unterrichtskonzeptionen, die den spezifischen Bedürfnissen in den unterschiedlichsten Kontexten und Institutionen gleichermaßen gerecht werden, kann es folglich nicht geben. Stattdessen muss es Aufgabe der Landeskundedidaktik sein, die für die jeweiligen Lernkonstellationen (Rosier 1994) geeigneten Unterrichtskonzepte- und -materialien zur Verfügung zu stellen. Hierzu können die skizzierten Ansätze wichtige Grundlagen beisteuern.

5.

Literatur in Auswahl

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1168

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

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Reiner Veeck, Saarbrücken (Deutschland) Ludwig Linsmayer, Saarbrücken ( Deutschland)

119. Fremdbilder und Fremdwahrnehmung 1. 2. 3. 4. 5.

7.

Problemaufriss Historische Dimensionen Begriffsverständnis Empirische Untersuchungen Fremdbild-Konzept für das Fach Deutsch als Fremdsprache Schlussfolgerungen für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache Literatur in Auswahl

1.

Problemaufriss

6.

Stereotype und Vorurteile - allgemeiner gefasst: Fremd- und Selbstbilder - gelten heute als zentrale Kategorien der Sprach- und Kulturvermittlung im Unterricht Deutsch als Fremdsprache. Trotz dieses (relativ jungen) Konsenses klafft dennoch eine bemerkenswerte Lücke: In keiner der Einführungen und in keinem Handbuch des Fachs taucht bislang das Problem der Fremd- und Selbstwahrnehmung, des Einflusses von Stereotypie auf den Lernprozess als selbstständige Überlegung auf. Weder in Wierlacher (1980), noch in Heyd (1990), Rosier (1994), Henrici/ Riemer (1994) oder Bausch/Christ/Krumm (1995) findet sich ein Artikel oder ein Stichwort „Stereotype", „Fremdbilder" oder Ähnliches. Eine eigenständige, an die Gegebenheiten des Fachs Deutsch als Fremdsprache angepasste Vorurteils- und Stereotypentheorie existiert im hier zu behandelnden Zusammenhang bestenfalls rudimentär; Überlegungen

zur Fremd- und Selbstwahrnehmung, zum Verhältnis von Eigenem und Fremdem bleiben kursorisch; der Rückgriff auf vorhandene Theorien, meist sozialpsychologischer Provenienz, erfolgt wenig systematisch, Stereotypen, Vorurteile, Fremdbilder werden von einigen Autoren als Störfaktoren des Fremdsprachenunterrichts gesehen oder diametral dazu als nützliche Ausgangspunkte bzw. Erkenntnisgegenstände gewertet. Sozialpsychologische, soziologische, individualpsychologische Stereotypen- bzw. Bildtheorien oder ethnologische und hermeneutische Textbzw. Fremdbildtheorien konkurrieren miteinander bzw. stehen unverbunden nebeneinander. Das Problem der Stereotypie taucht, spätestens seit Beginn der 80er Jahre, verstärkt im Zusammenhang mit einer Neukonzeptualisierung der Landeskunde im Rahmen eines der „interkulturellen Kommunikation" verpflichteten Fremdsprachenunterrichts bzw. Deutschunterrichts an Ausländer auf. Die in den letzten Jahren verstärkt geführte philosophisch, komparatistisch und ethnologisch orientierte Diskussion über die bzw. das Fremde in der Interkulturellen Germanistik hat sich, vermutlich auf Grund ihres Abstraktionsgrades, bislang kaum in der Praxis des fremdsprachlichen Deutschunterrichts niedergeschlagen, wenngleich von ihr einige Anregungen im Hinblick auf die Geschichte des Verhältnisses von Fremdem und Eigenem, die Konstruktion von Fremdheit sowie

119. Fremdbilder und Fremdwahrnehmung

die Frage der Toleranzerziehung ausgehen könnten. Insgesamt bleiben Stereotype und Vorurteile auf bestimmte Ausschnitte, d. h. Fragestellungen und Problembereiche des Fachs Deutsch als Fremdsprache beschränkt: (1) Landeskunde, (2) das Deutschlandbild in Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien, (3) literarische Selbst- und Fremdbilder sowie (4) (Selbst-)Erfahrungsberichte von Fremdsprachenvermittlern, die Kulturkontraste mehr verarbeiten als analysieren. Im Folgenden werden exemplarisch insbesondere die Auseinandersetzungen des Faches mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen diskutiert, um abschließend eine verbindende, breit gefasste Konzeption von Fremdwahrnehmung und Fremdbild vorzuschlagen, die auch eine praktische Relevanz für die Einbeziehung des Verhältnisses von Fremdem und Eigenem, für die Thematisierung von Vorurteilen und Stereotypen im Fach Deutsch als Fremdsprache, in Lehrwerken und im Unterricht ermöglichen kann. Eine sicher unbefriedigende Unscharfe der Begrifflichkeiten muss dabei in Kauf genommen werden. Einerseits spiegelt diese, wie zu zeigen sein wird, die reale Diskussion wider; eine Situation, die auch unter Rückgriff auf die umfangreiche sozialpsychologische Diskussion nicht vermieden werden kann, konkurriert doch auch hier eine Unzahl von vergleichbaren Ansätzen, meist US-amerikanischer Provenienz, entwickelt an den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Problemlagen (Vorurteile gegenüber Gastarbeitern, Frauen, geistig und körperlich Behinderten, Alten, Straffälligen, sozial, politisch, sexuell ,abweichenden' Menschen, gegenüber materiellen Objekten und Sachverhalten etc. (vgl. Quasthoff 1973; Schäfer/Six 1978; Koch-Hillebrecht 1988). Kompliziert wird die Begriffsfrage andererseits dadurch, dass sich Alltagssprachgebrauch (das gilt für die Begriffe Stereotyp, Vorurteil, Klischee, Bild, Image ... gleichermaßen) und wissenschaftlicher Sprachgebrauch trotz aller definitorischen Bemühungen unentwirrbar verbunden haben. 2.

Historische Dimensionen

Der enge Zusammenhang zwischen Sprachund Kulturlernen, wie er insbesondere in Konzepten, die auf eine interkulturelle Kommunikation, d. h. auch auf eine soziale Kom-

1169 petenz neben der sprachlichen zielen, gesehen wird, ist weitgehend unbestritten, auch wenn einzelne Relativierungen des zu Grunde liegenden (weiten) Kulturbegriffs sowie der daraus resultierenden Inhalte und Methoden des Fremdsprachenunterrichts zu beobachten sind (zum weiten Kulturbegriff im Bereich Deutsch als Fremdsprache: Bausinger 1988, Götze 1993; zur Relativierung eines weiten Kulturbegriffs: Kretzenbacher 1992 und die „25 Thesen zur Sprach- und Kulturvermittlung im Ausland" des Beirats Deutsch als Fremdsprache des Goethe-Instituts; Beirat 1992). Mit der Zielsetzung der interkulturellen Kommunikation kommt im Fach Deutsch als Fremdsprache auch ein Bewusstsein für den expliziten Zusammenhang von Fremdsprachenlernen und stereotyper bzw. nichtstereotyper Wahrnehmung des Fremden ins Blickfeld (vgl. Art. 124). Altere Modelle des Fremdsprachenunterrichts dagegen trennten beides deutlich voneinander und blendeten so den Zusammenhang weitgehend aus. Solange sich Fremdsprachenvermittlung primär auf Grammatik und Übersetzen von Texten bezog, blieb das „Bild" vom Zielsprachenland, von der Zielsprachenkultur oberflächlich, es fungierte oft als bloße Garnierung. Dennoch existiert auch hier ein impliziter Zusammenhang: Da Fremdsprachenunterricht immer auch allgemeinen politischen, wirtschaftlichen und pädagogischen Zielen unterworfen ist, da er sich immer an konkreten, landesoder nationalkulturellen Themen und an Identifikationsfiguren für den Lerner orientiert (da immer schon vorab erworbene Vorstellungen von der Zielsprachenkultur den Lernprozeß beeinflussen), blieb das Problem der Stereotypie möglicherweise lange unbewusst, war jedoch stets präsent. Das aufklärerische Interesse an fremden Ländern und Sprachen hatte gleichwohl von Anfang an einen bewussten Zusammenhang hergestellt. Die Erfahrung der Fremde, das Erlernen der fremden Sprache sollten die eigenkulturell geprägte Weltsicht relativieren und erweitern, Vorurteile aufbrechen und eine potenziell universelle Kommunikationsfähigkeit herstellen. Die Kenntnis fremder Länder und Sprachen diente in diesem Konzept als Ferment der Vervollkommnung des Eigenen, das Fremde besaß jedoch keinen Eigenwert. Dass dieser Blick selektiv war (und ist), dass die Dialektik dieser aufklärerischen Fremdwahrnehmungskonzepte oft erst zur Stereotypisierung führt und letztlich der Aufwertung der eigenen Kultur dient, ist den

1170 darauf aufbauenden kognitiv orientierten Stereotypenkonzepten bis heute nur bedingt zugänglich. In der engeren Perspektive des Fremdsprachenlernens betrachtet, dominierten seit der Wende zum 20. Jh. bis in die 60er Jahre hinein unterschiedliche, jedoch hiervon beeinflusste Konzepte der Kulturkunde, deren Ziel letztlich doch die Bestätigung der eigenen kulturellen Überlegenheit war — ein Konzept, das in der „Wesens"kunde der 30er Jahre ihren negativen Höhepunkt erreichte und den Fremdsprachenunterricht in eine pädagogisch-politische Krise führte (vgl. Buttjes 1995, 143). Die fremdsprachenpolitische Neuorientierung in der Bundesrepublik der 50er Jahre fand jedoch noch immer keinen Zugang zu einer expliziten Thematisierung des Zusammenhangs von Fremd- und Selbstbild, von Heterostereotypie und Autostereotypie. Zwar rückten nach der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs Bedeutung und Folgen politisch-propagandistischer Äußerungen über Nachbarkulturen verstärkt ins Bewusstsein, zwar wurden die aus der Weltkriegserfahrung heraus motivierten sozialpsychologischen Arbeiten zum Vorurteil und Stereotyp rezipiert (v. a. Lippmann 1922/ 1964; Adorno u.a. 1950; Allport 1958/1971), auf die an Grammatik und Ubersetzung orientierten Sprachvermittlungskonzepte hatte dies jedoch nur geringen Einfluss. Die Kultur des Zielsprachenlandes blieb ebenso wie die Darstellung und Reflexion der eigenen davon abgetrennt. Über eine im Wesentlichen positive Darstellung (hoch-)kultureller Errungenschaften, attraktiver Landschaften, wirtschaftlicher Erfolge, sympathischer Personen etc. wurde versucht, das außersprachliche Ziel der Völkerverständigung zu erreichen. Dieses der alten Kulturkunde im Grunde komplementäre Prinzip orientierte sich unmittelbar an der Lernergruppe: Solange der Erwerb von Fremdsprachen weitgehend auf (künftige) gesellschaftliche Eliten beschränkt blieb, deren Fremdsprachenerwerb insbesondere funktionale Interessen zu Grunde lagen (Wirtschafts- und politische Kontakte, humanistische Bildung), konnte die nicht-integrierte, außersprachliche Bildvermittlung tatsächlich positive Vorstellungen von anderen Ländern, Kommunikationsfahigkeit, gestützt auf ausreichende Sprachbeherrschung, bewirken. Das Ziel des fremdsprachlichen Unterrichts in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland war in erster Linie die Herausbildung von Toleranz und

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

Kooperation mit Nachbarnationen allein mittels Befähigung zu sprachlicher Verständigung. Fremdbilder, terminologisch gefasst als Stereotype oder — negativ — als Vorurteile, werden in diesem Ansatz ausschließlich als Störfaktoren betrachtet, die im Interesse der Völkerverständigung durch Sprachkompetenz und positives Sachwissen zu vermeiden sind. Mit der Ausweitung des Fremdsprachenunterrichts auf nahezu alle Lerner einer Generation und den verstärkten internationalen, d.h. interkulturellen, Kontakten werden jedoch solche Völkerverständigungsziele prekär. Vorab erworbene und im Unterricht implizit vermittelte Fremdbilder, die seit den sechziger Jahren verstärkt auch noch der Begegnung mit „Fremden", mit Arbeitsmigranten, einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung unterworfen sind, rücken somit ins pädagogisch-politische Interesse. Eine direkte Einbeziehung von Stereotypenkonzepten, die sich zunächst an sozialpsychologischen Modellen orientieren, steht also in einem engen Zusammenhang mit der neuen Begründung des Fachs Deutsch als Fremdsprache im Sinne einer „interkulturellen Kommunikation": „Der interkulturelle Ansatz hat damit in den achtziger Jahren die Assimilations- und Integrationskonzepte der sechziger und siebziger Jahre abgelöst, in denen von einer Defizithypothese ausgegangen wurde, die Fremdheit vor allem als Defizit gegenüber der Fremdsprache und -kultur betrachtete, die es im Unterricht zu überwinden galt." (Krumm 1995, 156 f.)

Stereotype und Vorurteile werden nun - oft schon in einem umfassenderen Sinne verstanden als kulturrelativistisch gefasste Fremdbilder — zum Unterrichtsgegenstand selbst. Fremdsprachenunterricht dient demnach nicht mehr allein der Sprachvermittlung, er wird zu einem „Ort einer systematischen Begegnung der Lernenden mit der Fremdkultur, die im kommunikativen Unterricht in Form von sprachlich handelnden Menschen lebendig wird" und ist insofern interkulturell (Krumm 1995, 157). Der bewusste Kulturvergleich, die Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur und deren intendierte Relativierung sollen zur Erkennung von Klischees, zur Sensibilisierung für das Fremde, zum Abbau der Stereotypen und Vorurteile, d. h. letztlich zu einem Zuwachs an Toleranz, ja zur Ausbildung einer „Toleranzkultur" führen (vgl. Wierlacher 1994).

119. Fremdbilder und Fremd Wahrnehmung

3.

Begriffsverständnis

Der knappe und notwendigerweise verkürzende Überblick über die historische Dimension fordert eine genauere Bestimmung dessen, was unter Stereotyp und Vorurteil bzw. unter Bildern zu verstehen ist. Dabei geht es nicht um eine allgemeine soziologische, sozialpsychologische, xenologische oder psychoanalytische Definition. Dies kann angesichts jeweils hochspezialisierter Fachdiskussionen hier nicht im Detail geleistet werden. Vielmehr geht es darum, die neuere Beschäftigung mit den Begriffen Stereotyp, Vorurteil und (Fremd-)Bild im Umkreis des Fachs Deutsch als Fremdsprache nachzuvollziehen. Dieser Ansatz ist unauflöslich mit der Frage verbunden, ob Landeskunde als „Kontextwissenschaft" als Zusatz zu einem strikt linguistisch und behavioristisch ausgerichteten Fremdsprachenunterricht zu definieren (vgl. Schmidt 1977) oder als ein multidisziplinärer, integraler Bestandteil (vgl. Picht 1980) des fremdsprachlichen Lernens im Sinne einer Auseinandersetzung mit fremder Kultur zu verstehen sei (vgl. Art. 4); er stammt nicht aus dem gleichzeitig diskutierten Zusammenhang von Sprache und Stereotypisierung (vgl. z.B. Quasthoff 1973). Inzwischen hat sich nicht nur ein auf einem weiten Kulturbegriff (vgl. Art. 120) und dem Alltagsparadigma basierendes Landeskunde-Konzept durchgesetzt, es wurde im Zuge dessen auch der Begriff des Stereotyps neu gefasst und bewertet. Die häufig gebrauchte Formel vom pädagogisch notwendigen „Abbau" von Stereotypen und Vorurteilen verweist darauf, dass beide Begriffe ursprünglich negativ konnotiert waren. Zum einen wird Stereotyp als ein falsches Verhältnis seines „Trägers" zur Wirklichkeit, als Fehlperzeption von Wirklichkeit gesehen, andererseits als „Defizit", als Mangel an „richtigem" Wissen. „Abgebaut" wird ein Stereotyp in diesem Konzept durch Ausgleich der Wissensdefizite; affektive oder konative, also gefühlsbedingte oder auf Handlungskompetenz gerichtete Faktoren, bleiben unterbewertet oder gänzlich ausgegrenzt (vgl. zu affektiven, kognitiven und konativen Komponenten von Fremdbildern Ropers 1990). Ausschließlich kognitiv wird falsche Wirklichkeitskenntnis durch richtige korrigiert, wobei die Definitionsmacht über die Bestimmung von Wirklichkeit bei den Vermittlungs„instanzen" wie Pädagogen, Politikern, Medien (die jedoch gleichzeitig alle auch zu den „Verursachern" von Stereotypen

1171 zählen können) bleibt. Unter Kritik geraten solche eindimensionalen Modelle durch zwei theoretische Überlegungen: Erstens führt eine differenziertere Adaption eines wissenschaftlichen (statt alltäglichen), auf die Arbeiten v. a. von Lippmann und Allport zurückgreifenden Stereotypen- bzw. Vorurteilsbegriffs zu einer Neubewertung. Stereotype gelten nunmehr auch als soziale und psychologische Phänomene, die der alltäglichen Orientierung dienen. Ihnen werden somit durchaus positive Teilfunktionen zugeschrieben. Aus wissenssoziologischer Perspektive wird zweitens unter Rückgriff auf Alfred Schütz sowie Berger/Luckmann der Wirklichkeitsbegriff in Frage gestellt. Wirklichkeit als soziales Konstrukt erscheint nun als eine stärker subjektivierte Kategorie der Weltwahrnehmung und -interpretation, jedenfalls nicht mehr als uneingeschränkt vorgegebene Objektivität. Zu Beginn der Debatte um Definition und Wert von Stereotyp und Vorurteil (letzteres gemeinsprachlich in der Regel als „aggressivere" und „negativere" Variante des Stereotyps verstanden) schreibt Picht (1980, 121): „Im landläufigen Verständnis sind Vorurteile etwas im doppelten Sinne Schlechtes: schlecht für den Beurteilten, da der Begriff ,Vorurteil' fast synonym mit,negatives Urteil' gebraucht wird, schlecht aber auch für den Urteilenden, der sich bei mangelnder Objektivität ertappt fühlt, wenn man ihm Vorurteile vorwirft, diese Objektivität aber auch beim bestem Willen nicht dauerhaft leisten kann."

Noch unklarer, so Picht, sei der Gebrauch des Begriffs Stereotyp. Er entwickelt dann eine auf die Sozialpsychologie des Deutschlandbildes (und des deutschen Fremdbildes) zugeschnittene Definition: Vorurteile seien demzufolge Einstellungen zu einem Gegenstand, die schon vor einer intensiven Beschäftigung mit diesem (fremdkulturellen) Gegenstand vorhanden seien. Vorurteile, damit folgt er cum grano salis den Überlegungen von Allport, dienen dem Individuum bei der „Orientierung und Auswahl auf dem Weg durch die verwirrende und bedrohliche Fülle der Erscheinungen" (Picht 1980, 121). Vorurteile bleiben für Picht gebunden an soziale Situationen und an Bedürfnisse des Subjekts, werden verstanden als sozial- bzw. individualpsychologische, fast biologische Phänomene. Entscheidend für die Abkehr von älteren, rein kognitiven Modellen ist die These, dass aus den genannten Gründen ein Abbau von Vorurteilen „illusionär" sei, zumal für Picht Fremd- und Selbstbild, das Ur-

1172 teil über die eigene wie über fremde Gruppen untrennbar verbunden sind (Picht 1980, 121). Seine Kritik richtet sich zugleich auch gegen eine Übernahme von Umfrageergebnissen aus der Stereotypenforschung, gegen deren quantifizierende Auflistung und Abfrage von Einstellungen anhand vorgegebener Eigenschaftslisten (wie sie seit den 30er Jahren von Katz und Braly entworfen und bis heute immer wieder variiert wurden), die nicht individuelle Haltungen oder Einstellungen, nicht gruppendynamische Prozesse widerspiegeln, sondern lediglich vorgegebene Typisierungen reproduzieren: „Die Art der Befragung strukturiert die Form des Urteils, das sie selbst zu ermitteln versucht, selbst vor. Sie setzt die Verallgemeinerung von Eigenschaften auf ganze Nationen als gegeben voraus, die dann als Vorurteil festgestellt wird" (Picht 1980, 122). Um die „Subjekt-ObjektRelation in der Beschäftigung mit andern Ländern (...) sozialwissenschaftlich lokalisierbar und didaktisch nutzbar" zu machen, fordert Picht, nicht ganze Länder oder grob bestimmte Sozialgruppen zu untersuchen, sondern „das Verhältnis zum Ausland in den Zusammenhang der sozialen und kulturellen Abläufe zu stellen" (Picht 1980, 126). Damit sind sowohl soziale als auch psychologische Differenzierungen in die Stereotypenüberlegungen des Fachs Deutsch als Fremdsprache eingezogen. Stereotype bzw. Vorurteile werden in ihrem sozialisatorischen Kontext, in ihrer sozialen Gebundenheit, in ihren psychologischen Gehalten und Funktionen, in ihrer Kommunizierbarkeit gesehen. Erweitert wird dieses Modell - eingebettet in eine begrenzte Empirie — von Bausinger. In einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Stereotypentheorie fragt Bausinger nach dem Wechselverhältnis von beobachteter Wirklichkeit - hier verstanden als Alltagsphänomene oder anthropologische Gegebenheiten - und Stereotypie. Er sieht in diesem Verhältnis weniger Prozesse der Fehlwahrnehmung, spricht im Gegenteil dem Subjekt das Recht auf seine subjektive Wahrnehmung zu. Stereotype werden von Bausinger (ähnlich wie Vorurteile bei Picht) verstanden als „unkritische Verallgemeinerungen, die gegen Überprüfung abgeschottet, gegen Veränderungen relativ resistent sind. Stereotyp ist der wissenschaftliche Begriff für eine unwissenschaftliche Einstellung" (Bausinger 1988, 160). Die Mängel dieser Form der nicht-reflexiven Wahrnehmung und Verarbeitung der Außenwelt werden auch hier als solche aner-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

kannt: Übergeneralisierung, Erstarrung, Immunisierung bleiben problematische sozialpsychologische Mechanismen des Alltagsbewusstseins und der Wahrnehmung. Sie, d. h. Stereotype allgemein, haben für Bausinger jedoch durchaus auch ,positive' Elemente: (1) Stereotypen sei ein relativer Wahrheitsgehalt beizumessen, (2) Stereotype könnten als Ordnungskategorien gesehen werden, die Komplexität reduzieren und somit eine wichtige Orientierungsfunktion für das Subjekt besitzen, (3) sie böten Identifikationsmöglichkeiten an, Stereotype hätten so auch eine „realitätsstiftende Wirkung" (Bausinger 1988,161). Mit diesem Paradigmenwechsel, mit der Anerkennung der Komplexität einerseits und der Enttabuisierung sowie Entmoralisierung andererseits, werden - wie dies auch von Picht und Bausinger aufgezeigt wird — Stereotype und Fremdbilder selbst zu einem Unterrichtsgegenstand. Das Ziel ist nun nicht mehr Vermeidung und Eliminierung; Stereotype, so Bausinger, „sind aufzuheben (...) im dreifachen Sinne: Sie sollen beseitigt werden, aber auch aufbewahrt und auf eine höhere Stufe gehoben. Diese höhere Stufe ist dann erreicht, wenn ihnen mehr Komplexität zugeführt, wenn sie relativiert und erklärt werden" (Bausinger 1988, 168f.). Diese Forderungen scheinen, wenigstens partiell, in der Unterrichtspraxis und in der Lehrwerksentwicklung rasch aufgenommen worden zu sein. „Sichtwechsel" (Bachmann u. a. 1995/96) kündigt ζ. B. schon im Titel an, dass kulturell geprägte soziale Phönomene nicht nur zum Unterrichtsgegenstand gemacht werden, sondern auch interkulturell überprüft und thematisiert, in der Folge davon dann überwunden werden sollen. Das kontrastiv ausgerichtete deutsch-amerikanische Landeskundelehrwerk „Typisch deutsch?" (BehalThomsen/Mog/Lundquist-Mog 1993) nutzt die Thematisierung von gegenseitiger Wahrnehmung und Aspekten der zwischenkulturellen Beziehungen didaktisch als Einstieg in eine weitgehende mentalitätsgeschichtliche Aufarbeitung landeskundlicher Themenkomplexe. Einmal enttabuisiert, werden Stereotype nunmehr aber auch unkritisch zum Unterrichtsgegenstand ohne weitergehende Zielsetzung erhoben. So konstatiert Steinmann unter Berufung auf Bausinger: „Sind doch die Vorurteile schon im Unterricht mit Sprachanfängern das Material überhaupt, das wie

1173

119. Fremdbilder und Fremdwahrnehmung

selbstverständlich zur Verfügung steht, zur Kommunikation anregt und sprechmotivierend wirkt" (Steinmann 1992, 218). Am Beispiel der Darstellung des Islam in deutschen Medien entwickelt Steinmann, ausgehend von einem im Kern antipädagogischen Bild des Lehrers, der durch seinen „belehrende(n) Habitus des Mitteleuropäers ..." (Steinmann 1992,220) gekennzeichnet sei, sein Unterrichtskonzept eines „fruchtbaren Austausche von Vorurteilen". Gestützt auf nicht mehr als „meine Erfahrungen im Unterricht" (Steinmann 1992,222) kommt er zum Schluss: „Vorurteile sind — wegen ihrer Implizitheit — dabei zum einen gute Vehikel für die Spracharbeit, zum anderen unverzichtbar für die sensibilisierende Analyse von Kommunikations- und Argumentationsstrukturen in Alltagsgesprächen der Zielkultur und in interkulturellen Gesprächsverläufen" (Steinmann 1992, 223). Die polemische Einebnung des Postulats nach einer möglichst vorurteilsfreien interkulturellen Kommunikation (vgl. Götze 1993) als Voraussetzung zu dieser und dem Postulat der Berücksichtigung von Stereotypen als Erkenntnismittel im Unterricht zeigt die gesamte Crux eines theoretisch wie empirisch kaum fundierten Problembereichs des Fachs. Gleichsam als Gegenpol zu diesem Umgang mit Stereotypen, die durch die Anerkennung ihrer alltagspragmatischen und psychologischen Funktionsmechanismen auch weiterhin eine interkulturelle Kommunikation bewusst oder unbewusst beeinflussen und oft genug auch belasten, finden sich in der Fachdiskussion nach wie vor stark moralisierende Gegenpositionen, die ihrerseits pädagogische Postulate aufstellen, die die „Natur des Vorurteils" außer Acht lassen. Unter Berufung auf Katz und Braly (1933) definiert Doyé (1993) Stereotype als kognitive und Vorurteile als affektive Komponenten von Einstellungen gegenüber nationalen, regionalen, religiösen (usw.) Gruppen. Dieser Ansatz übersieht die weitgehende Aufhebung dieses schematischen Gegensatzes in fast der gesamten sozialpsychologischen Stereotypenforschung der letzten 50 Jahre (und auch schon Lippmann hatte 1922 anders argumentiert), er beruft sich auch gerade auf jene empirischen Eigenschaftsverfahren, die von Picht u. a. als stereotypgenerierend und damit unbrauchbar zurückgewiesen wurden. Die auf dem Essener Kongress der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung

1991 gestellte Frage „Fremdsprachenunterricht ohne Stereotypen?" wird von Doyé eindeutig mit einem pädagogischen Postulat der Vermeidung und des „Abbaus" beantwortet: „Trotz der möglichen Hilfe bei der (vorläufigen) Groborientierung sind Stereotypen wegen ihres fehlenden Wahrheitsgehalts gefahrlich, und deshalb müssen Lehrer versuchen, ihren Schülern diese Gefährlichkeit vor Augen zu führen und sie bei der Abkehr von stereotypem Denken zu unterstützen" (Doyé 1993, 267). Erreicht werden soll dieser Abbau durch eine Reihe pädagogischer Maßnahmen, die allesamt in ihrer Wirksamkeit umstritten sind: „gründliche direkte Information", also kognitive Aufklärung. Aufgabe des Lehrers sei es, durch nicht näher bestimmtes „logisch geschicktes Arrangement" Stereotype zu „subversieren", d.h. aufzulösen und ad absurdum zu führen. Um die mangelhafte Wirkung kognitiver Aufklärung zu ergänzen, schlägt Doyé „die direkte Begegnung mit jungen Menschen anderer Kulturen" und grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit vor oder Schülerkorrespondenz bzw. Klassenfahrten ins Land der Zielsprache (Doyé 1993, 273flf.). Die verstreute und oft aus der sehr begrenzten Perspektive der Unterrichtspraxis in einem fremden Land motivierte Beschäftigung mit dem Thema Stereotype, die kaum zu beobachtende interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Forschenden aus sozial- oder kulturwissenschaftlichen Fächern führt dazu, dass die Überlegungen im Fach Deutsch als Fremdsprache in vielen Fällen allzu elektizistisch und theoretisch wenig fundiert sind. Die an sich berechtigten pädagogischen Anforderungen tun ein Weiteres, damit Stereotype nach wie vor als diffuser Störfaktor gesehen werden, den es anzuschalten gilt.

4.

Empirische Untersuchungen

Empirische Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen stereotypen Vorstellungen bei unterschiedlichen Lernergruppen sowie den diesbezüglichen Anforderungen und Möglichkeiten des Unterrichts liegen bis heute nur in Ansätzen vor. Sofern Fremdbilder behandelt werden, handelt es sich in der Regel um Einzelbeobachtungen von Fremdsprachenlehrenden, die in Form von Erfahrungsberichten ihre meist im Ausland gemachten Beobachtungen aufzeichnen. Vereinzelt werden sozialwissenschaftliche oder

1174

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

sozialpsychologische Studien zum Deutschland- und Deutschenbild von Ausländern herangezogen, wie etwa in den Untersuchungen von Koch-Hillebrecht zum Deutschenbild allgemein (1977), Stapf/Stroebe/Jonas zum Deutschlandbild amerikanischer Studenten (1986) oder Trautmann (1991) und natürlich auch in vielen in der Presse publizierten Studien. Soweit empirische Untersuchungen durchgeführt wurden, scheint ihre Reichweite und Aussagekraft jeweils äußerst begrenzt. Die vergleichsweise umfangreiche und methodisch sorgfaltige Studie von Koreik (1995) bei ausländischen Deutschlernern über deren (stereotype) Geschichtskenntnisse erbrachte gegenüber der Vergleichsgruppe von deutschen Schülern nur geringe Abweichungen (Koreik 1995, 122). Die Ergebnisse über klassische Eigenschaftszuschreibungen zeigen, dass ausländische Deutschlernende einerseits an (vorgegebenen) traditionellen Topoi festhalten — auch dort, wo die deutsche Selbsteinschätzung geradezu konträr ist (ehrgeizig, arrogant) - , dass nicht wenige jedoch dabei offensichtliche Skrupel haben, sich hierzu zu äußern (was sich nicht nur in einer nennenswerten Verweigerungsquote offenbart, sondern teilweise auch explizit formuliert wurde; vgl. Koreik 1995, 109ff.). Was Koreik selbstkritisch formuliert, dass die relevante Frage nach den Einflüssen spezieller Lehrwerke mittels solcher Studien nicht zu erheben sei, scheint ebenso bedenkenswert wie seine Schlussfolgerungen für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache allgemein und Landeskunde speziell: „Eine einseitige Betonung interkulturellen Lernens mit dem vorrangigen Ziel, sich und andere besser verstehen zu können, wird ohne angemessenes Wissen allenfalls zu einem netten Miteinander führen, bei dem man lernt, Mißverständnisse zu erahnen und mit Strategien anzugehen. Das ist schon viel! Es führt zu Verständnis, Verstehen ist aber mehr und bedarf der Kenntnis." (Koreik 1995, 194)

5.

Fremdbild-Konzept für das Fach Deutsch als Fremdsprache

Kennzeichnend für die meisten theoretischen Ansätze zu Stereotypen und Vorurteilen im Fach Deutsch als Fremdsprache ist eine Betonung sehr allgemeiner sozialpsychologischer Phänomene und die Orientierung an klassischen sozialpsychologischen Studien bzw. im Falle des Deutschlandbildes ausländischer Deutschlerner an Ergebnissen einer metho-

disch problematischen Umfrageforschung. Nicht zuletzt auf Grund der Wahl dieser Zugänge bleibt ihr Aussagewert vergleichsweise gering. Um es pointiert zu fassen: Die Amerikaner, die Afrikaner, die Polen etc. haben kein jeweils so homogenes Bild, dass sich daraus sprach- und landeskundedidaktische Schlüsse ziehen ließen, ganz abgesehen davon, dass diese Stereotype eben abstrakte Forschungskonstrukte, Produkte spezifischer sozialwissenschaftlicher Methodiken sind. Aus diesem Grunde wird hier nun eine um eine kulturelle und vor allem individualpsychologische Dimension erweiterte Konzeption von Fremdbildern vorgeschlagen, die das Subjekt selbst berücksichtigt und nicht unter vorwiegend nationalkulturell definierte Großgruppen subsumiert. Zu fragen ist dabei nach der kollektiven wie individuellen Genese von Bildern, nach den sozialen und kulturellen Bedingungen des Bilderwerbs, nach den kultur- und gruppenspezifischen Bedingungen der Fremdwahrnehmung, nach der sozialen und kulturellen Ausprägung von Bildern, ihrer Konsistenz und ihrer individuellen wie kollektiven Funktion (vgl. hierzu und zum Folgenden Mog/Althaus 1992). 5.1. Genese und Tradierung von Fremdbildern Die „Bestimmung des Charakters einer Person nach ihrem Herkunftsland" gewinnt im Übergang zur Neuzeit eine immer größere Bedeutung (Stanzel 1997, 19). Traditionelle, meist sozial geprägte Charakter- oder Verhaltenstypen, werden ethnisiert, formen sich in der langen Epoche des „Nationbuilding", zu Nationalcharakteren. Die Quellen dieser Auto- und Heterostereotypen sind ganz unterschiedliche, teils weit zurückreichende Wahrnehmungsmuster, die auf die christliche Morallehre (Sieben Todsünden) ebenso rekurrieren wie auf die antike Vorstellung vom Barbaren, auf vormoderne Wissenschaftskonzepte wie die Humoral- oder Klimazonenlehre (vgl. Stanzel 1997). Tradiert werden solche ethnisch-nationalen Charaktertypen (erstmals in nuce in den Eigenschaftslisten der Völkertafeln des 18. Jhs.) über bildliche und schriftliche Medien: Reiseberichte und ethnographische Literatur ebenso wie (Typen-)Komödien oder Malerei etc. Fremdbilder „sind notwendigerweise immer um Grade stereotyper" als Bilder von der eigenen Gesellschaft, „d.h. das Ausmaß der ihnen zugrundeliegenden Verallgemeinerungen ist größer als beim Selbstbild, bei dem

119. Fremdbilder und Fremdwahrnehmung

ja immer die autoptische Erfahrung des Beobachters an seiner unmittelbaren heimatlichen Umgebung zumindest partiell und lokal als Korrektiv gegen die Verallgemeinerung wirksam wird. Räumliche Distanz und Grad der Fremdheit sind also als Parameter der Stereotypie zu berücksichtigen" (Stanzel 1997, 33). Hinter dieser historisch-literarischen Dimension macht Stanzel auch eine psychologische aus: Stereotype, Fremdbilder lassen „zwei konträre Manifestationen eines psychischen Grundmusters, nämlich der Unsicherheit über die eigene Identität, erkennen: Aversion gegenüber und Furcht vor dem Fremden, Xenophobie, und Überzeugung von der eigenen moralischen Überlegenheit, Ethnozentrik" (Stanzel 1997, 33). Dieser literaturwissenschaftlichen und geistesgeschichtlichen Analyse von Fremdbildern entsprechen zwei weitere Ansätze, die über die Genese von Fremdbildern und deren Tradierung Auskunft geben können. Stereotype sind nicht, wie das immer wieder den pädagogischen Konzepten zu Grunde gelegt wird, kognitive Defizite oder affektive Mangelerscheinungen. Vielmehr sind sie lange tradierte sozialkulturelle Muster der Wahrnehmung, denen zudem die genannten psychologischen und sozialen Funktionen der Orientierung im Alltag durch Reduktion von Komplexität, Entlastung oder Strukturierung von fremden Sachverhalten eignen. Die Überlegungen zum „kollektiven Gedächtnis" von Maurice Halbwachs (1985) und darauf aufbauend zum „kulturellen Gedächtnis" der Forschergruppe um Jan und Aleida Assmann (1988; 1991) können die Frage der Genese von Fremdbildern weiter klären. A. Assmann wie auch Weinrich (1964) gehen davon aus, dass — metaphorisch gesprochen — Gedächtnis sich in Form eines „Magazins", eines Raumes also, manifestiere. Soziale Kommunikation etwa, wie bei Halbwachs, oder künstlerische Objektivationen, wie bei Warburg, speichern und tradieren Erinnerung, die mit dem Gedächtnis ein Begriffspaar bildet, wonach (alltagssprachlich) unter Erinnerung der „akute Vorgang des Einprägens und Rückrufens spezifischer Inhalte" zu verstehen wäre, unter Gedächtnis eine „virtuelle Fähigkeit", ein „organisches Substrat" (A. Assmann 1991, 14). Wie in einem Magazin, einem „Archiv" (J. Assmann 1988), sind im kommunikativen Gedächtnis alltägliche, im kulturellen Gedächtnis alltagsferne Wissensbestände aufbe-

1175 wahrt. Erinnerung nun wird durch Riten, Feste, kulturelle Objektivationen (Bilder, Texte) wach gehalten und aktualisiert. Das kulturelle Gedächtnis, so J. Assmann, „existiert in zwei Modi: einmal im Modus der Potentialität als Archiv, als Totalhorizont angesammelter Texte, Bilder und Handlungsmuster, und zum zweiten im Modus der Aktualität, als der von einer jeweiligen Gegenwart aus aktualisierte und perspektivierte Bestand an objektivem Sinn" (J. Assmann 1988, 13). Aus diesem Reservoir speisen sich also Fremd- (und Selbst-)Bilder, sie sind von enormer historischer Dauer und werden als komplexe Muster weitergegeben, nicht als simple Eigenschaftszuschreibungen in quasi atomisierter Form. Für die konkrete Aktualisierung solcher Erfahrungssedimente ist von entscheidender Bedeutung, dass dies von unterschiedlichen Individuen oder sozialen Gruppen in unterschiedlicher Weise, zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Zielen geschieht. Während das „Archiv" als solches relativ stark fixiert ist, wird der Rückgriff darauf jeweils aktuell perspektiviert. 5.2. Wahrnehmungsmuster Fremde und Fremdes werden in tradierten, sozial und kulturell vermittelten Mustern wahrgenommen. Dabei spielt die direkte wie die mediale Kommunikation in spezifischen sozialen Feldern, Gruppen, Milieus eine ebenso große Rolle wie psychische Mechanismen. Offenheit gegenüber dem oder Abwehr des Fremden entscheidet sich entlang zweier Grundlinien: Xenophobie oder Faszination am Fremden werden sozial als Habitus (im Sinne Bourdieus) vermittelt, d.h., sie sind normativ bestimmt als grundlegende politische, soziale, ethische, religiöse Einstellung vorhanden. Und sie sind psychologisch determiniert, bilden sich in der psychischen Entwicklung des Individuums — sicher nicht ohne kulturelle Überformungen — aus. Die Ethnopsychoanalyse, insbesondere Erdheim, sieht hierin die Wurzeln des Verhältnisses zum Fremden. Ausgehend von der Beobachtung, dass die erste Erfahrung des Fremden in der frühkindlichen Phase angstauslösend ist, wobei (in traditionellen europäischen Familien) alles fremd ist, was Nicht-Mutter, genauer: nicht Mutterrepräsentanz, ist und die Vaterrepräsentanz als erste Kulturimago erscheint, ist anzunehmen, dass die „Repräsentanz des Fremden ebenso entwicklungsfähig oder stagnierend sein kann wie diejenigen von Mutter und Vater; sie kann — kontami-

1176 niert von den elterlichen Repräsentanzen — die archaischen Züge behalten, die wir in vielen Feindbildern erkennen können, oder sie reift mit der Ich-Entwicklung heran zu einem das Interesse und die Neugier wachhaltenden Moment des Lebens" (Erdheim 1988, 240). Fremdes kann demnach in zwei prototypischen Formen wahrgenommen und erlebt werden: angstauslösend oder faszinierend, als Bedrohung oder Faszination, wobei diese Erfahrung keineswegs immer der Ratio oder Reflexion zugänglich ist und beide als komplementäre Anteile zu begreifen sind. Auf die Praxis der Fremdbilder übertragen heißt dies jedoch, dass eine (moralische) Trennung zwischen „richtigen", d.h. positiven, und „falschen", d.h. negativen Fremdbildern oder Stereotypen ohne jede Berechtigung ist. Angst und daraus folgende Abwehr haben subjektiv ebenso einen Sinn wie Faszination und daraus folgende Öffnung. Projektiv können beide Bilder sein, wie etwa die Vorstellung vom „edlen Wilden" zeigt, der offensichtlich die Angstschwelle des Europäers nicht überschritten hat und der als Objekt kultureller, politischer, sozialer (und meist auch sexueller) Projektionen dient. In beiden Fällen, Xenophobie und Fremdenfaszination, finden sich die Elemente, aus denen das Fremdbild zusammengesetzt wird, nicht im Objekt (dem Fremden), sondern im Subjekt (dem Individuum). Hier liegt einer der entscheidenden Gründe für die Resistenz von Stereotypen und Vorurteilen gegen Aufklärung. In der pädagogischen Praxis kann daraus jedoch keineswegs der Schluss gezogen werden, Stereotype ließen sich nicht verändern, müssten hingenommen werden und dienten (wie gezeigt) nur der Kommunikation im Unterricht, bildeten letztlich einen beliebigen Sprechanlass. Was sozialisatorisch erworben wurde, mag nur schwer veränderbar sein, aber wie Elternbilder nicht unverrückbar sind, sind es die damit verwandten Fremdbilder auch nicht. 5.3. Kultur- und Gruppenspezifik, Funktionen von Fremdbildern Als Sozialisationsprodukt ist das Verhältnis von Individuen zum Fremden in kulturelle und soziale Strukturen eingebettet. Auch innerpsychische Mechanismen und Entwicklungen folgen kulturtypischen Mustern, sind sozial und kulturell vermittelt. Die unbewussten Reaktionsweisen in der Begegnung mit dem Fremden, die affektiven Anteile, die psychischen Mechanismen wie Projektionen, Ge-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

genübertragungen, Angst, Abwehr, Faszination etc. stellen mithin nichts anderes dar als eine offene Matrix, die von einer spezifischen, gesellschaftlich vorgeprägten Bildersprache gefüllt wird. Man bedient sich, keineswegs nur unbewusst, vorgefundener, zunehmend medial vermittelter Bilder. Auch hier gilt, dass Positiv- wie Negativäußerungen strukturell gleich sind. Gebunden an das soziale Gedächtnis einzelner Gruppen werden komplexe Vorstellungen von anderen Ländern, sozialen Gruppen, Gegenständen etc. übermittelt, perspektiviert und in das eigene Sinnsystem integriert. Familienmythologien, Informationsversatzstücke, Wunschbilder bis hin zu Urlaubserinnerungen oder Musikvorlieben werden im Laufe der Sozialisation nur als bedingt zusammenhängende Bildelemente angesammelt, die komplexe Fremdbilder formen und perspektivieren können, die Dispositionen schaffen. Der „Besitz" von Fremdbildern ist Teil eines umfassenden Habitus, also inkorporiert. Äußerungen über Fremde und Fremdes, die Integration in den eigenen Lebensstil oder die Abgrenzung davon, folgt - darin der Geschmacksbildung vergleichbar — schicht- und gruppenspezifischen Mustern und hat entsprechende Funktionen. Die zentrale Frage der sozialpsychologischen Stereotypenforschung lautet: Wie kongruent oder inkongruent sind Äußerungen über Fremdes mit der Wirklichkeit? Indem sich Wirklichkeit jedoch erst aus der Erfahrung der Subjekte und gesellschaftlichen Gruppen, aus ihrer Kommunikation, konstituiert und damit ein sich wandelndes Konstrukt darstellt (Berger/Luckmann 1967/ 1977), muss die Fragerichtung umgekehrt werden. Entscheidend ist nicht die Distanz zu einer normativ festgelegten Wirklichkeit, sondern die psychologische, soziale, kulturelle Funktion der Bilder für das Individuum bzw. für die Gruppe, der das Individuum angehört. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um nationalkulturelle Stereotypen handelt. Nicht der Wahrheitsgehalt der zugeschriebenen (und meist auf der Übertragung sozialer auf ethnischer Komponenten beruhenden) Stereotype ist entscheidend. Entscheidend sind ζ. B. die identitätsstabilisierenden Funktionen dieser Fremdbilder, sei es für die Nation als ganze, die sich mittels Diskriminierung anderer selbst erhöht, sei es in der Faszination an der Exotik, die individuell unterdrückte Wünsche in den anderen projiziert (vice

versa).

1177

119. Fremdbilder und Fremdwahrnehmung

6.

Schlussfolgerungen für den Unterricht Deutsch als Fremdsprache

Solche hier nur angedeuteten Quellen, Erscheinungsformen und Funktionen von Fremdbildern sind nicht unmittelbar auf die Unterrichtspraxis, die Konzeption von Lehrwerken oder die Formulierung von Unterrichtszielen zu übertragen. Dennoch ergeben sich eine Reihe von praktischen Handlungsmöglichkeiten und Prinzipien. Fremdbilder sind zwar kulturell und sozial verankert, auf Grund ihrer starken psychischen, historischen und sozialen Gebundenheit sind sie jedoch nicht global zu korrigieren. Zu fragen ist jeweils nach individuellen Sozialisationsverläufen, nach individuellem Bilderwerb und nach Funktionen für das Individuum. Fremdbilder entstammen einem weit zurückreichenden „Archiv", dem kulturellen, kommunikativen und sozialen Gedächtnis. Im Modus der Aktualität werden sie jedoch jeweils neu geschaffen, verändert sich ihre gesellschaftliche Funktion, ihre Bedeutung. Insofern unterliegen sie einer starken Abhängigkeit von gesamtgesellschaftlichen Faktoren. Die individuelle Korrektur von Fremd-, d. h. hier auch Feindbildern, ist ohne Berücksichtigung politischer Rahmenbedingungen illusorisch. Gerade politische Umbruchzeiten bewirken immer auch kollektive Umbrüche von Bildern. Dabei zeigt sich, dass das kulturelle Gedächtnis durchaus konträre Bildkomplexe bereithält, die jeweils aktualisiert werden können. Fremdbilder sind sozial als Habitus verankert. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Großgruppen (und in westlichen Industriegesellschaften im Zuge der Individualisierung zunehmend zu einzelnen Milieus oder Szenen) bedingt bestimmte Haltungen und Einstellungen, die kognitiver Korrektur kaum zugänglich sind. Bildveränderungen sind hier untrennbar mit weitergehenden Reflexionen über den eigenen Habitus als inkorporiertem Lebensstil verbunden, sie fordern u.a. eine Reflexion über die eigene Kultur. Fremdbilder haben eine ambivalente Struktur. Faszination und Angst, Offenheit und Abwehr sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Trennlinie verläuft nicht so sehr zwischen ,toleranteren' oder intoleranteren' Gesellschaftsgruppen, sie verläuft in jedem Fall im Individuum. Fremdsprachenunterricht, insofern er zur interkulturellen Kom-

munikation anleitet, hat somit auch die Aufgabe, Angst abzubauen, projektive Faszination zu thematisieren, Handlungsfähigkeiten in und mit der Fremde aufzubauen. Sprachkompetenz und Wissen reichen dazu ebensowenig aus wie Diskretion und Höflichkeit als Prinzipien des Umgangs verschiedener Kulturen. Handlungskompetenz und Wissen sind jedoch unverzichtbare Voraussetzungen. Fremdbilder sind erworben, variabel und in der Interaktion labil. Fremdbilder sind also Veränderungen grundsätzlich zugänglich. Aufklärung allein, Wissen und Sprachkompetenz allein, Austausch und autoptische Anschauung allein bleiben für sich genommen untaugliche Mittel — ebenso wie die fatalistische Annahme, Stereotype seien der Veränderung ohnehin nicht zugänglich, also solle man sie auch nicht korrigieren, kein pädagogisches Konzept ist. Respektierung der tiefen psychischen, sozialen und kulturellen Wurzeln, der Erkenntnis, dass es sich nicht allein um eine falsche Wirklichkeitssicht handelt: Auf diesem Weg ist sicher mehr zu erreichen. Eine pädagogisch motivierte Veränderung stereotyper Haltungen beginnt also in der eigenen Kultur, bei einem selbst, bei den Leitbildern der eigenen sozialen Gruppe, bei Fragen nach dem Habitus. Das ,richtige' Bild vom Fremden ist das Ziel.

7.

Literatur in Auswahl

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(Polen)

1179

120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung

120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung 1. 2.

4.

Kultur, Mentalität, Vergleich Ansätze in der kultur- und mentalitätsvergleichenden Landeskunde Perspektiven einer vergleichenden Kulturund Mentalitätsforschung für Deutsch als Fremdsprache Literatur in Auswahl

1.

Kultur, Mentalität, Vergleich

3.

Die vergleichende

Kultur- und

Mentalitätsfor-

schung weist auf eine lange Tradition zurück. Sowohl die Kultur- als auch die Mentalitätsgeschichte beschäftigen sich mit der Rekonstruktion und Erklärung (vergangenen) menschlichen Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns in allen Lebensbereichen und wenden sich damit gegen eine reine Ereignisforschung, die aus Daten der Geschichte sowie einer anonymen Wirtschaftsund Sozialforschung Rückschlüsse auf räumlich und zeitlich bedingte Lebenszusammenhänge herleiten möchte. Eine vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung beabsichtigt, die inneren Beziehungen, den Zusammenhalt und die Veränderung von Gesellschaft, eines typischen Orientierungssystems (vgl. Thomas 1993, 380), herauszuarbeiten und vergleichend einem weiteren Orientierungssystem gegenüberzustellen. Ein Orientierungssystem wird nach Thomas aus spezifischen Symbolen gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft, Organisation und Gruppe tradiert. „Es beeinflußt das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder und definiert somit deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Kultur als Orientierungssystem strukturiert ein für die sich der Gesellschaft zugehörig fühlenden Individuen spezifisches Handlungsfeld und schafft damit die Voraussetzung zur Entwicklung eigenständiger Formen der Umweltbewältigung [...]. Zentrale Merkmale des kulturspezifischen Orientierungssystems lassen sich als so genannte „Kulturstandards" definieren. Unter Kulturstandards werden alle Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns verstanden, die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich persönlich und andere als normal, selbstverständlich, typisch und verbindlich angesehen werden. Eigenes und fremdes Verhalten wird auf der Grundlage dieser Kulturstandards beurteilt und reguliert" (Thomas 1996, 151).

„Erst im Kontakt mit fremdkulturell sozialisierten Partnern können die Kulturstandards und ihre Wirkungen bemerkt werden", was die Möglichkeit eröffnet, „mit Hilfe der Analyse kritischer Interaktionssituationen Kulturstandards zu identifizieren, ihre Handlungswirksamkeit zu bestimmen sowie Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Kulturstandards im interkulturellen Vergleich festzustellen" (Thomas 1996, 152). Gegenstand eines Vergleichs verschiedener Kulturen bzw. Orientierungssysteme sind elementare Bedürfnisse und Erfahrungsbereiche, die alle Menschen betreffen und unabhängig vom Kulturkreis in jeder Kultur zu finden sind. Diese „Universalien" bzw. elementaren Daseinserfahrungen, die Neuner/ Hunfeld (1983,113; Neuner 1994,23) als anthropologische Grundkategorien wie beispielsweise Geburt und Tod, personale Identität, Leben in einer Familie, Leben in einer größeren politischen Gemeinschaft, Partnerbeziehungen, Wohnen, Umwelt, Arbeiten, Ausbildung/Erziehung, Erholung/Kunst, Versorgung/Konsum, Verkehrsteilnahme/Mobilität, Kommunikation, Gesundheitsfürsorge, Erfahrung von Norm- und Wertsystemen, Erfahrung von Geschichtlichkeit und Erfahrung geistiger und psychischer Dimensionen typisieren, unterscheiden sich in ihren Erscheinungsformen von Kultur zu Kultur ζ. T. erheblich. Die konkreten Ausprägungen der anthropologischen Grundkategorien bestimmen Leben, Denken und Fühlen der Menschen in der Zielkultur und geben als tertium comparationis Inhalte vor, die mit den konkreten Ausprägungen der Ausgangskultur vergleichbar werden (vgl. Zeuner 1997,9). Kulturelle Erscheinungsformen von Objekten, Handlungen, Verhaltensweisen, Ritualen etc., ihre symbolische Bedeutung im soziokulturellen Kontext, verbale und nonverbale Kommunikation als Ausdruck von Kultur werden kulturspezifisch analysiert und vergleichend kontrastiert mit dem Ziel, in der interkulturellen Auseinandersetzung eigenkulturelles und fremdkulturelles Wahrnehmen, Interpretieren, Werten und Handeln zu reflektieren. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung ermöglicht Einblicke in Lebens- und Verhaltensmöglichkeiten der Menschen eines Orientierungssystems im Sinne einer sehr

1180 weit gefassten Kulturauffassung, d.h. in die Werke, Normen, Symbolsysteme einer Gesellschaft, durch die Denken, Einstellungen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen der zu dieser Gesellschaft/diesem Orientierungssystem zugehörigen Individuen geprägt sind (vgl. Litters 1995, 68). Im Vergleich können wesentliche Kultur- bzw. Mentalitätsmuster erschlossen und Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten räumlicher und zeitlicher Kategorien unter Vermeidung von Typisierung (Stereotypenbildung) herausgearbeitet werden. Der Vergleich ist, wie bereits Pauldrach (1992, 12) feststellt, die am weitesten verbreitete Methode einer (interkulturellen) Landeskunde (vgl. Art. 96). Wenn man vom Vergleich in der landeskundlich orientierten Kultur- und Mentalitätsforschung spricht, sollte man berücksichtigen, dass eine Gegenüberstellung im Sinne von Komparation zur Bewertung herausfordert, die in unserer kulturimmanenten Denkweise gründet. Leistung, die in Abgrenzung zu den Anstrengungen der sog. „Anderen" mehr Erfolg erbringt, wie auch immer dieser definiert sein mag, wird in unserer Gesellschaft belohnt und verweist zugleich auf Defizite bzw. Vorteile gegenüber denjenigen, mit denen der Vergleich (zumeist in Konkurrenz) angestrebt wird. Aus diesem Grunde erscheint der Vergleich als Mittel zur Erkenntnisgewinnung mit seiner Konnotation „Bewertung" nur bedingt brauchbar, da verschiedene Orientierungssysteme, wie sie Kulturen darstellen, nie ein und derselben Ebene entstammen können. Mit (verbaler) Sprache und nonverbalem Ausdruck von Kultur wird eine Wirklichkeit vermittelt, welche von den Perspektiven anderer Kulturen u. U. erheblich abweicht und die das Denken, Fühlen, Wahrnehmen etc. des Einzelnen derart prägt, dass dieser nur aus seiner interkulturellen individuellen Sichtweise einen Vergleich herstellen darf, der nie einer „objektiven" Realität entsprechen wird. Wenn Pauldrach den „alltäglichen", „normalen" Vergleich als Methode der Erkenntnisgewinnung kritisiert und aus diesem Grunde das Wissen um die zu vergleichenden Gegenstände voraussetzt, die im interkulturellen Vergleich kontrastiert werden, so muss der Erkenntnis Raum gegeben werden, dass - wie Krusche, Wierlacher und Kristeva (1990) - feststellen, viele Erscheinungen in anderen Kulturen und Mentalitäten nicht vergleichbar und uns daher immer fremd sind, aber auch anziehend bleiben werden (vgl. Pauldrach 1992, 13). Der Vergleich hat vielmehr „seinen Platz am

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

Ende des Verstehens- und Verständigungsprozesses zwischen zwei Gesellschaften und Kulturen" (Pauldrach 1992, 13) als Ziel einer Erkenntnisgewinnung. Die von Thomas übernommene kulturpsychologische Definition von Kultur verweist auf die je nach Forschungsperspektive differierenden Auffassungen von Kultur und Mentalität. Dies wird in der Vielfalt der Kulturdefinitionen deutlich, die von Kroeber/ Kluckhohn in einem groß angelegten Ansatz in ihrem Werk „Culture. A critical Review of Concepts and Definitions" (1952) unter Herausarbeitung von mehr als 150 Definitionen von Kultur nach Schwerpunkten (deskriptiv, historisch, normativ, psychologisch, strukturalistisch, genetisch) klassifiziert wurden (vgl. Greverus 1978, 87). Mit der Gewichtung des interkulturellen Konzeptes gewinnt der Begriff Kultur auch im Deutschen als Fremdsprache, das gerade durch sein Fachverständnis Fremdverstehen und Sprache als Ausdruck von Kultur zur Thematik inhaltlicher Aspekte macht (vgl. Ehlich 1994, 314f.), eine zunehmende Bedeutung, ohne dass in den meisten einschlägigen Publikationen eine deutliche Abgrenzung bzw. Differenzierung erfolgte. Eine befriedigende Lösung eines Konzeptes von Kultur in der Landeskundediskussion der letzten Jahrzehnte als Grundlage einer vergleichenden Kultur- und Mentalitätsforschung scheint gerade am unzureichend definierten und inhaltlich unbestimmten Kulturbegriff zu scheitern. So schreibt Picht, dass die Frage bisher nicht ausreichend geklärt wurde, „wie sich kulturelle Zusammenhänge in Forschung, akademischer Lehre und im Fremdsprachenunterricht erfassen und vermitteln lassen" (Picht 1991, 68). Verfolgt man den Weg des Kulturbegriffs in der Diskussion kulturwissenschaftlicher Forschung, so wird die in Deutsch als Fremdsprache diskutierte Kluft zwischen „traditionellem" und „erweitertem KulturbegrifF' offensichtlich. Der „traditionelle Kulturbegriff', der grundlegend in nachaufklärerischer Zeit entsteht, wird nach Kretzenbacher im Wesentlichen durch drei Dichotomien definiert: Hochkultur versus Massenkultur, Kultur versus Natur und Kultur versus Zivilisation (vgl. Kretzenbacher 1992, 172 f.). Dieser KulturbegrifT, gekennzeichnet durch seine Uneinheitlichkeit, charakterisiert im Großen und Ganzen Kultur als Produkt alles vom Menschen Geschaf-

120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung

fenem, welches durch Gegensätzlichkeit bestimmt ist. Sah man Kultur bis weit in das 20. Jh. hinein als etwas im traditionellen Sinne Absolutes, welches isoliert von der Gesellschaft dem einzelnen Menschen und der menschlichen Gesellschaft mehr oder weniger gegenüberstand, so erfährt der Kulturbegriff in jüngster Zeit unter Rückgriff auf frühere Definitionen, ζ. B. Tylor (1871), eine qualitative Änderung (vgl. Kretzenbacher 1992, 176). Kultur ist nicht mehr Produkt menschlicher Kulturfahigkeit, sondern, wie die unter dem Aspekt der Kulturtätigkeit und Alltagskonstituierung von Kultur bis heute gültige Definition des britischen Ethnologen Tylor (1871) verdeutlicht, vornehmlich menschliches Verhalten: „Culture oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Mitglied seiner Gesellschaft sich angeeignet hat" (Tylor 1871, 1). Mit den für vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung richtungsweisenden Untersuchungen Malinowskis über die südseeischen Trobriander („Argonauts of the Western Pacific") gewinnt die empirisch orientierte Kulturforschung im Sinne von ethnologischer Feldforschung, in der menschliches Verhalten umfassend dargestellt werden soll, zunehmend an Bedeutung, dokumentiert aber andererseits das Scheitern des Versuchs der Ethnologen bzw. Kulturanthropologen, „die Methoden der Erforschung sogenannter, .primitiver Kulturen' zu schwenken und anzuwenden auf [...] vergleichbar entfaltete Kulturen unserer Welt" (Krusche 1996, 71 f.). Die zum Objekt erkorene Gemeinschaft wird als eine in sich geschlossene Wirklichkeit betrachtet, die sie in Realität nie sein kann, da sie sich als Kultur in einem ständigen Austausch, Wandel und Fluss befindet und vielfaltige Beziehungen zu anderen Kulturen pflegt. In Anlehnung an Geertz (1991) nennt Krusche Japan als Fallbeispiel, mit dem sich Benedict, die als extremste Vertreterin des kulturellen Relativismus bezeichnet wird, bereits in den 30er Jahren in ihrem Buch „The Chrysanthemum and the Sword" auseinandersetzte, und das den Zweifel der Ethnologen an einer „reinen" - vom Interesse an sich selbst freien — Erkenntnis einer anderen Kultur dokumentiert. Geertz weist Benedict ein eher am Eigenen als am Anderen orien-

1181 tiertes erkenntnisleitendes Interesse nach (vgl. Geertz 1990, 119). In bewusster Abgrenzung vom „traditionellen KulturbegrifF' und dem häufig damit in Verbindung gebrachten Begriff der „hohen", ästhetisch akzentuierten Kultur nahm der „erweiterte Kulturbegriff' Umweltprobleme, sozialpolitische Themen, Drogenpolitik etc. in sein Begriffsspektrum auf und machte ihn als Teil der „deutschen Kultur" zum Gegenstand der Kulturarbeit im Ausland. Im geistes- und sozialwissenschaftlichen Sinne umfasst der „erweiterte Kulturbegriff" alle Produkte und Tätigkeiten menschlichen Denkens und Handelns, also den gesamten Lebensraum des Menschen, verweist auf Erfahrungen und Regeln, die menschliches Zusammenleben bestimmen (vgl. Goethe-Institut 1995, Einleitung 3), und eröffnet auf der Grundlage dieses holistischen Kulturverständnisses im Kulturvergleich die Möglichkeit, eigenkulturelles und fremdkulturelles Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln umfassend zu kontrastieren, um von dort aus die Haltung der Menschen gegenüber Neuem und Fremdem im Interaktionsprozess positiv zu lenken. Insofern scheint gerade der Blick auf die in den letzten Jahren zum Teil heftig geführte Diskussion um den „erweiterten Kulturbegriff" (vgl. Beirat Deutsch als Fremdsprache des Goethe-Instituts 1992; Bohrer 1992; Götze 1993; Goethe-Institut 1997) von Relevanz für eine vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung zu sein, da zum einen diese nur vor dem Hintergrund eines in allen Aspekten offenen Dialogs erfolgen kann, und zum anderen die Reichweite eines sich verändernden Landeskundebegriffs mitbestimmt. Altmayer fordert in Abgrenzung zu der eher kulturpolitischen Determination einen Begriff, „der ,Kultur' stärker im Menschen selbst als Teil seines Menschseins als Individuum und als soziales Wesen verankert und daher in der Lage ist, übereinstimmende und sich unterscheidende Verhaltens-, Denk-, Empfindungs- und Wahrnehmungsweisen von Menschen und Menschengruppen terminologisch zu fassen" (Altmayer 1997, 5). Der Kulturbegriff ist dahingehend zu präzisieren, dass er auch den Individuen in ihrer Subjektivität und Emotionalität gerecht wird und nicht auf bestimmte kollektive Muster festgelegt ist, ohne dass der Blick für eine überindividuelle Standardisierung von Verhaltens-, Denk-, Empfindungs- und Wahrnehmungsweisen sowie Wertorientierungen verloren

1182 geht (vgl. Hansen 1995, 130 f.). Altmayer geht von verschiedenen Differenzierungen von Kultur aus (vgl. Altmayer 1997, 12f.), die Grundlage kulturwissenschaftlicher Forschung auch im Fach Deutsch als Fremdsprache sein sollten und die einen möglichst umfassenden, hinreichend differenzierten, individuelle wie kollektive Aspekte gleichermaßen integrierenden Kulturbegriff charakterisieren. Einen solchen, inhaltlich gefüllten Terminus eines für Deutsch als Fremdsprache präzisierten Kulturbegriffs sieht er im von Elias in seiner sozialwissenschaftlichen Zivilisationstheorie definierten Begriff des „Sozialen Habitus". Kultur, gleichzusetzen mit „sozialem Habitus", meint die inhaltliche Seite der Selbstzwangapparatur des Menschen, d. h. das „ensemble" der jeweils zu einem bestimmten Zeitpunkt eines Zivilisationsprozesses einer Figuration bestehenden zivilisierten Standards, also der jeweils geltenden Verhaltens-, Denk-, Empfindungs- und Wahrnehmungsweisen sowie Wertorientierungen einer Figuration, die einer „Überlebenseinheit" bzw. Figuration mehr oder weniger gemeinsam sind (vgl. Altmayer 1997, 18). Zugleich beinhaltet der Begriff, dass jeder einzelne Mensch, verschieden wie er von allen anderen ist, ein spezifisches Gepräge an sich trägt, das er mit anderen Angehörigen seiner Gesellschaft teilt" (Elias 1987, 244) und das ihn von Angehörigen einer anderen Gesellschaft bzw. Gruppe unterscheidet. Im Vergleich verschiedener Kulturen werden damit individuelle und soziale Prägung im Kontext des „sozialen Habitus" im Sinne von Elias berücksichtigt. Kultur ist zusammenfassend als etwas Dynamisches, vielfach Differenziertes, Prozesshaftes und Deskriptives, als ein bestimmtes Repertoire an Bedeutungsmustern und Zeichensystemen (Kulturstandards wie Werte, Normen, Bräuche und andere Verhaltensregeln, allgemeine Wissensbestände und Selbstverständlichkeiten' wie Traditionen, Rituale, Glaubensvorstellungen, Mythen usw.) zu verstehen, über das Gruppen, Organisationen oder Gesellschaften verfügen. In ihrer Orientierungsfunktion sind Bedeutungs- und Zeichensysteme immer Veränderungen der Lebensverhältnisse unterworfen, wobei Elemente einer Kultur in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich eingebracht werden („kulturelle Flexibilität") und ein ständiger wechselseitiger Austausch kultureller Informationen zwischen Kulturen stattfindet. Kulturelle Bedeutungsmuster lassen Raum für

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

(umstrittene) Deutungen und Interpretationen. Der Einzelne wird durch die intrakulturellen Bedeutungsmuster beeinflusst, aber nicht völlig dominiert. In diesem individuell stark variierenden Rahmen beeinflusst er seine Umwelt, seinen sozialen Kontext, indem er in ständigem Austausch (historische) Bedeutungsmuster mehr oder weniger verändert (vgl. Christopherson u.a. 1996, 33f.; vgl. auch Auernheimer 1990). In der in diesem Zusammenhang von Bausinger in Anlehnung an Lintons „The Concept of Culture" (Bausinger 1975, 12) vorgenommenen Unterscheidung zwischen objektiver Kultur als Gesamtheit schöpferischer Möglichkeiten, die einer Gesellschaft verfügbar sind, und subjektiver Kultur als der Fähigkeit der Aneignung und Weiterbildung des je individuellen Verhältnisses zur objektiven Kultur, die ein je individuelles Maß ihrer Eroberung und Aneignung anzeigt, spiegelt sich der Versuch wider, auch abweichenden Kulturwerten, Werten, die von „abweichenden" Verhaltensformen ganzer Gruppen in unserer eigenen Gesellschaft — sog. Subkulturen — ständig von Neuem definiert werden (intragesellschaftlicher Kulturbegriff) und die durch die Aktivitäten aller Mitglieder als Mitgestalter der kulturellen Einmaligkeit einer Gruppe geformt werden, ihr eigenes Recht zuzuerkennen und eben damit einem mehr subjektorientierten, vom jeweiligen Angehörigen einer Kultur her zu denkenden, Kulturverständnis den Weg zu bahnen. Wenn sich die bisherige Forschung bevorzugt mit dem Terminus Kultur und weniger mit dem der Mentalität beschäftigte, liegt dies vor allem daran, dass die Grenzen zwischen Kultur- und Mentalitätsforschung eher fließend sind (vgl. auch Art. 119). Während die Kulturforschung wesentlich durch die historische Entwicklung im deutschen und angelsächsischen Raum geprägt wurde, erhält die Mentalitätsforschung ihre Impulse in erster Linie aus dem Forschungskonzept der französischen, von Febvre und Bloch begründeten, „Annales d'histoire économique et sociale". In Anlehnung an die Annales-Forschung wird — abweichend vom traditionellen deutschen Sprachgebrauch, der Mentalität als Selbstverständnis oder Ideologie von Mitgliedern einer sozialen Gruppe definiert — Mentalitätsforschung als Kulturforschung verstanden, insofern sie den wertneutralen Blick auf andere, außereuropäische Kulturen wirft und somit die prinzipielle Gleichwertigkeit

1183

120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung

von Kulturen anerkennt (vgl. auch Götze 1992,4). Sie eröffnet einen spezifischen Zugang zum Handeln, Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Werten, den Handlungsorientierungen „des Volkes" (d. h. den seiner sozialen Schichten, die nur selten durch schriftliche Zeugnisse dem Forscher zugänglich sind), die Ausdruck des Verhaltens und der Einstellungen einer bestimmten Figuration (Elias) von Menschen darstellen. Der Bestand dessen, womit eine jeweilige Gesellschaft und deren soziale Gruppen/Schichten sowie deren Individuen stillschweigend rechnet, wird zum Gegenstand der Mentalitätsforschung. Nicht mehr das Handeln der als ,fertig' unterstellten Menschen, sondern der Prozess der Menschwerdung, der „subjektive Faktor" — also der Anteil des Menschen als denkendes, fühlendes, wünschendes Wesen an diesem Prozess (vgl. Raullf 1987, 8) — wird zum Inhalt der Forschung, was u.a. dem lateinischen Wort „mens" als Stamm (Wortwurzel) von Mentalität zu entlehnen ist, dem neben der Bedeutung von Geist und Verstand ebenfalls der Gedanke der Sinnesart, des Gemüts bzw. der Gemütsaffekte zu Grunde liegt. Diese kollektiv beeinflussten individuellen Affekte und Sensibilitäten, der Bereich des Pathos, meinen demnach nicht nur Vorstellungen, Einstellungen und evtl. Regeln, sondern auch im Hinblick auf das Gefühl getönte Orientierungen, die - wie J. Ortega y Gasset schreibt - profunde Selbstverständlichkeiten („Glaubensgewissheiten") des Menschen sind, die er kaum bewusst denkt, die er aber lebt, die er ist (vgl. Ortega y Gasset 1951, 20 f.). Dies grenzt den Bereich der Mentalität gegen den Bereich der Idee bzw. des Ideologischen ab bzw. erweitert ihn, indem er dem Handeln des Einzelnen wie der sozialen Gruppe Sinnhaftigkeit unterstellt, so dass sie umfassend an der gesellschaftlichen Sinnproduktion teilhaben (vgl. Wunder 1990, 73). Die Ideen eines Menschen sind austauschbar, während das Mentale das Unmittelbare des in seinem Ursprung Freiliegende der Person betrifft, und damit nicht nur sein Denken, sondern auch Empfindungen und Verhaltensweisen freilegt, wie Geiger formuliert: „Mentalität ist geistig-seelische Haltung, [...] ist Lebensrichtung, [...] ist [...] eine Atmosphäre" (vgl. Geiger 1932, 77f.). Es stellt sich allerdings mit Raullf die Frage, ob sich Mentalität überhaupt theoretisch fassen lässt, da sie sich nur durch den Filter der symbolischen Praktiken (kognitiver, ethischer und affektiver Art), also im Denken, Fühlen, Handeln materiali-

siert (vgl. Raullf 1987, 11). Dies mag auch ein Grund dafür sein, dass es bis heute keine Theorie der Mentalitäten oder gar des Mentalitätenwandels gibt. Eine mentalitätsorientierte Forschung eröffnet die Möglichkeit zum Dialog zwischen den Kulturen, ausgehend von der Prämisse ihrer prinzipiellen Gleichwertigkeit. Nicht mehr die Sichtweise des (scheinbar überlegenen) Standpunktes einer europäisch-aufklärerisch geprägten Hochkultur im Kontrast zu denjenigen sog. „primitiver" Kulturen, sondern die Einsicht in die Vielfalt kultureller Bedeutungsmuster und Lebensweisen anderer Kulturen wird zur Voraussetzung eines Vergleichs, der im gleichwertigen Austausch, Verständnis, Erkennen, Währnehmen etc. erfolgt. Wenn im Folgenden dennoch primär der Terminus Kultur verwendet wird, geschieht dies immer unter dem Vorbehalt der Beachtung der oben dargestellten Ausführungen zu Mentalität bzw. Mentalitätsforschung, deren Ergebnisse im Wesentlichen der Kulturforschung zugeordnet werden (vgl. Wunder 1990, 66). Wesentliche Muster und Themen der Kultur sind längst übernational geworden, so dass von isolierten oder in sich ruhenden autarken Gebilden nicht mehr die Rede sein kann, sondern ein Austausch auf den verschiedensten Ebenen kultureller und gesellschaftlicher Lebenswirklichkeit stattfindet. Diese Beziehungen können konfliktreicher, aber auch befruchtender Art sein, stellen aber immer einen Bezug zum jeweiligen kulturellen Gepräge einer anderen Kultur her, stehen also in einem dynamischen Austausch mit den vielfältigen, global-kulturellen Einflüssen.

2.

Ansätze in der kultur- und mentalitätsvergleichenden Landeskunde

In der kultur- und mentalitätsvergleichenden Forschung wird die Auseinandersetzung mit Universalien (Neuner 1994), mit Kulturstandards (Thomas 1993), kulturellen Symbolen (Schwerdtfeger 1991) und Bedeutungsmustern unter Wahrnehmung der Schlüsselelemente (Hall 1976) von Zeit und Raum richtungsweisend für einen interkulturellen Dialog, der vor einem u. a. in der aktuellen Diskussion sowohl Subjekt- als auch kollektivorientierten Hintergrund erfolgt und vor

1184 allem in der Fremdsprachendidaktik Implikationen für individuelles interkulturelles Lernen beinhaltet (vgl. Art. 96, Art. 124). Der Begriff eines subjektorientierten Kulturverständnisses, dessen individuelle Komponente im kulturpsychologischen Definitionsversuch von Thomas nur bedingt zu erkennen ist, und einer implizit damit verbundenen Lernerbezogenheit im (landeskundlichen) Unterricht (Krusche wendet sich gegen den Begriff Lernerzentriertheit) schärft die Fähigkeit zu erkenntnishaftem, kommunikativem und wissenschaftlichem Handeln, welches mit besonderen Vorprägungen und damit Vorverständnissen der Lernenden als einer „Position der Differenz" rechnet (vgl. Krusche 1996, 74). Das Erkennen des Anderen, seiner Kultur, geschieht als dynamischer Prozess in der ständigen Interaktion und nicht in Form einer Objektschau, der Analyse der Art des Erkennens, sondern vielmehr in einer kommunikativen Art der Vermittlung als des „Darüber Sprechens". Dies beinhaltet Konsequenzen für einen interkulturellen, lernerbezogenen, subjektorientierten Kulturvergleich (im Unterricht), der den kognitiven Ansatz in der Landeskunde überwindet, wonach systematische Kenntnisse über Kultur und Gesellschaft, also Wissen in Form von Informationsvermittlung aufgebaut werden soll, und kommunikative und kulturelle Kompetenz im Umgang mit fremden Kulturen unter Förderung von Empathie- und Wahrnehmungsfähigkeiten der Lernenden akzentuiert („sich und andere besser verstehen"; Pauldrach 1992, 6). Wahrnehmung, Erkennen und das sich zumindest ansatzweise Hineinversetzen in das Denken, Fühlen, Werten und Handeln des Angehörigen einer anderen Kultur, die Übernahme seiner fremden Perspektive, fördert kulturbezogenes Lernen mit dem Ziel des Fremd-/Kulturverstehens (vgl. Christ 1996, 4; Schinschke 1995, 36f.). Im Austausch wird der Lerner sich der eigenen Perspektive und der fremden Perspektive, der eigenen und der fremden Interessengebundenheit immer wieder bewusst. Für den Fremdsprachenunterricht bedeutet dies die „Einübung in eine perspektivische Betrachtungsweise", in der versucht werden muss, „die Perspektive des jeweils anderen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern sie versuchsweise und zeitweise zu übernehmen" (Christ 1996, 4). Im Gegensatz zum von Christ (1996) und Schinschke (1995) akzentuierten Konzept eines lernerund handlungsorientierten Fremdsprachen-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

unterrichts betont Schwerdtfeger (im Sinne eines mentalitätsorientierten Konzeptes) die Bedeutung individueller Emotionen und Gefühle (vgl. 1.), deren Beziehungen zu kulturellen Symbolen vielfaltig verzahnt sind, und stellt ihr Konzept einer phänomenologischen Philosophie/Landeskunde einem behavioristischen Denkmodell gegenüber („die neunköpfige Schlange Reiz-Reaktions-Lernen des Behaviorismus"; Schwerdtfeger 1991, 241), das nach ihrem Urteil noch weiterhin im Fremdsprachen- und Landeskundeunterricht, der offenbar immer noch von kolonialem Denken (vgl. auch Ihekweazu 1988, 61 f.) durchdrungen scheint, eine große Rolle spielt (vgl. Schwerdtfeger 1991, 239f.). In Abgrenzung zum traditionellen, kognitiv orientierten Landeskundeunterricht, in dem der Mensch eine soziale Umwelt offenbar weitgehend mit Hilfe von Daten und Statistiken wahrnimmt, überzieht das Individuum Mensch seine gesamte Umwelt mit ständig wandelbaren, variablen und flexiblen Sinngebungen und Bedeutungen, mit Symbolen, Zeichen, über die Übereinkunft herrscht, die aber im Sinne eines ethnologischen Symbolbegriffs durch ihre Unfassbarkeit bzw. Üngenauigkeit charakterisiert werden (vgl. Schwerdtfeger 1991, 240; Cassirer 1990,47 f.). Mit der Aufzählung kultureller Symbole (Bedeutungsträger) wie der Sichtweisen von Raum, Zeit, Territorialität, Privatleben und Öffentlichkeit, Arbeit und Kranksein, Trauer, Höflichkeit, Licht, Farben, wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung, Freundschaft, Schweigen etc. entwickelt Schwerdtfeger einen Begriff des kulturellen Symbols, welcher individuelle und soziokulturelle Aspekte verbindet (z. B. Pünktlichkeit, vgl. Schwerdtfeger 242) und den Zusammenhang von Emotionen und kulturellen Symbolen als Bedeutungskomplexe diskursiver Praxis betont (vgl. Schwerdtfeger 1991, 241 f.; vgl. auch Art. 124). Kulturelle Symbole wie zum Beispiel Höflichkeit „sind gegründet, lokal und regional, in herrschende Moralvorstellungen, Werte und Normen. Sie werden zugleich ständig in individuellen Bedeutungszuweisungen in der diskursiven Praxis neu gewichtet. Die Ausrichtung dieser Bedeutungszuweisungen wird durch emotionale Zustände bestimmt [...] Emotionen sind zu allererst die individuellen Sinnzuweisungen, die sich aber in den in der diskursiven Praxis herrschenden Moralvorstellungen, Werten und Normen verbinden und gerichtet sind auf kulturelle Symbole als lokale und regionale Entäußerungen", wobei

120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung

aber auch der umgekehrte Weg einer „Einverleibung" kultureller Symbole möglich ist (Schwerdtfeger 1991, 248 f.). Die Aussagen Schwerdtfegers zu vor allem emotional in Individuen verankerten „kulturellen Symbolen" führen zu der These, dass durch die Einbeziehung kultureller Symbole und deren Bedeutung der Lerner im Fremdsprachen- und Landeskundeunterricht einen ganz persönlichen emotionalen Bezug zur Zielsprache und Zielkultur herstellt. Durch das Lehren kultureller Symbole kann es gelingen, „daß der Einzelne zwar europäische Normen und Werte akzeptiert, er aber zugleich seine spezifischen, persönlichen, lokalen und regionalen Merkmale beibehält" (Schwerdtfeger 1991,249). Kulturelle Symbole und Begriffe wie Pflicht oder Ehre, Anstand oder Mut haben ihre kulturspezifische und individualzentrierte Bedeutung und ändern sowohl in sozialen als auch in räumlich und zeitlichen Distanzen ihre Bewertung, so dass die wechselnden Sinngehalte bei einem gleichbleibenden Gegenstand das eigentlich kulturelle Phänomen darstellen. Um beispielsweise Wohnung und Wohnen in einer Kultur oder im Kulturvergleich vorzustellen, genügt es nicht, die Form zu beschreiben, sondern wir müssen immer den Symbolcharakter in den verschiedenen Bereichen zu analysieren versuchen (vgl. Greverus 1978, 70). Kulturelle Symbole wie die Sichtweise des Raumes und seiner Gestaltung, wie das Bewegen des Individuums als Orientierung im Raum bieten durch kulturvergleichende Aussagen, durch ethnographische Beschreibungen und ethnologische Analysen interkulturelle Vergleichsmöglichkeiten menschlicher Raumaneignung- und Orientierung und drücken das Raumverhalten des Einzelnen oder der Gruppe in unterschiedlichen Kulturen aus. In der kulturell geprägten Raumgestaltung, Raumnutzung und Raumwahrnehmung werden die Aspekte der Identitätsbildung, -bestätigung und -diffusion erkennbar und als Prozess deutlich, der sowohl integrativ als auch segregativ wirksam ist (vgl. Greverus 1978, im.). Hall nennt Kulturunterschiede, die an den beiden Schlüsselelementen („kulturellen Basiskategorien"; vgl. Mog 1996, 586) vergleichender Kulturforschung, den Einstellungen zu Raum und Zeit, sichtbar werden (vgl. Hall 1984, 23). Jede Kultur hat ihre eigene Zeitsprache, ihr Zeitsystem, welche sich im

1185 Lebensrhythmus, in der Einstellung zur Pünktlichkeit, in der Zeiteinteilung manifestieren. Das zweite Schlüsselelement, das Verhältnis zum Raum, wird durch das Bedürfnis eines jeden Individuums nach physischer Abgrenzung in Bezug auf seine Umwelt geprägt (vgl. Hall 1976, 118f.). Das unterschiedliche kulturspezifische Distanzbedürfnis (vgl. auch Thomas 1996, 154f.; zum Distanzmanagement in der interkulturellen Begegnung zwischen Deutschen und Amerikanern) thematisiert Hall in seinen Studien u.a. zur Proxemik im kulturvergleichenden Kontext bei kulturell sich nahe stehenden Nationen wie Deutschland, England und Frankreich und bei Kulturen wie denen Japans und der arabischen Welt (vgl. Hall 1976, 133 f.). Mog/Althaus stellen Aspekte deutscher Raumerfahrung vor, die aus der historisch bedingten territorialen Zersplitterung Deutschlands im 18. Jh. auf eine entsprechende Raumerfahrung der Enge und Kleinräumigkeit schließen lassen, aus der u. a. die territoriale Eingrenzung der Privatsphäre, zum Beispiel die für andere Kulturen oft rätselhafte Umzäunung des Grundstücks oder die räumliche Einteilung bzw. Abgrenzung des Arbeitsplatzes, folgen (vgl. Mog/Althaus 1992, 43 f.). Aus dem Umgang mit den beiden Kategorien Raum und Zeit ergeben sich nach Hall die Dichte der Informationsnetze und die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, wobei kulturspezifische Unterschiede im Kommunikationsstil aus dem jeweiligen Kontextbezug („high context" vs. „low context"), der Summe aller Zusatzinformation, außerhalb der in der expliziten Äußerung enthaltenen Einzelinformation, resultieren (vgl. Litters 1995, 73). Unterschiedliche Kontextbezüge können zu Missverständnissen und Spannungen führen. Indem Schwerdtfeger den Blick auf die jeweils einzelne Person richtet, betont sie in hohem Maße die Prozesshaftigkeit und die situationsabhängige Intentionalität aller Bedeutungszuweisungen. Kulturen und Sprachen können demnach nicht von der Person getrennt, also unabhängig von der je spezifischen Wahrnehmung, verstanden werden (vgl. Hu 1996, 3). Ein Vergleich von Kulturen setzt im Betrachter eine individuelle Wahrnehmung der fremden Kultur voraus, die er vor dem eigenkulturellen Kontext interpretiert und wertet. Die allgemeinen Mechanismen der Informationsaufnahme und -Verarbeitung zeigen, dass diese Wahrnehmung immer selektiv und kreativ auf der Grundlage von

1186 Erfahrungen, Erziehung, Emotionen und aktuellen Ereignissen erfolgt. Wahrnehmung ist in diesem Zusammenhang eine aktive, perspektivische Konstruktion der jeweiligen subjektiven Wirklichkeit des Individuums, die aus den simultan ablaufenden Schritten Wahrnehmung, Interpretation, Bedeutungszuweisung bzw. Auswertung besteht (vgl. Goethe-Institut 1995, Einleitung 11). Diese Schritte erfolgen mit Hilfe von Kategorisierung, Generalisierung und Akzentuierung. Die Vielfalt von Informationen wird zunächst geordnet, wobei wir „von einer Kategorie auf die ihr zugeordneten Objekte und von einem dieser Objekte auf andere Objekte derselben Kategorie schließen" (Christophersen et al. 1996, 106). In einer sich daran anschließenden Akzentuierung wird „bei Objekten, die einer gemeinsamen Kategorie zugeordnet werden, [...] von vornherein eine besondere Einheitlichkeit (Homogenität) hervorgehoben, während bei Objekten, die zu verschiedenen Kategorien gezählt werden, die Unterschiedlichkeit (Heterogenität) betont wird" (Christophersen et al. 1996, 106). In der Akzentuierung von Objekten entsteht im Vergleich von Kulturen ein kulturspezifisch vorgeformtes Gesamtbild der Zielkultur, welches unter Rückgriff auf zum Teil sehr alte Bildbestände auch im „kollektiven kulturellen Gedächtnis" (vgl. Assmann 1988, 9f.) verankert wird, so dass Stereotype oder Schemata erkennbar werden, die bewusst und/oder unbewusst Einfluss auf die Gestaltung und Durchführung interkultureller Kommunikation gewinnen (vgl. Art. 119). Stereotype sind noch keineswegs als affektive Abwertung und Unbegründetheit im Sinne von Vorurteilen zu verstehen, sondern eher zu definieren als kognitive Fixierung und Schematisierung, als ein „vereinfachendes, verallgemeinerndes, stereotypes Urteil" (Duden 1995, 3245). Demnach gibt es nicht den unbeeinflussten, objektiven Blick auf die andere Kultur, sondern Stereotype sind immer „unkritische Verallgemeinerungen, die gegen Überprüfungen abgeschottet, gegen Veränderungen relativ resistent sind". Dabei ist ihnen durchaus ein „relativer Wahrheitsgehalt" zuzusprechen, sie haben eine „Orientierungsfunktion" und bieten „Identifikationsmöglichkeiten" (individuell wie kollektiv), die „realitätsstiftende Wirkung" haben können (Bausinger 1988, 161). Die kognitive und soziale Orientierungsfunktion von Stereotypen wird bei der Ein-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

ordnung von Informationen wirksam, der Generalisierung und Akzentuierung folgen, sie dient also auch der Organisation von Wahrnehmung und deren Interpretation. Vereinfacht gesagt sind Stereotype „Kategorisierungen, die uns helfen, den Uberblick zu behalten" (Schiöder 1994, 110). Bei der Entstehung von Stereotypen und Vorurteilen spielt (verbale und nonverbale) Kommunikation als Informationsaustausch von Personen eine wesentliche Rolle, wobei die Weltperspektive des Individuums wie des Kollektivs vom jeweiligen Code der Gruppe, der alle kulturellen Regeln/Kulturstandards umfasst, gesteuert wird (vgl. Schiöder 1994, 111; Thomas 1996, 152). In der Kommunikation von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen kann es durch die Verwendung differenter Codes vor dem Hintergrund verschiedener Weltperspektiven und Erfahrungen zu Missverständnissen und daraus resultierenden Feindseligkeiten kommen, da ein Vergleich der Kulturen, der Funktion und Wirkungsweisen von Stereotypen bewusst macht, einem berechnenden Verhalten weicht, bei dem der Andere nicht Subjekt, sondern Objekt der Interaktionen ist. Durch die Verwendung unterschiedlicher Perspektiven, aus deren Sichtweisen jeweils das Vorurteil objektiv, rational und begründet erscheint, ergibt sich die Ambivalenz bezüglich seiner Unanfechtbarkeit. Der eigene Standpunkt erscheint als der richtige und manifestiert in dieser subjektiven Sicherheit die Stabilität des Vorurteils. Vorurteile sind demnach vom relativen Standpunkt des Betrachters aus zu verstehen, welcher wiederum durch sein Vorwissen, seine Weltperspektive, geprägt ist. Dies gilt sowohl für den Bereich der sprachlichen Kommunikation wie auch auf dem Feld nonverbaler Phänomene, die kulturspezifische Verhaltens- und Reaktionsweisen des Kommunikationspartners offenbaren, wie zum Beispiel Gestik, Mimik, Körperhaltung und Distanz sowie Gesprächsführung. Ein Kultur- und Mentalitätsvergleich muss Aspekte der Stereotypen- und Vorurteilsforschung, der verbalen und nonverbalen Kommunikation berücksichtigen (vgl. Art. 119). Erkenntnisgewinn in einer vergleichenden Kultur- und Mentalitätsforschung empfiehlt sich vor allem durch die Beachtung zwischenmenschlicher Interaktionen, die sich in sprachlichem (verbalem) und nicht-sprachlichem (nonverbalem) Handeln äußern. Kultur wird einerseits über Sprache, die als Ausdruck der sog. „Lebenswelt", in der sich kul-

120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung

turelles, gesellschaftliches und persönlichkeitsbildendes Wissen widerspiegeln (vgl. Habermas 1981, 147 f.), und andererseits über die vielfältigen Formen nonverbalen Ausdrucks transportiert. In der verbalen interkulturellen

Interaktion

wird deutlich, dass Wörter nie dieselbe Konnotation und Funktion aufweisen, wie es im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu erwarten wäre. Die begleitenden nonverbalen Phänomene wie ζ. B. Kopfnicken beim Bejahen oder Kopfschütteln beim Verneinen einer Frage (vgl. Deutsche und Bulgaren, die jeweils gegensätzlich reagieren), intensives Fragestellen, das als lästig empfunden wird, oder Sprecherwechsel, welcher mit ungewohnt langen Pausen verbunden ist, können als „critical incidents" zu Irritationen beitragen. Des Weiteren sind Begriffe im Bedeutungssystem der jeweiligen Sprache anders vernetzt, d. h., sie haben einen anderen Stellenwert und können daher nur durch ihre Beziehungen zu anderen Begriffen im Kontext erschlossen werden (vgl. Art. 123; 124). Bei der Klärung und Erforschung der Bedeutung von Wörtern lassen sich zwei Ebenen unterscheiden (Goethe-Institut 1995, Einleitung 6f.): Zum einen verbinden sich mit Gegenständen unserer Lebenswirklichkeit konkrete Merkmale, die großenteils unabhängig von kulturellen Besonderheiten existieren (dennotative Bedeutung): Wörter geben den Objekten der Wirklichkeit einen t a rnen'. Zum anderen werden diese Wörter, Objekte, Handlungen etc. in einen kulturspezifischen Kontext bzw. Lebenszusammenhang einer Kultur eingebettet und erhalten dadurch ihre sozial relevante oder konnotative Bedeutung (ζ. Β. ,Tisch' oder ,Schrank': Funktion und verbale Konnotation variieren von Kultur zu Kultur). Sie beinhalten Vorstellungen, die nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern sie (kulturspezifisch) mit einer Deutung versehen (vgl. Hansen 1995, 61): „Bedeutung von Wörtern entsteht also erst durch den jeweiligen Sprachgebrauch einer kulturellen Gruppe zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort" (Goethe-Institut, 1995 Einleitung 14). Anzustreben wäre also ein Vergleich, der insbesondere die soziokulturellen Bedeutungsdimensionen zu erfassen versucht. Mit zunehmender Fremdsprachenkompetenz steigt der Anspruch an die interkulturelle Kompetenz; desto höher ist also die Erwartungshaltung bezüglich eines angemessenen kommunikativen Handelns, da unbewusst ein gemeinsames kulturelles Wissen

1187 unterstellt wird. Kenntnisse über kulturspezifische Orientierungssysteme sind notwendige Voraussetzung für die interkulturelle Verständigung und können vor der Übertragung eigenkulturell geprägter Normen bewahren, wobei allerdings das Wissen über kulturelle Einflussfaktoren das Erkennen individueller Eigenheiten nie behindern darf, sondern immer in der jeweiligen Situation mit dem jeweiligen Gesprächspartner überprüft werden muss (vgl. Litters 1995, 77f.). So stellt Hann (1985, 303) fest, dass gute, sogar sehr gute Kenntnisse der Sprache und der fremden Kultur zwar ganz entscheidend die Distanz der Fremde verringern, „sie überbrücken jedoch nicht Situationen, in denen zwischen ethnisch verschiedenen Kommunikationspartnern eine ,inter-kulturelle' Sprachlosigkeit auftritt. Diese Sprachlosigkeit, die nicht mit mangelndem Sprachvermögen, mangelnder Mitteilungsbereitschaft oder unzureichender Empathie gleichgesetzt werden darf, bleibt als Restbestand von Nicht-Wissen und Nicht-Vertrauen bestehen", wobei der Zeitaspekt biographisch gewachsener und durch sorgfaltige Kontaktpflege intakt gehaltener Beziehungen (bzw. deren Erweiterung und Intensivierung) eine wesentliche Rolle für den Ablauf interkultureller Kommunikation darstellt. Die Fixierung auf die verbale Komponente interpersonaler Kommunikation darf nicht den Blick auf die vielfaltigen Aspekte nonverbaler Phänomene verstellen, die in interkulturellen Begegnungen Kommunikation mitgestalten. Angehörige verschiedener Kulturen werden auf der Basis ihrer spezifischen Symbolsysteme und ihrer Kulturstandards in einer nonverbalen Interaktion immer kulturspezifisch reagieren und handeln, auch wenn es ein universelles Gut an Primäremotionen gibt, die bei jedem Menschen entsprechende Gefühle ausdrücken, und damit prinzipiell verbindende Wirkung haben sollten. Der Umgang mit den Primäremotionen unterscheidet Menschen unterschiedlicher Kulturen voneinander. Für die Erforschung einer Kultur stellt Condon einen Kriterienkatalog auf, aus dem Litters u. a. folgende nonverbale Aspekte nennt (vgl. Litters 1995, 75): Gesten - Gesichtsausdruck — Haltung — Kleidung - Proxemik — Augenkontakt - Artefakte - Graphische Symbole - Gerüche - paralinguale Aspekte — Farbsymbole — Geschmack — Zeitverhältnis.

1188 In einer vergleichenden Studie zum Deutschlandbild der Koreaner und dem Koreanerbild der Deutschen in Südkorea untersuchte Hann (1985) u.a. den Einfluss von Stereotypen auf das Selbst- und Fremdbild einer oder mehrerer koreanischer Gruppen bzw. einer deutschen Gruppe. Dem Versuchsaufbau stellte er eigene Beobachtungen (vorwiegend sprecher-orientiert) voran, die typische, sich in vielen Interaktionssituationen und -abläufen wiederholende (häufig nonverbale) Verhaltens- und Handlungsmuster beschreiben, wobei er im Vergleich drei Bereiche (Diskrepanzen, scheinbare Deckungsbereiche, Deckungsbereiche) unterschied. Diskrepanzen stellte er vor allem bezüglich des erstmaligen Kennenlernens, der rituellen Kommunikation, nonverbalen Kommunikation, Sprecherhaltung oder Kommunikationsstrategien und ethnischen Probleme bei Koreanern und Deutschen fest. Scheinbare Deckungsbereiche betrafen u. a. die offenbar traditionelle Verbundenheit beider Völker, das „gemeinsame" Wirtschaftswunder und die Neigung zu alten Volksliedern. Tatsächliche Deckungsbereiche fanden sich in der deutlichen Unsicherheit der Sprecher beider Nationen (vor allem bei Erstbegegnungen), im Problem interkulturellen Fremdverstehens und im Repertoire an Verteidigungsmöglichkeiten. „Für einen Kulturvergleich wäre also von Interesse, eine Untersuchung des verbalen und nonverbalen und physiologischen Ausdrucks von Emotion wie Freude, Trauer, Angst, Ekel, Scham- und Schuldgefühlen durchzuführen" (Litters 1995, 74f.). Kultur kann also als ein sehr individueller Lernprozess von Symbolen und Bedeutungen unter Rückgriff auf Vorkenntnisse und Vorerfahrungen verstanden werden, der dem Individuum Vorstellungen von Erscheinungen verleiht. „Kultur ist eine sich ständig entwickelte Auffassung von der Welt, die individuell und auch einmalig ist" (Raikkonen 1991,47) und durch ständige Interaktion mit dem jeweiligen Kommunikationspartner im wechselseitigem Austausch geprägt wird. Dieses im Rahmen sozialer Umwelt eher subjektorientierte Verständnis von Kultur wird von Hu mehrfach aufgegriffen und bildet die Grundlage ihres eigenen Konzeptes, in welchem das Individuum zum zentralen Begriff von Kultur wird, ohne dass einer kollektiven Kulturorientierung allgemein fruchtbare Innovationen abgesprochen werden können. In insgesamt 30 narrativen Inter-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

views mit deutschen und taiwanesischen Schülern und Schülerinnen erstellte sie zwischen 1992 und 1995 eine kulturvergleichende Studie zu subjektiven Konzepten des Fremdsprachenlernens, die eine Dichotomisierung von Fremdkultur und Eigenkultur als Denkmodell innerhalb eines interkulturellen Fremdsprachenunterrichts aufzuheben beabsichtigt und sich gegen eine objektivistische Welt- und Kultursicht richtet, die die Gefahr einer totalisierenden und generalisierenden Sichtweise beinhaltet. Gerade ein objektivistischer Begriff von Kultur verfestige stereotype Bilder und akzeptiere damit kulturspezifische Denk- und Handlungsmuster als normative Instanz, ohne die intrakulturelle Vielfalt und Wandelbarkeit sowie die Heterogenität individueller Aneignungs-/Lernmuster zu berücksichtigen. Landeskunde, die über „typisch deutsche" Lebensgewohnheiten informiert, setze sich immer der Gefahr einer Typisierung und Globalisierung intrakultureller Differenzen aus (vgl. Hu 1996, 3). In ihrer subjektorientierten Sichtweise von Kultur versucht Hu vor allem im Rahmen einer Didaktik des Fremdverstehens (vgl. Christ 1996) den identitätsbildenden Prozess von Kultur („Kultur als Fähigkeit zur Sinnstiftung" Hu 1995, 24ff.), „der Versuch der Verortung als Persönlichkeit innerhalb der sozialen Einbettung", in Abhängigkeit von kulturell Typischem (Normen und Werte, die den kategorialen Rahmen für die Selbstsituierung bilden) zu charakterisieren (vgl. Hu 1996, 9). Die Kategorie Kultur spiele bei den Lernern für die Selbst- und Fremddeutung eine wichtige Rolle (vgl. Habermas 1981; Greverus 1978). Gerade der Kulturbegriff wird dazu herangezogen, wenn das Gemeinsame einer als fremd und unbekannt empfundenen Gesellschaft ausgedrückt werden soll oder kulturkontrastiv argumentiert wird. „Die Äußerungen zeigen deutlich, dass nur solche Inhalte für die Schülerinnen und Schüler von tiefergehendem Interesse sind, die sie zu ihrer eigenen Persönlichkeit in Bezug stellen können" (Hu 1995, 32), sie als ganze Person fordern und sowohl kognitiv wie affektiv ansprechen. Mog/Althaus (1992) befürworten in ihrem „Tübinger Modell einer integrativen Deutschlandkunde" dieses subjektive Erleben der fremden Kultur unter dem erfolgreichen Leitbegriff bzw. Globalziel der „interkulturellen Kommunikation" in der Landeskunde, dem sie durchaus Unschärfe und Weiträumigkeit attestieren. Sie wenden sich in Abgrenzung zu

120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung

dem eher im traditionellen Faktenwissen (verhafteten) Landeskundeunterricht dem Begriff der Subjektzentrierung zu, in der die „Erfahrung des Authentischen in Gestalt des fremden Alltagslebens an Reiz und Bedeutung" gewinnt (vgl. Mog/Althaus 1992, 10), und wenden sich im Rahmen neuerer Konzepte des interkulturellen Lernens im kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterricht gegen eine Polarisierung von „hoher Kultur" und „Alltagskultur", die sachlich nicht gerechtfertigt sei. Mog verteidigt den in den letzten Jahren offenbar als Reaktion auf die scheinbare „Uferlosigkeit und Trivialisierung", die mit der „Alltagskultur" in die Landeskunde eingezogen sei, in die Diskussion geratenen „Alltagsbegriff". Dagegen setzt er die „Bewußtmachung" der „Komplexität" des Alltags, der keineswegs in seinen konstituierenden Grundgegebenheiten wie Essen, Trinken, Wohnen, Familie, Arbeit, Freizeit, Standardsituationen der Kommunikation etc. etwas Einfaches unvermittelt Zugängliches sei", sondern sich einem erst im Vergleich „kultureller Basiskategorien" von Raum und Zeit erschließe (Mog 1996, 585f.). In ihrem integrativen Entwurf versuchen Mog/Althaus nicht „das additive Nebeneinander unterschiedlichen Fachwissens" (vgl. Mog 1989, 270; vgl. auch Hansen 1993, 96f.), welches in eine verstärkte Erfahrungsorientierung eingebunden wird, sondern eine Kooperation aller beteiligten Fächer (Empirische Kulturwissenschaft, Germanistik, Anthropologie, Geschichte, Sozialpsychologie etc.) zu erreichen — mit dem Ziel, über die einzelnen Wissenschaften hinweg Verbindungslinien und Zusammenhänge zwischen bestimmten Themengebieten aufzuzeigen. Dies geschieht vor dem Hintergrund kulturkontrastiven Arbeitens und prozesshaften, integrierenden, sprachlichen und interkulturellen Lernens als Verbindung von Sprachund Landeskundeunterricht. Sie befinden sich dabei in einer langen Tradition interdisziplinärer Erforschung von Mentalitäten, die in Ansätzen bereits bei Lamprecht - sein 1909 in Leipzig gegründetes Institut für Kultur· und Universalgeschichte sollte insbesondere dem Vergleich mit anderen Kulturen dienen - , Burckhardt, Dilthey und Warburg anzutreffen ist, und die aus Erkenntnissen der Psychologie, Sozial- und Humanwissenschaften, Kultur- und Ethnoanthropologie etc. vielfältige Impulse (u.a. Lévy-Strauss, Barthes, Bourdieu, Foucault)

1189 zur Erweiterung der Forschungsfelder beigetragen hat. Wesentliche Mentalitätsmuster, wie sie u. a. Schwerdtfeger in Anlehnung an Cassirer formuliert, werden von Mog/Althaus aufgegriffen, als grundlegende Kategorien bzw. transkulturelle Konstanten (Raum- und Zeiterfahrung, z.B. Enge, Kleinräumigkeit und Unterschiedlichkeit deutscher Lebenswelten, das Verhältnis von ,privat' und öffentlich' etc.) dargestellt und lassen Rückschlüsse auf die Beschreibung deutscher Mentalität zu. Eine umfassende Darstellung der Theorie einer Landeskunde wird von ihnen abgelehnt, sie befürworten stattdessen die jeweilige kulturelle Modellierung zentraler „sozialer Figurationen" (Elias) und die Definition prägender Erfahrungs- und Mentalitätsmuster, die sie kulturkontrastiv (insbesondere im Kontrast zu Aspekten amerikanischer Raum- und Zeiterfahrung) vorstellen, und gehen damit den Weg zu einem postulierten Verstehen auch der eigenen Kultur (vgl. Mog/Althaus 1992, 13). Dabei erkennen sie durchaus die Gefahr klischeehafter Stereotypenbildung in einer kulturkontrastiven Vorgehensweise, sehen aber in einer Sensibilisierung für die Relativität von „Wirklichkeit" durch kultur- und subjektbezogene Wahrnehmung einen entscheidenden Vorteil: „Wo Kulturkontraste aufgegriffen werden sollen, sollen sie das Bewußtsein wachhalten, daß eine voraussetzungslose Wahrnehmung weder der fremden noch der eigenen Kultur möglich ist" (Mog/ Althaus 1992, 14). Der am Individuum orientierte Blickwinkel der „Lebensorientierung" wird von Condon in den Kulturvergleich eingeführt. Er unterscheidet zwischen dem „doing-Typus", der seine Identifikation über Beruf bzw. Beschäftigung findet, dem „being-in-becoming-Typus", dessen Einstellung eine Selbstsuche beinhaltet, „die bei vielen Künstlern in der Auseinandersetzung mit der Ästhetik in Opposition zum praktischen Denken zu finden sei" (Litters 1995, 74), und dem „being-orientierten Typus", der in nicht-industrialisierten Ländern vorherrsche. In den oben angeführten, eher subjektzentrierten Kulturkonzepten, sieht Altmayer das Risiko, den Kulturbegriff in strikter Abgrenzung zur objektivistischen Determinierung so weit zu subjektivieren, dass die Möglichkeit vergeben wird, intersubjektive, „soziale, eben ,kulturelle' Phänomene überhaupt noch beschreiben und im Fremdsprachenunterricht

1190

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

zum Gegenstand von Lehr- und Lernprozessen" machen zu können (Altmayer 1997, 11). Aspekte der Intersubjektivität von Verhaltens-, Denk-, Empfindungs- und Wahrnehmungsweisen sowie Wertorientierungen dürfen in einer vergleichenden Kultur- und Mentalitätsforschung nicht völlig vernachlässigt werden. Andererseits: Wird der Versuch unternommen, Verhaltensweisen mit Hilfe kultureller Paradigmen zu erforschen, gerät man leicht in den Verdacht einer reduktionistischen Betrachtungsweise, die mit Attributen ,kultureller Determinismus' oder ,Stereotypisierung' versehen ist. Litters sieht aus diesem Grund in der Kulturauffassung von Carrol, nach der Kultur die Logik ist, nach der ein Individuum mittels Ordnungskriterien (gesellschaftlich vermittelte Größen wie Sprache, Gesten, Erziehungsprinzipien und Werte) die Welt ordnet, keine unvereinbaren Differenzen zwischen Annahme kultureller Prägungsmerkmale und Anerkennung individueller Einflussfaktoren, die in einem individualzentrierten Ansatz sich u. U. den Vorwürfen des Relativismus und Subjektivismus gefallen lassen müssten. Kultur ist für Carrol „zu einem großen Teil aus unhinterfragbaren Prämissen, die stillschweigend eingegangen werden und als ,evidences invisibles' [...] von verschiedenen Mitgliedern einer Gesellschaft geteilt werden". Dies ließe „Raum für jene Vielfältigkeit, die durch die individuelle Aufnahme und Verarbeitung kultureller Orientierungsmuster hervorgerufen wird" (Litters 1995, 69f.).

derer Kulturen bzw. Orientierungssysteme wachsen die Anforderungen sowohl an den Einzelnen als auch an die Gesellschaft, das Fremde in seiner kulturellen Prägung wahrzunehmen, im interkulturellen Dialog Differenzen abzubauen und das Gemeinsame zu fördern, aber auch das Andere zu entdecken und positiv für die Lebenswirklichkeit zu nutzen. Eine vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung bietet im Rahmen einer Landeskunde in Deutsch als Fremdsprache Möglichkeiten, im interkulturellen Vergleich von Universalien, kulturellen Bedeutungsmustern und Zeichensystemen bzw. Symbolen Fremdkulturelles zu erkennen und in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen ein erweitertes Kulturverständnis aufzubauen. In der Praxis bedeutet dies, dass ein Kulturvergleich in der Fremdsprachendidaktik bei einer Gegenüberstellung unterschiedlicher Sichtweisen immer die entsprechenden soziokulturellen Konnotationen mit einbeziehen muss. In der Abstraktion und kritisch reflektierenden Distanz werden sowohl die eigenkulturellen wie auch die fremdkulturellen Kultur- und Mentalitätsmuster deutlich und ermöglichen so durch ihre Transparenz Chancen und Gefahren eines Vergleichs. Kulturvergleich wird damit zu einem ständigen „Balanceakt zwischen Verallgemeinerungen und Differenzierungen", da Einzelbeobachtungen in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden, um von dort aus „Erkenntnisse über die eigene und andere Kultur zu gewinnen" (Goethe-Institut 1995, Einleitung 16 f.).

з.

Mit dem landeskundlichen Vergleich spezifischer Funktionen von Objekten, Wörtern, Handlungen usw. im gesellschaftlichen Kontext werden „funktionale Äquivalenzen" zwischen der eigenen und der „deutschen Kultur" offensichtlich, also Phänomene, „die in zwei verschiedenen Kontexten bzw. Kulturen eine gleiche oder sehr ähnliche Funktion oder (symbolische) Bedeutung haben, die sich aber in ihren Erscheinungsformen unterscheiden" (Goethe-Institut 1995, Einleitung 15; wie ζ. B. bei Begriffen wie ,Café' oder ,Salon de thé') oder in unterschiedlichen Handlungsabläufen in verschiedenen Kulturen ähnliche Funktionen erfüllen, d. h. ein ähnliches kulturelles Bedeutungsfeld erkennbar werden lassen. Sie entwickeln im Rahmen einer interkulturellen Kompetenz eine Kompetenz zur Herstellung von Gemeinsamkeit (communio; vgl. Müller 1993, 69).

Perspektiven einer vergleichenden Kultur- und Mentalitätsforschung für Deutsch als Fremdsprache

Mit der zunehmenden weltweiten Migration, и. a. bedingt durch eine wachsende Destabilisierung der politischen Systeme zu Beginn der neunziger Jahre unseres Jahrhunderts, ethnische und religiöse Spannungen und Konflikte, wirtschaftliches Gefalle zwischen den Staaten der westlichen Welt und der despektierlich als Staaten der sog. „Zweiten", „Dritten" etc. „Welt" bezeichneten Nationen sowie einer globalen Vernetzung, wandelt sich unsere Gesellschaft in vielfältig differenzierte, sich im ständigen Fluss befindliche multikulturell beeinflusste Orientierungssysteme, die in einem Austausch verschiedensten kulturellen Eindrücken ausgesetzt sind (vgl. Art. 121). In Kontakt mit Menschen an-

120. Vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung

Nicht in der Identifikation, sondern in der Vertrautheit und dem Wiedererkennen von Bekanntem liegt die gemeinsame Kulturteilhabe. Dies erfordert nach Zeuner (1997, 5f.) in Anlehnung an Neuner (vgl. 1994, 29 f.) neben Empathiefahigkeit Identitätsbewusstsein und -darstellung, Rollendistanz und eine hohe Ambiguitätstoleranz, die sich in der interkulturellen Kommunikation dadurch auszeichnet, dass der jeweilige Kommunikationspartner bereit ist, Unverständliches, nicht Erklärbares und scheinbar Widersprüchliches als solches zunächst ungeklärt bestehen zu lassen, ohne direkt nach vordergründig offensichtlichen Erklärungen zu suchen. Der Einzelne sollte im kulturellen Vergleich lernen, Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung zu kontrollieren und bewusst einzusetzen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob es innerhalb der Diskussion um das Fach Landeskunde — vielleicht sollte man besser „Kulturkunde" sagen, wie es sich nach Ansicht von Kramsch (vgl. 1991, 106) und Hansen (1993, 95f.) in den angelsächsischen „Cultural Studies" neutraler als im deutschen Wort „Kultur" ausdrücken lässt - , überhaupt den Vergleich geben darf, ob als Mittel zur Erkenntnisgewinnung oder als Endpunkt der Verständigung zwischen zwei Kulturen. Ist nicht der kulturimmanente Standpunkt zugleich immer ein interpretativer, aus dem das Subjekt wie das Kollektiv eine wie auch immer zu wertende Haltung einnimmt, die einer Intention der Öffnung bzw. Offenheit widerspricht? Hier sollte angesetzt werden, will man einer Stereotypen- und Vorurteilsbildung als Ausdruck von Missverständnissen und den daraus resultierenden möglichen Feindseligkeiten als Folge der Nutzung unterschiedlicher Codes in Kommunikation und Interaktion begegnen. Ein Schritt zur Verständigung wäre die Nutzung eines universalen Codes sowie Übersetzungsarbeit, die eine Subjektivierung oder eine Personalisierung nach Ansicht von Schiöder fördern würde, dennoch einen Rückfall in Stereotype und voruteilsreiches Abwehrverhalten nicht immer verhindern könnte (Schiöder 1994, 114). Eine Einordnung in bereits immer verwendete Ordnungsschemata ist offenbar nicht zu verhindern, auch wenn eine Vergleichsebene herangezogen wird, die funktionale Äquivalenzen in den Vergleich mit einbezieht. Wie also ist einem wertenden Kulturvergleich und der damit verbundenen Stereotyp-

1191 und Vorurteilsbildung vorzubeugen, wenn man weiß, dass jedes Subjekt seine eigene persönliche Lebensgeschichte in einem Vergleich mit einbringt? Ist ein Verstehen über kulturelle Grenzen, wie es die interkulturelle Landeskunde fordert, überhaupt möglich? Betrachtet man die Forderung der interkulturellen Landeskunde nach Entwicklung der Wahrnehmungs- und Empathiefahigkeit sowie Strategien zur Bedeutungserschließung und Fertigkeiten im Umgang mit anderen Kulturen (vgl. Müller 1993, 71 f.), so kann eine vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung in der Landeskunde nur vor dem Hintergrund einer Erweiterung des Bewusstseins in Richtung Bereitschaft zur Auseinandersetzung erfolgen, die mit der Grundlage des kritischen Dialogs um eigenkulturelle Erfahrungen einen subjektiven Vergleich anstrebt. So wird der Vergleich nie zu einem neutralen Instrument, sondern ist Ziel und Produkt eines bewussten Aktes der Verständigung und des Verstehens zwischen Individuen verschiedener Kulturen, die vor dem Moment eigenkultureller Wahrnehmung interagieren bzw. miteinander kommunizieren und sich dadurch erkennen — wenn auch weiterhin mit ihnen bewussten Einschränkungen. Im Gegensatz zu Neuner kritisiert Bachmann-Medick (1996) den Vergleich mit anthropologischen „Universalien" (vgl. 1.), die sich einem europäischen Universalitätsanspruch unterordnen, und befürwortet die Assistenz ethnologischer Forschung, die mit „kulturspezifisch höchst unterschiedlichen Vorstellungen von Person, von Gefühl, von kulturellen Schlüsselbegriffen wie religiösen Vorstellungen usw." rechnet (vgl. BachmannMedick 1996, 209f.). Insofern tritt sie ein für eine kulturanthropologische Erweiterung im Rahmen disziplinübergreifender Forschung und Lehre (insbesondere in der vergleichenden Symbol- und Ritualforschung der interpretativen Kulturanthropologie im Sinne von Geertz und Turner), die u.a. als vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung zur durchgreifenden Herausforderung für das Fach Deutsch als Fremdsprache werden kann. Dagegen verweisen Wierlacher/Stötzel in Abgrenzung zu einer eher holistisch vorgehenden Ethnologie auf die vielfaltigen Möglichkeiten von Binnendifferenzierungen, erkennen aber zugleich, dass es „bisher kaum unterstützende Arbeiten in der vergleichenden und empirischen Kulturforschung [...]

1192

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

gibt, die für eine interkulturelle Germanistik hilfreich wären" (Wierlacher/Stötzel 1996, 18). Die vergleichende Kultur- und Mentalitätsforschung ist daher gezwungen, auf die Ergebnisse „fremder" Forschungsfelder zurückzugreifen, was andererseits Chancen eröffnet, Impulse und Innovationen einer interdisziplinären, integrativen Kulturforschung für die Disziplin Deutsch als Fremdsprache zu nutzen. 4.

Literatur in Auswahl

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(Deutschland)

1194

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

121. Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde 1. 2. 3. 4. 5.

1.

Multikulturalität im Spiegel von Wissenschaft und Politik Positionen von Multikulturalität Multikulturalität und Rechtsstaatlichkeit Problematisierung von Multikulturalität als Gegenstand von Landeskunde Literatur in Auswahl

Multikulturalität im Spiegel von Wissenschaft und Politik

Die Frage, ob Multikulturalität eine angemessene Beschreibung unserer gesellschaftlichen Realität darstellt oder eher die Zukunftsvision derer ist, die Multikulturalität — wenn auch aus unterschiedlichen Motiven — ohnehin befürworten, ist seit den späten 60er Jahren Gegenstand heftiger und kontroverser Diskussion in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Bildung — und dies nicht nur in Deutschland, sondern auch in den europäischen Nachbarländern sowie in den USA, Kanada und Australien, also den sogenannten klassischen Einwandererstaaten. Bei diesem Dissens geht es im Wesentlichen um folgende Fragen: Sind wir angesichts der ethnischen und kulturellen Vielfalt unserer Bevölkerung als multikulturelle Gesellschaft hinreichend charakterisiert? Inwieweit ist Multikulturalität ein geeignetes Kriterium, um die Prozesse gesellschaftlichen Wandels, bedingt durch weltweite Migration, Globalisierung, Massentourismus und eine immer bedrohlicher werdende Aufspaltung unserer Gesellschaft in Armut und Reichtum, auch nur annähernd beschreiben zu können? Wer bzw. welche gesellschaftlichen Gruppen haben ein Interesse daran, unsere Gesellschaft als multikulturell zu bezeichnen bzw. dies in Frage zu stellen? Inwieweit ist die multikulturelle Gesellschaft mit der Idee des Vielvölkerstaates (Beispiel: ehemaliges Jugoslawien) oder des melting pot (Beispiel: USA) identisch (Leggewie 1991)? Inwieweit können und sollen internationale Migrationsprozesse grundsätzlich politisch und wirtschaftlich gesteuert werden? Wie könnte und sollte eine Gesellschaft der Zukunft gestaltet werden, in der ein friedliches Miteinander zwischen einheimischer Mehrheit und zugewanderten Minderheiten gesichert ist?

Es liegt auf der Hand, dass die Interpretation gesellschaftlichen Wandels und die Frage, welche politischen Entscheidungen favorisiert werden, nicht „wertneutral" sein können, sondern von sehr unterschiedlichen (gesellschafts-)politischen und wirtschaftlichen Interessen abhängig sind. Der Streit um die Multikulturalität unserer Gesellschaft erhitzt seit mehr als drei Jahrzehnten die Gemüter. Die Emotionalisierung dieser Auseinandersetzung zeigt, dass hier ein „Lebensnerv" getroffen ist, der vor allem in Zeiten des politischen Wahlkampfes zum Thema wird. Multikulturalität lässt sich zunächst auf einer deskriptiven Ebene als ein gesellschaftliches Phänomen beschreiben, das durch MultiNationalität, Multi-Ethnizität und Multi-Lingualität gekennzeichnet ist. Multikulturalität auf einer präskriptiven Ebene beinhaltet dagegen vor allem eine philosophisch-ethische Grundhaltung und ein politisches Programm, das zukunftsorientiert ist, und zwar nicht nur im Hinblick auf gesellschaftliche Prognosen, sondern auch auf einen wünschenswerten und daher anzustrebenden Entwurf eines gesellschaftlichen Ideals. Beide Ebenen, die deskriptive und die präskriptive, lassen sich allerdings in der Realität - selbst im wissenschaftlichen Diskurs — nicht ohne weiteres analytisch voneinander trennen: Bereits in der Wahrnehmung und Beschreibung unserer Gesellschaft als einer multikulturellen liegt schon ein Verständnis von Multikulturalität als einer begrüßenswerten gesellschaftlichen Utopie. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Gegner der multikulturellen Gesellschaft einer „reinen Zustandsbeschreibung" von Multikulturalität nicht zustimmen, selbst wenn diese mit sehr pragmatischen Argumenten vorgetragen wird. Das Kuriose dabei ist, dass Internationalität akzeptiert wird, vor allem, wenn sie mit Globalisierung und Technologieentwicklung einhergeht. Multikulturalität dagegen wird geleugnet und bekämpft, weil diesem Gesellschaftskonzept ein politisches Programm des Teilens und Abgebens von Macht und wirtschaftlichen Ressourcen unterstellt wird und zwar des Teilens mit den Ärmsten dieser Welt, denen nach Auffassung der Gegner von

121. Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde

Multikulturalität die Fähigkeit abgesprochen wird, politische Verantwortung zu übernehmen. 2.

Positionen von Multikulturalität

Die Positionen, die bei der Diskussion um Multikulturalität formuliert werden, lassen sich daher nicht nach einfachen Kategorien wie „fortschrittlich" kontra „traditionell" oder „rechts" versus „links" zuordnen; vielmehr finden wir Befürworter und Gegner von Multikulturalität in allen politischen „Lagern". Mit Axel Schulte wollen wir zunächst drei grundlegende Positionen unterscheiden: 1. Multikulturalität als Bedrohung 2. Multikulturalität als Ideologie 3. Multikulturalität als Chance (Schulte 1992, 95 f.) 2.1. Multikulturalität als Bedrohung Als Bedrohung wird die multikulturelle Gesellschaft von jenen empfunden, die sich explizit oder implizit auf das ius sanguinis beziehen und nicht auf das Territorialrecht, wie es beispielsweise bislang in Frankreich praktiziert und erst in jüngster Zeit durch den wachsenden Druck der Rechtsradikalen um Le Pen abgeschafft wurde. Diese Gruppen befürchten eine „Überflutung unseres Gemeinwesens" und eine „Durchrassung unserer Gesellschaft". Gewarnt wird vor der „Aufgabe unseres christlich-abendländischen Kulturerbes", eine rassistische Sichtweise, die in Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, der Schweiz und in jüngster Zeit sogar in den liberalen Niederlanden und in Dänemark in Stammtischreden und gewalttätigen Aktionen gegen ethnische Minderheiten ihren Ausdruck findet. Offene Diskriminierungen und gewalttätige Ausschreitungen gegen Migranten, Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge sowie gegen behinderte oder alte Menschen haben seit Anfang der 90er Jahre sowohl in den Ländern Westeuropas als auch Osteuropas in erschreckendem Maße zugenommen, vor allem unter Jugendlichen. Die Frage nach den Grenzen der Toleranz und der Ruf nach einer wehrhaften multikulturellen Gesellschaft werden immer lauter. Damit ist bereits das Kardinalproblem einer offenen, pluralistischen Gesellschaft benannt. Als Ursachen für die Eskalation von Gewalt werden begründete oder unbegründete

1195

soziale Ängste und Hass — als Folge der Angst — angenommen. Sehr schnell werden dann biologische bzw. anthropologische Konstanten des „Andersseins", oder des „Fremden" ausgemacht und als Ursache für die Erklärung auftretender Konflikte zwischen divergierenden Normensystemen herangezogen. Dabei wird allerdings häufig übersehen, dass die bestehenden Ängste und die feindlichen Einstellungen ganz wesentlich auf gesellschaftliche Strukturen zurückzuführen sind, die sich sowohl auf Gruppen als auch auf das Individuum auswirken. „Hierzu gehören insbesondere die sich verschärfenden Konkurrenzmechanismen auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt, die Tendenz der Individualisierung, der Mangel an sozialen Infrastrukturen und Vernetzungen im Wohn- und Freizeitbereich sowie unzureichende Möglichkeiten aktiver Gestaltung in verschiedenen Lebensbereichen." (Schulte 1992, 15) Die Fremdenfeindlichkeit derer, die ohnehin schon am Rande der Gesellschaft leben und befürchten müssen, durch die „Fremden" noch weiter ins Abseits gedrängt zu werden, lässt sich eindeutig durch Mangel an gesellschaftlicher Partizipation an Wohlstand, Selbstbestimmung und Teilhabe an politischer Macht erklären. Dieser Rassismus, den Memmi den „Rassismus der Beherrschten" nennt, kann nur überwunden werden, wenn gesellschaftliche Ungerechtigkeit und politische Entmündigung beseitigt werden. Wie aber steht es mit dem „programmatischen" Rassismus und dem geplanten Anti-Multikulturalismus bei Ärzten, Lehrern, Politikern, also bei den Menschen, die erhöhte Zugangschancen zu Bildung, Wohlstand und Macht haben? In dieser Spielart des Rassismus gehen die Verfasser von der aus anthropologisch-historischer Sicht irrigen Auffassung aus, dass es genetisch eine „reine Rasse" gebe, die erhalten werden müsse. In ihrem Buch „Verschieden und doch gleich" entziehen die Genetiker Luca und Francesco Cavalli-Sforza dem Rassismus jegliche ethnologische Grundlage und plädieren für ein social engineering: „Es ist die Aufgabe jeder menschlichen Gemeinschaft, den gefahrlichen Entwicklungen vorzubeugen, die sich aus dem eigenen Potential im Bereich von Ökonomie, Technologie und Wissenschaft ergeben können; Voraussetzung ist, daß wir lernen, sie vorherzusehen und Maßnahmen ergreifen, sie zu verhüten. Nur so wird sich unser Leben friedli-

1196 eher gestalten und von Reichtum und der Vielfalt profitieren, die sich durch eine ausgeglichenere Entwicklung des menschlichen Potentials ergeben." (Cavelli-Sforza 1994, 383f.)

Eine weitere Variante des Rassismus geht davon aus, dass Kulturen nicht nur verschieden sind, sondern auch ungleichwertig. Hier wird zum einen auf kulturelle Standards verwiesen, die ganz unverhohlen eurozentrische oder nordamerikanische Werturteile zum Maßstab aller Dinge erheben: „Der berühmte, Saul Bellow zugeschriebene Ausspruch: ,Wenn die Zulus einen Tolstoi hervorbringen, werden wir ihn lesen' gilt als Paradebeispiel europäischer Arroganz" (Taylor 1993, 33). Ganz in diesem Zeichen stehen Aussagen über die angebliche Grundverschiedenheit und Unversöhnlichkeit zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und Christentum, zwischen der Bevölkerungsdichte Asiens und dem bevölkerungsärmeren Westen. Religion und Sprache als die wichtigsten Schlüssel zu einer Kultur sind — gemäß dieser Theorie — bei Gleichheit oder Ähnlichkeit wichtigster Garant für kulturelle Annäherung und friedlichen Kontakt zwischen verschiedenen Staaten oder Gruppen innerhalb eines Nationalstaats. Aus Ungleichheit oder gar Gegensätzlichkeit resultieren danach tiefgreifende Konflikte, sogar Glaubenskriege. Vom „unausweichlichen Kampf der Kulturen" geht auch der Soziologe Samuel P. Huntington in seinem Buch „The Clash of Civilizations" aus, das nicht nur in den USA, sondern auch in Europa für eine heftige Kontroverse und teilweise unkritische und daher gefahrliche Adaption in den Medien sorgte. Nach seinem Verständnis sind Kulturen grundsätzlich gleichzusetzen mit „ultimativen menschlichen Stämmen, und der Kampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt im Weltmaßstab" (Huntington 1997,331). Die Hauptursachen von Konflikten reduziert Huntington auf unterschiedliche Normenund Wertsysteme von Kulturen bzw. Kulturkreisen, deren Beziehungen er in der Regel als kühl und häufig feindselig einschätzt. Interkulturelle Partnerschaften zwischen Staaten oder konkurrierenden Kulturen sind — seiner Theorie gemäß — die historische Ausnahme und entstehen zweckgebunden und sporadisch, indem sie sich als Wirtschafts- und Militärbündnisse verstehen und dann Substanz erreichen, sobald sie sich gegen einen gemeinsamen dritten Feind richten.

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

Der subtile, programmatische Anti-Multikulturalismus bei Huntington hat seine Wurzeln in einem ungebrochenen Selbstverständnis des amerikanischen Credos, das „Freiheit, Demokratie, Individualismus, Gleichheit vor dem Gesetz, Achtung von Verfassung und Privateigentum" auf seine Fahnen geschrieben hat (Huntington 1997, 502), wobei allerdings zu ergänzen wäre, dass ein wachsender Teil der amerikanischen Bevölkerung diesen „american dream" nicht zu erfüllen imstande ist, nicht etwa aus dem Grunde, dass die civil rights nicht anerkannt und angestrebt würden, sondern weil, bedingt durch soziale und ethnische Herkunft, die Zugangschancen für eine Teilhabe am amerikanischen Traum versagt bleiben. Der protestantisch-calvinistische Hintergrund des amerikanischen Credos lässt die „Abweichler" folglich als Versager oder notorische Nörgler erscheinen. Multikulturalismus ist — aus der Sicht Huntingtons - eine Bedrohung des „weißen" amerikanischen Erbes und der core values der herrschenden Gesellschaft. „Sie (die Multikulturalisten) brandmarkten die" — wie es in einem ihrer Berichte heißt — „systematische Voreingenommenheit zugunsten der europäischen Kultur und ihrer Derivate" im Bildungswesen und „das Vorherrschen der monokulturellen europäisch-amerikanischen Perspektive". Die Multikulturalisten seien, so Arthur M. Schlesinger, „sehr oft ethnozentrische Separatisten, die im Erbe des Westens wenig mehr sehen als die Verbrechen des Westens. [...] Ihnen steht der Sinn danach, die Amerikaner von ihrem sündigen, europäischen Erbe zu befreien und erlösende Infusionen aus nicht westlichen Kulturen anzubringen." (Huntington 1997, 502)

Keinen Zweifel an dem Recht der Überlegenheit der weißen Rasse und des anglo-amerikanischen Kulturguts lässt Huntington, wenn er von der Gefahr der „Indigenisierung" der Welt spricht und das europäische Kulturerbe als heilbringende Alternative dagegen setzt (Huntington 1997, 138 ff.). „Die Ablehnung des Credos und der westlichen Kultur bedeutet das Ende der Vereinigten Staaten von Amerika, wie wir sie gekannt haben. Sie bedeutet praktisch auch das Ende der westlichen Kultur. Wenn die USA entwestlicht werden, reduziert sich der Westen auf Europa und ein paar gering bevölkerte europäische Siedlungsgebiete in Ubersee. Ohne die USA wird der Westen zu einem winzigen, weiter schrumpfenden Teil der Weltbevölkerung auf einer kleinen, unwichtigen Halbinsel am Rande der eurasischen Landmasse. [...] Die Zukunft der USA und die Zukunft des Westens hängen davon ab, daß die Amerikaner ihre Bindung an die westliche Kultur bekräftigen.

121. Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde Innenpolitisch bedeutet das eine Absage an die konfliktstiftenden Sirenengesänge des Multikulturalismus. International bedeutet es die Absage an die schwer faßbaren, illusorischen Forderungen, die USA mit Asien zu identifizieren. [...] Wenn Amerikaner ihre kulturellen Wurzeln suchen, finden sie sie in Europa." (Huntington 1997, 504f.)

Verwirrend ist die Vermischung der Argumente Huntingtons: Unverhohlener Rassismus - der auch in seiner Sprachwahl zum Ausdruck kommt — steht neben seinem Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit, die „Dynamik von Bruchlinienkriegen" als Konsequenz von Kulturkonflikten neben seiner Forderung der „Nichteinmischung", das Heraufbeschwören einer „Indigenisierungsgefahr der Welt" neben der Kritik am Werteverfall der westlichen Kultur. Die Widersprüchlichkeit seiner Argumentation und die Tatsache, dass die seit Jahrhunderten bestehende Einwanderersituation der USA sich nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen lässt, haben allerdings zahlreiche Medien in Deutschland dazu veranlasst, von einem „Scheitern der multikulturellen Gesellschaft" zu sprechen (Der Spiegel, 25.4.1997). In Wirklichkeit aber ist die „Ethnisierung sozialer Konflikte", von der auch der Bielefelder Gewaltforscher Heitkämper in der erwähnten Spiegel-Studie ausgeht, nicht die Ursache für die tatsächlich zu beobachtende Radikalisierung der „Multi-Kulti-Szene", sondern die Folge einer Jahrzehnte währenden verfehlten Integrationspolitik (CohnBendit 1991, 8). Um Rassismus effizient zu bekämpfen und politische Ungerechtigkeit zu beseitigen, ist eine soziale Reformpolitik in Form grundlegender Maßnahmen wie kommunales und Bundeswahlrecht, Antidiskriminierungsgesetze, Sanierung von Wohngebieten und interkulturelle Bildungsprogramme notwendig. Gleichzeitig aber muss die Gesellschaft eine psycho-hygienische Sanierung von innen her vornehmen, wie der französische Sozialtherapeut und Städteplaner Charles Rojzman zu Recht fordert. Für ihn heißt das auch, den Dialog mit den zum Dialog Unwilligen — den Rassisten — beginnen und durch den Dialog die „Krankheiten der Gesellschaft", von denen alle betroffen sind, erkennen und „gemeinsame Ärgernisse" formulieren, Schuldzuweisungen von verschiedenen Seiten sehen, den Hass auf den „Anderen" und die Angst, die Rojzman als tiefere Ursache für

1197

den Hass annimmt, erkennen, um dann nach Wegen zu suchen, um sich aus der „kollektiven Depression" der gesellschaftlichen beklemmenden Situation zu befreien (vgl. Rojzman 1997, 13-22). 2.2. Multikulturalität als Ideologie Die Multikulturalität unserer Gesellschaft wird daneben von einer anderen Gruppe, die eher dem „linken" politischen Spektrum zuzurechnen ist, in Zweifel gezogen. Wichtigste Kritikpunkte sind die (angebliche) Überschätzung pädagogischer und kultureller Faktoren auf Kosten gesellschaftspolitischer und rechtlicher Prinzipien, die „herrschaftsstabilisierende Funktion" der multikulturellen Gesellschaft im „Interesse der herrschenden Schicht" sowie die Reduzierung der „Migrantenkultur" auf Exotik und Folklore. Bei diesen „Varianten des Multikulturalismus" geht Radtke, einer der schärfsten Kritiker der multikulturellen Gesellschaft, davon aus, dass der Multikulturalismus entweder soziale Konflikte unterschätze und pädagogisiere statt politisiere und in unserer postmodernen Gesellschaft lediglich der gesteigerten Lebensfreude der „Multi-Kultis" diene oder bei Ausländern gar zu einer „demonstrativen Rückbesinnung auf kommunitäre Lebensformen der Familie, der Nachbarschaft und der Freundschaft" führe, sobald diese sich vom „programmatisch-pädagogischen Multikulturalismus" enttäuscht abgewandt hätten (Radtke 1990). Auch Elçin Kürsat-Ahlers misstraut dem Verständnis von Kultur in diesem Land zutiefst: Sie unterstellt den Protagonisten der multikulturellen Gesellschaft insgesamt ein reaktionäres völkisches Kulturverständnis, das sich im Zuge der Entwicklung von Nationalstaaten immer mehr von den humanistischen Werten der Gleichheit und Würde aller Menschen abgewandt und ein an den Normen des europäischen Mittelstands orientiertes ethnozentrisches Wir-Bild entwickelt habe. Dieses Kulturverständnis, das nach ihrer Auffassung auch der multikulturellen Gesellschaft zu Grunde gelegt wird, ist gekennzeichnet durch nationale Werte, seinen unveränderlichen Zustand und apolitischen Gebrauch (Kürsat-Ahlers 1995, 41 ff.). Die unheilvolle Kontroverse zwischen Politik und Pädagogik einerseits sowie zwischen Politik und Kultur andererseits führt in eine Sackgasse. Sie unterstellt der Politik Abstinenz von Kultur, aber auch umgekehrt wird der Kultur

1198

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

politische Absicht und Wirkung abgesprochen. Dass diese Trennung selbst bei einem engeren Kulturbegriff, der im Winkelmann'schen Sinne ausschließlich das ,Edle, Schöne und Wahre' umfasst, eine unzulässige Reduzierung und Geringschätzung eines kreativen und revolutionären Potentials einer Gesellschaft implizieren könnte, scheint die Gegner einer politisch-kulturellen Synthese nicht zu irritieren. Wer könnte der Dichtung eines Pablo Neruda oder Nazim Hikmet, einer Elfriede Jelinek oder eines Peter Härtling, der Malerei eines Picasso, der Tonkunst Henzes, dem Kabarett eines Çinasi Dikmen oder Dieter Hildebrandts, der Grafikkunst eines Klaus Staeck politische Einmischung absprechen, auch wenn die erwünschte Wirkung auf die Gesellschaft in dem intendierten Maße ausbleibt. Bei einem erweiterten und dynamischen Kulturbegriff im Sinne Horkheimers gar, der sowohl die Manifestationen des Alltagslebens umfasst als auch die Kunst, Gesetzgebung und Kommunikationsstrukturen, einem Kulturverständnis also, das historisch veränderbar ist und immer wieder - mit den Mitteln des Dialogs - erkämpft werden muss, ist die Reduzierung auf das Unpolitische und Folkloristische vollends absurd (Horkheimer 1972). Überdies zeigen uns gesellschaftliche Entwicklungen anderer Länder - als Beispiel seien hier die Staaten Lateinamerikas genannt - wie verhängnisvoll eine Trennung der Politik von Kultur und Pädagogik ist. Namhafte Schriftsteller und Kulturkritiker — wie etwa Octavio Paz und Mario Vargas Llosa - haben zeit ihres Lebens ausdrücklich davor gewarnt, in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr Stellung zu beziehen. In seiner vielbeachteten Dankesrede anlässlich der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat Vargas Llosa auf die grundlegende Bedeutung und Chance der Literatur hingewiesen und betont, dass sie in dieser schwierigen Zeit nach wie vor Verantwortung zu übernehmen habe. Was der Dichter für die Literatur fordert, hat meines Erachtens auch für eine engagierte Auseinandersetzung über die Multikulturalität unserer Gesellschaft Gültigkeit. Vargas Llosa sagt:

rechtigkeit und Verbrechen und mit der Begeisterung für bestimmte Ideale anstecken, den Beweis antreten, daß selbst unter schwierigsten Bedingungen Raum für Hoffnung ist, das alles hat die Literatur vermocht, auch wenn sie sich bisweilen in ihren Zielen geirrt und unhaltbare Positionen gehalten hat." (Vargas Llosa 1996)

„Das Überleben der menschlichen Gattung und der Kultur ist eine gute Sache. Den Menschen die Augen zu öffnen, sie mit der Empörung über Unge-

Das eindeutige Bekenntnis Tibis zum demokratischen Rechtsstaat und zur citizenship, das im Übrigen von vielen Intellektuellen

Das politische Verständnis und Bekenntnis von Günter Grass anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahre 1997 an seinen türkischen Kollegen Ya§ar Kemal, der in seinem Leben mehrfach Gefängnis und Folter ausgesetzt war - gerade, weil seine Dichtkunst hohe politische Sprengkraft bewies —, mag als letztes Beispiel dafür dienen, dass ein Ausspielen der Politik gegen die Kultur und umgekehrt im Kontext unserer Diskussion genau den Effekt hat, den die Gegner der Multikulturalität unserer Gesellschaft am meisten kritisieren: die Stabilisierung der politisch Mächtigen auf Kosten derer, die sich um Demokratie bemühen (Schulte 1992, 94-128; Götze/Pommerin 1992, 102-121). Eine sehr bedenkenswerte Kritik an der Multikultur wird derzeit von dem aus Syrien stammenden Politologen Bassam Tibi geäußert. Er sieht im fortschreitenden Kommunitarismus einen Zerfall des Gemeinwesens und damit den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft gefährdet: „Eine kommunitaristische Multikulti-Gesellschaft ist kein aus Individuen bestehendes Gemeinwesen, sondern eine Ansammlung von ,communities'. Bezogen auf den Islam — mit 15 Millionen Migranten die größte Zuwanderer-,community' in Europa — bedeutet das, dass Muslime im Westen nach den Gottesgesetzen der Scharia und nicht nach westlich demokratischen Verfassungsnormen leben, also nicht politisch integriert werden. Die Synthese von Multikulturalismus und Kommunitarismus kann zur Bedrohung des inneren Friedens in Deutschland werden. [...] Im Multikulti-Zeitalter zerfallt das demokratische Gemeinwesen unter diesem Zeichen in Kulturgettos der Kollektive, die jeweils ihren eigenen partikularistischen „Bürgersinn" haben. Das ist alles andere als eine demokratische Kultur. Die Alternative ist die westliche Norm der individuellen Staatsbürgerschaft, nicht im deutschen formal-juristischen Sinne, sondern in der westlichen Tradition von citizenship. Nach dieser Alternative würden muslimische Migranten keine ,community" als Parallelgesellschaft bilden, sondern europäische Bürgerwerden. [...]" (Tibi 1997, 66f.)

121. Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde

und Künstlern geteilt wird, die Orient und Okzident gleichermaßen gut kennen, bedeutet zugleich auch eine klare Absage an jene, die die Geltung ethischer Universalprinzipien leichtfertig zur Disposition stellen, um nur nicht in den Verdacht zu geraten, andere Länder und Kulturen durch die im Abendland entstandene Tradition der Aufklärung erneut zu indoktrinieren. In diesem Zusammenhang wird die seit den 80er Jahren diskutierte Kontroverse, ob kulturelle Werte kulturimmanent oder kulturübergreifend sind, also universale Geltung besitzen, wieder hochaktuell. Während Vertreter einer kulturimmanenten Interpretation auf die kulturspezifische Gültigkeit bestimmter Normen, Werte und Tabus hinweisen und infolgedessen für „Nichteinmischung" anderer Staaten und Kulturen plädieren, warnen die „Universalisten" vor den Folgen des „kulturimmanenten Rückzugs. Aus dieser Position heraus sei es grundsätzlich immer möglich — so die Überzeugung der Universalisten - selbst Unrecht und Gewalt (auch nachträglich) zu legitimieren, gelänge es nur, die sich nach außen abschottenden Gesetzmäßigkeiten der Kulturimmanenz juristisch und gesellschaftlich zu begründen. Dies aber führt nicht zu einem geschärften Demokratiebewusstsein, sondern - ganz im Sinne Tibis — zu einer Auflösung demokratischer Rechtsnormen und schließlich zu einer repressiven Toleranz, die dann wiederum vor allem jene Menschen bedroht, die als Oppositionelle in Diktaturen leben und gegen Fundamentalismus ankämpfen (Götze/Pommerin 1992, 105 f.). 2.3. Multikulturalität als Chance Ähnlich wie die Kritik am Multikulturalismus hat auch seine Befürwortung viele Gesichter: Sie zeigt sich in der naiven Einstellung, dass die „benachteiligten Ausländer" per se die besseren Menschen seien; sie äußert sich in einem paternalistisch-caritativen Konzept, dass die Deutschen für die „armen Ausländer" einzutreten hätten, weil jene angeblich (noch) nicht in der Lage seien, selbst ihre Stimme zu erheben. Unkritischer Multikulturalismus erschöpft sich häufig auch in der Alibifunktion bunter Straßenfeste oder einzelner Schul- und Stadtteilprojekte, die nicht in ein Kontinuum interkultureller Lernprozesse eingebettet sind. Ohne Distanz und damit auch ohne kulturellen Respekt wird auch „der Italiener um die Ecke" vereinnahmt. Dabei geht es dann weniger um Freundschaft

1199

zwischen den Individuen als vielmehr um die öffentliche Demonstration eines scheinbar vorurteilslosen Verhaltens gegenüber dem „Fremden". Gemeinsam ist diesem Verständnis von Multikulturalität die Reduktion auf Folklore, Exotik und Selbstinszenierung. Sie ist keineswegs dem Prinzip der Aufklärung verpflichtet, sondern resultiert aus einem verklärenden Sozialromantismus und einer Harmoniesucht, die spätestens dann aufbricht, wenn die ersten Konflikte auftreten und der caritativ umsorgte Ausländer sich anders verhält, als es der paternalistisch eingestellte Angehörige der Mehrheitsgesellschaft erwartet. In den Satiren §inasi Dikmens etwa wird den Deutschen der Spiegel vorgehalten, wenn diese sich allzu aufdringlich als „Türkenfreunde" gerieren (Dikmen 1995). Ernstzunehmende Befürworter der multikulturellen Gesellschaft gehen davon aus, dass die Vielfalt der Ethnien, Kulturen und Sprachen grundsätzlich eine Bereicherung für die Gesellschaft wie für das Individuum darstellt: „Mit der Zielvorstellung eines multikulturellen Zusammenlebens werden die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen herausgefordert, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Wird ein multikulturelles Zusammenleben angestrebt, sind Konsequenzen im sozialen, kulturellen und religiösen Leben zu ziehen. [...]" (Micksch 1989, 34)

In einer analytisch-beschreibenden Betrachtungsweise wird betont, dass es eine Alternative zur multikulturellen Gesellschaft, nämlich die homogene Gesellschaft, nicht gibt und niemals gab. Daniel Cohn-Bend.it, Europa-Abgeordneter der Grünen und früherer Leiter des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten der Stadt Frankfurt, bezeichnet die multikulturelle Gesellschaft überdies als ein Phänomen, das zwar nicht neu - er belegt dies am Beispiel der Einwanderung der Hugenotten während der Glaubenskriege Mitte des 17. Jhs. und der Integration der Polen im Ruhrgebiet im 19. Jh. —, aber von provozierender Normalität sei: „Man kann lange darüber streiten, ob die multikulturelle Gesellschaft etwas Begrüßenswertes ist oder nicht: Es wird sie, so oder so, geben. Ob wir sie wollen, ist nicht die Frage — es geht nur noch darum, wie wir mit ihr umgehen. Weder melting pot noch Vielvölkerstaat wird in Deutschland die Perspektive sein. Das Deutschland, das exklusiv den Deutschen gehört, aber auch nicht. Es wird etwas sein, das dazwischen liegt: nicht das Chaos sowie die Sprachen- und Sittenverwir-

1200

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

rung, die manche befürchten, noch die große Befreiung, die sich manche andere von der multikulturellen Gesellschaft erhoffen. Dieses Dazwischen ist unser Thema. Die Vitalität der multikulturellen Gesellschaft besteht auch darin, daß sie ihre Gegner kaum weniger ansteckt als ihre Befürworter." (Cohn-Bendit/ Schmid 1993,15)

Die Akzeptanz von Multikulturalität setzt ihre Entmythologisierung voraus und erfordert einen realistischen und pragmatischen Umgang mit ihr als einer gesellschaftlichen Realität, die auf der Basis der politischen Anerkennung und des kulturellen Respekts vor dem Anderen beruht und die potenziell eine gegenseitige Bereicherung wie den Konflikt gleichermaßen impliziert. Haftet der Bereicherungstheorie zuweilen noch ein Hauch von Sozialromantik an — sofern man davon ausgeht, dass sich nur gleichberechtigte Individuen und sozial gleichberechtigte Gruppen gegenseitig bereichern können - , so zielt das politisch bewusste Verständnis von Multikulturalität auf eine Aufhebung der Asymmetrie in unserer Gesellschaft ab. Gefordert wird, dass „Individuen ohne deutschen Pass" endlich alle Bürgerrechte zugestanden werden müssen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihr Leben im Rahmen rechtsstaatlicher Prinzipien nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, damit sozialer Frieden in unserer Gesellschaft hergestellt werden kann (Götze/Pommerin 1992; Hamburger 1994; Pouwels 1997).

3.

Multikulturalität und Rechtsstaatlichkeit

Sowohl unter den Befürwortern wie unter den gemäßigten Kritikern der multikulturellen Gesellschaft lässt sich ein gewisser Konsens im Hinblick auf die Gewährung von Bürgerrechten und -pflichten für Migranten feststellen, wobei allerdings Voraussetzungen wie Aufenthaltsdauer im Einwanderungsland, Kenntnisse der Zielsprache sowie Kriterien von Assimilierungsbereitschaft nicht als conditio sine qua non, sondern als Zielvorstellungen gesehen werden. Nachdem sowohl das melting /?o/-Konzept der USA sowie die Idee des Vielvölkerstaats im ehemaligen Jugoslawien in Misskredit geraten sind und die Erkenntnis wächst, dass eine gegenseitige Bereicherung aller Beteiligten nur auf der Basis einer politischen, sozialen und kulturellen Gleichstellung realistische Chancen hat, zeichnet sich — zumindest in

der politischen wie wissenschaftlichen Diskussion - eine Entwicklung ab, die wir mit dem kanadischen Sozialforscher Charles Taylor als eine Politik bezeichnen, die auf einer kollektiven Ebene auf der Anerkennung der Menschenwürde und der allgemeinen Menschenrechte beruht, also „universelle Gleichheit gebietet", gleichzeitig aber auch eine Politik der „Differenz" sein muss, um das „Potential einer individuellen und kulturellen Identität" hervorzubringen (Taylor 1993, 29f.). Zu einer ähnlichen Auffassung gelangt der amerkanische Philosoph Michael Walzer in seinem neuesten Buch über Toleranz, das den Untertitel „Von der Zivilisierung der Differenz" trägt. Seine wichtigste These lautet: „Toleranz macht Differenz möglich, Differenz macht Toleranz notwendig." (Walzer 1998, 8) Im Gegensatz zu seinem Landsmann Huntington sieht Walzer im Multikulturalismus der USA keineswegs das Schreckgespenst einer sich in Endzeitstimmung auflösenden und im Chaos versinkenden Gesellschaft, die in Wirklichkeit nur die Vorherrschaft der „weißen Kultur" zurückgewinnen will: „Bemerkenswerterweise wird diese angeblich unverzichtbare und notwendig singuläre Kultur oft als Hochkultur bezeichnet, als wäre es unsere gemeinsame Liebe zu Shakespeare, Dickens und James Joyce gewesen, die uns all diese Jahre zusammengehalten hätte. Dabei dürfte das Gegenteil wahr sein, die Hochkultur spaltet uns, wie seit je, in verschiedene Lager, und vermutlich wird sich das auch zukünftig in jedem Land abspielen, das einen stark egalitären und populistischen Zug hat." (Walzer 1998, 118) Statt im Migranten den gefahrlichen Eindringling zu sehen und Multikulturalität zu bekämpfen, propagiert Walzer einen anderen Weg, der auf Dialog und aktiver Toleranz basiert, um der de facto bestehenden Vielfalt zu begegnen, „nämlich eine demokratische Politik, bei der alle Mitglieder sämtlicher Gruppen [...] gleichberechtigte Bürger sind, die nicht nur Argumente austauschen, sondern irgendwie eine Übereinkunft erzielen müssen. Was sie im Verlaufe dieser unerläßlichen Verhandlungen und zu schließenden Kompromisse lernen, ist vielleicht wichtiger als alles, was sie aus dem Studium des klassischen Kanons gewönnen. Wir haben die Aufgabe, uns darüber Gedanken zu machen, wie dieser praktische demokratische Lernprozeß zu fördern ist." (Walzer 1998, 118)

121. Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde

Walzers bildungspolitische Vorstellungen bleiben eher vage. Auf der Basis seiner Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen der USA im Vergleich mit einigen „schwierigen" bzw. „besonderen" Ländern Europas, zu denen er neben der Schweiz und Frankreich auch Deutschland zählt, gewinnen sie allerdings Allgemeingültigkeit für hiesige Konzepte interkulturellen Lernens. Als grundlegendes Erziehungsziel in einer multikulturellen Gesellschaft sieht er die Anerkennung von Pluralität in verschiedenen Niveaus kritischer Auseinandersetzung sowie die Akzeptanz sogenannter Bindestrich-Identitäten von Migranten und ihren Kindern (vgl. dazu Walzer 1998, 134; eine ausführliche Auseinandersetzung mit verschiedenen Merkmalen, Zielen und Prinzipien interkultureller Lernkonzepte findet sich in Artikel 100). In der diversity im Bilde eines Mosaiks sieht auch der Publizist Theo Sommer neueste Entwicklungen multikultureller Prozesse in den USA wie in Kanada. Diese Vorstellung korrespondiert mit der sog. umbrella-Theorie, wie sie von dem australischen Sozialforscher Jerzy S. Smolicz für New South Wales (Südaustralien) entwickelt wurde (Smolicz 1988, 165ff.). Beiden Ansätzen gemeinsam ist die Vorstellung eines „übergreifenden Daches", unter dem sich unterschiedliche Ethnien, Gruppenidentitäten und Individuen mit sehr verschiedenem kulturellen Hintergrund und divergierenden Lebensperspektiven entfalten können. Darunter verstehen die Autoren - wie Sommer — im Kern „eine Komposition aus Steinchen verschiedener Farbe und Form, zusammengehalten durch einen Zementuntergrund und einen Rahmen. Den Zement müssen Grundwerte bilden, die für alle verbindlich sind: das Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung und zum Verfassungsstaat; praktizierte Toleranz, eine gemeinsame Sprache, die das Funktionieren und die Kohäsion der Gesellschaft fördert. Jeder kann seiner eigenen Religion anhängen; alle können die eigenen Tänze tanzen und die eigene Cuisine kochen; jegliche Gemeinde darf das kulturelle Erbe, die Folklore der alten Heimat pflegen. Die überwölbende Gemeinschaft erträgt durchaus lebendige Untergemeinschaften — aber die Vielfalt hat sich in der Einheit zu bewähren." (Sommer 1998, 3) Zu relativieren wäre aus der Sicht eines aufgeklärten politisch bewussten Verständnisses von Multikulturalität das Leben der

1201

„Untergemeinschaften" im Hinblick auf eine bewusste Erziehung zur Mehrsprachigkeit anstelle der von Sommer intendierten Einsprachigkeit sowie die Entwicklung einer dynamischen Migrantenkultur anstelle einer eher traditionsorientierten „Pflege des kulturellen Erbes" einzelner Ethnien. Dagegen ist das eindeutige Bekenntnis zum demokratischen Rechtsstaat als ein für alle Mitglieder verbindliches Wertesystem zu bekräftigen. So ist auch zu hoffen, dass sich auf der Basis eines neuen gesellschaftspolitischen Programms „E pluribus unum" interkulturelle Konflikte einzelner Ethnien mit demokratischen Mitteln lösen lassen, anstatt einerseits emotional überzureagieren und in anderen, sehr viel gravierenderen Fällen die Augen zu verschließen. Das Tragen von Kopftüchern bei islamischen Mädchen und Frauen könnte dann — selbst im Falle eines islamisch-fundamentalistischen Symbols - souverän toleriert werden, die Beschneidung von Mädchen dagegen keinesfalls. 4.

Problematisierung von Multikulturalität als Gegenstand von Landeskunde

Die Entwicklung von Multikulturalität in westlichen Industriestaaten prägt sowohl das politische, kulturelle und soziale Leben der Mehrheitsbevölkerung als auch der einzelnen ethnischen Minderheiten in allen Bereichen des öffentlichen und selbst des privaten Lebens in einem ungeheuren Ausmaß. Das von Sommer gezeichnete Bild einer Vielfalt in der Einheit gilt es im Rahmen einer sich interkulturell verstehenden Landeskunde ins Bewusstsein zu heben. Handelt es sich um Fragen des politischen und rechtlichen Status' von Migranten, tun eine Verlängerung der Arbeitserlaubnis oder des Aufenthaltsrechts, um gewerkschaftliche Mitarbeit, um die Durchsetzung einer mehrsprachigen Erziehung für die Kinder, um das Bleiberecht für geschiedene Frauen, um die sehr private Entscheidung zu einer „Mischehe" oder andere zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und Migranten — in allen sehr persönlich und intim scheinenden Lebensfragen sind immer auch Institutionen involviert — : Bürokratische Maßnahmen werden erforderlich und greifen tief in das Privatleben ein. Um Ursachen und Wirkungen von Migration, Ar-

1202 beit und den Verlust von Arbeit, Mehrsprachigkeit und Sprachverlust auch nur ansatzweise verstehen zu können, bedarf es demnach einer profunden kritischen Informationskunde, und zwar unter historischen, ländervergleichenden und systematischen Aspekten, sowie einer landeskundlichen Problematisierung von Multikulturalität. Nur wer die Zusammenhänge — etwa zwischen Auswanderung und (arbeits-)rechtlicher Situation in der Fremde - kennt, ist in der Lage, den demagogischen Ansichten über die angebliche Unterwanderung unserer Gesellschaft durch „Ausländer" sachlich begründete Argumente entgegenzuhalten. Zahlen· und Faktenwissen dürfen nicht absolut gesetzt werden, sind aber ein notwendiges Rüstzeug für eine argumentative Überzeugungsarbeit. Sympathiebekundungen allein tragen nicht dazu bei, Diskriminierungen und Fremdenhass mit Entschiedenheit entgegenzutreten; sie sind häufig Ausdruck von Hilflosigkeit und unterliegen im Disput der Chuzpe, mit der Rassismus heute wieder lautstark geäußert wird. Nur wer den Teufelskreis zwischen Vorurteilen und Stigmatisierung, Diskriminierung und Gettoisierung kennt, kann auch Anderen die Augen öffnen und Möglichkeiten zu neuen, positiven Erfahrungen im Umgang mit Minderheiten erschließen. Good will ist eine wichtige Voraussetzung für geschärftes Bewusstsein und demokratisches Verhalten; ohne „handfeste Informationen" über die verschiedenen Aspekte von Multikulturalität aber bleibt es bei Absichtserklärungen oder Aktionismus. Informationen über Multikulturalität, Offenheit einer Gesellschaft und die Chancen des demokratischen Rechtsstaats sind der feste Boden, auf dem interkulturelles Lernen stattfinden kann. Allerdings sind der informativen Landeskunde auch Grenzen gesetzt: nämlich dort, wo es um die Wahrnehmung von „diversity" im Alltagsleben und das politische Aufgreifen von „Fremdheit" durch Interaktion und Begegnung geht. Hier zeigt sich, wie komplex der Alltag und wie schwierig es für den einzelnen Menschen ist, seine täglichen Erfahrungen aus der kritischen Distanz zu betrachten sowie eigene Gewohnheiten und eingespielte Sichtweisen seiner vertrauten Wirklichkeit in Frage zu stellen oder gar zu modifizieren. „Bei näherer Betrachtung ist Alltag also keineswegs alltäglich. Gerade weil er spontan und nicht durchdacht verläuft, enthält er die ganze Komplexität weitge-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte hend unterbewußter kultureller Beziehungsgeflechte, ist also, je weniger diese sublimiert sind, in gewisser Weise wesentlich weniger universal als Wissenschaft, Literatur und Kunst." (Picht 1989, 56f.)

Neben Informationen über die fremde Kultur erweist sich der kritische Vergleich zwischen der eigenen Situation und Befindlichkeit sowie dem Versuch, „über den eigenen Rücken" zu schauen — also eine fremdkulturelle Perspektive einzunehmen - , als ein wesentliches Instrumentarium, um Multikulturalität zu problematisieren. Informationskundliche und alltagsweltliche Ansätze sind im Rahmen eines interkulturellen Ansatzes von Landeskunde wechselseitig aufeinander bezogen. Die relevanten Inhalte bzw. Themenschwerpunkte werden sowohl durch eine Analyse multikultureller Gesellschaft deduziert als auch durch Beobachtung des Alltags und durch Befragung der Betroffenen induktiv gewonnen. Die Verbindung zwischen wissenschaftlicher Analyse und interkultureller Kommunikation im Alltag begrenzt Einseitigkeit und Voreingenommenheit bei dem komplexen und emotionalisierten Reizthema „Multikulturalität" auf ein Minimum und ermöglicht auch im Prozess seiner Problematisierung Korrekturen und Ergänzungen. Abschließend seien vor allem solche Leitfragen genannt, die im Rahmen einer Diskussion über multikulturelle Gesellschaften wiederholt zu Kontroversen geführt haben und sich daher für eine Problematisierung von Multikulturalität im Rahmen einer interkulturellen Landeskunde besonders gut eignen: 1. Auseinandersetzung mit dem Toleranzbegriff: - Welche minimalen Erwartungen lassen sich an Toleranz stellen? - Inwieweit lassen sich Grenzen zwischen Toleranz und (gleichgültiger) Duldung ziehen? - Welchen historischen Veränderungen ist Toleranz in einer Gesellschaft unterworfen, und wie sehen kulturspezifische Unterschiede zwischen einzelnen Ländern bzw. Gesellschaften aus? - Wo sind die Grenzen von Toleranz? - Lassen sich tolerante Einstellungen und tolerantes Verhalten lernen, und, wenn ja, unter welchen Bedingungen? - Wie soll sich Toleranz gegenüber den Intoleranten äußern? Gibt es so etwas wie ,wehrhafte Toleranz' oder ist dies ein Widerspruch in sich?

121. Multikulturelle Gesellschaften als Gegenstand der Landeskunde

2. Communitys und einheitlicher Rechtsstaat: - Untergraben communitys verschiedener ethnischer Minderheiten den demokratischen Rechtsstaat? - Oder muss der souveräne Rechtsstaat das Entstehen eigenständiger communitys nicht nur „dulden", sondern auch fördern? - Wie sieht die Entwicklung von (Bindestrich-Identitäten in multikulturellen Gesellschaften aus, die sich Vielfalt und Begegnung zum Leitziel gemacht haben? - Inwieweit sollte eine multikulturelle Gesellschaft auf Einheitlichkeit einer Öffentlichkeitssprache dringen bzw. eine konsequente Erziehung zur Mehrsprachigkeit intendieren? - Wo gibt es positive Vorbilder, wo negative Beispiele? 3. Politische Basisarbeit und Kulturarbeit — Widersprüche oder Ergänzungen? - Ist die Beschäftigung mit Kultur und Kunst ein „Überbauphänomen", die erst dann „erlaubt" ist, wenn Migranten über politische Grundrechte verfügen? - Durch welche Reibungen entsteht eine „Migranten"-Kultur? Gibt es vergleichbare Entwicklungen in anderen Ländern? - Gibt es kulturspezifische ästhetische Standards, um die besondere Produktion von Kunst unter den Bedingungen von Migration einzuschätzen, oder gelten hier universale Kriterien von Kunst und Kultur? - Inwieweit hat die Kulturarbeit von Migranten immer auch eine politische Dimension? Es ist offensichtlich, dass eine Problematisierung und dezidierte Auseinandersetzung mit Fragen der Multikulturalität einen immensen Konfliktstoff in sich birgt, weil Menschen in Angelegenheiten ihrer Religion und Sprache, ihrer kulturellen und sozialen Herkunft, in ihren Überzeugungen und Wertschätzungen, aber auch in ihren tief verwurzelten Abneigungen sich nie ausschließlich rational verhalten. Da bereits die Verbalisierung von Emotionen bzw. das Unterlassen eines solchen emotionalen Diskurses kulturspezifisch geprägt ist oder auch häufig als Schwäche diffamiert und somit abgelehnt werden kann, bauen sich bereits im Vorfeld einer inhaltlichen Kontroverse zwischen verschiedenen Kulturen Hindernisse auf (Pommerin 1998). Insofern bedarf die Problematisierung von Multikulturalität als Gegenstand von Landeskunde immer auch und immer wieder der gelebten interkulturellen Landeskunde. Ein

1203

guter Lehrmeister stellt auch eine konkrete Aufgabe in einer konkreten Situation dar, die von Minderheiten und Mehrheitsbevölkerung gemeinsam bewältigt werden muss, unter Umständen unter zeitweiligem Ausschluss eines kulturellen Diskurses. Die Erfahrungen zeigen, dass vor allem dann eine erfolgreiche interkulturelle Kommunikation zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen stattfindet, wenn es den Teilnehmern - auf der Basis einer emotional guten Ausgangssituation — gelingt, ein gemeinsames Ziel zu formulieren, das zumindest mittelfristig erreicht werden kann und auftretende Konflikte zwischen ihnen die Chance haben, abgemildert oder gar gelöst zu werden. Insofern erfordert gelebter Multikulturalismus nicht nur Wissen und Information über den „Anderen", sondern „aufgeklärte Emotionalität" oder „emotionale Intelligenz" (Csikscentmihalyi 1997). 5.

Literatur in Auswahl

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XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

1204 ter. In: Rainer Döbert; Jürgen Habermas; Gertrud Nunner-Winkler (Hg.): Entwicklung des Ichs. Königstein/Ts., 225—252. Kürsat-Ahlers, Elçin (1992): Das Stigma des Einwanderers. Über die Macht, Kultur und Abwehr in Einwanderungsprozessen. In: Elçin Kührsat-Ahlers (Hg.): Die multikulturelle Gesellschaft. Der Weg zur Gleichstellung? Frankfurt a. M., 41-93. Leggewie, Claus (1991): Multi Kulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik. 2. Aufl. Berlin. Memmi, Albert (1987): Rassismus. Frankfurt a. M. Micksch, Jürgen (1992): Interkulturelle Politik statt Abgrenzung gegen Fremde. Frankfurt a. M. Oberndörfer, Dieter (1993): Der Wahn des Nationalen. Die Alternativen der offenen Republik. Freiburg i. Br. Paz, Octavio (1981): Der menschenfreundliche Menschenfresser. Geschichte und Politik 1971 — 1980. Frankfurt a. M. Picht, Robert (1989): Kultur- und Landeswissenschaften. In: Karl-Richard Bausch; Herbert Christ; Werner Hüllen; Hans-Jürgen Krumm (Hg.): Handbuch Fremdsprachenunterricht. Tübingen, 54—60. Pommerin, Gabriele (1998): Leben in der MultiKultur, Leben gegen Rassismus. In: Deutsch für Europäische Gewerkschafter¡Innen. Niveau 3. Mittelstufe. Hg. vom DGB. Arbeit und Leben. Brüssel, 1-42. Pommerin-Götze, Gabriele; Bernhard Jehle-Santoso; Eleni Bozikake-Leisch (Hg.) (1992): Es geht auch anders! Leben und Lernen in der multikulturellen Gesellschaft. Frankfurt a. M. Pouwels, Jan (1997): Values Education in a post modern world. In: Dave Evans; Harald Gräßler; Jan Pouwels (Hg.): Human rights and Values Education in Europe. Research in educational law, curricula and textbooks. Freiburg i. Br., 25-34.

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122. Informationsorientierte Landeskunde 1. 2. 3.

6.

Einleitung Realienkunde vs. Kulturkunde Das Konzept der Landeskunde aus der Sicht der Germanistik in der DDR Die Aufwertung der Landeskunde in den sechziger Jahren ABCD-Thesen und das Tübinger Modell einer integrativen Landeskunde Literatur in Auswahl

1.

Einleitung

4. 5.

Wenn Landeskunde im Sprachunterricht als Prinzip zu verstehen ist, „das sich durch die

Kombination von Sprachvermittlung und kultureller Information konkretisiert" (ABCDThesen, Präambel), dann erscheint eine informationsorientierte Landeskunde zunächst als Pleonasmus. Auch ein Blick in die Geschichte des Deutsch als Fremdsprache-Unterrichts bestätigt, dass der Landeskunde im Kontext unterschiedlichster Leitvorstellungen zwar sehr verschiedenartige Aufgaben zugeschrieben worden sind, die Notwendigkeit von Information und kognitivem Wissen stand und steht jedoch durchweg außer Zweifel. Selbst die Reduktion auf ein praktisch-instrumentelles Verständnis des Sprachunterrichts kann

122. Informationsorientierte Landeskunde

auf die kulturelle Einbettung der Sprache nicht ganz verzichten, erst recht muss bei der expliziten Verschränkung von Sprach- und Kulturvermittlung oder im Hinblick auf allgemeine Bildungsziele reflektiert werden, was aus der/den zu vermittelnde(n) Realität(en) unter welchen Gesichtspunkten auszuwählen ist. Weil sich im Verlauf der methodisch-didaktischen Diskussion nicht nur die Ziele des Sprachunterrichts erweitert und differenziert haben, sondern auch der Aufgabenbereich der Landeskunde entsprechend modifiziert wurde, scheint es legitim, angesichts des kommunikativen Paradigmenwechsels oder der interkulturellen Landeskunde ein Landeskundekonzept zu entwickeln, in dem das kognitive Wissen als systematisches Wissen dominiert und daher als typenbildend gelten kann. Darüber hinaus bedeutet informationsorientierte Landeskunde auch den Versuch, das Wissen, die Analyse- und Verstehenskompetenz von der Fähigkeit zum Sprachhandeln und von der Kommunikationskompetenz abzugrenzen, also „gleichsam einen deutschlandkundlichen Informationssockel" (Deutschmann 1982, 247) innerhalb eines kommunikativen Ansatzes zu diskutieren. Der Tatsache, dass mit dem Spracherwerbsprozess der Erwerb von Kenntnissen und die Entwicklung einer kulturellen Kompetenz einhergeht und selbst in einem fertigkeitsorientierten Fremdsprachenunterricht Sprache ohne systematische Kenntnisse von Kultur und Gesellschaft nicht gelernt werden kann, wird allerdings in unterschiedlicher Weise Rechnung getragen. Daher soll zunächst skizziert werden, welche Akzente gesetzt werden und wie es sich auf den Sprachunterricht auswirkt, wenn für das Erreichen der kulturellen Kompetenz vorwiegend oder ausschließlich Informationsvermittlung wichtig ist. Darüber hinaus soll jedoch auch der Stellenwert von Information in einigen Konzepten erörtert werden, die der Verengung eines informationsorientierten Landeskundekonzeptes zu „entkommen" versuchen. Schließlich sollen auch die Herausforderungen neuester Informationstechnologien an die Landeskunde angesprochen werden. 2.

R e a l i e n k u n d e vs. K u l t u r k u n d e

Informationsorientierte Landeskunde, die sich von einer handlungsorientierten oder in-

1205 terkulturellen Landeskunde abhebt, hat ihre historische Grundlage im Wesentlichen in der Realienkunde. Damit opponierte die Reformbewegung am Ende des 19. Jhs. in der Methodendiskussion des neusprachlichen Unterrichts im Sinne des Nützlichkeitsprinzips gegen das altphilologische Erbe, gegen die Ausrichtung auf Sprachwissen und Grammatikdrill, und für das Sprachkönnen und das entsprechende Wissen. Nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Überlegungen plädierte sie für die Auseinandersetzung mit der geographischen, geschichtlichen, politischen und sozialen Realität der Zielsprachenländer, vor allem Großbritanniens und Frankreichs. Grundsätzlich blieb die Realienkunde jedoch dem positivistischen Ideal des 19. Jhs. und ihren Wurzeln im enzyklopädischen Denken verpflichtet. Dementsprechend gab der Kanon der Bezugswissenschaften, ζ. B. von Geschichte oder Geographie, die didaktischen Inhalte und die Systematik des Stoffes vor. Denn im Wesentlichen ging es auch darum, nicht nur die Sprachen der „Nachbarn" zu beherrschen, sondern darüber hinaus über die historischen, ökonomischen oder kulturellen Wurzeln dieser Nachbarn (als Feinde) Bescheid zu wissen. Daher wurde im Unterricht besonders auf Anschaulichkeit und Alltagsbezug Wert gelegt, Bilder und Alltagsdialoge bestimmten den Aufbau der Lehrbücher. Im Umfeld historischer und bildungspolitischer Entwicklungen wurde die Realienkunde in den zwanziger Jahren zum Kontrastbegriff der sich entwickelnden Kulturkunde. Ihr ging es nicht mehr um die Vermittlung eines enzyklopädischen Wissens von Zahlen, Daten und Fakten, sondern um das Erfassen von „Wesenselementen" eines „Volkscharakters", um das Erkennen einer Kultur - nicht zuletzt, um aus der Erfahrung des verlorenen Krieges künftig den „Feind" besser verstehen zu können. In der Gegenüberstellung von Realien und Kultur ist also schon früh die Polarisierung zwischen einem wissensorientierten und einem wertorientierten landeskundlichen Sprachunterricht zu erkennen, wobei die zu stereotypisierenden Aussagen tendierende Kulturkunde später problemlos in die Ideologie des völkischen Rassenwahns integriert werden konnte. Erleichtert wurde diese Kontinuität zweifellos durch die Abwehrhaltung vieler Philologen gegenüber der Weimarer Republik, die auch deshalb dem im Kaiserreich verwurzelten Bildungssystem keine adäquate Bildungspolitik entgegenzusetzen vermochte.

1206 Die Anfälligkeit des kulturkundlichen Ansatzes für politische und ideologische Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus führte nach 1945 auch in der Fremdsprachendidaktik nicht zur kritischen Auseinandersetzung mit den ideologischen Irrwegen und ermöglichte dadurch ein erstaunlich langfristiges und zähes Weiterleben fragwürdiger Positionen. Außerdem bedingte dieser Mangel eine generelle Vernachlässigung von expliziten Inhalten im Fremdsprachenunterricht. Betrachtet man die Lehrwerke für Deutsch als Fremdsprache der fünfziger und sechziger Jahre, so fällt das „weitgehende Fehlen von didaktischen Überlegungen über den landeskundlichen Anteil am Lehrwerk" ins Auge (Ammer 1988, 63). Zwar bietet Schulz/Griesbachs „Sprachlehre für Ausländer" — das erste nach 1945 in Deutschland entwickelte Lehrwerk für Deutsch als Fremdsprache — fakultativ landeskundliche Texte zur Wortschatzerweiterung an, doch kann es den Befund Ammers nicht wirklich in Frage stellen. Die Grundtendenz des Leitwerks ist grammatikorientiert, die durchsichtige Absicht der „sterilen" Präsentation des Alltags in den Lektionstexten des Lehrbuchs ist es, den entsprechenden Grundwortschatz einzuführen. Ebenso wenig vermochten Ergebnisse neuer lernpsychologischer Forschungen und der Einsatz neuer Medien den Stellenwert landeskundlicher Informationen entscheidend zu verändern. Geschichtliche oder geographische Realien, ökonomische oder politische Kontexte fehlen im audiovisuellen, sehr mechanistischen Unterricht gewöhnlich; Landeskunde bleibt auf Alltagssituationen beschränkt und der reproduktiven Sprachfertigkeit untergeordnet. Anfang der siebziger Jahre erfuhr der Fremdsprachenunterricht mehrfach neue Impulse. Gefördert von den gesellschaftlichen Umbrüchen Ende der sechziger Jahre kam es auch in der Bundesrepublik Deutschland zur breiten Etablierung der Sozialwissenschaften. Die Bildungsreform stellte die Mündigkeit als Bildungsziel in den Vordergrund, Soziolinguistik und Pragmalinguistik erweiterten den Fragehorizont der Sprachwissenschaft entscheidend, und der traditionelle Fächerkanon landeskundlicher Bezugswissenschaften wurde durch den Aufschwung der Sozialwissenschaften erweitert oder nachhaltig in Zweifel gezogen. Gleichzeitig kam es aber auch in den einzelnen Wissensgebieten selbst zu entscheidenden methodischen und inhaltlichen Neuorientierungen. Lehrstühle für

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

Zeit- oder Wirtschaftsgeschichte wurden gegründet, Alltagsgeschichte und oral history sollten den erstarrten Wissenschaftsbetrieb aufbrechen, die angewandte Geographie und die Kulturgeographie etablierten sich, in der Literaturwissenschaft herrschten rezeptionsästhetische und sozialgeschichtliche Arbeiten vor. Schließlich begann sich der Studienbereich Deutsch als Fremdsprache in Deutschland als Wissenschaft zu etablieren, zunächst vorwiegend als linguistische und methodische Disziplin, doch bald wurde auch die Landeskunde zum Thema wissenschaftlicher Tagungen (v. Faber 1990) und zum Gegenstand der Curriculumsdiskussion. Die soziale und politische Realität der Zielsprachenländer sollte einen festen Platz im Unterrichtsgeschehen erhalten. Freilich kam es besonders im Lehrwerksbereich zunächst zu einem teilweise recht modischen Nebeneinander unterschiedlicher Konzepte, zum einen wegen der Zählebigkeit früherer Modelle, zum andern wegen der „Kompromisse ohne Konzept" (Barkowski 1997,95): Aktuelle Diskussionsansätze wurden rasch in Lehrwerke umgesetzt, ohne dass schon ein grundlegend neues Konzept erarbeitet worden wäre.

3.

Das Konzept der Landeskunde aus der Sicht der Germanistik in der DDR

Deutlich anders wurde Landeskunde in der DDR akzentuiert. Einerseits erhielt das Herder-Institut in Leipzig, 1956 als „Institut für Ausländerstudium an der Karl-Marx-Universität Leipzig" gegründet, 1966 eine eigene Forschungsabteilung, in der auch Landeskunde als Gegenstand eingerichtet wurde. Zum anderen gaben die politischen Gegebenheiten dem Fach eine Orientierung vor, die zu einer spezifischen Verknüpfung landeskundlicher Informationen mit staatlichen und auslandskulturellen Zielen führte. Stellte die Bundesrepublik Deutschland bis in die siebziger Jahre in Folge der Hallstein-Doktrin den Alleinvertretungsanspruch für Deutschland, so verstand sich die DDR als eigenständiger, sozialistischer deutscher Staat, der den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik Deutschland zurückwies. Daher verfocht die DDR auch in der Landeskunde ihre staatliche Souveränität und verwahrte sich gegen die abwertende Darstellung ihres Landes in der Deutschlandkunde nicht-sozialistischer Länder. Die DDR-Landeskunde be-

122. Informationsorientierte Landeskunde

schränkte sich deshalb nicht nur konsequent auf die Selbstdarstellung, sondern erhielt dazu auch die Aufgabe, die Verzerrungen des Landesbildes - so der Terminus für die Summe „gegenwärtiger gesellschaftlicher Lebensprozesse" in der DDR — zu korrigieren und bestehende Informationsdefizite abzubauen. Für die notwendige Erarbeitung landeskundlicher Materialien wurde auf die traditionellen Themenkomplexe (Wirtschaft, Politik und Institutionen, Soziales, Bildungswesen und Kultur, Sitten und Bräuche, Alltag, Geschichte, Geographie) zurückgegriffen, deren Strukturierung sich an der Sachlogik orientierte. Dabei führte der ideologische Kontext des Kalten Krieges zwangsläufig zu einer Überbetonung der politischen und ökonomischen Sachverhalte in den Materialien, die zudem nie den Charakter der Politpropaganda vermieden. In den Lehrwerken wurde dieser Aspekt durch die Betonung der grundsätzlichen sozialistischen Bildungsziele besonders deutlich hervorgehoben. Nicht zu vernachlässigen ist zudem die Tatsache, dass der Deutschunterricht für die Absicherung der Beziehungen zu den sozialistischen Bündnisstaaten funktionalisiert wurde, was ebenfalls eine differenzierte und problemorientierte Darstellung landeskundlicher Sachverhalte verhinderte. Die Grundprinzipien der Landeskunde (im Sprachunterricht als landeskundliches Prinzip), in außersprachlichen Aktivitäten (vor allem Exkursionen oder längere Studienaufenthalte in der DDR) und als Lehrfach und Wissenschaftsdisziplin, wurden in den siebziger Jahren intern und im Rahmen zahlreicher Kolloquien mit Experten aus den sozialistischen Partnerländern erarbeitet und vorwiegend in der Zeitschrift „Fremdsprache Deutsch" publiziert; diese Grundprinzipien umfassen: ausführliche und wahrheitsgetreue Information, das Landesbild als Widerspiegelung der Lebensprozesse, daher Orientierung an den objektiven Gegebenheiten, jedoch auch an den politischen und allgemeinen Bildungszielen (ζ. B. Völkerverständigung, internationale Solidarität und Friedenssicherung), Festhalten am Prinzip der Selbstdarstellung und Zurückweisen der Fremddarstellung durch die Bundesrepublik Deutschland. Der landeskundlich orientierte Sprachunterricht galt als wichtiges Werkzeug, um die DDR als eigenen Staat mit normalen völkerrechtlichen Beziehungen zu verankern. Dabei war es nahe liegend, dass sich die Diskussion nicht nur darauf konzentierte, in-

1207 nerhalb der Deutsch als Fremdsprache-Philologie auch das Lehrfach Landeskunde, das seine Aufgabe vorwiegend in der Wissensvermittlung sah, als Wissenschaftsdisziplin auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus zu etablieren. Das konkrete Forschungsinteresse galt jedoch ebenso der Lehrwerkkritik, besonders dem gesellschafts- und klassenindifferenten Sachstoff in den Lehrbüchern der Anfangsjahre, und dem Versuch, die landeskundlichen Sachverhalte für den Sprachunterricht unter den entsprechenden didaktischen und curricularen Prämissen zu strukturieren und zu systematisieren, um Landeskunde in den Sprachunterricht zu integrieren. Klare methodische Grundposition war dabei immer der dialektische Zusammenhang von Sprache, Bewusstsein und Gesellschaft. Deshalb lag auch entsprechend großes Augenmerk auf der Linguolandeskunde. Auch wenn die Persönlichkeitserziehung als Kriterium für die Wahl landeskundlicher Aspekte und Themen eine wichtige Rolle spielte, blieb dennoch der Vorrang des fertigkeitsorientierten Sprachunterrichts immer unbestritten. Trotzdem kam es innerhalb der DDR zu einer kontroversen Landeskundediskussion. Denn einerseits konnten manche die Ergebnisse der internationalen Forschung auch in der DDR wahrnehmen, andererseits ergab sich aus dem deutsch-deutschen Dialog auf Fachebene, lange vor offiziellen Gesprächen auf politischer Ebene, neben der offiziellen Doktrin, die Möglichkeit zur kritischen Fachdiskussion, und zwar auf Grund internationaler Kontakte und infolge von Einladungen auch ins nicht-sozialistische Ausland. In Frage gestellt wurden hierbei naturgemäß nicht die ideologischen Grundlagen, angesprochen wurde jedoch schon früh die „Aporie der Totalität" (Picht 1995) und die Schwierigkeit, die vielfältigen Einzelkenntnisse in einer wirkungsvollen Synthese zu vereinen. Entscheidend war außerdem auch in der DDR der Einfluss der „kommunikativen Wende". Schon Uhlemann (1979) versuchte unter dem Gesichtspunkt einer kommunikativen Zielstellung das Lehrfach zu konturieren, indem er Fragen der landeskundlichen Ausbildung und der Vermittlung des Sachstoffes erörterte, und Förster (1981) hielt fest, dass „für die Einbeziehung der Landeskunde in den Deutschunterricht vor allem die Sachverhalte der Wirklichkeit der DDR zu empfehlen [sind], die im Rahmen der Kommunikation zwischen den Lernenden und den DDR-Bürgern bedeutsam sind, bzw. in künf-

1208 tiger Tätigkeit bedeutsam sein können" (Förster 1981, 82). Die angeführten Beispiele verdeutlichen jedoch, wie sehr die allgemeinen Erziehungsaufgaben dominieren und die Landeskunde noch immer der externen Sachlogik verpflichtet bleibt. Nicht die problemorientierte Auseinandersetzung mit der Realität steht im Vordergrund; Aufgabe ist vielmehr, den Lernern eine positive Folie zu bieten, von der aus sie die erlebten gesellschaftlichen Prozesse einordnen und beurteilen können. Daher gehört neben der Handlungskompetenz und der Fähigkeit, Wertorientierungen anwenden zu können, das „Erfassen und Vermitteln von Informationen über das Ziel- und Ausgangsland" (Marnette 1989, 105) zu den zentralen Funktionen der Landeskunde. Als Maßstab gilt dabei weiterhin das „durchschnittliche Wissen", „weil es eine in breiterem Umfang voraussetzbare Grundlage zur Einschätzung des Partners bietet als das Erleben oder das System individueller Wertvorstellungen" (Uhlemann 1979, 230), wobei dieser Durchschnitt erstaunlich hoch und umfassend angesetzt worden ist. Doch die Gefahr einer der Staatsideologie verpflichteten Landeskunde, die „wirklichkeitsferne Leerformeln" (Grawe 1987, 464) reproduziert, wurde nicht nur im Ausland und aus der Distanz erkannt und kritisiert. Noch kurz vor der „Wende" formulierte Bettermann im Kontext des Versuchs, an der Universität Jena ein Studienfach Auslandsgermanistik zu etablieren, Landeskunde als „Lernprozeß der Annäherung an die Wahrheit" (Bettermann 1989, 232), wobei die Faktenvermittlung zu Gunsten der Problemorientiertheit und schematisches Lernen zu Gunsten kreativen Denkens zurücktreten sollte. Daher ist auch nicht mehr ein abstraktes Bildungsideal das Kriterium seiner Themenauswahl, sondern Widersprüche und Probleme bilden die Knotenpunkte, an denen die landeskundliche Totalität auf das Wesentliche beschränkt werden kann. Und den Lehrbuchautorinnen und -autoren aus Ost und West wird ans Herz gelegt, nicht ein komplettes Landesbild vermitteln zu wollen und überhaupt aufzuhören, das Eigeninteresse als das der Lerner auszugeben, vielmehr statt dessen besser „Interesse für die Länder der Zielsprache zu erwecken, als [die Lerner] mit Informationen zu überfüttern" (Wazel 1989,12). Entsprechend klar wurde auch versucht, für projekt-orientierte und offene Arbeitsformen zu plädieren. Es gab also auch in der DDR Anstrengungen, die Starrheit zu

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

überwinden und das Bewusstsein, dass „Selbstdarstellung nicht das letztlich zu erstrebende Ziel sein [kann], schon deshalb nicht, weil eine germanistische Ausbildung die Beschäftigung mit dem gesamten deutschen Sprachraum und damit auch mit allen deutschsprachigen Staaten fordert." (Uhlemann 1989, 338) In der Summe jedoch ist Zeuner wohl Recht zu geben, wenn er rückblickend festhält, dass es in der Landeskundedidaktik der DDR „bei kognitiv orientierten Landeskundemodellen [blieb], die nicht vermochten, den ganzen Lerner anzusprechen, also auch seine Erfahrungen, Gefühle, Wahrnehmungen. Und es gelang kaum, didaktische Verfahren zu entwickeln, die über Kenntnisvermittlung hinausgingen." (Zeuner 1994, 124) 4.

Die Aufwertung der Landeskunde in den sechziger Jahren

Die kulturkundlichen Positionen der fünfziger Jahre gerieten in der Bundesrepublik Deutschland in den sechziger Jahren zunehmend in eine Krise. Das didaktische Interesse galt nicht mehr allgemeinen, neuhumanistischen Bildungsidealen, sondern die Nützlichkeit der Fremdsprache, ihr Gegenwartsbezug trat wieder in den Vordergrund. Nicht zufällig griff die Didaktik in der Diskussion wieder auf Elemente der Reformbewegung zurück, wobei die Sprechfertigkeit zur Kommunikationsfahigkeit erweitert wurde. Damit verbunden war die Abkehr von der an der „Muttersprache" orientierten inhaltsbezogenen Grammatik und im Rückgriff auf frühe Ansätze der pragmatisch orientierten Sprachwissenschaft auch die Überwindung der scheinbar ideologiefreien formalen Linguistik. Damit galt auch das landeskundliche Interesse wieder verstärkt der gegenwartsbezogenen Sachinformation, die pragmatisch orientierte Landeskunde (Melde 1987, 22f.) begann sich zu etablieren. Denn Kommunikation findet in konkreten Situationen statt, deren Verständnis Hintergrundinformation nötig macht. Sehr deutlich lässt sich das in der bislang einzigen Landeskundemonographie von Erdmenger/Istel (1978) erkennen. Erdmenger/Istel definieren Kommunikationsfahigkeit als die „Beherrschung der sprachlichen Fertigkeiten und die Kenntnis über den die fremde Sprache verwendenden Kulturbereich", Landeskunde ist daher „Wissensvermittlung für die Bewältigung dieses Prozes-

122. Informationsorientierte Landeskunde ses". Sie bedient sich dazu „geographischer, geschichtlicher, soziologischer Inhalte, soweit sie der Kommunikationsfähigkeit dienlich sind." (Erdmenger/Istel 1978, 21) Eine Legitimation dieses übergeordneten Lehrzieles unterbleibt jedoch ebenso wie die Diskussion des Lehrzieles „Völkerverständigung". Für den Sprachunterricht bedeutet dies Konzentration auf faktenorientiertes Hintergrundwissen, nicht zufallig wird wiederholt die „dienende Funktion" der Landeskunde betont. Da im didaktischen Konzept die individuelle Kommunikation dominiert und im Unterrichtskonzept außerdem die Wortschatzvermittlung eine zentrale Rolle einnimmt, reduziert sich die Landeskunde allerdings über weite Strecken auf linguolandeskundliche Erklärungen. Ähnliches gilt auch für den Umgang mit Literatur, jedoch erweitert um den bildungsbürgerlichen Wissenskanon der Literaturgeschichte. Landeskunde wird damit zu einem, wenn auch als notwendig angesehenen „Anhängsel" des Sprachunterrichts, womit eine Einschätzung der Landeskunde gefestigt wird, die sich als „Kontext-Wissen" (Schmidt 1980) bis in die Gegenwart wiederfindet. Einen weiteren Anstoß für die Aufwertung der Landeskunde hat schließlich auch die Neuorientierung der auswärtigen Kulturpolitik in der Bundesrepublik gegeben, die in den siebziger Jahren zu einer Intensivierung der internationalen Vermittlung der deutschen Sprache geführt und dabei ähnlich der DDR die Vermittlung von Landeskenntnissen zum Aufbau eines positiven Deutschlandbildes zum Ziel hatte. Nicht zufallig betont 1985 die deutsche Bundesregierung: „Deutschunterricht in anderen Ländern [...] muß landeskundliche Kenntnisse vermitteln. Ein landeskundlich orientierter Deutschunterricht kann dazu beitragen, das häufig einseitig durch Presse und Fernsehen geprägte Deutschlandbild der Sprachschüler im Ausland zu korrigieren." (zit. nach Ammer 1988, 25) Schon 1966 nannte Willy Brandt als Außenminister die auswärtige Kulturpolitik die „dritte Säule der Außenpolitik", und 1970 stellte Ralf Dahrendorf in einem Referat im Goethe-Institut dem engen Kulturbegriff einen erweiterten entgegen (vgl. Kretzenbacher 1992, 180). Diese Erweiterung des Kulturbegriffs wurde im selben Jahr in den „Leitsätzen für die Auswärtige Kulturpolitik des Auswärtigen Amtes" festgeschrieben. In der Folge plädierte Staatsministerin Hildegard Hamm-Brücher 1982 für erweiterte Kulturbeziehungen,

1209 gleichrangigen Kulturaustausch und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Ländern der „Dritten Welt" im Sinne einer Verbindung von wirtschaftlicher und soziokultureller Entwicklung (vgl. Sartorius 1996, 15). Die Politik reagierte damit auch auf Veränderungen des Kulturbegriffs in der wissenschaftlichen Diskussion. Denn in ihr war es, sei es durch die Rezeption sozial- und kulturanthropologischer Ansätze in der Volkskunde (Bausinger), sei es in der mancherorts versuchten Veränderung der Literaturwissenschaft zur Kulturwissenschaft (Wierlacher; Thum) zu einer Erweiterung des Kulturbegriffs gekommen: quantitativ, indem die ,hohe Kultur' um die „Literatur und Kunst in ihrem ganzen Umfang" und „ein weiteres Verständnis der Lebensverhältnisse" ergänzt wurde; qualitativ, wenn der erweiterte Kulturbegriff „gegenüber dem traditionellen Kulturbegriff als unlösbarer Bestandteil des individuellen Lebens wie der sozialen Beziehungen und der dynamischen gesellschaftlichen Entwicklung [erscheint], Kultur steht dem Menschen nicht gegenüber, sondern ist Teil seines Menschseins. Damit ist der erweiterte Kulturbegriff im gesellschaftlichen Zusammenleben integriert, also sozial·, er ist epochenabhängig, also dynamisch·, und er lässt sich nicht unabhängig von den menschlichen Kulturträgern definieren und ist damit relativ." (Kretzenbacher 1992, 177) Darüber hinaus gewinnt die explizite Reflexion der Rolle der Landeskunde im Fremdsprachenunterricht auch deshalb an Bedeutung, weil der Aufbruch politischen Bewusstseins in den sechziger Jahren sowie der Aufschwung der Sozialwissenschaften in den siebziger Jahren und deren Reflexion in der Linguistik sich auch in der Curriculumsdiskussion manifestieren und in der Folge der soziokulturelle Kontext der Sprache zumindest konzeptuell eingefordert wird. Doch, wie Melde nachweist, führen diese Anstöße vorerst nur zu einer kommunikativen Orientierung instrumenteller Ansätze und außersprachlicher Globalziele und nicht wirklich zu einer Integration von Landeskunde in den kommunikativen Fremdsprachenunterricht. Landeskundliche Kenntnisse werden auf die „Zulieferfunktion von ,instrumentellem Kontextwissen'" (Melde 1987, 57) reduziert. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass gerade die Sozialwissenschaften zum Bewusstsein funktionaler Zusammenhänge in der Kultur und damit wesentlich zur differen-

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zierteren Berücksichtigung landeskundlichen Wissens beigetragen haben. Im Zuge der kommunikativen Wende hat man in der Diskussion landeskundlicher Unterrichtsziele und der damit verbundenen Inhalte auch die explizite Abgrenzung einer informationsbezogenen Landeskunde versucht. Verlief die Diskussion bis dahin zwischen realkundlichen und kulturkundlichen Ansätzen, die beide die Notwendigkeit kognitiver Inhalte als selbstverständlich voraussetzten, so führte der kommunikative Ansatz in einer Konzentration auf Alltagserfahrungen und Alltagssituationen und in Verbindung mit seinem emanzipatorischen Ziel zur Hinwendung auf praktische Probleme und deren sprachliche Bewältigung. Dieser handlungsorientierte Aspekt wurde in der Folge von der informationsbezogenen Landeskunde abgehoben, deren Aufgabe „in der Entwicklung von Verstehensfahigkeit der fremden Realität gegenüber [liegt]." (Deutschmann 1982, 246) Die landeskundlichen Informationen werden sozusagen als kognitives Fundament für erfolgreiches Handeln angesehen. Was der kommunikativen Handlung des Muttersprachlers als implizites Wissen zu Grunde liegt, soll durch explizite Information dem Fremdsprachenlerner nachgeliefert werden, damit dieser sich ebenso erfolgreich im Alltag des Zielsprachenlandes behaupten kann. Nun war man zwar nicht mehr der externen Sachlogik eines kanonisierten Wissens oder der hohen Kultur verpflichtet; vage Formulierungen von „einer Kenntnis vielschichtiger Erscheinungen in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft" (Erdmenger/Istel 1978, 14) erlaubten aber dennoch die Weiterführung von nur unwesentlich modifizierten Themenkatalogen. Vor allem aber geht auch dieses Konzept weiterhin von einer der Kommunikation vorgelagerten objektiven Wirklichkeit aus, die es sich anzueignen gilt, will man in der fremden Sprache erfolgreich kommunizieren. Obwohl sich entsprechend der Alltagsorientierung die Prioritäten geändert haben, bleiben also die ausgewählten Sachbereiche zur Festlegung thematischer Schwerpunkte für den Sprachunterricht, etwa in der „Kontaktschwelle" (1989), mit den bislang üblichen Katalogen durchaus vergleichbar. Dagegen werden die landeskundlichen Inhalte nun zunehmend auch in die Lehrwerke integriert. Nicht zufallig lässt sich daher die Liste der Beobachtungssektoren zur Lehrwerksanalyse bei Ammer auch als Grobgliederung von Themenkatalogen lesen. Wenn

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

darin im Unterschied zur Einteilung in offiziösen Informationsfibeln wie „Österreich. Tatsachen und Zahlen", „Tatsachen über Deutschland" oder das „Schweiz-Brevier", Inbegriff faktenorientierter Zusatzinformationen, oder zu früheren Katalogen das Alltagsleben eine wichtige Ergänzung darstellt, so zeigen die Ergebnisse von Ammers Analyse des landeskundlichen Anteils in den untersuchten Lehrwerken doch, wie hoch der Anteil an Informationen auch in kommunikativ orientierten Lehrwerken schon ist. Eine wirkliche Neuorientierung der Landeskunde im Fremdsprachenunterricht bedeutete also die kommunikative Wende nur insofern, als der Alltag recht umfassend im Fremdsprachenunterricht berücksichtigt wurde. Gerade dieses Aufgreifen und Darstellen alltäglicher Situationen in den Lehrwerken wurde jedoch häufig als Flucht vor den „Aporien der Totalität" in den Alltag kritisiert, obwohl auf diese Bezüge besonders in Prüfungsanforderungen und Zertifikaten Rücksicht genommen wurde So betonen die Autoren des VHS-Zertifikats ausdrücklich, dass innerhalb der Themenkataloge und insbesondere der Kataloge der Situationen „landeskundliche Informationen gegeben werden [müssen], ohne die ein angemessenes Verhalten im Land der Zielsprache nicht möglich ist." (Deutscher Volkshochschul-Verband 1977, 543) Zweifellos kommt es also auch von dieser Seite her zu einer Kanonisierung landeskundlicher Information in Hinblick auf die zu bewältigende Alltagskommunikation. Das Verdikt der Flucht in den Alltag verweist auf einen tiefgreifenderen Konflikt. Da der Verzicht auf das abgesicherte Wissen der kognitiv orientierten Bezugswissenschaften den Verlust deren Auswahlkriterien mit sich brachte, sollten die Einbettung in die Lernzieldiskussion und die angestrebte Befähigung der Lernenden zum Alltagshandeln dazu verhelfen, das stetig wachsende landeskundliche Wissen zu selektieren. Denn das Hereinnehmen sozialwissenschaftlicher Fragestellungen in den Lehrzielkatalog des Sprachunterrichts führte nicht nur zu einer Präzisierung, sondern auch zur Vermehrung des Stoffes. Deshalb verweist auch das VHS-Zertifikat auf die „unvermeidliche Willkür" bei der Auswahl der landeskundlichen Inhalte und auf die Notwendigkeit, dabei die Vorkenntnisse der Teilnehmer und deren Interessen zu berücksichtigen.

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122. Informationsorientierte Landeskunde 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

Personalien; Informationen zur Person Wohnen Umwelt Reisen und Verkehr Verpflegung Einkaufen und Gebrauchsartikel Öffentliche und private Dienstleistungen Gesundheit und Hygiene Wahrnehmung und Motorik Arbeit und Beruf Ausbildung Fremdsprache Freizeit und Unterhaltung persönliche Beziehungen und Kontakte Aktualität; Themen von allgemeinem Interesse. (Kontaktschwelle, 29 f.)

Es lässt sich also sowohl das Weiterwirken alter Dichotomien zwischen „hoher Kultur" und Zivilisation sowie bildungsbürgerlicher (kulturkundlicher) Ansprüche und humboldtscher Bildungsideale an den Fremdsprachenunterricht feststellen, als auch auf Grund des impliziten Vorwurfs der Beliebigkeit das Festhalten am Totalitätsanspruch der Landeskunde, ohne jedoch für die Aporien dieses Anspruchs einen Lösungsansatz zu bieten. Letztlich waren und sind diese Ansprüche, wie sie an die idealen Lerner gestellt wurden, jedoch unerfüllbar, weil lediglich auf Verdacht ein unermesslicher Wissenskanon zu erwerben wäre und Wissenslücken nicht gestattet würden. Auf die Schwierigkeit, im Landeskundeunterricht sowohl den enzyklopädischen Ansprüchen als auch dem umfassenden Alltagswissen gerecht zu werden, wurde in den siebziger Jahren zunächst mit eher polemischen Schlagworten wie ,Faktenhuberei' oder .bunter Krämerladen' reagiert. Die Bemühungen, Landeskunde oder Landeswissenschaft als universitäre Disziplin zu etablieren, wurde mit Titulierungen wie ,Querschnittprofessur' bekämpft. Dabei zeigt sich in dieser Diskussion - sowohl in der Klage vom unerreichbaren allumfassenden Wissensstand als auch im Vorwurf, dieser Herausforderung in die Banalität des Alltags auszuweichen - nur die Schwierigkeit, einem Grundprinzip des Fremdsprachenunterrichts gerecht zu werden, nämlich die Verbindung von Landes-

I. 1.1. 1.2. 1.3. II. II. 1. 11.2. 11.3. 11.4. 11.5. III. IV. V. V.l. V.2 VI. VI.l. VI. 2. VI.3. VI.4. VI.5. VI.6.

Die Bundesrepublik Deutschland — Land und Nation Internationale Beziehungen Geographie Geschichte Staat und Politik Strukturprinzipien des Staates — Staatsform Staatsorgane — Verwaltung — Machtmittel Politische Inhalte — Parteien und Politiker Bildungswesen Verhältnis des Staats zum Bürger Wirtschaft Gesellschaft Kunst und Wissenschaft Wissenschaft und Technik Die Künste Das Alltagsleben der Deutschen Arbeit - Einkommen/Auskommen Familie Wohnen Essen und Trinken Freizeit Charakteristika der Deutschen (Ammer 1988, 52f.)

kunde und Spracherwerb zu bewerkstelligen. Schon durch die Reduktion der Landeskunde auf eine ,Zulieferfunktion' wurde weitgehend die selbständige Reflexion landeskundlicher Progression vernachlässigt. Die „Verlandeskundlichung" des Fremdsprachenunterrichts, also durch die Forderung, im Sprachunterricht nicht mehr weiter zwischen sprachlichen und landeskundlichen Elementen zu differenzieren, verschärfte diesen Mangel, denn man geriet recht schnell in die Zwickmühle von hochgesteckten Zielen der Verständigung oder diskursiver Erörterung und von geringen Sprachkenntnissen. Auch wenn im Sinne des interkulturellen Vergleichs aus der Erkenntnis, dass selbst universale Begriffe nur oberflächlich identisch scheinen und kulturspezifisch geprägt sind, konkrete (bilaterale) Aspekte diskutiert wurden, ergaben sich daraus keine weiterführenden Perspektiven für eine methodische und inhaltliche Planung des Unterrichtsprozesses, die beispielsweise mit der Diskussion der Grammatikprogression vergleichbar wäre.

5.

ABCD-Thesen und das Tübinger Modell einer integrativen Landeskunde

Die erwähnten Schwierigkeiten und Widersprüche sind zu bedenken, wenn die ABCDThesen (1990) auf den prozesshaften und dynamischen Charakter der Landeskunde ver-

1212 weisen und bewusst auf „Vollständigkeit der Informationen im Hinblick auf ein hypothetisches Landesbild" (These 2) verzichten. Die Thesen bilden also den Versuch, die zukunftsweisenden Aspekte der Landeskundediskussion der achtziger Jahre zusammenzufassen und als Aufgabe zu formulieren. Daher plädieren sie auch im Sinne neuer Orientierungen im Fremdsprachenunterricht - etwa der konsequenten Lernorientierung und damit dem Ziel einer zunehmenden Autonomie der Lernenden oder der Abwendung von reproduzierenden Fertigkeiten und der Etablierung authentischer Materialien in einem bedarfsorientierten Sprachunterricht - für die Abkehr von enzyklopädischen Ansätzen: „Primäre Aufgabe der Landeskunde ist nicht die Information, sondern Sensibilisierung und die Entwicklung von Fähigkeiten, Strategien und Fertigkeiten im Umgang mit fremden Kulturen." (These 4) Die Landeskunde entgeht so jedoch nicht nur der mit allen enzyklopädischen Ansätzen verbundenen Qual der Auswahl, sie mahnt damit auch die weitgehend vernachlässigte Herausforderung der kommunikativen Wende an, dass nämlich in einem handlungs- und erfahrungsorientierten Fremdsprachenunterricht auch unbestritten notwendige Kenntnisse konsequenterweise weder als Faktenwissen noch als, wenn auch authentischer, Kontext im Rahmen des Sprachunterrichts nachgeliefert werden dürfen. Wenn Verstehen ein dialogischer Prozess im Gefüge von Wissen, Verstehensmöglichkeiten und Verstehensvoraussetzungen ist, dann genügt es nicht, semantische Einheiten zu entschlüsseln: Dann wird vielmehr dieses Gefüge selbst Teil des Verstehensprozesses, um so mehr, wenn es sich um kulturell differente Lebenswelten der Dialogpartner handelt. Für den Unterricht bedeutet dies, dass die Lernenden die Chance erhalten müssen, selbst ein Bild der Zielsprachenkultur entwickeln zu können und sich dabei sowohl der eigenen kulturellen Prägung als auch der fremdkulturellen Perspektiven dieses Bildes bewusst zu werden. Für den Unterricht bedeutet dies Projektorientierung und damit Förderung der Autonomie der Lernenden, weil es nicht um die Vermittlung eines vorgeblich objektiven und möglichst umfassenden Landesbildes gehen kann. Wird die Lernerzentrierung ernst genommen, müssen vielmehr die Lernprozesse und die Eigen- und Fremdperspektiven bewusst gemacht und reflektiert werden, muss auf strategisches Wis-

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

sen mindestens ebenso viel Wert gelegt werden wie auf Sachinformationen. Die konsequente Lernerorientierung und Autonomie der Lernenden sowie die Abwendung von reproduzierenden Fertigkeiten und die Etablierung authentischer Materialien für einen bedarfsorientierten Sprachunterricht verdeutlichen allerdings auch den Leerlauf der zentralen Frage nach der Auswahl und ihrer Beliebigkeit. Fruchtbare Ansätze ergeben sich vielmehr, wenn die landeskundlichen Inhalte nicht mehr als quasi allgemeingültige Einheiten in ihrer Bedeutung und Notwendigkeit abgewogen werden, wenn also wieder nur die Aktualität eines Themas gegen die angeblich zeitlose Gültigkeit eines Wissenskanons ausgespielt wird, sondern deklaratives und prozedurales Wissen (Neuner 1994, 33) integriert werden. Ein überzeugendes Beispiel dafür wäre das „Tübinger Modell einer integrativen Landeskunde", weil es „als Reaktion auf die frühere Fakten- und Institutionenlehre, aber auch auf sozialwissenschaftlich dominierte kognitive Aufklärungskonzepte [...] Zugänge [favorisiert], die das subjektbezogene Erleben der fremden Kultur in den Mittelpunkt rücken" und somit die Polarisierung von „hoher Kultur" und „Alltagskultur" vermeiden (Mog/Althaus 1993, 10). Zugleich haben die Autoren erkannt, dass das „Prinzip des konkreten Ausgangspunkts" (Krusche 1997, 77), also der Einstieg über anschauliche Details, nicht anhand spezialwissenschaftlicher Abhandlungen zu einem facettenreicheren und komplexeren Bild führt, sondern die Integration verschiedener Zugänge verlangt, wobei sich der Rekurs auf nötige Fakten und Kenntnisse weder aus einem enzyklopädischen Anspruch, noch aus dem Zufall oder der Beliebigkeit ergibt, sondern aus dem Bedarf an Wissen und Information zur Lösung auftauchender Fragen. Einen vergleichbaren Ansatz entwickeln Badstübner-Kizik/Radziszewska (1998) im Rahmen der Konzeption eines neuen Landeskunde-Curriculums im Kontext der DACHSeminare (vgl. Hackl/Langner/Simon-Pelanda 1997). Aus generativen Themen, die aus der Lebenswelt der Lerner immer wieder neue relevante Themen hervorbringen, entstehen Themennetze, zu denen so genannte Kodierungen den Zugang ermöglichen. Kodierungen — in ihren Formen (historische Quellen, Filme, Fotos, literarische Texte, Lieder etc.) nahezu unbegrenzt — sind „verschlüsselte Darstellungen eines generativen Themas, die den Einstieg in komplexere Zusammenhänge

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122. Informationsorientierte Landeskunde

[Themennetze] ermöglichen, indem sie offene Fragen provozieren, d. h. Fragen, bei denen keine konkrete Antwort erwartet wird (auch gar nicht gegeben werden kann)" (Badstübner-Kizik/Radziszyewska 1998, 14). Nicht zufallig spielt in beiden Modellen die Literatur eine zentrale Rolle, kam es doch nach einer Phase der rigiden Ausgrenzung der Literatur aus dem Fremdsprachenunterricht — sei es, um die Irrwege der Kulturkunde zu vermeiden, sei es, um den pragmatischen Aspekten des kommunikativen Ansatzes Genüge zu tun - zu einer Renaissance der Literatur. Sie war nun jedoch nicht mehr nur Objekt und Ziel des Landeskundeunterrichts, sondern ein Mittel, mit dem „die Unterschiede von eigener und fremder Wirklichkeit und subjektiver Einstellungen bewußtgemacht werden, zumal literarische Texte gerade dadurch motivieren, daß sie ästhetisch und affektiv ansprechen." (These 14). Literatur wird also für den landeskundlich orientierten Sprachunterricht nicht nur wegen allfalliger Referenzen zur Wirklichkeit und der in ihr enthaltenen Lebenswelten wichtig. Eben weil Literatur kein bloßes Abbild einer Wirklichkeit ist, können landeskundliche ad /ÎOC-Erläuterungen nicht genügen, kommt ihr vielmehr im Hinblick auf die Informationsvermittlung insgesamt eine wichtige grundsätzliche Bedeutung zu. Zunächst bietet sie eine Orientierungshilfe bei der Suche nach relevanten Fakten und Kenntnissen, weil sie die an sich unüberschaubare Wirklichkeit auf Wichtiges begrenzt und damit die Fragestellungen und den Bedarf an Wissen und Fakten kanalisiert. Enzyklopädisches Wissen ist ja auch deshalb lerntheoretisch obsolet, weil die Studenten nie auf Verdacht alles lernen können, was sie vielleicht irgendwann einmal brauchen könnten. Informationen sind vielmehr erst dann sinnvoll, wenn sie durch ein persönliches Bedürfnis motiviert sind, wenn sie - ähnlich der Projektarbeit — Antwort auf unmittelbar gestellte, neugierige Fragen sind, die gerade durch Literatur zweifellos provoziert werden. Darüber hinaus hat die Literatur noch einen weiteren Wert im Hinblick auf den Umgang mit Informationen. Trotz unseres Wissens um die Bedingungen und Strukturen unserer Informationsgesellschaft neigen wir immer wieder dazu, die Information über die Wirklichkeit für die Wirklichkeit selbst zu halten, obwohl wir doch wissen, dass ,Wirklichkeit' auch oder gerade in einer Informationsgesellschaft nicht umfassend vermittelt werden kann. Für den

Landeskundeunterricht bedeutet das, dass wir trotz aller Bemühungen um Authentizität und umfassende Information nicht die Wirklichkeit selbst vermitteln, sondern höchstens die Lernenden vorbereiten können, mit der Wirklichkeit zurechtzukommen. Auch im Umgang mit Fakten und Informationen kommt man ohne Interpretationsvorgang nicht zurecht, braucht man Orientierungsfahigkeiten, die wir gerade im Umgang mit Literatur erarbeiten und üben können. Dazu kommt, dass insbesondere Literatur ein allzu hypothetisches und klischeehaft-undifferenziertes Landesbild verhindert, eben weil sie u. a. auch regionale oder soziale Faktoren vermitteln kann und sich nicht mit der geschönten und verzerrenden „Wirklichkeit" vieler Lehrbücher zufrieden gibt. Diese Interpretations- und Orientierungsleistung bekommt angesichts neuester Technologien zusätzliches Gewicht. Die zunehmende globale Vernetzung der Kommunikation und Information, das rasante Wachstum und die Tatsache, dass die Art und Qualität der Informationsvermittlung radikal verändert wird, hat für die Landeskunde enorme Konsequenzen, denn Aktualität und Authentizität stellen keine große Herausforderung mehr dar. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Faszination der zunehmend problemlosen Verfügbarkeit von Informationen zu einer neuen Diktatur der Fakten führt und uns die Fülle authentischer und aktueller Texte den Blick dafür trübt, dass die Aufgabe des Fremdsprachenunterrichts nicht das Bereitstellen von Material ist, sondern die didaktische Reflexion und die methodische Umsetzung der selbstgesteckten und/oder im Curriculum vorgegebenen Lehr- und Lernziele.

6.

Literatur in A u s w a h l

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Wolfgang Hackl, Innsbruck ( Österreich)

123. Sprachbezogene Landeskunde 1. 2. 3. 4. 5.

Begriffsverständnis Begriffsgeschichtliche Aspekte Aspekte landeskundlicher Inhalte Methoden und Strategien Literatur in Auswahl

1.

Begriffsverständnis

Sprachbezogene Landeskunde ist ein nicht einheitlich und eindeutig verwendeter Begriff. Im Allgemeinen wird er jedoch benutzt, um einen besonders engen Zusammenhang zwischen Sprachlernen und Kulturvermittlung/ Kulturverstehen im Fremdsprachenunterricht zu kennzeichnen (Interdependenz), und gehört neben explizit-thematischen bzw. problemorientierten und anthropologisch interkulturell akzentuierten Varianten zum fremdsprachendidaktischen, stark von der Linguistik inspirierten Verständnis von Landeskunde. Es handelt sich einerseits inhaltlich um „in den Lernprozess inkorporierten landeskundlichen Stoff' (Heibig 1986,45), der also der Sprache immanent ist, und andererseits methodisch um Strategien und Techniken zur Erschließung der in der Sprache vor-

handenen landeskundlichen Elemente, wobei Landeskunde in neuerer Sicht auch ein programmatischer Begriff ist, der die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kultur und Zivilisation meint und sich an der Gesamtheit aller Lebensformen bzw., wenn man Kultur als den Gegenstand der Landeskunde annimmt, aller Manifestationen von Kultur orientiert (vgl. Bausinger 1980, 57; Picht 1991, 5). Die Verwendung des nicht unumstrittenen Begriffs Landeskunde anstelle von Kulturkunde ist im Zusammenhang mit dem Sprachunterricht insofern zu vertreten, als die Kategorie Land „alle sprachlichen wie außersprachlichen Natur- und Kulturerscheinungen" meinen kann (Galinsky 1983, 7) und die Interpretation im Sinne eines engen Kulturbegriffs ausschließen soll. Die Begriffswahl verdeutlicht also einen sich in den 70 er Jahren vollziehenden Paradigmenwechsel, der sich durch die zunehmende Abwendung von einem in Deutschland dominierenden engen KulturbegrifF im Sinne „hoher" Kultur zu einer alle Lebensbereiche, -gewohnheiten und -äußerungen zwischenmenschlicher Beziehungen einschließen-

1216

XVII. Landeskundliche Gegenstände I: Standpunkte

den „erweiterten" Kultur auszeichnete und dadurch die Verknüpfung des Spracherwerbs mit kulturellen Zielen und Inhalten erst wirklich ermöglichte. Landeskunde ist demnach an den Sprachunterricht gebunden, geht entweder von Sprache aus oder führt zu ihr hin, weil im Interesse der Vermittlung von kommunikativer Fähigkeit nicht nur die fremdsprachlichen Mittel und die Regeln des situativen Gebrauchs von Sprache, sondern auch die sozialkulturellen Bezüge, Hintergründe und Kontexte von Bedeutung und auch verbalisierbar sind. In dieser weit gefassten Definition ist sprachbezogene Landeskunde identisch mit der häufig anzutreffenden Bezeichnung integrative Landeskunde, die jedoch auch interdisziplinäre Projekte im Sinne einer Deutschlandkunde oder von Deutschlandstudien umfasst (vgl. Mog/Althaus 1993, 11). Abgesehen von der ursprünglichen Benennung wissenschaftlicher Teildisziplinen der Geschichte (historische Landeskunde, Regionalkunde), Geographie (z. B. vergleichende Länderkunde) und Politik {politische Landeskunde) usw. ist Landeskunde also genau genommen immer mehr oder weniger direkt mit dem Erwerb der fremden Sprache verbunden. Des Weiteren wird auch für eine thematischsystematische und didaktische Lehrdisziplin innerhalb der Aus- und Weiterbildung von

Fremdsprachenbereich gelten, die so genannten „Allerweltsinhalte" mit anekdotischem und eher zufälligem als planbarem Charakter (Deutschmann 1982, 126 f.). Sprachbezogene Landeskunde muss nicht auf ein bestimmtes methodisches Konzept festgelegt werden oder alleiniger Gegenstand linguistischer Betrachtung sein, sondern kann sich in der modernen Auffassung von variabler und kombinierbarer Methodenvielfalt im Zusammenwirken von Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Sprachdidaktik und Sozialwissenschaften auf eine ganzheitliche Tradition des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland berufen, die in Ansätzen bis zum Ende des 19. Jhs. zurückreicht. Im Hinblick auf einen den Erfordernissen der transnationalen und interkulturellen Kommunikation entsprechenden Fremdsprachenunterricht sollte der Spracherwerb statt eines Neben- oder Nacheinanders „als Prozeß der gleichzeitigen Integration sprachlichen und sozialkulturellen Wissens angesehen werden" (Buttjes 1989, 84). Mit mehr oder weniger direkten Beziehungen zum Sprachunterricht lassen sich folgende miteinander in Verbindung stehende Funktionsbereiche der Landeskunde in und für Deutsch als Fremdsprache erkennen:

Tabelle 123.1

Landeskunde und DaF a) Moderne Landeskunde

b) Lehrfach Landeskunde

(Studien deutschsprachiger Länder)

(Kulturkunde, Landeskunde-Didaktik)

integrativ, vergleichend, konstrastiv

exemplarisch — thematisch, explizit

c) sprachbezogene Landeskunde (Landeskundliches Prinzip) integrativ, implizit, explizit

kognitiv-affektiv i Information + Orientierung

kommunikativ