Designing Concerns: Bruno Latour und das Transformation Design 3837667065, 9783837667066

How can actor-network theory and Bruno Latour's work be related to the shaping of social transformation? Peter Frie

115 32 48MB

German Pages 420 [515] Year 2024

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Designing Concerns: Bruno Latour und das Transformation Design
 3837667065, 9783837667066

Table of contents :
Cover
Inhalt
Textgestaltung und Schreibweisen
Verzeichnis der Siglen
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Kernpunkte
Zusammenfassung
Vorbemerkung
Vorwort
Aufbau
Einleitung
Teil A Situierung des Designs
1 Design als »Dingpolitik« (Latour)
2 Das Design und die Sozial- und Kulturwissenschaften:
Ein komplementäres Modell?
3 Latours Perspektive auf das Design
4 Der Riss: Dichotomien im Design – und Concerns als Alternative?
5 Kritik des Social Designs
6 Stufenmodelle des Designs
7 Von den Stufenmodellen
zum »Hyperzyklus der Transformation«
8 Geschichtliche Betrachtung: Exemplarische
»Helden« des Designs und ihre Ehrung durch Kritik
9 Design for the Pluriverse?
10 Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe
11 Fazit
Teil B Der Designer als »vorsichtiger
Prometheus« (Latour)?
1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)
2 Visualisierung: Hohe Erwartungen,
schwache Grundlagen
3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung
4 Diskussion von Einzelaspekten
5 Latours Diagramme
6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle
7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger
sowie Tarde
8 Latours Sprachform und Theoriedesign
9 Latours Projekte
10 Fazit: Latours Position zum Design
Teil C Der Concern Ansatz
1 Die Aufgaben des Concern Ansatzes
2 Grundlagen des Concern Ansatzes
3 Der Concern Begriff
4 Concerns: Jenseits der Dichotomien
5 Tools und Methoden:
6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes
7 Visualisierung und Modellierung von Concerns
8 Schlussbetrachtung
Quellen und verwendete Literatur
Personen Index

Citation preview

Peter Friedrich Stephan Designing Concerns

Design | Band 61

Peter Friedrich Stephan (Prof. Dr.) ist Professor für Transformation Design an der Kunsthochschule für Medien Köln. Als Designer und Berater begleitet er Unternehmen und Organisationen bei der sozialen und digitalen Transformation. In den 1990er Jahren war er ein Pionier der Neuen Medien im Umfeld der Unternehmenskommunikation. Er war Mitbegründer von Forschungen zum Computational Design und Cognitive Design und führt internationale Projekte und Workshops zum Concern Design durch.

Peter Friedrich Stephan

Designing Concerns Bruno Latour und das Transformation Design

Überarbeitete Version von Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns – Transformation Design und die Akteur-Netzwerk-Theorie nach Bruno Latour, Dissertation, Hochschule für bildende Künste Braunschweig 2023

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: PFS Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6706-6 PDF-ISBN 978-3-8394-6706-0 https://doi.org/10.14361/9783839467060 Buchreihen-ISSN: 2702-8801 Buchreihen-eISSN: 2702-881X Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

»Peter Friedrich Stephan legt einen Designbegriff vor, der ehrgeizig genug ist, jede Praxis zu erfassen. Und er liefert die theoretischen Modelle, die geeignet sind, eine Praxis mit sich selbst bekannt zu machen.« Prof. Dr. Dirk Baecker Seniorprofessor für Organisations- und Gesellschaf tstheorie, Zeppelin Universität Friedrichshafen

»Eine einzigartige und großartige Vielfalt an Theorien, Erkenntnissen und pragmatisch anwendbaren Methoden und Tools, die in Projekten des Transformation Designs produktiv werden können. Der aus der Akteur-Netzwerk-Theorie entwickelte Concern Ansatz bietet eine neue Perspektive auf das Design und gibt Hilfestellung für verschiedene Problemlagen. Beispielsweise kann im Anwendungsfeld des Social Designs die vorgestellte ›Concern Canvas‹ helfen, den besten Ausgangspunkt für Intervention, Innovation und Design zu finden.« Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer Professor für Electronic Business und Marketing, Universität der Künste Berlin, Direktor Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaf t

»Stephan’s book is an extremely valuable resource. The book not only delves into Latour’s body of work with rigor and clarity but also shares Stephan’s ideas and frameworks to further support the foundations for Transformation Design, making it into an exciting read!« Raz Godelnik Assistant Professor and Director, BBA Strategic Design & Management, Parsons School of Design, New York/USA

»Mit diesem wichtigen Buch liefert Peter Friedrich Stephan theoretische Grundlagen für die neue Disziplin des Transformation Designs. Danach besteht die Aufgabe des Designs darin, kulturelle Formate, d.h. individuelle und soziale Konstruktionen mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Rahmen zu gestalten. Wegen der praktisch anwendbaren Modelle und Tools sollte das Buch in den verschiedenen Disziplinen der Gestaltung zur Pf lichtlektüre werden. Darüber hinaus ergänzt Stephan die Forschung zu Latour und der Akteur-Netzwerk-Theorie um bisher weniger rezipierte Aspekte der Gestaltung. Daher sollte es auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften auf breite Resonanz stoßen.« Prof. Dr. David J. Krieger Direktor Institut für Kommunikation & Führung – IKF, Luzern/Schweiz

»Wer über Design nachdenkt, kommt an einer Auseinandersetzung mit Bruno Latour nicht vorbei. Stephans Analyse liefert dafür ein Fundament, dessen Lektüre von nun an als unabdingbar vorausgesetzt werden muss. Darüber hinaus bietet er mit ›Concerns‹ einen geschärften Begriff an, den er in den Mittelpunkt eines produktiven Ansatzes für die Transformation des Designs rückt. Ein brandaktueller Beitrag, der die Theorie und Praxis des Designs für alle nachhaltig beeinf lussen wird.« Prof. Dr. René Spitz Vorstand iF-Designfoundation, Professor für Designwissenschaf t und Designmanagement, Rheinische Fachhochschule Köln

»Bruno Latours suggestive, dem Design schmeichelnde Frage: ›Why not transform this whole business of recalling modernity into a grand question of design?‹ verkennt, dass Design selbst in Sackgassen steckt, theoretisch, methodisch und praktisch. Symptomatisch zeigt sich dies in den Ponyhofidyllen des Social Designs oder den Allmachtsphantasien vom ›Weltentwerfen‹. Peter Friedrich Stephan organisiert eine Rückrufaktion für eine umfassende Erneuerung des Designs, die dieses befähigen könnte, seinen selbstgesetzten Ansprüchen ein wenig gerechter zu werden.« Prof. Dr. Wolfgang Jonas Professor für Designwissenschaf t, ehemals Hochschule für Bildende Künste Braunschweig

Ich danke… meiner Familie Roland Aley für Gespräche und Musik Enno Hyttrek für die Grafiken allen, mit denen ich das Thema ›Concern Design‹ in Hochschulen, Unternehmen und Organisationen entwickeln konnte

In other words, why not transform this whole business of recalling modernity into a grand question of design? Bruno Latour MEx:23

Inhalt

Textgestaltung und Schreibweisen 15 | Verzeichnis der Siglen 17 | Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen 19 | Kernpunkte 23 | Zusammenfassung 27 | Vorbemerkung 29 | Vorwort 31 | Aufbau 33 | Einleitung 35

Teil A Situierung des Designs  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 41 1

Design als »Dingpolitik« (Latour)  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 43 1.1 Warum Design und ANT gemeinsam bedenken? 44 | 1.2 Anschlüsse 45 | 1.2.1 Thematik 45 1.2.2 Methodik 46 | 1.2.3 Theoriedesign 46 | 1.3 Pragmatische Rezeption der ANT 48 1.4 Im Zeichen der Ameise (ANT) 49 | 1.5 Latour als »Liebhaber« und »Student der Wissenschaften« 51 1.5.1 Die Wissenschaften als Objekt der Begierde 52 | 1.5.2 Latour als Marke und Medienphänomen 53 | 1.5.3 Latour in seinem Netz 54 | 1.5.4 Latour als Projektemacher 55 | 1.5.5 Allgemeine Rezeption Latours 56 | 1.5.6 Latours Medienpraxis und Rezeption 57

2 Das Design und die Sozial- und Kulturwissenschaften: Ein komplementäres Modell?  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 59 2.1 Rückblick 59 | 2.2 Ergänzung: analytisch – synthetisch 60 | 2.3 »Weltbildende Aktivitäten« 62 2.3.1 Transformationen und ANT 63 | 2.4 Erweiterte Dimensionen des Designs: sozial-organisatorisch und materiell-gegenständlich 64

3 Latours Perspektive auf das Design  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 67 3.1 Latours Forderung »modernize modernization« 68 | 3.2 Zwischen Museum und Ruine: Die Dialektik der Moderne 69 | 3.2.1 Das Design als Agent der Moderne 70

4 Der Riss: Dichotomien im Design – und Concerns als Alternative?  � � � � � � � � � � � 71 4.1 Die Dichotomie im Design 71 | 4.2 Schieflage der Diskussion 72 | 4.3 Von den Dichotomien zu »a way of discussing life« 73

5 Kritik des Social Designs  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 75 5.1 Der Begriff und Anspruch des Social Designs 75 | 5.1.1 Was ist »das Soziale«? 76 | 5.1.2 Die Ruinen von Planung und Entwicklung 77 | 5.1.3 Von der guten Form zur guten Gesellschaft? 78 5.1.4 »Weltdesign« – »Formungsmasse« – »gutes Leben«? 79 | 5.1.5 Eine Revision der Moderne? 81

5.2 Moralagentur und Zivilreligion 82 | 5.2.1 Heilige und Sünder 83 | 5.3 Design – Politik – Verantwortung 84 | 5.3.1 Utopien der Moderne 85 | 5.3.2 Politik und/oder Gestaltung? 86 5.3.3 Verantwortung der Designer 87 | 5.3.4 »By design or by disaster« vs. »Ruined by Design« 88 5.3.5 Macht und Ohnmacht der Designer 89 5.4 Leitbilder und Ikonografien 90 | 5.4.1 Gemäß der Natur leben? 91 | 5.4.2 Die 1970er Jahre – revisited? 92 | 5.4.3 Radical Design als Concern Design »avant la lettre«? 92 | 5.5 Fazit: Präferenz für das Transformation Design 93

6 Stufenmodelle des Designs � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 95 6.1 Ursprung und Kritik der Stufenmodelle 95 | 6.2 Krippendorf: »Trajectory of Artificiality« (1997) 97 6.3 GK VanPatter und »The Other Design Thinking« (2013) 98 | 6.4 Carnegie Mellon: »Design Evolution« und Curriculum (2015) 99 | 6.5 Operationalisierbarkeit der Modelle 100 | 6.6 Bewertung der Stufenmodelle: Fortschritt oder Kreislauf? 100

7 Von den Stufenmodellen zum »Hyperzyklus der Transformation«  � � � � � � � � � 103 7.1 Erweitertes Stufenmodell 103 | 7.2 Der Hyperzyklus der Transformation 104 | 7.3 Erprobung des Hyperzyklus´ 106 | 7.4 Transformation und strategisches Design: Warum, was, wie? 107 | 7.5 Die Instanzen des Hyperzyklus´ 108 | 7.5.1 (Meta-)Material 108 | 7.5.2 Produkt 109 | 7.5.3 Symbolische Kommunikation 109 | 7.5.4 Interaktion 110 | 7.5.5 Organisation 110 | 7.6 Fazit 111

8 Geschichtliche Betrachtung: Exemplarische »Helden« des Designs und ihre Ehrung durch Kritik � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 113 8.1 Victor Papanek 113 | 8.2 Buckminster Fuller 114 | 8.3 Herbert A. Simon 117 | 8.3.1 Ontologisches Design 118 | 8.4 Fazit 120

9 Design for the Pluriverse?  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 121 9.1 »What’s wrong with a one-world world?« (Law) 121 | 9.1.1 Aufgabe der Politik und der Künste: Welten zusammensetzen 123 | 9.2 Europa soll führen? 124

10 Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 127 10.1 Neue Anforderungen 127 | 10.2 Theorie und Kritik, Wissenschaft und Philosophie 129 10.3 Philosophien des Designs 129 | 10.4 Legitimation des Designs 130 | 10.5 Folgerungen: Institutionen und Werkzeuge 132 | 10.5.1 Institutionen 132 | 10.5.2 Werkzeuge und Selbstbestimmung 133 10.5.3 Beispiel für Formate und Tools: The Design of Death 1 34

11 Fazit  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 137

Teil B Der Designer als »vorsichtiger Prometheus« (Latour)?  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 139 1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)?  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 143 1.1 Bewertung des Prometheus-Artikels 143 | 1.2 Latours Design Aufgabe 144 1.3 Die Platzierung des Designs im Theorierahmen der ANT 146 | 1.3.1 »Zwei große, alternative Narrative« 146 1.4 Rezeption des Prometheus-Textes 149 | 1.4.1 Deutschsprachige Rezeption 150 | 1.4.2 Internationale Rezeption 152 | 1.5 Anschlüsse und Perspektiven 153 | 1.5.1 Reaktion auf den Prometheus-Text 153 | 1.5.2 Demut und Anmaßung 153 | 1.5.3 Widerspruch 154 | 1.5.4 Überprüfung und Weiterdenken 154

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 157 2.1 Problematik der Visualisierung von »matters of concern« 157 | 2.1.1 Concerns und Gefühle 157 2.1.2 Prägung durch Medien 158 | 2.1.3 Datenbasis 158 | 2.1.4 Rhetorik 158 | 2.1.5 Komplexität 158 2.1.6 Stereotype und »zweiter Empirismus« 159 | 2.1.7 Beobachtung 159 | 2.1.8 Instanz der Entscheidung 159 | 2.1.9 Fazit zur Forderung nach Visualisierung: Latours blinder Fleck 160 | 2.2 Die Macht der Karten 160 | 2.2.1 Konzeptionen der Macht 162 | 2.2.2 Latours Vorbild: Die Explosionszeichnung 163 | 2.2.3 Latour als Entdecker 164 | 2.2.4 Die dunkle Seite jeder Karte 164 | 2.2.5 Universalistische Karten für pluriversale Perspektiven? 165 | 2.2.6 »Cartography is Dead«: Unmapping, Counter Mapping 166 | 2.2.7 »Weltbildende Aktivitäten« ohne Meta-Kartierung 167 | 2.2.8 Polykontexturalität 167 | 2.3 Diagramme und Kalkül 168 | 2.4 Zuviel Visualisierung? 169 | 2.5 Wissensdesign 171 | 2.6 Kriterien für Diagramme 173 | 2.6.1 Field Book und Manuals 174 | 2.6.2 Latours fiktives Planetarium 175 | 2.7 Fazit 176

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 179 3.1 Latours Begriffe 179 | 3.2 »Matters of fact« und »Matters of concern« 180 | 3.2.1 Latours »Spezifikationen« 180 | 3.2.2 Probleme der Übersetzung 182 | 3.2.3 Temporäre Zuschreibungen 184 3.2.4 »Matters of concern« und Szenografie 186 | 3.2.5 Zwei Rahmungen der Szenografie 187 3.2.6 Latours Theaterarbeit 189 | 3.2.7 Differenzierung von Latours Visualisierungsaufgabe 190 3.2.8 Fazit 191 | 3.3 Weitere Begriffe und Übersetzungen 193 | 3.3.1 Beispiel: »The whole business of recalling modernity« 193 | 3.3.2 »Reassembling the Social« vs. »Eine neue Soziologie …« 194 3.3.3 Beispiel: »Ready for us« und »Travellers in transit« 195 | 3.3.4 Beispiel: »Das Chaos zur Welt krempeln?« 196 | 3.3.5 Die »immutable mobiles« – »unveränderliche mobile Elemente« 197 3.3.6 »Artifizialität« und Künstlichkeit 198 | 3.4 Zusammenfassung 199

4 Diskussion von Einzelaspekten  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 201 4.1 Die »fünf Vorteile des Konzepts Design« 201 | 4.2 Design als »Machtausstatter« oder »notso-serious profession«? 203 | 4.3 Die »Profession« Design 204 | 4.4 Architektur und CAD 205 4.5 Die Erweiterung des Designbegriffs 207 | 4.6 Latours Kollektivsubjekte 208 | 4.7 Agency 210

5 Latours Diagramme � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 213 5.1 Schema von Natur und Kultur 213 | 5.2 Grafisches Experiment mit Latours Schema von Natur und Kultur 215 | 5.2.1 Beurteilung des Schemas 216 5.3 »Kulturkalkül« von Dirk Baecker 217 5.3.1 Die Einheit der Unterscheidung 217 | 5.3.2 Kultur und Natur im Kulturkalkül 218 | 5.3.3 Vergleich der Diagramme von Baecker und Latour 219 | 5.4 Neue Darstellung 219 | 5.5 Zwei Diagramme zur Operationalisierung 220 | 5.5.1 »AND/OR Diagramm« 220 | 5.5.2 Diagramm der soziotechnischen Evolution 221

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 225 6.1 Materielle Objekte 226 | 6.1.1 Berliner Schlüssel, Hotelschlüssel, Türschließer 226 | 6.1.2 Sicherheitsgurte und Straßenschwellen 227 | 6.1.3 Die Sicherheitstür zum Cockpit 229 | 6.2 Materiellmediale Beispiele 230 | 6.2.1 Das iPhone 230 | 6.2.2 Colin Powells Rede 2003 vor den Vereinten Nationen 232 | 6.2.3 Das Challenger Space Shuttle 235 | 6.3 Zusammenfassung der Diskussion der Beispiele 238 | 6.3.1 Bewertung der Beispiele 238 | 6.3.2 Kommentar und Kontext 240 6.3.3 Mechanik und Digitalität 241

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde � � � � � � � � � � � � � � � � 243 7.1 Peter Sloterdijk: Modernisierung und Kompetenzspirale 244 | 7.1.1 Emanzipation und Bindung 245 | 7.1.2 Der Begriff der Moderne bei Sloterdijk und Latour 247 | 7.1.3 »Surface Feature« vs. »Durchbruch ins Oberflächliche« 248 | 7.1.4 Sprachform und Theorieerzählung 250 7.1.5 Der Humor der Großdenker 252 | 7.2 Jürgen Habermas: Humanismus und kommunikative Vernunft 253 | 7.2.1 Humanismus und Verdinglichung 254 | 7.2.2 Diskussion: Menschen als Dinge behandeln? – ANT und Ethik 255 | 7.2.3 Kommunikative Vernunft 257 | 7.2.4 Ideologie und Utopie des Designs 258 | 7.3 Martin Heidegger: Ontologie, Ding und Nähe 259 | 7.3.1 Das Ding 260 7.3.2 Heideggers »unmögliches Projekt« 261 | 7.3.3 Die Gründungsszene der ANT: »Irreductions« 262 | 7.4 Gabriel Tarde: Die »Ökonomie der leidenschaftlichen Interessen« 263 | 7.4.1 Grundlagen von Tardes Sozialtheorie 264 | 7.4.2 Wiederholung, Opposition, Anpassung 265 | 7.4.3 Quantifizierung des Sozialen? 265 | 7.4.4 Ökonomie und Ökonomik 267

8 Latours Sprachform und Theoriedesign � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 269 8.1 Latours Sprachform 270 | 8.1.1 Sprachform und Sprachpolitik 271 | 8.1.2 Die ANT als »Theorieerzählung« 272 | 8.1.3 Latours Theoriedesign 272 | 8.2 Kritik an Latours Theorie und Sprache 273 8.2.1 Parlando: Sound und Resonanz 273 | 8.2.2 Selbstbezug und Hermetik 274 | 8.2.3 Beispiele: Ramses II und Louis Pasteur 276 | 8.2.4 Das Hörspiel »Kosmokoloss« 278 | 8.3 Das »Beschreibungsgeschäft« 279 | 8.3.1 Das Ziel der Beschreibung: Isomorphie und Performanz 281 | 8.3.2 Das Ende der Beschreibung: Wo aufhören? 281 | 8.3.3 Kein Ende, keine Form 282 | 8.4 Sprachverlegenheit 283 | 8.4.1 »Beings of Fiction« 284 | 8.4.2 Wer spricht im Parlament der Dinge? 285 8.4.3 Die »szenische Metaphysik« 286 | 8.4.4 Vom Parlament der Dinge zum Internet der Dinge 288 8.5 »Infra-Sprache«: Sprechen die Akteure oder wer spricht für sie? 289 | 8.5.1 Die Form des Berichts 290 | 8.5.2 Das Narrativ des Revolutionären 292 | 8.5.3 Beobachter und Form, »Flatland« (Abbott) und die »Powers of Ten« (Eames) 292 | 8.6 Welches Protokoll für die neuen kollektiven Experimente? 295 | 8.6.1 Das »Protokoll« als Bericht, Ermöglicher und Format 295 | 8.6.2 Der Wettbewerb der Beschreibungen 296 | 8.6.3 »New collective experiments« als Reallabore? 297 8.6.4 Design für das Protokoll von Experimenten in Reallaboren 299 | 8.6.5 Wissenschaft, Rhetorik und Literatur in der frühen Neuzeit 299 | 8.6.6 Projektemacher und Designer 302 | 8.7 Fazit 303

9 Latours Projekte  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 305 9.1 Aktuelle Omnipräsenz 305 | 9.2 Umfang und Vielfalt von Latours Projekten 307 | 9.2.1 Das Format »Gedankenausstellung« 309 | 9.2.2 Die Vorgeschichte der »Gedankenausstellungen« 311 9.2.3 Neuorientierung der Theoriebildung 312 | 9.3 »Scientific Humanities« – Lehre am Médialab der Sciences Po 314 | 9.3.1 Studentische Arbeiten 315 | 9.4 Kritik der Projekte Latours 317 | 9.5 Das Projekt »Mapping Controversies on Science for Politics – MACOSPOL« 317 | 9.5.1 Die Quellenlage 318 | 9.5.2 Die Programmatik 319 | 9.5.3 Beispiele aus dem Projekt MACOSPOL 321 | 9.6 Beispiel »Taser« – Elektroschockwaffen für die Polizei? 321 | 9.6.1 Bewertung des Projekts Taser 323 9.6.2 Emotionaler Bezug: Concerns 323 | 9.7 Kritik der Projekte 325 | 9.7.1 Standardtools 325 9.7.2 Struktur und Grafik 325 | 9.7.3 Interaktion 326 | 9.7.4 Die Rhetorik der Debatten und der Bilder 327 | 9.8 Bewertung des Projekts MACOSPOL 327 | 9.8.1 Beteiligung von Designern? 328

10 Fazit: Latours Position zum Design  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 331

Teil C Der Concern Ansatz � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 333 1 Die Aufgaben des Concern Ansatzes  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 335 1.1 Ausgangspunkte der Concerns 335 | 1.2 Wirkungseinheit statt Dichotomien 336

2 Grundlagen des Concern Ansatzes  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 339 2.1 Neue Ontologie 340 | 2.2 ANT: Ein neues Verständnis sozialer Dynamik 341 | 2.2.1 Dingpolitik 342 | 2.3 Wunschökonomie: Märkte und Politik der Affekte und Interessen 344 | 2.3.1 Kritik der Wunschmaschinen (Deleuze/Guattari) 345 | 2.3.2 Das Concern Design als Formatierung der Wunschökonomie 345 | 2.3.3 Die »Économie libidinale« (Lyotard) 347 | 2.4 Lebenswelt und Handlungspraxis 347 | 2.4.1 Probleme der Methodik: Praxeologie 348 | 2.4.2 »Objektive Hermeneutik« (Oevermann) 349 | 2.5 Schnittstellen der drei Theorieansätze 350 | 2.5.1 Fabrik vs. Theater 350 2.5.2 »Körper ohne Organe« vs. »libidinöser ›Körper‹« 352 | 2.5.3 Mikro- und Makro-, molekulare und molare Dimensionen 354 | 2.5.4 Primat der Aktion: Information vs. Transformation 355 2.5.5 Kontext heute 356 | 2.6 Concerns und Formate 357 | 2.6.1 Affekt und Form, Irritation und Normalisierung 358 | 2.7 Fazit 359 | 2.7.1 »Meta-Design« (Virilio) und »Meta-Modellierung« (Guattari) 360

3 Der Concern Begriff  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 363 3.1 Merkmale der Concerns 364 | 3.1.1 Erste Annäherung 364 | 3.1.2 Abgrenzung 365 | 3.1.3 »Emotional Design«? 366 | 3.2 Bezug zum »Sozio-Design« (Brock) und »Meta-Design« (Virilio) 367 3.2.1 Fragen an das Sozio-Design 369 | 3.2.2 Beispiel für Sozio-Design: Ernährung 370 | 3.2.3 Explizite Regeln vs. implizite Modelle 371 | 3.2.4 Schlussfolgerungen 374 | 3.3 Die Vektoren der Concerns 374 | 3.3.1 Inhalt 375 | 3.3.2 Intensität 376 | 3.3.3 Ausrichtung 377 | 3.4 Beispiele für Concerns 378 | 3.4.1 Mediale Formatierung von Concerns 379 | 3.5 Merkmale der Concerns 381 3.5.1 Universalität und Interkulturalität 381 | 3.5.2 Concerns als soziale Systeme 381 | 3.5.3 Formate und die Concerns der anderen 381 | 3.5.4 Historische Perspektiven 383 | 3.6 Concerns und Transformation 385 | 3.6.1 Auswege aus der Höhle 385 | 3.6.2 Design als »éducation sentimentale« 386 | 3.7 Concerns und Sinn 387 | 3.7.1 Systemtheoretische Bestimmung 387 | 3.7.2 Concerns und Viktor Frankls Konzept von »Sinn« 388 | 3.7.3 Sinn durch Design 389 | 3.7.4 Empirie und Forschung 390 | 3.8 Neuer Anthropomorphismus? 391

4 Concerns: Jenseits der Dichotomien  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 395 4.1 Vergleichende Übersicht: kritisches/affirmatives Design und Concern Design 395 | 4.2 Concern Design: WARUM? 398 | 4.2.1 Selbst- und Fremdbild 398 | 4.2.2 Position der Designer 398 4.2.3 Ethik 399 | 4.2.4 Leitbild 400 | 4.3 Concern Design: WAS? 400 | 4.3.1 Aufgabe 400 | 4.3.2 (Produkt-)Charakter 401 | 4.3.3 Erfolgskriterien 401 | 4.3.4 Referenzsysteme 402 | 4.4 Concern Design: WIE? 402 | 4.4.1 Fokus 402 | 4.4.2 Werte 403 | 4.4.3 Handlungsweisen 403

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate  � � � � � � � � � � � � � � � 405 5.1 Die Concern Canvas 405 | 5.1.1 Das Schema 406 | 5.1.2 Die zentrale Frage: Designability? 407 5.1.3 Die Concern Canvas als Treffpunkt, Schauplatz und Protokoll 408 | 5.1.4 Die Selbstorganisation der Instanzen 409 | 5.1.5 Kritik und Abgrenzung: Anti-Metapher 409 | 5.1.6 Beispiele für Topdown und Bottom-up Prozesse 410 | 5.1.7 Latours Beispiel des »Tasers« in der Concern Canvas 410

5.2 Modellierung von Concerns und Kontexten als Möbiusband 411 | 5.2.1 Das Möbiusband 411 5.2.2 Der »libidinöse ›Körper‹« (Lyotard) 412 | 5.2.3 Latours Modell des Möbiusbandes 414 | 5.3 Kulturelle Formate 415 | 5.3.1 Kulturelle Formate als Verhandlungszone 415 | 5.3.2 Das Schema 417 5.3.3 Historischer Bezug: Schema der Grundlehren am Bauhaus und der HfG Ulm 418 | 5.4 Prozessmodelle 419 | 5.4.1 Prozessmodell des Concern Designs 420 | 5.5 Zusammenfassung und Ausblick 422 | 5.5.1 Konzeptioneller Rahmen für Wissensakkumulation 423 | 5.5.2 Concern Design als Wissenspraxis 424 | 5.5.3 Beispiele aus der Praxis 425

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 427 6.1 Werte und Fakten 427 | 6.1.1 Latours alternative Modellierung von Werten und Fakten 428 6.1.2 Bewertung von Latours Modell 429 | 6.1.3 Concerns als »values in action« 430 | 6.1.4 Beispiel für verkörperte Werte 431 | 6.2 Concerns, Bedürfnisse und »Begehrnisse« 433 | 6.2.1 Abschied vom homo oeconomicus 433 | 6.2.2 Concerns als »Bedarfsgestaltung und -reflexion« (Jonas) 434 6.2.3 Das Verhältnis von Concerns, Bedürfnis und »Begehrnis« 436 | 6.2.4 Kritik der »Begehrnisse« 437 | 6.3 Die »Causal Layered Analysis«: Kritik und Vergleich mit dem Concern Ansatz 438 6.3.1 Kritik der »Causal Layered Analysis« 439 | 6.3.2 Visualisierungen 440 | 6.3.3 Vergleich Concern Ansatz und »Causal Layered Analysis« 441 | 6.4 Fazit 442

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 443 7.1 Keine Kartografierung von Concerns 443 | 7.1.1 Concerns als Akteure? 444 | 7.1.2 Suche nach Attraktoren für Concerns 445 | 7.2 Vorstellung und Darstellung 446 | 7.2.1 Leben in Metaphern, Mustern und Modellen 447 | 7.2.2 Produktion und Rezeption: Visual Literacy 449 | 7.3 Transformation Design und Kartografie 450 | 7.3.1 Wissensräume und Leerstellen 450 | 7.3.2 Beispiele für Mapping und Unmapping 452 | 7.3.3 Beispiel für Metaphern: Die »Carte de Tendre« 454 7.3.4 Beispiel für Ironie: Saul Steinberg 456 | 7.4 Beispiele für Concern Design 457 | 7.4.1 Concern Design »avant la lettre« 458 | 7.4.2 Generatives Design 460 | 7.4.3 Narrative Panoramen 461 7.4.4 Zukünftige Karten 463

8 Schlussbetrachtung  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 465 8.1 Rückblick 465 | 8.2 Das Design als Mittler 465 | 8.3 Design und Diplomatie 466 | 8.4 Die Minimalmethoden einer Nichtdisziplin 467 | 8.5 Kritik des Designs 467 | 8.6 Anthropos und neue Ontologien 468 | 8.7 Stabilisierte Netze 469

Quellen und verwendete Literatur  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 473 Siglen 473 | Medien von Bruno Latour 475 | Literatur von Bruno Latour 476 | Weitere Literatur 479

Personen Index � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 511

Textgestaltung und Schreibweisen

Der Begriff »Concern« wird hier in einem spezifischen Sinne als terminus technicus verstanden. Dies entfernt ihn sowohl vom – unscharf gebliebenen – Gebrauch bei Bruno Latour als auch von seinem englischen Ursprung. »Concern« wird daher im Folgenden ohne Übersetzung und ohne Anführungszeichen verwendet. Die Komposita werden ohne Bindestrich geschrieben, da sie sowohl deutsch (z.B. Concern Ansatz) als auch englisch (z.B. Concern Design) gebildet werden. Die Begriffe Design und Gestaltung werden synonym verwendet. Die Nennung von Autoren ohne spezifischen Bezug (z.B. »siehe Autor A, Jahr «) wurde so weit möglich vermieden, um den Lesef luss nicht zu stören. Die Quellen wörtlicher Zitate werden direkt hinter dem Zitat genannt, andere Literaturhinweise wurden in die Fußnoten verlagert. Bei Zitaten wurde die aktuelle Rechtschreibung angepasst, um einen konsistenten Ausdruck zu erreichen. Davon ausgenommen sind historische Quellen, deren Duktus erhalten bleiben sollte. Einschlägige Begriffe wie »matters of concern«, »immutable mobiles« und »weltbildende Aktivitäten« werden bei der ersten Nennung als Zitat gekennzeichnet, bei späteren Bezügen aber nur noch als (ibid.) oder (s. o.) gekennzeichnet. Interne Verweise markieren Verzweigungen für mögliche Lesewege, sollen fragmentarische Lektüren ermöglichen und Redundanzen im Text verringern. Dabei verweisen Ziffern (z.B. 3.2) auf Kapitel im gleichen Teil, während Kombinationen von Ziffern und Buchstaben (z.B. C 2.4) auf Kapitel in anderen Teilen verweisen. Viele Diagramme nutzen englische Bezeichnungen, da sie aus der Arbeit in internationalen Projekten stammen. Auf eine Übersetzung wurde verzichtet, um eine Konsistenz der Begriffe zu erreichen und Missverständnisse zu vermeiden. Die Rechtschreibung entspricht der automatischen Korrektur von Microsoft Word für Mac, Version 16.66.1. Deren Hinweise auf stilistische Abweichungen wurden nur teilweise berücksichtigt. Latours These von den Handlungsketten menschlicher und nicht-menschlicher Aktanten wird damit bestätigt.

Verzeichnis der Siglen

Die für diese Arbeit einschlägigen Werke Latours werden als Siglen referenziert, Reihenfolge nach Relevanz für den Text. Detaillierte Angaben und weitere Werke Latours sind im Literaturverzeichnis aufgeführt. Prom_eng Prom_dt

A Cautious Prometheus dt. Ein vorsichtiger Prometheus

2008 2009

RAS NSoz

Reassembling the Social dt. Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft

2005 2010

HTP RpDp

How to Make Things Public dt.: Von der Realpolitik zur Dingpolitik

2005a 2005b

PoN PD

Politics of Nature dt.: Das Parlament der Dinge

2004 2018

MEx Exw

An Inquiry into Modes of Existence dt.: Existenzweisen

2012 2014

NMod

Wir sind nie modern gewesen

1998/1991

ÖkW

Die Ökonomie als Wissenschaft leidenschaftlicher Interessen

2010d

DrawT VisCog

Drawing Things Together Visualization and Cognition (frühere Version)

1990 1986

RA

Über den Rückruf der ANT

2006/1999

WSMC WCS WM

What is the Style of Matters of Concern? Why Has Critique Run Out of Steam? Where Are the Missing Masses?

2008b 2004 1992a

Irred

Irreductions (The Pasteurization of France, Part Two)

1988

18

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Videos MapCon MACOSPOL MapConCase

Mapping Controversies – The Demoscience Project Projektvorstellung auf YouTube Mapping Controversies – A Case, an Example

2010a 2010b 2010c

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

Verzeichnis der Tabellen Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5 Tab. 6 Tab. 7 Tab. 8 Tab. 9 Tab. 10

Vergleich Design und Sozial-/Kulturwissenschaften »Design – contexts are changing« [Jonas 1997] Latours »zwei große alternative Narrative« Temporäre Stabilisierung von matters of fact und matters of concern Concern Design und »kritisches/affirmatives« Design, Vergleich ausgewählter Merkmale Prozessmodell des Concern Designs Latours alternatives Modell zu Fakten und Werten Concerns im K0ntext von Bedarfsweckung und Bedarfsdeckung Vergleich von Concerns, »Begehrnissen« und Bedürfnissen Die vier Ebenen der »Causal Layered Analysis« [Inayatullah 1998]

63 96 147 184 396 421 429 435 436 439

Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Abb. 14

Latours Bücher und Artikel Latour in den Medien Latours Projekte: Workshops und Ausstellungen »Weltbildende Aktivitäten« als gemeinsames Untersuchungsfeld von Design und den Sozial-/Kulturwissenschaften Transformation Design im Spannungsfeld von sozial-organisatorischen und materiell-objekthaften Aspekten Der Gebrauch von »better« in Kosumwerbung und Politik Konstanz der Leitbilder für »Transition« über 150 Jahre Beispiele für das Upscaling und die Umnutzung gebrauchter Dinge Material im Studiengang »Public Interest Design« »Trajectory of Artificiality« [Krippendorf 1997] »The OTHER Design Thinking« [Pastor 2013] »Die vier Stufen des Designs« [Irwin et al. 2015] »The Four Stages of Design« mit Fragen des »Golden Cycle« [Sinek 2011] Der Hyperzyklus der Transformation

50 53 55 61 66 81 90 90 91 97 99 99 104 105

20

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18 Abb. 19 Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 Abb. 28 Abb. 29 Abb. 30 Abb. 31 Abb. 32 Abb. 33 Abb. 34 Abb. 35 Abb. 36 Abb. 37 Abb. 38 Abb. 39 Abb. 40 Abb. 41 Abb. 42 Abb. 43 Abb. 44 Abb. 45 Abb. 46 Abb. 47 Abb. 48 Abb. 49 Abb. 50 Abb. 51 Abb. 52 Abb. 53 Abb. 54 Abb. 55 Abb. 56 Abb. 57 Abb. 58 Abb. 59 Abb. 60 Abb. 61

Legitimität von Design? »Reinigungs- und Übersetzungsarbeit« nach Latour Klassische und transklassische Logik Beispiele für Visualisierungen Theoriemaschine MIND 17, Screenshot Visualisierungen von Latour Latour: Seven imaginary planets Experimentalsystem und Forschungsprozess Doppelte Rahmung: die Inszenierung von Concerns Das Verhältnis von Designern und Anspruchsgruppen Denken am Modell »Reinigungs- und Übersetzungsarbeit« nach Latour Umstellung von Latours Schema durch Drehung um 90 Grad Umstellung von Latours Schema durch horizontale Spiegelung Alternative Darstellung einer Grenze durch Schraffur Markierung aus den »Laws of Form« Einheit der Unterscheidung von Kultur und Natur Diagramm von Angela Chen Latours »And/Or diagram« Latours Diagramm »the history of the world in a single page« Das »Cockpit Door Locking System – CDLS« »Mobile Production Facilities for Biological Agents« Colin Powell vor den United Nations am 05.02.2003 Hybride Handlungsträgerschaft: Wer f liegt? Analyse einer PowerPoint Präsentation [Tufte 2003a] Rekonstruktion der Shuttle-Teile durch die NASA »Smart Region«: Intelligente Objekte konfigurieren neue Umwelten »Instant Democracy: The Pneumatic Parliament« »My view of Lineland«, Illustration aus »Flatland« [Abbott 1884] Albrecht Dürer und Robert Hooke: »ANT’s view«? Carl Spitzweg: »Der Projektemacher« (um 1870) Projekte Latours: Reencament und Visualisierung Bruno Latours Produktion »Inside«, Screenshots »When wolves settle: A Panorama« von Studio Polo u.a. Kauf haus des Ostens 1984, Zeitschrift Traverses Nr. 47, 1989 Latours Kurs »Scientific Humanities« (Screenshots) Arbeiten von Studierenden Latours Das Projekt »Mapping Controversies« am MIT/USA Das Projekt MACOSPOL im Netz Teilprojekte von MACOSPOL Material zum Thema »Taser« 1 Material zum Thema »Taser« 2 Material zum Thema »Taser« 3 Demonstration eines Tasers Neue Ontologie Das Design modelliert Concerns Concerns und Formate

131 146 168 170 173 174 175 185 188 191 206 214 215 215 216 218 219 220 221 222 230 233 235 236 237 238 242 252 293 302 303 308 309 310 313 314 316 317 320 321 322 322 323 324 340 363 365

Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen

Abb. 62 Abb. 63 Abb. 64 Abb. 65 Abb. 66 Abb. 67 Abb. 68 Abb. 69 Abb. 70 Abb. 71 Abb. 72 Abb. 73 Abb. 74 Abb. 75 Abb. 76 Abb. 77 Abb. 78 Abb. 79 Abb. 80 Abb. 81 Abb. 82 Abb. 83 Abb. 84 Abb. 85 Abb. 86 Abb. 87 Abb. 88 Abb. 89 Abb. 90 Abb. 91 Abb. 92

»Protect me from what I want«, ein »Truism« von Jenny Holzer Workshops zum Kochen und Essen mit Arpad Dobriban Büroorganisation, Quickborner Team, ca. 1967 Präsentationen bei IKEA Exemplarische Darstellungen von Concerns Eine Vielfalt von Antworten auf die Frage: »Was treibt Dich an?« Artikulation und Generierung von Concerns Beispiele für die mediale Formatierung von Concerns Universeller Concern »Schönheit« Die Concern Canvas zeigt Concerns im Kontext Concerns und Kontexte auf der Möbiusschleife Latour: »The new feeling of being sliding along a Moebius strip« Kulturelle Formate: geprägt von Concerns und Fakten Vergleichende Darstellung von Gestaltungslehren »Entwerfen (designing) als 3-Schritt-Prozeß der Kontingenzreduktion« Bilder und Texte zu Concerns im Workshop »Corporate Mission Statement« Concern Canvas im Workshop »Restarting Development Aid« Concern Canvas und Cultural Formats im Workshop »21st Century Design Education« »The relation of facts and values in sociological theory building«, die Konzeptionen von Weber, Durkheim und Dewey »3 Phasen (Schichten) des Kontextwandels im Design« [Jonas 1997] Visualisierungen zur »Causal Layered Analysis«[Inayatullah 1998] Kartierung des Nichtwissens: »Hic sunt dragones!« Handlungsketten und Weltkarten Projektionen und Schätzungen Karten der Gefühle Eine »Landkarte des Scheiterns« Kognitiv-emotionale Karten Italienisches Concern-Design »avant la lettre«? Entwürfe von Archigram Digitale Modellierung individueller Aktivitäten Narrative Panoramen von Michele Graphieti/ Design Density Lab Mailand

366 371 372 372 375 378 379 380 383 407 412 414 417 418 419 425 426 426 427 434 440 451 453 453 455 456 457 459 459 460 462

21

Kernpunkte

Intro Die Designaufgabe – heute wie immer schon – besteht darin, Projekte zu realisieren, die in künftigen Praxen wirksam werden (und nur zweitrangig als Texte in Diskursen). Dazu gehört jedoch auch die Arbeit an den Voraussetzungen und Bedingungen der Diskursarenen und ihrem Verhältnis zum Vordiskursiven von Materialität, Medien und Macht. Latour fordert, die Programmatik der Moderne auf diese selbst anzuwenden: »to modernize modernization«. Doch wie sollte das Design dies leisten können, da es selbst sowohl als Agent wie auch als Produkt der Moderne erscheint? Die hier entwickelte Antwort lautet: durch eine Revision und ein »Reassembling« des Designs analog zu Latours Unternehmen »Reassembling the Social«.

Teil A Das Ziel ist es, die Ansätze der ANT zu verarbeiten, weiterzudenken und für das Design zu transformieren, um gleich einen zentralen Begriff der ANT zu verwenden. (A 1.3) Fragen der Verantwortung und der Moral wurden im Design immer wieder behandelt, und sie bleiben virulent, da sich das Design zu seiner Realisierung ins Verhältnis zur wirtschaftlichen und technischen Macht setzen muss, auch wenn die Ziele des Designs deren Tendenzen entgegengesetzt sein mögen. (A 5.2.1) Auch Drogen, Foltermethoden und unverständliche Finanzprodukte können Gegenstände des Designs sein. Kreativität und Innovation reichen also für eine Positionsbestimmung des Designs allein nicht aus, sondern sie müssen sich an Werten orientieren. Diese können aber nicht einfach normativ vorausgesetzt werden, sondern sie sind bereits Teil der Gestaltungsaufgabe. (A 5.3.5) Die Leitbilder und Ikonografien von der frühen Alternativkultur bis zum heutigen Social- und Transition Design zeigen eine bemerkenswerte historische Konstanz. Nicht nur die Gegenstände werden recycelt, sondern auch die Ideen selbst. (A 5.4) Das Concern Design beantwortet die Warum-Frage mit »Concerns«, die WIE-Frage mit »kulturellen Formaten« und die WAS-Frage mit dem »Hyperzyklus der Transformation«. (A 7.4)

24

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Teil B Das Design entwirft neue Formen, die Emanzipation UND Bindung, Zuwendung UND Loslösung, Abhängigkeit UND Beherrschung ermöglichen. Die Gegensätze werden dabei nicht dialektisch vermittelt oder im Kompromiss befriedet, sondern sie werden aneinander gesteigert. (B 1.3.1) Wer die Vorstellung erneuern will, muss die Darstellung ändern, und wer die Darstellung ändert, erneuert die Vorstellung. (B 2.2.) Hat man von Designern je von einer Einsicht in die Grenzen des Gestaltbaren gehört, in die »Un-designability« [Holert 2011]? Ganz im Gegenteil: Viele Designer gehen sehr unbefangen, wenn nicht naiv oder gar fahrlässig um mit der Maximalgröße »Welt«. (B 4) Eine ausreichend große Menge von Menschen muss Interesse und Leidenschaft für ein Thema entwickeln, das hinreichende Energien mobilisieren und bündeln kann, um als Concern wahrnehmbar zu werden und in der Folge ein gemeinschaftsstiftendes »Wir« hervorzubringen. (B 4.6) Latour beschreibt eindrücklich und präzise das Zusammenwirken von Naturwissenschaft/Technik einerseits und den humanities andererseits in einem dritten Register eigenen Rechts. Damit liefert er eine Einführung in das Design, ohne dies zu bemerken. (B 9.3) Latours Sprachform, seine Begriffe und Diagramme, Beispiele und Projekte zeigen ein Wissensdesign, das sich zwangsläufig den tradierten Formen der wissenschaftlichen Kommunikation entziehen muss, um diese problematisieren zu können. (B 10) Designer konnten bisher schon tun, was sie taten, ohne auf die Einholung durch irgendein theoretisches Fach zu warten. Daher ist die Designaufgabe heute NICHT, Designerkenntnisse nach einem wissenschaftlichen Standard zu reartikulieren (dies kann allerdings eine wissenschaftliche Aufgabe sein). (B 10)

Teil C Während die ANT den Beitrag der materiellen Bestandteile zu Handlungsketten aufwertet, ergänzt das Concern Design deren psychologische Anteile. Damit wird ein Aspekt der ANT erhellt, der bei Latour vage geblieben war: Warum und wie setzten sich Handlungsketten zuallererst in Gang? (C 1.1) Durch die Gestaltung als »Format« werden eigensinnige, unkoordinierte Concerns organisiert und formalisiert. Die Formate bestimmen den Normalfall als soziale Konventionen, technische Interfaces und vorgeprägte Praxen. (C 2.6) Ähnlich wie die ANT versteht sich das Concern Design weniger als Theorie, sondern als Methode, die zugänglich machen möchte, was empirisch längst geschieht, aber mit veralteten Begriffen nicht adäquat zu erkennen oder gar zu gestalten ist. (C 2.7) Mit einer solchen Konzeption können Concerns als soziale Systeme aufgefasst werden, die ihre Dynamik entfalten, ohne auf die Bewusstseinsleistungen der Subjekte angewiesen zu sein. (C 3.5.2) Ob für ein Konsumprodukt oder eine politische Partei, eine Dating-Börse, eine Popband oder ein Computerspiel: Immer ist es die Aufgabe der Designer, in die Concerns der Beteiligten einzugreifen und über Angebote für neue Ausdrucksformen zu

Kernpunkte

deren Veränderung anzuregen. Schon ein neuer Haarschnitt kann eine neue Lebensform bedeuten. (C 3.6.2) Der Concern Ansatz propagiert nicht die Durchsetzung einer bestimmten Perspektive. Ganz im Gegenteil: Er strebt an, verschiedene mindsets in ihrer Unterschiedlichkeit zur Artikulation zu bringen. (C 5.5.1) Das Concern Design nähert sich den Werten pragmatisch, indem gefragt wird, was Werte tun und nicht, was sie sind. Concerns werden dabei als »values in action« definiert. (C 6.1.3) Lose Kopplungen erweisen sich überall da als nützlich, wo lebensweltlich, kommunikativ oder ideologisch unterschiedliche Milieus auf das Gelingen gemeinsamer Unternehmungen angewiesen sind, seien es Baugruppen, Forschungsteams oder Nachbarschaften. (C 5.5.2) Ganz im Sinne Latours dürfen die Akteure von Kontroversen nicht als Person oder Institution aufgefasst werden, die verschiedene Argumente artikulieren, sondern genau umgekehrt müssen Concerns als Akteure gesehen werden, die sich Protagonisten suchen, die sie verkörpern. (C 7.1.1) Tradierte Muster zu verlassen, um zu völlig neuen, unbekannten Formen aufzubrechen, ist ein zentrales Narrativ der Moderne. Die Paradoxie liegt darin, dass auch das Narrativ des Auf bruchs aus alten Mustern nur ein weiteres Muster ist. (C 7.2.1) Das Ziel des Designs ist die Herstellung von Kohärenz, also einer Passung von Welt und Handlung. Dabei gilt es einerseits, aus der Vielfalt möglicher Weltbedeutungen zu selektieren, die Zumutungen des Sozialen zu reduzieren und die Komplexität technischer Mittel auf handhabbare Formen zu bringen. Andererseits sind die Vorstellungen der Welt zu erweitern, neue Genüsse zu erproben und Gebräuche zu erfinden. (C 8.2.) Doch das Design ist weder ein exklusiver Agent der Transformation (es gibt dafür viele andere Kompetenzfelder), noch ist das Design besonders bevorzugt oder legitimiert, um Transformationen anzustoßen oder zu begleiten. Das Design erkennt sich vielmehr als ein Akteur im Sinne der ANT, also als Attraktor, der Energien und Vektoren aufnimmt, umformatiert und weitergibt. (C 8.6) Die Aufgaben sind drängend, die Transformationen finden bereits statt und niemand wartet auf die Designer. Künstliche Intelligenz, smarte Materialien, vernetzte Objekte und biochemische Stimulationen stellen Fragen, die weder von einem klassischen Design der Formgebung noch von einem moralisierenden Social Design beantwortet werden können. (C 8.7) Das Design, einst Produkt und Agent der Moderne, kann dabei eine wesentliche Rolle spielen, wenn es die Gestaltung von Concerns als Handlungsfeld entwickelt und sich damit selbst transformiert: Reassembling Design. (C 8.7)

25

Zusammenfassung

Diese Arbeit schlägt einen weiten Bogen von der aktuellen Situation und den Aufgaben des Designs (Teil A) über eine Detailanalyse der Positionen Bruno Latours zum Design (Teil B) bis zur Vorstellung einer neuen Designperspektive als Concern Design (Teil C). Viele aktuelle Designbewegungen erscheinen heute als blockiert: Neuere Designfelder wollen sich sozialen und gesellschaftlichen Fragen zuwenden und behaupten dabei selbstbewusst spezifische Kompetenzen. Deren Grundlage erscheint jedoch als fragwürdig, da große Teile des Designs immer noch von sozialrevolutionären Begriffen des 19. Jahrhunderts auszugehen scheinen und damit ideologische Dichotomien wie etwa affirmativ und kritisch fortschreiben. Eine Neufassung des Sozialen wie von Bruno Latour vorgeschlagen (Reassembling the Social) erscheint daher als eine notwendige Voraussetzung von jeglicher Gestaltung, die sich mit sozialen Aspekten und Transformation befassen will. In Latours Beiträgen zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wurde der Begriff der »Dingpolitik« entwickelt. Damit sind neue Sichtweisen verbunden, die für eine Neuorientierung des Designs als Transformation Design genutzt werden können. So wird eine Fokussierung auf Fakten (matters of fact) erweitert zu öffentlichen Angelegenheiten (matters of concern). Daraus leitet Latour eine Designaufgabe ab: Es sollen Visualisierungen erstellt werden, die Kontroversen um die matters of concern zeigen. Das Design soll damit zu einem Parlament der Dinge beitragen und eine Revision der Moderne ermöglichen. Die Verfolgung dieser Aufgabe führt zu Latours eigenwilliger Theorieanlage. Seine Texte enthalten unscharfe Begriffe, logische Inkonsistenzen und Übersetzungsfehler. Viele Beispiele halten einer Prüfung aus Sicht des Designs nicht stand. Wo Latour richtig liegt, ist er häufig nicht neu, und wo er neu ist, liegt er häufig nicht richtig. So provoziert Latours Position zum Design sowohl Anregung als auch Widerspruch und kann damit zur Erzeugung neuer Perspektiven im Design produktiv gemacht werden. Latours Ansatz ist originell, ignoriert aber den Sachstand der Diskurse im Design. Eine Übertragung von Positionen der ANT ins Design muss daher gesondert geleistet werden. Dort wurde die ANT zwar positiv aufgenommen, doch konkrete Analysen und Forführungen durch das Design wurden bisher kaum bekannt. Dies soll im Folgenden vorbereitet werden, indem versucht wird, Latours Ansätze operativ zu machen. Dazu werden neben den klassischen Texten auch weniger rezipierte Quellen wie Medienproduktionen, Seminarunterlagen und ein Forschungsprojekt herangezo-

28

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

gen. Über den Beitrag zur Designforschung hinaus konnten so auch neue Aspekte zur Rezeption Latours entwickelt werden, die die Forschung zur ANT bereichern. Als einer der Ankerpunkte künftigen Transformation Designs wird Latours Begriffsprägung der Concerns weiterentwickelt und als »values in action« konzipiert. Grundlagen dafür werden neben der ANT sowohl in der »Wunschökonomie« (Deleuze/Guattari, Lyotard), als auch in der aktuell formulierten »Praxeologie« (Reckwitz, Schäfer) gefunden. Auf dieser Basis wurden Diagramme entwickelt, die neue Methoden in der Praxis ermöglichen und begleiten sollen: Concern Canvas, Kulturelle Formate und der Hyperzyklus der Transformation. Von den weiteren Erfahrungen des Concern Designs in der Praxis kann sowohl eine Verfeinerung der Methoden als auch eine Weiterentwicklung des Theorierahmens erwartet werden.

Vorbemerkung

Der Hauptteil dieser Arbeit wurde im Sommer 2022 abgeschlossen. Die leitende Frage war: Welche Perspektiven ergeben sich aus Bruno Latours Arbeiten für das Design? Mit Latours Tod am 09.10.2022 steht dieser Text nun am Beginn einer retrospektiven Rezeption. Damit stellen sich zusätzliche Fragen: • Können sich Latours Positionen ohne ihren Urheber behaupten? • Wie kann Latours Werk kritisch weiterentwickelt werden? Zahlreiche Nachrufe würdigten Latour und sein Werk.1 Dabei wurde auch auf die Verbindung von Person und Wirkung hingewiesen: Latours späte Schaffensphase hatte etwas Lyrisches, Fantastisches, auch zunehmend Religiöses an sich. Das generöse, stets verschmitzte Auftreten des gläubigen Katholiken, sein Talent zur Polemik und eine Tweed-Sakko-gestärkte Alterscoolness verliehen ihm den Status eines Gurus, dem eine wachsende Schar von Kollaborateuren und Epigonen folgte. Mit performativen Vorträgen füllte er Theatersäle in Marseille, New York und Frankfurt a.M., fest davon überzeugt, dass Wissenschaftler wie er den tiefgreifenden kognitiven, spirituellen und habituellen Wandel, mit dem man sich der ökologischen Katastrophe entgegenstellen muss, nicht nur erklären, sondern auch selbst verkörpern und praktisch anstoßen müssen.2 Am Médialab der Hochschule Sciences Po in Paris blickten Latours Mitarbeiter auf fast 15 Jahre gemeinsame Tätigkeit zurück.3 Die Regisseurin und Wissenschaftshistorikerin Frédérique Aït-Touati, die lange mit Latour zusammenarbeitete, schrieb:

1 Exemplarische Nachrufe: »Ein Werk radikaler Gegenwärtigkeit« von Lars Gertenbach, https://www. ssoar.info/ssoar/handle/document/82517, »The generous philosopher« von Stephen Muecke, https:// tinyurl.com/2z4zngep, »Homage to Bruno Latour« von Martin Guinard, http://worker01.e-flux.com/ pdf/article_502967.pdf sowie ein Essay von Alyssa Battistoni »Latour’s Metamorphosis«, https://newleftreview.org/sidecar/posts/latours-metamorphosis?pc=1492 2 Nachruf von Tobias Haberkorn vom 10.10.2022, https://www.zeit.de/kultur/2022-10/bruno-latour-philosoph-nachruf/komplettansicht 3 https://medialab.sciencespo.fr/en/news/merci-bruno

30

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

20 ans de joie, de projets, de voyages, de spectacles, de rire, de livres, de tournées et d’observation des fourmis… et rien ne s’arrête: les pièces se jouent cette semaine, un nouveau livre sort la semaine prochaine, la tournée à New York est proche, les étudiants nous attendent demain matin: on continuera longtemps, mon cher Bruno, je te le promets.4 Noch am 16. September 2022 hatte Latour zum 150. Jahrestag der Gründung der Hochschule Sciences Po eine Festrede gehalten.5 Dort hatte Latour vor zehn Jahren die »Sciences Po École d’Expérimentation en Arts Politiques« (SPEAP) gegründet.6 In Würdigung und Fortführung von Latours Arbeiten richtete die Sciences Po den »Bruno Latour Fund« ein, der Anfang 2023 zehn Stellen für »postdoctoral fellowships« ausschrieb.7 Am 27. und 28. Oktober 2022 wurde in New York City die »Terrestrial Trilogy« aufgeführt, bestehend aus den Lecture Performances »Inside« (2016), »Moving Earth« (2019) und »Viral« (2020).8 Im Oktober 2021 hatte Latour dem TV-Sender ARTE ein langes Interview gegeben, aufgeteilt in 12 Kapitel. Im letzten Abschnitt wird Latour gebeten, einen Brief an seinen Enkel Lilo zu formulieren.9 Latours Antwort: Was wird in 40 Jahren sein? Ich bin kein Hellseher. Ich denke, ich würde Lilo sagen, dass seine ersten 20 Jahre hart sein werden. (…) Es geht heute nicht mehr um Produktion, sondern um die Bewohnbarkeit der Erde. Und da wir so langsam sind, wird die Umstellung Zeit brauchen. (…) In den darauffolgenden 20 Jahren werden die Menschen wohl erkannt haben, wo sie leben. Sie werden endlich gelandet sein. (…) Es wird die passenden politischen Institutionen geben, die juristischen Definitionen, die passenden Künste, Wissenschaften und wohl auch veränderte wirtschaftliche Bedingungen, die es ermöglichen mit der Situation klarzukommen. Weder der Großvater noch der Philosoph sind dazu da, das Ende der Welt anzukündigen. (…) Wenn ich Lilo also in 40 Jahren wieder treffen würde, gehe ich davon aus, dass der Prozess der Zivilisation, der heute ausgesetzt ist, wieder in Bewegung sein wird. (…) Das wäre das Beste, was ich Lilo wünsche.10 Dem deutschen Beobachter der »French Theory« seit 40 Jahren blieb ein Satz im Gedächtnis, mit dem Latour seine Rede »Coming out as a Philosopher« beschloss: A last wish with which to conclude: please, don’t tell anyone, especially in the UK or the US, that such is my overall life project and that I am, in effect, a philosopher – worst of all a philosopher with a system: they will never take me seriously again. Only under a German sky is one allowed to think that big! [Latour 2010b] 4 https://www.instagram.com/p/Cjn1L01r269, https://www.instagram.com/frederiqueaittouati (12.10.2022) 5 www.sciencespo.fr/com/news/discours-B.Latour-FR.pdf, https://www.youtube.com/watch?v=Y2oI8x892lc 6 vgl. Aït-Touati, Frodon 2022, http://blogs.sciences-po.fr/speap/presentation/pourquoi-speap, https:// www.sciencespo.fr/public/en/academics/master-arts-politics.html 7 https://www.sciencespo.fr/histoire/fr/node/89129.html 8 https://fiaf.org/event/2022-ctl-terrestrial-trilogy 9 https://www.arte.tv/de/videos/RC-022018/im-gespraech-mit-bruno-latour mit Nicolas Truong, Journalist bei der Tageszeitung Le Monde 10 https://www.arte.tv/de/videos/106738-012-A/gespraeche-mit-bruno-latour-12, Abschrift der deutschen Untertitel

Vorwort

Eine Arbeit ist universalistisch, wenn sie ihre Postulate auch auf sich selbst bezieht. Wenn im Folgenden ein Ansatz entwickelt wird, der vorschlägt, das Design aus der Perspektive von Concerns neu zu fassen, muss daher über die in ihm wirksamen Concerns Auskunft gegeben werden. Dies sind heterogene Aspekte wie Lust am Lesen und am Sound von Latour, Aufmerksamkeit für neue Theoriedesigns, Freude am Widerspruch und Detektivspiel, Suche nach einer neuen Perspektive, Entlastung von angesammeltem Material, Verabschiedung alter Diskussionsbestände und Orientierung in einem neuen Arbeitsbereich. Ein Ausgangspunkt für diese Arbeit war das gestalterische Interesse an Modellen.1 Dort wurde eine Verbindung gefunden von der konkreten Gestaltungsarbeit zu Entwurfs- und Kognitionstheorien sowie zu Fragestellungen der Kulturwissenschaften.2 Die Beschäftigung mit Latours Ansätzen intensivierte sich und führte zur Fokussierung auf seinen Begriff der »Concerns« als einem lohnenden Ansatzpunkt für die Bezüge zum Transformation Design.3 Auf dieser Basis wurden Methoden für die praktische Designarbeit entwickelt, die zu den Diagrammen Concern Canvas, Kulturelle Formate und Hyperzyklus der Transformation führten, die mittlerweile in Workshops und Projekten auch international erprobt wurden.4 Die Entwicklung des Concern Ansatzes führt in Bereiche, für die Designer neue begriff liche und methodische Mittel entwickeln müssen. Diese Arbeit soll beitragen zu einem common ground für die weitere Begegnung des Designs mit den Kultur- und Sozialwissenschaften. Daher wird von der Gestaltung ausgehend sehr weit auf diese Fachgebiete zugegangen in der Hoffnung auf entsprechende Resonanz. Das disziplinär offene Design hat vielfältige Beiträge und Einf lüsse aufgenommen aus der Philosophie und den Künsten, den Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaften, aus der Technik und dem Ingenieurwesen, der Soziologie und Psychologie. Dies geschah 1 vgl. Stephan 2001, 2010 2 Ein Beitrag zu Latours Begriff der »immutable mobiles« wurde auf der Tagung »Modelle als Akteure« vorgetragen, 16.07.2010 im Innovationszentrum Wissensforschung der TU Berlin, https://www.wissensforschung.tu-berlin.de/menue/teilbereiche/d_modellierung_von_wissen 3 vgl. »Designing ›Matters of Concern‹ (Latour): A Future Design Challenge?« [Stephan 2016] 4 u.a. an der Parsons School of Design in New York City, der Central Academy of Fine Arts – CAFA und dem Beijing Institute of Fashion Technology – BIFT in Beijing/China, der China Academy of Art – CAA in Hangzhou/China sowie dem Weizenbaum Institut für Internet und Gesellschaf t in Berlin

32

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

häufig mit Gewinn, zuweilen aber auch zu Lasten der eigenen Entwicklung. Einf lüsse des Designs in umgekehrter Richtung beschränken sich oft auf die anerkannte Notwendigkeit der ästhetischen Inszenierung, sicher auch in Ermangelung dokumentierter Forschungen des Designs. Insofern ist der vorliegende Text auch ein Versuch, die kultur- und sozialwissenschaftliche Diskussion von außen zu spiegeln und zu beleben durch die Fragen eines lesenden Designers. Dabei bleibt zu bedenken: Designerinnen und Designer wollen und sollen keine »hommes de lettres« werden. Sie bleiben »hommes de crayons«, denen Schreiben als ein Sonderfall von Zeichnen und Modellieren gilt. Die Designaufgabe – heute wie immer schon – besteht darin, Projekte zu realisieren, die in künftigen Praxen wirksam werden (und nur zweitrangig als Texte in Diskursen). Dazu gehört jedoch auch die Arbeit an den Voraussetzungen und Bedingungen der Diskursarenen und ihrem Verhältnis zum Vordiskursiven von Materialität, Medien und Macht. So soll diese Arbeit als ein »provisorischer Bericht« [Exw:23] verstanden werden, der zur eigentlichen Designarbeit in Projekten anregt.

Aufbau

Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile: Teil A – Situierung des Designs Diskurs- und Praxisfelder des Designs, Bezug zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) (deskriptiv, analytisch) Das Design und die ANT, Verhältnis des Designs zu den Sozialwissenschaften, sozialorganisatorische und materiell-gegenständliche Dimensionen des Designs, die ANT und ihr Begriff des Sozialen, das Design und die Moderne, Dichotomien im Design und Concerns als Alternative? Kritik des Social Designs, Präferenz für ein nicht-normatives Transformation Design, Kritik der Stufenmodelle des Designs und Einführung des Hyperzyklus‹ der Transformation, ontologische Neubestimmungen: Design for the pluriverse? Teil B – »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)? Latours Position aus der Designperspektive (kritisch, hermeneutisch) Rezeption und Bewertung des Prometheus-Artikels, Annahmen und Argumente Latours in Bezug auf das Design, Genealogie und Kontextualisierung von Latours Positionen, Latours Designaufgabe der Visualisierung von Kontroversen um »matters of concern«, Latours Diagramme und ihre Umformungen, Latours Sprachform und Theoriedesign, Latours Beispiele (materiell/medial), Begriffe und ihre Übersetzung, Bezüge zu Sloterdijk, Heidegger, Habermas und Tarde, Kontexte von Latours Ausstellungen, medienarchäologische Erschließung und Kritik des Forschungsprojekts MACOSPOL (2008–2009), wenig rezipierte Quellen wie Seminarunterlagen und Medienprojekte, Diskussion von Latours Thesen zur Visualisierung, Ableitung der erweiterten Aufgabe des Designs von Concerns Teil C – Der Concern Ansatz Grundlagen und Kontextualisierung, Methoden und Tools, Visualisierung (innovativ, spekulativ) Concerns als »leidenschaftliche Interessen« (Tarde), »Ausdrucksgestalt« (Oevermann) und »values in action«, kulturelle Formate als »artifizielle Organisation« [ÖkW:98] der

34

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

»sich überkreuzenden Vektoren und Tensoren des Begehrens und der Überzeugung« [ÖkW:21]. Grundlagen: ANT, »Wunschökonomie« (Deleuze/Guattari, Lyotard) und »Praxeologie« (Reckwitz, Schäfer) sowie »Sozio-Design« (Brock), »Meta-Design« (Virilio) und »Meta-Modellierung« (Guattari), Bezug zum Transformation Design, Tools und Methoden: die Diagramme Concern Canvas und Kulturelle Formate, Kontextualisierung: Concerns als Alternative zum Konzept der Bedürfnisse und »Begehrnisse« (Böhme), Modellierung des »libidinösen ›Körpers‹« (Lyotard) als Möbiusband, Visualisierung und Modellierung von Concerns, Leben in Metaphern, Mapping und Unmapping, Concern Design »avant la lettre« (Superstudio, Archigram)

Einleitung Was war das denn nun, was ich während meines ganzen Lebens gemacht habe? Deleuze/Guattari 1991, Was ist Philosophie? Was mich betrifft, werde ich Ihnen den größten Dank schuldig sein, wenn Sie mich endlich mit den Philosophen versöhnen, die ich nie entbehren und mit denen ich mich niemals vereinigen konnte. Johann Wolfgang von Goethe 1794, Brief an Johann Gottlob Fichte The written word is a lie. John Lydon 1986, Rise

1

Die Lage

Wie ist die Lage? Kann sie noch sinnvoll beschrieben werden in der Absicht, künftige Gestaltung zu bedenken? Oder wäre jede Beschreibung kohärenter als ihr Gegenstand, weil Sachzwänge, Ignoranz und Zufall die Verhältnisse bestimmen? Bedeutet das Bestehen auf Gestaltung nur die Verlängerung einer Utopie der Moderne ins Unhaltbare? Hängen wir als Gestalter nicht längst in der Luft, nur gehalten von der Verweigerung besseren Wissens, das notwendig zum Absturz führen muss? Nach dem Scheitern moderner Hoffnungen auf Fortschritt, Transparenz und Teilhabe, dem Auslaufen postmoderner Ironie und der Integration der digitalen Imperative wird ein Neubedenken der Gestaltung unausweichlich. Gestaltung findet immer schon statt, meist unbemerkt und kaum je beschrieben. Gute Gestaltung verschwindet aus der Wahrnehmung. So drängt sich eine gelungene Typografie den Lesenden nicht auf, denn diese sollen sich auf den Inhalt konzentrieren können und nicht vom Schriftbild abgelenkt werden. Doch werden die Adressaten nicht durch die typografische Gestaltung erst auf den Inhalt geführt? Baut die Buchgestaltung nicht vor dem Lesen der ersten Zeile schon Interesse und Vertrauen auf? Wird nicht in diesem Sinne die Gestaltung bereits gelesen, verstanden und befolgt? Haben Augen und Hände, Ohren und Nasen nicht ihren Anteil an der Denksinnlichkeit eines Buches, die sich im Digitalen freilich auf ganz andere Weise realisieren müsste?

36

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Werkzeuge und Instrumente verkörpern Funktionen und Gebräuche und enthalten darüber hinaus einen Überschuss des Nichtintendierten und Gegenläufigen. Der Fluss alltäglichen Machens und Nutzens bildet eine vorsprachliche Kohärenz. Erst wenn diese unterbrochen wird durch Unverständnis oder Fehlfunktionen, kommt die Sprache ins Spiel. Die Dinge und unser Verhältnis zu ihnen werden problematisch und zum Gegenstand von Kommunikation. Das Design verhandelt die Verhältnisse von Nutzung und Umnutzung, Gewohnheit und Irritation, Normal- und Sonderfall. Seine Dimensionen reichen von der Umformung physischen und biologischen Materials über funktionale, kognitive und emotionale Aspekte der Artefakte bis zu Interaktionen mit Spezies aller Arten und Maßstäbe, umfassend organisiert als Antizipation künftiger Lebensformen. Das Design arbeitet dabei häufig quer zu tradierten Kategorien und gewinnt seine Positionen aus einer Zusammenschau von Handlungs- und Kompetenzfeldern, die sonst als getrennt wahrgenommen werden. Das Design wirkt mit an einer Bestimmung der Verhältnisse von Welt, Handlung und Sinn. Zwischen Vitalität und Funktionalität1, Bewusstsein und Welt vermittelt das Design durch Formgebung. Es wirkt durch Ent-scheidungen, die zusammenziehen, was vorher geschieden wurde. Der Wahlspruch »drawing things together«2 passt daher in seinem doppelten Sinne perfekt auf das zeichnende und entwerfende Design.

2

Moderne und »Morphismen«

Bruno Latour traut dem Design eine umfassende Aufgabe zu: In other words, why not transform this whole business of recalling modernity into a grand question of design? [MEx:23] Diese Frage wurde im Design gelegentlich zitiert, in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen aber noch kaum erkannt oder durchgearbeitet. Latours Formel »Wir sind nie modern gewesen« weist darauf hin, dass die Moderne ignorant gewesen sei gegenüber einer Vielzahl von wirksamen Aktanten, die erst gemeinsam emergente Handlungsmacht (Agency) erzeugen können. Daher fordert Latour, die Programmatik der Moderne auf diese selbst anzuwenden: »to modernize modernization«.3 Doch wie sollte das Design dies leisten können, da es selbst sowohl als Agent wie auch als Produkt der Moderne erscheint? Die hier entwickelte Antwort lautet: durch eine Revision und ein »Reassembling« des Designs analog zu Latours Unternehmen »Reassembling the Social«. Das moderne Selbstverständnis der »unbedingten Menschen« wird neugefasst als Einsicht in das »bedingte Leben«.4 Dies bedeutet zunächst eine Dekonstruktion vermeintlicher Gewissheiten und ein erneutes Aufsuchen der Quellen. Gestaltung wird dabei als ein grundlegendes Vermögen des »Anthropos« verstanden, das auch ihn selbst ergreift. Im Fokus der Moderne stand der produzierende, 1 Hinweis von Uwe Arens, mündlich ca. 1985 2 Latour 1990 3 Latour 2007 4 vgl. »Der unbedingte Mensch« [Frankl 1949] und »Das bedingte Leben« [Heubach 1996]

Einleitung

planende und gestaltende Mensch, der die Welt nach seinen Wünschen formt. Doch Formgebung ist keine Einbahnstraße, sondern eine Wechselwirkung von Handlungsketten aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Latour spricht daher von »Morphismen«: Der Ausdruck »anthropomorph« unterschätzt unsere Menschlichkeit, und zwar um einiges. Man müsste von Morphismus sprechen. (…) Ein Wesen, das Morphismen zusammenbraut und mischt, reicht das nicht als Definition? (…) Das Menschliche ist gerade in der Delegation, im Pass, in der Sendung, im ständigen Austausch von Formen [NMod:182/3, vgl. C 3.8] Diese Auffassung etabliert ein Gegenbild zur modernen Vorstellung der autonom handelnden Subjekte gegenüber passiven Objekten. Kennzeichnend für die Moderne sind Dichotomien wie Natur/Kultur, Fakten/Werte oder kritisch/affirmativ. Es wurden bereits Versuche unternommen, diese zu überwinden, aufzulösen oder dialektisch zu vermitteln. Die ANT geht aber einen entscheidenden Schritt weiter und kehrt die Beweislast um: Warum sollten die Dualismen vorgängig sein und noch in den Versuchen ihrer Überwindung die Orientierung vorgeben?5 Warum von alten Beschreibungen ausgehen, statt in einem »zweiten Empirismus« [WSMC:24] eine neue Perspektive zu begründen? Die daraus folgenden Begriffe wie Hybride und Quasi-Objekte, Agency und Infra-Sprache zeigen eine Suchbewegung in der analytischen Beschreibung an. Diese kann und muss ergänzt werden durch synthetische Aspekte, wie sie in den konkreten Entwürfen des Designs realisiert werden.

3 Concerns als »values in action« Viele Funktionen des Designs wurden unter syntaktischen, semantischen und pragmatischen Aspekten behandelt. Doch das Verhältnis von realen, imaginären und symbolischen Dimensionen blieb noch weitgehend unscharf. Gerade diese Aspekte sind aber entscheidend für das künftige Transformation Design, sofern dieses im umfassenden Sinne als eine Frage nach »weltbildenden Aktivitäten« [RA:561] verstanden werden soll und sich nicht schon in einer Orientierung an sozialökologischen Zielen erschöpft. Um dieses Feld zu bearbeiten, wird ein weiterer Begriff Latours ins Zentrum gestellt: die »Concerns«. Latour unterscheidet zwischen »matters of fact« und »matters of concern«. Die bei Latour noch unterbestimmten »Concerns« werden mit Gabriel Tarde genauer gefasst als »leidenschaftliche Interessen« [ÖkW]. Damit gilt es, nicht nur gegebene Concerns darzustellen, sondern diese selbst als gestaltbar und gestaltet zu begreifen. Die von Latour im Prometheus-Text formulierte Aufgabe, Kontroversen zu visualisieren [Prom_dt.:372] wird daher umgeformt zu »Designing Concerns«. Die Grundlagen dafür werden vor allem in drei Quellen gefunden: 5 »Ich finde, wir sollten nicht von Überwindung der Dualismen sprechen, wir sollten das nicht einmal denken. Das ist immer noch 20. Jahrhundert! Wenn man unsere Epoche als Anthropozän definiert, dann geht es um die Erkenntnis, dass wir in Mischverhältnisse eingebunden sind, die in alle möglichen Richtungen gehen.« [Latour 2014b:4]

37

38

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

• der Akteur-Netzwerk-Theorie, die einen »zweiten Empirismus«6 begründen will • der »Wunschökonomie«, die Affekte und Interessen als gesellschaftliche Produktion beschreibt7 • und der »Praxeologie«, die einen Primat der Handlung formuliert.8 Concerns beziehen ihre Dynamik aus Affekten und Gefühlen, Meinungen und Einstellungen, Gruppentendenzen, Trieben, Phantasmen und Obsessionen. Sie können als Vektoren mit den Dimensionen Inhalt, Intensität und Ausrichtung beschrieben werden. Concerns lenken die Aufmerksamkeit, bilden Präferenzen, erzeugen Motivationen, bereiten Handlungen vor und beeinf lussen Entscheidungen. Die individuellen, sozialen und gesellschaftlichen Transformationen kennen sehr unterschiedliche Treiber und Motivationen. Einem Design, das sich auf diese Transformationen beziehen will, fehlte daher bisher ein klarer Ausgangspunkt. Dieser wird in den Concerns gefunden, die als »values in action« konzipiert werden und das normative Konzept der Bedürfnisse überwinden sollen. Bedürfnisse werden als soziale Konstruktionen verstanden, die sich aus umfassenderen Concerns speisen. Die hier entwickelte »Concern Canvas«9 präsentiert dazu die Kontexte und fragt nach der Gestaltbarkeit unterschiedlicher »Instanzen«. Dabei erscheint die Agency mit ihren Ereignisse und Rahmungen im Zentrum, umgeben von Themen (»issues«) und Fakten einerseits sowie den Concerns und Werten andererseits.

4 Kulturelle Formate In der Gestalt von Concerns arbeiten sich Form- und Sinngebung aneinander ab.10 Kulturelle Formate sind temporäre Stabilisierungen dieses Prozesses. Formate sind konkrete Erscheinungen, die Interaktionsformen präfigurieren und Werte verkörpern als »Ausdrucksgestalten« (Oevermann 2002).11 Die Formate erscheinen meist als selbstverständlich, da sie den Normalfall garantieren und kaum wahrgenommen im Hintergrund bleiben. Doch alles, was gemacht wird, kann auch anders gemacht werden und ist daher Gegenstand von Gestaltung. So können an der Machart und Erscheinungsform eines chinesischen Pinsels die Werte der Kalligrafie abgelesen werden, ebenso wie Kanne, Tasse und Tee auf die Zeremonie der Zubereitung und deren Werte verwei-

6 WSMC :24 7 vgl. Deleuze/Guattari 1997/1972, Lyotard 1984/1974 8 Reckwitz 2003, 2016; Schäfer 2013, 2016, u. a. unter Rückgriff auf Handlungstheorien bei Bourdieu 1998 und de Certeau 1988 9  vgl. das Diagramm Concern Canvas, C 5.1 und https://designingtransformation.org/concerncanvas 10 vgl. Latour: »Es ist unmöglich, (…), dass alle diese Aliens von ›einem Ich‹ stammen, ›in mir‹ liegen oder nur ›Projektionen‹ meines Bewusstseins, meiner Begehren oder meiner Ängste sind, Projektionen auf Gegenstände, die selbst jeder Existenz und daher jeder Gefahr entbehren. (…) Nein, man muss ihnen eine eigene Konsistenz, Exteriorität, Wahrheit geben.« [Exw:287] 11 Für die Einheit von psychischen Aspekten (emotionaler Bezug, Präferenz, Wille) und konkreter Erscheinung wurde der Begriff »Ausdrucksgestalten« [Oevermann 2002] geprägt, der für die Concerns übernommen wird.

Einleitung

sen. Dieser für die Gestaltung konstitutive Zusammenhang von Denken und Machen sowie den Auswirkungen des Gemachten wird auch von Latour formuliert: Aber Handeln bedeutet immer, von dem überholt zu werden, was man gemacht hat. Machen ist machen lassen. Wenn man handelt, beginnen andere zu handeln. (…) die simple Anerkennung, dass wir von dem überholt werden, was wir fabrizieren. [Latour 2001:18/19] Das Transformation Design, so die These, findet in den kulturellen Formaten sein Arbeitsfeld der Beobachtung und Analyse, der Projektion und des Entwurfs, der Realisierung und der Implementierung. Das Design eröffnet neue Formen der Wahrnehmung, Begegnung und Nutzung, schlägt Rollenbilder und Lebensformen vor und konfiguriert soziotechnische Bezüge. Viele dieser Funktionen sind vergleichbar mit jenen von Musik und Literatur, Malerei und Bildhauerei, Theater und Film. Doch während diese im symbolischen Raum der Künste bleiben, besteht das Design auf dem Anspruch, neue Realitäten mitzugestalten. Damit schließt das Design eher an vormoderne Konzeptionen der »artes liberales« an, statt einem veralteten Avantgarde-Begriff der Künste zu folgen. Ähnlich wie die Architektur ist das Design weltbildend, indem es kognitive und emotionale Behausungen erzeugt, Form und Sinn vermittelt und kohärenten Weltbezug herstellt. Der Ansatz des Concern Designs und sein Bezug auf Transformationen werden daher nicht als neu behauptet. Vielmehr wird vorgeschlagen, darin einen Kern zu erkennen, der in den verschiedenen Entwicklungsstufen des Designs immer schon wirksam war und nun systematisch weiterentwickelt werden soll. Das Design ging immer schon von Concerns aus, denn nie ging es um Produkte, Prozesse oder Systeme allein, sondern immer um deren Dynamik im Gebrauch, also der Herstellung sozialer Praxen und kultureller Formate. Entscheidend dabei ist, dass nicht nur Menschen mit Worten, Gesetzen und eben auch mit Dingen Politik machen, sondern dass der Eigensinn der Dinge anerkannt wird, die politisch wirken, indem sie Vorstellungs- und Handlungsräume öffnen und strukturieren. Die Akteur-Netzwerk-Theorie hat dafür einen Begriff entwickelt, der dem Design auch in hundert Jahren Nachdenken über die Dinge nicht eingefallen ist: Dingpolitik!

39

Teil A Situierung des Designs Diskurs- und Praxisfelder des Designs, Bezug zur Akteur-Netzwerk-Theorie (deskriptiv, analytisch)

Zusammenfassung Eine Beschreibung aktueller Diskurs- und Praxisfelder des Designs soll darüber Auskunft geben, welche Fragestellungen des Designs von Anregungen der (ANT) profitieren können. Zunächst werden Bruno Latour als Autor und das Netz seiner Produktion vorgestellt. Die möglichen Anschlüsse des Designs an die ANT werden bestimmt als Thematik, Methodik und Theoriedesign. Zentrale Bedeutung hat die Frage, auf welchen Begriff des Sozialen sich das neue Gebiet des Transformation Designs beziehen kann. Das Verhältnis von Design und Sozialwissenschaften wird betrachtet und ein gemeinsames Arbeitsfeld postuliert, das in den von Latour untersuchten »weltbildenden Aktivitäten« [RA:561] besteht. Die Ausweitung der Wirkungsfelder des Designs in sozial-organisatorische und physisch-biologische Dimensionen wird beschrieben. Stufenmodelle des Designs werden kritisiert, und der »Hyperzyklus der Transformation« wird als Alternative entwickelt. Latours Designaufgabe einer »Revision der Moderne« wird diskutiert und als deren Voraussetzung eine Revision des Designs gefordert. Das Social Design wird mit seinen ideologisch motivierten Dichotomien als Erbe der Moderne kritisiert, was zur Präferenz des nicht-normativen Ansatzes des Concern Designs führt. Die genannten Aspekte führen zu ontologischen Neubestimmungen, die – angeregt durch die ANT – sowohl den unabweisbaren sozialen und ökologischen Forderungen entsprechen, als auch zu einer notwendigen Neupositionierung des Designs beitragen. Klassische Positionen des Designs (Papanek, Fuller, Simon) werden befragt und in Bezug gesetzt zur aktuellen Fragestellung von Universalismus vs. Pluriversalismus. Abschließend werden Fragen zur designspezifischen Ref lexion und Theoriebildung erörtert. Diese Skizzierung der Ausgangslage bereitet vor auf eine Diskussion der Positionen Latours zum Design (Teil B) und die Entwicklung eines eigenen Ansatzes auf der Basis neubestimmter Concerns (Teil C).

1 Design als »Dingpolitik« (Latour) Alles muss neu gemacht werden, sogar das Machen selbst. Latour 2011a:30 Woher nimmt das Design seinen Auftrag? Ist es die Verlängerung eines modernen Fortschrittsoptimismus, der stetige Verbesserungen erwartet? Oder sind es moralisch, politisch oder religiös motivierte Ambitionen auf eine Umgestaltung der Welt? Oder realistischer: eine Selbstbeauftragung zur Verhinderung von Katastrophen und der Ermöglichung neuer Qualitäten als künftigem Normalfall? Das Design wird tätig in Anwendungsfeldern wie Produkte und Prozesse, Services und Systeme. Es zielte jedoch immer schon darüber hinaus auf Lebensformen.1 Daher bedeutet es keine grundsätzliche Neuorientierung, sich mit sozialen und ökologischen Fragen zu beschäftigen, wie gegenwärtig gefordert. Fraglich ist jedoch, auf welche Annahmen und Positionen sich künftige Designpraxis berufen kann. Wie kann ein Transformation Design aus gestalterischen und wissenschaftlichen Fächern entwickelt werden, die sich beide dadurch wesentlich verändern müssten? Die Gestaltung scheint dafür bereit zu sein in seinem Verständnis als (…) transitorisches oder transformatorisches Kompetenz-Bündel. [Erlhoff 2004:o.S.] Die Aufgaben des Transformation Designs können vorläufig bestimmt werden als • • • • •

Beobachtung, Analyse und Erneuerung soziokultureller Formate experimentelle Projektion möglicher Zukünfte Moderation von Kontroversen unterschiedlicher Anspruchsgruppen Integration von Expertenansichten zu ganzheitlichen Perspektiven Vertretung von Nutzerinteressen gegenüber den Sachzwängen aus Technik, Wirtschaft, Recht und Politik

Für diese Aufgabenfelder kann die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) vielfältige Anregungen bieten: Sie eröffnet neue Perspektiven und bildet Begriffe, die soziale, technische und politische Aspekte auf innovative Weise integrieren. Mit ihrer Betonung der Handlungsketten und dem Anspruch eines »zweiten Empirismus« [WSMC:24] drängt 1 »Design bezieht sich oberflächlich im wörtlichen Sinne auf Dingformen, tiefenstrukturell jedoch auf Lebensformen.« [van den Boom 1984:41]

44

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

sie zur Operationalisierung. So können Positionen der ANT weitreichende Folgen haben für eine Neufassung des Designs als »Dingpolitik«. Allein dieser Begriff erhellt schon viele Aspekte der gestalterischen Arbeit, wurde aber in der Gestaltung bisher nicht systematisch entwickelt, trotz früher Würdigung und erstem Enthusiasmus.2

1.1

Warum Design und ANT gemeinsam bedenken?

Das Design hat sich erweiterte Wirkungsfelder geschaffen, die von neuen Materialien bis zu sozialen und gesellschaftlichen Fragen reichen. Diese neuen Arbeitsgebiete des Designs müssen ihre Grundlagen erst noch entwickeln und suchen dafür erweiterte und aktualisierte theoretische Perspektiven, wie sie in der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) gefunden werden können. Deren Positionen sind für das Design entweder unmittelbar einsichtig oder so provokant, dass sie anregen zum Widerspruch und zur Richtigstellung, zur Detailierung und Konkretisierung. Die ANT hat Kategorien der Technik- und Sozialwissenschaften hinterfragt, neue Begriffe gebildet und Forschungsperspektiven erneuert. Seit über dreißig Jahren erfährt die ANT eine globale Rezeption und erzeugt Wirkungen in den unterschiedlichsten Fächern.3 Sogar eine Fast-Verabschiedung durch eigene Protagonisten4 wurde elegant aufgefangen, auch wenn man sich »erschreckt über das von uns erschaffene Monster« [RA:570] zeigt. Doch nicht nur im Hinblick auf ihre Aussagen ist die ANT provokant, sondern auch in ihrer Form. Dies zeigt sich schon beim Namen, der nach Latour unglücklich gewählt ist, da die ANT (…) eher eine Methode ist, die eigenen weltbildenden Aktivitäten des Akteurs zugänglich zu machen, als eine alternative Sozialtheorie. [RA:561]5 Somit ist die ANT »weniger und mehr als eine Theorie«6 und erweist sich – den eigenen Postulaten folgend – als »sehr beweglicher und geschmeidiger kollektiver Denkstil«.7 Der Erfolg der ANT besteht nicht darin, eine positive Lösung für Probleme zu liefern, sondern bisherige Gewissheiten zu erschüttern, tradierte Kategorien zu hinterfragen 2 vgl. Hackney, Glynne, Minton 2008:XI, Jonas 2000. Dem Aufruf »Towards an Actor-Network Theory of Design« [Yaneva 2009] folgten bisher nur wenige Projekte. Kürzlich wurden jedoch auch Bezüge zur Architektur formuliert [Yaneva 2022]. 3 Außer in den Technik-, Sozial- und Kulturwissenschaften wird die ANT mittlerweile auch in der Stadtsoziologie [Wilde 2021] und der Theologie [Bogner et al. 2021] rezipiert. 4 vgl. Law/Hassard 1999 5 Latour sieht in der ANT eine »Theorie des Raumes«: »Die ANT ist genauso wenig eine Theorie des Sozialen, wie sie eine Theorie des Subjekts, eine Theorie Gottes oder eine Theorie der Natur ist. Sie ist eine Theorie des Raumes oder der in einer nicht modernen Situation zirkulierenden Fluide. Welche Art von Verbindung kann zwischen diesen beiden Begriffen hergestellt werden anstelle der einer systematischen, modernistischen Lösung?« [RA:568] Hilmar Schäfer wies darauf hin, dass Latour die ANT an anderen Stellen (z.B. NSoz:452/453) »durchaus emphatisch als ›alternative Sozialtheorie‹ bezeichnet«, erkennt aber wohlwollend in dieser »gespaltenen Selbstpositionierung (…), dass die ANT auch die Differenz von Theorie und Methode aufzulösen sucht.« [Schäfer 2013:275] 6 Schüttpelz 2008:234 7 Giessmann 2009:112

1 Design als »Dingpolitik« (Latour)

und eine neue Perspektive auf die permanente und prekäre Produktion des Sozialen zu eröffnen. Damit traf die ANT offensichtlich auf fundamentale Defizite der etablierten Soziologie. Eine Neu-Formierung des Sozialen (Latour: Reassembling The Social) eröffnet neue Denk- und Handlungsoptionen auch für das Design, sofern es sich auf Transformation beziehen will. Dabei ist die steile Karriere der ANT zu berücksichtigen, die von einer – sorgfältig gepf legten – Außenseiterrolle zur akademischen Kanonisierung führte. Einführungen zu Latours Werk haben dessen Leitideen dargelegt, aber wesentliche Aspekte ausgelassen, die für das Design relevant sind.8 Diese sollen hier im Fokus stehen in der Absicht, mögliche Auswirkungen und Anwendungen der ANT für das Design zu diskutieren und darüber hinaus die Latour-Forschung aus der Perspektive des Designs zu ergänzen. Designrelevante Positionen der ANT werden im Folgenden vor allem den Werken Bruno Latours entnommen, der diese Bezüge als einziger eminenter Autor der ANT explizit hergestellt hat. Darüber hinaus ist Latour bei einer Vielzahl von Projekten wie Ausstellungen und Netzpräsenzen bis zu Performances und Workshops beteiligt. Dadurch wird eine Praxisdimension der ANT erlebbar, deren Relevanz für das Design offensichtlich ist.

1.2 Anschlüsse Das Theorieangebot der ANT ist dem Design in mehrfacher Hinsicht willkommen:

1.2.1 Thematik Die ANT bildet einen neuen Begriff des Sozialen (Reassembling the Social, RAS), versteht sich als Erneuerung der Empirie (second empiricism, WSMC:24) und will »(…) weltbildende Aktivitäten (…) zugänglich machen (…)« [RA:561]. Dazu zeichnet sie Handlungsketten nach, die durch die Agency menschlicher und nicht-menschlicher Aktanten gebildet werden. Deren materielle Bestandteile werden artikuliert als Hybride und Quasi-Objekte. Für das Verhältnis von Fakten und Werten wird die Unterscheidung von matters of fact und matters of concern eingeführt. Die ANT bietet Anlass und Anregung, das Design von seinen objektzentrierten Ursprüngen zu lösen und die immer schon implizit wirksamen, aber nicht klar benannten Ziele sozialer Innovation und Formatierung neu zu fassen. Designer interessieren sich für das Verhältnis von Dingen und Menschen und positionieren sich daher in den häufig produktiven, aber prekären Zwischenräumen von Kunst, Wissenschaft, Technik, Markt und Forschung.9 Sie finden in der ANT eine integrative Beschreibungsweise, die lange vermisst wurde. Das Transformation Design kann seine nicht-normative Perspektive mit Begriffen der ANT anreichern und differenzierte Ausgangspunkte für die Interventionen des Designs finden. Das Social Design und das Transition Design finden hier eine Möglichkeit, ihren traditionellen Begriff des Sozialen zu überdenken und zu aktualisieren.

8 vgl. Gertenbach, Laux 2019; Schmidgen 2011 9  vgl. Designer als »Spezialisten des Dazwischen« [Jonas 2001]

45

46

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

1.2.2 Methodik Über die Notwendigkeit einer Neubestimmung des Designs analog zur Vergrößerung seiner Wirkungsfelder besteht weitgehend Einigkeit. Doch liegen die Mittel dafür bereit? Mit der Entwicklung des Transformation Designs sind Fragen in gesellschaftlicher Dimension angesprochen, für die das Design seine Erkenntnisgrundlagen und Forschungsmethoden nicht allein entwickeln kann. Es kommt daher auf einen Austausch mit anderen Kompetenzfeldern und wissenschaftlichen Fächern an, ohne jedoch dabei das Modell der klassischen Wissenschaften zu kopieren. Das Ziel ist es nicht, Transformation zu einem möglichen Gegenstand von Wissenschaften zu machen, sondern transformative Gestaltungspraxen zu entwickeln, die einen strategischen Gebrauch von Wissen machen, wozu auch der jeweils situativ gebotene Zugriff auf wissenschaftliche Ressourcen gehören kann. Ein solches Vorgehen könnte auch für andere Fächer über das Design hinaus wegweisend sein, sofern sie sich mit Transformation beschäftigen wollen.10 Die Methodik der ANT fokussiert auf materielle Praxen wie Beschreiben, Aufzeichnen und Weitergeben. In der Entwicklung von »immutables mobiles« [VisCog:7] erkennt die ANT eine zentrale Funktion der Darstellungstechniken für den Auf bau moderner, industrialisierter Gesellschaften. Diese materiellen und grafischen Techniken sind originäre Arbeitsmittel des Designs, die im postindustriellen, digitalen Zeitalter neu in den Blick genommen werden und auch für eine Revision der Moderne produktiv gemacht werden sollen.11

1.2.3 Theoriedesign Designer interessieren sich für die Form und Ästhetik von Theorien. Mit »Theoriedesign« soll die Wirkungseinheit von Form und Inhalt bezeichnet werden. So erschiene etwa eine ästhetische Theorie als unglaubwürdig, die kein Verhältnis zu ihrer eigenen Erscheinungsweise ausbildete. Die Arbeitsweise und Theorieform der ANT speziell nach Latour bietet ein originelles Theoriedesign als spezifische Verbindung von Darstellung und Methode, das in vielfältigen performativen und partizipativen Formen über tradierte Formate der Wissenschaften hinausgeht (vgl. B 8). Latours Arbeiten wurden dadurch popularisiert, aber auch einer außerfachlichen Kritik ausgesetzt. Latour gelingt es, Diversität und Kontinuität zu verbinden. Er geht aus von wenigen Grundannahmen, die dann in verschiedenen Beobachtungsfeldern angewandt werden. Damit ergibt sich einerseits eine gewisse Hermetik der Theorie, andererseits aber eine vielfältige Anwendbarkeit in der Praxis: In französischen Buchhandlungen, so beschweren sich Buchkäufer, sind meine Bücher auf zu viele verschiedene Abteilungen verteilt: ein Buch über den Conseil d’État findet man in der Rechtsabteilung, eines über eine automatisierte U-Bahn in der Technikabteilung, während ein Buch über die unsichtbare Stadt Paris, fälschlicherweise natürlich,

10 vgl. die Forderung nach einer »Transformativen Wissenschaft« [Schneidewind, Singer-Brodowski 2013], u. a. basierend auf älteren Forderungen nach Transdisziplinarität, vgl. Nicolescu 2002 11 vgl. »Denken am Modell« [Stephan 2001]

1 Design als »Dingpolitik« (Latour)

in der Touristikabteilung gelandet ist und ein kleines Buch über die Religion (nahezu ebenso falsch) in der Spiritualitätsecke verschwunden ist. [Latour 2008:2] In einem Systemvergleich zeigt sich diese Arbeitsweise noch deutlicher.12 Die Ansätze von Bruno Latour und Niklas Luhmann konkurrieren um eine angemessene Beschreibung und Analyse der modernen Gesellschaft und ihrer Folgen. Luhmann postuliert ebenfalls Grundannahmen zu System, Umwelt, Beobachtung zweiter Ordnung und Kommunikation.13 Damit beobachtet er Funktionssysteme der Gesellschaft, wobei die Relativität und Begrenztheit möglicher Beobachtungen stets mitref lektiert wird.14 Auch Latour postuliert Axiome (vgl. B 7.3.3), die jedoch nahelegen, von den kleinsten und konkretesten Beobachtungen auszugehen und dabei den Akteuren zu folgen. Dabei löst sich die Zuschreibung von Handlungen auf zu Netzen von Agency zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten. Eine Systematik wie in den »Existenzweisen« [Exw] entsteht bottom-up, während sie bei Luhmann top down funktioniert. Latours Fazit lautet daher: Ich hatte kein Glück mit Luhmann. (…) Bei Luhmann gibt es nichts, um auszudrücken: Diese Existenzweise ist absolut besonders und einzigartig. (…) Zudem ist die Metasprache, die er verwendet, eine sehr spezielle Sprache, eine Art Kreuzung aus Informationstheorie und Biologie, die er auf alle Bereiche anwendet. (…) Außerdem gibt es bei ihm keine Metaphysik, seine Theorie ist keine Theorie über die Welt, es geht eben um Gesellschaft. Und Gesellschaft steht nicht mehr wirklich im Zentrum meines Interesses. [Latour 2013b:94/95] Latour bekennt zwar: (…) dass ich letztlich ein Philosoph mit einem System bin (…) [Latour 2008:13] Doch wie ist sein System zu fassen? Sicher nicht im klassischen Sinne – wie es metaphorisch beschrieben werden kann – als Theoriegebäude mit soliden Fundamenten, eindeutig definierten Begriffen und vollständig begründeten Sätzen. Eine solche Form würde Latours Thema aber auch nicht entsprechen. Latour thematisiert die Netze und operiert netzartig: Durch die ständige Wiederholung mancher Aussagen bilden sich Attraktoren heraus und immer neue Durchgänge reichern das Material an, irritieren aber auch durch kleine oder größere Abweichungen. Es entstehen Redundanzen und Widersprüche. Die Form ist selbstähnlich und hermetisch, historische

12 vgl. den Theorienvergleich von Latours Existenzweisen und Luhmanns Funktionssystemen [Braun 2017] 13 vgl. Baraldi et al. 1997 14 Der Begriff des »Theoriedesigns« erscheint – soweit ermittelbar – zuerst bei Niklas Luhmann, wo er wie selbstverständlich vorausgesetzt und nicht weiter expliziert wird: »(…) Probleme der Theoriearchitektur bieten vielleicht einen geeigneten Einstieg, denn sie bieten zugleich eine Gelegenheit, auf die bei jeder Inszenierung von Theorie sich zwangsläufig ergebenden Beschränkungen hinzuweisen – was umso notwendiger ist, als es zwar Theorievergleiche mehr oder weniger unzulänglicher Art, aber noch keine Methodenlehre des Theoriedesigns gibt.« [Luhmann 1992:371] sowie spätere Verwendungen bei Bolz 2001, Gaiser 2003, Hornuff 2014.

47

48

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Quellen und systematische Referenzen werden nur hoch selektiv genannt. Latour erfindet für seine Ideen ein neues Genre und formuliert dieses als Wunschvorstellung: (…) was ich ebenfalls zu sein wünsche, ein empirischer Philosoph, der philosophische Fragen in präzisen ethnographischen Forschungen behandelt (…). [Latour 2008:6] Das Design ringt in Theorie und Praxis noch um die Form eines eigenständigen Theoriedesigns, das seinem Selbstverständnis als »ref lective practitioners« [Schoen 1983] entspricht. Designer sind dabei in der glücklichen Lage, sich nicht zwischen soziologischen Denkschulen entscheiden zu müssen, da sie vor allem an praktischen Interventionen interessiert sind und weniger an der Gültigkeit umfassender Analysen. Designer können Anregungen der ANT ebenso aufnehmen wie die Erkenntnisse der Systemtheorie.15 Doch letztlich stehen Designer vor der Aufgabe, eigenständige Formate für das Verhältnis von Entwurf und Ref lexion zu entwickeln, die in der Forschung erfolgreich praktiziert werden können.

1.3 Pragmatische Rezeption der ANT Bei dieser Ausgangslage muss es erstaunen, dass das Theorieangebot der ANT im Design bisher kaum detailliert durchgearbeitet wurde, trotz allgemein positiver Aufnahme. Einschlägig ausgerichtete Projekte wurden kaum bekannt, ebenso wenig wie differenzierte Aneignungen oder gar Erweiterungen des Theorierahmens. Gründe dafür mögen zum einen in der notorischen Theorieferne des Designs gefunden werden, das erst seit einigen Jahren seinen Anspruch auf Forschung intensiver entwickelt und damit auch verstärkt eigenständige Theoriebildung betreibt. Zum anderen erscheinen die Texte der ANT durch idiosynkratische Begriffsbildungen häufig als hermetisch geschlossene Werke. Für nicht theoriezentrierte Fächer wie das Design ist darüber hinaus die schiere Menge der Publikationen samt der umfangreichen Sekundärliteratur nicht ohne Weiteres zu bewältigen. Mit dem Auf kommen von neuen Designfeldern wie dem Transformation Design scheint aber die Zeit für eine zweite oder gar dritte Welle der Rezeption der ANT gekommen zu sein. Selbst noch die Ruinen der ANT könnten sich als fruchtbare Grundlage herausstellen für ein »Leben nach der ANT« [RA:570]. Zu dessen »zukünftiger kollektiver Leistung« [RA:571] könnte das Design beitragen, indem es die beschreibenden und analytischen Dimensionen der ANT um synthetisierende und intervenierende Methoden der Gestaltung erweitert und damit auf den Theorierahmen kritisch zurückwirkt. Es mag sogar geboten sein, Latours Programm gegen seine mitunter verkürzte Auffassung von Gestaltung zu entwickeln, also: mit Latour gegen Latour. Nach einer anfangs zögerlichen Rezeption hat die ANT weltweit ein großes Publikum gefunden. Dieses teilt sich in eine enthusiastische Gefolgschaft und vehemente Kritiker, wie auch bei anderen Autoren der »French Theory«.16 Das Design rezipiert die ANT aber 15 Hierfür gibt es bereits eine lange Tradition im Design, die sich auch der Rezeption systemtheoretischer Ansätze in den Technik- und Planungswissenschaften verdankt, vgl. exemplarisch Jonas 1994. 16 In den USA geprägter zusammenfassender Begriff für französische Autoren wie u. a. Baudrillard, Deleuze, Derrida, Foucault, Guattari, Lacan, Latour, Lyotard, Serres, Virilio. Latour persifliert: »Ent-

1 Design als »Dingpolitik« (Latour)

vor allem in einem pragmatischen Verständnis. Es geht darum, die ANT für das Design produktiv zu machen, weitgehend unbekümmert um deren immanente Probleme. Das Ziel ist es, die Ansätze der ANT zu verarbeiten, weiterzudenken und für das Design zu transformieren, um gleich einen zentralen Begriff der ANT zu verwenden.17 Eine umfassende theoretische Kritik der ANT ist daher vom Design nicht zu leisten, sondern soll den Fachwissenschaften überlassen bleiben. Das Design kann einen Seitenblick auf bisher weniger beachtete Aspekte anbieten. Damit sind auch Erkenntnisse zu erwarten, die die bisherige Aufnahme ergänzen und möglicherweise korrigieren. Die ANT könnte von einer verstärkten Rezeption im Design vor allem durch eine empirische Überprüfung ihrer Ansätze profitieren, was in Projekten der ANT bisher vermisst wird, nicht zuletzt aufgrund mangelnder Dokumentation.18 Latour ist sich dieser Defizite bewusst und artikuliert den Wunsch nach Feldforschung: Könnte doch nur ein Bruchteil der Energie, die in den Sozialwissenschaften dem Kommentieren unserer eminenten Vorgänger gewidmet wird, in Feldforschung verwandelt werden. [NSoz:235] Für diese ausstehende Feldforschung will die ANT Methoden anbieten und sieht ihre Möglichkeiten noch kaum ausgeschöpft: Die ANT erklärt niemandem die Form von dem, was gezeichnet werden soll – Kreise oder Würfel oder Linien – sondern nur, wie man bei der systematischen Aufzeichnung der weltbildenden Fähigkeiten der zu dokumentierenden und zu registrierenden Schauplätze vorgehen soll. In diesem Sinne sind die Potenziale der ANT noch größtenteils ungenutzt. [RA:567]

1.4 Im Zeichen der Ameise (ANT) Designer werden sich ihre eigenen Wege bahnen müssen durch das Labyrinth der Latour’schen Projekte und Textmassen samt umfangreicher Sekundärliteratur. Mit den Mitteln der ANT vorzugehen, hieße, dabei deren »ANT’s view« (Ameisenperspektive) zu übernehmen und geduldig von einem Detail zum anderen fortzuschreiten.19

schuldigen Sie Professor, ich habe ihnen gesagt, dass ich mich noch nie mit dem französischen Zeug ausgekannt habe; ich kann in C und sogar in C++ schreiben, aber nicht Derrida, Semiotik oder irgendwas in der Art.« [NSoz:256] 17 Pragmatische Interessen zu verfolgen, bedeutet aber nicht, eine Trivialisierung zu akzeptieren, wie sie sich etwa in der Erwartung von Hinweisen auf das Design von Gegenständen zeigt: »(…) doch auch die ANT lässt die Frage unbeantwortet, welche Eigenschaften ein Designgegenstand haben muss, um in sozialen Gefügen eine effektive Rolle zu spielen.« [Cleven 2016:59] 18 vgl. B 9 19 Nietzsche hatte zur philologischen Tätigkeit bemerkt: »So sehen wir auch hier, wie zahllose Menschen eigentlich nur als Vorbereitung eines wirklichen Menschen leben: z.B. die Philologen als Vorbereitung des Philosophen, der ihre Ameisenarbeit zu nutzen versteht, um über den Werth des Lebens eine Aussage zu machen. Freilich ist, wenn es keine Leitung giebt, der grösste Theil jener Ameisenarbeit einfach Unsinn und überflüssig.« [Nietzsche 1999/1875:32]

49

50

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 1: Latours Bücher und Artikel. Welche Wege kann sich das Design durch Latours Werke bahnen? [Fotos: PFS] Für das Design sollte es nichts Neues bedeuten, in Handlungsketten zu denken, wie es Latour propagiert. Bereits die Grundannahme der antiken Philosophie und Naturwissenschaft lautete »natura non facit saltus – die Natur macht keine Sprünge«.20 Ebenso verbindet eine empirisch orientierte Gestaltung die Register vom kleinstmöglichen Detail zum umfassenden Gesamtbild. Die behauptete Neuerung Latours, die Weltvergessenheit und das Begriffsgeschäft der Wissenschaften als fehlgeleitet aufzudecken, betrifft das Design daher nicht. Latour besteht auf einem instrumentellen Verständnis der ANT und bezeichnet deren Aufgabe als »Beschreibungsgeschäft« [NSoz:253, vgl. B 8.4]: ANT is more like the name of a pencil or a brush than the name of a specific shape to be drawn or painted. [RAS:143] Latours Arbeiten zeigen allerdings nur in Ansätzen, wie solche Beschreibungen aussehen können, etwa wenn er die mikrobiologischen Arbeiten Louis Pasteurs analysiert [PF]. Latours umfangreiches Werk erschöpft sich darin, neue Werkzeuge der Beobachtung und Beschreibung zu fordern und ihren Stellenwert für einen notwendigen Paradigmenwechsel im Verständnis der Forschung und den Sozialwissenschaften zu betonen. Die eigentliche Arbeit jedoch, in der sich jene Werkzeuge bewähren müssten, steht im Wesentlichen noch aus und auch in Latours Projekten werden die selbst erhobenen Ansprüche kaum eingelöst.21 In dieser Lage könnten Methoden des Designs zur Beobachtung und Analyse sozialer Praxen hilfreich sein wie etwa cultural probes, personas und customer journeys. Doch auch diese müssen sich weiterentwickeln und erweitern zu den Formen künftiger Reallabore, wie sie als gemeinsames Forschungs- und Anwendungsfeld von ANT und Design konzipiert werden können. Solche »trading zones of knowledge«22 hätten 20 Auch Nietzsche hatte dies bereits erkannt: »Von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgetan werden muss, damit es zu dem Schlage komme, ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Teil dieser Arbeit zu tun, weiß er nichts.« [Nietzsche 1999/1882:482, Hervorhebung PFS] 21  vgl. B 9.5 22 Galison, Thomson 1996:11

1 Design als »Dingpolitik« (Latour)

den Anspruch, die unterschiedlichen Handlungs-, Denk- und Sprachwelten von Anspruchsgruppen komplexer Projekte in einen produktiven Austausch zu bringen. Das Mantra der ANT »follow the actors« müsste dabei mit den Mitteln des Designs realisiert werden und die Sprach- und Schriftform in den Protokollen der ANT ergänzen. Das hier entwickelte Konzept der Concerns soll dazu beitragen.

1.5 Latour als »Liebhaber« und »Student der Wissenschaften« Latour inszenierte sich schon früh als ein bescheidener »Liebhaber« und »Student der Wissenschaften« [BS]. Damit positionierte er sich geschickt als ein Außenseiter, an den keine Ansprüche gestellt werden können. Zur gleichen Zeit erhebt er jedoch umfassende Aussagen- und Wirkungsansprüche. Dabei folgt Latours Sprachform einer eigenen Logik: Wer eine andere Redeweise fordert als die wissenschaftliche, sollte eine neue Redeweise praktizieren, ohne die eigentlich geforderte selbst schon bieten zu müssen. Woher soll eine Erneuerung der Wissenschaften kommen, wenn nicht gleichzeitig methodisch als neuer Empirismus und beschreibend/zeigend als neue Sprach- und Darstellungsform? Ein Beispiel dafür gibt Latours Liebeserklärung an die Labore.23 I love laboratories! I swear to you that my heart beats faster when I enter a laboratory, even for a minute, in any field whatever. There is nothing more exciting, more moving. I quiver, I understand, I admire, I know. (…) it was there that I learned to love the sciences. In my own way, of course, but truly love. Yes, I believe I understand what the libido sciendi is. (…) Give me a laboratory and I will move the world. [Latour 2013b:15] Eine psychologische Deutung der Latour’schen Sprachspiele könnte zu folgendem Ergebnis kommen: Latour beschreibt sich nicht nur als einen »Liebhaber der Wissenschaften«, er äußert sich auch mit dessen Redseligkeit.24 Latour beschwört und besingt, feiert und preist. Er verausgabt sich und macht sich lächerlich. Er verzweifelt, aber lässt sich nicht entmutigen. Er unternimmt immer wieder neue Anläufe, obwohl es aussichtslos ist. Er wird immer wieder scheitern, aber er sieht das Scheitern nicht ein. Er macht große Pläne, bleibt jedoch die Ausführung schuldig.25 Latour ist ein Romantiker, alles singt und spricht zu ihm, er hört Stimmen, doch er kann sie nicht benennen.26 Er ruft: Seht ihr es denn nicht, es ist doch offenbar. Du kannst die Welt auch ganz anders sehen, spricht sie nicht zu Dir? Er ist beglückt und will andere beglücken und versteht nicht, warum sie sich so verschließen. Das Zauberwort wird gefunden, aber es sind zu 23 Ganz ähnlich hatte Nietzsche bereits die Liebe zur Wissenschaft und die Schönheit der Experimente beschrieben: »Die Wissenschaft lieben, ohne an ihren Nutzen zu denken! Aber vielleicht ist sie ein Mittel, den Menschen in einem unerhörten Sinne zum Künstler zu machen! Bisher sollte sie dienen. – Eine Reihenfolge schöner Experimente ist einer der höchsten Theatergenüsse.« [Nietzsche 1999/1880:451] 24 vgl. »Ich wickle auf, ich haspele ab, ich durchschieße das Gewebe des Liebestextes (…).« [Barthes 1988:186] 25 »Wir führen das unmögliche Projekt Heideggers durch.« [NMod:90/91], vgl. B 7.3] 26 vgl. Joseph von Eichendorff (1788-1857): »Es schläft ein Lied in allen Dingen«

51

52

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

viele Wörter und sie öffnen alle Schleusen, f luten die Welt und die Vorstellungen von ihr mit immer weiteren Massen und Aktanten, Monstern und Aliens. Einstweilen kann sich Latour mit einer Infra-Sprache behelfen, die falsch und künstlich erscheint, aber immerhin nicht mehr die Selbstgewissheit wissenschaftlicher Aussagen wiederholt. Die Intensität seiner Bemühung überzeugt stärker als seine Argumente. Die Lauterkeit seines Anliegens beweist sich im persönlichen Beispiel: Der Autor setzt sein Leben ein. Über Jahrzehnte bleibt er seiner Passion treu, er macht sie zu seiner Sache und entkommt ihr nicht, er unterliegt ihr sogar. Als »Student der Wissenschaften« [BS] bleibt Latour fasziniert von den Wissenschaften, er versteht sie oft nicht, will sie aber verstehen, ist begeistert und enttäuscht zugleich, erwartet restlose Klarheit und gibt unauf lösbare Verstrickung zu, verzweifelt über sein instabiles Halbwissen und erklärt es zur Norm. Er schreibt einen umfangreichen Text nach dem anderen, weil er meint, damit mehr Verständnis erzwingen zu können. Er formuliert Slogans und beschreibt Werkzeuge und Methoden, doch er setzt sie kaum ein. Stattdessen wiederholt er die immer gleichen Formeln, als könnten sie wie Mantras durch Beschwörung wirken. Latour verfolgt manisch eine Idee, er hat eine Mission: Er will die missing masses befreien. Er ist eine Ein-Mann-Revolution, doch paradoxerweise fordert er, das revolutionäre Erbe der Moderne zu überwinden. Dies mag erklären, warum Latour mehr Resonanz erfährt als andere Autoren der ANT, die zufrieden scheinen mit einer neuen Art des Fragens, die aber ihre eigene Position nicht infrage stellen und weiter gefügige Mitglieder der Wissenschaftsfamilie bleiben wollen.

1.5.1 Die Wissenschaften als Objekt der Begierde Doch wie verhalten sich die Wissenschaften, das Objekt der Begierde? Erhören sie ihren Liebhaber und Studenten? Nein, sie entziehen sich und weisen ihn ab, worauf er protestiert: »Wir sitzen alle in einem Boot.«27 Sie aber erkennen keine Gemeinsamkeit, denn er steht für ihre dunkle Seite: Er sagt und tut, was sie zu sagen und zu tun unterlassen. Doch Latour kann dankbar sein für seine Widersacher in den Science Wars, haben sie doch genau jene Argumente vorgebracht, die er für ihre Rolle vorsieht. Die soft sciences, die humanities und die Künste feiern Latour dafür umso mehr als einen Erneuerer. Doch Latour besteht auf Empirie, denn am Ende geht es um dringende Aufgaben, die sich nicht um die Spitzfindigkeiten unserer Beschreibungen kümmern. Nach Latour ist Wissenschaft notwendig und wertvoll, schwierig und selten. Auch nur ein wissenschaftliches Faktum zu konstruieren, sei eine große Leistung. Als er an einer Exkursion von Klimaforschern teilnimmt, beglückwünscht er diese: »You must be very proud«.28

27 in: heureka! 5/98, http://www.falter.at/heureka/archiv/98_5/03.php 28 https://www.nytimes.com/2018/10/25/magazine/bruno-latour-post-truth-philosopher-science.html

1 Design als »Dingpolitik« (Latour)

1.5.2 Latour als Marke und Medienphänomen Latours Projekt ist stark abhängig von seiner Person. Zustimmung und Ablehnung seiner Positionen werden daher häufig personalisiert.29 Während andere Autoren der Akteur-Netzwerk-Theorie nur in Fachkreisen gelesen werden, entwickelte sich Latour vom Feldforscher und Autor in akademischen Fachzeitschriften zum eminenten öffentlichen Intellektuellen.30 Nach anfänglichen Irritationen wird Latour global wahrgenommen, erhielt bedeutende Preise31 und wurde in mehrere Dutzend Sprachen übersetzt. Latour ist in der ganzen Breite der Medien präsent von Zeitung und Fernsehen, über Ausstellungen, Hörspiel und Theater bis zu Netzvideos und sozialen Medien.32 Sein Status als Marke wird durch ikonische Portraits bezeugt (Abb. 2).



Abb. 2: Latour in den Medien, Illustrationen, links: Yann Legendre in Le Monde33, rechts: Maus Bullhorst34

Doch auch der Frontmann Latour ist eingebettet in eine Gemeinschaft von Fachkollegen und Mitarbeitern, Hochschulen, Forschungspartnern und Sponsoren. Wenn den methodischen Vorgaben der ANT gefolgt wird, sind auch diese Akteure zu nennen und

29 vgl. »(…) dass die Vorbehalte gegenüber Latour immer noch groß sind (…).« [Gertenbach, Laux 2019: Umschlagrückseite] 30 Angeblich bezieht der französische Präsident Emmanuel Macron seinen Begriff der »ökologischen Nation« von Latour, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/emmanuel-macron-macht-bruno-latourzu-seinem-vorbild-17997579.html 31 2008 Unseld Preis, 2010 Nam June Paik Art Center Prize, 2013 Holberg Preis, 2021 Kyoto Preis 32 Latour war Leiter des »Médialab« der Universität Sciences Po. Seit 2012 ist er auf Twitter präsent und hat dort über 39.000 Follower. Seine Zitationen stiegen jährlich an von 1.308 (1996) auf 20.451 (2016), verblieben ungefähr auf diesem Niveau bis 2021 und fielen 2022 auf 16.579 ab, Stand: Februar 2023, vgl. B 9 https://scholar.google.com/citations?hl=en&user=iH4Q5AsAAAAJ 33 https://www.lemonde.fr/idees/article/2021/12/10/bruno-latour-l-ecologie-c-est-la-nouvelle-luttedes-classes_6105547_3232.html (10.12.2021) 34 https://mausbaus.com, Buchcover von Arjen Kleinherenbrink 2022: De constructie van der wereld – De filosofie van Bruno Latour, Boom, https://www.boomfilosofie.nl/product/100-10534_De-constructie-van-de-wereld

53

54

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

ihr Gef lecht zu inspizieren.35 Die kaum noch zu überschauende Sekundärliteratur zu Latour verausgabt sich jedoch überwiegend darin, dessen ständig expandierendes Textuniversum mit traditionellen hermeneutischen Mitteln auszulegen. Angesichts des Umfangs und der Dynamik der Latour’schen Produktion erscheint dies bisweilen als ein Rennen von Hase und Igel.36

1.5.3 Latour in seinem Netz Die daher am nächsten liegende Betrachtung wurde bisher noch nicht unternommen: eine Untersuchung des Phänomens LATOUR mit den Mitteln der Akteur-NetzwerkTheorie. Ein Modell dafür kann an Latours Bemerkungen zu Rembrandt und Johann Sebastian Bach abgelesen werden. Statt hier nur werkimmanente Aspekte zu betrachten und allenfalls noch Biografisches oder Zeithistorisches einzubeziehen, nennt Latour ein weit umfassenderes Netz, das auch wirtschaftliche, technische und materielle Aspekte integriert. So werden Rembrandt folgende Aktanten zugeordnet: (…) angefangen bei der Qualität des Firnis über den Typus der Marktkräfte, die Namen der sukzessiven Käufer und Verkäufer, die kritischen Darstellungen, die das Bild im Lauf der Geschichte bewertet haben, die Erzählung des Bildthemas und dessen sukzessive Transformationen, den Wettbewerb unter den Malern, die langsame Ausbildung eines Geschmacks, die Gesetze der Komposition und die Methoden, nach denen sie gelehrt worden sind, bis hin zum Typus des Atelierlebens etc. Es ist diese verwirrende Reihe heterogener Elemente, die zusammen die Qualität eines Rembrandt ausmachen. [Latour 2012b:22/23] Ähnliches ist über Johann Sebastian Bach zu lesen: Bach (…) setzt sich aus »all diesem« zusammen, Snobismus und Ausführung, Partituren und Ausleuchtung, Ticketverkauf und Pietismus, CDs und Zahlensymbolik. [Latour 2012b:24] Freilich belässt es Latour bei diesen Aufzählungen, wohlwissend, dass eine weitere Untersuchung jeden Rahmen sprengen würde. Aber wäre es nicht doch möglich, zumindest exemplarisch nach den Verbindungen zwischen den heterogenen Aspekten zu suchen und diese auf ein spezifiziertes Erkenntnisinteresse zu beziehen? In Bezug auf das Phänomen Latour müssten aus der Sicht des Designs wohl mindestens die folgenden Aspekte genannt werden:

35 »Indeed, Latour’s careful attention to the labours involved in the construction of networks and the enrolment of allies might be read as a promissory manual for his own career.« [Alyssa Battistoni, https:// newleftreview.org/sidecar/posts/latours-metamorphosis?pc=1492] 36 Bücher erscheinen mitunter im Quartalsabstand als Chronologie der laufenden Ereignisse: »Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown« [Latour 2021, November], »Mémo sur la nouvelle classe écologique« [Latour, Schultz 2022, Januar].

1 Design als »Dingpolitik« (Latour)

Elitehochschulen in Frankreich, England und den USA, Englisch mit französischem Akzent, Halstuch, Weste und rote Hosen, YouTube und Vimeo, europäische Fördergelder und amerikanische Verlage, Omnipräsenz als Autor, Redner, Lehrer und Kurator, Suhrkamp-Kultur, Kunstbetrieb und einflussreiche Freunde, hoch subventionierte Ausstellungen und Theater, studentisches Publikum und Aktivisten, werbewirksame Slogans und hohe Auszeichnungen, Begriffsakrobatik und Rhetorik, Charme und Selbstironie.

Abb. 3: Latours Projekte: Workshops und Ausstellungen37

1.5.4 Latour als Projektemacher Mit der Vielfalt seiner Unternehmungen und deren häufig innovativen Formen kann Latour nicht nur als Autor, sondern auch als »Projektemacher« verstanden werden. Zu dessen Kennzeichen zählen visionäre Vorstellungen, unkonventionelle Methoden, rhetorische Begabung, große Beharrlichkeit und ein gewinnendes Wesen, um ein skeptisches Publikum von neuen Denkweisen zu überzeugen.38 Je zahlreicher und je heterogener die Elemente seines Netzes sind, je größer die Ausdehnung und je dichter die Verknüpfung, desto wahrscheinlicher wird es, neue Verbündete, Macht und Einf luss zu gewinnen. Latour verfolgt sowohl vielfältige Produktionsformen als auch ein spezifisches Theoriedesign. Neben seiner speziellen Schreibform39 sind für das Design vor allem seine medialen Formen interessant wie Diagramme, Workshops, Ausstellungen, Theater, Netzpräsenzen und Videos, die in der akademischen Rezeption Latours bisher weniger intensiv besprochen wurden. So entwickelte Latour etwa ein kreisförmiges Diagramm, das in Workshops eingesetzt wurde und dabei helfen soll, individuelle Handlungsoptionen zu bewerten (Abb. 3 links). Latour greift – ungewöhnlich für einen Theoretiker – auch selbst zum Stift und stellt seine Konzepte diagrammatisch dar (Abb. 3 rechts). Diese medialen Ausdrucks- und Entwicklungsformen erscheinen neben Latours expliziten Anmerkungen zum Design als Ausgangspunkte, um nach Beziehungen zwischen der Akteur-Netzwerk-Theorie und dem Design zu suchen. Wenn wir dem Akteur Latour folgen: welche Ideen, Begriffe, Haltungen und Mikromethoden können wir finden für die Beziehungen zwischen der ANT, dem Design und der Transformation? 37 links: »Présentation de la démarche Où atterrir? a Saint Junien en février 2020«, Latour steht im Mittelpunkt (https://vimeo.com/432837027, 43:36), rechts: Latour skizziert das Konzept seiner Ausstellung Reset Modernity in Shanghai, Videoeinführung (https://vimeo.com/user19188868, 3:03) 38 zur historischen Figur des Projektemachers vgl. Krajewski 2004, B 8.6.6 39 vgl. B 8.1

55

56

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

1.5.5 Allgemeine Rezeption Latours Latours Arbeiten wurden schon vor Jahrzehnten ambivalent aufgenommen: Bruno Latour delights some of us and infuriates others, but either way he has, for the past decade, been one of the most brilliant and original writers about science.40 In den Science Wars der 1990er Jahre wurde hart um den Sozialkonstruktivismus gestritten, der neben anderen Autoren auch Latour unterstellt wurde.41 In den letzten Jahren erfuhren Latour und die Protagonisten des »New Materialism« fundamentale Kritik vor allem von neo-marxistischer Seite: »Against Constructionism«, »Against Hybridism«, »Against New Materialism« [Malm 2020:21, 44, 78]. Diese zielt vor allem auf die Hybridisierung, durch die Verantwortung auf viele Aktanten und Akteuren verteilt wird und etwa in Bezug auf den Klimawandel nicht mehr klar zurechenbar ist. Das Ziel dieser Kritik wird klar benannt: Es ist die Wiederherstellung einer theoretischen Grundlage für ökologische Militanz: Rejecting hybridism (…) is not a matter of staking out some bland third way or middle course. It is about recovering the theoretical basis for ecological militancy. [Malm 2020:156] Das Rollenmodell dafür sei der wissenschaftliche Sozialismus und die russische Revolution.42 Der »neue Materialismus« soll durch den marxistischen Materialismus ersetzt werden: Less of Latour, more of Lenin: that is what the warming condition calls for. [Malm 2020:118]43 Latour scheint sich mit seiner späten Formel der »ökologischen Klasse« [Latour, Schultz 2022] auch auf diese Kritik zu beziehen, obgleich sie nicht explizit erwähnt wird.44

40 Ian Hacking 1992: Buchrezensionen, https://www.jstor.org/stable/188168 41 vgl. David Bloor: Anti-Latour, in: Studies in the History and Philosophy of Science Vol. 30 (1999), 81-112, Bruno Latour: For David Bloor … and Beyond. A Reply to David Bloor’s ›Anti-Latour‹, ibid: 113-129, David Bloor: Reply to Bruno Latour, ibid: 131-136 42 »(…) it is with the advent of what its founders called scientific socialism that, in effect, for the first time collective projects of social transformation were married to systematic efforts to understand the process past and present, to produce a premediated future. The Russian Revolution is in this respect the inaugural incarnation for a new kind of history, founded on an unprecedented form of agency.« [Perry Anderson 1980: Arguments with English Marxism, London: Vector S. 20, zustimmend zitiert bei Malm 2020:118] 43 Latour scheint diese Wendung vorausschauend behandelt zu haben: »(…) Sozialwissenschaftler (…) – jeder von ihnen träumt davon, gleichzeitig der Newton der Sozialwissenschaft zu sein und der Lenin des sozialen Wandels (…).« [NSoz:240] 44 Zu dieser Wechselwirkung wurde bemerkt: »It is striking that many of Latour’s fiercest critics in recent years – most prominently the eco-Marxists Andreas Malm and Jason W. Moore – have drawn more on Latourian-inflected strains of thought than they have liked to acknowledge. (…) Rather than being tarnished by association, the vitality of their work comes from a synthesis of the strengths of Marxist

1 Design als »Dingpolitik« (Latour)

1.5.6 Latours Medienpraxis und Rezeption Der Nachvollzug und die Bewertung von Latours Positionen für das Design werden zusätzlich erschwert, wenn auch die umfassende Medienpraxis Latours berücksichtigt werden soll, die aus Ausstellungen und Netzprojekten, Workshops und Performances besteht. Diese komplexen Projekte müssen erst erschlossen werden, ebenso wie die begleitende »graue Literatur« wie Projektberichte, Seminarunterlagen und Abschriften von Video- und Netzquellen, was hier zumindest exemplarisch geleistet werden soll.45 Damit können bereits drei Phasen der Latour-Rezeption unterschieden werden, die durch Erweiterungen der medialen Realisierung ebenso geprägt sind wie durch eine Ausweitung der Geltungsansprüche der Theorie. 1. Phase (1979 Laboratory Life – 2001) • Grundlegung der Science and Technology Studies (STS), Diskussion und Kritik in Soziologie und Wissenschaftstheorie, 1982-2006 Centre de Sociologie de l’Innovation, École des Mines, Paris • Theorien begrenzter Reichweite • Interaktion: Produktion von Texten in Fachzeitschriften • Rezeption durch Fachpublikum (special interest) 2. Phase (2002 Iconoclash – 2013) • Akademische Kanonisierung46, große Ausstellungen als bewährtes Modell der Popularisierung, Anerkennung in der Kunstwelt, 2010: Gründung SPEAP – Sciences Po École d’Expérimentation en Arts Politiques in Paris47 • Theorien mittlerer Reichweite (Ontologie, Metaphysik) • Interaktion: Produktion von Texten, Ausstellungen, Videos, Webplattformen • Rezeption durch Fachpublikum, zusätzlich allgemeine Öffentlichkeit in Journalismus und Medien (general interest) 3. Phase (ab 2013 Gaia Global Circus) • Beginn der Theaterarbeit mit Gaia Global Circus 2013, Théâtre de Négociations 2015, gefolgt von der »Trilogie terrestre«: Inside 2016, Moving Earths 2019, Viral 2021 • Schwerpunkt auf dem Thema Klimawandel: Facing Gaia 2017, Radikalisierung/ Trivialisierung: Das terrestrisches Manifest 2018, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse 2022 • Theorien größter Reichweite als Rahmen (Anthropozän, Gaia), darin Fachtheorien begrenzter Reichweite • Interaktion: Weiter Texte, Ausstellungen, Videos, Webplattformen • Rezeption: verstärkte Anerkennung in der Kunstszene, Gewinn wichtiger Kulturpreise

thought with insights gleaned elsewhere – a synthesis that Latour himself only reluctantly and belatedly undertook in reverse. [Battistoni 2023:o.S.] 45 vgl. B 9 46 vgl. Belliger, Krieger 2006; Schmidgen 2011; Gertenbach, Laux 2019 47 vgl. Aït-Touati et al. 2022

57

58

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Ein Teil von Latours populärer Wirkung mag darauf zurückzuführen sein, dass er ein Narrativ von Auf klärung und Emanzipation bedient, in dem bisher übersehene Entitäten wie Hybride und Quasi-Objekte zu ihrem Recht und zur Sprache kommen sollen. Eines der vielen Paradoxa in Latours Werk ist, dass Auf klärung und Emanzipation Kennzeichen der Moderne sind, von der sich Latour jedoch gerade absetzen will. Die lange vorbereitete theoretische Grundlegung in den weniger beachteten Fachkreisen der Science and Technology Studies wurde in den letzten Jahren mit der umfassenden Frage des Klimawandels zusammengeschlossen. Dadurch änderte sich die öffentlich wahrgenommene Position Latours vom akademischen Vordenker zum populären Vorkämpfer. In der Folge ließ Latour vereinfachende Zuspitzungen zu, wie seine letzten Buchtitel vor allem in der deutschen Übersetzung zeigen: »Kampf um Gaia«, »Das terrestrische Manifest« [Latour 2018a] und »Zur Entstehung einer ökologischen Klasse – Ein Memorandum« [Latour, Schultz 2022].48 Hier wird explizit auf klassenkämpferische Motive des 19. Jahrhunderts Bezug genommen, was auch durch die Gestaltung des Umschlags visualisiert wird.49

48 Die Originaltitel sind: »Facing Gaia« [Latour 2017], »Où atterrir? Comment s’orienter en politique« und »Mémo sur la nouvelle classe écologique« 49 Die Titel-Illustration der deutschen Ausgabe zeigt kämpferische Fäuste, die sich mit grünen Windrädern und roten Blumen zu einer kitschigen Mischung verbinden (»Umschlagillustration: Growing Stronger Together von Sarah Bloom für Creative Action Network«). Als dem Autor von »Iconoclash« (2005) hätte man Latour mehr Mitspracherecht und Urteilsvermögen oder eine bessere Beratung durch den Verlag gewünscht.

2 Das Design und die Sozial- und Kulturwissenschaften: Ein komplementäres Modell?

Das Design und die Sozial- und Kulturwissenschaften1 finden schon länger Anlass für einen intensiven Austausch. Die Absichten beider Felder sind unterschiedlich, aber sie ergänzen einander. Beide Bereiche treffen sich im gemeinsamen Interesse an dem, was Latour »weltbildende Aktivitäten« [RA:561] nennt. Dabei steht ein neues Verständnis von sozialen Prozessen im Fokus durch ein neu justiertes Verhältnis von Theorie und Praxis, Beobachten und Beschreiben, Verstehen und Interagieren.2

2.1 Rückblick Ein Design, das sich als intervenierende Praxis versteht, hat eine empirische Forschung zu seinen Gegenständen lange vermisst (vgl. C 2). So wurden aus der Perspektive der Designtheorie noch in den frühen 1990er Jahren Defizite der Sozialwissenschaften moniert, die sich auf die materielle Bedingtheit sozialen Handelns beziehen. Gui Bonsiepe bemerkte: Es ist erstaunlich, wie bislang das Design den Sozialwissenschaften, einschließlich der sozialen Handlungstheorie, verschlossen geblieben ist. Die Designblindheit der Sozialwissenschaften geht so weit, dass man sich fragen muss, wie es die sozialen Agenten eigentlich fertigbringen, effektiv zu handeln, ohne dass je explizit auf das materielle Substrat menschlichen Handelns in Industriegesellschaften eingegangen wird. Was Habermas für die Theorie des kommunikativen Handelns leistete, steht für die Theorie des instrumentellen Handelns noch aus. [Bonsiepe 1992:7]

1 »Sozial- und Kulturwissenschaften« meint hier zusammenfassend einschlägige Fachrichtungen wie Soziologie, Psychologie, Anthropologie, Ethnologie und Kulturtechnik. 2 Für die Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaf tsforschung wurde die Formel »Long lost friends« [Mareis, Windgätter 2012] gefunden, die von vornherein ein freundschaf tliches Verhältnis unterstellt. Es muss aber – wie in gemeinsamen Arbeitsbereichen üblich – auch mit Konkurrenzverhalten und Gegnerschaf t gerechnet werden. Diese könnten sich sogar als produktiver erweisen als eine vorschnell verordnete Harmonie.

60

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Zehn Jahre nach Bonsiepes Aussage wurden im Umfeld des Participatory Designs Berührungspunkte von Sozialwissenschaften und Design bemerkt und eine Kooperation empfohlen, die auch auf Auswirkungen für die Ausbildung für Designer hat: There is a shift in perspective occurring today at the collaborative edge of design and social science. [Sanders 2002:o.S.] Who creates the tools for the new design language? Designers and social scientists will need to work together. Social scientists bring frameworks for the understanding of user experience to the table, while designers know how to synthesize and embody ideas and opportunities. How does the emergence of the new tools change the nature of design education? Designers need to be trained to go beyond the individualized expression of visual communication. They need to learn how to become involved in the creation and construction of the new tools. [Sanders 2002:6] Weitere sieben Jahre später wurde deutlich, dass sich die Notwendigkeiten und Möglichkeiten von Kooperationen zwischen dem Design und den Sozial- und Kulturwissenschaften auch aus einem Perspektivwechsel des Designs ergeben, der als »new paradigm shift« und »discursive turn« beschrieben wurde und zu einem »relational design« führen soll: Over a century, there has been a shift from form via content to context, from syntax via semantics to pragmatics – from »How does it look?« via »What does it mean to me?« to »How does it work between us?« In the current epoch, the convergence of these three structural tendencies is accelerating a new paradigm shift, a discursive turn, in design. Not only is the way we think about design changing, so too are design practice and the social role of design. The various disciplines within the vast spectrum of activities that make up design culture are moving onto a more integral plane. A survey of this diversity of shifts suffices to sketch a picture of this new turn. What is appearing – as yet in a diffuse way – is what I call relational design. [Oosterling 2009:2/3] Mit dem Begriff des »relational design« sollen Perspektiven eröffnet werden, die von Beziehungen ausgehen, statt von Entitäten wie Personen und Objekten. Der Ausdruck wiederholt allerdings nur einen Diskussionsstand, der in der Systemtheorie bereits in den 1960er Jahren erreicht wurde.3

2.2 Ergänzung: analytisch – synthetisch Materialität und soziale Praxen haben in den Sozial- und Kulturwissenschaften Konjunktur und wurden zu neuen Paradigmen als material turn und practice turn.4 Dazu tragen bei: 3 Schon weit früher hatte Friedrich Kiesler 1937 das »Laboratory for Design Correlation« an der Columbia University in New York gegründet [vgl. Zillner et al. 2017]. Siebzig Jahre später ist dieses anscheinend keiner Erwähnung wert – ein Beleg für mangelndes historisches Bewusstsein im Design? 4 vgl. grundlegende Positionen des Pragmatismus u. a. bei Michel de Certeau und Pierre Bourdieu, in der Soziologie aktualisiert bei Schmidt 2012 und im Design rezipiert als: »Der Sinn des Handelns liegt demnach weniger in subjektiven Absichten oder objektiven Strukturen als vielmehr in Praxiszusam-

2 Das Design und die Sozial- und Kulturwissenschaften: Ein komplementäres Modell?

• eine materiell ausgerichtete Kulturwissenschaft, die sich in der Nachfolge Friedrich Kittlers als Kulturtechnik versteht5 • soziologische Ansätze, die »transitorische Semantiken« [Luhmann 1999:7] beschreiben sowie die »Reproduktion und Transformation des Sozialen« als Praxistheorie erforschen6 • Science and Technology Studies, die die materiellen und sozialen Bedingungen von Wissens- und Innovationsprozessen untersuchen7 • die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) mit dem Anspruch, eine »symmetrische Anthropologie« [NMod] zu begründen Damit kann eine wechselseitige Ergänzung der Untersuchungs- und Wirkungsfelder der Sozial-/Kulturwissenschaften und des Designs postuliert werden: Die beschreibenden Wissenschaften, bisher auf Begriffsbildungen und symbolische Kommunikation fokussiert, nehmen verstärkt materielle Aspekte in den Blick.8 Das Design, bisher auf die Gestaltung materieller Artefakte konzentriert, arbeitet verstärkt an den immateriellen Aspekten sozialer Systeme.9

Abb. 4: »Weltbildende Aktivitäten« als gemeinsames Untersuchungsfeld von Design und den Sozial-/Kulturwissenschaf ten [Illustration: PFS, symbolische Darstellung]

menhängen, die durch implizites Wissen, epistemische Ordnungen, Materialität, Körperlichkeit, Kontingenz, Techniken und Medien charakterisiert sind.« [Rölli 2016:32] 5 vgl. Siegert o. J. 6 vgl. Schäfer 2013, 2016 7 vgl. Beck et al. 2012, Bauer et al. 2017 8 Dabei wurden allerdings weiter große Defizite festgestellt: »Die bislang in den Humanities vorliegenden Ansätze verfehlen durchweg das Ziel einer nachhaltigen Beschreibung der Welt des Materiellen (…)« [Hahn 2015:46]. 9 Der Beginn dieser Entwicklung reicht zurück bis in die 1960er Jahre, als etwa das Systemdesign die Korrespondenz von Organisations- und Managementtheorien mit der Gestaltung von Arbeitsplätzen als Großraumbüro und Bürolandschaft untersuchte, vgl. Rumpfhuber 2013, C 3.2.2.

61

62

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Auch die Methoden beider Felder können sich sinnvoll verschränken: Das analytische Interesse der Wissenschaften konzentriert sich auf Beobachtungen und Beschreibungen, während das synthetische Interesse des Designs von Interventionen und Transformationen ausgeht. Als gemeinsames Untersuchungsfeld können die »weltbildenden Aktivitäten« [RAS:561] benannt werden, in denen sich symbolische, kommunikative und materielle Dimensionen integrieren.

2.3 »Weltbildende Aktivitäten« Eine Zusammenschau der materiell-gegenständlichen und sozial-organisatorischen Dimensionen führt zur Perspektive der Science and Technology Studies (STS), in deren Kontext die ANT entwickelt wurde. Daher erscheint es naheliegend, von deren Ansätzen Anregung und Orientierung zu erwarten. Entscheidend für das Design ist dabei die Abkehr der ANT von tradierten Begriffen des Sozialen: Die ANT formuliert einen radikalen Ansatz, indem sie vorschlägt, das Wort »sozial« zu ersetzen durch »Assoziation«: (…) »Akteur-Netzwerk-Theorie« oder ANT (…), d.h. den bewussten Versuch, mit der Verwendung des Wortes »sozial« in der Sozialtheorie Schluss zu machen und es durch das Wort »Assoziation« zu ersetzen. [Latour 2001:1] Entsprechend geht die ANT auch nicht von sozialtheoretischen Postulaten aus, sondern beschreibt sich als (…) eher eine Methode (…), die eigenen weltbildenden Aktivitäten des Akteurs zugänglich zu machen, als eine alternative Sozialtheorie. [RA:561, s. o.] Latour weiß um Nelson Goodmans Prägung der »ways of worldmaking«. Doch der Bezug gilt nur unter Vorbehalt: Welterzeugung wäre ein schönes Wort – siehe N. Goodman (1990), Weisen der Welterzeugung – wäre da nicht die damit einhergehende Vorstellung der »Erzeugung« sowie die Definition der »einen Welt«. Dieser Ausdruck wird somit als provisorischer Platzhalter verstanden, bis wir den Konstruktivismus neu definieren können (…) und dann sehr viel später wissen werden, was es bedeutet, »eine gemeinsame Welt« zusammenzusetzen (…). [NSoz:47, Fußnote 6] Im Ausdruck der »weltbildenden Aktivitäten« wird immer noch ein Akteur vorausgesetzt, der diese Weltbildung aktiv betreibt. Damit werden unwillkürlich Freiheitsgrade assoziiert, die Weltbildung so oder anders zu realisieren oder sie sogar ganz zu unterlassen. Die Handlungsketten, von denen die ANT spricht, legen aber nahe, dass es eher die Wirkungszusammenhänge vieler unpersönlicher Aktanten sind, die in der Lage sind, sich ein darin funktionierendes Subjekt zu schaffen. Ebenso geht das Konzept der »Wunschmaschinen«10 von verteilten Konstellationen aus, in denen Psyche und Körper der Individuen verstrickt sind, die damit als weniger individuell erscheinen. 10 Deleuze/Guattari 1997/1972

2 Das Design und die Sozial- und Kulturwissenschaften: Ein komplementäres Modell?

Die jeweiligen Ausgangspunkte und Interessenlagen beider Gebiete können wie folgt dargestellt und verglichen werden:

Ziele Methoden

Erfolgskriterien

Design Veränderung der sozialen Praxis – Entwurf von Artefakten und kulturellen Formaten – materielle Intervention – Reframing von Ereignissen – Design von Concerns

Sozial-/Kulturwissenschaften Verstehen der sozialen Praxis – Beobachtung und Beschreibung »weltbildende Aktivitäten«

Aufmerksamkeit im Markt, Nutzung im Alltag

– Publikation Akzeptanz in der akademischen Fachöffentlichkeit

Tab. 1: Vergleich Design und Sozial-/Kulturwissenschaf ten Mit dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass es Differenzen gibt in Zielen, Methoden und Referenzsystemen bei einem weitgehend identischem Untersuchungsgebiet der sozialen Praxen. Es erscheint aussichtsreich, nach Verbindungen von analytischen und synthetischen Interessen zu suchen, die auf beiden Seiten zu einer Erweiterung der Perspektiven führen. Speziell für neuartige Fragestellungen wie jenen des Transformation Designs erscheinen entsprechende Kooperationen als unverzichtbar. Die Sozial-/Kulturwissenschaften und das Design beobachten oder verändern soziotechnische Verhältnisse nicht nur, sondern sind deren Entwicklung auch selbst unterworfen. Distanzierte Beobachtungen und Beschreibungen erscheinen daher als realitätsfern, denn Denken und Machen, Vorstellen und Herstellen bedingen einander.11

2.3.1 Transformationen und ANT Die oben als Desiderat genannte »Theorie des instrumentellen Handelns« und ihre Grundlage, die Beobachtung und Beschreibung des »materiellen Substrats« [Bonsiepe 1992:7] menschlichen Handelns, entsprechen dem Ansatz der ANT. Diese hat den Anspruch, Handlungsketten besser zu beobachten und realitätsnäher zu beschreiben. So kann sie als analytisch-beschreibender Zugang verstanden werden, der im Design seine synthetisch-intervenierende Entsprechung findet. Umgekehrt bleibt zu untersuchen, ob die empirischen Erfahrungen aus Designprozessen dazu beitragen können, den Theorierahmen der ANT weiterzuentwickeln. Bei diesem Vorhaben gewinnt der Transformationsbegriff eine doppelte Bedeutung: Transformation durch die Kulturtheorien und Transformation der Kulturtheorien.12 Diese Transformation betrifft vor allem die Unterminierung gängiger sozial- und geisteswissenschaftlicher Voraussetzungen einer Ebene des – wie Judith Butler es formuliert – »Vordiskursiven«, das heißt des Vorkulturellen, Nicht-Sinnhaften, Forma11 Diese Sicht folgt dem Begrif f der Poiesis, wie er in der Prägung des »reflective practitioners« [Schoen 1983] enthalten ist und auf den sich das konstruktivistische Konzept von Erkenntnis bezieht: »Willst Du erkennen, lerne zu handeln.« [von Foerster 1997:49]. Ein historischer Bezug wird in der Aktionsforschung gefunden, https://www.wikiwand.com/de/Aktionsforschung 12 vgl. Düllo 2011

63

64

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

len, Strukturellen, Materiellen oder der universalen Rationalität ob diese Ebene nun im Subjekt oder Akteur, in der Sprache, der Vernunft, der Ökonomie, der Technik, der menschlichen Natur, der sozialen Differenzierung oder der Macht ausgemacht wird. [Reckwitz 2012:705] Das Interesse des Transformation Designs besteht darin, die Vielfalt der in der sozialen Praxis wirksamen Concerns zur Darstellung zu bringen und Handlungsmöglichkeiten für künftige Praxen durch symbolische und materielle Interventionen zu gestalten. Für die ANT wurde bereits bemerkt, dass sie ständig zwischen der Beobachtung von Aktanten und der Beobachtung von Übersetzungen wechselt: Die Kunst der empirischen Beobachtung von Akteur Netzwerken besteht deshalb darin, beständig hin- und her zu wechseln zwischen der Beobachtung von Aktanten, die durch Übersetzungen Innovationen bewirken und der Beobachtung von Übersetzungen, die Aktanten verändern oder stabilisieren. [Schulz-Schaeffer 2012:199] Die Interessen von ANT und Transformation Design erscheinen damit als die zwei Seiten einer Medaille. Für das Transformation Design wäre zu ergänzen, dass auch zwischen dieser doppelten Beobachtung und der Konzeption von Interventionen gewechselt werden muss, da zum einen keine andere Beobachtung als eine teilnehmende denkbar ist und zum anderen die zu beobachtenden Prozesse häufig erst durch die Intervention produziert werden.

2.4 Erweiterte Dimensionen des Designs: sozial-organisatorisch und materiell-gegenständlich Die Wirkungsbereiche des Designs haben sich gegenüber den traditionellen Arbeitsgebieten in zwei Richtungen erweitert: •

sozial-organisatorisch: Das Design bildet Schnittstellen für ansonsten unverbundene Handlungsfelder und liefert so Impulse und Formate für das Verhalten von Subjekten, Gruppen und Organisationen, speziell in Phasen der Transformation (z.B. organizational design), Unternehmen (z.B. new work) und Politik (z.B. governance)13



materiell-gegenständlich: Das Design nutzt erweiterte Gestaltungsmöglichkeiten in Bezug auf physisches und biologisches Material. Durch neue Verfahren werden die Eigenschaften von Materialien als »Meta-Material«14 gestaltbar, womit neuartige

13 Beispiele dafür sind staatliche Organisationen wie das Design Council Britain und das MindLab in Dänemark, Agenturen mit eigener Forschung und privaten oder staatlichen Auftraggebern wie IDEO (USA) und Portable (Australien) sowie militärische Führungsaufgaben etwa im US-Militär: »Design as strategic cognitive construct«, http://www.fas.org/irp/doddir/army/fm3-24.pdf 14 Der Begrif f »Meta-Material« bezeichnet die experimentelle Entwicklung von Material, das auf spezifische Zwecke hin entworfen wird oder für die Anwendungen erst noch gesucht werden. https:// www.weltderphysik.de/gebiet/materie/metamaterialien

2 Das Design und die Sozial- und Kulturwissenschaften: Ein komplementäres Modell?

Einsatzfelder erschlossen werden (z.B. Bio-Bricks, Nanotechnik, 3D-Drucker, Prothetik, biochemische Modifikation und Stimulation von Körpern)15 Auf den ersten Blick scheinen sich die sozial-organisatorischen und materiell-gegenständlichen Aspekte in entgegengesetzte Richtungen zu entwickeln. Das grundsätzlich Neue zeigt sich aber in der Einsicht, dass beide Bereiche aufeinander bezogen sind und eben daraus ihre Dynamik beziehen, die es rechtfertigt von disruptiver Innovation zu sprechen, denn: • Wie soll das Soziale als Gegenstand der Gestaltung konzipiert werden, wenn nicht unter Einbezug neuer Techniken, die physische, biologische und mediale Verhältnisse grundlegend umbauen? • Wie soll mit neuen Techniken gestalterisch umgegangen werden, ohne die sozialen Verhältnisse zu berücksichtigen, aus deren Forschungslogik sie entstammen und auf die sie zurückwirken? Das Transformation Design strebt daher an, die beiden Dimensionen integrativ zu bearbeiten. Als Arbeitsgebiet definiert es soziokulturelle Formate, die zu erforschen und zu implementieren sind (vgl. C 5.3). Am Beispiel der Architektur kann gezeigt werden, dass der integrative Bezug von materiell-gegenständlicher und sozial-organisatorischer Ebene für gestalterische Fächer selbstverständlich und konstitutiv ist. Niemand käme auf die Idee, die Architektur auf Fragen des Materials wie etwa die physikalischen Funktionen von Baustoffen oder auf die formal-ästhetische Gestaltung von Fassaden zu reduzieren. Ebenso wenig würde man in der Architektur nur Entwürfe für die soziale Organisation sehen wollen, wie etwa Konzepte für Arbeitsplätze oder die Steuerung von Besucherströmen. Es ist gerade die integrative Gestaltung von sozialen Bezügen und physischer Form, die als Essenz der Architektur verstanden wird und seit über zweitausend Jahren in Theorie und Praxis verhandelt wird. Das Transformation Design entwickelt sich im Spannungsfeld von sozial-organisatorischen und materiell-objekthaften Aspekten und verbindet die Einf luss- und Wirkungsbereiche von Akademismus und Aktivismus, Institutionen und Markt (Abb. 5):

15 Beispiele dafür sind akademische Forschungsprojekte wie Matter of Activity (Berlin) und das Institute of Making (London), die Projekte SyntheticAesthetic [Ginsberg et al. 2014] und Mediated Matter am MIT sowie die Biolabs an der Tongji University Shanghai, Burg Giebichenstein Halle/Saale und der Kunsthochschule für Medien Köln.

65

66

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 5: Transformation Design im Spannungsfeld von sozial-organisatorischen und materiell-objekthaf ten Aspekten Im Einzelnen: •

Akademische Forschung und Lehre Design Forschung, sozial- und naturwissenschaftliche Forschung, neue Inhalte, Methoden und Kooperationen in Forschung und Lehre; Transformative Science, Praxeology • • •

Institutionen Staatliche Organisationen, NGOs, Think- und Do-Tanks, Strategieentwicklung; Governance Aktivismus Grassroots Bewegungen von Nutzern und Betroffenen mit den Forderungen: Open Design, Decolonize, Depatriarchise, Deontologize Design; Citizen Science, z.B. Patienteninitiativen Markt Neue Geschäftsmodelle, kulturelle und technische Innovation, Services/Produkte, Organisation; New Work

3 Latours Perspektive auf das Design

Bruno Latour stellte eine große Frage: In other words, why not transform this whole business of recalling modernity into a grand question of design? [MEx:23] Platziert ist die Frage an prominenter Stelle zu Beginn von Latours umfassender Untersuchung zu den »Modes of Existence«. Dort wird sie aber nicht weiter behandelt, sondern im Folgenden überhaupt nicht mehr erwähnt.1 »Recalling modernity« kann übersetzt werden als eine Wiedervorlage im Sinne einer Erneuerung und Verbesserung.2 Eine Revision der Grundlagen, Ziele und Folgen der Moderne wird gefordert und als Aufgabe für das Design postuliert. Dies sollte das größte Interesse der Designer finden und wurde auch früh, aber eher kursorisch erwähnt3, jedoch noch nicht detailliert untersucht, weiterentwickelt oder gar beantwortet, weder vom Design noch von Latour. Das Design wird von Latour in verschiedenen Texten inkonsistent positioniert: • als Gegenspieler der Moderne [Prom_dt] 2008 • als Revisor der Moderne [MEx] 2012 So nimmt das Unternehmen für Latour typische Merkmale an: eine umfassende und anregende Aussage, aber inkonsistent formuliert und nicht ausgeführt. Latour bietet dem Design nicht weniger an als die Übernahme seiner Mission. Schließlich hat er seit Jahrzehnten soziale und politische Prozesse auf neuartige Weise verstanden und dabei die Funktionen der Moderne analysiert und dekonstruiert.

1 Auch in detaillierten Kommentaren zum Buch »Existenzweisen« fehlt diese Frage, vgl. Laux 2016, Braun 2017, https://de.wikipedia.org/wiki/Existenzweisen 2 Als »Recall« wird auch die Abberufung von Amtsträgern oder die Rückrufaktion von mangelhaften Produkten bezeichnet. In diesem Verständnis erscheinen bereits Latours Artikel »On Recalling ANT« [Latour 1999] sowie seine Ausstellung und sein Buch »Reset Modernity!« [Latour 2016], wo ein »Neustart« der Moderne gefordert wird, analog zum Begriff des Reset bei Software. Zu Problemen der Übersetzung vgl. B 3.3. 3 vgl. Jonas 2002:6, 2020:84

68

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Doch warum sucht Latour nach einem Fach, das seine Mission übernehmen kann? Eine denkbare Antwort verweist auf die Erschöpfung seiner Möglichkeiten als Autor und die Dringlichkeit der Problemlagen. Latours Vorträge, Workshops und partizipative Elemente in den Ausstellungen legen nahe, dass er seine Ansätze als Basis für praktische Umsetzungen verstanden wissen will. Eine solche Operationalisierung der ANT traut Latour dem Design zu, in dem er jene nachmodernen Qualitäten erkennt, die die revolutionären und zerstörerischen Aspekte der Moderne ersetzen sollen.4

3.1 Latours Forderung »modernize modernization« Die Frage des »recalling modernity« wird ergänzt durch Latours Forderung »modernize modernization« [Latour 1999:15, 2007]. Mit dieser Formel sollte die Moderne über sich selbst aufgeklärt werden.5 Latours Frage und Forderung sind daher keineswegs originell, sondern liegen auf einer historischen Linie der Befragung der Moderne, die bereits vor Jahrzehnten begonnen wurde. Spätestens seit der Diskussion um die Postmoderne in den 1980er Jahren wird eine Kritik und Neufassung der Moderne besprochen.6 Auf die Dialektik der Moderne und deren inhärentes Merkmal der Selbstüberbietung wurde bereits von Jean-François Lyotard hingewiesen. Lyotard widersprach aber einer zu einfachen Deutung des Präfixes »post« als Bezeichnung für geschichtlich Nachfolgendes.7 Vielmehr wollte er seinen Ansatz als eine Überarbeitung der Moderne verstanden wissen, als »réécrit« und »redigiert«.8 Die Frage nach einer Wiedervorlage der Moderne auf das Design zu beziehen, mag auf den ersten Blick überraschen. Doch auch damit bleibt Latour auf einer Spur, die bereits in der Diskussion um die Postmoderne angelegt ist, denn wesentliche Impulse kamen hier aus dem Design und der Architektur. In diesen praxisnahen Feldern wurden Positionen der klassischen Moderne zur Funktionalität und Ästhetik fragwürdig, sodass deren Neufassung eingeleitet wurde.9 4 Dies ist die zentrale These in Latours Prometheus-Text von 2008 [Prom_dt/eng]. 5 Hierzu nennt Latour Bezüge auf Ulrich Beck [vgl. Latour 2007:3], der eine »reflexive Modernisierung« gefordert hatte [vgl. Beck 1986; Beck, Giddens, Lash 1994]. Eine Ausgangslage als Paradoxie zu beschreiben, erinnert an Ansätze der Systemtheorie, die u.a. auch auf das Design bezogen wurden, vgl. Baecker 2002, Jonas 2000. Hier wird gezeigt, dass Paradoxien produktiv entfaltet werden können und müssen, gerade weil sie sich dem Schema von Problem und Lösung entziehen. 6 Der Ausdruck »zweite Moderne« geht auf den Architekturhistoriker Heinrich Klotz zurück [Klotz 1996, 1999]. 7 »(…) die Postmoderne ist schon in der Moderne impliziert, weil die Moderne – die moderne Temporalität – in sich einen Antrieb enthält, sich selbst im Hinblick auf einen von ihr unterschiedenen Zustand zu überschreiten.« [Lyotard 1988:205] Lyotard zieht auch eine Verbindung zu Freuds Schema von Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. 8 In einer Anmerkung des Übersetzers heißt es: »Für ›réécrire‹ (engl. ›rewriting‹) gibt es im Deutschen keine wörtliche Übersetzung: Es heißt gleichzeitig neuschreiben, umschreiben, umarbeiten, überarbeiten (…)«. [Lyotard 1988:204]. Latours Forderung »Reset Modernity« [Latour 2016] Jahrzehnte später klingt daher wie ein verspätetes und auf eine technische Formel verkürztes Echo. 9 Positionen der Moderne wurden im Design bereits früh kritisiert. So sah Buckminster Fuller in der Programmatik des Bauhauses Ideologien am Werk, die etwa rechtwinklige Geometrien gegen grundlegende Gesetze der Statik und der Umweltbedingungen durchsetzen [vgl. Fuller 1973:101/121]. Tom Wol-

3 Latours Perspektive auf das Design

Die Moderne zu überwinden, bleibt paradoxerweise ein modernes Projekt, weshalb Latour von sich sagt: Wenn Sie mich aufschneiden, finden Sie wahrscheinlich das Herz eines Modernisten. Und es geht mir auch noch immer darum, dass wir uns nach vorne bewegen. Aber der Fortschritt muss heute in Richtung des Terrestrischen gehen. [Latour 2018b]

3.2 Zwischen Museum und Ruine: Die Dialektik der Moderne Die Moderne ist geprägt von der Überwindung des antiken »non plus ultra«, das die geografischen Grenzen der damals bekannten Welt markierte. Im »plus ultra«, dem Motto der spanischen Könige im 16. Jahrhundert, manifestierte sich das Selbstbewusstsein einer Seefahrernation, die diese Begrenzungen hinter sich lässt. Neue, scheinbar endlose Horizonte von Fortschritt und Entwicklung taten sich auf, verbunden mit den Ansprüchen auf Machtentfaltung und Kolonisation. In der Technik, den Wissenschaften und den Künsten wurden Entdeckungen gemacht und neue Weltsichten erzeugt. Einer entfesselten Dynamik der Moderne erschien alles als denkbar und machbar, freilich um den Preis umfassender Zerstörung und Auf lösung.10 Das Prinzip der ständigen Steigerung führt zu einer Selbstüberholung, die die »Dialektik der Moderne« [Wellmer 2015/1985] begründet. Schon vor über 60 Jahren wurde daher eine Erschöpfung des Begriffs bemerkt.11 Latour bestimmt die aktuelle Lage als »in den Ruinen des Modernismus« [WSMC:49]. Damit sind vor allem die modernen Ideo-

fe bemerkte die erstaunlich bruchlose Umsetzung der Bauhaus-Doktrinen in die US-amerikanische Hochhaus-Architektur [Wolfe 1981]. Es muss daher als ein bemerkenswertes Missverständnis erscheinen, wenn das Etikett »Bauhaus« aktuell für ein großes EU-Programm für den ökologischen Städtebau genutzt wird, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_111 10 Die Formel von der »schöpferischen Zerstörung« wurde 1942 von Joseph A. Schumpeter geprägt [Schumpeter 2005:203]. Ähnlich charakterisiert Michael Berman die Moderne: »To be modern is to find ourselves in an environment that promises us adventure, power, joy, growth, transformation of ourselves and the world – and, at the same time, that threatens to destroy everything we have, everything we know, everything we are. Modern environments and experiences cut across all boundaries of geography and ethnicity, of class and nationality, of religion and ideology: in this sense, modernity can be said to unite all mankind. But it is a paradoxical unity, a unity of disunity: it pours us all into a maelstrom of perpetual disintegration and renewal, of struggle and contradiction, of ambiguity and anguish. To be modern is to be part of a universe in which, as Marx said, ›all that is solid melts into air‹.« [Berman 1982:15] Im Original: »Alles Ständische und Stehende verdampft …«, Karl Marx 1848: Kommunistisches Manifest, www.deutschestextarchiv.de/book/view/marx_manifestws_1848?p=5 11 Folgerichtig legt Hans Magnus Enzensberger seine Sammlung moderner Poesie als Museum an: »In Bewegungen und Gegenbewegungen, Manifesten und Antimanifesten ist der Begriff des Modernen ermüdet. Seine Energie hat sich verbraucht. Trübe dient er heute der Werbung fürs Bestehende, gegen das er einst sprengende und befreiende Kraft verheißen hatte.« [Enzensberger 1960:8] Das Bundesland Sachsen-Anhalt wirbt mit dem Slogan »#moderndenken« und beansprucht »Modernes Denken seit der Bronzezeit«, https://moderndenken.sachsen-anhalt.de/die-kampagne. Die dort als »Moderne Denker« präsentierten Innovatoren und Innovationen bestätigen eine frühe Analyse: »Das Moderne ist zum Nur-Noch-Modernen geworden, ausgesetzt journalistischer Zustimmung, fungibles Moment der industriellen Produktion.« [Enzensberger 1960:8]

69

70

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

logien des Fortschritts gemeint, die nicht mehr tragen, ohne aber durch angemessenere Konzepte ersetzt zu werden.12 Folglich gilt auch ein anderes Motto: Whereas the Humans had »Plus ultra« as their motto, the Earthbound have no motto but, »Plus intra«. [Latour 2017:291]

3.2.1 Das Design als Agent der Moderne Doch warum soll ausgerechnet das Design die Aufgabe einer »Revision der Moderne« übernehmen? Ist es nicht gerade das Design, das als Agent einer Moderne auftrat und weiter auftritt? Hat das Design nicht großen Anteil an einem universalistisch konzipierten Fortschritt unter westlicher Führung? Hat es nicht wesentlich beigetragen zur Bildung und Propagierung von Leitbildern die die Glücksversprechen der Moderne anschaulich und begehrenswert machen? Eine Revision der Moderne durch das Design müsste diese Aspekte bearbeiten und dekonstruieren. Fraglich bleibt jedoch, ob sich das Design schon so weit von seinem Ursprung in der Moderne emanzipiert hat, dass es dieser Aufgabe gerecht werden kann. Bisher scheint eher zu gelten, dass das Design sogar doppelt in die Moderne verstrickt ist: sowohl als Produkt als auch als Produzent: Design is both the product of and the producer of modernism. [Tonkinwise 2005:86] Große Teile des marktgängigen Designs scheinen mit dieser Beschreibung jedoch keinerlei Probleme zu haben. So werden Designleistungen weiter mit ungebrochenem Fortschrittsglauben entwickelt und verkauft. Design hat damit seinen Anteil an den Problemen westlicher Konsumgesellschaften, die zum globalen Modell wurden. Durch diese Verstrickungen in die Moderne ist das Design bisher nicht in der Lage, auf Latours Aufgabenstellung zu reagieren. Um zu einer »Revision der Moderne« beitragen zu können, muss sich das Design daher zunächst selbst einer Revision unterziehen. So wurde schon vor langer Zeit gefordert, sich auf die nicht modernen Grundlagen des Designs zu besinnen: Design muss endlich sein Nicht-Modernes, seine Verbindung zu den kulturellen Relikten anerkennen, das Vorwissenschaftliche des Designdenkens, auch in der Theorie, als Positives zulassen. [Jonas 2002:o.S.]

12 Die Ruinen sind aber auch real vorhanden etwa in Form von gescheiterten Schulbauten, Einkaufszentren und Fußgängerzonen, die überholte Modelle von Bildung, Konsum und Erholung repräsentieren. Kürzlich wurde der Bezug von Lernen, Politik und Architektur als »Bildungsschock« [Holert, HKW 2021] untersucht. Schon vor Jahrzehnten wurde eine Kritik der Entwicklungshilfe verfasst als »Development: a Guide to the Ruins« [Sachs 1992].

4 Der Riss: Dichotomien im Design – und Concerns als Alternative?

Das Design ist geprägt durch eine harte ideologische Trennung in kritische und affirmative Positionen. Dieser Riss lähmt die notwendige Weiterentwicklung des Designs zu einer transformativen (Anti-)Disziplin. Der später entwickelte Concern Ansatz (Teil C) bearbeitet diese Dichotomie. Dabei ist keine vorschnelle Entscheidung für eine der Seiten und auch keine Auf lösung angestrebt. Das Design von Concerns erkennt vielmehr die Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Anliegen und Motivationen und ermöglicht eine produktive Auseinandersetzung mit allen Seiten. Für diese Aufgabe empfängt es wesentliche Einf lüsse von der Akteur-Netzwerk-Theorie. Diese stellt Fragen nach den »weltbildenden Aktivitäten« [RA:561] von Akteuren und postuliert eine immer schon vorgängige materielle Vermittlung und Verstrickung als »Entanglement«1. Dadurch werden Dichotomien wie Natur/Kultur oder Mensch/Aktanten unterlaufen, und es eröffnen sich neue Perspektiven für die Praxis und Forschung. Dieser Impuls kann aufgenommen werden für eine Neupositionierung des Designs und die Entwicklung transformativer Theorie und Praxis.

4.1 Die Dichotomie im Design Fundamentale Dichotomien begleiten das Design seit seinen Anfängen und wurden in immer wieder neuen Formen aktualisiert: • Einerseits das allgegenwärtige kommerzielle Design, das seine Wirkungsmächtigkeit ausweitet analog zur technisch-wirtschaftlichen Entwicklung und Globalisierung. Funktionen und Nutzen des Designs unterstehen der Marktlogik von Angebot und Nachfrage, den Wünschen und der Manipulation von Kunden sowie den Interessen der Kapitalverwertung. Professionelles Design bietet strategische Beratung und Gestaltung in den Bereichen von Innovation und Kommunikation an.

1 Begriff bei Latour 2013a:17 und Haraway 2016:275

72

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

• Andererseits ein Design, das sich normativ gefassten sozialen und ökologischen Werten verpf lichtet sieht und individuellen wie gesellschaftlichen Bedürfnissen dienen will. Gestaltung wird als anthropologisches Vermögen verstanden, was Forderungen nach Partizipation und Transparenz begründet. Das Selbstverständnis ist auf klärerisch und aktivistisch, entsprechend werden Allianzen mit politischen Akteuren gesucht. Dieser Riss durch das Design ist keine neue Erscheinung, sondern begleitet das Design bereits seit seinem Beginn in der auf kommenden Industrialisierung. Die Dichotomie führte zur Arts and Crafts Bewegung im 19. Jahrhundert und prägte den Werkbund Streit von 1914. Auch die programmatisch wegweisenden Designschulen des 20. Jahrhunderts, Bauhaus und Hochschule für Gestaltung Ulm, haben das Thema in unterschiedlichen Formen bearbeitet. Im Umfeld politischer Diskurse der 1960er und 1970er Jahre wurden die Positionen prägnant formuliert. Die »Kritik der Warenästhetik« bezog sich auf die marxistische Unterscheidung von Gebrauchs- und Tauschwert und erkannte manipulative Designfunktionen in einer »Modellierung der Sinnlichkeit« [Haug 1971:11]. Das »Design for the Real World« [Papanek 1971/1963] kritisierte eine Beschäftigung mit Scheinbedürfnissen und mahnte die Bearbeitung drängender sozialer und ökologischer Probleme an. Eine spätere Aktualisierung dieser Konf liktlinien unterschied zwischen einer affirmativen Mehrheit der Designer, die Problemstellungen der Industrie bearbeitet und einer Minderheit, die kritische Fragen stellt und »im Dienst der Gesellschaft«2 arbeitet als »Critical Design« [Dunne, Raby 2001].

4.2 Schieflage der Diskussion Im Kontext des digital beschleunigten Kapitalismus und der ökologischen Katastrophenszenarien erscheint eine Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis dieser Dichotomie als dringlicher denn je. Dabei ist zunächst festzustellen, dass sich der Riss zwischen kritischen und affirmativen Positionen fortsetzt in die Trennung der Perspektiven von Akademie und Markt. Designhochschulen verstehen sich häufig als kritisch, diskursiv und normativ wertend, während Designagenturen Fakten schaffen durch kommerzielle Projekte. Die Diskussion hat daher eine Schief lage: Die Akademiker beschäftigen sich mit der Formulierung moralisch befriedigender Idealzustände und stellen ihre Diskurshoheit in Publikationen unter Beweis. Die Praktiker dagegen bleiben diesen Diskussionen eher fern, sind aber umso wirkungsmächtiger präsent durch die Verbreitung ihrer Produkte. Während sich das Social Design selbstgewiss auf die »richtige« Seite stellt, indem es unabweisbare ökologische und soziale Forderungen zum Ausgangspunkt nimmt, folgt das Transformation Design einem strukturellen und systemischen Ansatz. Dieser adressiert eine grundlegendere Ebene, die zunächst die Konstruktion von Werten und Bedeutungen samt deren Folgen für Handlungen und normative Ordnungen ana-

2 http://dunneandraby.co.uk/content/projects/476/0

4 Der Riss: Dichotomien im Design – und Concerns als Alternative?

lysieren will.3 Das Transformation Design will sich so als gestalterischer Beitrag im Kontext der entstehenden »Transformationsforschung«4 etablieren.

4.3 Von den Dichotomien zu »a way of discussing life« Ideologisch verhärtete Positionen schwächen und blockieren die Praxis und den Diskurs sowie die Lehre und Forschung des Designs, und es sind kaum Versuche zu erkennen, die Blockaden zu überwinden. Im Gegenteil: Aktuelle Konzeptionen des Social Designs wiederholen und verstärken solche Positionen. So wurde gefordert: Designers are always understood as solving a problem. (…) Why not design that encourages us to think? Design as an urgent call to reflect on what we and our companion species have become? [Colomina, Wigley 2016:162/163] Wer ist hier mit dem Kollektivsubjekt »wir« gemeint? Die gesamte Menschheit, alle Designer oder amerikanische Designtheoretiker?5 Schon die Ausgangsbehauptung ist fragwürdig. Fast fünfzig Jahre nach dem italienischen Radical Design, nach Superstudio und Archigram und spätestens nach der Konjunktur des design thinking ist unbestritten, dass es eine der wesentlichen Funktionen des Designs ist, bestehende Praxis infrage zu stellen.6 Doch weder diese Vorgeschichte noch die letzte Erneuerung dieses Anspruchs durch das Critical Design vor 15 Jahren nehmen Colomina und Wigley zur Kenntnis. Daher artikulieren sie keinen neuen Ref lexionsstand, sondern ein grundsätzliches Problem des Designs: mangelndes historisches Bewusstsein und Defizite in der Akkumulation von Wissen.7 Darüber hinaus ist es unnötig, die Bearbeitung komplexer Aufgaben als »Problemlösung« zu diskreditieren, denn auch diese kann eine »Ermutigung zum Denken« sein. Was sollte denn sonst Anlass zum Denken geben, wenn nicht die Lösung von Problemen? Und natürlich kann mittlerweile vorausgesetzt werden, dass jede Lösung zu neuen Pro-

3 Dabei trifft es sich mit dem soziologischen Interesse an »transitorischen Semantiken« [Luhmann 1999:7] und »normativen Ordnungen« [Frost, Günther 2021]. Darüber hinaus sollen im Transformation Design neue Semantiken entwickelt und experimentell implementiert werden. 4 vgl. Kollmorgen, Merkel, Wagener 2014 5 Das ungeklärte Kollektivsubjekt »we« findet sich in vielen Formulierungen des Social Designs, vgl. »Design Justice – Community-Led Practices to Build the Worlds We Need« [Costanza-Chock 2020]. Entscheidend ist aber, dass eben keine Einigkeit über die Zugehörigkeit zum »we« und in diesem Falle zu den als notwendig erachteten Welten vorausgesetzt werden kann. Ein Ansatz, der sich als politisch ambitioniert versteht, müsste dies erkennen und nicht unproblematisch voraussetzen. 6 Dieses wurde in den Programmatiken der wesentlichen Hochschulen und Institutionen der Gestaltung immer gefordert, vgl. »Design? Umwelt wird in Frage gestellt« [IDZ 1970] und »Design ist kritisch. Design ist nicht nur entwerfen, sondern auch in Frage stellen.« [Aicher 1991] 7 Auch eine aktuelle »Philosophy of Design« definiert Design als Problemlösung, ohne jedoch zu fragen, woher die Definitionen und Zuweisungen der Probleme stammen: »Design is the intentional solution of a problem …« [Parsons 2016:11]

73

74

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

blemen führt, also ebenso als Problemfindung gelten muss. Ein wesentliches Kriterium ist eher, welcher Art die Probleme sind und wie der Referenzrahmen definiert ist.8 Warum verkrampft sich das Design so schnell in einer Diskussion über längst verbrauchte Begriffe? Niemand würde der Architektur unterstellen, dass sie nur Probleme löst, indem sie Häuser entwirft. Seit Jahrtausenden ist anerkannt, dass in und mit der Architektur existenzielle Fragen erörtert werden. Das Design kann sich ebenso selbstbewusst positionieren und sich einer seiner eminenten Stimmen anschließen, die ganz gelassen sagt: Design is a way of discussing life. [Sottsass 1983:2-4]9

8 Dafür liegen längst Forschungsarbeiten vor, die jedoch offensichtlich nicht ausreichend rezipiert werden, vgl. Rittel 1992. 9 Das Zitat im Kontext lautet: »To me design, as I said, is a way of discussing life. It is a way of discussing society, politics, eroticism, food and even design. At the end, it is a way of building a possible figurative utopia or metaphor about life. Certainly to me design is not restricted to the necessity of giving form to a more or less stupid product for a more or less sophisticated industry. So, if you have to teach something about design, you have to teach, first of all, about life and you have to insist, explaining that technology is one of the metaphors of life.« [Sottsass 1983:2-4]

5 Kritik des Social Designs

Das Social Design und das Transition Design wollen die sozialen und gesellschaftlichen Funktionen des Designs erneuern. Sie distanzieren sich vom Mainstream eines Designs, das als Mitverursacher von Problemen gesehen wird, die sie bearbeiten wollen. Doch paradoxerweise werden gerade hier die Denkfiguren der Moderne unverändert fortgeschrieben. Bezüge auf Latour werden nur oberf lächlich formuliert, sodass der Widerspruch zu dessen Forderung einer »Revision der Moderne«1 nicht bemerkt wird. Das Social Design und das Transition Design orientieren sich an Dichotomien, die für die Moderne kennzeichnend sind, wie etwa Affirmation/Kritik, Natur/Kultur oder Fakten/Werte. Programmatische Äußerungen nutzen ungebrochen Begriffe wie Utopie, Revolution und »systems-level change« [Irwin 2015, 2018].2 Damit wird an einem Planungsoptimismus festgehalten, der andernorts längst infrage gestellt wurde. Hier müsste eine umfassende Kritik des Social Designs ansetzen, die im Folgenden zumindest angedeutet werden soll.3

5.1 Der Begriff und Anspruch des Social Designs Das Social Design erscheint als unscharf konturiertes und widersprüchliches Feld. Eine Kritik des Social Designs sollte sich daher ihren Gegenstand nicht konsistenter vorstellen, als dieses ihn selbst zu konstruieren in der Lage ist. Der Begriff wurde bereits vor Jahren als unbefriedigend kritisiert und verabschiedet.4 Dennoch blieb der

1 MEx:23, vgl. B 3.3.2 2 vgl. Dunne, Raby 2001, Banz 2016, Sachs/Museum für Gestaltung Zürich 2018, Resnick 2019, https:// cumulusroma2020.org 3 vgl. die Kritik des Transition Designs [Willis 2015] 4 »Eigentlich sollten wir nicht mehr über Social Design sprechen« [Cleven 2016:43]. »What is Social Design, anyway? The term is typically used to label the work of those designers and architects who focus on tasks born out of humanitarian and socio-political issues, but the term is deeply unsatisfying. For instance, it suggests a type of design that is not conceived for the benefit of individuals, but rather for idealised and averaged groupings thereof, with the intent of improving their conditions. But isn’t the generalisation dangerous? And isn’t it what designers do? Isn’t all design ›social‹? It also suggests outside intervention and, indeed, a teacher-pupil relationship.« Paola Antonelli, 22.02.2012, https://www.domusweb.it/en/design/2012/02/22/states-of-design-10-social-design.html

76

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Begriff virulent und bildet bis heute einen zentralen Bezugspunkt für die Neubestimmungen des Designs. Daher sollen einige Aspekte besprochen werden, die vor allem die Differenzen zwischen Social Design und Transformation Design markieren. Das Social Design argumentiert mit unabweisbaren sozialen und ökologischen Forderungen. Ein konsistenter Theorierahmen dagegen ist nicht erkennbar. Sinnvolle Bezüge könnten hier die Systemtheorie und die Akteur-Netzwerk-Theorie anbieten.5 Beide Theorieangebote werden im Social Design zwar vereinzelt und zustimmend zitiert, wurden bisher aber kaum detailliert rezipiert. So wurden offenbare Widersprüche etwa im Verhältnis zur Moderne nicht erkannt. Die Defizite des Social Designs zeigen sich vor allem an der Verwendung traditioneller sozialrevolutionärer Leitbilder wie Utopie, Revolution, Partizipation und Pioniere sowie normativer Begriffe wie »die gute Gesellschaft« und »die bessere Welt«. Durch diese Orientierung und eine weitgehende Ignoranz von historischem Wissen ist das Social Design in Gefahr, als ideologisch verengte »Moralagentur« [Joas 2016] wahrgenommen zu werden und seine Ziele damit zu verfehlen.

5.1.1 Was ist »das Soziale«? Designer haben an den Diskussionen zu einem revidierten Verständnis des Sozialen bisher kaum teilgenommen. Neue Designfelder wie das Social Design nutzen daher Begriffe wie »das Soziale« oder »die Wirtschaft« häufig in einem naiven Verständnis. Ihre Ansätze finden so keine ausreichende Grundlage und können den selbst gestellten Aufgaben eines strukturellen Wandels und seiner Diskurse kaum gerecht werden. Das Transformation Design dagegen geht davon aus, dass es eine ontologische Erneuerung braucht, um neue Begriffe des Sozialen und der Wirtschaft zu bilden. Allein durch die Beobachtung der technischen Entwicklung sollte klar sein, dass die gegenwärtigen und künftigen Verhältnisse nicht mit Begriffen des 19. Jahrhunderts zu bewältigen sind. So wird etwa im Diskurs des Trans- und Post-Humanismus deutlich, dass einst subjektzentrierte Begriffe wie Verantwortung und Vertrauen im Kontext von Algorithmen und Robotern neu gefasst werden müssen. Im Design wird dagegen immer noch das Gebot der »human centeredness« prominent vertreten.6 Dabei sollten die Erfahrungen der Moderne gelehrt haben, dass das »menschliche Maß« keine Naturkonstante ist, sondern ein offener Begriff, der sich zu vorher unvorstellbaren Dimensionen erweitern konnte. Gerade im 20. Jahrhundert hat 5 Die systemische Forschung wurde häufig durch ökologische Fragestellungen motiviert. So wurde bereits in den 1980er Jahren bemerkt: »Das überraschende Auftreten eines neuartigen Ökologiebewusstseins hat wenig Zeit gelassen für theoretische Überlegungen. Zunächst denkt man daher das Thema im Rahmen der alten Theorie. (…) Unversehens geht so eine Theoriediskussion in moralische Frageformen über und das Theoriedefizit wird mit moralischem Eifer kompensiert. Die Absicht der Demonstration guter Absichten bestimmt die Formulierung der Probleme. So diskutiert man aufs Geratewohl über eine neue Umweltethik, ohne die Systemstrukturen zu analysieren, um die es geht.« [Luhmann 2008/1985:14] Die ANT bietet gar eine Neufassung der politischen Ökologie [PoN, PD]. 6 So lautet die ›Kyoto Design Declaration‹ von 2008: »Human-centered design thinking, when rooted in universal and sustainable principles, has the power to fundamentally improve our world. It can deliver economic, ecological, social and cultural benefits to all people, improve our quality of life and create optimism about the future and individual and shared happiness.« https://www.cumulusassociation. org/kyoto-design-declaration-signed-on-march-28-2008

5 Kritik des Social Designs

sich gezeigt, das große kulturelle und zivilisatorische Leistungen neben Gewaltexzessen und Verwüstungen koexistieren können. Aus der Perspektive der ANT ist es gerade die »human centeredness«, die in der Moderne durchgehend regiert hat. Diese gilt es nun abzulösen zugunsten der Einsicht, dass Menschen nicht aus sich selbst heraus existieren können, sondern immer angewiesen sind auf den Austausch mit Aktanten aller Art, die eine Umwelt erst hervorbringen. Das infrage stehende Menschliche lässt sich daher nicht als autonom bestimmen, sondern muss als systemischer Funktionszusammenhang Mensch-Umwelt begriffen werden.7 Das Transformation Design fokussiert sich daher – der ANT folgend – auf jene Austauschprozesse und will zunächst deren Dynamik beobachten, beschreiben und analysieren, ohne sich die Perspektive durch traditionelle Begriffe zu verstellen.

5.1.2 Die Ruinen von Planung und Entwicklung In der sogenannten »Entwicklungshilfe«, die moderne Planungsverfahren in vormodernen Gesellschaften anwenden wollte, kehrte schon vor Jahrzehnten Ernüchterung ein. Die hohen Erwartungen an die Fähigkeit und den Willen zu Modernisierung und Fortschritt wurden enttäuscht, denn moderne Methoden und Zielvorstellungen erwiesen sich als untauglich, wenn nicht gar als kontraproduktiv. Die implizit angenommene Universalität von Methoden in Design, Technik und Pädagogik stellte sich als theoretisches Konstrukt heraus, das in den konkreten Projekten vor Ort durch eine unmögliche Praxis widerlegt wurde. In einem »Development Dictionary« wurden daher schon vor Jahrzehnten einschlägige Begriffe verabschiedet wie etwa »Helping, Experts, Market, Needs, Planning, Progress und One World« mit dem Fazit: The idea of development stands like a ruin in the intellectual landscape. [Sachs 1992:15]8 Die Pointe ist allerdings, dass hinter den offiziellen Projektzielen stets eine hidden agenda wirksam war. Diese hatte zum Ziel, die geförderten Nationen vom Westen abhängig zu machen, für weitere Einf lussgebiete und Absatzmärkte zu sorgen und andere, ebenfalls um Einf luss konkurrierende Staaten zurückzudrängen.9

7 Diese Einsichten waren bereits in den 1960er Jahren leitend, als erste systemtheoretische und ökologische Perspektiven formuliert wurden, vgl. die Arbeiten von Herbert A. Simon, C. West Churchman, Niklas Luhmann und Horst Rittel, die im Design vor allem von Wolfgang Jonas aufgenommen wurden [Jonas 1994, 2014:o. S.]. 8 vgl. Latours Ausdruck von den »Ruinen des Modernismus« [WSMC:49] sowie »Ruined by Design« [Monteiro 2019]. Für das Design muss es aber nicht zwangsläufig darum gehen, größere Dauerhaftigkeit anzustreben. Stattdessen gilt es, in der Planung von heute schon die Ruine von morgen zu antizipieren und dementsprechend als »Ruinenbaumeister« für verträgliche Auf- und Abbauprozesse zu sorgen, vgl. das Konzept »cradle-to-cradle«, https://cradle-mag.de/artikel/interview-mit-michael-braungart.html 9 Wolfgang Sachs schreibt bereits 1992: »World development is like apple pie – nobody can be against it. Or can they? After three decades of development it is time to ask whether it has done much more than impose Westernization on the whole world.«, https://newint.org/features/1992/06/05/keynote. Heute zeigen die chinesischen Investitionen in Afrika und Ost-Europa das gleiche Bild von vordergründiger Hilfe und substanzieller Machtpolitik. Eine neue Ausrichtung als »Co-Development« erneuert den Be-

77

78

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Es wirkt daher erstaunlich uninformiert, wenn dreißig Jahre später im aktuellen Social Design häufig nur bekannte sozialrevolutionäre Positionen der Moderne wiederholt werden. Verbunden mit einem pathetisch vorgetragenen Anspruch als Vordenker und Zukunftsgestalter nehmen diese Beiträge geradezu tragikomische Züge an. Es ist daher nur konsequent, wenn eine Untersuchung zur Dialektik des Social Designs zu dem Schluss kommt: Der Aushandlungscharakter, den das Social Design völlig zu Recht an den Anfang setzt, müsste vielmehr dahingehend radikalisiert werden, dass es sich selbst zur Disposition stellen müsste. (…) Die Dialektik zwischen Norm und Verfahren, die das Social Design kennzeichnet, fordert uns auf, mit Social Design über Social Design hinauszugehen und über Arten und Weisen des Designs nachzudenken, die Social Design als ihre Vorstufe anerkennen würden, aber es nicht länger wären. Wie ein solches Post-Social-Design aussehen könnte, und es überhaupt noch ein Design wäre, ist eine offene Frage. [Feige 2019:52/54, kursiv im Original].

5.1.3 Von der guten Form zur guten Gesellschaft? In der Bezeichnung »gute Form«, wie sie etwa von Max Bill in den 1950er Jahren gebraucht wurde [Bill 1957], klingt stets eine doppelte Bedeutung an: einerseits ein Qualitätsurteil und andererseits eine moralische Wertung. So werden bis heute »gute« Dinge unterschieden nicht nur von schlechten, sondern auch von »bösen Dingen«.10 Dabei findet eine subtile Verschiebung statt: Der Begriff der »guten Form« spielt noch mit der doppelten Bedeutung von »gut« als gelungen (im Gegensatz zu schlecht) und »gut« als moralisch vorbildlich (im Gegensatz zu böse). Dieses lässt sich aber vom Begriff des »guten Lebens« nicht mehr sagen. Die Designkriterien für eine gute Form mögen im Sinne gelungener Gestaltung noch feststellbar sein. Um jedoch ein »gutes Leben« normativ zu bestimmen, müssten Kriterien spezifiziert werden, was die Verfasser der Slogans aus gutem Grunde unterlassen. Entscheidend wären hier historische und aktuelle Vergleichsgrößen, womit das Gute immer schon zum Besseren gesteigert wird. Wenn die Frage nach der Qualität moralische Dimensionen gewinnt, kann sie unversehens umschlagen in eine Frage nach der Rechtfertigung oder gar der Existenzberechtigung, wie mit dankenswerter Klarheit formuliert wurde: Der Begriff des Social Designs will diesem Relativismus jedoch entgegenwirken. Er verlangt, das gutes bzw. legitimes Design gegen schlechtes bzw. illegitimes Design abgegrenzt wird. (…) Das Soziale am neuen Designbegriff besteht also in der weitaus kritischeren Nachfrage, welche Probleme überhaupt ein Recht darauf haben, durch Design gelöst zu werden. [Geiger 2016:61/63]

griff, aber noch nicht erkennbar die Ideologie dahinter. Aktuell sprechen Kritiker daher auch von »postdevelopment«, https://en.wikipedia.org/wiki/Postdevelopment_theory 10 vgl. »Gute Form, böse Form« [Erlinger 2009] und »Es gibt sie noch, die bösen Dinge« DER SPIEGEL 16/2014:136/137, Bericht über die Marke Manufactum], vgl. Carl Burchard 1933: »Gutes und Böses in der Wohnung in Bild und Gegenbild. Grundlagen für neues Wohnen«, Leipzig/Berlin, zitiert bei Damler 2012:18

5 Kritik des Social Designs

In dieser Formulierung zeigt sich der ideologische Charakter des Social Designs. Der bisherige Relativismus soll überwunden werden durch eine Instanz, die entscheidet, was legitim ist und was nicht. Aber wer soll diesen Absolutismus vertreten? Die Designer, ihre Auftraggeber, Nutzer und Betroffene, Experten und Berater, Gremien und Ämter? Hier scheint eine Position für »Moralunternehmer« [Luhmann 2020/1978:76] ausgeschrieben zu werden.11 Immerhin ist es ein origineller Gedanke, dass Probleme ein Interesse oder gar ein Recht auf ihre Lösung haben sollen. Hier hätte sich angeboten, noch einen Schritt weiterzugehen und auf die Agency von Problemen zu verweisen, also deren Einbettung in ein Netz von vielfältigen Vermittlungen und Übersetzungen. Zwischen Relativismus und Absolutismus hätte sich damit die Alternative des Zusammensetzens eröffnet, wie sie von Latour formuliert wurde.12

5.1.4 »Weltdesign« – »Formungsmasse« – »gutes Leben«? Aus der amerikanisch-pragmatischen Rede von »making the world a better place«13 wurde die normative Vorgabe eines »Design for the good society«14, die behauptet: I claim that the ultimate purpose of design is to contribute to the creation of a good society, one that is fair and just. [Margolin, Bruinsma 2015]15 Diese Aussage mag gut gemeint sein, erscheint aber als ebenso naiv wie überf lüssig, pathetisch und hilf los. Denn wie sollte das Design oder irgendein anderes Kompetenzfeld etwas anderes anstreben? Die Forderung nach der »guten Gesellschaft« ist aber keineswegs schon der maximale Anspruch des Social Designs. Sie zieht eine Ausrichtung am »guten Menschen«16 nach sich und erweitert sich sogar zu einem »Design for Happiness«.17 Doch selbst diese ebenso umfassende wie anmaßende Aufgabe wird in einer speziellen deutschen Variante noch übertroffen. Denn hier wird das totale Weltdesign angestrebt, wie mit erschreckender Deutlichkeit formuliert wurde: 11 vgl. »Angesichts dieser Sachlage ist es die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik, vor Moral zu warnen.« [Luhmann 2020/1990:266] und »Ethik als Reflektionstheorie der Moral« in Luhmann 2020/1989:270-347 12  vgl. »Reassembling the Social« [RAS] und »An Attempt at a ›Compositionist Manifesto‹« [Latour 2010] 13  vgl. »Designing for Society: Products and Services for a Better World« [Tromp, Hekkert 2018] 14 So der Titel der Berichte zu den Utrecht Biennalen zum Social Design 2005-2015 [Margolin, Bruinsma 2015] 15 Das Zitat stammt aus einer Publikation, in der über fünf Biennalen des »Social Designs« berichtet wird, die seit 2005 in Utrecht stattfanden. Bis auf die Attribute »fair« und »just« wird diese »gute Gesellschaft« aber nicht näher beschrieben. 16 Ein Kriterium des »Positive Design Frameworks« lautet: »Being a morally good person« [Desmet, Pohlmeyer 2013:7]. 17 »Design for Happiness« lautet ein Programm am »Delft Institute of Positive Design«, https://diopd.org/ design-for-happiness. Auch die »Chinese Academy of Lifestyle Design« setzt sich zum Ziel: »(…) creating public happiness of life«, https://english.bift.edu.cn/research/chineseacademyoflifestyledesign/index. htm. Interessant wäre es, die hier wirksamen Vorstellungen von »Happiness«, nach dessen Steigerung durch das Design auch im Westen gefragt wird, zu vergleichen etwa mit jenen des »public interest« [Rodatz, Smolarski 2018] und des »public value«, vgl. https://www.if-designfoundation.org/de/public-value

79

80

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Transformationsdesign ist normativ. Es orientiert sich am Apriori der Zukunftsfähigkeit. Es stellt nicht mehr nur die Frage nach der »guten Form«, sondern nach der »guten Gesellschaft«. (…) Wir brauchen heute den emotionalen Sog der Vision einer lebenswerten Zukunft viel mehr als ein angsterfülltes Getriebensein. Transformationsdesign ist (…) Weltdesign, ist normativ der Erschaffung einer besseren Welt verpflichtet (…). [Rammler 2016:54] Im Auftrag einer »lebenswerten Zukunft« fühlt sich der Designer nicht nur als Verbesserer legitimiert, sondern setzt sich als gottgleicher Weltenschöpfer ein. Dieser traut sich nicht nur zu, eine Welt zu erschaffen, sondern hält diese auch schon vorauseilend für besser und will sie überdies noch normativ vorschreiben. Zu anderen Zeiten wäre ein solches Ansinnen zweifellos als Frevel aufgenommen worden. Ist es nicht gerade die entscheidende Lehre des letzten Jahrhunderts, dass die Projekte und Programmatiken für eine »gute Gesellschaft«, eine »bessere Welt« oder gar ein »Weltdesign« auch bei besten Absichten nur katastrophal enden können? Gibt es kein Gespür mehr dafür, dass das Wort »Weltdesign« gerade von einem deutschen Autor problematisch klingen muss? Auch in einer angeblich »kritischen Theorie des Social Designs« [Haarmann 2016] sind schockierende Formulierungen zu lesen: Dem Material der Produkte und dem Papier der Bilder haben sich die Menschen als Formungsmasse hinzugesellt. Designer, die mit diesen interaktiven »Rohstoffen« operieren, verstehen sich als Sozialgestalter (…). [Haarmann 2016:83] Wer solche Formulierungen wählt (mal in Anführung, mal nicht), lanciert gefährliche Absichten, ob bewusst oder nicht. Das 20. Jahrhundert hat ausreichend gezeigt, wie Menschen zu »Formungsmasse« und »Rohstoffen« wurden. Die Sprachform verdeckt den gewalttätigen Zugriff: Menschen »gesellen« sich nicht freiwillig als »Rohstoffe« zum »Material der Produkte«. Sie werden dazu gezwungen. Ist das alles längst vergessen? Ist die Unzumutbarkeit dieser Konzepte nicht deutlich erkennbar, selbst für vermutlich wohlmeinende Akademiker? Andere Autoren formulieren nicht ganz so drastisch, sondern versprechen einfach ein »gutes Leben für alle«: Design hat die Macht, positive Zukunftsbilder zu entwerfen, Wünsche sichtbar zu machen, Emanzipation voranzutreiben und Vorstellungen zu entwickeln, wie ein gutes Leben für alle umgesetzt werden kann. [von Borries 2017:137] Dies erinnert an den Slogan »Wohlstand für alle«, den Ludwig Erhard in den 1950er Jahren den Deutschen versprach. Wer könnte etwas dagegen haben? Doch die scheinbar naiv-gemütliche Formel vom »guten Leben für alle« versteckt ihre normativen Absichten. Auch der Werkbund geht von normativen Setzungen aus und gelangt so unversehens zu der Formel »von der guten Form zum guten Leben«18. Implizit erscheint hier die gute Form als ein alter, zurückgelassener Handlungsbereich, der weiter ent18 »Von der guten Form zum guten Leben« [Andritzki 2008], Festschrif t des Werkbundes zum einhundertjährigen Bestehen. Dagegen unterstellt eine Alltags- und Konsumgeschichte mit dem Titel »Der Traum vom guten Leben« [Andersen 1997], dass die Leitidee des »guten Lebens« ihre orientierende Funktion schon erfüllt, indem sie unerreichbar bleibt.

5 Kritik des Social Designs

wickelt wurde zur aktuellen Aufgabe das »gute Leben« zu gestalten. Doch was ist ein »gutes Leben«, wer sind »alle« und wer befindet darüber? Haben Designer hier spezifische Fähigkeiten und Legitimationen? »Weltdesign, Formungsmasse, gutes Leben« – Warum blieben diese Aussagen ohne Widerspruch? Warum werden diese Positionen nicht intensiv diskutiert und mit guten Gründen zurückgewiesen? Kann das Design auf eine historisch begründete Selbstkritik verzichten? Ist der Designdiskurs immer noch so schwach entwickelt?19

5.1.5 Eine Revision der Moderne? Die Steigerungslogik der Moderne kann keine Grundlage sein für künftige gesellschaftliche Fragestellungen. Vielmehr gilt es, dieser durch eine Dekonstruktion ihrer Versprechungen und einer Revision der eigenen Mittel zu entkommen. Besonders deutlich wird dies bei den neuen Arbeitsfeldern des Designs wie der synthetischen Biologie. Welche Ziele sollen etwa im Bereich der Gentechnik verfolgt werden, was soll hier »besser« bedeuten? Die Collagen von Alexandra Daisy Ginsberg zeigen die Omnipräsenz, Gleichförmigkeit und Leere solcher Begriffe in den Botschaften von Produkten und Politik, die kein Maßstab für künftige, machtvolle Techniken etwa in den sogenannten »Life Sciences« sein können [Abb. 6]. Das aktuell propagierte Social Design dagegen ignoriert in weiten Teilen jede historische Erkenntnis, nach der es gerade die sozial ambitioniertesten Projekte in Design und Architektur waren, die zu den größten Katastrophen führten. Dies wäre an vielen Beispielen zu zeigen, von gescheiterter Stadtplanung über ideologisch geprägte Pädagogik20 bis zu den gesellschaftlichen Großexperimenten in totalitären Staaten. In dieser Form bleibt das Social Design in den Utopien und Fantasien der Moderne gefangen und erscheint als denkbar ungeeignet nicht nur für die Aufgabe einer »Revision der Moderne«, wie sie von Latour gefordert wird, sondern auch für die Erreichung der eigenen sozialen und ökologischen Ziele.

Abb. 6: Der Gebrauch von »better« in Kosumwerbung und Politik, links: Collage zum Begrif f »better«, rechts: »better« in der politischen Kommunikation [Bilder aus Ginsberg 2018:17] 19 Schon vor 30 Jahren wurde ein »rigoroser Designdiskurs« [Bonsiepe 1992:7] gefordert, der dieses leisten müsste. Doch noch immer ist der Designdiskurs zu selbstbezogen. Kaum einmal werden seine Themen aufgegriffen, weder von den Kulturwissenschaften noch vom Journalismus, im Gegensatz etwa zum Diskurs der Architektur. 20 vgl. den Zusammenhang von Architektur für Schulen mit der Programmatik der Bildungspolitik [Holert, HKW 2021]

81

82

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

5.2 Moralagentur und Zivilreligion Das Social Design wird als eine »Moralagentur« [Joas 2016] konzipiert, deren Zuständigkeitsbereich von der guten Form über den guten Menschen bis zur guten Gesellschaft reicht.21 Diese normative Auffassung des Social Designs meint, die Welt zu ihrer Sicht des guten Lebens bekehren zu müssen und zu können.22 Dabei wird implizit angenommen, dass Kategorien wie »Leben« und »Zukunft« offene Größen sind, die der Gestaltung nicht nur zugänglich sind, sondern aktiv Gestaltung einfordern. Hierin zeigt sich deutlich ein Erbe der Moderne, das kaum ausgeschlagen werden kann, will man nicht eine Rückkehr zu mittelalterlichen Vorstellungen propagieren, wo der unerklärliche Ratschlag Gottes schon alles aufs Beste eingerichtet und vorherbestimmt hatte. Die Frage bleibt aber, wie mit dem Erbe der Moderne umzugehen ist: als Ermächtigung zu modernen Großentwürfen mit unübersehbaren Folgen oder als behutsame Weiterentwicklung zu einer »Revision der Moderne«? Ist es die Ohnmachtserfahrung der Designer und ihr Leiden an einer immer noch nicht komplett durchgestalteten Welt, die durch übersteigerte Moralbegriffe kompensiert werden soll?23 Es ist weder notwendig noch hilfreich, sondern ausgrenzend und selbstgefällig, sich ständig der eigenen hohen moralischen Ansprüche zu versichern und diese plakativ auszustellen. Dieses »virtue signalling« ist in Gefahr, die eigenen Ziele zu sabotieren, da Vorstellungen von moralischer Perfektion formuliert werden, die in den komplexen Problemlagen sozialer Prozesse nicht zu erreichen sind. Dem sozial ambitionierten Design wurde daher bereits eine »moralische Abrüstung« empfohlen.24 Das Design hat die Möglichkeit, Ethik und Ästhetik in seinen praktischen Interventionen zu verbinden. Daher sollte es sich pragmatisch am nächsten erreichbaren Schritt orientieren und bereit sein, Kompromisse einzugehen, um überhaupt Wirkung zu erzielen. Ohne eine Revision des Designs muss der Anspruch eines »Weltdesigns« als unmittelbare Bedrohung erscheinen. Das Design setzt sich dabei an die Stelle der Religion:

21 Mittlerweile wird sogar eine Selbstverpflichtung auf ethische und moralische Standards in Form eines Eides gefordert, https://designersoath.com 22 Eine Untersuchung zu »Ideologie und Utopie des Designs« nannte es »einen irrationalen Glaubenssatz der Theorie«, der »unbewiesen voraussetzt, dass die Moral der Gestaltung eine notwendig positive gesellschaftliche Wirkung habe (…)«. [Selle 1973:111] 23 Das Design schreibt sich damit ein in eine allgemeine Entwicklung zum Moralismus, vgl. Diskussion bei Lübbe 2019; Neuhäuser, Seidel 2020; Bolz 2021 24 »Only by dropping rigorous moral concepts will design be able to work for real people in their individuality and real communities in their specifity. (…) Question the designer’s role as a moral authority (there is no reason for this claim).« [Jonas 2016:115/131] »I deliberately adopt an a-moral position, because moral (pre-)judgements, i.e. fixed, unquestioned beliefs in how things should be are the main obstacles to complexity thinking; they tend to destroy complexity before it can even be perceived.« [Jonas 2005:55/56]

5 Kritik des Social Designs

»Where religion once was, design has emerged.«25 Grundlage dieser »Zivilreligion«26 ist der Glaube an die Unterscheidung von »richtigem« und »falschem Leben«, eine folgenschwere Übernahme der Moderne aus religiösen Beständen. Hier herrschte die adventistische Vorstellung, dass der Beginn des richtigen Lebens aufgeschoben wird bis zu einer revolutionären Umwertung, die alles Falsche richtig machen soll. Auch der Eifer bei der Erzeugung binärer Unterschiede und deren rigorose Verteidigung erinnert an den religiösen Fundamentalismus einer Unterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen. Bis zum Anbruch des »richtigen Lebens« ist alles nur vorläufig und letztlich beliebig, denn nichts kann richtig gemacht werden, wenn nicht endlich alles richtig ist.27 Das ehemals göttliche Privileg auf die beste Einrichtung der Welt und das Richten der Menschen wird nun aber an die menschliche Planung delegiert. In der Folge werden Menschen und Handlungen unterschieden als »Teil der Lösung« oder »Teil des Problems« mit den bekannten katastrophalen Folgen bis hin zu Massenvernichtungen. Die Moderne erweist sich damit als ein Glaubenssystem und die moderne Selbstverortung in einem Jenseits des Glaubens stellt sich als grundlegende Täuschung heraus. Wie aber will eine »Zivilreligion« den Anspruch »für alle« einlösen? In einer universalistischen Moderne erschien dies als unproblematisch, denn in einem paternalistischen Zugriff wurden einfach alle Menschen kurzerhand als fiktive Weltgesellschaft eingeschlossen. Heute jedoch erscheinen solche Begriffe als fragwürdig. Die »kritische Masse«, von der Latour in einer feinen Umkehrung spricht, sind nicht mehr Subjekte, die eine Kritik formulieren oder ihre Rechte einfordern, sondern es sind jene übersehenen, nicht-menschlichen Akteure, die soziales Geschehen durch Vermittlung und Transformation überhaupt erst ermöglichen. Deren Anzahl hat eine kritische Größe erreicht, deren Wirkungsmacht nicht länger negiert werden kann.28

5.2.1 Heilige und Sünder Doch selbst wenn die Religion als Grundlage für Gestaltung befragt werden soll, findet sich eine Position, die für das Design produktiv gemacht werden kann. Aus der Religion ist das Dilemma bekannt, dass der Mensch nicht perfekt ist und daher immer ein Sünder bleibt, während er andererseits als Geschöpf eines vollkommenen Gottes ebenfalls als vollkommen angenommen werden muss. Der Glaube beweist sich im ständigen Zweifel und im Wissen um die eigene Schwäche und nicht in der fundamentalistischen Gewissheit, immer auf der richtigen Seite

25 »With the death of God, design became the medium of the soul, the relevation of the subject hidden inside the human body. Thus, design took on an ethical dimension it had not had previously. In design, ethics became aesthetics, it became form. Where religion once was, design has emerged. The modern subject now has an obligation: the obligation to self-design, an aesthetic presentation as ethical subject.« [Groys 2011:25], vgl. den Begriff der »Designtheologie« [Damler 2012:15]. Dieser bezieht sich auf eine Analyse der Entwürfe moderner Gestalter wie Bruno Taut (»Stadtkrone«) und Le Corbusier (»Ville Radieuse«) und die darin enthaltenen Staatstheorien. 26 Zum Begriff der Zivilreligion vgl. Kleger, Müller 2011; Ziegert 2013; LaMotta 2013 27 vgl. Adornos Diktum »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« [Adorno 2001/1951:55] und Judith Butlers Kommentar dazu, www.fr.de/kultur/judith-butlers-dankesrede-kann-man-ein-gutes-leben-im-schlechten-fuehren-a-805966 28 vgl. »Where are the missing masses?« [WM]

83

84

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

zu stehen und ein für alle Mal gerettet zu sein. Moralische Selbstgewissheit ist daher in sich unmoralisch. Luther prägte dafür bereits vor über 500 Jahren die Formel: Simul iustus et peccator – Heiliger und Sünder zugleich.29 Fragen der Verantwortung und der Moral wurden im Design immer wieder behandelt, und sie bleiben virulent, da sich das Design zu seiner Realisierung ins Verhältnis zur wirtschaftlichen und technischen Macht setzen muss, auch wenn die Ziele des Designs deren Tendenzen entgegengesetzt sein mögen.30 Die Situation des aktuellen Transformation Designs wurde daher treffend so beschrieben: Wir scheinen uns auf einer aufregenden Gratwanderung zwischen Bescheidenheit und Anmaßung zu befinden. [Jonas 2020a:19] Schon 1908 beschrieb Gilbert Keith Chesterton eine ähnliche Position: Vor jedem Ding der Außenwelt müssen wir so viel Ehrfurcht haben, dass wir mit Bangen über das Gras gehen. Und für jedes müssen wir so viel Verachtung empfinden, dass wir auch mal die Sterne anspucken. [Chesterton 2015/1908:217] Entscheidend für das Design bleibt das Bestehen auf dem integrativen Ansatz von pragmatischen Handlungen, die sonst getrennte Qualitäten verbinden. Damit ist einerseits ein demütiger Umgang mit dem Vorhandenen angemahnt, in das ja alle Vermögen der Ahnen eingef lossen sind, andererseits aber auch das beherzte Eingreifen nach Maßgabe souverän entwickelter Kriterien. Schon vor über hundert Jahren wurde bemerkt, dass es dabei um eine Verbindung zweier Qualitäten geht: Ist denn nicht klar, dass wir in Wahrheit auf eine einzigartige Handhabung und Umsetzung beider Tendenzen hoffen; dass wir einerseits einen bestimmten Grad von Zurückhaltung und Achtung, andererseits einen bestimmten Grad von Tatkraft und Bemächtigung anstreben? [Chesterton 2015/1908:216]31

5.3 Design – Politik – Verantwortung Im Design werden Versuche unternommen, sich neu auszurichten auf gesellschaftliche Aufgaben als Social Design, Transition Design oder Transformation Design. Sind diese Ansätze als eine Fortsetzung von Konzepten der Moderne zu verstehen oder stellen sie eine ref lektierte Abkehr davon dar?

29 https://de.wikipedia.org/wiki/Simul_iustus_et_peccator 30 So wurde etwa die Frage nach einer »Sondermoral für das Design« im Kontext des Neuaufbaus der Gestaltungslehre in den neuen Bundesländern gestellt und ablehnend beantwortet, vgl. Jonas 1994a. 31 vgl. B 5.5.2

5 Kritik des Social Designs

5.3.1 Utopien der Moderne Auf der Utrecht Biennale for Social Design (2005-2015) wurden programmatische Positionen des Social Designs formuliert und in Ausstellungen und Symposien publiziert. Dabei wurden Verbindungen zu den Utopien der Moderne32 hergestellt und ein Aufruf zu neuen Utopien abgeleitet:33 Letztendlich verweist Social Design auf die ethische Dimension unseres Handelns und verbindet sich im Zeitalter der Utopielosigkeit mit dem impliziten Aufruf zu neuen Utopien. Dabei erweist sich beim Blick in die Zukunft ein Umweg über die Vergangenheit durchaus als produktiv, insofern als viele Visionen und Modelle bereits in der Moderne angelegt sind. [Banz 2011a:32] Behauptet wird eine Kontinuität von sozialen Anliegen in der Gestaltung: Die Vision (…), die jeweilige Gesellschaft durch Gestaltung nachhaltig beeinflussen zu können, beflügelte die Designer des Arts & Crafts Movement ebenso wie Designer und Architekten der Reformbewegungen des Jugendstils, des Werkbunds oder des Bauhaus. [Banz 2011a:8] Es wird eine Reihung konstruiert, in der das aktuelle Social Design als eine unproblematische Verlängerung von historischen Konzepten der Moderne aufgefasst wird. Vom Scheitern der Moderne und von den Gründen für eine Abkehr von der Moderne ist keine Rede. Erstaunlich erscheint es, dass das Design einfach und ungebrochen weiterhin als Agent der Moderne eingesetzt werden soll, obwohl diese doch jene Problemlagen erst miterzeugte, gegen die das Social Design heute antreten will. Diese Sichtweise blendet die Ambivalenz der Moderne aus und ignoriert, dass es gerade die Verwirklichung fortschrittlich gemeinter Utopien war, die im 20. Jahrhundert zu den größten Katastrophen führten. In Bezug auf Latour wird zustimmend aus dem Prometheus-Text zitiert: Um es provokanter zu formulieren: ich möchte behaupten, dass Design einer der Begriffe ist, die das Wort »Revolution« ersetzt haben! Wenn man sagt, dass alles designt und redesignt werden muss (einschließlich der Natur), dann ist etwas impliziert wie: weder wird es revolutioniert noch modernisiert werden. [Prom_dt:359, zit. bei Banz 2016:12, vgl. 8.2] Einige Seiten später wird unvermittelt aus Latours Aussage destilliert: Damit scheint sich die eingangs zitierte Prognose von Latour endgültig erfüllt zu haben: Alles ist Design! [Banz 2016:23]

32 Gezeigt wurden u. a. Arbeiten von Ebenezer Howard: Garden Cities of Tomorrow (1898/1902), Sigfried Giedion: Befreites Wohnen (1929) und Victor Papanek: Design for the Real World (1971) 33 Auch ein beteiligter Theoretiker forderte Designer auf, utopische Visionen zu entwickeln: »Design historian Victor Margolin calls upon designers to envision a new utopia.« [Margolin 2015]

85

86

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Das Papanek-Zitat »Alles ist Design!« ist jedoch keineswegs der Inhalt von Latours Aussage. Diese ist auch keine Prognose, sondern eine Forderung, die Moderne zu überwinden, als deren Erbe sich das Social Design – Latour missverstehend – einsetzt.34 Diese Pointe wird deutlich in den Folgesätzen des Latour-Zitats, die von Banz aber ausgelassen werden: Für mich ist das Wort Design ein kleiner »Tracer«, dessen Ausbreitung beweisen könnte, wie sehr wir aufgehört haben zu glauben, dass wir modern gewesen sind. Mit anderen Worten: Je mehr wir uns selbst als Designer verstehen, desto weniger verstehen wir uns als Modernisierer. [Prom_dt:358] Das Design nach Latour soll also die Ablösung von Traditionen der Moderne ermöglichen, während die Autorin im Gegenteil von einer Kontinuität ausgeht und diesen Widerspruch nicht bemerkt. Der entscheidende Beitrag der ANT zu einer Neufassung des Sozialen wird daher verpasst mit dem Ergebnis traditioneller Begriffe und fragwürdiger Gleichsetzungen.

5.3.2 Politik und/oder Gestaltung? Zu den Visionen der Moderne bemerkte Lucius Burkhardt: Der Glaube, dass durch Gestaltung eine humane Umwelt hergestellt werden könne, ist einer der fundamentalsten Irrtümer der Pioniere der modernen Bewegung. Die Umwelten sind nur zu einem geringen Teil sichtbar und Gegenstand formaler Gestaltung: zu weit größerem Teil aber bestehen sie aus organisatorischen und institutionellen Faktoren. Diese zu verändern ist eine politische Aufgabe. [Burkhardt, L. 1970:30]35 Hier zeigt sich ein Spannungsfeld zwischen einem Begriff von Politik, der Gestaltung ausschließt und einem erweiterten Begriff von Gestaltung, der über formale Aspekte hinausgeht und soziale Bezüge einschließt, wodurch er auch politisch wirksam werden soll. Die »neue Vision« des Social Designs geht aber noch darüber hinaus: Die neue Vision sieht also so aus: der Designer als politischer Entscheider, der politische Entscheider als Designer! Die Frage ist nur, ob es diese prototypischen Formen einer neuen, nachhaltigeren Gesellschaft aus dem Stadium der Graswurzelbewegung ins Parlament schaffen. [Banz 2016:23/24] Diese Gleichsetzung von Design und politischem Entscheider erscheint als fragwürdig. Entscheider werden gewählt aufgrund ihrer behaupteten Kompetenz, Positionen vertreten und Mehrheiten organisieren zu können, was nicht zwangsläufig dem Profil von Designern entspricht. Eine Gleichsetzung übergeht alle Fragen von Repräsentation und Legitimation. Der Begriff eines »Parlaments der Dinge« und die Grundlegung einer neuen politischen Ökologie von Latour werden nicht aufgenommen. Der 34 Das Wort »endgültig« ist ein problematisches Prädikat, speziell im Kontext von Latours Ansätzen, der eine Revision der Moderne fordert, wozu auch fundamentalistische Sprechweisen gehören. 35 vgl. »Gute Form und richtiges Leben – Das lange Ende einer Illusion« [Müller 1991]

5 Kritik des Social Designs

Bezug bleibt daher oberf lächlich, selektiv und missverständlich. Damit wird ein traditioneller Begriff der Politik bestätigt und die spezifischen Mittel und Möglichkeiten des Designs werden ignoriert, obwohl diese doch gerade gestärkt werden sollen.36

5.3.3 Verantwortung der Designer Eine Behauptung im Social Design lautet: Eines wird bei der hier knapp skizzierten, zunehmenden Verzahnung von Design und Politik deutlich: Der Spielraum für Verantwortung wird sich für die Designer gewaltig erweitern. Gleichzeitig fällt den Designern dadurch eine ungeahnte Macht in den Schoß: Die Frage ist nun, wie sie beides nutzen: affirmativ oder widerständig? [Banz 2016:25] Was ist mit einem »Spielraum für Verantwortung« gemeint? Und warum sollte sich dieser »(…) für die Designer gewaltig erweitern«? Verantwortung wird durch Entscheidungsbefugnisse begründet, und wenn diese weitreichende Folgen haben, wächst der Umfang der Verantwortung. Dies ist aber kein Spielraum, im Gegenteil: Je weitreichender die Konsequenzen des Handelns sind und je weniger die Folgen von Handlungsalternativen zu übersehen sind, desto eher nehmen die Sachzwänge zu. Die hier behauptete Verbindung von Verantwortung und Macht verkehrt daher die Verhältnisse. Denn nur wenn das Design als mächtig angesehen wird, kann die Forderung nach einem verantwortungsvollen Umgang abgeleitet werden, jedoch nicht umgekehrt. Auch die Aussage zur Machtentfaltung überzeugt nicht: Warum sollte den Designern eine »ungeahnte Macht (…) in den Schoß fallen«? Wem ist je Macht in den Schoß gefallen, außer vielleicht Königskindern oder den Erben von Wirtschaftsimperien? Es erscheint als wahrscheinlicher, dass Macht erkämpft werden muss. Doch ist ein möglicherweise erreichter Einf luss keineswegs schon eine Macht der Designer, sondern es bleibt die ihrer Auftraggeber, die die Vorgaben des Designs bestimmen und sich seiner Experten bedienen. Wenn das Social Design versucht, seine Vorstellungen technisch und wirtschaftlich zu realisieren, wird es schnell die Grenzen seiner Macht erfahren. Designer könnten formelle Macht gewinnen, wenn sie Führungspositionen oder politische Ämter übernehmen. Dies kam bisher jedoch nur in Ausnahmefällen vor.37 Einf lussnahmen der Designer bleiben weitgehend gebunden an die Gestaltung von Objekten, Prozessen und Systemen sowie eine Verlängerung dieser Kompetenzen in die strategische Beratung. Diese mag wirkungsvoll sein, wenn sie das Ohr der Mächtigen hat, doch beruht diese Wirkung gerade auf ihrer formellen Machtlosigkeit.

36 Entsprechend wurden solche Auffassungen kritisiert: »Denn die inflationäre Ausdehnung des Designbegriffs auf politische Strukturen schwächt all jene Positionen, die sich um eine kritische und subversive Auslegung der politischen Implikationen des Designs bemühen.« [Hornuff 2017:116] 37 Beispiele dafür sind etwa Peter Behrens bei der AEG, Dieter Rams bei Braun und Jonathan Ive bei Apple.

87

88

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

5.3.4 »By design or by disaster« vs. »Ruined by Design« Die griffige Formel »By design or by disaster«38 impliziert: je mehr Design, desto weniger Desaster. Sie geht selbstverständlich davon aus, dass Design dabei helfen kann, Katastrophen zu verhindern und so per Definition auf der richtigen Seite steht. Diese Gewissheit ist allerdings in einigen Teilen der radikaleren Designkritik geschwunden. Hier wird das Design nicht nur als Teil der Lösung angesehen, sondern auch als Teil des Problems erkannt: The world isn’t broken. It’s working exactly as it was designed to work. And we’re the ones who designed it. Which means we fucked up. [Monteiro 2019:30]39 Diese Einsicht begründet die entgegengesetzte Formel »Ruined by Design« [Monteiro 2019].40 Die drastischen Formulierungen schreiben dem Designer eine Verantwortung zu, die nicht unterscheidet zwischen gestalterischer Leistung, technischer Erfindung und wirtschaftlicher Umsetzung. Alles, was überhaupt existiert, vom Verbrennungsmotor über Waffen bis zu den Einstellungen bei Facebook wird als ein Produkt von Gestaltung angesehen: The combustion engine which is destroying our planet’s atmosphere and rapidly making it inhospitable is working exactly as we designed it. Guns, which lead to so much death, work exactly as they’re designed to work. And every time we ›improve‹ their design, they get better at killing. Facebook’s privacy settings, which have outed gay teens to their conservative parents, are working exactly as designed. Their »real names« initiative, which makes it easier for stalkers to re-find their victims, is working exactly as designed. (https://www.ruinedby.design) In seinem Furor überspannt der Autor den Designbegriff zu einer allgemeinen Arbeitsethik, die analytisch undifferenziert bleibt. So wird am Beispiel von Waffen schlicht kritisiert, dass sie funktionieren.41 Auch wird nicht geklärt, welchen Anteil Designer an den Produkten und der Bearbeitung der damit verbundenen Fragen haben. Komplexe 38 Designkonferenz in Bozen seit 2013, https://designdisaster.unibz.it/2020 39 Diese Formulierungen sind fast identisch mit den Aussagen der Initiative »Face the Climate Change«: »Our current system is not ›broken‹ – the system is doing exactly what it’s supposed and designed to be doing. It can no longer be ›fixed‹. We need a new system.«, https://climateemergencyeu.org/#letter 40 https://www.ruinedby.design, vgl. Bazon Brocks Hinweis: »›Durch Pflege zerstört‹ ist der inzwischen sprichwörtliche Titel, unter dem Burckhardt die Gartenschau Kassel 1981 analysierte. Intervento minimo besagt: ›Greife nur materiell und irreversibel in Geschehnisse ein, um Probleme sichtbar zu machen, nicht aber um zu behaupten, Deine Eingriffe stellten Formen der Problemlösung dar‹.« https://bazonbrock.de/werke/detail/?id=311§id=779&highlight=Zerst%C3%B6rt%20durch%20Pflege#sect 41 Der Diskurs zu Design und Gewalt hatte aber schon einen wesentlich avancierteren Stand erreicht, vgl. »Design and Violence«, ein »online curatorial experiment« 2013 vom Museum of Modern Art New York, diskutierte Exponate wie den Film »How to Kill People« [Designer George Nelson 1963] und die Waf fe »The Liberator«, die vollständig am 3D-Drucker produziert werden kann, vgl. https://www. moma.org/interactives/exhibitions/2013/designandviolence/how-to-kill-people-george-nelson, https://assets.moma.org/momaorg/shared/pdfs/docs/publication_pdf/3220/MoMA_DesignAnd Violence_PREVIEW.pdf, S. 40/41

5 Kritik des Social Designs

Handlungsketten im Sinne der ANT könnten dagegen zeigen, dass Designer an den kritischsten Aspekten von Produkten in der Regel wenig Einf luss haben.

5.3.5 Macht und Ohnmacht der Designer Monteiro schreibt den Designern ähnlich wie zuvor Banz eine umfassende Machtposition zu, die sie zur Übernahme entsprechender Verantwortung verpf lichten soll: Design is a craft with an amazing amount of power. The power to choose. The power to influence. As designers, we need to see ourselves as gatekeepers of what we are bringing into the world, and what we choose not to bring into the world. Design is a craft with responsibility. The responsibility to help create a better world for all. Design is also a craft with a lot of blood on its hands. Every cigarette ad is on us. Every gun is on us. Every ballot that a voter cannot understand is on us. Every time social network’s interface allows a stalker to find their victim, that’s on us. [Monteiro 2019, Umschlagrückseite] Diese Argumentation ist jedoch stark verkürzt und produziert einen Kurzschluss. Das Design mag mächtig sein, jedoch ist dies nicht unbedingt die Macht der Designer. Design mag die Kompetenz haben, gutes oder schlechtes Design in die Welt zu setzen. Doch es sind nicht notwendig die Designer, die darüber entscheiden, ebenso wenig wie Techniker im Allgemeinen über die Nutzung ihrer Erfindungen frei verfügen können. Als Angestellte oder Freiberuf ler arbeiten Designer und Techniker in limitierten Handlungsräumen wie andere Berufe auch.42 Entscheidender ist, in welchen komplexen Handlungsnetzen Designer, Techniker, Produzenten und Konsumenten agieren und wie diese Netze insgesamt zu einem gewünschten Verhalten gebracht werden können. Monteiros Argumentation ist darüber hinaus inkonsistent, denn er zählt nur negative Folgen auf. Doch wie steht es mit den positiven Entwicklungen, die zahlreicher sind als zumeist vermutet wird, wie etwa die Reduzierung der Verkehrstoten, der Kindersterblichkeit und der weltweiten Armut.43 Können diese als Erfolge des Designs verbucht werden, ebenso wie Waffenkäufe und Zigarettenreklamen dessen Versagen zeigen sollen? Trotz dieser Schwächen zeigt Monteiros Position ein fundamentales Umdenken an, nach dem Design nicht mehr selbstgefällig auf der moralisch richtigen Seite stehen kann. Auch Drogen, Foltermethoden und unverständliche Finanzprodukte können Gegenstände des Designs sein. Kreativität und Innovation reichen also für eine Positionsbestimmung des Designs allein nicht aus, sondern diese müssen sich an Werten orientieren. Diese können aber nicht einfach normativ vorausgesetzt werden, sondern sind bereits Teil der Gestaltungsaufgabe. Dies wird bei der hier entwickelten Konzeption der Concern Canvas deutlich, die eine Wechselwirkung von »Values, Concerns, Events, Issues und Facts« annimmt (vgl. C 5.1.).

42 Das von Monteiro genannte Beispiel eines Softwareingenieurs bei Volkswagen zeigt dies deutlich: »James Liang was an engineer at Volkswagen. He designed the software that lied about Volkswagen’s diesel emissions. (…) On August 25, 2017 James Liang was sentenced to forty months in prison for bad design.« [Monteiro 2019:54] Ob die Schuldzuweisung (»sentenced for bad design«) juristisch so festgestellt wurde, sei dahingestellt. 43  für weitere Beispiele vgl. Rosling 2018

89

90

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

5.4 Leitbilder und Ikonografien Die Leitbilder und Ikonografien von der frühen Alternativkultur bis zum heutigen Social- und Transition Design zeigen eine bemerkenswerte historische Konstanz. Nicht nur die Gegenstände werden recycelt, sondern auch die Ideen selbst. So bezieht sich einer der wenigen historischen Verweise auf die europäische Transition Town Bewegung. Diese wurde in England gegründet und erinnert in ihrer Ikonografie an ländliche Idyllen, deren Urmodell in David Henry Thoreaus »Walden« von 1854 zu finden ist (Abb. 7).44

Abb. 7: Konstanz der Leitbilder für »Transition« über 150 Jahre45 Auch Möbel aus Autoreifen und Hochbeete aus Paletten gab es bereits in den 1970er Jahren. Sie werden aber auch fünfzig Jahre später noch als »fresh« verkauft (Abb. 8).46

Abb. 8: Beispiele für das Upscaling und die Umnutzung gebrauchter Dinge47

44 https://en.wikipedia.org/wiki/Walden 45 links: Screenshot von https://www.transitionculture.org, rechts: »Walden or Life in the Woods«, Titelbild der Originalausgabe von David Henry Thoreau 1854, https://de.wikipedia.org/wiki/Walden#/ media/Datei:1854_Walden_byThoreau.jpg 46 vgl. https://freshideen.com/diy-do-it-yourself/diy-mobel-aus-autoreifen-altreifen-recycling.html 47 links: Reifensofa, Entwurf Des-In Gruppe 1974, Foto: Jochen Gros, https://jochen-gros.de/A/Des-In. html, rechts: Vertikales Palettenbeet 2016 [Baier et al. 2016:337]

5 Kritik des Social Designs

Immerhin begegnen junge Designer diesen Traditionen bisweilen mit Ironie. So riefen Studierende einen »Master of Gutmenschsein« aus und bezeichneten Karl Marx als »Public Interest Designer« (Abb. 9).

Abb. 9: Material im Studiengang »Public Interest Design«, Bergische Universität Wuppertal [Fotos: PFS, 03.05.2019]

5.4.1 Gemäß der Natur leben? Eine Konstante lebensreformerischer Konzepte und auch des Social Designs ist die Forderung, gemäß der Natur zu leben. Seit Jahrhunderten wird propagiert, die Natur als Maßstab gesellschaftlichen Lebens zu nehmen, und ebenso lange wird dies als Absurdität kritisiert.48 Der Begriff der Natur liefert keinen letzten Grund und keine Unbedingtheit, sondern die Begriffsbildung ist selbst eine Kultur- und Gestaltungsleistung, die vielerlei Bedingungen unterliegt und jederzeit anders ausfallen kann.49 So macht sich Latour über die Bestandteile des aktuellen Begriffs der Natur lustig: (…) ›nature‹, this blend of Greek politics, French Cartesianism and American parks. [Latour 2004:5, vgl. B 3.3]

48 vgl. Latour: On the instability of the (notion of) nature: »In this case, oddly enough, the adjective ›natural‹ becomes a synonym for ›moral‹, ›legal‹ and ›respectable‹ [Latour 2017:20]. Die Kritik ist aber schon wesentlich älter, vgl. die Schilderung des Naturzustandes in Thomas Hobbes’ Leviathan von 1660: »(…) where every man is enemy to every man, (…) continual fear, and danger of violent death; and the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short.« [https://old.taltech.ee/public/m/mart-mudvee/EconPsy/6/Hobbes_Thomas_1660_The_Leviathan.pdf] Außerdem Friedrich Nietzsche: »Gemäss der Natur« wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht – wie könntet ihr gemäss dieser Indifferenz leben? Leben – ist das nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Begrenzt-sein, Different-sein-wollen? Und gesetzt, euer Imperativ ›gemäss der Natur leben‹ bedeute im Grunde soviel als ›gemäss dem Leben leben‹ – wie könntet ihr’s denn nicht? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst? – In Wahrheit steht es ganz anders: indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, (…).« [Nietzsche 1999/1886:21/22] 49 Dazu gehört auch die Kulturleistung, eine »zweite Natur« zu postulieren. Zu deren Genealogie und Aktualität vgl. Khurana 2018, Daston 2018.

91

92

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

5.4.2 Die 1970er Jahre – revisited? In den 1970er Jahren wurden viele Positionen des aktuellen Social Designs bereits ganz ähnlich wie heute vertreten. Die auf kommende ökologische Diskussion und die Forderungen nach Partizipation waren bereits Reaktionen auf den vorausgegangenen Planungs- und Fortschrittsoptimismus und dessen ernüchternde Ergebnisse.50 So wurde schon vor fünfzig Jahren gefragt: »Kann der Designer die Welt retten?« [IDZ 1970]. Eine Ref lexion der seit fünf Jahrzehnten andauernden Bemühungen um Antworten ist allerdings nicht zu erkennen. Stattdessen scheinen im Social Design inzwischen alle Zweifel beseitigt zu sein, sodass bündig behauptet wird: »Nur Design rettet die Welt«.51 Eine radikalisierte und politisierte Designkritik blieb seit den 1970er Jahren im Wesentlichen theoretisch. Es gelang im Design kaum, Entwürfe zu realisieren, die praktische Alternativen hätten aufzeigen können. Dieses wurde schon von der zeitgenössischen Kritik vermerkt: Insgesamt aber verharrt die neue oder rekonstruierte und differenzierte soziale Theorie des Designs heute genau an dem Punkt, an dem es um die Entscheidung, um das Praxis-Experiment, um faktische Wirkung gehen würde. [Selle 1973:170] Die konkrete Utopie hat ihren konkreten Charakter eingebüßt, weil sie ihren Diskurs nicht technisieren wollte, also weil sie sich nicht darüber auslassen wollte, mit Hilfe welchen Instrumentariums (Handlungen, Verfahren und Strategeme) sie den verstockt-zähflüssigen Gang der Geschichte umzulenken gedenkt. [Maldonado 1972:64] Es wurde aber festgehalten, dass es weiterhin gelte, eine »fruchtbare Verbindung zwischen kritischem Bewusstsein und Entwurfsbewusstsein« [Maldonado 1972:62] herzustellen. Heute wäre zu ergänzen: unter Einbeziehung historischer Wissensstände des Designs und im Anschluss an aktuelle Theoriebildung.

5.4.3 Radical Design als Concern Design »avant la lettre«? Gleichfalls in den 1970er Jahren entstanden Designbewegungen wie das italienische Radical Design und die britische Gruppe Archigram, die neue Aktionsformen entwickelten. Damit gelang es den jungen Architekten Einf luss zu nehmen, trotz formeller Macht- und Auftragslosigkeit. Diese Aktivitäten können bereits als Concern Design avant la lettre angesehen werden. Sie nutzen, wie von Maldonado gefordert, die Mittel des Designs für eine Verbindung von gesellschaftlicher Ref lexion und gestalterischer Intervention.52

50 Der Report an den Club of Rome »Limits of Growth« von 1973 hatte hier entscheidende Wirkung, obwohl sich mittlerweile herausgestellt hat, dass fast alle damaligen Annahmen und Hochrechnungen falsch waren, vgl. DER SPIEGEL 9/2022, 25.02.2022: o. S. 51 Beitrag des »iphiGenia Gender Design Award« beim ökoRAUSCH Festival 2020 im Museum für angewandte Kunst Köln, http://genderdesign.org/iphi-im-oekorausch 52 vgl. IDZ 1973, Branzi 1984, Stauffer 2007, C 7.4.1

5 Kritik des Social Designs

Der Beitrag des Radical Design zeigt exemplarisch genau jene Positionen, wie sie auch heute im Transformation Design entwickelt werden: Eine experimentelle Erprobung neuer Formen der Intervention (Global Tools, Superstudio, Gruppo Strum), die aber gleichzeitig der Praxis und dem Markt verbunden ist (Olivetti, B&B, Alessi). Statt lediglich die moderne Suche nach Utopien zu verlängern, sind diese Arbeiten durch eine Poesie geprägt, die die Hoffnungen der Moderne melancholisch verabschiedet. So formulierte Alessandro Mendini, einer der Vordenker der Bewegung: (…) es wird ein friedlicher Stil des unglücklichen Bewusstseins sein, der typisch ist für den Massenmenschen, der weiß, dass er die proletarische Fata Morgana nicht mehr erreichen kann. [Mendini 1981:38]

5.5 Fazit: Präferenz für das Transformation Design »Das Soziale« kann nicht als Begriff und Phänomen unproblematisch vorausgesetzt werden, wie es im Social Designs geschieht, sondern es muss – Latour folgend – als zusammengesetzt und daher als kontingent verstanden werden.53 Das Transformation Design erkennt seine Aufgabe darin, Kohäsionskräfte zu organisieren, die einen hinreichend stabilisierten Handlungs- und Sinnzusammenhang erzeugen (»Kulturelle Formate«, vgl. Teil C). Darüber hinaus gelten erkenntnistheoretische und methodische Gründe für eine Präferenz des Transformation Designs:

• Erkenntnistheoretische Gründe: Die Anregungen der ANT bieten eine neue Perspektive auf soziale Praxen, die nicht von handelnden Menschen und deren moralischen Motiven ausgeht, sondern Wirkungs- und Handlungsketten beobachtet, an denen Aktanten beteiligt sind, die als Menschen, Artefakte, Regeln und Institutionen konzipiert sein können. Wie das Beispiel Latours zeigt, werden Positionen der Ökologie, Nachhaltigkeit und Gleichberechtigung damit keineswegs infrage gestellt. Im Gegenteil: die Neuformulierung des Sozialen eröffnet neue Perspektiven auf ein erweitertes Verständnis des Politischen als Dingpolitik. Dieser Ansatz kann zu den unabweisbaren Zielen ökologischer und sozialer Erneuerung mehr beitragen als moralische Forderungen, die den Wahrnehmungshorizont begrenzen und nur fundamentalistisch zu begründen und autoritär durchzusetzen sind.

• Methodische Gründe: Transformation Design wird nur in einer transdisziplinären Ausrichtung erfolgreich sein können. Die Perspektive sollte daher nicht vorzeitig durch normative Festlegungen verengt werden. Es gilt vielmehr, offen zu bleiben für möglichst viele Schnittstellen mit anderen Kompetenzfeldern und deren Methoden. Dazu gehören neben der ANT etwa die Mind- und Methodensets von Agile und Scrum, die ursprünglich aus der Informatik und der Organisationslehre stammen, New Realism aus der Philosophie, Materielle Kultur aus den Kulturwissenschaften oder Nudging aus der Verhaltensökonomie. 53 Social Design will die Gesellschaft belehren, Transformation Design will von der Gesellschaft lernen, in Analogie zu: »Habermas will die Gesellschaft belehren, Luhmann will von der Gesellschaft lernen« [Bolz 2010:36]

93

6 Stufenmodelle des Designs

Zur Differenzierung von Anwendungsfeldern des Designs wurden Stufenmodelle vorgeschlagen. Dabei wird meist eine lineare Entwicklung der Komplexität der Designaufgaben von Objekten über Systeme und Services bis zu sozialen und gesellschaftlichen Fragestellungen angenommen. Aber auch hier wird nicht geklärt, welcher Begriff des Sozialen zugrunde liegt und wie Designkompetenzen skaliert werden sollen. Als angemessene Alternative für die Aufgaben des Transformation Designs wird der »Hyperzyklus der Transformation« vorgestellt.

6.1 Ursprung und Kritik der Stufenmodelle Richard Buchanan schlug vor, Designaktivitäten in vier Bereiche zu differenzieren: • • • •

Symbolic and visual communication Material objects Activities and organized services Complex systems or environments for living, working, playing, and learning [Buchanan 1992:9/10]

Diese Bereiche sollen jedoch nicht kongruent sein zu den Tätigkeitsfeldern von Grafik- und Produkt- bzw. Manager-Designern, und es war nicht beabsichtigt, Prioritäten oder Hierarchien anzugeben: Properly understood and used, they are also places of invention shared by all designers, places where one discovers the dimensions of design thinking by a reconsideration of problems and solutions. (…) these areas are also interconnected, with no priority given to any single one. (…) there is no reason to believe that parts and wholes must be treated in ascending rather than descending order. (…) All men and women require a liberal art of design to live well in the complexity of the framework based in signs, things, actions and thoughts. (…) The ability of designers to discover new relationships among signs, things, actions and thoughts is one indication that design is not merely a technical specialization but a new liberal art. [Buchanan 1992:10/14]

96

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Während dieses Modell kaum modifiziert als Grundlage des heutigen Transition Designs gilt, wurde eine Kritik daran schon früh formuliert. Diese galt der fragwürdigen Trennung von symbolischen und materiellen Objekten, die im Interface Design kaum Gültigkeit haben kann, ebenso wie die zwischen planender und organisierender Aktivität. Auch die Kennzeichnung des vierten Bereichs als separate »complex systems« stieß auf Widerspruch: Thus, fourth order design is not a special subject field but a way of thinking which applies to all subjects. [Jonas 1997a:2] Dabei wurde infrage gestellt, ob es sinnvoll sei, die Stufenmodelle bis zu einer n-ten Ebene zu erweitern oder ob die von Horst Rittel eingeführten Kategorien »1st and 2nd generation planning« [Rittel 2013/1972] nicht bereits eine ausreichende Differenzierung bieten, die auf die jeweiligen Problemtypen bezogen werden kann.

Tab. 2: »Design – contexts are changing« [Jonas 1997:9, in Graustufen konvertiert] Jonas stellte ein Diagramm vor (Tab. 2), das drei Entwicklungsphasen des Designs unterscheidet und diesen jeweils Kriterien zuordnet wie »Problem Type/Design Method«. In diesem Diagramm aus dem Jahre 1996 wird für die dritte Phase der Zeitrahmen »in the process of development« angegeben (Tab. 2, unterste Zeile links). Diese Phase kann heute – fast ein Vierteljahrhundert später – als erreicht gelten. Als Funktionen des Designs in dieser Phase werden genannt:

6 Stufenmodelle des Designs

increase the choice of ways of living – concept, moderation, intervention, catalysis of change – criteria: »appropriateness« – results: information, communication, services + products [Jonas 1997] Diese Funktionen entsprechen im Wesentlichen jenen des aktuellen Transformation Designs. Auch die »industrial transformation« wurde bereits in der Spalte der Beispiele genannt. Mit diesem Diagramm wird auch deutlich, dass angesichts der unterschiedlichen Problemtypen nicht sinnvoll für eine strikte Trennung in »affirmatives« und »kritisches Design« [Dunne, Raby 2001] argumentiert werden kann. Daher ergibt sich eine interessante Korrespondenz zwischen Jonas’ Diagramm von 1996 und der Concern Darstellung über 25 Jahre später (vgl. C 4.1). Um die Dynamik der Transformation zu erfassen, sind Stufenmodelle ungeeignet, weil die »1st und 2nd generation methods« auf allen Ebenen der Designaktivität je nach Problemtypus eingesetzt werden. Stufenmodelle, die an Buchanans Schema angelehnt waren, wurden jedoch weiter erstellt und prägen bis heute die Diskussion um neue Designfelder. Daher sollen sie hier kurz referiert werden.

6.2 Krippendorf: »Trajectory of Artificiality« (1997) Das von Krippendorf präsentierte Modell unterscheidet die Instanzen »Products – Goods, Services, Identities – Interfaces – Multiuser Systems/Networks – Projects – Discourse« (Abb. 10).

Abb. 10: »Trajectory of Artificiality« [Krippendorf 1997:91, Pfeile ergänzt von PFS]

97

98

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Das Schema wirft eine Vielzahl von Fragen auf: Welche Kategorien sind auf den x- und y-Achsen einzutragen – vertikal: Abstraktion, horizontal: Zeit? Welche Wechselwirkungen werden zwischen den verschiedenen Instanzen angenommen? Produkte sind nicht überwunden, wenn das Design sich auch für Diskurse zuständig macht, sondern gewinnen eventuell eine andere Position, die dann neu zu bestimmen wäre, etwa im Sinne der »Dingpolitik« Latours.

6.3 GK VanPatter und »The Other Design Thinking« (2013) Ein von GK VanPatter vorgestelltes Stufenmodell fasst »Traditional Design« (Stufe 1) und »Product/Service Design« (Stufe 2) als »Mainstream Design Thinking« zusammen. Dagegen werden das »Organizational Transformation Design« (Stufe 3) und das »Social Transformation Design« (Stufe 4) als »The Other Design Thinking« bezeichnet.1 Die Komplexität nimmt von Stufe 1 bis 4 zu, wird aber in der grafischen Darstellung lediglich als quantitativer Zuwachs konzipiert (Abb. 11).

Abb. 11: »The OTHER Design Thinking« [Pastor 2013] Der Autor stellt infrage, dass Kompetenzen und Fähigkeiten, die sich auf Stufe 2 bewähren, auf die völlig anderen Wirkungsbereiche der Stufen 3 und 4 übertragbar sein sollen: (…) tools, methods and skills geared and pre-assumed for product/service/experience creation are not a good fit within the context of highly complex fuzzy societal challenges. (…) we noted that although the popular notion of transporting the methods and tools from Design Scale 2 (products/services/experiences) to the terrains of Design Scale 3 (organizations) and Design Scale 4 (societies) might in theory sound like a good idea, it seldom works well in the complex real world. [VanPatter 2018:o.S., Hervorhebung im Original, PFS] Daher entwickelte VanPatters Agentur auf der Basis ihrer Projekterfahrungen das Konzept von »Skill-to-Scale«. Dieses stehe in diametralem Gegensatz zur Auffassung von akademischen Designkreisen, die Design als eine Art von magischem Denken 1 vgl. Kommentar zu Krippendorf und VanPatter bei Jonas [2014:15] und zum Design Thinking als »der große Bluff?« [Jonas 2012]

6 Stufenmodelle des Designs

auffassten, das unproblematisch auf Aufgaben jeder Größenordnung angewendet werden könne: Since it first appeared, Skill-to-Scale has remained a perspective that is 180 degrees different from the traditional notion, still popular in academic design circles that design is a form of magic thinking that can, in its intuitive state, be applied to any scale of challenge anywhere. [VanPatter 2018:o.S.]

6.4 Carnegie Mellon: »Design Evolution« und Curriculum (2015) An der Carnegie Mellon University wurde das Schema für eine »Design Evolution« entwickelt (Abb. 12). Dessen »Four Orders of Design« werden bezeichnet als »Symbolic & Visual Communication, Material Objects & Artifacts, Interactions & Process sowie Environments & Systems« und beziehen sich explizit auf ein Modell von Buchanan (2001), das offensichtlich weitgehend dem oben genannten Schema entspricht [Buchanan 1992].

Abb. 12: »Die vier Stufen des Design« [aus Irwin et al. 2015:4, basierend auf Buchanan 2001] Mit der Überschrift »Design’s Evolution« wird jedoch ein Hinweis auf eine zeitliche Gliederung gegeben, der als Priorisierung und Hierarchisierung verstanden werden kann, was Buchanan noch explizit ausgeschlossen hatte [vgl. 6.1]. Da jedoch keine Zeitachse angegeben wird, kann nicht geklärt werden, ob die genannten Kategorien in einer zeitlichen Abfolge stehen und aufeinander auf bauen, wie es der Begriff der Evolution erfordern würde. Soll der Systembegriff tatsächlich erst auf der letzten Stufe gefunden werden? Oder war dieser nicht immer schon wirksam, da etwa die »symbolische Kommunikation« der ersten Stufe nicht ohne andere Symbole und deren systemischem Bezug untereinander denkbar ist? Für Stufe 4 – »Environments & Systems« werden die folgenden Beispiele gegeben:

99

100

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Redesign of patient/doctor conversations, shaping of new local or regional education policy, redesign of national voting system, redesign of national tax system, design of niche transition experiments. [Irwin et al. 2015:4] Die hier genannten Experimente in den abgrenzbaren Bereichen von Gesundheitsund Erziehungssystem erscheinen plausibel als Verlängerung der »user/customer experiences« von Stufe 3. Eine Reformierung der Steuer- und Wahlsysteme jedoch ist eine ganz andere Dimension. Hier wird offensichtlich Designkompetenz für Bereiche behauptet, die politische und rechtliche Strukturierung erfordern. Wie diese Ansprüche jedoch begründet werden könnten und ob Designer von ihren Erfahrungen auf den Stufen 1 bis 3 Kompetenzen ableiten wollen, wird nicht deutlich. Der vorgetragene umfassende Gestaltungswille übernimmt lediglich unkritisch die tradierten Begriffe des Sozialen und Gesellschaftlichen und verpasst damit die Gelegenheit gestaltungsspezifischer Ref lexion und Intervention. Hier zeigt sich, dass die ANT mit ihren Begriffen der »Dingpolitik« [RpDp] und der »material participation« [Marres 2012] eine grundlegende Neuorientierung anbieten kann.

6.5 Operationalisierbarkeit der Modelle Bei Buchanans erstem Stufenmodell wurde die Frage nach einer Operationalisierbarkeit noch abschlägig beantwortet. Hier sollte es nur darum gehen, verschiedene Arbeitsbereiche zu benennen, nicht aber diese mit der Zuordnung von Designgewerken zu versehen. Krippendorf bleibt in dieser Frage unbestimmt, während bei Carnegie Mellons Modell Schlüsse für den Entwurf eines Curriculums abgeleitet wurden. GK VanPatter dagegen versteht sein Schema explizit als Prozessmodell, wobei Design als Wissensgebiet verschiedenen Stufen gleichzeitig zugeordnet werden soll: The NextD framework of D1, D2, D3 is in essence a complexity scale. It is a post-discipline view that is process, not content focused. As a field of knowledge design is an amorphous time warp that exists across several time zones or paradigms simultaneously.2 Mit dieser (Nicht-)Verortung wird die Diskussion in einen pragmatischen Kontext gestellt, der dem Design entspricht, denn Designer sind an der Erreichung von Zielen durch operationalisierbare Modelle interessiert.

6.6 Bewertung der Stufenmodelle: Fortschritt oder Kreislauf? Die vorgestellten Modelle versuchen, die Kompetenz- und Tätigkeitsfelder des Designs in unterschiedlichen Kategorien zu erfassen. Die Modelle legen darüber hinaus aber implizit nahe, die historische Entwicklung als Fortschrittserzählung zu lesen. Dies wird deutlich, wenn der Zeitverlauf durch einen Pfeil visualisiert wird [Krippendorf 1997:91], die verschiedenen Stufen als 1.0 bis 4.0 bezeichnet werden wie bei der

2 https://www.humantific.com/wp-content/uploads/2009/03/NextD_Design_4.0.pdf

6 Stufenmodelle des Designs

Softwareentwicklung [Pastor 2013] oder explizit von »Design’s Evolution« gesprochen wird [Irwin et al. 2015:4]. Doch ist eine solche Fortschrittserzählung für das Design angemessen? Auf welcher historischen Stufe sollten sich Gestalter ausschließlich für die formal-ästhetischen Aspekte von Artefakten interessiert haben? Trifft es zu, dass die Dimensionen des Gebrauchs, der Interaktion, der systemischen Vernetzung und der gesellschaftlichen Wirksamkeit erst auf den folgenden Entwicklungsstufen in den Blick kommen? War es nicht genau umgekehrt so, dass programmatische Designbewegungen wie etwa Arts and Crafts, Bauhaus, Black Mountain College, HfG Ulm und das italienische Radial Design immer eine soziale Erneuerung forderten und diese jeweils mit den Mitteln ihrer Zeit befördern wollten? Unbestritten ist, dass in der historischen Entwicklung des Designs unterschiedliche Aspekte Konjunktur hatten. Doch eine lineare Entwicklung anzunehmen, erscheint als ein Fehler in der verkürzenden Perspektive des Rückblicks. Der Unterstellung von Fortschritt wurde bereits deutlich widersprochen: Es gibt keinen Fortschritt im Design. [Jonas 2010:80] Es erscheint daher als notwendig, die Stufenmodelle zu verlassen und nach anderen Modellen zu suchen. Dabei sollte beachtet werden, dass das Design nie unmittelbar selbst wirksam wird, sondern sich stets mit den Kräften von Material, Technik, Wirtschaft und Medien verbinden muss. Hier sind koevolutionäre Innovationszyklen wirksam, die erst gemeinsam transformative Wirkung entfalten.3 Um diese angemessen darzustellen, wurde der »Hyperzyklus der Transformation« entwickelt.

3 vgl. »Transformationen als koevolutionärer Prozess (…)«, https://www.polsoz.fu-berlin.de/polwiss/forschung/grundlagen/ffn/aktuell/Tranformationen-als-ko-evolutionaerer-Prozess.html

101

7 Von den Stufenmodellen zum »Hyperzyklus der Transformation«

Die referierte Diskussion zeigt, dass die bisherigen Stufenmodelle kaum überzeugen können. Neben der teils fragwürdigen Systematik geben die Schemata mit ihren vertikal oder horizontal angeordneten Ebenen ungewollt Tendenzen vor: • Eine vertikale Anordnung impliziert, dass die Ebenen von Produkt und System/ Organisation weit voneinander entfernt liegen und erst durch die anderen Ebenen vermittelt werden müssen • Eine horizontale Anordnung wird dagegen leicht als Zeitleiste missverstanden und die für das Design essenzielle Entwurfs- und Entwicklungsdynamik wird nicht gezeigt Um das Transformation Design angemessen zu verorten, wird nach neuen Modellierungen gesucht, die einen Bezug der Designfelder auf Transformation darstellen und im Entwurfsprozess operativ wirksam werden können. Dafür gilt es, auf nicht hierarchische, zyklische Modelle umzustellen.

7.1

Erweitertes Stufenmodell

Um an die Diskussion anzuschließen, soll jedoch zunächst der Ansatz der Stufenmodelle aufgenommen und durch folgende Aspekte ergänzt werden (Abb. 13): • Eine neue Ebene der physischen und biologischen (Meta-)Materialien wird eingeführt als Ergänzung zu den vorhandenen Ebenen von Produkt/Grafik, Interaktion/Prozess und Organisation/System • Transformation wird als Teilgebiet des strategischen Designs aufgefasst, das alle Handlungsfelder umspannt und auf Ziele ausrichtet. Diese können aus gesellschaftlichen und/oder unternehmerischen Überlegungen hervorgehen • Das Stufenmodell wird in das Management-Schema des »Golden Circle« [Sinek 2011] eingepasst, das durch die Fragen nach dem Warum, Was und Wie gegliedert ist • Auf den verschiedenen Ebenen wurden Fragen integriert: »Was fehlt? Was wird nicht kommuniziert? Wer macht nicht mit?« [Baecker 1999] und »How does it look? What does it mean? How does it work between us?« [Oosterling 2009]

104

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 13: »The Four Stages of Design« mit Fragen des »Golden Cycle« [Sinek 2017, Konzept: PFS, Grafik: Hyttrek]

7.2 Der Hyperzyklus der Transformation Die bisherigen Instanzen der Stufenmodelle wie Produkt, Symbol, Interaktion und Organisation sowie ergänzend (Meta-)Material erscheinen weiter als gerechtfertigt durch ihre jeweils unterschiedliche Entwicklungsdynamik. Entscheidend ist aber, dass diese Dynamiken in Wechselwirkungen verbunden sind, die als Hyperzyklus modelliert werden können. Das Modell des Hyperzyklus’ ist aus der Biologie entlehnt und soll die wechselseitige Beeinf lussung unterschiedlicher Größen zeigen, die sich zu einer Gesamtwirkung verbinden.1 Im Design wurde es bereits frühzeitig eingeführt und später zu einem Modell für die Entwurfsdynamik ausgebaut.2 Dabei werden die Wirkungszusammenhänge von punktuellen Interventionen und systemischem Wandel deutlich. In der Dynamik eines solchen Hyperzyklus’ sind schließlich die sozialen und gesellschaftlichen Transformationen zu verorten (Abb. 14).

1  vgl. Eigen, Winkler 1975 2 Das Modell sollte zunächst die Rolle des Design zeigen als »Partnerdisziplin in Innovationsbündnissen« [Jonas 1994:265, 269]. Später wurde das Modell für die Entwurfstätigkeit operationalisiert mit den Mikrozyklen »Analyse, Projektion, Synthese und Realisation« und dem Makrozyklus »Analyse, Projektion, Synthese« [Jonas 2007:1374]. Der Hyperzyklus der Transformation soll jedoch über die Entwurfstätigkeit hinausgehen und die dynamischen Wechselwirkungen unterschiedlicher Innovationsfelder zeigen, vgl. C 3.3.4.

7 Von den Stufenmodellen zum »Hyperzyklus der Transformation«

Abb. 14: Der Hyperzyklus der Transformation [Konzept: PFS, Grafik: Hyttrek] Mit einer solchen Definition und Verortung der Transformation im Hyperzyklus entfällt jede Vorstellung eines linearen Fortschritts und wird ersetzt durch Turbulenzen, die zwar auf verschiedene Inputs reagieren, aber als komplexes soziotechnisches System immer evolutionären Unwägbarkeiten unterliegen und allenfalls in Ausschnitten vorhersagbares Verhalten zeigen. Verfahren der Intervention, wie sie das Design und andere Innovationsmethoden konzipieren, sind daher auf kleine Schritte und inkrementelle Verfahren angewiesen.3

3 Der Hyperzyklus wird im Netz zur Erprobung angeboten, https://designingtransformation.org/the-hypercycle-of-transformation. Erfahrungen mit diesem Modell werden aktuell in Projekten gesammelt.

105

106

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

7.3 Erprobung des Hyperzyklus’ Am Modell des Hyperzyklus’ kann die Wirkungsweise von Interventionen durchgespielt werden, um die besten Einstiegspunkte zur Auslösung von Transformationen zu finden.4 Die Instanzen Produkt, Symbol, Interaktion, Organisation wurden aus den bisherigen Stufenmodellen übernommen und ergänzt durch den neuen des Bereich MetaMaterials (Gene, Nano). Selbstverständlich sind weitere Instanzen denkbar.5 Das Modell legt nahe, dass hier keine einfachen Kausalitäten sondern komplexe Wechselwirkungen zwischen den Instanzen zu erwarten sind. In das Modell sind nicht nur Designleistungen einzutragen, sondern ebenso weitere Aspekte, die zu den oben genannten »Innovationsbündnissen« beitragen. Darüber hinaus können mit dem Hyperzyklus rückblickend Transformationen analysiert werden. So kann die Entwicklungsdynamik von soziotechnischen System genauer analysiert werden, ähnlich wie es Latour in seinem Kurs »scientific humanities« unternahm [vgl. B 5.5.]. Bahnbrechende technische Erfindungen wie Druckerpresse, Dampfmaschine, Rundfunk, Zeitung, Automobil, Telegraf, Telefon, Elektrizität und Computer sind in ihrer Genese und in ihren Wirkungen vielfach untersucht worden. Dabei zeigte sich, dass viele Effekte dieser Neuerungen weder beabsichtigt noch voraussehbar waren.6 Ähnlich verhält es sich mit soziologischen Untersuchungen, die komplexen Situationen ex post mehr Ordnung und Zielgerichtetheit zuschreiben, als für die Beteiligten tatsächlich zu erkennen war.7 Es gilt daher, stärker als bisher die Rolle von Zufall und Co-Evolution anzuerkennen und die vermeintlich exakten Methoden der Wissenschaften und Technik kritisch zu hinterfragen. Dies sollte Auswirkungen auf das Verständnis und die Wahl von Methoden haben und bestätigt die Funktionen des Designs vor allem in den wenig konturierten Feldern der Transformation.8 4 Damit steht der Hyperzyklus im Kontext anderer systemischer und historischer Modelle wie etwa der »Sensitivitätsanalyse« [Vester 1978] oder der Kondratiev-Zyklen, https://www.wikiwand.com/de/Kondratjew-Zyklus. 5 Es wäre zu prüfen, wie etwa die Entwicklung der »Künstlichen Intelligenz«, die als Innovationstreiber in vielen Gebieten gilt, zu positionieren ist. Vielleicht zunächst als ein digitales Verfahren, das in verschiedenen Instanzen wirksam wird, dann als eine eigenständige neue Instanz und später möglicherweise als eine Grundierung des gesamten Feldes? 6 Bruno Latour belegt dies für die medizinische Forschung, indem er Louis Pasteurs Erfindung des Penicillins aus einer Mikroperspektive beschreibt, vgl. Latour 1988/1984, B 8.6.1. Auch Hans-Jörg Rheinberger belegt, dass die Beschreibungen wissenschaftlicher Experimente erst im Rückblick eine teleologische Ordnung erhalten, während eine streng empirische Analyse ungeordnete und zufällige Prozesse anerkennen muss, vgl. Rheinberger 1992. 7 John Law forderte daher, den nicht nur beschreibenden, sondern auch erzeugenden Charakter soziologischer Methoden zu erkennen und mehr Unordnung zuzulassen, vgl. Law 2004: »After Method«. 8 Entsprechend werden im Design Autoren geschätzt, die methodischen Öffnungen fordern: Paul Feyerabend hatte in »Against Method« bereits in den 1970er Jahren eine Verengung der Methoden beklagt und in der Folge eine radikale Öffnung verlangt: »Science is an essentially anarchic enterprise: theoretical anarchism is more humanitarian and more likely to encourage progress than its law-and-order alternatives.« [Feyerabend 1975:9] vgl. Charles E. Lindblom 1959: »The science of ›Muddling Through‹« in: Public Administration Review 19, S. 79-88 sowie ders. 1979: »Still muddling, not yet through« in: Public Administration Review 39, S. 517-526.

7 Von den Stufenmodellen zum »Hyperzyklus der Transformation«

7.4 Transformation und strategisches Design: Warum, was, wie? Transformation Design wird nicht als eine neue Designrichtung aufgefasst, sondern als ein Teilbereich des bereits eingeführten strategischen Designs. Dieses stellt sich Fragen nach dem Warum, Was und Wie.9

WARUM? Die Warum-Frage zielt auf Ontologien, Narrative und Ziele, nach denen jede Organisation implizit oder explizit funktioniert: Wie sehe ich die Welt und was ist meine Aufgabe darin? Mögliche Sinnkonstruktionen unterliegen der individuellen wie sozialen Formgebung. Angesichts offener evolutionärer Horizonte sollten die Ziele des Transformation Designs weniger in Großformen formuliert werden, sondern sich in überschaubaren Wirkungszyklen bewegen. Über den Erfolg oder Nichterfolg von Transformationen ist schließlich anhand von Referenzsystemen zu befinden, die ihrerseits keine überzeitliche Geltung beanspruchen können und der eigenen Transformation nicht entgehen. Der »vorsichtige Prometheus« [Prom_dt] wird daher von empirischen Beobachtungen ausgehen müssen, von denen auf die hervorbringenden Prozesse und in der Folge auf Absichten und Werte geschlossen wird. Die Einstiegsfrage des Transformation Designs lautet daher: Was kann beobachtet werden? Diese Frage lässt sich wie folgt differenzieren: • • • •

Auf welche Formen sozialer Realität und materieller Artefakte wird fokussiert? Welche Wechselwirkungen und Kausalitäten werden angenommen? Wo werden Ansatzpunkte für Umgestaltungen erkannt? Wie gehen diese in die Dynamik der Transformation ein?

Beispiele: Wie verändern sich die Vorstellungen von Arbeit und Familie? Was wird unter Privatheit, Sicherheit oder Gesundheit verstanden? Wie kann der Umgang mit Mobilität, Energie und Information neu ausgerichtet werden? Das Concern Design beantwortet die Warum-Frage mit »Concerns«. In der Analyse-Phase des Entwurfsprozesses wird für die Beschreibung und Verortung von Concerns die »Concern Canvas« genutzt (vgl. C 5.1).

WIE? Die Wie-Frage der Transformation ist noch kaum geklärt. Die Wechselwirkungen verschiedener Instanzen können allenfalls näherungsweise beschrieben, aber kaum vorausgesagt werden. Neue Formen der Beobachtung und Beschreibung sind zu entwickeln, die bisher übersehene und unterrepräsentierte Aspekte berücksichtigen. Genau hier können die Erkenntnisse der Akteur-Netzwerk-Theorie weiterhelfen, denn ihre Perspektive der Mikrodynamik von vielfältig verbundenen Aktanten fragt genau nach jenen Handlungsketten, die Transformationen hervorbringen.10 Im Einzelnen: • Welche Agency kann beobachtet werden? Welche Aktanten sind beteiligt? 9 vgl. das Konzept des »Golden Circle« [Sinek 2011] 10 vgl. »Which protocol for the new collective experiments?« [Latour 2001b]

107

108

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

• Wie sind die Mittler in Handlungsketten verbunden? Gibt es beobachtbare Muster etwa von Innovation und Kopie, Überkreuzung und Widerstand, Stabilisierung und Destabilisierung? • Wie ändern sich die Konstellationen durch das Einbringen neuer Instanzen? Das Concern Design beantwortet die WIE-Frage mit »Kulturellen Formaten«. In der Synthese-Phase des Entwurfsprozesses wird für die Gestaltung neuer Formate das entsprechende Schema genutzt (vgl. C 5.3).

WAS? Die WAS-Frage zielt auf die Arbeitsfelder der Gestaltung. Diese werden in den Bereichen Material, Produkt, Symbol, Interaktion und Organisation gefunden. Der Hyperzyklus der Transformation verbindet diese Dimensionen, statt sie wie im Stufenmodell als getrennte Ebenen zu behandeln. Die Gestaltungsräume für kulturelle Formate werden gerade in den bisherigen Lücken zwischen den Bereichen wie etwa Material und sozialer Organisation gefunden. Das Concern Design beantwortet die WAS-Frage mit dem »Hyperzyklus der Transformation«. Dieser wird in der Projektions-Phase des Entwurfsprozesses für die Bestimmung der Entwicklungsdynamik genutzt. Mit dieser Bestimmung der WARUM-, WIE- und WAS-Fragen kann das Transformation Design neue Sichtweisen, Gebrauchs- und Umgangsformen ermöglichen – ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie in ihrem Verständnis als Methode: Follow the Actors!

7.5 Die Instanzen des Hyperzyklus’ Im Folgenden werden die im Hyperzyklus genannten Instanzen in tabellarischen Übersichten beschrieben, der Kontext der Gesamtdynamik ermittelt und der Bezug zur Akteur-Netzwerk-Theorie angegeben.11

7.5.1 (Meta-)Material Die Verfügbarkeit von Material und Verfahren ist für viele gesellschaftliche Transformationen entscheidend, wie schon durch die Benennung von Kulturepochen als Eisenoder Bronzezeit abzulesen ist. Auch die vermeintlich immaterielle Digitalisierung braucht Material wie Sand/Silizium und Coltan, ebenso wie Lithium für Batterien. Innovationen wie Sprengpulver, Papier, Porzellan, Holzkohle, Talg und Tinte, Kunststoffe und Penicillin gingen aus Experimenten und Zufällen hervor.12 Mit dem Auf kommen von Nanotechnik und Molekularbiologie in Verbindung mit digitalen Methoden entstehen völlig neue Möglichkeiten für die Materialforschung und die Gestaltung von Material auf der Ebene von Atomen, Zellen und Genen. 11 Zusätzlich werden Fragen aufgenommen, die von Dirk Baecker und Henk Oosterling formuliert wurden, vgl. Baecker 1999, Oosterling 2009. 12 Die historische Entwicklung der Pasteurisierung wurde von Latour eingehend untersucht und hat viele Einsichten der ANT befördert [Latour 1988].

7 Von den Stufenmodellen zum »Hyperzyklus der Transformation«

Kriterien des Material-Designs Fragen Ziel Beispiel Arbeitsfelder Bezug zur ANT

Welche Materialien können wir konstruieren/wachsen lassen? Neues Material für neue Zwecke Nano-Lack, Karbon, »Bio-Bricks«, »Bits and Atoms« [Ishi 1997] Haut aus dem 3D-Drucker, Gen-Design Materialforschung, Mikrobiologie Wie wird die Natur/Kultur Grenze verschoben, aufgelöst, bearbeitet?

7.5.2 Produkt Die Entwicklungen von Material und Produkt sind eng verbunden. Die Umstellung von Bakelit auf Kunststoff ermöglichte neue Formen, ebenso wie das Bugholz im Möbelbau (Thonet), Stahl in der Waffenindustrie und Beton im Bau. Unkenntnis und Ignoranz führten zu gefährlichen Produkten wie bleihaltiger Farbe und Asbest. Eine Dingpolitik muss den gesamten Lebenszyklus von Produkten im Blick haben (cradle to cradle).13 Dazu gehören der Ressourcenverbrauch und das Recycling sowie die Beurteilung gesellschaftlicher Funktionen (Schaden/Nutzen). Produkte formatieren die kulturelle Praxis, indem sie Handlungsmöglichkeiten eröffnen und verschließen. Sie sind aber auch selbst das Ergebnis kultureller Praxis.

Kriterien des Produkt-Designs Fragen Ziel Beispiel Arbeitsfelder Bezug zur ANT

Welche Produkte ermöglichen neue kulturelle Formate? »Was fehlt?« [Baecker 1999:352] gebrauchs-, material- und fertigungsgerecht Tisch, Teller, Kleidung, Werkzeug Gewerbe, Wirtschaft, Ergonomie Welche Agency entfalten die Produkte in Handlungsketten?

7.5.3 Symbolische Kommunikation Die Entwicklungsschritte der symbolischen Kommunikation brachten wesentliche Transformationen hervor. Daher wird das Symbol hier als eigenständige Instanz aufgenommen.14 Neben dem Buchdruck sind es vor allem technische Zeichnungen und Karten, die es ermöglichen, Wissen über Zeit und Raum zu transportieren und zu erhalten. In diesen »immutable mobiles« (unveränderliche, mobile Dinge) sieht Latour die großen Zivilisationsleistungen wie Schifffahrt, Bauten, Handel und Militär begründet und fordert ebensolche Mittel für die nächsten Aufgaben einer Designevolution [vgl. B 3.3.5]. 13 vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Cradle_to_Cradle:_Remaking_the_Way_We_Make_Things 14 Bei Jonas’ Kommentar zu den Stufenmodellen wird die Trennung von Symbol und Objekt zwar kritisiert und mit der Integration von Produkt und Symbol in der Praxis des Interface Designs begründet [Jonas 1997a]. Im Hinblick auf Concerns jedoch lassen sich Symbole nicht auf ihre Funktionen in Interfaces reduzieren. Hier ist etwa an religiöse und politische Symbole zu denken, die für Concerns zentrale Bedeutung haben, ebenso wie weniger formelle Zeichenwelten zur Abgrenzung von (Sub-) Kulturen.

109

110

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die symbolische Kommunikation zwischen Menschen hängt stark von den verfügbaren technischen Medien ab, die wiederum von neuen Materialien und Verfahren getrieben wird. So bot etwa die Umstellung von Röhren- auf Transistortechnik neue Möglichkeiten der Miniaturisierung und Mobilität von Geräten, eine Entwicklung, die sich bis zum heutigen Smartphone fortsetzt [vgl. Weber 2008].

Kriterien des Kommunikations-Designs Fragen Ziel Beispiel Arbeitsfelder Bezug zur ANT

Was wird als Kommunikation selektiert, verstanden und angenommen? »Was ist nicht wichtig?« [vgl. Baecker 1999:375] Kommunikation herstellen, verstehen, verbindlich machen Grafik, Typografie, Layout Sprache, Zeichensysteme, Kognition Welche »immutable mobiles« werden erstellt und genutzt?

7.5.4 Interaktion Menschen interagieren mit ihrer Umwelt vor allem über Werkzeuge und mit anderen Menschen vor allem symbolisch über Sprache und Medien. Digitale Medien ermöglichen neue Interaktionsformen und erweitern das Spektrum von Manipulation, (In-) Transparenz und Kontrolle. Durch die Verbindung digitaler Medien mit physischem Material entstehen neue Interaktionsformen.

Kriterien des Interface-/Interaktions-Designs Fragen Ziel Beispiel Arbeitsfelder Bezug zur ANT

Wer steuert wen? Wer kann sich entziehen? »Wer macht nicht mit?« [Baecker 1999:365] »How does it work between us?« [Oosterling 2009:2/3] Mensch-Maschine und Mensch-Maschine-Mensch Kommunikation Robotik, Prothetik, social media Körper, Kognition Projekt »Mapping Controversies«

7.5.5 Organisation Für Organisationen ist der Umgang mit Routinen entscheidend. Diese begründen eine Effizienz des Handelns und die Sicherheit bei Entscheidungen.15 Organisationen müssen sich aber im Wettbewerb ständig weiterentwickeln und daher klären, welche Routinen aufgegeben und durch neue ersetzt werden. Die paradoxe Aufgabe des Innovationsmanagements lautet daher, Routinen für den Umgang mit Innovationen zu entwickeln. Kann sich die Organisation noch selbst überraschen? Wie ist das Außenverhältnis zu gestalten, sodass Innovationen bemerkt und aufgenommen werden können, ohne die Organisation zu destabilisieren?

15 vgl. »Legitimation durch Verfahren« [Luhmann 1977]

7 Von den Stufenmodellen zum »Hyperzyklus der Transformation«

Im Digitalen hat sich die Frage nach Organisationen wesentlich gewandelt und erweitert. Neben den formellen und rechtlichen Bezügen von Organisationen werden informelle Bezüge wirksam, die über digitale Plattformen vermittelt und organisiert werden als »digital transformation«: Beispiele dafür sind Shopping, Information/Entertainment, Arbeit (»employer branding«), Mobilität, Gesundheit und Energie.16 Die technische Entwicklung ist dabei so dynamisch, dass sich ständig neue Fragen stellen etwa in Bezug auf Recht, Ethik und Sicherheit, die auf völlig neue Gebiete führen wie etwa bei der Blockchain-Technologie und der Künstlichen Intelligenz [vgl. Stephan 2009].

Die Kriterien des Organisations-Designs Fragen Beispiel Ziel Arbeitsfelder Bezug zur ANT

Welche Routinen bestimmen die Organisation? Wie erneuert sie sich? »Was wird nicht entschieden?« [Baecker 1999:357] Home-Office, verteiltes Arbeiten, smart contracts, distributed ledger sinnvolle, effiziente, transparente, vertrauenswürdige soziale Bezüge Management Welche neuen Handlungsketten ermöglicht die digitale Transformation?

7.6 Fazit Der Hyperzyklus der Transformation überwindet die traditionellen Stufenmodelle des Designs. Er bietet eine Grundlage und Orientierung für neue Fragen des Designs in Bezug auf Transformation. Der Hyperzyklus kann sowohl in der Projektions-Phase des Entwurfs eingesetzt werden (Was passiert, wenn… Antizipation der Wirkung von Interventionen), als auch in der Analyse-Phase (Wie kam diese soziotechnische Entwicklung zustande?). Da sich das Design immer in bestehende Entwicklungszyklen einschreibt (Design ist Re-Design), sind beide Funktionen aufeinander bezogen und finden im Hyperzyklus eine gemeinsame Darstellungsform.

16  vgl. die Studie »Schlüsselfaktoren der Digitalisierung«, www.schluesselfaktoren.de

111

8 Geschichtliche Betrachtung: Exemplarische »Helden« des Designs und ihre Ehrung durch Kritik

Die oben genannten neuen Fragen des Designs betreffen auch jene Wissensbestände der Designgeschichte, die bisher als gesichert galten. So werden im Social Design weiterhin die Positionen früher Vordenker wie Victor Papanek, Buckminster Fuller und Herbert A. Simon als maßgeblich empfohlen.1 Aus Sicht des durch die ANT informierten Concern Designs erscheinen diese jedoch teilweise als fragwürdig. Eine Erneuerung des Designs sollte sich daher nicht scheuen, seine eminenten Ahnen durch Kritik zu ehren. So können deren Arbeiten für die aktuelle Diskussion fruchtbar gemacht werden, statt sie zu musealisieren.

8.1 Victor Papanek Victor Papanek, der bis heute als eine Inspiration für das Social Design genannt wird, forderte in den 1960er Jahren ein »Design for the Real World« [Papanek 1971/1963]. Die Funktionen des Designs wurden unterteilt in den Dienst für eine Scheinwelt der Werbung und des Konsums einerseits und eine Welt der realen Bedürfnisse andererseits. Diese scheinbar evidente und bis heute oft wiederholte Formel erfährt jedoch mittlerweile Widerspruch. So erscheint dem kolumbianischen Anthropologen Arturo Escobar jedes einzelne Wort dieser Formel als fragwürdig: But which »World«? What »Design«? What »Real«? [Escobar 2017:23] Auch aus feministischer Perspektive wurde gefragt: Whose »real world«? [Neidhardt, Ober 2019]2 Mit diesen Fragen ist eine wesentliche Verschiebung der Perspektive und der Funktionen des Designs verbunden: »Design for the Real World« ging davon aus, dass eine reale Welt unproblematisch vorausgesetzt werden kann,in der das Design dazu bei1 vgl. exemplarisch Fineder, Geisler 2010, 2011; Clarke 2013; Pfeffer 2014 2 https://depatriarchisedesign.com/2019/03/17/depatriarchise-design-lab-whose-real-world-papanekand-the-politics-of-display/

114

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

trägt, Probleme zu lösen und Bedürfnisse zu befriedigen. Wird jedoch gefragt, wie diese Realität bestimmt wird, zeigt sich, dass deren Konstruktion schon eine erste Designleistung ist. Escobar spricht daher vom »making and unmaking of the third world« [Escobar 1995].3 Papaneks Konzept wurde bereits vor 50 Jahren kritisiert. So bemerkte Gui Bonsiepe zu Papaneks Forderung nach gestalterischer Entwicklungshilfe, sein Ansatz sei (…) durchtränkt von der Ideologie vom einfachen Wilden, der mit der eigens für ihn in der Metropole entwickelten Simpeltechnologie abgespeist wird.4 Der Architekt und Architekturtheoretiker Claude Schnaidt urteilte: Die Lektion ist unzweideutig: Baut keine Kraftwerke, die die Umwelt verschmutzen, denn ihr könnt Euch doch mit Gepäckträgern fürs Fahrrad behelfen. Es ist viel leichter für Euch, Eure Häuser mit dem Verpackungsmaterial unserer Lieferungen zu bauen, Ihr braucht Euch nicht mit Zementfabriken zu vergiften. Ihr könnt Euch darauf verlassen, wir helfen Euch so zu bleiben, wie ihr seid. [Schnaidt 1982:23] Auch Papaneks in den 1960er Jahren angekündigte »Designrevolution« wurde schon frühzeitig kritisiert: Was Papanek als Idealschule, als Prototyp für die Zukunft angibt, ist nichts anderes als (…) eine Rückkehr zum pädagogischen Pragmatismus orthodoxer Prägung mit allen seinen bekannten Fehlern, seinem hemdsärmeligen Realismus, dem Konformismus in der Aktion, dem Fetischismus der Kreativität, der Parzellierung der Erfahrung und der Missachtung der Lehrinhalte. [Schnaidt 1982:24] Selbst wenn zugestanden wird, dass sich das aktuelle Social Design seit Papaneks Ansätzen weiterentwickelt hat, blieben doch grundsätzliche Vorbehalte gegen Papaneks Position bestehen, die heute ebenso kritisch gesehen werden müssen wie schon vor Jahrzehnten.

8.2 Buckminster Fuller Auch Buckminster Fuller wird bis heute als Bezugspunkt für das Social Design genannt, und seine Forderung nach einem generalistischen Profil hat auch heute noch Bestand:

3 Damit ist eine Verbindung zu Latours »weltbildende(n) Aktivitäten« [RA:561] gegeben, denen er durch die ANT auf die Spur kommen will. Escobar erwähnt Latour aber nur peripher in einer frühen Arbeit [vgl. Escobar 1995] und stellt keinen Bezug her zu Goodmans »Ways of Worldmaking« [Goodman 1990/1978]. 4 Gui Bonsiepe in Form 61, 1973, S. 13-16, zitiert nach Geiger 2016:65

8 Geschichtliche Betrachtung

We need the philosopher-scientist-artist – the comprehensivist, not merely more deluxe-quality technicians-mechanics. [Fuller 2001:14]5 Fullers »Comprehensive Design Science Revolution« beschäftigt das Design bis heute, auch wenn deren technokratischer Charakter schon früh kritisiert wurde.6 Auch auf die Widersprüchlichkeit von Fullers Position wurde bereits zeitgenössisch hingewiesen.7 Es scheint aber gerade diese unwahrscheinliche Mischung der Quellen zu sein, die den Reiz von Fullers Thesen ausmacht. Wenn Fuller allerdings bis heute noch als Anreger gelten soll, so wird es Zeit, seine Positionen kritisch weiterzuentwickeln, statt sie nur andächtig zu wiederholen.8 Zunächst fällt auf, dass die Metaphern nicht stimmen: Fullers notorisch gewordene Begriffe vom »Spaceship Earth« [Fuller 1973/1969] und »Trim Tab« [Fuller 1972]9 erscheinen heute als zu mechanistisch, da sie von einer »top-down« organisierten Führung ausgehen und implizit ein »one-world« Modell unterstellen. Mit der vermissten »Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde« wird ein eindeutiger Systemzweck unterstellt, der bei einem Raumschiff etwa in dem Erreichen eines Ziels besteht. Ein solcher Zweck ist aber bei der Erde nicht gegeben. Die Aussage »We are all crew« in Bezug auf das Raumschiff Erde soll die Zuständigkeit und kritische Funktion eines jeden einzelnen Menschen betonen. Auf einem (Raum-)Schiff ist aber gerade die Zuordnung von Funktionen entscheidend: Für den gemeinsamen Erfolg sind aufgeteilte Handlungsfelder und Verantwortlichkeiten zwischen Kapitän, Offizieren, Mannschaft und Passagieren entscheidend, ebenso wie die Beziehungen zu den im Hintergrund tätigen Planern und Finanziers. Der Erfolg besteht hier im Erreichen vorgegebener Ziele, während er beim »Raumschiff Erde« nur im Überleben liegen kann, über dessen Ausgestaltung die Meinungen und Ambitionen naturgemäß weit auseinandergehen.

5 vgl. »Handwerk und Mundwerk« [Janich 2015] und »Denken, das aus dem Machen kommt« [Aicher 1991c] 6 »Die Planung wäre dazu berufen, die Politik zu ersetzen, sie abzulösen und aus der Geschichte zu befördern (…). Man darf sich nicht daran stoßen, dass der Autor die ›Revolution durch Planung‹ ausschließlich als Akt der technischen Fantasie begreift – eine typische Haltung des technokratischen Utopismus.« [Maldonado 1972:34] 7 »Trotz unauflösbarer Widersprüche seiner Designphilosophie, in der krudes Technokratentum mit libertärem Anarchismus vermählt wird, in der Imperiallogistik und christlicher Pazifismus verschmolzen und Fordismus mit Naturmystik durch Kreuzung unter einen Hut gebracht werden, trotz solcher Widersprüche ist Fuller zu einer Autorität der antiautoritären Studentenbewegung geworden.« [Krausse 1973:186] 8 vgl. Pfeffer 2014:32 9 »Something hit me very hard once, thinking about what one little man could do. Think of the Queen Elizabeth — the whole ship goes by and then comes the rudder. And there’s a tiny thing at the edge of the rudder called a trim tab. It’s a miniature rudder. Just moving the little trim tab builds a low pressure that pulls the rudder around. Takes almost no effort at all. So I said that the little individual can be a trim tab. Society thinks it’s going right by you, that it’s left you altogether. But if you’re doing dynamic things mentally, the fact is that you can just put your foot out like that and the whole big ship of state is going to go. So I said, ›Call me Trim Tab‹.« [Fuller 1972] Fullers Motto »Call me Trim Tab« wurde auch zu seiner Grabsteininschrift und später zum T-Shirt Slogan, https://marketplace.bfi.org/products/call-me-trimtab-short-sleeve-unisex-t-shirt-1

115

116

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die Metapher vom »Trim Tab« behauptet, dass ein Einzelner mit wenig Mühe das große »Staats-Schiff« umsteuern kann, wenn er nur das richtige Momentum nutzt. Mit diesem Vergleich sollen vermeintlich ohnmächtige Einzelne nach US-amerikanischer Art zur Tat ermutigt werden. Er ist aber nicht zu Ende gedacht: Wenn sich viele Einzelne als »Trim Tab« verstehen und steuernd eingreifen wollen, wird es Konf likte über den Kurs geben, die exakt jenen auf der Kommandobrücke entsprechen. Auch der propagierte spontane Individualismus führt also nicht weiter, und es kommt doch auf die Frage einer kritischen Masse und ihrer Organisationsformen an, deren Verfahren Regeln unterliegen müssen, um nicht in Unsteuerbarkeit zu enden. Auch Fullers Slogan »Make the world work for 100 % of humanity (…)«10 sieht »Welt« nur als eine quantitative Größe, die sozial-kybernetisch zu einem eindeutig bestimmbaren Optimum geführt werden soll. Die Forderung, 100 Prozent der Ressourcen für 100 Prozent der Menschheit einzusetzen, erscheint zunächst als plausibel und wurde bisher kaum hinterfragt. Fullers »Inventory of World Resources«11 zählt aber nur bekannte Rohstoffvorkommen auf, sodass der Eindruck entsteht, es sei lediglich ein Verteilungsproblem zu lösen. Die Erkundung und Erschließung der Vorkommen jedoch, die Wissen und Investitionen erfordern, werden nicht erwähnt. Es setzt Wissen voraus, um etwa im Sand eine Ressource für die Herstellung von Beton, Glas und Silizium zu erkennen12, ebenso wie später im Lithium der Rohstoff für Batterien gefunden wurde und im Wasserstoff eine Energiequelle für die Mobilität. Die Frage der Ressourcen ist daher nur teilweise ein Verteilungsproblem, zum anderen Teil aber eine Aufgabe von wissenschaftlicher Forschung, wirtschaftlichen Fähigkeiten und politischem Willen.13 Durch Fullers Kurzschluss der Begriffe Revolution und Planung fallen technische und soziale Utopien in eins. Die Verhandlung von Interessen und Werten, Politik also, würde obsolet und ersetzt durch die Evidenz der technisch besseren Lösung.14 Deren Gültigkeit wird normativ vorausgesetzt, statt eine prinzipielle Ambivalenz anzuerkennen. Als Folge von Fullers Verkürzungen und falschen Schlüssen werden seine Handlungsempfehlungen teilweise unbrauchbar. Ein Bezug zu Latours Thesen kann jedoch trotzdem gefunden werden, da dieser das Design als Ersatz für die moderne Funktion der Revolution ansieht: (…) ich möchte behaupten, dass Design einer der Begriffe ist, die das Wort ›Revolution‹ ersetzt haben! Wenn man sagt, dass alles designt und redesignt werden muss (einschließlich der Natur), dann ist etwas impliziert wie: weder wird es revolutioniert noch modernisiert werden. [Prom_dt.:58, vgl. 5.3.1]

10 https://www.bfi.org/about-fuller/big-ideas/world-game 11 vgl. Fuller 1963 12  vgl. Beiser 2021 13 Diese besser zu managen, bleibt allerdings eine aktuelle Forderung und wurde von Fuller schon früh benannt als »Education Automation« [Fuller 1962]. 14 So prophezeite Fuller ebenso plakativ wie falsch: »By 2000, politics will simply fade away. We will not see any political parties.« https://www.quotetab.com/quote/by-r-buckminster-fuller/by-2000-politics-will-simply-fade-away-we-will-not-see-any-political-parties

8 Geschichtliche Betrachtung

Auch Fuller fordert mit seiner »Design Science Revolution« eine modifizierte Revolution, die Latours Motto des »modernize modernization« [Latour 1999:15, 2007] sehr nahe zu sein scheint: I am pitting a world-around, bloodless, constructive, design transformation revolution against a world-around destructive bloody revolution. The Design Science revolution can be won by all. The bloody revolution can be won by none.15

8.3 Herbert A. Simon Der Systemtheoretiker und Wirtschaftswissenschaftler Herbert A. Simon platzierte 1969 das Design im Umfeld von Organisations- und Entscheidungstheorien als »Science of the Artificial«. Dieser Kontext und die Prominenz des Nobelpreisträgers für Wirtschaft 1973 werden im Design häufig als Nobilitierung des Faches und seiner Wissenschaftsfähigkeit aufgefasst, aber selten hinterfragt. Simons oft zitierte Definition des Designs erklärt praktisch alle planvollen Aktivitäten zu Design: To design is to devise courses of action aimed at changing existing situations into preferred ones. [Simon 1969] Die Designleistung besteht demnach darin, ein Optimum in einem Problemraum zu finden.16 Simons Definition erweckt den Eindruck, als ob Situationen frei wählbar seien und bei Nichtgefallen einfach gegen andere ausgetauscht werden könnten. Doch wer definiert einen Problemraum? Welche Aspekte werden ausgewählt und welche zurückgestuft? Wie werden die Alternativen bewertet? Wer legt Maßstäbe und Referenzwerte fest? Wessen Interessen bestimmen, was bevorzugt werden soll? Wer kann den »change« auslösen oder verhindern? Wie werden die nötigen Ressourcen an Zeit und Information berechnet? Und warum sollten ausgerechnet Designer in der Lage sein, erzwungene Ziele zu überwinden, während dies anderen Berufsgruppen nicht möglich ist? Auf die Widersprüche in Simons Ansatz wurde schon früh hingewiesen:17 The metaphysical basis for the extrapolation to »the« science of design is that the critical problem of design is the attainment of artifacts which satisfy given goals. But it is abundantly clear in today’s technological society that the really critical problem of design is to determine what goals, or whose goals are to be satisfied. One hopes that tomorrow’s designers will not be the slaves of some superimposed goals.« [Churchman 1970:385/386]

15 https://www.bfi.org/about-fuller/big-ideas/design-science/design-science-primer/fuller-on-designscience/ 16 Die Modellierung eines Problemraums wird auch bei Winograd/Flores beschrieben [Winograd/Flores 1989:161] 17 Unter dem Titel »Metaphysik der Planung« [Ulrich 1979] wurde eine fiktive Debatte zwischen Simon und Churchman verhandelt, vgl. Jonas 2016:120.

117

118

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Ähnlich wie bei Fuller erscheinen Designprobleme auch bei Simon zunächst als komplex und »ill-defined«, sie werden aber in definierte, rational und eindeutig lösbare Optimierungsaufgaben überführt.18 Die »Science of the Artifical« muss dafür von einer Trennung von Natur und Künstlichkeit ausgehen, was bereits zeitgenössisch unter dem Titel »The Artificiality of Science« kritisiert wurde: Simon begins his book by trying to distinguish the »natural« from the »artificial«. Natural science, he says, is »knowledge about objects« (p. 4) What he does not go on to say, perhaps because it would ruin his distinction, is that natural science is artificial; it is, in fact, one of the greatest and most mysterious artifacts man has ever created (…). [Churchman 1970:385/386] Die Unterscheidung Natur/Kultur ist auch ein zentrales Thema in Latours Konzeption der Akteur-Netzwerk-Theorie. Diese geht gerade nicht von dichotomischen Zuschreibungen aus, sondern will diese Unterscheidung durch einen »zweiten Empirismus« [WSMC:24] unterlaufen, der eine genaue Beobachtung mit einer lückenlosen Beschreibung verbindet.

8.3.1 Ontologisches Design Soziale, gesellschaftliche und politische Funktionen des Designs sind mit Simons Ansatz kaum zu vereinbaren. Eine weitere Kritik kommt daher aus dem Umfeld des »Ontologischen Designs« [Willis 2006]. Dieses spricht sich unter Bezug auf Heidegger dagegen aus, das Verhältnis von Mensch und Welt auf eine instrumentelle Vermittlung zu reduzieren. Dabei wird auf eine Kritik von Donald Schön zurückgegriffen. Dieser wirft Simon vor, die Lücke zwischen den Naturwissenschaften und der Designpraxis mit einem Ansatz vermitteln zu wollen, der nur ausreichend definierte Probleme zulässt, um das Modell der technischen Rationalität erhalten zu können. It is Simon however, who most clearly links the predicament of professional knowledge to the historical origins of the positivist epistemology of practise. (…) Although Simon proposes to fill the gap between natural science and design practise with a science of design, his science can be applied only to well-formed problems already extracted from situations of practise. (…) They try to fill the gap between the scientific basis of professional knowlegde and the demands of real-world practise in such a way as to preserve the model of technical rationality. [Schoen 1983:46-48] In Situationen der Praxis sieht Schoen dagegen einen spezifischen Wissenstypus am Werk, der sich vom klassischen Modell der Wissenschaften durch situative Intuition und Improvisation unterscheidet.19

18 Fuller und Simon argumentieren im Kontext ihrer Zeit, als positivistische Planungs- und Systemtheoretiker das Thema der »optimalen Entscheidung« behandelten. Diese sollte weitestgehend formalisiert und perspektivisch an Computer delegiert werden, um Management und Politik zu automatisieren. 19 Dabei bezieht sich Schön u. a. auf die Beschreibungen impliziten Wissens als »tacit dimension« [Polanyi 1985/1966].

8 Geschichtliche Betrachtung

Donald Schön characterizes design as ›knowing-in-action‹, describing the design process as an intuitive bringing of experience to problems, which nevertheless are themselves treated as unique. A starting point is chosen, maybe even arbitrarily, and as the practitioner proceeds, s/he responds to what emerges from the evolving particularities of the design-situation. [Willis 2006:85] Doch auch dieser erweiterte Ansatz überschreitet noch nicht die traditionelle Aufstellung: Designer gestalten Artefakte, Prozesse oder Organisationen, indem sie ihnen ihre Absichten aufprägen, die sich in der Folge den Nutzern und Adressaten vermitteln. Daher bleibt auch Schöns Ansatz einem instrumentellen Verständnis verpf lichtet: Thus, Schoen and Simon are exclusively concerned with design process as transportable technique, and the ends of their analysis are ultimately instrumental. [Willis 2006:85] Das ontologische Design dagegen will diese Instrumentalisierung überwinden. Damit ist mehr gemeint als die Verkehrung der aktiven und passiven Rollen in der gängigen Formel des Wirkungskreises als »Menschen prägen Dinge und Dinge prägen Menschen«. Angenommen wird eine »Design Agency« [Willis 2006:85]20, die Weltverhältnisse auf symmetrische Weise emergieren lässt. Diese Agency ist immer schon vorgängig vorhanden und führt jederzeit – ob bewusst oder nicht – Gestaltungsleistungen aus und verlangt weitere, um Weltverhältnisse je situativ zu begründen. Diese Auffassung von Agency lässt sich nicht mehr auf Akteure zurückbeziehen, sondern ist »Agency without Actors.«21 Die Nähe zum Ansatz der ANT sollte offenbar sein, auch wenn sie bei Willis nicht explizit hergestellt wird. Therefore, it doesn’t matter where we look – at the design object, the design process, or design agency – there is never a beginning or end of design because situated worlded-ness is ever-present and is ever-animated by hermeneutic circling. (…) Once the comfortable fiction of an originary human agent evaporates, the inscriptive power of the designed is revealed and stands naked. [Willis 2006:85/95] Eine aktuell geforderte »De-Ontologisierung« des Designs [Escobar 2012, vgl. 9.1] könnte diese hier nur angedeuteten Verhältnisse als ein zusätzliches Argument nutzen, um nicht bei einer Ablehnung bisheriger Ontologien stehen zu bleiben, sondern darüber hinaus auch neue Ontologien in einem neuen, erweiterten Verständnis zu begründen.22

20  unter Bezug auf Tony Fry 21 vgl. Passoth, Peuker, Schillmeier 2014 22 Diese Aufgabe wird aus politischen wie epistemologischen Gründen verfolgt, vgl. Massumi 2010, Harman 2018 und Pickering, der von einem »dance of agency« spricht [Pickering 2007:63].

119

120

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

8.4 Fazit Bei allen unbestrittenen Verdiensten von Papanek, Fuller und Simon muss festgestellt werden, dass diese das Design als identisch mit einer Planungswissenschaft ansehen und keinerlei Bezug auf die Ästhetik nehmen. Damit wird eine wesentliche Funktion des Designs unterschlagen, denn sind es nicht gerade die sinnliche Affizierung, Verführung oder Zurückweisung, Erheiterung oder Ärger, Entspannung oder Anregung, die neue Möglichkeiten von Wahrnehmung und Handlung in der Welt durch Objekte überhaupt erst erkennbar, erlebbar und wünschenswert machen? Darüber hinaus fällt auf, dass die Autoren implizit eine universelle Ontologie voraussetzen. Das Design erscheint damit als einem bestimmten Weltverhältnis und Menschenbild verpf lichtet. Die Welt wartet nur darauf, vom Zugriff der Planer und Designer gestaltet zu werden, die sich damit als aktive, souveräne und zukunftsgestaltende Helden einsetzen, im Gegensatz zu passiven Konsumenten und Ignoranten. In ihrer Zeit wurden diese Positionen als »alternativ« und dem Mainstream entgegengesetzt wahrgenommen. Heute dagegen erscheinen sie als Ausdruck und ungebrochene Fortschreibung eines modernen Weltverhältnisses. Doch was ist eine »real world« (Papanek), das »Raumschiff Erde« (Fuller) oder eine »Situation« (Simon)? Wie werden sie von wem erlebt, beschrieben, interpretiert und umgestaltet?23 Unter den Prämissen der Akteur-Netzwerk-Theorie ergeben sich ganz andere Perspektiven für die Gestaltung als in der Moderne, die vor einem fiktiven Universal-Horizont ebenso fiktive Optimierungen anstrebte und der die Zukunft als eine offene Landschaft erschien, in der beliebige Gestaltungen realisiert werden konnten. Den Nichtmodernen erscheint die Welt nicht mehr als wüst und leer, sondern als vollgestellt mit verkörperten Bedeutungen und eigensinnigen, pfadgebundenen Entwicklungen.24 Es gibt keinen freien Zugriff auf irgendeinen Gegenstand, alles muss in Kooperation oder gegen Widerstände in Verf lechtungen verhandelt werden, wobei jede Weitergabe in der Handlungskette notwendigerweise Transformationen produziert.

23 Mit Latours Worten: »Where are the missing masses?« [WM] 24 »Die Netze sind voller Sein« [NMod:90/91], vgl. 7.3

9 Design for the Pluriverse?

Es reicht nicht aus, die Neuauf lage eines sozial fokussierten Designs zu konzipieren und dieses als letzterreichbaren Stand westlicher Ref lexion und Innovation global anzubieten. Das Design würde damit die Rolle des »Solutionism« übernehmen, die bisher von der Technik eingenommen wurde: Die Behauptung einer prinzipiellen Lösbarkeit aller Probleme durch Anwendung der richtigen Verfahren. Ein solcher Versuch entgeht nicht der Dialektik, als Teil jenes Problems wahrgenommen zu werden, gegen das er antrat. So fragte Bruce Nussbaum bereits vor über zehn Jahren: »Is Design the New Imperialism?« Das mission statement eines Designprojekts »We believe design can change the world« wird zitiert und kommentiert: So do I. But whose design? Which solutions? What problems?1 Auch das Motto der Designkonferenz »Design for Next«2 provozierte die Frage, von wessen Realität hier die Rede ist: Who’s »next« will we be using design research for? [Levick-Parkin 2017:15]

9.1 »What’s wrong with a one-world world?« (Law) Manche Aktivisten setzen ihre Hoffnungen auf social change und wollen diesen mit Design erreichen. Einige wollen ihr Engagement im Design gar als einen Kampf verstanden wissen, wo soziale Großthemen wie race, class und gender verhandelt werden können.3 Doch längst nutzen globale Designagenturen die Etiketten Social Design und Open Design für ihre Imagekampagnen ebenso wie für Expansionsstrategien in Schwellenländer.4 Hierbei wird die Methode des Design Thinking als ein Allheilmittel verkauft, 1 https://www.fastcompany.com/1661859/is-humanitarian-design-the-new-imperialism, https://design observer.com/feature/humanitarian-design-vs-design-imperialism-debate-summary/14498 2 https://www.cumulusassociation.org/design-for-next-12th-ead-conference-sapienza-university-ofrome-12-14-april-2017 3  vgl. »Design Struggles« [Mareis, Paim 2021] 4 vgl. https://www.openideo.com, https://www.ideo.org/approach

122

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

das innerhalb kürzester Zeit komplexe Probleme lösen kann. Realistischer erscheint es aber, dass die in diesem Kontext gewonnenen Informationen Einsichten in Problemlagen liefern, aus denen neue Aufträge entstehen können. Dieses Vorgehen gleicht der Problematik der Entwicklungshilfe, die im Wesentlichen nur neue Abhängigkeiten geschaffen hat.5 Neuere Designbewegungen haben diese Verhältnisse erkannt und stellen das Design als Exponent einer universalistischen Moderne infrage mit Slogans wie »Redesign Design Ontology«6, »Decolonize Design«7 und »Design for the pluriverse«8. Diese Forderungen treffen sich mit Positionen der Akteur-Netzwerk-Theorie, denn hier wurde bereits vor über zehn Jahren gefragt »What’s wrong with a one-world world?« [Law 2011:2].9 In der Folge wurde ein »fractiverse« konzipiert, das anstelle des »universe« treten soll. In der Frage nach der »one-world world« stehen sich zwei Ontologien gegenüber: • Die westliche Perspektive versteht die Welt als einen immer schon vorgängig gegebenen Raum, in dem sich Subjekte auf halten und interagieren. Der Raum und die Ressourcen sind begrenzt, was zu Verteilungskämpfen führt. Die Zeit wird ebenfalls als knappes Gut verstanden und als Vektor des Fortschritts konzipiert. • Dagegen steht die Auffassung einer Welt, die erst hervorgebracht wird durch die Interaktionen verschiedener Aktanten, zu denen Menschen und Artefakte, Verstorbene, Tiere und Pf lanzen zählen können. Diese »weltbildenden Aktivitäten« [ibid.] ereignen sich an konkreten Orten und zu spezifischen Zeiten. Die Zeit entfaltet sich dabei als zyklisch wiederkehrende Qualität.10 Häufig wird angenommen, dass dieses zweite Weltverhältnis bei Naturvölkern wie etwa den australischen Aborigines zu finden sei.11 Empirische Forschungen der ANT konnten jedoch zeigen, dass diese Konzeption auch in der westlichen Tradition unerkannt wirksam ist, und zwar paradoxerweise in den Laboren der wissenschaftlichen Forschung, die gerade als stellvertretend für die westliche Weltsicht angesehen werden. Untersuchungen zu Forschungsprozessen machten deutlich, wie eine allgemein anerkannte Realität erst als ›situatives Wissen‹ aus verschiedenen Realitäten erzeugt werden muss und nicht vorausgesetzt werden kann.12 Die vorgängige gemeinsame Existenz von Akteuren ist es also, die allen folgenden »weltbildenden Aktivitäten« [ibid.] zugrunde liegt. Das Transformation Design muss damit von einer ontologischen Voraussetzung ausgehen, in der kooperierende und widerstreitende 5 vgl. »Winners Take All – The Elite Charade of Changing the World« [Giridxharadas 2019] 6 Levick-Parkin 2017:19 7 Schultz et al. 2018 8 vgl. Escobar 2017. Im Mai 2019 wurde die Special Interest Group »Pluriversal Design« innerhalb der Design Research Society gegründet, https://www.designresearchsociety.org/articles/introducing-thepluriversal-design-sig 9 vgl. Lemma »One World«, Sachs 1992:111-126 10 Heidegger bemerkte die Abhängigkeit des Weltverhältnisses von der Zeit, indem er ein »Weltbild« als spezifisches Merkmal der Neuzeit benennt. Daher sei es nicht sinnvoll, etwa von einem »Weltbild« des Mittelalters zu sprechen [Heidegger 2013/1938:69-113]. 11 vgl. Winkler 1997, Chatwin 1988 12 vgl. Haraway 1988; Knorr-Cetina 1984, 2002; Rheinberger 1992

9 Design for the Pluriverse?

Kräfte, Handlungsketten und Kommunikationen immer nur temporäre, fragile und fragmentarische Welten generieren. Diese können allenfalls für die Akteure selbst im Moment ihres Zusammenwirkens als universell gelten, bevor sie wieder in die vorgängigen Pluriverse zerfallen.13 Das Konzept des Universalismus hat seine Verdienste, wie etwa den Versuch, universell geltende Menschenrechte zu definieren. Die im Universalismus wirkenden westlichen Werte können jedoch auch als hegemoniale Gewalt wahrgenommen werden. Daher erscheint es als gerechtfertigt, einen »Pluriversalismus« anzuerkennen. Doch auch die Perspektive eines Pluriversums birgt Gefahren. So reicht es nicht aus, eine Orientierung an Werten wie »Autonomie« zu empfehlen (vgl. Escobar 2021), denn letztlich geht es nicht darum, parallel existierende autonome Einheiten zu bilden, sondern deren notwendigen Austausch zu organisieren.14

9.1.1 Aufgabe der Politik und der Künste: Welten zusammensetzen Zur Frage »Universum« oder »Pluriversum« positioniert sich Latour eindeutig in einem programmatischen Text zu der von ihm begründeten »École d’Expérimentation en Arts Politiques« (SPEAP) an der Pariser Hochschule »Sciences Po«:15 Es gibt keine gemeinsame Welt. Es gab sie noch nie. Der Pluralismus ist für immer mit uns. (…) Daher ist es nutzlos zu sagen: »Wir unterscheiden uns vielleicht oberflächlich in unseren Meinungen, unseren Ideen, unseren Leidenschaften, aber grundsätzlich sind wir alle ähnlich, unsere Natur ist dieselbe und wenn wir uns darauf einigen, dass uns Trennende beiseitezulassen, dann teilen wir dieselbe Welt, bewohnen dasselbe Universum.« Nein, wenn wir das uns Trennende beiseitelassen, bleibt uns nichts zum Zusammenbringen. (…) Das Universum ist ein Pluriversum (James). [Latour 2022a:13/14, Übersetzung PFS]16 Die unwidersprochen vorausgesetzte Konzeption einer gemeinsamen Welt gilt Latour als Kennzeichen der Moderne, die daraus zwei gleichermaßen falsche Schlüsse zieht: Zum Monster des Multikulturalismus tritt das hässliche Gespenst des Mononaturalismus. (…) Glücklicherweise befreit sich das Kollektiv, wenn es den Mononaturalismus verliert, im gleichen Zug vom Multikulturalismus. (…) Das Universale liegt weder hinten noch oben, noch unten, sondern vor uns. Wir wissen noch nicht, wie das Diverse aussieht, wenn es sich nicht mehr vom vorzeitig vereinheitlichten Hintergrund der Natur abhebt. [PD:274/275, Hervorhebung im Original] Als Aufgabe der politischen Künste formuliert Latour die Zusammensetzung (composer) von gemeinsamen Welten:

13 Dies beschränkt auch die Möglichkeit universeller Karten, vgl. B 2.2.5. 14 Außerdem kann das Konzept des Pluriversums genutzt werden, um demokratiefeindliche, ethnopluralistische Vorstellungen zu propagieren, vgl. Dugin 2013. 15 Dabei argumentiert er im Sinne seines »Compositionist Manifesto« [Latour 2010] 16 vgl. William James: Das pluralistische Universum [James 2005/1914]

123

124

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die Politik ist keine Wissenschaft, kann sie niemals sein (…). Sie ist eine Kunst oder mehrere Künste, (…) mit denen man versucht, eine gemeinsame Welt nach und nach zusammenzusetzen. (…) Sie muss gemacht werden, sie muss erschaffen werden, sie muss eingerichtet werden. Und deshalb kann sie verfehlt werden. Das macht den ganzen Unterschied: wenn die gemeinsame Welt zusammengesetzt werden muss, kann man ihre Zusammensetzung verfehlen. [Latour 2022a:13/14, Übersetzung PFS]17 Um dies zu leisten, müssen sich zunächst sowohl die Politik als auch die Künste verändern, um schließlich auf neue Weise zusammenzufinden: Die politischen Künste sind von den (politischen) Wissenschaften ebenso weit entfernt wie von den Künsten. (…) Damit es politische Künste geben kann, muss man zunächst die Politik deästhetisieren und die Künste depolitisieren. (…) Man muss die Wissenschaften, die Künste und die Politik nicht miteinander verbinden, sondern sie zunächst entwirren und dann auf ganz andere Weise wieder aufnehmen. [Latour 2022a:18,25] In einem Bericht über die Arbeit des Studiengangs SPEAP finden sich Beispiele, die diesen Ansatz in der Kooperation von Wissenschaften und Künsten operativ erkunden [Aït-Touati et al. 2022].

9.2 Europa soll führen? Die Aktivitäten um pluriversale Designansätze scheinen nicht alle Designfunktionäre und Designinstitutionen erreicht zu haben. So forderte der Rektor einer deutschen Hochschule für Gestaltung unbeeindruckt eine europäische Führungsrolle: Today, design is in crisis, and needs to change and adapt to contemporary times. Europe, the birthplace of design, should lead the discipline’s transformation.18 Diese Aussage erscheint in mehrfacher Hinsicht bedenklich. Als Grund des Handelns wird eine Krise des Designs postuliert, aber Krisen und Problemlagen, auf die sich das Design sinnvoll beziehen könnte, werden nicht genannt. • Warum sollte das Design heute in einer Krise sein? Weil es sich nicht gewandelt und angepasst hat an die Gegenwart? Aber ist es denn die Aufgabe des Designs, sich anzupassen? Das Design wollte doch vorausdenken und aktualisiert diesen Anspruch unter anderem durch die Entwicklung des Transformation Designs. Eine Krise kann allenfalls festgestellt werden für veraltete Formen des Designs, die sich einer Erneuerung verweigern und daher zu Recht an die Peripherie geraten

17 Die Pointe dieser Aussagen ist, dass Latour zuletzt an der »Sciences Po« – Hochschule für politische Wissenschaften« tätig war. 18 https://www.janboelen.be/european-design-parliament. Das Projekt »European Design Parliament« war angeblich für die Jahre 2018-2021 geplant, ist im Netz aber nicht auffindbar. Vielleicht kam es gar nicht zustande – ein gutes Zeichen?

9 Design for the Pluriverse?

• Europa soll die Erneuerung anführen? Also soll die Überwindung der Krise von deren Urhebern ausgehen? Falscher können Ursache und Wirkung wohl kaum kombiniert werden. Stattdessen gilt es, die Funktionen des westlichen Designs als Teil einer technisch und wirtschaftlich begründeten Machtkonstellation zu erkennen. Diese implementieren eine Fortschrittslogik, die neben großen Erfolgen auch große Krisen produziert: existenzielle Krisen weltweit, die aus der Übernahme westlicher Modelle entstehen und Krisen des Sozialen, der Ökologie und des Sinns in westlichen Gesellschaften Eine Revision des Designs muss vor allem seine westliche und moderne Prägung hinterfragen und sich für nicht westliche Impulse und eine Revision der Moderne öffnen, statt den alten imperialistischen Führungsanspruch fortzuführen. Doch auch Latour formuliert es als europäische Aufgabe, »den Mut zu haben«, seine Fähigkeiten »noch einmal« dafür einzusetzen, auch für matters of concern (zu ergänzen wäre: wie vorher schon für matters of fact) einen Stil zu entwickeln, der dem entspricht, was im Erlebnis gegeben ist (und was der vorherrschende Stil der Fakten allein nicht abbildet): I believe it is the responsibility of Europeans to refuse to live in the ruins of the modernist scenography and to have the courage, once again, to put their skills to work in devising for matters of concern a style that does justice to what is given in experience. [Latour 2008a:50] An anderer Stelle formuliert Latour noch deutlicher eine »unverdiente zweite Chance« für Europa, die aus historischen Verpf lichtungen erwächst, aber nicht zu Dominanz führen soll: It means that Europe, because of its history, has to plunge in first, because it was the first to be responsible. (…) This is exactly the moment for it to re-enter history without imagining that it will dominate history. (…) The earth that Europe had wanted to grasp as a Globe is offering itself anew as the Terrestrial, offering Europe a second chance that it in no way deserved. [Latour 2018:104-106, Hervorhebung im Original]19 Aus der Sicht des Designs, das mit Medien und Märkten enger verbunden ist als die akademische Theoriebildung, erscheint diese Perspektive als zu optimistisch. Die Interessen großer Nationen wie den USA und China sowie Teilen der arabischen Welt und perspektivisch auch Indien, Brasilien und Nigeria entwickeln sich mit einer Dynamik, für die Ratschläge aus Europa kaum maßgebend sein können. Zwar gesteht Latour ein, dass er ein provinzielles Experiment meint:

19 Eine Anmerkung zur Position europäischer Museen, die auch auf Latour zutreffen könnte: »Die Anerkennung außereuropäischer Kunst beruht also (…) auf einer (abermaligen) Projektion, die das eurozentrische Verhältnis zu außereuropäischen Kulturen zugleich überwindet und bestätigt.« [Martos 2008:86]

125

126

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

It is a province? Fine; that is just what we need; a local experiment, and yes, a provincial experiment in what it means to inhabit earth after modernization, with those whom modernization has definitely displaced. [Latour 2018:105, Hervorhebung im Original] Doch die Mehrheit der Weltbevölkerung teilt eben nicht jene Erfahrung von »after modernization«, sondern strebt eben diese Modernität und ihre vermeintlichen Errungenschaften erst noch an. Zukünftige Designs müssen sich daher in einer Größenordnung bewähren, die in Europa kaum zu denken ist, wie in der Formel »Design for a Billion«20 zum Ausdruck kommt. Designkonzepte sollen also den Maßstab von Milliarden von Menschen berücksichtigen, ohne den Universalismus und Globalismus der Moderne zu wiederholen. Den Umfang und die Dringlichkeit dieser Aufgabe können europäische Designer vermutlich nur erfahren, in dem sie ihre heimischen Komfortzonen verlassen. Vor Ort, in den »emerging nations« sehen sie sich dann mit völlig anderen Verhältnissen konfrontiert. Der hier entwickelte Concern Ansatz soll auch für diese Begegnungen eine produktive Grundlage bieten (Teil C).

20 Titel einer Konferenz am Indian Institute of Technology Gandhinagar, 7.-09.11.2014, vgl. Jonas 2014 https://events.iitgn.ac.in/2014/dfb/?q=dfb

10 Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe

Wie sollen die geschilderten Aspekte des Designs systematisch bedacht werden? Welche Theorien und Wissenschaften, Kritik- und Diskursformen erscheinen als angemessen für die aktuellen Aufgaben, Probleme und Praxen des Designs? Reicht es, das Design einfach als ein weiteres Thema zu verstehen, der von andernorts bewährten theoretischen Verfahren behandelt wird? Oder gilt es zu erkennen, dass die Theoriebildung selbst eine Gestaltungsaufgabe ist? Design wäre dann nicht nur ein möglicher Gegenstand von Wissenschaften und Philosophie, sondern würde diese selbst als Gestaltungs- und Inszenierungsleistung auffassen.1 Das Design müsste dann seinen spezifischen Zusammenhang von Handeln und Erkennen als eigenständige Form der Theoriebildung behaupten und gestalterisch weiterentwickeln.2

10.1 Neue Anforderungen Designarbeit ist »Denken am Modell« [Stephan 2001]. Das Designdenken realisiert sich in Projekten, ähnlich wie in der Architektur alle Ref lexion schließlich im Bau kulminiert. Das Design ist daher traditionell theoretisch eher unterbestimmt. Die im Projekt verwendeten Vorstudien und die daraus hervorgehenden Berichte dienen vor allem dem Austausch von communities of practice. Theoretische Fächer wurden und werden von den Praktikern zwar fragmentarisch konsultiert, akademisch aber nur als Nebenfächer und Hilfswissenschaften positioniert und auf Distanz gehalten.3 Mittlerweile jedoch kommt der implizite Wissenstypus erfahrener Gestalter an seine Grenzen. Die mangelnde Akkumulation von Wissen stellt sich als unzureichend 1 Solche Ansätze wurden formuliert als »Zur Gestaltung von Philosophie« [Depner 2016] und »Denken designen – Zur Inszenierung von Theorie« [Hornuff 2014]. 2 vgl. Stephan 1999, 2005a. Eine solche Position wurde erneut formuliert: »(…) as design research engages in the making of many different kinds of things, design theory might well be one of those things it could be making. Whereas a theory of design and designing would take design as its subject, the notion of design theory seems to call for an inquiry into theory as developed in and through design.« [Redström 2017:133]. 3 Für das Design gilt das Gleiche wie für die Poesie: »Kaum aber war die moderne Poesie entdeckt, so entdeckte sie in sich auch schon das Verlangen nach ihrer Theorie. Diesem Verlangen hielt ein anderes die Waage: sich von keiner Theorie bändigen zu lassen.« [Enzensberger 1960:8]

128

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

heraus für zunehmend komplexe Fragestellungen und den dynamischen Wandel. Eine erweiterte Wirkungsmächtigkeit, die in den 1990er Jahren durch die Digitalisierung einsetzte und heute mit Bio-Design und Transformation Design neue Horizonte erreicht, erfordert neue Theorie- und Diskursformate. An Theorieangeboten für das Design besteht jedoch kein Mangel mehr, seit die Designausbildung an Kunstuniversitäten stattfindet und Kultur- und Sozialwissenschaftler im Zuge des »material turn« das Design entdeckt haben. War das Design einst theoretisch defizitär, scheint sich mittlerweile ein Übergewicht theoretischer Fächer aufzubauen, speziell in den Bereichen des Social Designs. Mitunter scheint das Design seine Aufgaben, Methoden und Ziele sogar von fachfremden Vorgaben abhängig zu machen, die – sicher mit besten Absichten – etwa in der Soziologie, der Anthropologie oder den Kulturwissenschaften formuliert werden. Aber noch wurde eine dem Design angemessene, Denken und Machen integrierende Praxistheorie nicht gefunden. Bei komplexen Aufgaben, fachübergreifenden Kooperationen und Ambitionen in der Forschung gerät das Design daher unter einen Anpassungsdruck und reagiert darauf mit einem Rückgriff auf tradierte Formate der Wissenschaften. Der Wissenschaftsbetrieb gibt dabei nicht nur die administrativen Formen der Arbeitsweisen vor (Anträge, Artikel, Berichte), sondern präfiguriert auch die möglichen Denkformen. So entsteht eine paradoxe Situation: Das Design passt sich einem überkommenen Begriff von Wissenschaft an, während die Wissenschaften damit beginnen, ihr Selbstverständnis kritisch zu hinterfragen und neue Wissensbegriffe entwickeln, die embedded und embodied, situativ und dialogisch und damit »designähnlicher« sind.4 Doch können Formate und Denkweisen der Wissenschaften angemessen sein für ein Design, das doch seine Wirkung gerade als »undisziplinierte und undisziplinierbare Disziplin« [Erlhoff 2004:o.S.] entfalten will?5 Das Transformation Design geht davon aus, dass das Verständnis und die gesellschaftlichen Funktionen der Wissenschaften ursächlich sind für viele Problemlagen und deshalb nicht in unveränderter Form zu Lösungen beitragen können. Es gilt daher, auch die Arbeitsweisen und das Selbstverständnis der Wissenschaften kritisch zu hinterfragen und zu transformieren, statt deren Praxen lediglich zu adaptieren. Das originäre Potenzial des Designs wird aber erst dann zu Geltung kommen können, wenn es seinen Anspruch auf eine experimentelle Neuformatierung sozialer Praxen auch im Hinblick auf die eigene Theoriebildung, Darstellungsformen und Kommunikation einlöst als originäres Theoriedesign.6

4 vgl. »(…) Wissenschaft wird zunehmend ›design-ähnlich‹. Design ist daher aufgefordert, sein in den Grundzügen nicht-modernes Profil zu schärfen, statt nach der Anpassung an ein sich in Richtung Design veränderndes Wissenschaftskonzept zu streben.« [Jonas 2005a:65] 5 Die »Disziplinierung des Designs« [Schultheis 2005] bleibt daher ein ambivalentes Unternehmen zwischen behaupteter Eigenständigkeit als Disziplinwerdung und der Anpassung durch Normalisierung. 6 vgl. »Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe« [Stephan 1999, 2005a]. Um die Bandbreite der Reflexions- und Äußerungsformen des Designs zu illustrieren, können exemplarisch angeführt werden: Comics und Filme von Gruppen wie Superstudio und Archigram, Luigi Colanis YLEM als Loseblattsammlung mit Skizzen, Fotos und Texten, Charles and Ray Eames’ Filme und Ausstellungen, IDEOs Methodcards sowie die Essays Otl Aichers [Aicher 1991a/b] und dessen Studien zu Küche und Auto [Aicher 1982, 1984], die ein neues Format fanden für eine gestalterische Position zwischen analytisch-historischer Untersuchung und synthetisierend-entwerfender Perspektive, vgl. Stephan 2015.

10 Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe

10.2 Theorie und Kritik, Wissenschaft und Philosophie Was soll die Ref lexion des Designs leisten? Die Theorie soll Praxis ermöglichen, die Kritik soll den Diskurs voranbringen, die Wissenschaften sollen Nachvollziehbarkeit, Legitimation und Schnittstellen schaffen, und die Philosophie soll in größere Horizonte einordnen, sub specie aeternitatis. Für diese verschiedenen Zugänge bieten sich im Design keine selbstverständlichen Formen an. Zu unterschiedlich erscheinen die Praxen und zu verschieden die Erwartungen. Die international gängige Rede von den »Design Sciences« verdeckt, dass das Design weder den formalen oder normativen Wissenschaften entspricht, noch kontemplative »humanities« betrieben werden.7 Eine konsistente Theorie des Designs liegt daher bisher nicht vor und ist auch kaum zu erwarten. Theoretische Untersuchungen zum Design bilden notwendig ein Patchwork aus den Beständen unterschiedlicher Fächer, ergänzt um originäre gestalterische Beiträge. Dazu gehören mindestens Ästhetik und Psychologie, Wahrnehmungs- und Handlungstheorie, Semiotik, System- und Organisationstheorie, Soziologie und Wirtschaft sowie Kommunikations- und Medientheorie. Innovations- und Zukunftsforschung können zusätzliche Anregungen bieten, ebenso wie künstlerische Experimente. Das Design hat von den Anregungen dieser Wissensgebiete häufig profitiert und muss doch allzu weitreichende Einf lussnahmen abwehren. Denn letztlich kommt es darauf an, was Designer als integrierte Ref lexion und Praxis selbst machen können. Es gibt gute Theorie und es gibt gute Gestaltung. Beide können hoffen, sich gegenseitig zu inspirieren durch untergründige Verbindungen und Übersprungeffekte. Sie sind aber nicht kausal verbunden. Theoretische Einsichten führen nicht zwangsläufig zu gelungener Gestaltung und erfolgreiche Gestaltung begründet nicht notwendig theoretische Erkenntnisse. Die Ref lexion von Kontexten des Designs macht es aber immerhin wahrscheinlicher, dass relevante Fragestellungen gefunden werden, Redundanzen vermieden werden und die Projekte auch über Fachgrenzen hinaus interessant sein können. Das Transformation Design mit seinen weit gespannten Wirkungsabsichten zeigt dies deutlich: Traditionelle Gestaltungskriterien spielen in Teilbereichen nach wie vor eine zentrale Rolle, für den Erfolg der Projekte sind aber meist konzeptionelle Aspekte entscheidend, die nur in Kooperationen zu bewältigen sind.

10.3 Philosophien des Designs Während – und vielleicht weil – die Formulierung einer konsistenten Designtheorie Schwierigkeiten bereitet, scheinen philosophische Bemühungen um das Design gegenwärtig Konjunktur zu haben.8 Diese haben den Vorteil, sich keinem Praxistest 7 Bonsiepe erteilt daher den Wissenschaften im Gebiet des Designs eine Absage: »Design ist verankert im Bereich der Urteile (Ästhetik, Spiel, Gefallen) und nicht im Bereich der (wissenschaftlichen) Aussagen. Aus diesem Grund ist Design keine Wissenschaft und kann keine Wissenschaft werden.« [Bonsiepe 1992:6-9] und »Wissenschaft ist die Sphäre von Diskursen auf der Grundlage von Evidenzurteilen, die sich auf Tatsachen stützen, während Gestaltung die Sphäre der Hervorbringung neuer Wirklichkeiten ist, die sprachlich vermittelten (Wert-)Urteilen ausgesetzt sind.« [Bonsiepe 1991:77] 8 vgl. die »Design Philosophy Papers« von 2003-2017 (https://www.tandfonline.com/loi/rfdp20, Willis 2019), außerdem Parsons 2016; deutschsprachig vgl. Dissel 2016; Arnold 2016; Feige 2018; Schweppen-

129

130

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

unterziehen zu müssen. Philosophien des Designs, die Einordnungen vor dem abendländischen Diskurshorizont von Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger vornehmen, bestätigen jedoch das Design als Phänomen der westlichen Moderne.9 Damit werden die heute im Designdiskurs zentralen Fragen nach den zwiespältigen Wirkungen, der behaupteten universellen Gültigkeit und einer möglichen Neufassung des Designs verpasst. Eine philosophische Betrachtung des Designs mag ebenso wie eine Philosophie der Musik, des Sports oder des Theaters ihren Wert in sich haben und für ausübende Designer interessante Seitenblicke ermöglichen. Dennoch bleiben solche Perspektiven ihrem Gegenstand äußerlich, denn die Probleme der Praxis sind davon kaum berührt.10

10.4 Legitimation des Designs Pierre Bourdieu unterschied einst hoch- und niederkulturelle Phänomene anhand ihrer »Legitimationsinstanzen« [Bourdieu 2015/1966:36]. In Bourdieus Gliederung können traditionelle Kunstgattungen wie »Musik, Malerei, Literatur und Theater« einen Anspruch auf universelle Anerkennung erheben, da ihre Institutionen als Universitäten und Akademien bereits ihrerseits legitimiert sind. Künstlerischen Feldern wie »Film, Foto und Jazz« dagegen käme nur eine potenzielle Legitimation zu, da deren Instanzen wie Kritiker und »literarische Gruppen« untereinander um die Legitimität ihrer Werturteile konkurrieren. Felder wie »Kleidung, Küche und Inneneinrichtung« schließlich kennen nach Bourdieu nur willkürliche Bevorzugungen durch nicht legitimierte Instanzen wie »Modeschöpfer« und »Werbung« (Abb. 15 links). In deutschen Leitmedien wie dem SPIEGEL und der FAZ rangiert das Design in der Rubrik »Stil« zwischen Mode und Kochen (Abb. 15 rechts). Bourdieus Schema von 1966 mag in mancher Hinsicht überholt erscheinen. So wird die Fotografie heute wohl in Anspruch nehmen können, zu den etablierten Künsten wie Musik, Malerei, Literatur und Theater aufgeschlossen zu haben. Instanzen wie Museen, Sammler und Hochschulen sind an dieser Entwicklung beteiligt. Auch der Jazz hat es mittlerweile in die Musikhochschulen und die Philharmonie geschafft und bewertet dies als Erfolg. Ohnehin gilt es heute als stilsicher, Elemente aus Hoch- und Popkultur souverän zu kombinieren. Interessant bleibt jedoch, dass das Design in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute als Bereich gilt, für den willkürliche Urteile angenommen werden, wie dies auch der Mode und dem Kochen unterstellt wird (»segmentarische Legitimität«, vgl. Abb. 15 links). Damit werden neben dem Design auch ehrenwerte Kulturtechniken nicht ausreichend gewürdigt, obwohl die Bereiche Bekleidung und Ernährung zentrale Bedeutung für künftige Transformationen haben.

häuser 2016; Feige, Arnold, Rautzenberg 2019; Fry 2020. Auffällig ist die mangelnde Bezugnahme der englischen und deutschen Diskurswelten aufeinander. 9 vgl. Willis 2019, Feige 2018 10 Gleiches gilt für ein umfangreiches Forschungsprogramm zum Thema »Werkzeuge des Entwerfens«, das zwar kulturwissenschaftliche Erkenntnisse produzierte, aber ohne empirische Untersuchungen für Designer von begrenztem Nutzen blieb, vgl. https://ikkm-weimar.de/forschung/vergangen/werkzeuge-des-entwerfens

10 Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe

Abb. 15: Legitimation des Designs? Links: Differenzierung kultureller Felder durch unterschiedliche »Legitimationsinstanzen« nach Bourdieu11, rechts: Screenshots von Zeitschriften12 Sollte das Design vor diesem Hintergrund eine Aufnahme in die Ruhmeshalle der legitimen Künste anstreben? Was wäre damit gewonnen? Das Beispiel des Jazz sollte Warnung genug sein. Dessen Qualitäten hängen ab von einer Szene, die Musiker und Publikum, Kritiker und Veranstalter in einer spezifischen Weise verbindet.13 Doch woraus speist sich der Wunsch nach Nobilitierung, der in der Folge die Forderungen nach einer Akademisierung des Jazz begründet? Ist es die Ahnung, dass eine absterbende Szene den Jazz nicht mehr wird erhalten können, sodass er nur noch als Bestandteil von Institutionen weiterleben kann? Doch was ist das für ein Leben in der Musealisierung? Akademisch ausgebildete Musiker beherrschen heute das Genre ebenso perfekt wie die Beantragung von Fördermitteln und doch: Wo sind die Originalgenies, die mit Plastiksaxofon und verstimmtem Klavier eine Jahrhundertmusik erfanden? Gleiches gilt für die Popmusik, wo die Einrichtung von »Popakademien« der Wirtschaftsförderung und der Musikerversorgung dienen mag, nicht aber der Kunst. Dem Sport, dem Jazz und dem Zirkus ist es einerlei, ob zu ihnen elaborierte Theorien entwickelt werden. Sie verdanken sich einer sozialen Dynamik und leben mit dieser auf oder gehen mit dieser unter.14

11 aus Bourdieu 2015/1966:36 12 Online-Ausgabe der FAZ vom 07.02.2022 (»Kunst und Design«) und SPIEGEL Online vom 14.05.2017 (»Design, Mode, Kochen«), jeweils im Menupunkt »Stil«. Die Kategorie »Design« ist im SPIEGEL inzwischen verschwunden. 13 Historisch können Gründungsmythen und Intensivierungen festgestellt werden, die sich zeitlich und räumlich definieren lassen. Dazu gehören etwa die 1920er Jahre in New Orleans, die 1950/60er Jahre in New York City oder der ost-europäische Jazz während des kalten Krieges. 14 Auch der Fußball und das Boxen haben viele Intellektuelle angezogen und zu Theorien angeregt. Autoren wie Jean-Paul Sartre, Jan-Philipp Reemtsma oder Hans Ulrich Gumbrecht (»Lob des Sports«) schienen dabei durch die Distanz von Kopf- zu Körperarbeitern inspiriert zu sein. Für das Geschehen auf dem Rasen oder im Ring blieb das aber ohne Einfluss, auch wenn einzelne Akteure ihre Spielideen und Kampfkonzepte mittlerweile als Philosophie bezeichnen. Doch auch Sportarten werden nobilitiert, etwa wenn sie zu den Olympischen Spielen zugelassen werden wie Klettern und Skateboard bei der Olympiade 2021, Breakdance bei der Olympiade 2024 oder zukünftig E-Sports.

131

132

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

10.5 Folgerungen: Institutionen und Werkzeuge Das Design sollte seine originären Quellen und Qualitäten kennen und sichern. Dazu gehört auch die strategische Bildung von Allianzen und Partnerschaften. Doch eine vorschnelle Anbiederung an die Wissenschaften einerseits oder soziale Aktivisten andererseits kann dabei ebenso schädlich sein wie eine zu große Nähe zu den Machtzentren der Wirtschaft. Auch die universitäre Anerkennung, die das Design von den Werkkunstschulen über die Fachhochschulen bis zu den Universitäten erkämpfte, hat ihre Nachteile. Den gewonnenen Ressourcen steht die Gefahr gegenüber, nur noch universitäres Arbeiten anzuerkennen und entsprechenden Nachwuchs zu rekrutieren.15 Neuzeitliche Gestalter stehen jedoch vor der Aufgabe, Regeln kennen zu müssen, um sie zu brechen oder zu erneuern, ähnlich wie einst der »gelehrte Künstler« [Roeck 2013] der Renaissance. Mit dieser »Regellosigkeit der Regeln« [Reck 2001] umzugehen, stellt jedoch einen höheren Anspruch, als ihn Autoritäten je formulieren können.

10.5.1 Institutionen Welche Funktionen kann das Design für Dritte anbieten und welche Organisationsformen und Arbeitsweisen folgen daraus? Gui Bonsiepe sah schon vor Jahrzehnten die Förderung des integrierenden Diskurses durch das Design als Grundlagendisziplin voraus: Man kann antizipieren, dass der dominierende Diskurs der Wissenschaften durch eine neue Grundlagendisziplin abgelöst wird. Diese Disziplin ist das Design. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass das Design für die Universität des 21. Jahrhunderts eine Rolle spielen wird, wie sie heute die Mathematik für die Wissenschaften einnimmt. Die Hochschulen der Zukunft werden im Design den integrierenden Diskurs finden. [Bonsiepe 1992:8] Manche mögen im grassierenden Design Thinking (etwa an der Universität Stanford) diese Rolle bereits eingelöst sehen. Andere werden einwenden, dass diese Schwundstufe des Designs einem Ausverkauf gleichkommt. Es könnte sich als schwieriger herausstellen, die Hochschulen zu reformieren, als eigene Initiativen zu entwickeln. Dabei müsste es aber nicht um die Gründung neuer Hochschulen gehen, die nach kürzester Zeit wieder überholt sind. Vielmehr gilt es, eine Vielzahl von Wissenskulturen, Kompetenzmixen und Kommunikationsformen zu ermöglichen. Eine Bestimmung ex negativo hat Bonsiepe bereits geliefert: 1. Design widerspricht dem kognitiven Ideal und Verständnis von Praxis in Univer sitäten 2. Design widerspricht der Interpretation von Technologie, die in technischen Institu tionen vorherrscht 3. Design widerspricht dem Ideal ästhetischer Erfahrung von künstlerischen Institu tionen [Bonsiepe 1995:13] 15 So werden in Italien nur noch bereits promovierte Mitarbeiter für den Mittelbau der Kunstuniversitäten berücksichtigt (mündliche Mitteilung von Prof. Kuno Prey, ehemals Gründungsbeauftragter des Designbereichs an der Freien Universität Bozen, Juli 2019).

10 Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe

Aussichtsreich für die Zukunft der Designbildung könnte eine Mischung aus Studium, Handwerk und Projekterfahrung sein. Ein solches Programm könnte allein aus der dynamischen Verbindung bereits vorhandener Ressourcen bestehen, indem an bestehende Hochschulen, Unternehmen und lokale Initiativen temporär angedockt wird.16 Es würde Menschen anziehen, die folgende Kennzeichen aufweisen: (…) ästhetische und soziale Sensibilität, politische Wachheit, ausgeprägte Neugier, Skepsis gegenüber Experten, anarchischer Wille zum Wissen und Können sowie Fähigkeiten des Selbstmachens und Durchsetzungskraft. [Stephan 2015:36] Die gesuchte vormoderne Verbindung aus sozialer und technischer Innovation, Wagemut und Geschäftssinn, Tollkühnheit und Pragmatik wurde als historischer Typus des »Projektemachers«17 beschrieben. In Ivan Illichs Thesen der 1970er Jahre zu »De-Schooling Society« und »De-Professionalization« [Illich 2018/1970] scheinen diese Merkmale ebenfalls auf oder wie im Design formuliert wurde: »Eine Schule, die man anerkennt, hat keine Wände« [Mendini 1981:374].

10.5.2 Werkzeuge und Selbstbestimmung Eine solche Initiative wäre nicht auf einen Ausbildungsberuf gerichtet, sondern würde ein wildes Kompetenzmix zulassen, das sich für Aufgaben zuständig macht, wie sie heute in den Entwicklungen des Transformation Designs bearbeitet werden.18 Doch wie werden diese Kompetenzen wirksam? Es gilt, partikuläre Sichten auf komplexe Umwelten zu ergänzen durch holistische Wahrnehmungen. »Spezialisten fürs Allgemeine«19 nehmen Umwelten und Handlungsketten als zusammengesetzte Phänomene wahr, was sowohl der Perspektive des Designs (»comprehensive«, Fuller 1956), als auch derjenigen der ANT entspricht (»compositionist«, Latour 2010). Spielräume der Gestaltung werden bei Artefakten, Services und den Verbindungen verschiedener Instanzen im Hyperzyklus gefunden (vgl. A 7). Alternative Zusammensetzungen werden gesucht und erprobt. Parallel werden neue Qualitätskriterien entwickelt wie etwa Beiträge zum Gemeinwohl (public value).20 Der Erfolg dieser Tätigkeiten hängt wesentlich ab von selbst erzeugten Werkzeugen. Darin gehen eigene Theoriebildung und Praxiserfahrungen ein, ebenso wie die Methoden Dritter. Entscheidend ist, dass diese Tools open source sind, also öffentlich zugänglich, dokumentiert und veränderbar. Es sind daher »Tools for Conviviality« [Illich 2009, 1973] im Gegensatz zu proprietären Expertentools, die alle Nichtexperten fernhalten. 16 Eine internationale Studie zeigt, dass gegenwärtig weltweit über eine Neuorganisation des Designstudiums nachgedacht wird, vgl. IF Design Foundation 2021. 17 Krajewski 2004, vgl. B 8.6.6 18 Aspekte davon wurden bereits realisiert in der Lehre von Prof. Hans Roericht an der Berliner HdK (1973-2002) und der davon inspirierten Konzeption der KISD – Köln International School of Design durch Michael Erlhoff und Uta Brandes. Auch die dänischen »Kaospiloten« verfolgen seit 30 Jahren ähnliche Ansätze, https://www.kaospilot.dk 19 vgl. Bazon Brocks Konzept einer Generalistik als Studienfach, https://bazonbrock.de/werke/detail /?id=612§id=1017 20 vgl. https://www.gemeinwohlatlas.de

133

134

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Zwar wurde eingewandt, dass Tools die Standardisierung fördern.21 Doch Standardisierung kann sinnvoll sein, wenn sie etwa die Kombinierbarkeit von Modulen erlaubt und nicht zur Sterilität beiträgt. Am Thema der Tools entscheiden sich Machtfragen: Wer über Mittel und Wege verfügt, soziale Kontexte zu analysieren, zu verstehen und umzugestalten, unterliegt nicht länger den behaupteten Sach- und Systemzwängen, sondern kann sich selbstständig machen und Verantwortung übernehmen. Es ist das Empowerment durch die Verfügung über Tools, die aus bloßen Konsumenten selbstbewusste Nutzer macht.22 Der Untertitel des »Whole Earth Catalog« von 1968 lautete daher auch »Access to Tools«, deren Funktionen so beschrieben wurden:

(…) personal power is developing – power of the individual to conduct his own education, find his own inspiration, shape his own environment, and share his adventure with whoever is interested. Tools that aid this process are sought and promoted by the Whole Earth Catalog.23

10.5.3 Beispiel für Formate und Tools: The Design of Death Ein Beispiel für die Bedeutung der sozialen Formate und die Verfügbarkeit von Werkzeugen ist die Gestaltung des Todes. Der Tod ist unverfügbar. Hier enden alle Bemühungen um Gestaltung, so scheint es. Doch tatsächlich ist der Tod längst gestaltet. Durch Ärzte und Apparate, Institutionen und Rechtsnormen wird die Art und Weise des Todes bestimmt. Die am höchsten entwickelten Medizinsysteme führen zur Enteignung des Todes, sodass es zu einem paradoxen Befund kommt: Only the very rich in the United States can now afford what all people in poor countries have: personal attention around the deathbed. [Illich 2009/1973:8]24 Das Thema Tod hat emotionale und organisatorische, rechtliche und wirtschaftliche Seiten. Neue Aspekte kamen durch das Digitale dazu. Früher spendeten Traditionen und Rituale der Religion Trost und Rat. Doch je weniger diese heute verbindlich sind, gilt es neue Formen für den Umgang mit dem Unverfügbaren zu finden. Ohne Anlass beschäftigen sich die Wenigsten mit dem Thema, und wenn der Anlass da ist, ist es zu spät. Neue Formate und Werkzeuge zum Umgang mit dem Tod zu entwickeln, kann aber eine Aufgabe des Designs sein.

21 »I am an Anti-Tool Partisan«, Stefano Maffei, Politecnico di Milano, während einer Cumulus-Konferenz am 10.06.2021, https://cumulusconnects.org/events/event/from-covid-19-to-mind-21 22 vgl. James Brown: »I don’t want nobody to give me nothing (Open up the door, I will get it myself)« https://www.youtube.com/watch?v=y_holg85-Sk 23 https://monoskop.org/images/0/09/Brand_Stewart_Whole_Earth_Catalog_Fall_1968.pdf, S.  3. Der Begrif f der »Tools« wird hier weit gefasst: Von Büchern und Anleitungen über Kleidung und Material bis zu Werkzeugen, Maschinen und frühen Computern. In Italien formierte sich im Umfeld des Radical Designs die Gruppe Global Tools, https://saltonline.org/en/721/global-tools-1973-1975-towards-an-ecology-of-design?home 24 vgl. Ivan Illich 2021: Die Nemesis der Medizin, dt. 1975: Die Enteignung der Gesundheit.

10 Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe

Diesem »Design of Death« widmete sich ein Projekt der australischen Agentur Portable.25 Dabei ging es um die Gestaltung der komplexen Prozesse, die mit dem Tod verbunden sind: von emotionalen Aspekten in familiären und freundschaftlichen Beziehungen, bis zur Struktur und Dynamik sozialer Bezüge in Medizin und Rechtswesen und von der Erhaltung von Selbstbestimmung bis zu den Fragen des (digitalen) Nachlasses und der Erinnerungskultur. Portable ermittelte »Pain Points« und »Opportunity Spaces«, basierend auf persönlichen Erfahrungen, Beobachtungen und Umfragen. Das Ziel war nicht, neue Blaupausen zu liefern, wie mit dem Tod umzugehen ist. Vielmehr wurden soziotechnische Formate entwickelt, die einen angemessenen individuellen Umgang mit dem Thema möglich machen sollen.26 Das Projekt von Portable bearbeitete die Gestaltung der letzten Lebensphase, wenn der Tod bereits absehbar ist. Das Thema ist jedoch weit umfassender. Vorstellungen vom Tod begleiten das ganze Leben und bedingen als Grenze und Form auch die Gestaltung des Lebens selbst.27 Es gilt also, den Tod als Concern zu verstehen, als psychisch wirksame Energie, die Haltungen und Entscheidungen weit vor Erreichen des hohen Alters beeinf lusst. Am kognitiven und emotionalen Verständnis des Todes haben symbolische Darstellungen in Text, Bild und Musik großen Anteil. Vorstellungen von Himmel und Hölle, dem jüngsten Gericht oder vom Leben nach dem Tode sind ohne materielle Realisierungen und symbolische Darstellungen nicht denkbar. Die Aspekte des Concerns Tod hängen daher wesentlich von Formgebungen ab, die keinesfalls beliebig sind. Die Form ist hier keine äußerliche Zutat, die einen schon vorhandenen Inhalt ergänzend konfiguriert, sondern sie erzeugt zuallererst einen Inhalt, der ohne sie nicht existieren würde.28

25 Dieser Titel wurde bereits weit früher von Timothy Leary geprägt: »Design for Dying« [Leary 1997]. 26 Der Projektbericht ist frei zugänglich unter https://www.portable.com.au/reports/the-future-ofdeath-and-ageing. Zur Einführung und Diskussion wurden Veranstaltungen angeboten, https:// www.portable.com.au/blog/design-your-death-demo-evening 27 Besonders eindrucksvoll nachgewiesen für das alte Ägypten [vgl. Assmann 2010]. 28 Der Vorwurf des Ästhetizismus im Bereich religiöser Formen kann daher nicht treffen, vgl. »Häresie der Formlosigkeit – Die römische Liturgie und ihr Feind« [Mosebach 2012, 2002].

135

11 Fazit

Die von der Moderne hinterlassene Aufgabe bleibt bestehen: Organisation und Einrichtung des individuellen und sozialen Lebens. Doch der Glaube an die Mittel der Moderne wie Design, Technik, Planung und Politik wurde erschüttert. Für eine Revision der Moderne gilt es, neue Ontologien, Narrative und Werkzeuge zu finden, die auch einen Beitrag leisten zu den sich entwickelnden transformativen Wissenschaften. Dafür müssen jedoch zunächst überkommene Vorstellungen des Sozialen und Gesellschaftlichen dekonstruiert und neu zusammengesetzt werden, wozu die Akteur-Netzwerk-Theorie wesentliche Anregungen geben kann: Um es in einer einfachen Formel zusammenzufassen: ›dort draußen‹ Natur, ›dort drinnen‹ Psychologie, ›dort unten‹ Politik, ›dort oben‹ Theologie. Es ist dieses ganze Paket, das die ANT auf einmal durch Zufall in Frage stellt. [RA:568] Das Design kann sich dafür zuständig machen, soziale und gesellschaftliche Fragen öffentlich sichtbar zu machen und Methoden zu ihrer Bearbeitung zu entwickeln. Eine Teilaufgabe ist es, die gestaltenden Funktionen der matters of concern zugänglich zu machen. Selbstverständlich gehört dazu auch, das Design selbst als matter of concern zu erkennen und seine ständige Revision zu fordern und zu fördern. Das neue Gebiet des Transformation Designs ist keine weitere Spezialisierung, sondern stellt essenzielle Fragen nach den Aufgaben, der Legitimation, den Zielen und den Methoden des Designs generell. Die im Transformation Design notwendig zu erarbeitenden Grundlagen bieten daher eine Orientierung für alle Gebiete des Designs und darüber hinaus auch für weitere Fächer, die sich mit Transformation beschäftigen. Latour formuliert eine gemeinsame Aufgabe für die Wissenschaften, die Künste und die Politik: Complicating the models and implicating in them those whom they concern in order eventually to compose: this strikes me as a definition common to the sciences, the arts, and politics. [Latour 2017: 257/258] Das Design hat es immer schon als seine Aufgabe verstanden, Modelle zu entwickeln, die komplex genug sind, um alle Anspruchsgruppen zu integrieren und konkret genug, um praktisch wirksam zu werden. Dieses Anliegen soll für umfassende Transforma-

138

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

tionen eine verlässliche Grundlage finden. Im Folgenden werden dafür die Positionen Latours befragt (Teil B) und schließlich die Concerns genauer bestimmt (Teil C).

Teil B Der Designer als »vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

Latours Position aus der Design-Perspektive (kritisch, hermeneutisch) (…) punks dress with the same care as Coco Chanel; plague bacteria have strategies as subtle as those of IBM (…) Bruno Latour Irred:161

Einleitung Die neuen Bereiche des Social und Transformation Designs fokussieren sich auf die Veränderung und Gestaltung des Sozialen. Doch von welchem Begriff des Sozialen wird hier ausgegangen? Bruno Latour hat zu dieser Frage grundsätzlich neue Ansätze formuliert [»Reassembling the Social«, RS]. Daher sollen seine Positionen und der Theorierahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) im Hinblick auf das Design referiert und kritisch analysiert werden. Die von Latour geprägte Formel der matters of concern spielt dabei eine zentrale Rolle. Kann ein darauf auf bauendes Konzept der Concerns dazu beitragen, die Aufgaben des Transformation Designs näher zu bestimmen? Gemäß dem Postulat der ANT »follow the actors« wird versucht, dem »Actor« Latour zu folgen. Der Begriff »Actor« entfaltet dabei seine doppelte Bedeutung in der Übersetzung: Zum einen als Akteur, der Werke hervorbringt und zum anderen als Schauspieler, der in verschiedenen Rollen und Inszenierungen tätig ist. Die leitende Frage lautet: Kann eine designspezifische Rezeption Latours neue Perspektiven für das Design erzeugen? Latours Aussagen zum Design sind Anwendungen seiner Version der ANT auf Gegenstände und Probleme des Designs. Der Rezeption der ANT wird eine neue Perspektive hinzugefügt, indem Latours Thesen dem pragmatischen Interesse des Designs ausgesetzt werden. Damit sollen Rückschlüsse auf die Tragfähigkeit des Theorierahmens ermöglicht und die Notwendigkeit von Spezifikationen deutlich werden.1 Vor 1 Mit Latour wird ein Autor behandelt, der zu den produktivsten und meist kommentierten der Gegenwart gehört. In seiner Rezeption sind außerdem die vielfältigen Bezüge zu den Science and Technology Studies, der Soziologie und den Kulturwissenschaften zu beachten. Dem Designer kann es nicht darum

140

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

dem Hintergrund der ANT kann das Design seine Begriffe und impliziten Annahmen überprüfen und gegebenenfalls neu bestimmen. Dabei ist zu beachten, dass Latour nicht im engeren Sinne Designtheoretiker ist und sich an keiner Stelle auf Diskurse des Designs bezieht.2 Die Einbettung seiner Aussagen in aktuelle, historische und systematische Kontexte des Designs muss daher gesondert geleistet werden. Die Bezüge von Design und der ANT in Latours Perspektive betreffen insbesondere die folgenden Aspekte: 1. Das Verhältnis von Design und Moderne [Prom_dt/eng, NMod, Exw/MEx, RAS/NSoz] 2. Die Unterscheidung von »matters of fact« und »matters of concern«3 [RpDp, HTP, Prom_dt/eng, WCS] 3- Die Programmatik der »Dingpolitik« und die Konzeption von Agency [RpDp, PD/PoN, HTP, WSMC] 4. Eine neue Perspektive auf die Ökonomie als »Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen« [ÖkW] 5. Die Funktionen von Visualisierungen (MapCon, MACOSPOL, MapConCase, DrawT) sowie das Konzept der »immutables mobiles« und die »passion for inscription devices« [VisCog:7/30]4

Ausgangspunkte Latour stellt zwei Fragen, die zum Ausgangspunkt einer Analyse seiner Position zum Design genommen werden. Die erste Frage findet sich in einem Text von 2008:5 Hier nun also die Frage, die ich den Designern gerne stellen möchte: Wo sind die Visualisierungswerkzeuge, mit denen sich die widersprüchliche und kontroverse Natur von matters of concern repräsentieren lässt? [Prom_dt.:372] Die hier noch gestaltungsspezifisch formulierte Frage nach Visualisierungen wird 2012 erweitert zu einer weit umfassenderen Aufgabe: gehen, deren Fachdiskussionen in jeder Einzelheit nachzuvollziehen. Vielmehr erkennt er die Gelegenheit, Anregungen der ANT aufzunehmen und sie im pragmatischen Interesse der Gestaltung weiterzudenken. 2 Unter dem Titel »Politiche del design – Semiotica degli artefatti e forme della socialità« [Latour 2021a] wurde aber eine Sammlung von Artikeln zusammengestellt, die durch ihren Bezug auf Objekte als relevant für das Design aufgefasst werden können, inklusive dem meist wenig beachteten »Irreductions« [Irred], das als Anhang zu Latours Buch über Pasteur erschien. 3 Die Ausdrücke »matters of fact« und »matters of concern« werden in Anführungszeichen geschrieben, wenn sie Zitate sind oder auf Probleme der Übersetzung hingewiesen wird. Später werden sie als eingeführter terminus technicus behandelt und nur noch kursiv gesetzt. 4 Der Begriff »inscription devices« wurde parallel geprägt zu Friedrich Kittlers Ausdruck »Aufschreibesysteme« [Kittler 1985]. 5 Latour 2008: »A Cautious Prometheus (…)« [Prom_eng.], dt. 2009: »Ein vorsichtiger Prometheus? – Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk« [Prom_dt]

Teil B: Der Designer als »vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

Anders gesagt, warum nicht diese ganze Angelegenheit einer Revision der Moderne in eine umfassende Frage des Designs umwandeln? [Übersetzung PFS]6 Diese Frage wird im Kontext von Latours Projektbericht zu den »Existenzweisen« überraschend gestellt, aber dann auf den folgenden 600 Seiten der deutschen Ausgabe nicht weiter diskutiert. Daher ergibt sich eine typische Wirkung für die Schriften Latours: verführerisch, aber defizitär und deswegen anregend. Im Prometheus-Text erhebt Latour den weitreichenden Anspruch, eine Philosophie des Designs zu begründen und leitet daraus Aufgaben für das Design ab (B 1). Beides stellt für einen fachfremden Autor einen ungewöhnlich hohen Anspruch dar, der auch als Provokation aufgefasst werden kann. Der Beitrag wurde jedoch – wie die ANT allgemein – im Design überwiegend positiv rezipiert, ohne allerdings weder im Design noch in der Forschung zur ANT detailliert analysiert oder kommentiert zu werden. Daher soll der Beitrag hier erstmalig in Einzelaspekten durchgearbeitet werden. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Latours Forderung nach Visualisierungen für die »matters of concern« (B2). Der Prometheus-Artikel setzt viele der für die ANT zentralen Begriffe voraus wie etwa »matters of fact/matters of concern«, »Dingpolitik« und »immutable mobiles«. Diese Begriffe werden in ihrem Bezug zum Design geklärt durch die kritische Analyse weiterer Texte Latours (B 3).7 Darüber hinaus werden Einzelaspekte besprochen, die u.a. von Latour als »fünf Vorteile des Konzepts Design« präsentiert werden (B 4). Latours Diagramme werden betrachtet und grafisch manipuliert, um deren impliziten Annahmen zu verdeutlichen (B 5). Ein weiterer Bezugspunkt von Latours Perspektive auf das Design ist die Analyse seiner Beispiele (B 6). Gemäß dem Anspruch der ANT, genauer zu beobachten und einen »second empiricism« [WSMC:24] zu begründen, belegt Latour viele seiner Thesen mit Beobachtungen aus dem Alltagsleben wie Hotelschlüssel, Straßenschwellen und Sicherheitsgurten, die einen unmittelbaren Bezug zum Design herstellen. Diese Beispiele werden einer kritischen Würdigung unterzogen mit dem Ergebnis, dass sie häufig nicht stichhaltig sind. Ein weiteres Kapitel beinhaltet die von Latour explizit ausgewiesenen Bezüge zu Peter Sloterdijk, Jürgen Habermas, Martin Heidegger und Gabriel Tarde (B 7). Ein wesentlicher Aspekt ist eine Analyse von Latours »Theoriedesign« als spezifischer Verbindung von Sprach- und Theorieform, denn die Betrachtungsweisen der ANT und ihr »Denkstil« [Gießmann 2009:112] schlagen sich auch im Schreibstil nieder (B 8). Besondere Beachtung finden dabei Probleme der Übersetzungen, die zuweilen Ungenauigkeiten und Fehler aufweisen.8 Für die Fragestellungen des Designs ist Latours Praxis von zentraler Bedeutung, denn Latour schreibt nicht nur, sondern organisiert eine ganze Palette verschiedener Projekte von Ausstellungen, Workshops und Theaterstücken bis zur Online-Lehre 6 Original in »An Inquiry into Modes of Existence«: »In other words, why not transform this whole business of recalling modernity into a grand question of design?« [MEx:23], dt. 2014: »Existenzweisen« [Exw:59], zu Problemen der Übersetzung vgl. 3.3.2 7 Dabei sind vor allem folgende Quellen von Bedeutung: How to Make Things Public von 2005 [HTP] und Visualization and Cognition: Drawing Things Together von 1986 [VisCog]. 8 Um die Diskussion hier nicht unnötig mit dieser Erörterung zu belasten, orientiert sie sich im Zweifelsfall am Originaltext (in der Regel die englische Version).

141

142

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

(MOOC) und dem netzbasierten Forschungs- und Publikationsprojekt »Existenzweisen« [Latour 2014]. Durch die Verbindung mit mächtigen Partnern im Kulturbetrieb entfalten diese Projekte eine Wirkung, die weit über das Fachpublikum hinausgeht. Die fachliche Rezeption Latours hat sich aber – den wissenschaftlichen Gewohnheiten folgend – bisher überwiegend mit seinen Texten beschäftigt. Für das Design sind jedoch gerade die Projekte Latours besonders interessant, da er einer der wenigen Theoretiker ist, dessen Ansätze auch in der eigenen Praxis beobachtet und überprüft werden können (B 9). Bei einem Forschungsprojekt bietet sich die seltene Gelegenheit, den Versuch einer praktischen Umsetzung von Postulaten der ANT zu beobachten und zu bewerten.9 Das Projekt ist jedoch – im Gegensatz zur Verbreitung von Latours Schriften – kaum dokumentiert und wurde bisher entsprechend wenig zur Kenntnis genommen. Durch medienarchäologische Arbeit werden Teile der Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse rekonstruiert. So entsteht ein Beitrag zur Quellenlage der Latour-Forschung, der auch über den Kontext des Designs hinaus von Bedeutung sein kann (B 9.5). Zusammenfassend wird eine kritische Würdigung von Latours Position in Bezug auf das Design entwickelt (B 10). Es wird gefragt, ob Latours Annahmen korrekt sind, seine Argumente überzeugen und seine Vorschläge eine Perspektive für künftige Designarbeit darstellen. Dabei wird sich herausstellen, dass Latours Ansatz Fehler, Inkonsistenzen und im Design längst bekannte Gemeinplätze enthält, aber andererseits Anregungen bietet, die designspezifisch weiterentwickelt werden können. Die Rezeption Latours aus der Perspektive des Designs soll dazu beitragen, die bisherige Forschung zu Latour und der Akteur-Netzwerk-Theorie auch in den Kulturwissenschaften und der Soziologe zu bereichern.

9 »Mapping Controversies on Science for Politics« [MapCon], 2008–2009 gefördert im 7. Rahmenprogramm der EU

1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

In seinem Artikel »Ein vorsichtiger Prometheus?« [Prom_dt] entwickelt Latour Positionen zum Design auf Basis der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Diese kulminieren in der Formulierung einer Aufgabe für Designer, die epochale Wirkung haben soll: Kontroversen von gesellschaftlicher Relevanz sollen durch den Einsatz geeigneter Visualisierungen besser diskutiert und in der Folge beigelegt können. Im Prometheus-Text setzt Latour die Funktion des Designs von der Dynamik der technischen Entwicklung ab. Deren Kennzeichnung als »prometheisch« benennt eine schöpferische, radikale und revolutionäre Potenz, die das jeweils Vorherige zerstört. Dagegen erkennt Latour im Designer einen »vorsichtigen Prometheus«, der behutsam Umformungen durch evolutionäre Re-Designs vornimmt. Während die prometheische Haltung grundlegend gewesen sei für die Entwicklung der Moderne und wir heute »in den Ruinen des Modernismus« [WSMC:49] lebten, sei die Haltung des »vorsichtigen Prometheus« die aktuell angemessene. In Latours Hörspiel »Kosmokoloss« tritt Dr. Victor Frankenstein auf als »Gründungsmitglied und Präsident von »C. A. – Creators Anonymous«, der sagt: »Wir müssen damit aufhören, Neues in die Welt zu bringen, Grenzen zu überschreiten. (…) Prometheus ist passé.« [Latour 2011a:26]1

1.1

Bewertung des Prometheus-Artikels

Latours Prometheus-Artikel enthält Anwendungen seiner bekannten Theoreme auf das Design, die sich innerhalb des verdienstvoll begründeten Theoriehorizonts bewegen, jedoch nicht in einem designspezifischen Sinne darüber hinausgehen. Der Text 1 Der Bezug auf den Prometheus-Mythos ist im Design nicht neu, vgl. »Der verzeichnete Prometheus. Kunst, Design, Technik. Zeichen verändern die Wirklichkeit« [Sturm 1988] und »Prometheus of the Everyday: The Ecology of the Artificial and the Designer’s Responsibility« [Manzini 1992]. Ein weiterer Bezug findet sich bei Robert Anton Wilson: »Der neue Prometheus – Die Evolution unserer Intelligenz« [Wilson 1987]. Dessen deutsche Ausgabe erschien in der Reihe »RoRoRo Transformation« des Rowohlt-Verlags. Die in dieser Reihe schon vor Jahrzehnten aufgezeigte Verbindung von individuellen und gesellschaf tlichen Prozessen der Transformation ist für aktuelle Designdiskurse relevant, wurde jedoch bisher – so weit zu sehen – nicht rezipiert.

144

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

kann aber trotzdem oder gerade deswegen als Provokation im besten Sinne aufgefasst werden. Das Hervorrufen von Widerstand und Kritik gegenüber mancher von Latours Aussagen kann helfen, bisher unscharf gebliebene Positionen des Designdiskurses zu präzisieren. Darüber hinaus gibt es gute Gründe, die von Latour gestellte Designaufgabe aufzugreifen und zu erweitern. Für einen – zumindest in Deutschland – immer noch wenig entwickelten Designdiskurs sollte es anregend sein, Designaspekte innerhalb eines größeren Theorierahmens zu diskutieren. Die Beiträge von Latour und Sloterdijk (vgl. 7.1) zum Design verdanken ihr Gewicht der Autorität ihrer Urheber, auch wenn diese auf anderen Gebieten erworben wurde. Das Feld des Designs wird von diesen Autoren nur nebenbei und als Bestandteil umfassender Theorieentwürfe zur Soziologie und Geschichte von Technik und Kultur behandelt. Originäre Designautoren mit nur annähernd vergleichbarem Aussagenanspruch sind bisher kaum zu finden. Hier mag sich eine Aufgabe für die künftige Theoriebildung im Design andeuten. Die drei genannten Komplexe – Prometheus-Text, Beispiele und Projekte – zeigen vielschichtige Bezüge zwischen ANT und Design. Diese gehen weit über die von Latour beschriebenen Visualisierungsaufgaben hinaus und lassen sich gestalterisch fortführen. Die Ref lexion der ANT kann im Design operativ gemacht werden durch die Entwicklung eines Concern Ansatzes (vgl. Teil C). Latours Begriff der »Concerns« stellt sich damit als wirkungsmächtiger heraus, als sein Autor vielleicht ahnen konnte. Eine so begründete Designpraxis lässt empirische Erkenntnisse erwarten, die zu einer Überprüfung und Weiterentwicklung des Theorierahmens führen könnten.

1.2 Latours Design Aufgabe Bereits in einem früheren Text hatte Latour eine »Ästhetik der Tatsachen« [RPDP:32] gefordert, die als »öffentlich inspizierbarer Raum« [Prom_dt:370] ein »vollkommen neues politisches Terrain« [ibid.] eröffnen soll. Dieses erwachse aus den Anspruchsgruppen (stakeholder), die sich um Kontroversen bilden. In seinem Prometheus-Text reformuliert Latour diese ältere Forderung als zentrale Zukunftsaufgabe des Designs. Latour bemerkt, dass die Designdisziplinen Methoden entwickelt haben, um mit »matters of fact« umzugehen. Er bezieht sich dabei auf alle Arten von Zeichnungen und Modellbildung sowie die Systeme des Computer Aided Designs (CAD) und fordert ähnlich wirkungsmächtige Werkzeuge für die matters of concern. Warum kann ein so machtvolles visuelles Vokabular, wie es in der Vergangenheit von Künstlern, Ingenieuren, Designern, Philosophen, Handwerkern und Aktivisten für matters of fact entwickelt wurde, nicht auch (…) für matters of concern entwickelt werden? [WSMC:13, Übersetzung PFS, vgl. Prom_dt:373] Die Designaufgabe wird mehrfach beschrieben: Wie können wir matters of concern zusammenziehen (orig. »draw together« PFS), um politischen Auseinandersetzungen eine Übersicht oder zumindest eine Sicht der Schwierigkeiten anzubieten, in die wir uns jedes Mal verstricken, wenn wir die praktischen Details unserer materiellen Existenz verändern müssen? [ib.:370]

1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

Doch was in diesen wunderbaren Zeichnungen (…) stets gefehlt hat, ist ein Eindruck der Kontroversen und der vielen Anspruchsgruppen (orig. »stakeholders«, PFS), die mit diesen in die Welt kommen. [WSMC:12, Übersetzung PFS, vgl. Prom_dt:371] Um dies zu leisten wird eine Innovation vorausgesetzt: Neue Innovation wird absolut notwendig sein, wenn wir die konfligierenden Naturen all der Dinge, die designt werden müssen, adäquat repräsentieren wollen – ich verstehe das Verb »repräsentieren« hier in dem umfassendsten Sinn, nach dem künstlerische, wissenschaftliche und politische Repräsentationstechniken dazugehören. [ib.:372] Diese Innovation soll aufdecken, (…) worin die verborgenen Praktiken modernistischer Innovationen stets bestanden haben: Objekte sind immer schon Projekte gewesen; Tatsachen immer schon uns angehende Sachen (orig. »matters of concern«, PFS). [ib.:372/3] und sie soll (…) für Dinge, das heißt für uns angehende Sachen (orig. »matters of concern«, PFS), einen visuellen, das heißt öffentlich inspizierbaren Raum bereitstellen, der auch nur im Entferntesten so ergiebig wäre, so leicht handhabbar und so kodifziert wie das, was vierhundert Jahre lang für als Tatsachen begriffene Objekte getan worden ist. [ib.:370] Auch das Ziel der Mission wird angegeben: Was keine Revolution je in Betracht gezogen hatte, nämlich unser kollektives Leben auf der Erde zu erneuern, wird nun mit Einstellungen durchgeführt, die revolutionären und modernisierenden Einstellungen genau entgegengesetzt sind. [ibid.:364] Doch war eine Erneuerung des kollektiven Lebens auf der Erde nicht genau die Definition einer Revolution? Ist es nicht das, was Revolutionäre nicht nur in Betracht zogen, sondern mit aller Macht anstrebten? Wer so fragt, hat die Latour’sche Begriffsakrobatik offensichtlich noch nicht nachvollzogen. Sicher erscheint aber, dass die neuen »Einstellungen« als Design identifiziert werden. In diesem Sinne verstehe ich das Wort Design als einen klaren Ersatz für Revolution und Modernisierung. [ibid.:361] Gegen die revolutionäre und prometheische Moderne wird also das Design angerufen, das bisher als Agent eben dieser Moderne galt, indem es einen ständigen Wettbewerb um bessere Lösungen beförderte und damit dem Fortschrittsoptimismus diente. Jetzt soll es jedoch vorsichtig und evolutionär vorgehen, dabei aber weiter den hohen Anspruch einer »Erneuerung des kollektiven Lebens« verfolgen.

145

146

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

1.3 Die Platzierung des Designs im Theorierahmen der ANT Als Rahmenbedingung des Prometheus-Artikel setzt Latour ein Thema, das für die Entwicklung der Akteur-Netzwerk-Theorie zentral ist und als Slogan bekannt wurde: »Wir sind nie modern gewesen« [NMod].2 In rhetorischer Zuspitzung postuliert Latour eine historische Situation, die durch eine »vollständige Trennung« von »zwei großen alternativen Narrativen« [Prom_dt:358] gekennzeichnet ist.

1.3.1 »Zwei große, alternative Narrative« Latour entwickelt seinen Begriff der Moderne aus der Behauptung zweier Unterscheidungen. Danach wird das Verhältnis von »Natur« und »Kultur« sowie von »menschlichen« und »nicht-menschlichen Wesen« [NMod:34] durch eine »erste Dichotomie« bestimmt, die aus einer »Reinigung« hervorgeht. Durch eine »zweite Dichotomie« wird eine weitere Ebene eingeführt, wo »hybride Netzwerke« der Trennung von Natur und Kultur durch »Übersetzungen« [NMod:20] entgegenwirken. Dieses Verhältnis wird durch ein Diagramm visualisiert (Abb. 16).

Abb. 16: »Reinigungs- und Übersetzungsarbeit« nach Latour [aus NMod:20], vgl. 5.1 Latour beschreibt im Wesentlichen diese zweite Ebene, die er als seine Entdeckung ausgibt und der er im politischen und ethischen Sinne zu ihrem Recht verhelfen will. Latours Forderung ist es, den fiktionalen Charakter der ersten Dichotomie zu erkennen und die zweite Ebene als bisher ausgeblendete und unterdrückte, aber immer schon anwesende, unterschwellig wirksame Dimension anzuerkennen. Seine Position beansprucht, die auf »Reinigung« und »Trennung« basierende Sichtweise der Moderne als künstlich und interessegeleitet zu entlarven, während behauptet wird, mit der Akteur-Netzwerk-Theorie eine realistischere Perspektive als »second empiricism« [WSMC:24] anzubieten. Latour gibt vor, die Moderne als eine Erzählung zu dekonstruieren und liefert dafür eine alternative Erzählung. Seine rhetorische Strategie ist es, zunächst einen Gegner aufzubauen, um dann die gesteigerte Fallhöhe zu dessen Widerlegung zu nutzen. 2 Die Popularisierung reicht bis zur Nennung in einem Roman, vgl. »Römische Tage« [Strauß 2019].

1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

So erzeugt Latour das Bild und den Begriff einer Moderne, die kaum je so geschlossen und eindimensional war, wie Latour es voraussetzt. Von diesem Zerrbild setzt sich dann die von ihm propagierte Alternative umso glorreicher ab. Die Kritik an der Moderne führt Latour zu einer Positionsbestimmung des Designs, denn dieses wird als Gegenspieler der Moderne konzipiert: For me, the word design is a little tracer whose expansion could prove the depth to which we have stopped believing that we have been modern. In other words, the more we think of ourselves as designers, the less we think of ourselves as modernizers. [Prom_eng:3] Diese Positionierung des Designs nach Latour lässt sich an einer Vielzahl von Aussagen ablesen: (…) den Modernismus aus seiner historischen Sackgasse heraus zu manövrieren. [Prom_dt:372] (…) die typisch modernistische Wasserscheide zwischen Materialität auf der einen Seite und Design auf der anderen löst sich langsam auf. [ibid.:357] Latour etabliert ein binäres Schema von Moderne und Design, das zu dem im Folgenden entscheidenden Begriffspaar von matters of fact und matters of concern führt. (Tab. 3) Moderne – matters of fact »Emanzipation, Loslösung, Modernisierung, Entwicklung und Beherrschung« [Prom_dt:357]

Design – matters of concern »Bindung, Zuwendung, Verwicklung, Abhängigkeit und Fürsorge« [Prom_dt:357]

»Grundlegung, Kolonisierung, Errichtung oder den Bruch mit der Vergangenheit (…) Hybris und die Suche nach absoluter Gewissheit (…) radikale Abschiede und absolute Neuanfänge« [ib.:362]

»Gegengift« für alles in der linken Spalte [ib.:362]

»materiell, real, objektiv und faktisch« [ib.:363]

»sozial, symbolisch, subjektiv, erlebt« (ib.:363)

Tab. 3: Latours »zwei große alternative Narrative« [Tabelle: PFS, nach Prom_dt:357] Während matters of fact übersetzt werden als »Fakten« oder »unbestreitbare Tatsachen« soll die Neuprägung matters of concern kontroverse öffentliche Angelegenheiten bezeichnen und wurde übersetzt als »Dinge von Belang« oder »bestreitbare Tatsachen«.3 Für die Fakten gebe es immer perfektere Techniken der zeichnerischen Darstellung, die eine zentrale Rolle beim Auf bau komplexer Strukturen der Arbeitsteilung spielten und damit eine Grundlage der modernen Gesellschaft seien. Heute gelte es, in ähnlicher Weise die Komplexität gesellschaftlicher Kontroversen durch angemessene Visualisierungen als matters of concern auf Anschauungsniveau zu bringen. Latour postuliert,

3 zu Problemen der Übersetzung vgl. 3.3

147

148

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

(…) dass die gegenwärtige historische Situation durch einen vollständigen Bruch [ib.:357] zwischen diesen Narrativen definiert ist. Sein Anliegen sei eine »Versöhnung« der beiden Bereiche: Wie können wir die gänzlich verschiedenen Reihen von Gefühlen, Leidenschaften und Antrieben, die durch die beiden alternativen »großen Erzählungen« der Moderne ausgelöst werden, miteinander versöhnen – die der Emanzipation (die offizielle Geschichte) und die der Bindung (die verborgene Geschichte)? [ib.:365] Interessant ist, dass hier erstmalig von »Gefühlen, Leidenschaften und Antrieben« die Rede ist, die bei der vorgeschlagenen Erweiterung des Konzepts der matters of concern zu einem Ansatz des Concern Designs eine zentrale Rolle spielen werden (vgl. Teil C). Erstaunlich bleibt jedoch, dass Latour keinen Bezug herstellt zwischen seinen matters of concern und den »leidenschaftlichen Interessen« bei Gabriel Tarde, obwohl er bereits sieben Jahre vor dem Prometheus-Text zu Tarde publiziert hatte [vgl. Latour 2001]. Auch der Begriff der »Versöhnung« lässt auf horchen, denn eine vorher erklärte Feindschaft ist nicht zwangsläufig zu erkennen. So ergeben sich folgende Fragen: • Können gesellschaftlich wirksame Kräfte tatsächlich auf die beiden beschriebenen Narrative reduziert werden? • Sind weitere Kräfte oder Narrative zu berücksichtigen? • Warum sollen die beiden Narrative versöhnt werden? Warum soll das Design nur stehen für »Bindung, Zuwendung, Verwicklung, Abhängigkeit und Fürsorge« [Prom_dt:357] und nicht für »Emanzipation, Loslösung, Modernisierung, Entwicklung und Beherrschung« [Prom_dt:357]? Errichtet Latour hier nicht eine neue Dichotomie als »Reinigung«, während das Design die Aufgabe der »hybriden Netzwerke« übernimmt, um die kategorisch getrennten Aspekte zu verbinden? Insofern ist es erstaunlich, dass Latour das Design hier nur einseitig auffasst als Gegenspieler der Moderne und es im genannten Schema von »modern« und »nicht modern« ausschließlich auf der Seite des Nichtmodernen platziert. Ist es nicht gerade eine Qualität des Designs, diese beiden von Latour säuberlich unterschiedenen Aspekte simultan zu verfolgen und sich dabei gerade nicht für die eine oder andere Seite zu entscheiden? Die Pointe wäre, dass Latour damit ein Schema wiederholte, das er selbst bereits kritisiert hat und sich dort falsch einschriebe. Der Erkenntnisgewinn zur Positionsbestimmung des Designs wird dadurch aber nicht geschmälert: Design bezieht sich sowohl auf die eine wie auf die andere Seite. Seine Leistung besteht darin, das »Dazwischen« auszuloten.4 Hier ereignet sich jenes »Entanglement«, das viele Wissenschaften negieren wollen, für die Designer aber der Schauplatz künftiger Qualitäten ist, wie von Latour beschrieben:5

4 vgl. Designer als »Spezialisten des Dazwischen« [Jonas 2001], »Design zwischen allen Stühlen« [Grasskamp 1991] 5 vgl. Barad 2007, Haraway 2016 sowie die Frage: »What comes after entanglement?« [Giraud 2019]

1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

(…) an entanglement between humans and nonhumans that is ever more intimate and ever larger in scale. [MEx:298] Das Design findet seine Bestimmung darin, die beiden alternativen »große Erzählungen« der Moderne« [ibid.: 365] in sich aufzunehmen. Latour beschreibt genau dieses Zusammenwirken der beiden Reihen von Emanzipation und Bindung in seinem AND/ Or Diagramm (Abb. 33, 5.5.2), wobei er aber nicht erkennt, dass dies eine zutreffendere Beschreibung der Designtätigkeit ist. Eben diese Perspektive wäre doch zu erwarten, wenn Latours Aufgabe einer »Revision der Moderne« vom Design geleistet werden soll: zwar dem Projekt der Moderne verhaftet, aber erweitert um die Dimension der »Hybriden Netzwerke«. Das Design entwirft neue Formen, die Emanzipation UND Bindung, Zuwendung UND Loslösung, Abhängigkeit UND Beherrschung ermöglichen. Die Gegensätze werden dabei nicht dialektisch vermittelt oder im Kompromiss befriedet, sondern sie werden aneinander gesteigert.6

1.4 Rezeption des Prometheus-Textes Der Text »Ein vorsichtiger Prometheus? …« geht auf einen Vortrag Latours von 2008 auf der Tagung Networks of Design der British Design History Society zurück. Deren Veranstalter konstatierten im Tagungsband »an excitement about actor network theory«.7 Im Gegensatz zur behaupteten Begeisterung blieben explizite Anknüpfungen von Theorie und Praxis des Designs an die ANT zunächst aber noch sehr überschaubar. Eine erste detaillierte Auseinandersetzung mit Latours Perspektive findet sich im Kontext der systemischen Bestimmungen von Designaufgaben [Jonas 2000]. Danach jedoch wird die ANT in Designpublikationen eher kursorisch erwähnt.8 Kommentare von Designern etwa bei der Weitergabe des Textes im Netz waren überwiegend positiv, blieben aber vage.

6 Ohnehin legt die englische Version des Textes nahe, dass Latour beide Reihen als eine einzige Geschichte (»single story«) konzipiert, womit ein Verlangen nach Versöhnung entfallen müsste, vgl. 7.1.2. 7 »An excitement about actor network theory (ANT) and a sense that it offered new ways of thinking about and approaching, not only design but also its histories, resulted in a project that brought together just under three hundred people to listen to over one hundred and fifty papers given by scholars, designers, curators and those involved in the design industries from across the world.« [Hackney et al. 2008:xi]. Das Vorwort trägt die Überschrift »›Design‹ – A little word that constitutes a revolution«. Den Herausgebern ist offenbar entgangen, dass Latour das Design gerade nicht als Revolution ansieht, sondern vielmehr dessen evolutionäre Funktion propagiert. 8 vgl. Verbeek 2005, Shove et al. 2007, Shove et al. 2012

149

150

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

1.4.1 Deutschsprachige Rezeption Erst einige Jahre nach dem Erscheinen von Latours Prometheus-Text ist eine allmähliche Rezeption im deutschen Gestaltungsdiskurs nachweisbar, die aber zunächst noch knapp ausfällt [vgl. Holert 2011:37-39]. Die früh behauptete »breite Einwanderung«9 der ANT in den Designdiskurs ist erst in den letzten Jahren tatsächlich nachweisbar.10 Diese Konjunktur verdankt sich allerdings auch modischen Aspekten: Mit dem Vokabular der ANT erscheinen Annäherungen des Designs an die Kulturwissenschaften möglich, ohne dabei allzu präzise sein zu müssen. Die Reaktionen des Designs auf die ANT erscheinen als limitiert im Vergleich zur sehr breiten und detaillierten Rezeption der ANT in den Technik-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Zwar wurde die ANT auch dort – zumindest im deutschsprachigen Raum – erst mit Verzögerung wahrgenommen.11 Seitdem spielt sie aber im Kontext des »material turns« eine wichtige Rolle.12 So ergab sich die paradoxe Situation, dass zentrale Protagonisten der ANT von manchen Themen und Begriffen bereits wieder abrückten, während der Diskurs in Deutschland jene erst entdeckte. Dies gilt etwa für den Begriff des Netzwerks, von dem sich etwa John Law schon früh distanzierte [Law 1999]. Unterstützt von einer globalen, wenn auch teilweise kritischen Resonanz entwickelte Latour unterdessen seine Ansätze fort von Theorien mittlerer Reichweite zu Theorien größter Reichweite, die auch allgemeine philosophische Erörterungen sowie populärwissenschaftliche Themen umfassen [vgl. Latour 2014, 2017]. Dem Anspruch der ANT auf Begründung eines »second empiricism« [WSMC:24] zu folgen, würde jedoch das Aufsetzen von Projekten bedeuten, die Positionen der ANT zum Ausgang nehmen, ihre Annahmen in der praktischen Arbeit einsetzen, gegebenenfalls anpassen und weiterentwickeln. Eine solche Rückkopplung ist ganz im Sinne des Designs und könnte zu einer dritten Welle der Rezeption der ANT beitragen (vgl. A 1.5.4). Was die Beurteilung des Designs bei Latour betrifft, könnte diese Rezeption kritischer ausfallen als ihre Vorgänger, wie etwa der folgende Kommentar zeigt: Eine Kritik an der Design-Konzeption des Autors, wobei beanstandet wird, dass sich Latour, anders als die Mehrzahl der gängigen Designtheorien, weder mit Geschichte noch mit Theorie und Kritik innerhalb des Bereichs des Designs auseinandersetzt, und dass Versuche des Autors, Moralität in den Designbereich zu übernehmen, eine reine Instru9 »Einerseits ist es die Hinwendung zu den Dingen – in Form der ANT (Akteur-Netzwerk-Theorie) – und ihrem Eigenleben, die zurzeit breit in den Designdiskurs einwandert, andererseits seine Positionierung der Zukunftsgestaltung im Modus des Designs als explizite Verlangsamung und Behutsamkeit.« [Matt 2010:o.S.] 10 Die Rezeption Latours in Designdiskursen setzte zunächst in den Niederlanden und England ein im Kontext von Forschungen zur materiellen Kultur und Design-Anthropologie [vgl. Verbeek 2005, Clarke 2018]. Der Anthropologe Arturo Escobar bezog Latours Arbeiten früh auf das Thema »Encountering Development« [Escobar 1995]. Weitere Bezüge sind u.a. Gutmannsbauer 2017, der Call for Papers der Zeitschrift Co-Design zum Thema: »Designing Things Together: Intersections of Co-Design and Actor-NetworkTheory« (2014) sowie die Tagungsthemen der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung: »Reassembling Relationships, People, Systems, Things« (2015), »Civic – Zur Theorie und Praxis des Sozialen und Politischen im Design« (2017) und »Matters of Communication« (2018), www.dgtf.de 11 vgl. Schmidgen 2011:12 12 vgl. Schüttpelz 2006, Rammert 2007, Siegert 2009, Schulz-Schaeffer 2012, Janda 2018

1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

mentalisierung und eine unzulängliche Beurteilung der Relevanz des Faktors Mensch im Designprozess darstellen. [Gutmannsbauer 2017] Ein anderer Kommentar will in Latour einen Interpreten der Postmoderne erkennen und wiederholt dreißig Jahre alte Forderungen nach einer »Humanisierung der Technik«, ohne zu erkennen, dass Latours Ansatz gerade die entscheidenden Hinweise gegeben kann, um diese Forderung zu überwinden: Heute wollen Grafikdesigner mehr, als nur Aufmerksamkeit für Waren zu erzeugen. Und nicht wenige Industriedesigner wollen mehr, als bloß dabei helfen, industrielle Waren herzustellen. Sie gehen davon aus, dass es gilt, »die Technik zu humanisieren« (Bonsiepe 1996:133). Zu diesem Trend gehört auch die neue, postmoderne »Aufmerksamkeit für Bedeutung« und für die »Interpretation« der Dinge sowie für die »Sprache der Zeichen« (Latour 2009:360). [Schweppenhäuser 2016:5]13 Der oben zitierte Gui Bonsiepe sieht in Latour nur einen Soziologen, der über Aspekte des Gebrauchs spricht, ohne zu erkennen, dass der eingeforderte »Projektcharakter der Artefakte« gerade dem bei Latour zentralen Aspekt des Dingpolitik und der »matters of concern« entspricht. Ausgerechnet Latour eine »Monodisziplinarität« vorzuwerfen, disqualifiziert sich selbst. So wie man Ärztinnen und Ärzten die Eigenschaft des medizinischen Blicks zuschreibt, also im Grunde, Differenzierungen wahrzunehmen, die dem Auge des Laien nicht auffallen, haben Designerinnen und Designer einen designerischen Blick, also die Fähigkeit, an materiellen und semiotischen Artefakten gebrauchsrelevante Details wahrzunehmen, und mehr noch ein spezifisches Problembewusstsein. Einen in diese Richtung zielenden Ansatz scheint Latour mit seinem Konzept von Akteur und soziotechnischem Netzwerk zu verfolgen, aber eben immer noch vom monodisziplinär geprägten Standpunkt der Soziologie und ohne den Projektcharakter der Artefakte gebührend zu berücksichtigen. [Bonsiepe 2021:348] Auch eine fundamentale Kritik wurde formuliert. Im Rahmen von Untersuchungen zur »dunklen Seite der Gestaltung« [Erlhoff 2021] wird die Gültigkeit traditioneller Kriterien für gelungenes Design wie Funktion, Effizienz und Langlebigkeit bezweifelt, da sie etwa auch auf den Entwurf eines elektrischen Stuhls anwendbar sind. Daraus wird eine fundamentale Ablehnung der ANT gefolgert, aber leider nicht weiter begründet: Dies alles geht übrigens auch konform mit jener in der Forschung immer noch so beliebten »Actor Network Theory/ANT« von Bruno Latour, wurde von diesem und wird von dessen Apologeten allerdings als Problem nicht benannt. Womit unter anderem die

13 Die hier als Zitat Latours angeführten Formulierungen haben keine Entsprechung im Original. Bei Latour 2009/Prom_dt.:390 steht: »Aufmerksamkeit für Details« (Zeile 8, kursiv im Original) und »Sinn für Bedeutung« (Zeile 17). Von »einer »post-modernen Aufmerksamkeit für Bedeutung«, einer »Interpretation« der Dinge und einer »Sprache der Zeichen« [Schweppenhäuser 2016:5] ist keine Rede. Die falschen Zitate Schweppenhäusers wurden übernommen von Breuer, Eisele 2018:146.

151

152

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

substanzielle Banalität und mangelnde Aussagekraft sowie ohnehin veraltete Fassade dieser Theorie mal wieder offensichtlich wird. [Erlhoff 2021:20] Die genannten Beispiele zeigen, dass Latours Arbeit im Design auf enthusiastische Zustimmung, vages Interesse oder gar vollständige Ablehnung gestoßen ist. Eine detaillierte Auseinandersetzung wie in den Kulturwissenschaften ist aber im Design bisher nicht zu erkennen. Im Gegensatz zu deren Rezeption geht es dem Design jedoch um ein pragmatisches Interesse, das die Stärken und Defizite der ANT für die Formulierung künftiger Ansätze im Design nutzen und weiterentwickeln will.

1.4.2 Internationale Rezeption Eine umfangreiche Rezeption im Design erfuhren die Ansätze der ANT vor allem in Skandinavien, England und den Niederlanden. Dort können die Themen der ANT an Entwicklungen des »Participatory Design« anschließen, dessen Grundlage ein Verständnis der Zivilgesellschaft ist, das traditionell auf einer starken Bürgerbeteiligung und einem versorgenden Staat beruht. In Skandinavien entwickelten sich solche Ansätze vor allem im Umfeld der Gestaltung von Arbeitsplätzen im Zuge der Einführung von Computern.14 Aktuelle Arbeiten beziehen sich darauf, und eine neue Generation von Designforschenden nutzt die Möglichkeiten, die durch neue Institutionen und Ausbildungsstrukturen entstanden sind.15 In den Niederlanden wurde die ANT in Bezug auf neue Begriffe und Funktionen des Politischen wahrgenommen. Aktivisten und Bürgerrechtler engagierten sich hier schon früh in der experimentellen Nutzung von digitalen Netzen, wie dem seit 1994 betriebenen Projekt »Die digitale Stadt«.16 In England und den USA treffen Ansätze der ANT auf den dortigen Pragmatismus, wie er von John Dewey und Charles Sanders Peirce begründet und in Konzepten des »ref lective practitioners« [Schoen 1983] und der »situated actions« [Suchman 1987] operativ weitergeführt wurde. In England wurden Anregungen Latours in die Designausbildung übernommen.17 Bis heute sind im Design jedoch nur wenige Projekte zu finden, die sich implizit oder explizit auf die ANT oder die im Prometheus-Text formulierte Designaufgabe der Visualisierung von Kontroversen beziehen. Dazu gehören die Arbeiten von Latours früherer Mitarbeiterin Albena Yaneva an der Architekturfakultät in Manchester 14 vgl. Kyng, Bjerknes, Ehn 1987; Greenbaum, Kyng 1991 15 vgl. Johansson 2005; Ehn et al. 2012; Eriksen 2012; Lindström, Ståhl 2014 16 Diese Erfahrungen flossen ein in Untersuchungen zu den politischen Funktionen neuer Formen der Öffentlichkeit [Marres 2005], dem »Design of Trust« [Nevejan 2007] und der »materiellen Partizipation« [Marres 2012] sowie in Forschungen zur »Web Epistemologie«, die auch die Entwicklung von Technologien umfasst, vgl. »Mapping Public Web Space with the Issuecrawler« [Rogers 2010]. Ein neueres Projekt übernimmt seinen Namen von Latour, weist die thematischen Bezüge aber nicht detailliert aus, https://theparliamentofthings.org. 17 Davon wird im Beitrag »Welcome to Critical-land« [Ward, Wilkie 2008] berichtet, der mit Latours Prometheus-Artikel im Konferenzband der »Networks of Design« Tagung publiziert wurde. Allerdings gibt es auch eine Untersuchung zur Alltagskultur, die ohne Bezug auf die Akteur-Netzwerk-Theorie auskommt, obwohl sich hier die Aufwertung der Dinge, denen die ANT Handlungsmacht zuspricht, gut anschließen ließe [vgl. Shove et al. 2007].

1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

[Yaneva 2009, 2012, 2022] und Projekte des Kollektivs »A. TELIER« mit Pelle Ehn [A. TELIER 2011, Ehn 2010], die sich sowohl praktisch als auch theoretisch mit Latours Ansätzen beschäftigen.

1.5 Anschlüsse und Perspektiven Auch vor dem Hintergrund der ambivalenten Aufnahme von Latours Positionen ist seine Perspektive auf das Design provokant im besten Sinne: Sie regt an zum Widerspruch und zum Weiterdenken.

1.5.1 Reaktion auf den Prometheus-Text Der Prometheus-Text besteht aus einer Mischung von eigenwilligen Betrachtungen, steiler Thesenbildung, nicht ausgewiesener Empirie, ungeprüften Annahmen und persönlicher Meinung. Eine Fülle von meist unscharf konturiertem Material wird in vielfältigen, teils überraschenden Verbindungen montiert und dramaturgisch zu einer Erzählung mit auf klärerischem Gestus zugespitzt. Der Text bleibt hermetisch, da er nur sehr selektive Referenzen zu Personen oder Diskursen, historischen oder systematischen Kontexten enthält. Die Annahmen werden häufig nicht belegt oder mit anderen Perspektiven kontrastiert. Es wird keine Arbeit diskutiert und kein Autor zitiert. Es gibt keine Hinweise zur geschichtlichen Veränderung des Designbegriffs und seinen verschiedenen Konnotationen in Bezug auf die wechselnden technischen und sozialen Bedingungen. Der Artikel erreicht nicht den Standard wissenschaftlicher Texte. Er nutzt dagegen literarische Elemente wie redundante Aufzählungen (z.B. Reihen von Adjektiven bei der Unterscheidung von matters of fact und matters of concern), Bezüge auf selbst eingeführte Mythen (in Hinsicht auf die Beurteilung der Moderne) und Sprünge im Maßstab (zu wenige oder zu viele Details). Darüber hinaus ist die Zuordnung von Perspektive und Sprecher häufig unklar.18 In allen diesen Merkmalen entspricht der Text Latours typischer Sprachform (vgl. B 8). Beim Prometheus-Text können folgende Aspekte und mögliche Reaktionen unterschieden werden.

1.5.2 Demut und Anmaßung Designer interessieren sich für Formfragen. Daher fällt in einer ersten Reaktion zunächst Latours Rhetorik auf. Latour positioniert sich im Prometheus-Text als bescheidener Außenseiter, der lediglich amateurhafte Bemerkungen macht. So finden sich Formulierungen wie: I know this is a very poor rendering of what you now want to mean by »design«.19 I know even less about its history (…).20

18 vgl. die Frage von Perspektive und Stimme in der Texttheorie [Genette 2010] 19 Prom_eng:2 20 ibid.:2

153

154

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

I dare to articulate this odd argument based (very flimsily I agree) (…).21 (…) by proposing (out of ignorance, surely) (…).22 Diese scheinbar demütigen Aussagen stehen jedoch im krassen Gegensatz zu dem anmaßenden Anspruch, das Design über seine Zukunftsaufgaben auf klären zu wollen, zumal diese lediglich darin bestehen sollen, Visualisierungen zu entwickeln, weil diese im Theorierahmen Latours als wichtig erkannt wurden. Latours Prometheus-Text muss daher zwiespältig beurteilt werden: • Einerseits erscheint er als anregend, da das Design in einem größeren Rahmen von evolutionärer Entwicklung und Technikphilosophie diskutiert wird, und auch die Bestimmung einer zentralen Rolle des Designs für zukünftige Entwicklungen kann positiv aufgenommen werden • Andererseits irritiert der Anspruch eines fachfremden Autors, »einige Schritte zu einer Philosophie des Designs« unternehmen zu wollen bei gleichzeitiger Ignoranz des aktuellen Standes der Disziplin sowie aller historischen und systematischen Bezüge

1.5.3 Widerspruch In einer zweiten Reaktion muss einigen von Latours Annahmen widersprochen werden. So behauptet er »verborgene Praktiken modernistischer Innovationen« [Prom_ dt:372] aufgespürt zu haben. Zwar stellt er treffend fest, dass »Objekte immer schon Projekte gewesen« sind und »Tatsachen immer schon matters of concern« [ib.:372/3] waren. Doch für das Design ist diese Einsicht ein Gemeinplatz, auch wenn sie für die Science and Technology Studies neu sein mag. Es ist gerade der Ausgangspunkt des Designs, eine zu enge Fokussierung auf Objekte und Produkte zu überwinden. Design hat – im Gegensatz zu Latours Annahme – immer daran gearbeitet, die Grenze zur technischen Perspektive der Ingenieure einerseits und zur ökonomischen Perspektive der Produzenten andererseits zu erweitern zugunsten von ganzheitlich konzipierten Entwürfen, die nutzer-, prozess- und systemorientiert sind. Dies ist in der Programmatik von Designbewegungen wie Arts and Crafts, Werkbund, Bauhaus und der Hochschule für Gestaltung Ulm deutlich ablesbar. Von »verborgenen Praktiken« kann also keine Rede sein. War es nicht gerade die Einsicht, dass matters of fact nicht ausreichen, die zum Ausgangspunkt für die Entwicklung des Designs wurde? Und ist es nicht ein groteskes Missverständnis, Designer mit einer Verspätung von über hundert Jahren über ihre Grundüberzeugungen belehren zu wollen?

1.5.4 Überprüfung und Weiterdenken Die dritte Reaktion – und diese soll im Folgenden weiterverfolgt werden – besteht darin, Latours Argumente im Einzelnen zu überprüfen und für seine Forderung neue Kontexte und Grundlagen zu finden, die schließlich zu einem Attraktor für künftige Designarbeit zusammengeführt werden können. Die Schwerpunkte dabei sind 21 ibid.:3 22 ibid.:11

1 »Ein vorsichtiger Prometheus« (Latour)?

1. Die Visualisierungsaufgabe wird im heutigen praktischen und theoretischen Kontext diskutiert. Die Visualisierungen erscheinen dabei als ein Zukunftsfeld, das gemeinsam mit Entwicklungen wie Big Data, Künstliche Intelligenz und Storytelling zu neuen Darstellungsweisen führt, die öffentliche Debatten neu strukturieren können und damit politische Wirkung haben 2. Der Begriff der »matters of concern« wird in einem spezifisch gestalterischen Verständnis weiterentwickelt. Dabei beschränkt er sich nicht mehr auf öffentliche Angelegenheiten und Kontroversen allein, sondern die Concerns umfassen auch irrationale Funktionen, die als Vor-Bilder und Einbildungskräfte individuell und gesellschaftlich wirken Die beiden Punkte Visualisierung und Concerns sind insofern verbunden, als beide auf Formalisierung und Ästhetik beruhen. Dabei können die Elemente der Visualisierung als eine zu entwickelnde Sprache noch innerhalb eines semiotischen Rahmens bestimmt werden: • formal konstante Elemente (Syntax) • inhaltlich kohärente Bezüge von Darstellung und Bedeutung (Semantik) • außersprachlicher Weltbezug in der Nutzung (Pragmatik) Die Concerns dagegen werden verstanden als wirkungsmächtige »Ausdrucksgestalten« [Oevermann 2002], die meist unbewusst, aber desto wirksamer die Rahmung für Wahrnehmungen vorgeben und Energien für Handlungen mobilisieren. Die Gestaltungsaufgabe besteht darin, das entanglement in soziotechnische Konventionen erkennbar zu machen und neue Formen zur experimentellen Erprobung durch praktische Interventionen anzubieten. Auf der Basis von Archetypen (Träume, Phantasmen, Obsessionen, …) und Narrativen (Tradition, Religion, Nation, …) werden neue »Kulturelle Formate« entwickelt [vgl. C 5.3].

155

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

Die von Latour formulierten Erwartungen an Visualisierungen sind hoch: Visualisierungen sollen die komplexen Kontroversen um die matters of concern nicht nur abbilden, sondern die Darstellungen sollen auch zu einem Konsens führen, der die Kontroverse beilegt und beendet.1 Dieser Anspruch wird aus verschiedenen Gründen als problematisch angesehen. Latour bezeichnet sein Projekt als »Beschreibungsgeschäft« [NSoz:253, vgl. 8.4], setzt in seinen Publikationen und Projekten aber massiv Bilder ein, ohne diese zu problematisieren. Er betont die Bedeutung von »immutable mobiles« als essenzielle Werkzeuge, doch formuliert keine Kritik an Karten als Instrument von Kontrolle, Disziplinierung und Normativität. Daher entgeht ihm eine prinzipielle Problematik: Wie soll ein Verfahren, das sich bei matters of fact bewährte, übertragbar sein in die Sphäre der Concerns, die als den facts entgegengesetzt konzipiert werden? Hier scheint sich eine bisher wenig bemerkte Pointe zu bilden, bei der Latour sein eigenes Schema modern/unmodern durchkreuzt. Visualisierung, Mapping und Kartografie setzen stets eine universelle Gültigkeit von Positionen der Beobachter und deren Kategorien voraus. Latours Programm erscheint damit jedoch als kaum vereinbar, da dessen Ontologie einen pluriversalen Ansatz verfolgt (vgl. 2.2.5).

2.1 Problematik der Visualisierung von »matters of concern« 2.1.1 Concerns und Gefühle In den matters of concern artikulieren sich starke Gefühle, die mit den kontroversen Themen verbunden sind. Bei dem Beispiel »Wiedereinführung des Wolfes in Frankreich«2 können das etwa die Urängste vor wilden Tieren sein. In Latours Konzept ist aber nicht vorgesehen, Darstellungen für Leidenschaften zu suchen, denn es sollen nur Argumente zählen. Doch auch diese müssten zunächst auf Daten reduziert werden, die visualisiert werden können. Es muss also – in Latours Sprache – eine »Reini-

1 vgl. 9.5 das Projekt MACOSPOL 2 ibid.

158

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

gung« stattfinden, wodurch nicht mehr matters of concern, sondern doch nur matters of fact dargestellt werden, auch wenn sich diese indirekt auf Concerns beziehen mögen.

2.1.2 Prägung durch Medien Latours Ansatz setzt voraus, dass die zu visualisierenden Concerns a priori vorhanden sind und eine vollständige und eindeutige Darstellung möglich ist. Die Repräsentation wird also als eine einfache Abbildfunktion konzipiert. Was aber, wenn sich die Concerns erst in und mit der Darstellung bilden und modifizieren? Sind es nicht Bilder und Klänge und das Erlebnis ihrer Aufführung, die Leidenschaften und Gefühle und damit auch Präferenzen, Handlungen und Entscheidungen wesentlich prägen, vorbereiten und beeinf lussen? Die Gefühle und Meinungen zum Wolf werden in den wenigsten Fällen auf unmittelbaren Erfahrungen beruhen, sondern überwiegend durch mediale Darstellungen geprägt sein: durch Erzählungen, Bilder, Märchen und Medien. Der böse Wolf in Grimms Märchen, die Einsamkeit in Caspar David Friedrichs Gemälden und die Melancholie bei Dürer sind Beispiele für Ikonografien, die kulturelle Muster prägten.

2.1.3 Datenbasis Latours Visualisierungsaufgabe setzt voraus, dass Daten vorliegen, die über ein Regelwerk mit visuellen Elementen verbunden werden (mapping). Doch wie werden diese Daten erhoben? Wird nicht jede Anspruchsgruppe (stakeholder) auf eigenen Erhebungen bestehen? Diese Problematik kann nicht ihrerseits wieder visualisiert werden, ohne in einen infiniten Regress zu geraten.

2.1.4 Rhetorik Die Visualisierungen sollen von allen Anspruchsgruppen akzeptiert werden. Die Darstellungen müssten also möglichst neutral sein.3 Doch jede Visualisierung unterliegt – wie die Sprache auch – einem Überschuss von rhetorischer Überformung und nicht intendierter Bedeutung. Keine Farbe, Form oder topologische Beziehung ist neutral, alles hat bereits Bedeutung, bevor ein Visualisierungsinteresse gestaltend eingreift.

2.1.5 Komplexität Latour fasst die Handlungsketten – Tarde folgend – als Gesellschaften auf. Diese sind so zahlreich und vielfältig, dass sie sich der Beschreibung im Einzelnen entziehen. Die Gemengelage von Fakten und Gefühlen – etwa in Bezug auf die Problematik des Wolfes – ließe sich also kaum auf Einzelfaktoren reduzieren, sondern könnte allenfalls als Muster und Verteilungsproblem beschrieben werden.

3 So strebt es Latour auch bei seinem Konzept einer »Infra-Sprache« an, vgl. 8.6.

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

2.1.6 Stereotype und »zweiter Empirismus« Latour bezieht sich bei seiner Forderung auf das historische Vorbild Otto Neuraths.4 In dessen »Isotype« System wurden in pädagogisch-propagandistischer Absicht Daten in Stereotype übersetzt, um komplexe Zusammenhänge vereinfacht verständlich zu machen. Dies erscheint zunächst als plausibel, denn Latours Motto »Making things public« [HTP] verfolgt eine ähnliche Programmatik und verspricht mehr Transparenz als eine Bedingung für demokratische Teilhabe. Der Bezug auf Neurath kollidiert jedoch mit Latours Anspruch eines »zweiten Empirismus« [WSMC:24] oder sogar eines »radikalen Empirismus« [Exw:335].5 Dessen Beschreibungen sollen zeigen, was wirklich passiert, statt nur vorgefassten stereotypen Perspektiven zu folgen. Das von Latour geforderte »Making things public« realisiert sich eben gerade nicht in positivistisch vereinfachten Rezepten, wie die geforderten Visualisierungen etwa nach dem Muster Otto Neuraths zu erstellen wären. Im Gegenteil: das Ziel der Transparenz und der demokratisch gebotenen Teilhabe erfordert den Blick hinter die Kulissen der Produktion und damit die Akzeptanz der Kontingenz aller Darstellungs- und Vermittlungsformen.6

2.1.7 Beobachtung Wie soll die im Empirismus geforderte Wirklichkeit bestimmt werden, wenn nicht durch die Unterscheidungen von Beobachtern, die zwangsläufig kontingent sind? Die Programmatik der ANT fordert, dass alle Akteure und Aktanten einer Handlungskette berücksichtigt werden. Diese werden postuliert, als seien sie gegenständlich und zweifelsfrei als ontologische Tatsache gegeben. Doch wie sollen sie aufgefunden und abgegrenzt werden? Setzen sie nicht einen Beobachter voraus, der zusätzlich in der Lage ist, Beschreibungen zu artikulieren und mit »immutable mobiles« festzuhalten? Nicht berücksichtigt wird zudem, dass digitale Karten interaktive Möglichkeiten bieten und ihren Fokus daher an Nutzer, Situation und Medien anpassen können. Karten auf der Basis von Algorithmen können Komplexität und Kontexte zu- und abschalten. Komplexe Planungsprozesse wie etwa Bauvorhaben werden von komplexen digitalen Modellen begleitet (digitaler Zwilling). Diese bieten jedoch noch keine Lösung von Kontroversen wie gefordert, denn durch die technische Möglichkeit unterschiedlicher Sichten wird die Kontroverse nur verlagert.

2.1.8 Instanz der Entscheidung Wie sollen visuelle Darstellungen ihre Grenze finden, wenn nicht akzeptiert wird, dass es eine Instanz geben muss, die entscheidet, was in eine Karte aufgenommen wird und was nicht? Latours Aufmerksamkeit für die soziale Konstruktion von Fakten, die so wesentlich ist für die Begründung seines Ansatzes, verlässt ihn bei der Konstruktion von Visualisierungen, die er lediglich als passive Registrierung von als gegeben angenommenen Daten auffasst. Dieser blinde Fleck verhindert die Entwicklung der

4 Prom_eng:49-50, vgl. 7.1.3 5 Latour bezieht sich hier auf William James (1842-1910) 6 So wurde es bereits für die Herstellung einer Szenografie beschrieben, vgl. 3.2.5.

159

160

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

gleichen Detailschärfe eines »ANT’s view«, die Latour bei seinen Laborstudien so eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte.7

2.1.9 Fazit zur Forderung nach Visualisierung: Latours blinder Fleck Visualisierungen werden wesentlich durch die Sichtweisen von Beobachtern und deren Erwartungen, Instrumente und Interessen bestimmt. Karten und Visualisierungen können daher prinzipiell nicht neutral und vollständig abbilden, sondern erfordern eben genau jene Verkürzungen, Zusammenfassungen, Auslassungen, Priorisierungen und Abstraktionen, die Latour bei schriftlichen Darstellungen und Beschreibungen kritisierte. Demgegenüber erscheinen Latours Begriff der Realität und sein Konzept von deren Abbildung als naiv.8 Visualisierungen und Karten schaffen Evidenz nach dem Motto: »Das sieht man doch!« [Nohr 2004]. Eine kritische Theorie von Visualisierungen betrifft daher nicht nur eine Nische medialer Praxis, sondern zielt darüber hinaus auf die Konstruktion von Bedeutung und die Figuration umfassender Weltbilder.9 Jedoch kann ein blinder Fleck, der als solcher bekannt ist, als Voraussetzung jeder optischen Wahrnehmung dabei helfen, das Sehen selbst in seiner Bedingtheit zu erkennen.10 Latours »reassembling the social« wäre daher durch ein »reassembling the visual« zu ergänzen, das zwischen Mapping und Unmapping, Perzeption und Rezeption eine Neubewertung und Rekombination kartografischer Verfahren entwickelt (vgl. C 7).

2.2 Die Macht der Karten Latour fordert Visualisierungen, ohne diese zu spezifizieren. Vom Zweck der Darstellung von Kontroversen um matters of concern kann aber geschlossen werden, dass es um eine Kartografierung von Concerns in Abhängigkeit von soziotechnischen Entwicklungen geht, in die die Positionen und Kontroversen der Anspruchsgruppen (stakeholder) eingeschrieben sind.11 Mit einer so spezifizierten Forderung nach einer Kartografie von Kontroversen schlägt Latour nicht nur irgendeine, sondern DIE zen7 vgl. Latour, Woolgar 1979 8 Latour scheint dies bewusst zu sein, ohne dass er jedoch seine Forderung modifiziert: »Man müsste ebenso viele Karten wie Wirkkräfte definieren, für jeden Fluss, jede Stadt, jeden Zugvogel, jeden Regenwurm, jeden Ameisenhaufen, jeden Computer, jedes Containerschiff, jede Zelle, jede Diaspora eine eigene Form einzeichnen, die die anderen überlappt, bekleckst, in sie überläuft und ihre wirkliche Beschaffenheit vertuscht. Was gäbe das für ein Chaos!« [Latour 2021:142]. Die Unmöglichkeit einer Karte im Maßstab 1:1 wird von Latour explizit angesprochen, der Widerspruch zu seiner Forderung aber nicht geklärt, vgl. 8.8.1. Die Idee einer solchen Karte erschien zuerst 1898 bei Lewis Carroll, später auch bei Jorge Luis Borges, Umberto Eco und Michael Ende. 9 Die Verwendung von Karten im Fernsehen kann daher als eine »Produktion von Positionierung« [Nohr 2002] analysiert werden. 10 vgl. Bexte 1999 11 vgl. Latours Diagramme B 5.5. Damit geht es zumindest teilweise um »Argument Visualization«, die ein umfassendes Forschungsgebiet ist, bei Latour aber nicht erwähnt wird, vgl. Kirschner et al. 2003. Anwendungsfelder sind etwa die Darstellung von Rechtsstreitigkeiten und die Visualisierung von Rechtsnormen, vgl. Brunschwig 2001.

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

trale Machttechnik der Moderne vor für Phänomene, die eine Trennung von modern/ vormodern programmatisch unterlaufen sollen. Latour besteht auf seiner Forderung nach einer Karte, obwohl alle von ihm selbst formulierten Ansprüche dagegensprechen: Das Soziale sei spezifisch, es ginge darum, ohne Bruch von einem Phänomen zum anderen zu gelangen, und eine Feldherrenperspektive des Außen sei fiktiv. Latour gibt die Empfehlung »machtnüchtern«12 zu sein. Seine Konzeption einer »Infra-Sprache« soll daher auch nur als Platzhalter und Provisorium verstanden werden (vgl. 8.7). Doch weder eine Sprache noch die Produktion von Karten können jemals ausblenden, dass sie von Macht geprägt sind, an Macht anschließen und Macht ausüben. Keine Darstellung ist jemals nüchtern oder neutral, da in Produktion und Perzeption immer schon Vorbestimmungen wirksam sind. In der Sprachkritik wurde dies vielfach benannt und inzwischen auch in der Bildkritik nachgewiesen: Farben, Formen, Flächen sind immer schon bedeutsam, ebenso wie die topologischen Verhältnisse von oben/unten, links/rechts und innen/außen.13 Für die ANT müsste es selbstverständlich sein, auch den Elementen eines Bildes Agency zuzugestehen, die über die Absichten und Interessen ihrer Urheber hinausgeht. Karten sind Machtinstrumente. Sie wählen Aspekte aus, definieren Abbildungsregeln, Koordinatensysteme und Maßstäbe und prägen so die Sicht, das Verständnis und das Gefühl für kartografierte Gebiete und Gegenstände. Karten etablieren ein Regime, das einen Zugriff auf die repräsentierten Aspekte eröffnet, während andere Aspekte ignoriert werden. Jeder Versuch, das Soziale neu zu fassen wird sich daher mit der Machtfunktion von Karten befassen müssen. Als Grundlage des »soziologischen und politischen Imaginären« [Lüdemann 2004] werden Metaphern gefunden, die die Vorstellungen wesentlich bestimmen. So macht es einen grundlegenden Unterschied, ob der Staat etwa als eine Maschine oder als ein Organismus angesehen wird. Metaphern wirken durch ihre Anschaulichkeit und die Übertragung von sinnlichen und lebensweltlichen Erfahrungen.14 Vorstellung und Darstellung sind daher in einem gemeinsamen Ursprung aufeinander bezogen: Wer die Vorstellung erneuern will, muss die Darstellung ändern, und wer die Darstellung ändert, erneuert die Vorstellung. Diese Zusammenhänge werden bei der Frage nach einer Visualisierung von Concerns berücksichtigt (vgl. C 7.1.1). Bei Latours Forderung nach Visualisierungen wurde diese Frage jedoch noch nicht einmal gestellt.

12 vgl. Latours Anmerkung zur Macht: »(…) die Bezeichnung ›machttrunken‹ – sie lässt sich auch auf jene Kommentatoren anwenden, die die Expansion machtvoller Erklärungen mit der Zusammensetzung des Kollektivs verwechseln. Daher sollten wir vielleicht einen weiteren Slogan prägen: ›Machtnüchtern sein!‹ Mit andern Worten: enthalte Dich so weit wie möglich der Verwendung des Machtbegriffs, denn er könnte zurückschlagen und die eigenen Erklärungen treffen anstatt das Ziel, das zu zerstören willst.« [RpDp:72] 13 Auch daher rührt die Forderung nach einer »Diagrammatologie« [Krämer 2016], eine Entwicklung, die sich auf C. S. Peirces »Existential Graphs« ebenso bezieht wie auf »Discourse Figure« [Lyotard 2011/1971]. 14 vgl. die umfangreiche Forschung zur Metapher sowie Kray 2010 spezifisch zu Latours Raummetaphern

161

162

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

2.2.1 Konzeptionen der Macht Die Frage der Macht in Bezug auf Karten scheint sich für Latour kaum zu stellen, wie überhaupt der Machtaspekt in der ANT als eher unterbelichtet erscheint. Eine explizite Machttheorie findet sich nur in dem kurzen Text »Die Macht der Assoziation« [Latour 2006/1986]. Dabei werden die Postulate der ANT zu Akteuren und Übersetzungen auf Aspekte der Macht angewandt. Diese erscheint dabei als ein Paradoxon: Wenn ein Akteur einfach nur Macht hat, geschieht nichts und er/sie ist machtlos; wenn andererseits ein Akteur Macht ausübt, führen andere die Handlungen aus. [Latour 2006/1986:195] Mit diesem Ansatz lassen sich etwa die Funktionen eines Schlüsselanhängers beschreiben, um eine bestimmte Verwendung des Schlüssels durchzusetzen. Die Macht ist dann in die vielen minimalen Übersetzungen eingeschrieben, kennt aber keinen zentralen Urheber mehr. Latours Sichtweise und Vokabular werden auf diese Weise bestätigt und kommen ohne jeden Bezug auf bisherige Machttheorien aus. Ob aber die Beschreibung der Durchsetzung einer solchen Verhaltensregel schon ausreicht, um Machtaspekte in ihrer Komplexität vollständig zu beschreiben, scheint auch Latour zu bezweifeln. Dessen überraschender Vorschlag lautet daher, (…) die Vorstellung von Macht fallen zu lassen. [Latour 2006/1986:210]15 Für das überwiegend analytische Interesse der ANT mögen Aspekte der Macht weniger relevant sein, doch für das Design mit seinem Anspruch auf praktische Intervention gilt das nicht, wie sich bereits bei der Frage nach der Macht der Kartografie zeigt. Gemäß den Prämissen der ANT können Assoziationen hinsichtlich ihrer Wirkungsmächtigkeit unterschieden werden: Viele in Handlungsketten verbundene Akteure und Aktanten sind mächtiger als wenige. Es bleibt jedoch die Frage, wie sich Assoziationen begründen und organisieren. Urheber und Organisatoren von Macht sind 15 Es verwundert daher nicht, dass die Behandlung von Machtfragen bei Latour als unzureichend beurteilt wurde: »Bruno Latour scheint nicht hilfreich zu sein, wenn es darum geht zu erklären, warum es in dem Gewusel an Interaktion doch sehr eindeutige Muster gibt; wie es dazu kommt, dass manche Ideen und Organisationsformen ›aushärten‹ und Kraftlinien bilden, die Ausschlüsse produzieren. Er beschreibt das Verhältnis zwischen Agent und Netzwerk lediglich als eines der Größenordnung und bleibt deshalb meist auf den/die einzelnen Akteur/Akteurin fokussiert. Wenn er den Prozess der Durchsetzung von technischen Artefakten und wissenschaftlichen Ideen als einen beschreibt, der vom historischen Ereignis zur ›stabilisierten Wesenheit‹ führt oder verspricht, zu erklären mit Hilfe welcher Instrumente und welcher Ketten man Asymmetrien und Gleichheiten, Hierarchien und Unterschiede schafft, dann gibt er uns nur sehr wenige Hinweise darauf, was die Bedingungen dafür sind, dass manche Netzwerke auf Dauer erfolgreicher sind als andere. Anders gesagt: Latour und die Actor Network Theory helfen uns nicht dabei, Zusammenhänge zwischen Kultur (als System aus Zeichen und Praktiken) und Macht zu denken.« [Harrasser 2005:17] Diese Defizite kamen auch anlässlich einer Gegenüberstellung von Foucault und Latour zum Ausdruck: »(Die ANT) sei machtvergessen, eindimensional und so sehr auf Produktivität versteif t, dass Machtef fekte um Rasse, Klasse und Geschlecht systematisch aus dem Blick geraten (…). Die harsche Kritik wird aber auch häufig mit dem Verweis auf die produktiven Werkzeuge der ANT kontrastiert (…).« [Dölemeyer, Rodatz 2010:1]

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

bei Latour nicht zu finden, da Akteure und Aktanten als eigensinnig angenommen, Handlungsketten als f lache Bahnungen konzipiert und vertikale Ordnungssysteme wie Hierarchien verneint werden. Die geforderten Prozesse der Kartografie setzen sich jedoch nicht von selbst in Gang. Sie entstehen auch nicht aus dem Nichts, auch wenn der Ausgangspunkt eines leeren Raumes der Repräsentation, wie etwa ein weißes Blatt Papier, dieses nahezulegen scheint. Sie organisieren sich vielmehr in bereits vorhandenen Formen, Konventionen und Machtkonstellationen und müssen daher bei erkannter Notwendigkeit der Erneuerung umorganisiert werden.16 In Bezug auf Kartografie wäre daher zu fragen: Wer hat die Macht darüber zu entscheiden, • • • • • •

welche Register definiert und welche Variablen zugelassen werden welche Symbole und Medien genutzt werden welcher Aufwand getrieben wird, um Fakten zu finden oder zu konstruieren welche Aspekte in eine Karte aufgenommen werden und welche nicht welche Zeit und welcher Ort für eine Debatte vorgesehen sind und wann der Prozess für beendet erklärt wird

2.2.2 Latours Vorbild: Die Explosionszeichnung Latours Vorbild für die angestrebte Visualisierung ist die technische Explosionszeichnung. Dabei schaut der Beobachter von außen auf das Artefakt. Innenliegende Teile werden demontiert und in der Fläche ausgebreitet, sodass vorher Unsichtbares entfaltet wird. Sämtliche Bestandteile eines Artefakts und deren jeweiliger Bezug zum Ganzen werden in einem detaillierten Netz dargestellt.17 Dieses Verfahren ist angemessen für technische Produkte, deren Bestandteile eindeutig, vollständig und funktional aufeinander bezogen sind (matters of fact). Für matters of concern kann jedoch nicht analog verfahren werden, da hier kein privilegierter Standpunkt eines externen Beobachters denkbar ist. Ein ordnendes, normatives Raster ist hier ebenso wenig möglich wie eindeutige funktionale Zuordnungen. Zwar kann eine Akkumulation der unterschiedlichen Perspektiven von Anspruchsgruppen erstellt werden. Diese schließen aber immer einen je spezifischen Darstellungsraum ein. A priori gültige, von allen Beteiligten akzeptierte Abbildungsregeln kann es daher nicht geben. Die Wirkungsmächtigkeit der bei Latour genannten immutable mobiles, etwa in Form von technischen Zeichnungen und Grundrissen, beruht gerade auf der Übereinkunft zu Normen, die über den Einzelfall hinaus gültig sind. Diese lassen sich aber für die »weltbildenden Aktivitäten« von Concerns nicht anwenden.

16 Dies wurde von Latour in seinen empirischen Untersuchungen detailliert gezeigt, vgl. Latour 1997, 2016b. 17 Latours Beispiel in »Making Things Public« [1996] ist der Versuch der NASA, die Absturzursache des Space Shuttle Columbia zu finden, indem Wrackteile auf einem Raster ausgelegt werden, vgl. B 6.5, Abb. 41. In Latours Kurs ›Scientific Humanities‹ wurden Explosionsdarstellungen von Kamera, Auto und TV gezeigt [Latour 2013c].

163

164

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

2.2.3 Latour als Entdecker Beim Mapping werden einzelne Aspekte einem Raster zugeordnet durch eine Regel. So werden etwa topografische Punkte einer Landschaft nach einem festgelegten Maßstab in die Planquadrate einer Karte eingezeichnet. Die Funktionen Messen, Zuordnen und Priorisieren folgen Kriterien wie Eindeutigkeit und Vollständigkeit, wodurch etwa ein unbekanntes Gebiet kontrolliert werden kann. Entsprechend tritt Latours Vorhaben mit dem Gestus eines Entdeckers auf, der bisher verborgene Kontinente und Populationen findet [vgl. WM]. Wie einst Eroberer und Kolonisatoren leitet Latour daraus das Recht ab, den entdeckten (oder erzeugten?) Phänomenen Namen zu geben (Hybride, Aktanten, Quasi-Objekte). Latour nutzt also Machttechniken der Moderne und fordert gleichzeitig deren kritische Revision, ohne die Paradoxie dieser Ausgangslage zu erkennen. Designer als Adressaten von Latours Forderung nach neuen Visualisierungen müssen daher zunächst eine Ent-Paradoxierung vornehmen: Entweder teilen sie Latours Glauben an die Möglichkeit und Notwendigkeit von Kartografie und beweisen damit ein ungebrochenes Verhältnis zur Moderne, was in der Folge eine Ablehnung von Latours Thesen zur Revision der Moderne bedeuten muss. Oder sie folgen Latours Forderung einer Revision der Moderne und können dann nicht mehr naiv auf die Möglichkeiten der Kartografie vertrauen, da diese in einem modernen Weltverhältnis verankert sind und mit diesem infrage gestellt werden müssen.

2.2.4 Die dunkle Seite jeder Karte Die Durchsetzung einer verbindlichen Perspektive ist eine Machttechnik, die nicht ihrerseits wieder kartografiert werden kann, ohne in einen infiniten Regress zu geraten. Sie bleibt daher die notwendig dunkle Seite jeder Karte.18 Bei Latour werden Visualisierung und Kartografie zusammengefasst als »immutable mobiles« [VisCog:7]. Latour erkennt in ihnen Techniken der Kontrolle und weist ihnen essenzielle Bedeutung zu beim Auf bau moderner Wissenschaften und der Durchsetzung politischer Machtansprüche. Latour besetzt dieses Potenzial ausschließlich positivistisch und formuliert hohe Ansprüche an die künftigen Visualisierungen von matters of concern. Latour ist so sehr damit beschäftigt, die »immutable mobiles« als selbständige Akteure erscheinen zu lassen, dass er die Frage nach deren Machtausübung kaum stellt. Eine Dialektik der Karte dagegen hätte zu berücksichtigen, dass sie möglicherweise das Entscheidende gerade nicht zeigt. Nicht das kartografierte Phänomen wäre dann entscheidend, sondern die Machart der Karte selbst, ihr Regelwerk, das nur indirekt durch Dekonstruktion sichtbar gemacht werden kann. Die oben geforderte »Literacy« für Karten kann daher nicht nur darin bestehen, Karten im Sinne der intendierten Abbildungen zu erstellen oder zu decodieren. Es müsste vielmehr darum gehen, die den Karten zugrunde liegenden Raum- und Zeitregime zu erkennen und ihnen Alternativen an die Seite zu stellen. Dabei reicht es nicht, lediglich weitere Regime anderer Rationalitäten anzuerkennen oder neue Abbildungs18 Dem marked space (z.B. Karte) ist immer notwendig ein unmarked space zugeordnet, und beide werden simultan durch eine Unterscheidung konstituiert [Spencer-Brown 1997], vgl. 5.3.1.

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

verhältnisse zuzulassen. Weit radikaler geht es darum, Phänomene anzuerkennen, die einer Repräsentation als Karte nur schwer oder gar nicht zugänglich sind. In der Folge wäre dann zu bestimmen, wie mit dieser graduellen oder prinzipiellen Unmöglichkeit strategisch umzugehen ist, ob also das Verweigern der Repräsentation spezifische Möglichkeiten eröffnet oder umgekehrt, inwiefern verweigerte Repräsentation erzwungen werden kann. Latour scheint hier einseitig positivistisch zu argumentieren, indem er mehr Sichtbarkeit und Teilhabe fordert für bisher übersehene Entitäten, wozu er ein »Parlament der Dinge« entwirft [PD]. Die Funktionen der gewollten und aktiv betriebenen Ausblendung und die Möglichkeiten verdeckter Operationen werden dagegen nicht berücksichtigt.

2.2.5 Universalistische Karten für pluriversale Perspektiven? Latours Forderung nach einer Visualisierung der Kontroversen um matters of concern würde zunächst erfordern, einen Darstellungsraum zu definieren. Es müsste eine Systematik entwickelt werden, die einerseits allgemeingültige Kategorien und Maßstäbe definiert und andererseits der Singularität jedes Concerns gerecht wird. Hieraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das Latour nicht erkennt. Die Kartografie erhebt Daten, stellt Kategorien auf und trägt ausgewählte Aspekte ein.19 Singuläre Phänomene wie Berge, Flüsse und Städte werden dabei einem einheitlichen Maßstab unterworfen. Die Leistungsfähigkeit der Kartografie beruht auf dieser universellen Funktion.20 Was nicht auf gemeinsame Abbildungsregeln reduzierbar ist, kann allenfalls mit einer Vielzahl von Karten mit je eigenen Kategorien und Maßstäben dargestellt werden. Latour kritisiert jedoch einen universalistischen Ansatz und will ihn durch pluriversale Perspektiven ersetzen: Since the word ›uni-verse‹ has the same deficiency as the word ›nature‹ (for unification has come about without due process), the expression ›pluriverse‹ is used to designate propositions that are candidates for the common existence before the process of unification in the common world. [Latour 2004:246] Um diesen immanenten Widerspruch aufzulösen, gilt es, seine Visualisierungsaufgabe umzuformulieren und Darstellungsformen zu suchen, die der Multiperspektivität eines pluriversalen Ansatzes entsprechen.21 19 Eben diese Verfahren standen am Anfang von Latours Arbeiten, als er beschrieb, wie Bodenproben durch Vergleiche mit Farbkarten in einem Raster geordnet wurden, um Naturphänomene durch Zeichenoperationen zugänglich zu machen [vgl. Latour 1997]. 20 Die verschiedenen Arten, den Globus zu kartografieren, stellen nicht nur ein geometrisches Problem der Abbildung einer Kugel auf der Fläche dar, sondern sie sind gleichzeitig Ausdruck einer Konstruktion von Weltbildern, vgl. die unterschiedlichen Schwerpunkte von Mercator-Projektion (1569), Peters-Projektion (1974) und Buckminster Fullers ›Dymaxion Air-Ocean Map‹ (1927/1954). Concerns und Interessen werden implizit in der Konstruktion der Karte wirksam, sie sind aber nicht ihrerseits wieder explizit in derselben Karte darstellbar. Selbst die Begriffe ›Globalisierung‹ und ›Mondialisation‹ stehen für verschiedene Weltsichten [vgl. Derrida 2001]. Latour ist dafür in der Sprache aufmerksam, etwa wenn er das Gegensatzpaar ›Globus/Erde‹ bildet [Latour 2018a], jedoch überträgt er diese Differenzierung nicht ins Visuelle. 21 vgl. A 9.1

165

166

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Wenn auf der Singularität von Concerns bestanden wird, sind Visualisierungen ebenso denkbar und notwendig wie andere Ausdrucksformen, etwa poetische. Doch eine Kartografie, die mehrere Concerns simultan unter gleichem Maßstab abbildet, kann es nur für deren »artifizielle Organisation« [ÖkW:98] geben, deren Konzept Latour von Tarde übernahm. So zeigen etwa historische Karten die Übertragung metaphorischer Darstellungen von Leidenschaften, Gefühlen und Werten auf imaginäre geografische Verhältnisse.22

2.2.6 »Cartography is Dead«: Unmapping, Counter Mapping Eine Kritik des Sozialen und die Versuche seiner Neufassung orientierten sich traditionell an Fragen der Sprache und der Begriffe und schlossen Bilder weitgehend aus.23 Erst mit der Allgegenwart digitaler Medien rückten Bilder und Diagramme sowie die sie begründenden Metaphern stärker in den Fokus. Bildgebende Verfahren wurden untersucht und auch die Kartografie als Machttechnik kritisch analysiert. Mittlerweile wurden alternative Praxen entwickelt nach dem Slogan »Cartography is Dead (Thank God!)« [Wood 2003]. Hier versammeln sich Bewegungen wie Counter-Mapping, Critical Mapping, Radical Mapping oder Deep Mapping [Schranz 2021:119]. Diese Ansätze erkennen, dass sich im Digitalen neue Zugänge zur Kartografie öffnen, die vorher ausschließlich von Institutionen bestimmt wurden.24 Die neuen Kartografen wollen Machtfragen neu verhandeln durch eine Dekonstruktion bestehender Karten. Deren implizite Regeln und Entscheidungsprozesse sollen offengelegt und der Kritik zugänglich gemacht werden. Gleichzeitig sollen neue Darstellungsweisen generiert werden in der Hoffnung, neue Ansichten und Diskursformen zu ermöglichen. Für das allgemeine Publikum mögen Karten und Visualisierungen unproblematisch gegeben sein, doch professionelle Gestalter sollten die Macharten durchschauen und Alternativen bilden können. Designer, die sich mit matters of concern beschäftigen, sind daher darauf verwiesen, deren öffentliche Erscheinungsformen zu dekonstruieren. Solche »Counter Visualizations« umfassen die Berücksichtigung anderer Daten, die Einführung neuer Register und die Erprobung experimenteller Abbildungsregeln. Die Resultate zeigen nicht einfach andere Bilder und Karten, sondern kommunizieren auch die Bedingungen ihrer Herstellung. Damit widersprechen sie dem Anspruch objektiver Gültigkeit und erproben neue visuelle Narrative.25

22 vgl. C 7.3.3 »La Carte du Pays de Tendre«, François Chauveau um 1754, Abb. 86 links 23 So wurde etwa »Suhrkamps Ikonoklasmus« beschrieben [Klenner 2012]. 24 vgl. »(…) mapmaking is freeing itself from the dead hand of academia.« [Wood 2003:4] 25 vgl. »Mapping it out: An Alternative Atlas of Contemporary Cartographies« [Obrist 2014], »Not an Atlas« [Kollektiv Orangotango 2018] und »Shifts in Mapping« [Schranz 2021]

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

2.2.7 »Weltbildende Aktivitäten« ohne Meta-Kartierung Die bei Latour leitenden »weltbildenden Aktivitäten« gehen gerade nicht von einer Karte aus, in die sie sich einschreiben. Vielmehr erzeugen sie neue Bezüge in der konkreten Auseinandersetzung mit psychischen, symbolischen, sozialen und materiellen Umwelten.26 Diese mögen sich ex post auch zu Karten fügen, doch das Produkt der »weltbildenden Aktivitäten« ist nicht notwendig ein Weltbild als objektivierte Repräsentation.27 Es reicht aus, dass die Aktivitäten erfolgreiches Handeln ermöglichen. Darunter wird – Latour folgend – das Aufrechterhalten von Handlungsketten verstanden, zumal, wenn nicht-menschliche Akteure anerkannt werden. Die Herstellung bedeutsamer Bezüge mag für menschliche Akteure ein Ziel sein, dies muss aber nicht für eine hybride Gruppe gelten. Die Komplexität »weltbildender Aktivitäten« kann nicht von weniger komplexen Repräsentationsmitteln dargestellt werden. Zwar sind multiple Karten als Annäherung vorstellbar, um die Vielfalt der wirksamen Concerns zu zeigen. Diese müssen jedoch als prinzipiell inkompatibel angesehen werden und können nicht in einer Meta-Kartierung aufgehen.

2.2.8 Polykontexturalität Diesem Befund entspricht in logischer Hinsicht das Konzept der »Polykontexturalität«, wie es von Gotthard Günther in seinen Untersuchungen zur transklassischen Logik entwickelt wurde [Günther 1991/1959]. Die klassische Logik spannt einen Raum A auf (repräsentiert durch ein Koordinatensystem, in dem Aussagen in der Form a, b möglich sind (repräsentiert durch Würfel und Tetraeder, Abb. 17 links). Raum B ist mit anderer Logik ebenso zu konstruieren. Eine pluriversale Umgebung entspräche einer Vielzahl von logischen Räumen. Nach Günther können solche »Komplexionen« nicht durch eine Meta-Logik verbunden werden, sondern sind allenfalls lose gekoppelt durch »Transjunktionen«, die in »frameworks« abgebildet werden können (Abb. 17 rechts).28 26 So wird etwa der Raumbegrif f der Aborigines erst durch Aktivitäten dynamisch generiert. Damit begründet er ein Weltverhältnis, das von den Abbildungsverhältnissen des cartesianischen Modells prinzipiell unterschieden ist und nicht nur in gradueller Dif ferenz dazu steht: Der Raum ist hier nicht schon a priori gegeben als statische Hülle, in die Aktionen eingeschrieben werden, sondern es sind Aktivitäten wie Gehen, Erzählen und Zusammenkommen, die den Raum erst hervorbringen [vgl. Chatwin 1988, Winkler 1997]. Das Gleiche gilt für psychologische Konzeptionen der Zeit, die sich nicht chronologisch gleichmäßig entfalten als Fortschrittspfeil oder Kreis, sondern sich um Ereignisse herum verdichten oder ausdünnen [vgl. Heller et al. 1993]. 27 Das moderne Weltbild begründet nach Heidegger ein »›Im Bilde sein‹, darin schwingt mit: das Bescheid-Wissen, das Gerüstetsein, und sich darauf Einrichten«. Heidegger bestimmt dies als ein Kennzeichen der Neuzeit: »Das Weltbild wird nicht von einem vormals mittelalterlichen zu einem neuzeitlichen, sondern dies, dass überhaupt die Welt zum Bild wird, zeichnet das Wesen der Neuzeit aus.« [Heidegger 2013/1938:89/90] 28 Eine musikalische Analogie kann in Ornette Colemans Konzept der Harmolodics gefunden werden, wo Musiker in spontaner Koordination zusammenspielen, ohne sich auf gemeinsame melodische, harmonische oder rhythmische Rahmungen beziehen zu müssen: »There are as many unisons as there are stars in the sky.« Film Made in America 1985, 40:35 min, https://www.youtube.com/ watch?v=Ss2SQJ_-1ps

167

168

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 17: Klassische (links) und transklassische Logik (rechts), Konzept: PFS nach Günther 1991/1959, Grafik: AnnaB.

2.3 Diagramme und Kalkül Latour will Darstellungen einsetzen, um Kontroversen zu lösen. Dieser Anspruch erinnert an ein Kalkül im Sinne von Leibniz’ Konzeption einer »Diagrammatik des Denkens«. Dieser hatte ein Kalkül postuliert, das Dispute formalisieren und damit numerisch lösbar machen sollte nach dem Motto: »Noch Fragen? Rechnen wir!«29 Latour scheint mit den geforderten Visualisierungen das gleiche Ziel zu verfolgen wie bei seinen Bemühungen um eine möglichst neutrale sprachliche Darstellung als »Infra-Sprache«. Diese soll als ein provisorischer Platzhalter verstanden werden für die erwarteten »eigenen reichen Idiome(n)« [NSoz:54] der Aktanten, für die eine entsprechende Rezeption noch auszubilden sei.30 Analog dazu scheint Latour auch bei den Visualisierungen anzunehmen, dass sich die Aktanten selbst darstellen können und sollen. Menschliche Akteure sind dabei behilf lich, indem sie Artefakte in ihre Einzelteile zerlegen in der Hoffnung, deren Agency damit näherzukommen (»pulling apart«, statt »drawing together«).31 Am Beispiel der Waffe Taser zeigt sich jedoch, dass sich die komplexen Concerns in Bezug auf diese Waffe nicht unmittelbar aus ihren Bestandteilen ablesen lassen. Die vielfältigen Positionen zu kontroversen Themen wie »Taser« oder »Wölfe« gehen vielmehr auf eine Mischung aus Argumenten, Meinungen, Hörensagen und Medienberichten zurück und stammen nur in seltenen Fällen aus eigener Erfahrung. Weder technische Explosionszeichnungen noch diagrammatische Argumentationsbäume werden diese Gemengelage vollständig und eindeutig darstellen können oder die Kontroversen dazu gar auf lösen. Die affektiven und ambivalenten Qualitäten von matters of concern können nur als eine Wechselwirkung von Vorstellung und Darstellung verstanden werden. Dies leisten etwa »handelnde Bilder«, wie sie als Imagines Agentes in der antiken Rhetorik konzipiert wurden. Als Teil der Gedächtniskunst (ars memorativa) sollten hier eindrückliche Figurationen gefunden werden, deren merk-würdige Gestalt als Gedächtnisanker funktioniert.32 Latour greift diese Verbindung jedoch nicht auf, sondern geht von einer unproblematischen Instrumentalisierung bildnerischer Verfahren aus. In seinem Konzept 29 vgl. Velminski 2006 30 vgl. 8.10 31 So wird etwa die Elektroschockwaffe Taser demontiert, vgl. 9.6. 32 vgl. Simon 2002, Yates 1966, Bässler 2003:153/154

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

der »immutable mobiles« [VisCog:7] schreibt er Visualisierungen zentrale Bedeutung zu und gibt deren Funktion in einem feinen Doppelsinn an als »drawing things together« [DrawT], also »Dinge zusammenziehen«, ebenso wie »zusammen Dinge zeichnen« und kombiniert als »durch Zeichnung zusammenziehen«.33 Doch in Bezug auf die eigenen Visualisierungen fällt Latour hinter diesen Stand zurück und konzipiert diese lediglich als neutrale, passive Illustrationen. Damit widerspricht er seinem Ansatz von Handlungsketten und Agency und konterkariert sein Ziel, matters of concern zur Darstellung zu bringen.

2.4 Zuviel Visualisierung? Visualisierte Netze wurden zu einer Signatur des Zeitalters, seit Jacob Levy Moreno 1953 die »Die Grundlagen der Soziometrie« legte und mit den hier entwickelten Graphen eine »Neuordnung der Gesellschaft« [Moreno 1995/1953] versprach. Dieser Anspruch wird fünfzig Jahre später nur noch übertroffen vom Slogan »Graphen können alles« [Gießmann 2008], dem allerdings ironische Absicht unterstellt werden muss.34 Eine weitere Reaktion von Designern auf Latours Forderung nach Visualisierungen könnte daher der Hinweis auf eine Überfülle von Visualisierungen sein. Die Erzeugung neuer Visualisierungen ist ein dynamisches Wachstumsfeld, das – technisch getrieben – ständig neue bahnbrechende Dimensionen von Mikro- bis zu Makroebenen präsentiert. Es herrscht daher kein Mangel an Visualisierungen, sondern ein Wettbewerb der Überbietung. Völlig neuartige Darstellungen, wie sie Latour im Sinn hat, müssten sich darin behaupten können. Sie können also nicht einfach als eine Technik angesehen werden, die einen bisher vermissten neutralen Schauplatz zur Verhandlung von Interessen bietet, sondern sie unterliegen selbst diesen Interessen und sind Gegenstand der Aushandlung von Machtansprüchen. Ein zentraler Begriff Latours wie »Versammlung« (assembly) wird in der aktuellen Medienwelt längst realisiert: Die Lebenszyklen von Produkten und Services oder die Leistungen von Institutionen sind im Zeitalter sozialer Netze umgeben von Kommentaren, Berichten und Bewertungen. Unternehmen, die es gewohnt waren, die Kommunikation in ihrem Interesse einseitig zu kontrollieren, beschäftigen Experten für social media und open innovation, um diese neue Dynamik zu gestalten und von den Kunden zu lernen. Dafür hat sich bereits eine breite Palette von visuellen und medialen Darstellungen entwickelt, die über die Standards von Zeitstrahl-, Torten- und Balkendiagrammen weit hinausgehen. Zudem können die diagrammatischen Darstellungen von Statistiken im Netz auf realen Datenlagen in Echtzeit beruhen, die von Nutzern interaktiv gesteuert werden.35

33 vgl. B 3.3.5 34 Nach der Konjunktur der Bildwissenschaften formiert sich eine »Visuelle Soziologie«, vgl. Forschungsgruppen in Wien, Essen und Frankfurt a.M. https://soziologie.univie.ac.at/ma/ma-s/forschungsspezialisierung/visuelle-soziologie, https://www.fb03.uni-frankfurt.de/76079960/VS_Wieso_Visuelle_Soziologie.pdf, https://www.kulturwissenschaften.de/projekt/forschergruppe-visuelle-soziologie 35 siehe etwa https://ourworldindata.org

169

170

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 18: Beispiele für Visualisierungen36, links: interaktiver Flugroutenradar 37, rechts: »Where did my tweet go?«38 In der digitalen Kommunikation kommt die gesamte Bandbreite visueller Mittel zum Einsatz: Von Realbildern über Icons und klassische Infografik bis zu den interaktiven Karten des Datenjournalismus. Selbst die Verläufe von Fußballspielen und Tennismatches werden in jedem nur denkbaren statistischen Detail dargestellt, etwa wenn Bewegungsmuster als heatmaps visualisiert werden. Dies mag noch weit davon entfernt sein, was Latour für die künftigen matters of concerns im Sinn hat, doch seine Forderung als absolute Neuerung darzustellen, die keinerlei gegenwärtigen Sachstand anerkennt, greift deutlich zu hoch. Die von Latour geforderten Visualisierungen der matters of concern setzen eine Repräsentation von Concerns voraus, damit anschließend die entsprechende Kontroverse dargestellt werden kann. Concerns, verstanden als Affekte und »leidenschaftliche Interessen« [ÖkW:21], wurden jedoch schon immer dargestellt, bevor die modernen Prozesse der Selektion durch Vernunftbegründungen (in Latours Diktion: »Reinigung«) einsetzten. Man denke etwa an jene mittelalterlichen Landkarten, wo nicht nur die bekannten Landmassen eingezeichnet sind, sondern darüber hinaus auch die am Rande des Territoriums vermuteten Ungeheuer.39 Die so dargestellten Ängste und Ungewissheiten können zweifellos als Concerns gelten. Die Frage ist aber, welche Funktion ihre Darstellung hat: Werden die unheimlichen Vorstellungen durch eine visuelle Repräsentation gebannt? Werden die Concerns durch ihre Darstellung wesentlich mit erzeugt und gebildet? Werden sie in der Darstellung erst manifest, da ihnen durch die Visualisierung eine scheinbare Objektivität zugestanden wird? Werden die Concerns durch die Darstellung einem Diskurs zugänglich? Können Concerns überhaupt verhandelt werden? 36 Als Beispiele wurden bewusst ältere Visualisierungen ausgewählt, die so oder ähnlich schon im Jahr 2008 verfügbar waren, als der Prometheus-Text geschrieben wurde. 37 Visualisierung der Reichweite von re-tweets von Barack Obamas Nachricht »Four more years« anlässlich seiner Wiederwahl 2012 (2774 re-tweets, 127.932.017 Personen innerhalb eines Tages und 11 Stunden), https://mfglabs.com/works/en/2013-05-01-where-does-my-tweet-go 38 Flugbewegungen am Berliner Flughafen Tegel werden im Tagesverauf gezeigt, wobei die für den Fluglärm entscheidenden Höhen und Entfernungen auf einen vom Nutzer gewählten Standort berechnet werden. Von Julius Tröger, André Pätzold in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Fluglärmdienst e.V. (DFLD), ProPublica, Umsetzung: Kreuzwerker GmbH, http://flugroutenradar.morgenpost. de#mein-standort/20e14-02-22/52.410074,13.129318 (nicht mehr aktiv) 39 vgl C 7.3.1, Abb. 83

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

Angesichts eines allgegenwärtigen Wettbewerbs der visuellen Überbietung wurde bereits bemerkt, dass die Aufgabe von Künstlern und Gestaltern auch darin liegen kann, gegenläufige Aspekte zu entwickeln: Angesichts der Tatsache, dass wir heute weniger mit Unsichtbarkeit konfrontiert sind als mit einem von Bildern und Tönen gesättigten Feld, das uns Sichtbarkeiten aufzwingt und keine Lücken für Ungesehenes lässt, gilt es, raffinierte ästhetische Taktiken zu erfinden, zu denen möglicherweise Arten der Abschattung und Verdunkelung gehören. Denn um das verborgene und unsichtbare Wirkliche zu evozieren, muss die Aktualisierungstaktik dem gegebenen Sichtbaren mit Verfahren der Schematisierung oder Abstrahierung, der Wegnahme oder Herabminderung, der Verunschärfung oder Entfigurierung begegnen, wie sie von den modernen Künsten denn auch in Einsatz gebracht werden. [Ott 2014:14] Eine solche Tendenz wird bei Latour trotz aller angestrebten Nähe zu den Künsten nicht mitgedacht. Erst so lässt sich aber die Frage nach den Funktionen von Visualisierungen politisch stellen: Die Visualisierungen illustrieren nicht einfach diese oder jene Position, sondern sie unterliegen auch selbst politischen Verhältnissen. Diese zeigen sich etwa im Zugang zu Werkzeugen, Wissen und Medien und machen Visualisierungen selbst zu umstrittenen und ambivalenten matters of concern.

2.5 Wissensdesign Latours Optimismus bezüglich der Visualisierungen ist nur schwer nachzuvollziehen. Es kann gut belegt werden, wie sich Machtstrukturen in Sprechakten und Schriftformen realisieren. Wie kann dann angenommen werden, dass dieses für Bildsprachen nicht mindestens im gleichen Maße gilt? Aspekte der Bildkommunikation wie Rhetorik, Metaphern, Persuasion und Evidenzbildung wurden vielfach untersucht und stellten sich als noch weit wirkungsmächtiger als Sprache und Schrift heraus. Ausgerechnet hier neutrale Instanzen finden zu wollen, die Kontroversen für alle Beteiligten zufriedenstellend darstellen und damit beilegen können, erscheint als ebenso abenteuerlich wie die Suche nach einer Idealsprache. Auch der Gestus von Latours Hinweis auf das angeblich ungenutzte Potenzial der Visualisierung erscheint als fragwürdig: Es gibt in den mediatisierten Gesellschaften bereits ein Übermaß an Visualisierung, sodass Fakten und Concerns gleichermaßen unerkennbar werden und die auf klärerische Absicht konterkariert wird.40 Auch wenn die Erwartungen Latours an die Funktion von Visualisierungen nicht überzeugen, ist hier doch ein wesentliches Wirkungsfeld des Designs angesprochen: Das Wissensdesign. Dieses wurde bereits vor zwei Jahrzehnten als die »größte Zukunftsaufgabe« des Designs angesehen:

40 Sollte es Latour darum gehen, bisher Verborgenes an die Oberfläche zu holen? Dem wäre zu entgegnen: Hier gilt eine spezielle Dialektik, denn wo versteckt man etwas am besten? An der Oberfläche! vgl. den Diskurs zur Oberfläche, 7.1.3

171

172

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Wissensdesign begreift die Verarbeitung und Präsentation von Informationen als Gestaltungsaufgabe. Die Selbstverständlichkeit der Buchform hat dieses Problem jahrhundertelang verschleiert. Heute zeigen uns Expertensysteme, Hypermedien und Cyberspace-Anwendungen ganz neue und nichtlineare Formen des Wissensdesigns auf. (…) Hier sehe ich die größte Zukunftsaufgabe des Designs: multimediale, nichtlineare und interaktive Wissensgestaltung. [Bolz 1993:183] Schon etwas früher wurden ähnliche Forderungen von Flusser formuliert: Schreiben im Sinne einer Aneinanderreihung von Buchstaben und anderen Schriftzeichen scheint kaum oder überhaupt keine Zukunft zu haben. Es gibt mittlerweile Codes, die besser als die der Schriftzeichen Informationen übermitteln. (…) Künftig wird mit Hilfe der neuen Codes besser korrespondiert, Wissenschaft getrieben, politisiert, gedichtet und philosophiert werden können als im Alphabet oder in arabischen Zahlen. [Flusser 1989:7] Es ist offensichtlich, dass die von Bolz und Flusser sowie von Latour gestellten Aufgaben in einem praktischen Zusammenhang stehen, auch wenn sie von unterschiedlichen Seiten betrachtet werden: Bolz und Flusser argumentieren vom Medium her und erwarten eine Neuformatierung überkommender Wissensbestände, die den Begriff des Wissens selbst verändern. Latour dagegen geht von den Kontroversen aus, die sich um Artefakte bilden und die nach einem Ausdruck verlangen, den er nicht weiter spezifiziert. Beide Perspektiven treffen sich in der Erwartung neuartiger Werkzeuge, die neue soziale Praxen begründen.41 Frühe Experimente zum Thema »Wissensdesign« hatten bereits Visualisierungen zur Darstellung von Kontroversen entwickelt, wie sie von Latour verlangt wurden. Im Unterschied zu dessen Arbeiten im Projekt »Mapping Controversies« wurde dabei nicht vom Einzelfall ausgegangen, sondern es wurde versucht, eine neue allgemeingültige Diagrammatik zu entwickeln, die unterschiedliche Kontroversen mit der gleichen Systematik darstellen kann.42 Das Projekt »Theoriemaschine MIND 17« war eine erste Realisierung davon (Abb. 19).

41 Die später aufkommenden Forschungsrichtungen des Cognitive Design und Knowledge Media Design entwickelten das Gebiet weiter, vgl. Stephan 2004, 2005a/b, 2006, 2008, Stephan et al. 2006 sowie Stephan, Bleimann 2006. Dabei waren Fragen der Bildwissenschaft, der Philosophie und der Kulturwissenschaften leitend, vgl. »Bildwelten des Wissens« und »Oberflächen der Theorie« [Bredekamp, Werner 2003], »Von der Grammatologie zur Diagrammatik« [Krämer 2009 a/b] und »Schöner Wissen« [Bergermann 2004]. Andererseits waren es wissenschaftstheoretische Untersuchungen zu den soziotechnischen Randbedingungen der Forschung und dem Entwurf von Experimentalsystemen, die es erlaubten, die Formierung epistemischer Systeme als Designaufgabe anzusehen, vgl. Knorr-Cetina 1984, 2002; Gibbons at al. 1994; Rheinberger 1992; Nowotny et al. 2001. 42 Dieser Ansatz wurde bereits im Jahr 2000 theoretisch beschrieben, www.wissensdesign.de

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

Abb. 19: Theoriemaschine MIND 17, Screenshot 43 [Konzept: PFS, Grafik: Meier] Das Programm des Wissensdesigns hatte, ähnlich wie bei Latour beschrieben, mit den Widerständen zu rechnen, die Bilder in der Wissenschaftskommunikation einst verdächtig gemacht hatten und ihre Ausschließung aus dem Diskurs betrieben zugunsten einer scheinbar neutralen logischen Sprache. Der von Latour als »Reinigung« benannte Prozess wollte Rhetorik und Irrationalität verbannen und damit auch die Bilder ausschließen, die als deren Agenten bewertet wurden. Die heutigen Computational Sciences dagegen bieten einen Kurzschluss zwischen der formalen Sprache der Algorithmen und den von ihnen erzeugten Bildern, durch die erstmals die entfallende Schriftsprache erklärungsbedürftig wird. Das Wissensdesign beschäftigt sich über die theoretische Positionierung hinaus mit der Realisierung von Mensch-MaschineKopplungen, die Kognition als Ko-Kreation modellieren und damit perspektivisch zu »Theoriemaschinen« werden.

2.6 Kriterien für Diagramme Latour entwickelte und publizierte mit seinen Teams auch Visualisierungen. Diese nutzen aktuelle digitale Techniken, die aber nicht problematisiert werden.44 Latours unzureichende analytische Position in Bezug auf Visualisierungen scheint daher in der Beliebigkeit mancher seiner Diagramme ihren Ausdruck zu finden. Die von Latour gezeigten Beispiele unterschreiten häufig längst erreichte Standards. So soll eine algorithmisch generierte Grafik offensichtlich große Komplexität vermitteln, die aber nicht erschlossen werden kann (Abb. 20 links), während eine andere bei einer Standarddarstellung bleibt, die für das Thema aber ebenso offensichtlich unterkomplex ist (Abb. 20 rechts).

43 Projektbeschreibung unter www.peterstephan.org/project/mind17 44 vgl. Projekt MACOSPOL, B 9.5

173

174

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 20: Visualisierungen von Latour, links: Grafik aus dem AIME-Projekt 45, rechts: Visualisierung der Anspruchsgruppen 46

2.6.1 Field Book und Manuals Aus dem Umfeld aktueller und ehemaliger Mitarbeiter Latours wurden Publikationen zum Thema Visualisierung und Kartografie herausgegeben. »Controversy Mapping: A Field Guide«47 bietet eine Übersicht zur Visualisierung von Daten, die mit Kontroversen verbunden sind, und Fallstudien zeigen die Bandbreite möglicher Anwendungsfelder. Doch die Beweggründe für die unterschiedlichen Positionen von Kontroversen und ihr Bezug zu emotionalen Aspekten werden ebenso wenig behandelt wie ästhetische Aspekte. Im Gegensatz dazu zeigt »Terra Forma – Manuel de Cartographies Potentielles«48 Modelle, Karten und Transformationen in einer systematisch durchgearbeiteten Ästhetik. Deren Zweck erschließt sich zwar häufig erst auf den zweiten Blick, doch die detailreichen und komplexen Darstellungen motivieren zu einer weitergehenden Beschäftigung. Für die Zwecke einer Kartografierung von Kontroversen mit ihren öffentlichen Anspruchsgruppen findet sich hier aber kaum Material. Damit bleibt die Suche nach Beispielen für Latours Frage nach einer Visualisierung der matters of concern weiter offen.

45 »Graph depicting the link between users (@) and hashtags (#) for the AIME project«, https://www. researchgate.net/project/An-Inquiry-into-Modes-of-Existence/figures 46 »Ist ein Zusammenleben mit dem Wolf möglich?« Abbildung aus Latour 2006:200 47 Venturini, Munk 2021. Das »Field Book« suggeriert eine praktische Verwendbarkeit wie beim Militär, was durch den Bucheinband verstärkt wird, dessen Optik ein Ökopapier simuliert. Auch eine aktuelle Publikation Latours nimmt den Gestus praktischer Verwendbarkeit auf, indem ein »Memo« für eine postulierte »ökologische Klasse« formuliert wird, das in Wortwahl und Pappoptik im kleinen Format an klassenkämpferische Handbücher erinnert [Latour, Schultz 2022]. Beide Publikationen deuten auf Dringlichkeit und Verwendbarkeit in der Praxis hin, was aber inhaltlich nicht eingelöst wird und dem Vergleich mit einem echten »Field Manual« etwa der US-Armee nicht standhält, vgl. US Army 2006: Headquarters of the Army – Counterinsurgency, Field Manual FM 3-24, MCWP 3-33.5, www.fas.org/ irp/doddir/army/fm3-24.pdf 48 Aït-Touati et al. 2020

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

2.6.2 Latours fiktives Planetarium Eine gelungene Darstellung findet sich hingegen bei einem Diagramm zu Latours Text: »We don’t seem to live on the same planet …« [Latour 2019].49

Abb. 21: »Diagram of the spatial configuration of the seven imaginary planets proposed by Bruno Latour, drawing by Alexandra Arènes« [Latour 2019]

Latour entwickelt hier aus der populären Redensart: »Du lebst wohl auf einem anderen Planeten« das Modell eines »fiktiven Planetariums« (Abb. 21). Dabei wird festgestellt, dass die territorialen Grenzen von Staaten nicht mit dem Einzugsgebiet zusammenfallen, dessen Ressourcen für die Versorgung ihrer Bevölkerung eingesetzt werden. On planet GLOBALIZATION there was, remember, a fundamental disconnect between the legal borders of states and the real territory they had to command in order to subsist (…). [Latour 2019:6] Verschiedene mögliche Verhaltensweisen werden abgeleitet, die in der Form von sieben Planeten dargestellt werden: »Globalization, Anthropozän, Exit, Security, Modernity, Terrestrial und Vindication (Rechtfertigung).« Deren Konstellation lässt mehrere historische Beziehungen zu: (…) we see that there is not one but three or four different arcs of history. Modernism appears now as a small parenthesis that went quickly from MODERNITY to GLOBAL49 vgl. B 8 zu Latours Sprachform

175

176

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

IZATION and that is now being torn apart by two radically different gravitational pulls: one generated by what I have called the dark planets, EXIT and SECURITY, and the other by the planets that are rematerializing the earth in different, contradictory fashions, namely ANTHROPOCENE and TERRESTRIAL. [Latour 2019:10] Latour gelingt es, von einer Redensart ausgehend eine Metapher zu bilden, diese zu einem Modell auszubauen und schließlich in einem Diagramm einprägsam darzustellen. Die Frage nach dem Verhältnis von Universalität und Pluriversalität50 wird damit auf eine neue Ebene gehoben. Das Diagramm eröffnet Möglichkeiten der Teilnahme und bietet so einen Schauplatz zum Austausch. Diese Modellierung hat für Designer noch eine abschließende Pointe parat: Architects and designers may now understand that one qualification should be added to the project of designing for the planet – the question, »For which planet?« [Latour 2019:10] Aus dem Vergleich von starken und schwachen Diagrammen können Kriterien für eine gute Darstellung abgeleitet werden: 1. 2. 3. 4.

angeschlossen an Alltagserfahrungen plausible Metapher attraktive Ästhetik angemessene Komplexität

Diese Aspekte sind auch in Latours Theaterarbeiten zu finden, die eine Vielzahl von Diagrammen zeigen.

2.7 Fazit Latour ist und bleibt ein homme de lettre. Er fordert, dass Soziologie gut geschrieben sein muss51, hält das Führen von Notizbüchern für eine adäquate Form der Aufzeichnung52 und gibt als epistemologisches Modell an, dass ein Satz auf den anderen folgt.53 Jenseits seiner Sprachwelt bleibt Latour auf Vermutungen angewiesen und erwartet von Visualisierungen, etwas zu leisten, was die Sprache nicht kann. Aus der Sprachkritik ist bekannt, dass Sprache ein Eigenleben entwickelt und ein Machtmittel ist, das keine Neutralität kennt. Latour will diese Probleme überwinden, indem er Visualisierungen fordert, erkennt aber nicht, dass er sich damit nur neue Probleme einhandelt: Ausgerechnet eine zentrale Machttechnik der Moderne soll zu deren Überwindung

50 vgl. die »One World«-Problematik, A 9.1 51 vgl. 8.4 52 vgl. 8.6 53 »All reasoning is of the same form: one sentence follows another.« [Irred:176]. Von Überlegungen zum »Diagrammatic reasoning« [Glasgow et al., 1997] und zur »Diagrammatologie« [Krämer 2016] ist Latour offenbar schon damals und bis heute weit entfernt.

2 Visualisierung: Hohe Erwartungen, schwache Grundlagen

beitragen. Latours Forderung an die Designer erscheint daher zwar als nachvollziehbar, wirkt aber auch als erstaunlich unterkomplex formuliert. So sympathisch Latours Anliegen sein mag, so seltsam mutet es doch an, dass der ganze nicht unbeträchtliche Aufwand getrieben wird, um Einsichten zu formulieren, die zumindest teilweise in unterschiedlicher Form bereits vorliegen. Gibt es nicht eine Gemeinsamkeit zwischen Latours Ansatz des »drawing things together« [DrawT] von 1986 und dem Konzept »the pattern which connects« von Gregory Bateson, das bereits einige Jahre zuvor entstand [Bateson 1987/1979], ebenso wie zu Christopher Alexanders »pattern language« [Alexander 1977] oder Michel Serres’ Untersuchungen zur »Übersetzung« [Serres 1992/1974]? Und ist der Slogan »Dasein ist Design« – von Latour als letzterreichbare Designweisheit und »wunderbares Wortspiel« [Prom_dt:364] präsentiert – nicht nur ein schwaches Echo auf Herbert A. Simons Aussage »The proper study of mankind is the science of design« [Simon 1969:138], die schon einige Jahrzehnte früher formuliert wurde, aber bei Latour keine Erwähnung findet? Ein pointiertes Fazit könnte lauten: Wo Latour richtig liegt, ist er nicht neu und wo er neu ist, bleibt vieles fragwürdig. Seine Positionen und ihre originellen Darstellungen sind jedoch häufig anregend, sei es zum Weiterdenken oder zum Widerspruch. Latours unterhaltsamer Schreibstil wird zu seiner populärer Wirkung beitragen haben, obwohl oder gerade, weil viele Begriffe unscharf bleiben. Daher gilt es, zunächst Klärungen der Begriffe vorzunehmen.

177

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

Bruno Latour und die Akteur-Netzwerk-Theorie führen eine Vielzahl neuer Begriffe ein wie »Aktant/Agency«, »Mischwesen«, »Hybride«, »Quasi-Objekte« und »faitiche«. Diese wurden bereits vielfach diskutiert und kritisiert (vgl. B 8). Im Prometheus-Text werden die Kontexte und Begründungen vieler Begriffe kaum referenziert, obwohl sie die Basis für Latours Position zum Design darstellen. Im Erkenntnisinteresse des Designs wird hier vor allem das Begriffspaar »matters of concern« und »matters of concern« besprochen. Darüber hinaus wird auf Unschärfen und Fehler in der Übersetzung hingewiesen.

3.1 Latours Begriffe Latour und weitere Autoren der ANT propagieren einen Paradigmenwechsel und nutzen dafür idiosynkratische Begriffe. In mehreren Publikationen bietet Latour dafür Glossare an.1 Diese schaffen jedoch nicht unbedingt mehr Klarheit. Latour benennt die Notwendigkeit, Begriffe zu verändern: Nein, wir müssen (…) die Begriffe umschmieden, die uns die moderne Übereinkunft anbietet (…). [ibid.:175] Viele von Latours Begriffen sind nicht klar definiert und werden nicht konsistent gebraucht. So schreibt der deutsche Übersetzer, dass etwa Latours Kategorie des »Ding« unscharf bleibt, obwohl diese zentrale Bedeutung für seinen Ansatz hat: (…) doch einen präzisen Dingbegriff oder eine bündige Definition der Dinge sucht man bei ihm vergeblich. [Roßler 2008:79] Ein Kritiker bemerkt: Die gemeinsame Klammer, unter der sich die gegenläufigen Aussagen versammeln und so einen Anschein von Kohärenz erwecken, besteht in einem eng gewobenen Geflecht von idiosynkratischen Begriffen, die sich als solche zumindest durch zwei Eigenschaf-

1 vgl. Akrich, Latour 2006/1992, Latour 2002:372, Latour 2004:237, Exw:657, PD:285

180

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

ten auszeichnen: Einerseits werden sie entweder gar nicht definiert, oder die angebotenen Definitionen lassen sich nicht miteinander in Deckung bringen. [Greif 2006:54] Die Übersetzungen verursachen weitere Unschärfen, die die Rezeption erschweren oder gar in eine falsche Richtung leiten. Manche Begriffe werden zu frei übersetzt, Satzteile entfallen und manche Begriffe fehlen im Glossar.2 Diese Probleme bestehen auch an prominenten Stellen fort, ohne dass dies – so weit zu sehen – bisher moniert wurde. Bei der sehr breiten Rezeption in Deutschland erscheint dies als erstaunlich. Die genannten Schwierigkeiten sollen an einigen zentralen Begriffen und Aussagen gezeigt werden, wobei es hier um eine genauere Bestimmung von Latours Aussagen gehen soll und weniger um einen Nachweis von Fehlern. Zunächst werden Begriffe aus dem designrelevanten Text »Ein vorsichtiger Prometheus« [Prom_dt] diskutiert.

3.2 »Matters of fact« und »Matters of concern« Das Begriffspaar von matters of fact und matters of concern ist zentral für Latours Ansatz und wird in mehreren Publikationen behandelt.3 Allerdings sind die ausführlichen Darstellungen zum Teil redundant und widersprüchlich, sodass sie eher zu Verwirrung führen als zur Klärung beizutragen. Während matters of fact in der tradierten Bedeutung von »Fakten« oder »Tatsachen« verwendet wird, soll sich die Neuprägung matters of concern davon absetzen. Die englische Sprache bietet darüber hinaus die Gelegenheit für ein Wortspiel mit der doppelten Bedeutung von »matter«: • als Substantiv, übersetzt als »Material/Dinglichkeit« • als Verb, übersetzt als »etwas ausmachen, bedeutsam sein«

3.2.1 Latours »Spezifikationen« In »What is the Style of Matters of Concern?« (2008) geht Latour von folgenden »Spezifikationen« aus: Specification one: Matters of concern have to matter. Specification two: Matters of concern have to be liked. Specification three: Matters of concern have to be populated. Specification four: Matters of concern have to be durable. [WSmoc:47/48] 2 vgl. zwei Beispiele aus dem »Parlament der Dinge«: »The Exercise of Diplomacy« [PoN:209] wurde übersetzt als »Die Kunst der Diplomatie« [PD:262], was zu traditionell wirkt für Latours Bemühung, dem Begrif f eine neue Funktion der Einübung zu geben. Im Glossar des englischen Textes sind sowohl »matters of fact« als auch »matters of concern« aufgeführt [PoN:244], während in der Übersetzung die »matters of concern« fehlen [PD:292]. 3 »Why has Critique run out of Steam? – From Matters of Fact to Matters of Concern« [WCS], »Politics of Nature: How to Bring the Sciences Into Democracy« [Latour 2004], »Reassembling the Social – An Introduction to Actor-Network-Theory« [RAS:87-110], wo dem Thema ein Kapitel gewidmet wird als »fourth source of uncertainty«, »What is the Style of Matters of Concern?« [WSMC 2008]

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

Diese können wie folgt kommentiert werden: •

»Specification One: Matters of concern have to matter«: Matters of concern sollen von Bedeutung sein. Dieses Kriterium erscheint als trivial, denn es ist allgemeingültig für jedes soziale Phänomen, das eine Beschreibung verdient. Es deutet sich aber immerhin ein mögliches Maß für »Concerns« an, die mehr oder weniger große Wirkung entfalten.



»Specification Two: Matters of concern have to be liked«: Matters of concern sollen beliebt sein. Diese Bedingung ist nicht nachvollziehbar. Wenn öffentliche Anliegen in ihrer kontroversen Natur entfaltet und dargestellt werden sollen, müsste angenommen werden, dass für »Concerns« gerade die Ambivalenz von Zustimmung und Ablehnung charakteristisch ist. Entscheidend für »Concerns« sollte ohnehin weniger der Inhalt sein, als vielmehr die mobilisierte Energie, die aufgebracht wird, um individuelle und divergente Interessen als Anliegen zu artikulieren.



»Specification Three: Matters of concern have to be populated: Das Kriterium »to be populated« ist eine idiosynkratische Prägung, die kaum zu übersetzen ist. Der wörtliche Sinn von »besiedelt« erschließt sich erst im Kontext der in der ANT vertretenen Vorstellung von Aktanten, die in den Handlungsketten massenhaft zwischen den bisher anerkannten Instanzen zu finden sind (vgl. WM).



»Specification Four: Matters of concern have to be durable: Die Forderung, dass matters of concern »langlebig« oder »dauerhaft« sein müssen, erschließt sich nicht. Im Gegenteil sollte angenommen werden, dass die große Zahl von Akteuren und Aktanten, die sich hier treffen (»populated«) für einen dynamischen Austausch sorgen. Stabil sind dagegen die matters of fact als Gegenfigur der matters of concern, weil hier die Dispute zumindest temporär beigelegt sind.

Die Forderung »langlebig« oder »dauerhaft« zu sein, steht im Gegensatz zu Latours Angaben in »Politics of Nature«: That a matter of concern is recalcitrant does not in any way mean that it is objective or certain, or even indisputable. On the contrary, it agitates, it troubles, it complicates, it provokes speech, it may arouse a lively controversy. [PoN:103] Darüber hinaus fällt auf, dass sich Latour bei der Konstruktion seiner »Spezifikationen« auf das Kollektivsubjekt »we« bezieht: »Can we do better (…), now we have to choose (…)« [WSMC:47].4 Es wird aber nicht deutlich, wen dieses »we« ein- oder ausschließen soll.

4 Dies wird weiter unten analysiert (vgl. 4.8).

181

182

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

3.2.2 Probleme der Übersetzung Im Englischen fügt sich der Ausdruck »matters of concern« in eine Reihe vergleichbarer, eingeführter Begriffe ein wie etwa »matter of public concern« (Angelegenheit von öffentlichem Interesse), »matter of trust« (Vertrauenssache), »matter of opinion« (Ansichtssache) oder »matter of course« (Selbstverständlichkeit).5 Der Versuch, den Doppelsinn von matters of concern in der deutschen Fassung zu erhalten, führt in der Übersetzung zu verschiedenen Begriffen: • • • •

»Sachen, die uns angehen« [Prom_dt:357, 370, 372/373, Übersetzung Roßler] »Angelegenheiten von großer Wichtigkeit« [Prom_dt:368, Roßler] »umstrittene Tatsachen« vs. »unbestreitbare Tatsachen« [NSoz:199, Roßler] »Dinge von Belang« [Latour 2008d, Übersetzung Born]

Durch die Einführung dieser unterschiedlichen Begriffe als Übersetzung für nur einen englischen Begriff werden Unschärfen verursacht.6 Manche Aussagen werden durch die Übersetzung unverständlich, wie die folgenden Gegenüberstellungen von englischer und deutscher Fassung zeigen (jeweils mit Hervorhebungen von PFS): Beispiel 1 (…) the mad cow episode, so typical of the matters of concern (…) [PoN:114] (…) eine Episode, die derart typisch ist für die riskanten Verwicklungen (…) [PD:154] Beispiel 2 Apart from the recognized matters of fact, we now know how to identify a whole gamut of stages where facts are uncertain, warm, cold, light, heavy, hard, supple, matters of concern that are defined precisely (…). [PoN:95] Neben den erwiesenen Tatsachen lässt sich inzwischen ein ganzes Spektrum von ungewissen, heißen, kalten, leichten, schweren, harten und weichen Tatsachen ausmachen, die sich dadurch auszeichnen, (…). [PD:132] Beispiel 3 No matter what term we choose later on to replace »fact«, it will have to highlight the process of fabrication, a process that alone makes it possible to record the successive stages as well as the variations of quality or finishing touches that depend on it; it will have to encompass matters of concern as well as matters of fact. [PoN:96]

5 https://dict.leo.org/englisch-deutsch/matter%20of%20concern 6 Diese hätten sich vermeiden lassen durch eine Beibehaltung des englischen Begriffs als terminus technicus, wie es hier im Folgenden geschieht.

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

Durch welchen Begriff auch immer wir später »Tatsache« ersetzen werden, schon jetzt sollten wir festhalten, dass der Fabrikationsprozess kenntlich bleiben sollte, denn ohne ihn ließen sich weder die sukzessiven Etappen differenzieren noch die damit zusammenhängenden unterschiedlichen Qualitäts- und Fertigungsgrade. [PD:132] In dieser Übersetzung fehlen entscheidende Elemente: die Anforderung an den Begriff, der später »fact« ersetzen soll (»it will have to highlight«) und der Aspekt der Aufzeichnung (»record the successive stages«). Der letzte Teil des Satzes fehlt ganz, womit der gesamten Aussage ihr Sinn genommen wird. Auch der Ausdruck »matters of fact« wird unterschiedlich übersetzt zu • »unabänderlichen, neutralen Tatsachen« [Prom_dt:357] oder • »unbestreitbaren Tatsachen« [Prom_dt:371, Übersetzung jeweils Roßler] Die Zusätze »unabänderlich«, »neutral« und »unbestreitbar« erscheinen als motiviert durch den Wunsch nach einem deutlichen Gegensatz zum Begriff der »matters of concern«. So soll die Pointe vorbereitet werden, gerade diese Zuschreibungen infrage zu stellen: (…) matters of fact have always been matters of concern. [Prom_eng:13] Wegen der Probleme der Übersetzung und in Anerkennung der idiosynkratischen Prägung werden in »Eine neue Soziologie…« [NSoz] durchgehend die Begriffe »umstrittene Tatsachen« und »unbestreitbare Tatsachen« verwendet.7 Mit diesen Begriffen wird allerdings eine statische Betrachtung nahegelegt, die Latours Absichten konterkariert: »Unbestreitbare Tatsachen« für Fakten einzusetzen, kann immer nur zeitweilig gelten, solange eben diese Fakten nicht angezweifelt, diskutiert oder widerlegt werden. Es sind also gerade nicht »unabänderliche, neutrale Tatsachen« [Prom_dt:357], sondern nur temporär stillgelegte Diskussionsfelder, die vorübergehend als »Black Box« behandelt werden, die aber jederzeit geöffnet werden können und damit wieder zu »matters of concern«, also »umstrittenen Tatsachen« werden.8 Ebenso gilt für die »umstrittenen Tatsachen«, dass ihre Strittigkeit kein unabänderliches Kennzeichen ist, sondern Streit und Dissens beigelegt werden können, wodurch »matters of concern« in »matters of fact« überführt werden. In diesem Sinne kann ein Satz Latours interpretiert werden: »Technologie ist stabilisierte Gesellschaft« [Latour 2006/1991].9 7 Als »Anmerkung des Übersetzers« schreibt Gustav Roßler dazu in einer Fußnote: »Ich orientiere mich an der französischen Übersetzung von matters of fact vs. matters of concern als faits indiscutables vs. faits disputés und habe es entsprechend als unbestreitbare Tatsachen (manchmal auch Fakten) vs. umstrittene Tatsachen übersetzt. Leider gehen dadurch wieder viele Bedeutungsnuancen verloren, die in matters of concern stecken. Dass die Tatsachen umstritten sind, heißt hier auch, dass um sie gerungen wird, dass sie wichtig sind. Denn matters of concern sind vor allem Objekte, Sachen, Angelegenheiten von Belang. (In Dingpolitik habe ich matters of fact als Tatsachen, matters of concern als [gemeinsame, strittige] Angelegenheiten übersetzt).« [NSoz:199], vgl. Roßler 2007 8 vgl.: »In jeder White Box warten zwei Black Boxes, die herauswollen.« [Glanville 1988:119-147] 9 Diese temporäre Zuschreibung wird in der Rezeption nicht immer erkannt. Diese geht eher von kategorialen Unterscheidungen aus, bei denen die matters of fact als alt und überholt gelten, während den matters of concern die Sympathien und die Zukunft gehören. Vgl. »Bruno Latour distinguishes between ›matters of fact‹, the old unrealistic way of presenting all knowledge claims as stable, natural, and apoli-

183

184

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

3.2.3 Temporäre Zuschreibungen Entscheidend ist, dass sowohl matters of fact als auch matters of concern als temporäre Zuschreibungen erkannt werden und nicht als ontologisch gegebene Größen. Es sind gerade die Prozesse der wechselseitigen Überführung, die bei Latour die zentrale Funktion der Transformation ausmachen. Um bei einem von Latours Beispielen zu bleiben: Die Kontroverse um nicht abgeschlossene Haustüren (unstabiler Prozess, matters of concern) wird stabilisiert zu einem gewünschten Verhalten (Türabschließen) durch das technische Objekt des Berliner Schlüssels (matter of fact). Für die Unterscheidung von matters of concern und matters of fact müsste also das Kriterium »stabil« und »instabil« ergänzt werden, die als temporäre Zuschreibungen ineinander übergehen können.

Temporär Temporär Temporär Temporär

matters of fact

matters of concern

nicht diskutiert akzeptiert Konsens eindeutig

diskutiert nicht akzeptiert Dissens ambivalent

Tab. 4: Temporäre Stabilisierung von matters of fact und matters of concern Es ist genau das Kriterium der Stabilisierung, mit dem die wissenschaftliche Aktivität als rekursiver Prozess entfaltet werden kann. Das aneinander Abarbeiten von wissenschaftlichem und technologischem Objekt ist die Funktion eines Experimentalsystems, das dafür planvoll gestaltet wird [vgl. Rheinberger 1992]. Die Wechselwirkungen von wissenschaftlichem und technologischem Objekt wurden dabei so beschrieben: In seiner Beschreibung von Experimentalsystemen führt Rheinberger die Unterscheidung zwischen einem wissenschaftlichen Objekt (WO) und einem technologischen Objekt (TO) ein, wobei dies eine rein funktionale und keine materielle Zuschreibung ist. Danach ist ein TO das routiniert eingesetzte Verfahren und dessen Instrumente (…) Das WO dagegen ist das notwendig unscharf bestimmte Gebiet, dem das Forschungsinteresse gilt (Fragemaschine), und das durch TO manipuliert wird mit dem Ziel, diese Unschärfe zugunsten eindeutiger Konturen aufzulösen und in TO (Antwortmaschine) zu überführen. Ehemalige WO werden so zu gesicherten Verfahren, die häufig als Geräte oder Software objektiviert werden. Als unkontrollierbarer Nebeneffekt entgehen die TO in diesem Prozess jedoch nicht der Veränderung, sondern die vermeintliche Trivialisierbarkeit zur Black Box weicht einer Fragwürdigkeit, die deren Routinen problematisch macht und sie ihrerseits zu WO werden lässt. [Stephan 2010:88]

tical, and ›matters of concern‹, a more realistic mode that recognizes that knowledge claims are usually partial and reflect a particular set of problems, interests and agendas. For Latour, one way to reform our political system is to acknowledge that knowledge is made of ›matters of concern‹ and to identify all those affected by such matters; the proliferation of self-tracking – and the displacement of thinking by numbers – risks forever grounding us in the matters-of-fact-paradigm.« [Morozov 2014:253]

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung W issenschaftliches Objekt

Technologisches Objekt

unscharf bestimmt Fragemaschine Differenz

eindeutig bestimmt Antwortmaschine Identität Black Box Zustand 1 Technologische Objekte beginnen, eine Begrenzung und einen Zugang zum wissenschaftlichen Objekt zu bilden. Der Übersicht halber sind die Attraktoren im Folgenden nicht mehr dargstellt.)

Attraktore n Interkalation

Zustand 8 Die neuen technologischen Objekte wandeln wissenschaftliche Objekte erneut in technologische um, werden dabei aber ihrerseits zu wissenschaftlichen Objekten.

Zustand 2 Das wissenschaftliche Objekt erscheint daraufhin komplexer als zunächst angenommen. Weitere technologische Objekte treten hinzu.

Zustand 7 Um die Fragestellungen der neuen wissenschaftlichen Objekte zu bearbeiten, werden zusätzliche technologische Objekte bemüht.

Zustand 3 Technologische Objekte durchdringen das wissenschaftliche Objekt und strukturieren dessen Komplexität.

Zustand 6 Unter dem Einfluss des neuen technologischen Objekts werden weitere ehemals technologische Objekte in wissenschaftliche verwandelt.

Zustand 4 Die Überführung des wissenschaftlichen Objekts in ein technologisches Objekt ist fast abgeschlossen.

Zustand 5 Das ehemals wissenschaftliche Objekt ist so weitgehend zum technologischen Objekt geworden, daß es seine Voraussetzungen befragt und damit technologische Objekte in wissenschaftliche verwandelt.

Abb. 22: Experimentalsystem und Forschungsprozess, [aus Stephan 2010:89, basierend auf Rheinberger 1992] Die Kunst des Experimentators liegt darin, zu erkennen, wann Abstraktion und Generalisierung möglich und sinnvoll sind oder wann sich diese verselbständigt haben und durch neue empirische Erkenntnisse korrigiert werden müssen. Einfach immer kleinteiligere Beobachtungen zu machen und dafür Beschreibungen zu liefern, kann auch bei Latour nicht gemeint sein, denn er betont ja gerade die Funktion des »drawing together« der immutable mobiles und die operative Schließung von Diskussionen der Kollektive [PD:150].

185

186

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

3.2.4 »Matters of concern« und Szenografie 10 Latour nutzt das Beispiel des Theaters, um den Unterschied von Repräsentationen auf der Bühne und der Maschinerie zur Herstellung dieser Repräsentationen deutlich zu machen. Für eine Beschreibung der matters of concern formuliert Latour die Metapher der Szenografie. Deren fehlerhafte Konstruktion erlaubt es, den Begriff der matters of concern weiter zu differenzieren und für eine Umformulierung der Visualisierungsaufgabe zu nutzen. Latour schreibt: A matter of concern is what happens to a matter of fact when you add to it its whole scenography, much like you would do by shifting your attention from the stage to the whole machinery of a theatre. (…) Matters of fact were indisputable, obstinate, simply there; matters of fact are disputable, and their obstinacy seems to be of an entirely different sort: they move, they carry you away, and, yes, they too matter. [WSMC:39] Diese beiden Bestimmungen passen logisch nicht zusammen. Der Betrachter kann nur emotional beteiligt sein, wenn er an das Gesehene glauben kann, auch wenn er weiß, dass es sich um eine Inszenierung handelt aus Pappkulissen oder Pixeln. Der Betrachter steht daher vor der Alternative, • entweder seine Aufmerksamkeit auf die Bühne zu beschränken und das dramaturgische Geschehen zu glauben, um in der Folge davon bewegt zu sein • oder seine Aufmerksamkeit von der Bühne auf die »Maschinerie des Theaters« zu verlagern, was den Effekt der Handlung auf der Bühne stark reduzieren wird Matters of fact können die Adressaten nur bewegen, indem sie Gefühle und Haltungen darstellen, verdichten und spiegeln und damit an Erfahrungen des Publikum anknüpfen, sodass dieses empathisch reagieren kann. Die Begriffe »Scenography« und »Machinery of a Theatre« werden von Latour synonym verwendet, obwohl sie zwei verschiedene Dinge bedeuten: • Die »Szenografie« ist alles, was das Publikum auf der Bühne sehen und hören kann wie Kostüme, Kulissen, Licht und Klänge • Die »Maschinerie des Theaters« dagegen umfasst alles, was dazu beiträgt, die Effekte der Szenografie zu produzieren wie technische Anlagen, Bühnenarbeiter und Verwaltung, aber im Allgemeinen unsichtbar bleibt Die matters of fact auf der Bühne haben daher zwei Rahmungen: 1. die »Szenografie« und – nach außen zoomend – 2. die »Maschinerie des Theaters« (Abb. 23). Wird die Gesamtheit des Theaters als soziotechnische Maschine betrachtet, sind »Ströme« oder 10 Teile des folgenden Abschnitts wurden bereits publiziert, vgl. Stephan 2016. In einer Dissertation zum Thema »Bruno Latours ›missing masses of morality‹ in technikphilosophischer Hinsicht« wurde dieser Beitrag zustimmend aufgenommen, aber im Hinblick auf die Frage nach der Moral nicht weiterentwickelt [Gutmannsbauer 2017:131/132].

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

»Handlungsketten« zu beobachten, die aus Energien, Material, Finanzen und Kommunikationen Affekte erzeugen.11 In seinem Gebrauch der Theatermetapher verwechselt Latour Zweck und Mittel, und es bleibt unklar, was der Designer tun soll, wenn er aufgefordert wird, matters of concern zu visualisieren.

3.2.5 Zwei Rahmungen der Szenografie Eine differenzierte Fassung von Latours Visualisierungsaufgabe muss daher zwischen drei Ebenen unterscheiden: • Ohne Rahmen (vgl. Abb. 23 oben) Der Begriff matters of fact bezeichnet eine klar abgegrenzte Einheit als Artefakt ohne Kontext, was nur fiktional möglich ist etwa in CAD-Systemen. • Erster Rahmen: Die Szenografie (vgl. Abb. 23 Mitte) Die Szenografie konstruiert eine Situation durch die Hinzufügung von Kontext. Die matters of fact gewinnen dadurch an Bedeutung und werden zu matters of concern, auf die sich ein Publikum beziehen kann und die zum Gegenstand von Debatten werden. Die Inszenierung von Artefakten und Interaktionen erzeugt Präferenzen und Gefühle und motiviert kognitive und emphatische Verbindungen. Die Inszenierung entspricht dem traditionellen Verständnis der Expertise des Designs: Verhaltenssteuerung durch Umweltmanipulation, eingesetzt für die Ziele der Auftraggeber. • Zweiter Rahmen: Die »Maschinerie des Theaters« (vgl. Abb. 23 unten) Der erste Rahmen der Szenografie wird durch die »Maschinerie des Theaters« produziert. Hier wirken diverse Akteure in einem soziotechnischen System zusammen wie politische Institutionen, Finanzf lüsse, Arbeitsbedingungen, Gebäude, Infrastruktur, Ticketvergabe etc. Diese »Backstage-Perspektive« bleibt normalerweise für das Publikum unsichtbar, wenn sie nicht gerade als »making-of« oder »behind the scenes« gesondert produziert und ihrerseits inszeniert wird. Dann jedoch fällt sie zeitlich und örtlich nicht mit der ersten Inszenierung zusammen. Die Szenografie (erster Rahmen, Abb. 23 Mitte) ist sorgfältig gestaltet und bietet im Vergleich zum gewöhnlichen Alltag intensivierte Eindrücke. Das Erfolgskriterium ist die emotionale und kognitive Überzeugung des Publikums, das »die Geschichte kauft«, ohne ihre Konstruktion zu thematisieren. Das ästhetische Ideal ist exzessiv (größer, lauter, intensiver). Die verhandelten Themen/Gegenstände auf der Bühne sind matters of concern, da sie Kontext und Bedeutung haben und so dazu dienen, die Dramaturgie zu entfalten. Die Szenografie ist die Expertise von Regisseuren, Bühnenbildnern und Choreografen, von denen Designer lernen können, wenn sie über ihre

11 Daher widerspricht das Konzept der Wunschmaschinen von Deleuze/Guattari einem Theater der Repräsentation der traditionellen Psychoanalyse: »(…) die Welt des Theaters, auf die man sich in der Psychoanalyse beruft, wird durch den Bezug auf Fabrik und Industrie ersetzt, die psychische Repräsentation wird gegen die Produktion des Wunsches getauscht, (…).« [Schmidgen 1997:25]. Auch Lyotard widerspricht dem »Libido-Theater« [ÖW:13], vgl. Teil C 2.3.2, 6.4

187

188

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Produkte Geschichten und Lebensformen für die Bühnen des täglichen Lebens außerhalb des geschützten Raumes des Theaters entwerfen.12

Abb. 23: Doppelte Rahmung: die Inszenierung von Concerns [Illustration: PFS, aus Stephan 2016:210] 12 Die Theatermetapher wurde häufig bemüht, um auf den inszenierten Charakter des Alltags und die hier wirksamen Rollenbilder hinzuweisen, zuerst bei Shakespeare 1623 in »As You Like it« (Was ihr wollt): »All the world is a stage, And all the men and women merely players«. Diese Beschreibung wurde vielfach

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

Die »Maschinerie des Theaters« (zweiter Rahmen, Abb. 23 unten) ist die Versammlung aller an der Produktion der Szenografie Beteiligten. Im Sinne der Agency können das etwa Personen und Artefakte, Energie und Material, Information und Geld sein. Das Erfolgskriterium ist die effiziente Produktion von Darstellungen in ausreichend hoher Qualität bei Einhaltung des Budgets. Das ökonomische Ideal ist reduktionistisch (schneller, kleiner, günstiger). Die Objekte der »Maschinerie des Theaters« sind Werkzeuge, die als matters of fact dazu dienen, die Szenografie zu produzieren (Lampen, Kulissen, Computer, Buchhaltung, Haustechnik, …), aber selbst nicht ambivalent oder problematisch werden. Die »Maschinerie des Theaters« in Gang zu halten, ist die Expertise aller hinter den Kulissen Mitwirkenden wie Manager, Techniker und Angestellte.

3.2.6 Latours Theaterarbeit Die Wissenschaftshistorikerin und Regisseurin Frédérique Aït-Touati entwickelte mit Latour die Arbeiten für das Theater13 und formulierte das programmatische Ziel: (…) das Theater der Menschen und das Theater der Natur auf derselben Bühne zusammenzubringen, in einer visuellen, optischen und architektonischen Einrichtung, die entworfen wurde, um sie alle gemeinsam zu empfangen. [Aït-Touati 2021:168]14 Latour und Aït-Touati nutzen das Theater als ein Gedankenexperiment, das die Bildung neuer Hypothesen in der Öffentlichkeit befördern soll.15 Latour gibt an, durch Tanz und Theater zu Erkundungen geführt zu werden, die erst später argumentativ eingeholt werden: Wasn’t this the ideal opportunity to develop through argumentation what dance and theatre first compelled me to explore? [Latour 2017:2] Latour ist sich der Schwierigkeiten einer angemessenen Inszenierung im Theater bewusst, da er sie praktisch erprobt hat:16 Frédérique meint, dass ich eine sehr naive Art habe, Figuren auf die Bühne zu bringen (…). Denn man riskiert, das Publikum in eine Sache zu versenken, die Sache mit der vierten Wand, die zerstört werden muss… [Latour, Aït-Touati, Oberender 2021:195] aufgenommen vgl. Goffman 1983/1959 und Pine, Gilmore 2000. Das Thema der Inszenierung wird im Design vor allem an der FH Dortmund bearbeitet im Masterstudiengang »Szenografie und Kommunikation«, https://www.fh-dortmund.de/de/fb/2/studium/studiengaenge/szeno_ma/index.php 13 vgl. Aufstellung unter 9.2 14 Als Beispiele werden genannt: »(…) satirische Stücke aus dem 17. Jahrhundert (Ben Johnsons The Alchemist, Thomas Shadwells Virtuoso), Diderots Dialoge (Le rêve de D’Alembert) (…).« [ibid.:169], zum weiteren historischen Kontext vgl. Aït-Touati 2020 15 »Cela permet d’avancer de nouvelles hypothèses, et évidemment, c’est là toute la force du théâtre, cette expérience de pensée se fait en public et pas seulement dans la tête.« Latour 2013 über Gaia Global Circus, www.bruno-latour.fr/node/359 16 vgl. »Down to Earth« (Bestandteil der Ausstellung »Down to Earth«, Berlin Gropius-Bau, 13.08.– 13.09.2020) und die Diskussion dazu in »Staging Gaia – Bühne, Klima und Bewusstseinswandel« [AïtTouati, Latour, Oberender 2021]

189

190

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die oben diskutierte Frage der Öffnung der Inszenierung führt auch zum Konzept des Brechtschen Lehrtheaters, obwohl Latour eine pädagogische Funktion explizit ablehnt.17 Latour behauptet stattdessen, dass die »Maschinerie des Theaters« heute zur Inszenierung gehöre: Heute sind alle – Dekor, Kulissen, Hinterbühne: das gesamte Gebäude – auf die Bühnenbretter gestiegen und machen den Schauspieler*innen die Hauptrolle streitig.18 Dabei erkennt er nicht, dass die Öffnung zur Hinterbühne nur eine Option der Inszenierung ist, die bestimmten Zwecken dient wie der Darstellung von Authentizität und forcierter Nähe zum Publikum. Der Rahmen einer Bühne mit den Kulissen kann aufgegeben werden, aber dahinter kommt nicht etwa das rahmenlose Eigentliche und Authentische hervor, sondern es erscheinen die Hinterbühne, der Straßenraum oder Privaträume, die zu einem neuen Rahmen werden. Jeder Rahmen kann Theater schaffen, aber ohne Rahmen geht der Begriff des Theaters verloren.19

3.2.7 Differenzierung von Latours Visualisierungsaufgabe Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung muss Latours Visualisierungsaufgabe neu gefasst werden, wobei für Designer zwei Aufgaben zu unterscheiden sind: •

Die traditionelle Designaufgabe: Eine Visualisierung der Szenografie bietet die Standardperspektive des Publikums auf die Bühne. Hier werden die Beziehungen zwischen allen Beteiligten auf der Bühne und die Wechselwirkungen mit dem Publikum gestaltet



Die neue Designeraufgabe: Eine Visualisierung der »Maschinerie des Theaters« bietet eine für das Publikum sonst verdeckte Perspektive. Hier ist das komplexe und dynamische soziotechnische System samt der kontroversen Positionen der Anspruchsgruppen darzustellen

Designer können als Moderatoren beim Aushandeln der Kontroversen von Anspruchsgruppen beteiligt sein und dieses Hintergrundwissen dem Publikum vermitteln (Abb. 24 rechts).20

17 »Non, ce n’est pas du théâtre à thèse ou pédagogique.« Gaia Global Circus, www.bruno-latour.fr/ node/359 18 https://www.berlinerfestspiele.de/de/immersion/programm/2020/down-to-earth/staging-gaia. html 19 Wenn das Publikum in einem Ladenlokal sitzt und auf den gerahmten Ausschnitt einer Straße schaut, erscheinen die dortigen Alltagshandlungen als Theater, vgl. Theater der Welt, Köln 2002. Auch wenn Zuschauer in eine Aktionärsversammlung der Daimler AG eingeschleust werden, wird diese als Inszenierung erlebt, vgl. Rimini Protokoll, Berlin 2009, https://www.rimini-protokoll.de/website/de/ project/hauptversammlung 20 Diese Funktion wurde bereits frühzeitig als »Soft Systems Design« [Lutz 1979] beschrieben und wird im Concern Design mit erweiterter Begründung aktualisiert.

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

Abb. 24: Das Verhältnis von Designern und Anspruchsgruppen, links: Die Anspruchsgruppen erleben Inszenierungen, deren Urheber und Konf likte unsichtbar bleiben, rechts: Designer werden zu Moderatoren, wenn sie dem Publikum die bisher verborgenen Mechanismen bei der Herstellung von Inszenierungen aufzeigen. [Illustration: PFS] Diese Funktion des Designers soll aber nicht so verstanden werden, als könnte eine Darstellung jenseits von Inszenierungen angeboten werden. Es geht eben gerade nicht darum, erneut Ansprüche auf Wahrheit und Authentizität anzumelden. Stattdessen kann aber auf den inszenierten Charakter jeder Problembeschreibung hingewiesen werden. Dazu können Designer etwa eine Vielfalt von Inszenierungen erzeugen, um deren Relativität zu zeigen. In der von Latour kritisierten modernistischen Redeweise (»modernist idiom«) ist die erste Aufgabe verbunden mit Affirmation, Manipulation, Konsumtion und Intransparenz, während die zweite für Kritik, Authentizität, Auf klärung und Transparenz stehen soll. Für Designer jedoch erfordern beide Aufgaben das gleiche Repertoire an Kenntnissen und Fähigkeiten, und sie bewegen sich sowohl in der »Bühnen-Perspektive« des Publikums als auch in der »Backstage-Perspektive« der professionellen Produzenten. Designer wissen, dass man nicht nicht inszenieren kann, aber sie können sich in ihrer neuen Rolle der zweiten Rahmung für eine Professionalisierung der Konsumenten einsetzen.21

3.2.8 Fazit Es wurde deutlich, dass Latours »Spezifikationen« das Konzept der Concerns nicht ausreichend bestimmen und weitere Differenzierungen notwendig sind. Das Design sollte aber in der Lage sein, die von Latour eröffnete Perspektive aufzugreifen und weiterzuführen. Daher wird vorgeschlagen, den Begriff der matters of concern auf die aktuelle Entwicklung des Transformationsdesigns zu beziehen. Zum einen wird damit ein pragmatischer Rahmen geschaffen, in dem sich der Begriff bewähren und entsprechend differenzieren muss und zum anderen können aktuelle Designbewegungen durch einen entsprechend spezifizierten Begriff mit sozialpsychologischen und verhaltensökonomi21 vgl. das Projekt an der HFG Karlsruhe zur Ausbildung von »Diplom-Bürgern, Diplom-Patienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Rezipienten und Diplom-Gläubigen« [Brock, Sloterdijk 2011]

191

192

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

schen Grundlagen versorgt werden. Diese tragen dazu bei, die häufig noch unscharfen Bezüge des Designs auf gesellschaftliche Aspekte wie das »Gemeinwohl« [vgl. Papier, Meynhardt 2016] oder den »common cause« [Holmes et al. 2012] genauer zu fassen. Bei aller Kritik an der Konstruktion der sogenannten Fakten bleibt es Latours Anspruch, den Empirismus zu erneuern. Dazu gilt es, nicht einseitig auf die temporär stabilisierte, nicht bezweifelte und nicht diskutierte Seite der matters of fact zu schauen, sondern ergänzend die unstabilen, zweifelhaften und zu diskutierenden matters of concern anzuerkennen und zu berücksichtigen: What I am going to argue is that the critical mind, if it is to renew itself and be relevant again, is to be found in the cultivation of a stubbornly realist attitude—to speak like William James—but a realism dealing with what I will call matters of concern, not matters of fact. [WCS:231] Hier schließt die Funktion der immutable mobiles an, die Latour zu Recht hervorhebt. Daher erscheint es als unverständlich, warum Latour die beiden Forderungen nach Visualisierungen einerseits und matters of concern andererseits nicht zusammenführt zu einem integrativen Modell forschenden Denkens. Hier wäre dann ein Design zu verorten, das Latours Forderung »recall modernity« erfüllen kann. Um die Länge der Küste Englands zu vermessen, muss nicht jedes Sandkorn gezählt werden, wenn es eine Formel gibt, die Fraktale bestimmen kann.22 Sich aber nur auf eine Formel zu verlassen, genügt nicht, denn deren Angemessenheit muss immer wieder empirisch überprüft werden. So werden Fälle entdeckt, auf die bekannte Formeln nicht anwendbar sind, und neue Formeln, Modelle und Begriffe müssen gefunden werden, die die alten verdrängen. Es sind Analogien, Modelle, Karten und Formeln, die – wie immer ungenau, unvollständig und unverstanden sie sein mögen – die »weltbildenden Aktivitäten« [RA:561] leiten und die laut Programmatik der ANT zugänglich gemacht werden sollen. Die Modelle mögen in vielerlei Hinsicht falsch sein, doch wer soll das beurteilen und nach welchen Kriterien? Entscheidend ist, dass die Modelle Orientierung bieten und das Handeln mit einer hinreichenden Aussicht auf Erfolg anleiten. Nur wenn dieser ausbleibt, gibt es Anlass, die Modelle zu ändern. Ein Himmel voller Götter kann in dieser Hinsicht ebenso rational sein und erfolgreich wirken wie eine Karte und ein Sextant. Seefahrt war auch ohne Instrumente möglich, doch mit ihnen wurde sie weit erfolgreicher.23

22 vgl. Mandelbrot 1967 23 Dies entspricht der Funktion des Designs, wie sie Dirk Baecker als evolutionäres Stufenmodell der Absorption von Ungewissheit entwickelte: »Stammeskulturen hatten Vertrauen in die Magie, antike Hochkulturen in die Götter und die Moderne in die Technik. Die nächste Gesellschaft hat nur noch Vertrauen in das Design.« [Baecker 2015:89, auch 7.1.2] Allerdings gilt es, in dieser Reihung einen Unterschied zu beachten: Während Magie, Götter und Technik für die jeweiligen Kulturen und Gesellschaften erkennbar das angerufene Mittel der Vertrauensbildung waren, ist das beim Design nicht der Fall. Niemand wird behaupten, dass er sich einem Flugzeug anvertraut, nur weil der Kapitän vier Streifen an der Uniform trägt. Zwar sind das Interface und die Customer Journey einer Fluglinie Designleistungen, um die realen Abgründe der Technik und die damit verbundenen Risiken zu verstecken. Doch die Vertrauensbildung durch diese Inszenierung funktioniert nur, wenn diese vom Kunden nicht als solche wahrgenommen wird. Auf Nachfrage würden Nutzer sicher eher den Zertifikaten des TÜVs vertrauen.

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

3.3 Weitere Begriffe und Übersetzungen Im Folgenden werden weitere Aussagen Latours und die Probleme ihrer Übersetzung benannt, die für die Diskussion relevant sind. Es gibt etliche Unschärfen und Übertragungsfehler.24 Viele von Latours Sprachschöpfungen sind nicht eindeutig übersetzbar und wurden daher auf Englisch übernommen. Eine Ausnahme ist der Begriff »Dingpolitik« [RpDp], der auf Deutsch prägnanter erscheint und eine andere Wirkungsgeschichte entfaltet als das englische »How to make things public« [HTP], an dessen Stelle er eingesetzt wurde, dessen Übersetzung er aber nicht ist.

3.3.1 Beispiel: »The whole business of recalling modernity« In seinem Buch »An Inquiry Into Modes of Existence« formuliert Latour eine weitreichende Aussage in Bezug auf das Design (vgl. A 3): In other words, why not transform this whole business of recalling modernity into a grand question of design? [MEx:23] Übersetzt als: Anders gesagt, warum nicht diese ganze Affäre der Wiedererinnerung der Modernität in eine große Frage des Designs umwandeln? [Exw:59, übersetzt von Gustav Roßler] Hier fallen Unschärfen der Übersetzung auf. Das englische »recalling« kann nicht nur übersetzt werden als »Erinnerung«, sondern auch als »Abberufung« von Amtsträgern oder als »Rückrufaktion« von mangelhaften Produkten. Ein solches Verständnis wird bereits sehr viel früher explizit von Latour erwähnt in seinem Artikel »On recalling ANT« [Latour 1999], und es trifft sich auch mit seinem späteren Buchtitel: »Reset Modernity!« [Latour 2016], der einen »Neustart« der Moderne fordert analog zum Begriff des Reset bei Software. In der deutschen Übersetzung als »Wiedererinnern« gehen diese Bedeutungen verloren. Das substantivierte Verb mit der Verstärkung durch das »Wieder« führt eher zu Assoziationen einer Erinnerungskultur, als ob es darum ginge, die Moderne zu musealisieren. Latours Vorhaben soll jedoch eine Revision der Moderne sein mit dem Ziel ihrer Überwindung durch eine bessere Version ihrer selbst [vgl. Braun 2017]. Die Übersetzung von »Modernity« als »Modernität« trifft nicht den Sinn des Originals, nämlich die kulturgeschichtlich definierte Epoche der Moderne und nicht irgendeine Modernität, wie sie etwa im Verhältnis von Tradition und Fortschritt festgestellt werden könnte. Der Ausdruck »Affäre« schließlich deutet in Richtung »Zwischenfall, Skandalisierung«, während neutrale Begriffe wie »Sache« oder »Angelegenheit« eher dem 24 Latours Buch »Politics of Nature« wird mit dem Statement beworben: »Political ecology has nothing whatsoever to do with nature, this jumble of Greek philosophy, French Cartesianism and American parks« (https://www.hup.harvard.edu/catalog.php?isbn=9780674013476). Der Text im Buch lautet dagegen »(…) ›nature‹ – that blend of Greek politics, French Cartesianism and American parks.« [Latour 2004:5, Hervorhebungen PFS]

193

194

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

originalen »business« entsprechen. Schließlich kann »grand question« deutlicher als »umfassende Frage« übersetzt werden. Damit ergibt sich der folgende Übersetzungsvorschlag als genauere Alternative: Anders gesagt, warum nicht diese ganze Angelegenheit einer Revision der Moderne umwandeln in eine umfassende Frage des Designs? [Übersetzung PFS]

3.3.2 »Reassembling the Social« vs. »Eine neue Soziologie …« Eine zusammenfassende Darstellung der ANT ließ lange auf sich warten und erschien erst 2005 auf Englisch als »Reassembling the Social – An Introduction to Actor-NetworkTheory« [RAS]. Die deutsche Übersetzung erschien fünf Jahre später als »Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft – Eine Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie«.25 Die englischen und französischen Titel zeigen an, worum es in dem Buch geht: Es gilt, Einzelteile zu versammeln und sie in einem durchaus technischen Sinne anders zusammenzusetzen, um eine neue Idee dessen zu entwickeln, was als das Soziale gelten soll. Dabei wird implizit vorausgesetzt, dass es einst eine geschlossene Vorstellung des Sozialen gegeben haben mag, diese aber dekonstruiert und neu zusammengesetzt werden muss. Der deutsche Titel dagegen setzt eine Wissenschaft namens Soziologie voraus, deren Neuausrichtung einer »neuen Gesellschaft« angemessen sein soll. Dieser Begriff kann als Anklang an soziale Utopien zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelesen werden, was Latours Anliegen aber gerade nicht entspricht und ihm sogar zuwiderläuft. Während die englische Verlaufsform den Prozess betont, setzen die Substantive »Soziologie« und »Gesellschaft« zwei abstrakte Begriffe voraus, deren Erneuerung zwar versprochen, aber nur im Rahmen der bekannten Formate konzipiert wird. Die beiden Titel zeigen also für den gleichen Inhalt in verschiedene Richtungen. Latour kennzeichnet sein Projekt der Akteur-Netzwerk-Theorie als (…) den bewussten Versuch, mit der Verwendung des Wortes »sozial« in der Sozialtheorie Schluss zu machen und es durch das Wort »Assoziation« zu ersetzen. [Latour 2001:39] Ein zentrales Anliegen der ANT soll das Sammeln von Mittlern, das Nachvollziehen von Spuren der Akteure und das Anfertigen von Beschreibungen sein, gekennzeichnet als »Reassembling the Social«. Latour fordert: »Mehr Details, bitte, mehr Details«. (…) Es ist der Charakter des Sozialen, spezifisch zu sein. Nicht um Reduktion geht es, sondern um Irreduktion. [NSoz:239] Damit spricht er sich gegen verallgemeinernde Begriffe aus wie (…) Gesellschaft, Kapitalismus, Imperium, Normen, Individualismus, Felder und so weiter. [NSoz 239]

25 Latour 2010, aus dem Englischen übersetzt von Gustav Roßler. Die französische Übersetzung lautet »Changer de société – refaire de la sociologie« (2006).

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

Nun trägt aber eines seiner Bücher in der deutschen Übersetzung den soeben abgelehnten Begriff »Gesellschaft« im Titel. Die deutsche Version annonciert daher einen anderen Anspruch, nämlich eine im Vergleich weniger radikale Erneuerung der Soziologie, ohne deren prinzipielle Möglichkeit und Funktion infrage zu stellen. Das Phänomen (»das Soziale«) und seine Beschreibung (»die Soziologie«) sind aber nicht identisch und sollten nicht verwechselt werden. So unterscheidet Latour anlässlich seiner Tarde Rezeption deutlich zwischen der Ökonomie, die das komplexe wirtschaftliche Geschehen bezeichnet und einer Ökonomik, die deren vereinfachende, reduzierende Beschreibung ist (vgl. B 7.4). Über die Gründe zur Auswahl des deutschen Titels soll hier nicht spekuliert werden, zumal wohl eine Zustimmung des Autors unterstellt werden muss. Festzuhalten bleibt aber, dass die szientistische und utopische Ausrichtung des deutschen Titels vom Inhalt nicht gedeckt ist und dass dieser Umstand in der umfangreichen Rezeption bisher – so weit zu sehen – nicht thematisiert wurde.26

3.3.3 Beispiel: »Ready for us« und »Travellers in transit« Nach Latour besteht die Aufgabe heute darin, neue Existenzformen zu entwerfen zwischen einer dystopischen Ökonomie einerseits und einer utopischen Ökologie andererseits. Diese Aufgabe beschreibt Latour mit der Metapher eines Hauses und konstatiert eine existenzielle Unbehaustheit: Two forms of familiar habitats, oikos, we know that the first is uninhabitable and the second not yet ready for us! [MEx:23] Übersetzt als: Zwei vertraute Formen der Wohnstätte oder vielmehr des Hauses, oikos, von denen wir wissen, dass das erste unbewohnbar ist und das zweite noch nicht fertig. [Exw:60, übersetzt von Gustav Roßler] »Ready for us« sollte hier besser übersetzt werden als »bereit für uns«, denn das simple »fertig« deutet auf unproblematische Produktionsleistungen hin, deren Abschluss nur abgewartet werden muss, während die Frage nach angemessenen ökologischen Existenzformen die Frage nach Ansprüchen und Kenntnissen für deren Bereitstellung provoziert. Die doppelte Kennzeichnung »Wohnstätte oder vielmehr des Hauses« hat keine Entsprechung im Original, ebenso wenig wie »von denen wir wissen«. Die Aufgabe der Designer wird konkretisiert: They are travellers in transit, displaced masses currently wandering between the dystopia of The Economy and the utopia of ecology, in need of an urbanist who can design a shelter for them, show them drawings of a temporary living space. [MEx:23]

26 Auch Latours Titel »Facing Gaia« wurde unglücklich übersetzt als »Kampf um Gaia« [Latour 2017].

195

196

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Übersetzt als: Es sind Durchreisende. Angesichts dieser Vertriebenen, wie man nach dem Krieg sagte, ist es unbegreiflich, dass es nicht einen Stadtplaner gibt, um ihnen Entwürfe für eine provisorische Unterkunft vorzuschlagen, um die Massen unterzubringen, die zwischen der Dystopie der Ökonomie und der Utopie der Ökologie umherirren. [Exw:60/61, Übersetzt von Gustav Roßler] Die Übersetzung von »displaced masses« als »Vertriebene, wie man nach dem Krieg sagte« fügt eine historische Lesart hinzu, deren Berechtigung fraglich ist. Der Ausdruck »ist es unbegreif lich« und die Feststellung »dass es nicht einen Stadtplaner gibt« haben keine Entsprechung im Original. Das Bedürfnis der »Massen« nach einem Stadtplaner (»in need of an urbanist«) fehlt in der Übersetzung. »To design shelter« kann nicht nur heißen, Entwürfe anzufertigen, sondern diese auch zu realisieren. Daher erscheint die Übersetzung »vorzuschlagen« als zu schwach. Die spezielle Prägung von »The Economy« als einem umfassenden Großsystem, das wie eine Marke oder ein Staat mit einem Eigennamen bezeichnet wird, geht in der Übersetzung verloren.

3.3.4 Beispiel: »Das Chaos zur Welt krempeln?« Völlig unverständlich bleibt eine Übersetzung aus »Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen« [ÖkW]: »Das Chaos zur Welt krempeln«, da haben wir ein Ziel, das man den leidenschaftlichen Interessen anbieten kann. [ÖkW:117] (…) vom freien Spiel leidenschaftlicher Interessen erwartet er mehr Quantifizierung, das heißt mehr soziale Beziehungen, um »das Chaos zur Welt zu krempeln.« [ÖkW:120] Mit dem Ausdruck »das Chaos zur Welt krempeln« zitieren die Autoren Gabriel Tarde, der in seiner »Économie Psychologique« von 1902 schreibt: (…) carder le chaos en monde. [Tarde 1902/Bd.2:220] Im Kontext von Tardes Text wird deutlich, was der Ausdruck »carder« bedeuten soll: (…) nous admettons en tout individu un besoin plus ou moins vif de coordination logique des idées, de coordination finale des actes, besoin qui s’avive par le rapprochement des individus, qui devient une tendance générale à une logique et à une finalité croissante, en toute catégorie de faits sociaux, et finit par y faire partout de l’ordre avec du désordre, à y carder le chaos en monde. [Tarde 1902/Bd.2:220] Es geht um das (…) mehr oder weniger lebhafte Bedürfnis nach einer logischen Koordination der Ideen, nach einer zweckgerichteten Koordination der Handlungen (…), das schließlich (…) überall aus der Unordnung Ordnung schafft und das Chaos zur Welt krempelt. [ÖkW:117]

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

Es wird also ein Verb gesucht, das die Tätigkeiten der Koordination und des Schaffens von Ordnung bezeichnet. Tarde nutzt dazu einen technischen Begriff aus der Textilproduktion, der vor über hundert Jahren geläufig gewesen sein mag, heute aber einer Erklärung bedarf, die die deutsche Übersetzung nicht bietet: Das Kardieren (auch kardätschen, krempeln, manchmal umgangssprachlich fälschlich auch kratzen, in Süddeutschland datschen oder dätschen) dient im Prozess des Spinnens oder bei der Herstellung von Vliesstoffen zur ersten Ausrichtung der losen Textilfasern zu einem Flor oder Vliesstoff. Maschinen zum Kardieren werden Krempel oder Kardiermaschine oder einfach Karde genannt. Der Ort, an dem kardiert wird, heißt Karderie oder Karderei. [https://www.wikiwand.com/de/Kardieren] »Carder« bei Tarde und Latour/Lépinay soll also »ausrichten, anordnen« bedeuten, was dem gegebenen Kontext von Koordination, Logik und Zweckbestimmung entspricht. Das deutsche »krempeln« ist als Verb umgangssprachlich allenfalls im Sinne von »umkrempeln« oder »Ärmel hochkrempeln« gebräuchlich. »Krempel« als Substantiv führt gar zu Assoziationen von Ungeordnetheit im Sinne von Gerümpel und widerspricht damit sogar dem gemeinten Sinn des Koordinierens und Ordnens.

3.3.5 Die »immutable mobiles« – »unveränderliche mobile Elemente« Im Rahmen seiner »Science and Technology Studies« fragt Latour, wie der Beginn und der epochale Erfolg neuzeitlicher Wissenschaft zu erklären sind. Es gilt, im Detail (ANT´s view!) zu klären, wie Argumente konstruiert und durchgesetzt werden. Latours Antwort: Answer: the one able to muster on the spot the largest number of well aligned and faithful allies. This definition of victory is common to war, politics, law, and I shall now show, to science and technology. [VisCog:5] Es gewinnt derjenige, der »auf der Stelle die größte Anzahl gut abgestimmter und treuer Verbündeter auf bringen kann« (Übersetzung PFS). Die »Verbündeten« im Hinblick auf Argumentationen umfassen nach Latour weniger Subjekte als vielmehr eine große Anzahl unterschiedlicher Dinge wie (…) diagrams, lists, formulae, archives, engineering drawings, files, equations, dictionaries, collections. [VisCog:4] Diese Medien, Verfahren und Artefakte werden zusammenfassend beschrieben als »immutable and combinable mobiles.«27 Diese können die oben als entscheidend beschriebene Funktion nur erfüllen, indem sie drei Kriterien entsprechen:

27 VisCog, DrawT, Latour 1987:227, vgl. Schmidgen 2011:128-130. »Immutable mobiles« wird unterschiedlich übersetzt: als »unveränderlich mobile Elemente« [Latour 2006/1986:267] und als »unveränderliche mobile Elemente« [Latour 2000], wobei die zweite Übersetzung die zutreffende ist [vgl. Schüttpelz 2009:69].

197

198

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

• die Daten (in Form von Spuren, Schrift, Ziffern oder Grafik) müssen in den Medien über die Zeit konstant erhalten bleiben • die Medien müssen beweglich sein, damit sie weitergegeben und verbreitet werden können • die Medien müssen kombinierbar sein zum Auf bau größerer Einheiten. Latour gibt dafür das Beispiel des französischen Entdeckungsreisenden La Pérouse, der zur Klärung von geografischen Verhältnissen nach China fuhr und von dort eine Karte mitnahm, die es ermöglichen wird, künftige Schiffsrouten von Frankreich aus zu bestimmen [VisCog:5]. Dabei werden die natürlichen und technischen Aspekte wie Küstenverlauf, Strömungen, Klima, Hafengröße etc. nicht mehr einzeln, sondern auf der Basis der zeichnerischen Darstellung zusammengezogen betrachtet und bewertet. Diese Wirkungseinheit von Zeichnen und Zusammenziehen bringt Latour auf die doppelsinnige Formel von »drawing things together« [VisCog, DrawT]. Es ist dieser Zuwachs an Wirkungsgrad, den die »immutable mobiles« ermöglichen und der sie zu Machtinstrumenten werden lässt.28

3.3.6 »Artifizialität« und Künstlichkeit Eine Bemerkung Latours zum Problem der Künstlichkeit zeigt, wie Ungenauigkeiten der deutschen Übersetzung zu Verständnisproblemen führen können: Artificiality is our destiny, but it does not mean accepting the modernist definition of an artefact as the invasion of matters of fact over the softer flesh of human frailty forever. [Prom_engl:11] Übersetzt als: Artifizialität ist unser Schicksal, aber es bedeutet nicht, dass wir für immer die modernistische Definition eines Artefakts akzeptieren müssen, die darin eine Invasion von Tatsachen gegen den sanfteren Leib menschlicher Zerbrechlichkeit sieht. [Prom_dt:369] Warum das englische »artificiality« nicht mit »Künstlichkeit« übersetzt wird, ist unklar. Der Begriff »Artifizialität« trägt jedenfalls nicht zur Klärung bei. Der Ausdruck »the softer f lesh of human frailty« [Prom_eng:11] wird mit »sanfterer Leib menschlicher Zerbrechlichkeit« [Prom_dt:369] nur unzureichend wiedergegeben. Gemeint ist jedoch der Gegensatz zwischen den »harten« Tatsachen einerseits und dem »weichen Leib« andererseits. Außerdem geht es nicht um eine »menschliche Zerbrechlichkeit«, die auf leibliche Verhältnisse bezogen ohnehin fragwürdig erscheint, sondern »frailty« meint die »menschliche Gebrechlichkeit« als Hinweis auf die defizitäre Natur des Menschen, die durch Technik ergänzt und substituiert wird. Nur so kommt Latours Gedanke angemessen zum Ausdruck, dass die Technik als prothetische Künstlichkeit

28 Diese These hat zu weiteren Forschungen angeregt, die zusätzliche Anwendungsfälle liefern wie etwa die Verwendung von Rastern beim Siedlungsbau der Spanier in Südamerika [Schüttpelz 2006, Siegert 2009].

3 Neue Begriffe und Probleme der Übersetzung

eine Erweiterung von Handlungsfeldern darstellt, die so zum Gestaltungsmittel und Gestaltungsgegenstand werden. Latour thematisiert das Spannungsverhältnis von biologischem Leib und dessen technischer Erweiterung durch Artefakte, bezieht sich jedoch nicht auf neue Designfelder wie das Molekular- und Gendesign. Dort verwischen längst die Grenzen zwischen biologischen und konstruktiven Gebieten. Latours Aussage mag für klassische Modernisten nach einer substanziellen Erkenntnis und Provokation klingen. Für Designer jedoch fällt sie nicht nur hinter den Ref lexionsstand der 1980er Jahre zu Cyborgs und Artificial Reality zurück, sondern auch hinter die aktuellen Produktionsverhältnisse.29 Die Unterscheidung von Form und Inhalt und deren Zuschreibung zu Design und Technik ist eine künstliche, von einem Beobachter getroffene. Der Nutzer jedoch, der immer im Fokus der Designer steht, erlebt ein Kontinuum funktionaler und ästhetischer, haptischer und symbolischer, kognitiver und emotionaler Prozesse. Designanwendungen erstrecken sich von Kleidung und Essen bis zur utopischen Planung künftiger Städte und Landschaften. Diese Dimensionen werden in den Entwurf einer Umwelt integriert, die immer künstlich ist und nicht geteilt werden kann in eine moralisch überlegene Designaktivität einerseits und eine mindere Bau- und Konstruktionstätigkeit andererseits.30

3.4 Zusammenfassung Die diskutierten Beispiele zeigen, dass die Übersetzungen von Latours ohnehin spezieller Kunstsprache häufig Unschärfen oder gar Fehler produzieren.31 Latour wird daher am besten auf Englisch rezipiert. Durch seine idiosynkratischen Begriffsprägungen erzeugt Latour eine neue Perspektive und Vorstellungswelt. Unpräzise Definitionen, inkonsistenter Gebrauch der Begriffe, Redundanzen und ungenaue bis falsche Übersetzungen irritieren und erfordern die aktive Mitarbeit der Rezipienten. Dies hat eine Polarisierung zur Folge: Die Leser müssen sich auf Latours Sprachspiel einlassen oder aber sie lehnen den Ansatz samt seiner Darstellungsform ab. Einer Popularisierung von Latours Positionen hat dies aber nicht geschadet. Viele seiner Formulierungen bewähren sich als Leit- und Suchbegriffe, die produktive Anschlüsse ermöglichen an das Vorhaben einer ontologisch begründeten Neuorientierung vieler Fächer und Forschungsparadigmen.

29 Dies zeigt etwa das Projekt Synthetic Aesthetics, wo Designer unmittelbar am »softer flesh of human frailty« arbeiten, indem sie etwa mit einem 3D-Drucker Haut ausdrucken, vgl. A 3.4 und »Converging Technologies« [Roco, Bainbridge 2002]. 30 Diese Verhältnisse wurden in der Philosophie der Technik vielfach und frühzeitig bedacht, vgl. »Technische Existenz« [Bense 1949] und Heideggers Begriff der Technik [Heidegger 1956] 31 Weitere Textstellen wären anzuführen, wie etwa die erste Seite des 1. Kapitels von »Modes of Existence« [MEx:27], wo in der deutschen Fassung jeder der acht Sätze fragwürdige Übersetzungen enthält, die den ohnehin schwierigen Text teilweise völlig unverständlich machen [Exw:65].

199

4 Diskussion von Einzelaspekten

Im Folgenden werden Einzelaspekte diskutiert, die in Latours Prometheus-Text eine zentrale Funktion haben. Dazu gehören der Bezug des Designs zur Moderne, die unterstellten Haltungen wie Demut und Ethik, Design als Machtausstatter oder »notso-serious profession«, Architektur und Modelle, die Erweiterung des Designbegriffs, evolutionäre Perspektiven und Latours Kollektivsubjekte.

4.1 Die »fünf Vorteile des Konzepts Design« Latour benennt »fünf Vorteile des Konzepts Design« [Prom_dt:358]: Demut, Aufmerksamkeit für Details, Bedeutung, Redesign, Ethik [Prom_dt:358-362] Das genannte »Konzept Design« wird allerdings nicht definiert. Eine solche Bestimmung müsste zuallererst anerkennen, dass Design kein homogenes Fachgebiet ist. Es gibt eine große Bandbreite von Designhaltungen und Designanwendungen, die sich in ihren Theorien, Zielen, Methoden und Praxen fundamental unterscheiden. Diese reichen von experimentellen Entwurfsformen, die zur Kunst tendieren, bis zu systematischen Ansätzen, die eher der Wissenschaft nahestehen und von individuellen kunsthandwerklichen Entwürfen bis zu großen strategischen Projekten in Unternehmen, Regierung und Militär.1 Warum wurden gerade diese fünf Merkmale ausgewählt und keine anderen? Warum gibt es keinen Hinweis auf die zentralen Merkmale vieler Designfelder wie die integrierenden und antizipierenden Aspekte?2 Warum werden die Stufen des Designprozesses wie Beobachtung, Ideenfindung, Konzeptentwicklung und Prototyping nicht genannt? Und umgekehrt: Warum sollten Demut, Aufmerksamkeit für Details und ethische Dimension exklusive Vorteile des Designs sein, nicht aber von Architektur, Recht oder Medizin?3 1 Das US-Militär nutzt Design Thinking als komplementäre Methode zur Planung [US Army 2006, vgl. Teil A 3.2. 2 vgl. »Comprehensive Anticipatory Design Science« [Fuller 1956] sowie Nadin 2003 3 Die Beschränkung auf fünf Aspekte wirkt aber offenbar normativ. So werden Latours Kriterien zwar diskutiert, aber ihre Herleitung und Berechtigung nicht in Frage gestellt, vgl. Gutmannsbauer 2017: 52ff.

202

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Eine Diskussion von »Vorteilen des Konzepts Designs« provoziert die Frage nach dessen Nachteilen, die aber bei Latour nicht gestellt wird. Designer sind mitverantwortlich für absurde Luxusprodukte, zu große Autos, alberne Fernsehshows, enorme Mengen an Verpackung und viele andere zweifelhafte Beiträge ganz speziellen Sondermülls.4 Im Vergleich dazu kann die Ambition, künftige Lebensformen zu entwerfen, leicht anmaßend wirken. Scheint hier nicht eine Parallele zu technischen Machbarkeitsideologien durch (»solutionism«, Morozov 2014), die Latour gerade vom Design überwunden glaubt? Hat man von Designern je von einer Einsicht in die Grenzen des Gestaltbaren gehört, in die »Un-designability« [Holert 2011]? Ganz im Gegenteil: Viele Designer gehen sehr unbefangen, wenn nicht naiv oder gar fahrlässig um mit der Maximalgröße »Welt«.5 Zusammenfassend: •

Demut: Für einige Designhaltungen zutreffend, für andere nicht. Nicht wenige Designer sehen sich ohne jede Demut als Weltenschöpfer, andere nehmen die Einsicht in die beschränkte Rationalität der Planung zum Anlass, um bescheidener aufzutreten.



Aufmerksamkeit für Details: Anstatt ausschließlich auf Details abzustellen, wäre es plausibler, die Fähigkeit der Skalierung vom kleinsten Detail zur größtmöglichen Dimension zu nennen, wie es in der Formel »vom Löffel bis zur Stadt«6 ausgedrückt wird.



Bedeutung: Die Produktion kohärenter Bedeutungszusammenhänge (sensemaking) kann ein Ziel des Designs sein, ist aber nur eine seiner möglichen Ausrichtungen. Eine zentrale Aufgabe des Designs ist es, den Adressaten zu ermöglichen, mit komplexen Situationen umzugehen durch die Erzeugung neuer Muster (reframing). Diese Funktion zielt eher auf kompetentes Handeln statt auf Wissen und Bedeutung.



Re-Design: Ein iterativer Entwurfsprozess findet sich nicht nur im Design, sondern bei vielen planenden und konstruktiven Arbeiten, etwa im Ingenieurwesen. Fast immer wird dabei auf vorangegangenen Entwicklungsstadien aufgebaut. Daher wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass Design im wesentlichen Re-Design bedeutet und dieser Aspekt stärker in der Ausbildung berücksichtigt werden sollte [vgl. Michl 2002].



Ethik: Manche Designer mögen sich an ethisch begründeten Werten orientieren, doch andere tun das nicht. Auch ethisch zweifelhafte Produkte wie Waffen, Drogen und Foltermethoden sind Gegenstände des Designs.7

4 Hier setzt Monteiros Kritik an, vgl. Teil A 5.2.2. 5 Beispiele dafür sind: »Kann der Designer die Welt retten?« [IDZ 1970], »(…) the design of the world« [Mau 2004], »Weltdesign« [Rammler 2016:54], »Weltentwerfen« [Borries 2016] 6 »Die ganze Welt, vom Löffel bis zur Stadt, muss mit den sozialen Notwendigkeiten in Einklang gebracht werden.« [Bill 1959] 7 vgl. »Design and Violence« [Antonelli, Hunt 2015], auch Erlhoff 2021

4 Diskussion von Einzelaspekten

4.2 Design als »Machtausstatter« oder »not-so-serious profession«? Latour (Jahrgang 1947) berichtet von biografisch begründeten Ausgangspunkten. In seiner Jugend sei Design als Zusatz- und Luxusfunktion angesehen worden, die als »styling« und »not-so-serious profession« [ib.:356] eine Ingenieurleistung verschönere, notfalls aber entbehrlich sei.8 (…) surface feature in the hands of a not-so-serious-profession that added features in the purview of much-more-serious professionals (engineers, scientists, accountants), (…). [Prom_eng:2] Übersetzt als: Von einer Oberflächeneigenschaft in den Händen eines »nicht so wichtigen« Berufsstandes, der im Zuständigkeitsbereich von »sehr viel ernsthafteren« Fachleuten (Ingenieuren, Wissenschaftlern, Geschäftsleuten) Eigenschaften hinzufügte (…). [Prom_dt:356, Anführung in der Übersetzung] In der offiziellen deutschen Übersetzung geht die Entgegensetzung von not-so-serious zu much-more-serious verloren. Die Übersetzung von »not-so-serious« mit »nicht so wichtig« verpasst einen wichtigen Aspekt, der gerade bei der historischen Begründung des Designs eine Rolle spielte: In der voll entwickelten industriellen Produktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde erkannt, dass bei einer zunehmenden Auswahl funktional gleichwertiger Güter eine Differenzierung durch Gestaltung wirtschaftlich von Vorteil ist. Die Karriere einer Gründerfigur wie Peter Behrens, die vom Jugendstilmaler zum »künstlerischen Beirat« der AEG führte, kann als Beispiel gelten für den schon damals erkannten Stellenwert von Design. Während die Bewegungen von Arts and Craf ts noch von lebensreformerischen Idealen geprägt waren, nutzte die Industrie das Potenzial der Gestaltung bereits aus ökonomischem Interesse. Im Gegensatz zu den »harten« Produkten der Ingenieure wie Apparate und Maschinen handelt es sich beim Design eher um die »weichen« Faktoren der Ästhetik, der Kommunikation und des Gebrauchs. Den Durchbruch des modernen Designs begründete schließlich die Einsicht, dass diese »weichen« Faktoren für den Erfolg der »harten« Produkte entscheidend sind. Die Behauptung des »notso-serious« ignoriert daher wesentliche Entwicklungsschritte nicht nur des Designs, sondern auch der Ökonomie. Darüber hinaus waren diese frühen Designansätze nicht ausschließlich auf wirtschaftlichen Profit verkürzt, sondern durchaus schon verbun-

8 Der Wissenschaftshistoriker Rheinberger formuliert ähnlich: »Mit der Vorstellung von Design verbinden wir in der Regel Assoziationen von Af fordanz, von streamlining und von Verpackung, also von Formgebung. (…) und der Verführung des schönen Scheins.« [Rheinberger 2016:133] Undenkbar, dass Designer Gehör finden würden, wenn sie sich umgekehrt ebenso pauschal und uninformiert über das Gebiet der Wissenschaf tsgeschichte äußerten. Immerhin gesteht Rheinberger zu, dass er von einem »eher einfachen Designbegrif f« ausgeht und seine Skizze »holzschnittartig« ist. Diese soll dann auch nur als »Ansatz für eine Diskussion« verstanden werden und gnädigerweise noch »nicht als letztes Wort«.

203

204

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

den mit sozialen Fragestellungen, womit Latour sogar eine zusätzliche historische Quelle für seinen Ansatz hätte finden können.9 Auch für sehr viel weiter zurückliegende Epochen bleibt die Behauptung des »notso-serious« haltlos, denn die Inszenierung von Macht, sei sie religiös, politisch oder wirtschaftlich begründet, war immer auf Design angewiesen. Die Architekten und Gestalter der Antike, der Renaissance oder des Faschismus wurden sicher nicht als »not-so-serious« angesehen, sondern sie waren von zentraler Bedeutung für die Auftraggeber, um durch ihre Werke deren soziale Stellung anzuzeigen und die damit verbundenen Machtansprüche zu verkörpern und durchzusetzen.10 Designer haben sich daher immer im Zentrum der Macht bewegt. Ein Wissen um die Macht der Dinge und ihre Gestaltung erscheint daher geschichtlich eher als Normalfall denn als neuartiges Phänomen, das erst kürzlich von Theoretikern entdeckt wird, die ihre Möglichkeiten von Sprache und Schrift regelmäßig überschätzen. Hier finden sich also gute Gründe zur Stärkung der Latour’schen Forderung nach Darstellung der matters of concern, die von Latour leider nicht nur nicht bemerkt, sondern explizit negiert werden.

4.3 Die »Profession« Design Die Rede vom Berufsstand (»profession«) unterschlägt, dass sich das Berufsbild des professionellen Designers erst spät entwickelt hat und bis heute in Bewegung ist. Es waren zunächst Maler, Bildhauer, Architekten, Musterzeichner und Literaten, die sich für Gestaltung und Kommunikation zuständig machten. Erst allmählich verfestigten sich deren Kompetenzen in differenzierte Berufsbilder wie das des Designers.11 Latours Forderung nach neuen »Visualisierungswerkzeugen« [Prom_dt:372] adressiert ein komplexes Feld an der Schnittstelle von Technik, Gestaltung und Wissenschaft, das nur von einer ebenso heterogenen Mischung von Kompetenzen erfolgreich bearbeitet werden kann. Vielleicht lässt sich die Situation heute als eine Frühzeit der »Knowledge Economy« verstehen, für die erst noch die angemessenen Werkzeuge und Methoden zu entwickeln sind. Dies trifft sich mit den oben erwähnten Forderungen von Bolz und Flusser nach Wissensmedien (vgl. 2.3) und ist ein Ausgangspunkt der Forschung im »Wissensdesign/Cognitive Design«12, das viele Anwendungsfelder wie etwa den Datenjournalismus und die wissenschaftliche Visualisierung umfasst [vgl. 2.2, 8.3]. 9 vgl. Chodzinski 2007 10 vgl. die Ausstellung »Design of the Third Reich« im Design Museum Den Bosch, Niederlande https:// designmuseum.nl/en/tentoonstelling/design-van-het-derde-rijk, »Design der Macht – Möbel für Repräsentanten des ›Dritten Reiches‹« [Günther 1992]. Sloterdijk spricht daher zu Recht von Designern als »Machtausstattern« [Sloterdijk 2010]. Obwohl sich Latour im Prometheus-Text explizit und ausführlich auf Sloterdijk bezieht, blieb dieser Widerspruch unbemerkt. 11 Gesellschaftliche und technische Umbruchsituationen brachten den Typus des »Projektemachers« [Krajewski 2004] hervor, der Chancen erkennt und Risiken auf sich nimmt. Dessen ungewöhnliche Mischung von Kompetenzen kann auf den neuen, noch unstrukturierten Praxisfeldern besser wirksam werden als die traditionellen, abgesicherten Profile institutioneller Experten. Dies gilt für Pioniere der Luftfahrt und der Kinematografie ebenso wie für Medien- und Computer-Entwickler. Solche Milieus bieten Möglichkeiten für soziotechnische Innovationen, die auch Ziele des Designs sind, vgl. 8.6.6 12 vgl. Stephan 2005a/b

4 Diskussion von Einzelaspekten

4.4 Architektur und CAD Als Modellfall für die angestrebten neuen visuellen Sprachen nennt Latour die Beispiele von Architekturzeichnungen und CAD-Systemen. Dieser Bezug ist in mehrfacher Hinsicht interessant, denn für einige von Latours Kategorien gibt es Entsprechungen in der Architektur: •

Versammlung: In der Architektur gibt es einen eingeführten Diskurs zu den Funktionen der Zeichnung und ihrem Einf luss auf das Entwurfsgeschehen sowie die Kommunikation mit verschiedenen Anspruchsgruppen



Materialisierung: Dieser Diskurs berücksichtigt sowohl die Materialisierung durch physische Modelle als auch den Kontext der Digitalisierung13



Dingpolitik: Architektur organisiert soziale und öffentliche Belange (concerns) und hat daher Erfahrung mit den Wechselwirkungen von Artefakten und Sozialität

Latour berücksichtigt nicht, dass es keineswegs nur technische Zeichnungen auf CAD-Systemen sind, mit denen das komplexe Geschehen der Architektur organisiert wird. Hier wird vielmehr eine Vielzahl von Darstellungsformen eingesetzt, die von der Handskizze über die Simulation von Licht- und Klimaverhältnissen bis zum Alterungsprozess reichen.14 Zum visuellen Repertoire gehören dabei sowohl die avancierten Darstellungen der CAD-Systeme als auch die Standards des Projektmanagements in Form von Balken-, Torten- und Kurvendiagrammen. Darüber hinaus sind es aber immer noch die physischen Modelle, die wesentlichen Anteil an der Entwicklung gemeinsamer Vorstellungen haben (vgl. Abb. 25 rechts). Modelle sind: • • • •

konkret genug, um intuitiv verstanden zu werden abstrakt genug, um komplexe Verhältnisse auf einfache Formen zu reduzieren stabil genug, um Planungsstände festzuhalten und f lexibel genug, um schnell modifiziert werden zu können15

13 Einige Bereiche wie die Entwurfsdynamik und die historische Genese von Techniken wie der Zentralperspektive haben auch das Interesse der Kulturwissenschaften in ihrer Ausprägung als Kulturtechnik gefunden, vgl. Siegert 2009. 14 Diese Dimensionen wurden auch schon früh besprochen vgl. Schmitt 1993, Brand 1995. 15 zur designspezifischen Arbeit als »Denken am Modell« vgl. Stephan 2001

205

206

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 25: Denken am Modell, links: Berliner Stadtmodell, rechts: Modell für die Umgestaltung des KaDeWe 16 Diese Kriterien entsprechen genau den Merkmalen der »immutable mobiles« [VisCog:7], wie sie Latour als entscheidend für die Entwicklung der Moderne einschätzt. Latour sieht in ihnen aber nur das technische Gerät und das materielle Produkt, statt auch ihren überschießenden rhetorischen Charakter zu erkennen. Dieser wird in Theorien zu Metaphern und Modellen aber seit langem diskutiert.17 Da es bei der Architektur meist um große Dimensionen im räumlichen, zeitlichen und finanziellen Sinne geht, sind rhetorische Elemente entscheidend, um Bauherren, Nutzergruppen und Behörden vor der Bauphase zu beeindrucken und zu überzeugen.18 In Zeiten einer radikalen Hinterfragung der Funktionen und Mittel der Architektur wurde genau diese illusionistische Funktion kritisiert und gab Anlass zur experimentellen Erprobung alternativer Darstellungen. So produzierten die Architekturund Designgruppen der 1960er Jahre wie Archigram und Superstudio eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Darstellungen wie Comics, Flugblätter, Happenings, Drehbücher und Filme, die sie auch aus fachfremden Kontexten übernahmen.19 Ihre explizit politische Kritik richtete sich auch gegen die Funktion des Architekturmodells: Das Architekturmodell ersetzt alle Prozesse der Verifizierung: territoriale Makro-Dekorationsstücke, technologische Allegorien (…) Das Modell, als synthetisches Instrument, um das Projekt mitzuteilen, ist selber das Projekt geworden; in seiner absurden Perfektion beruhigt es die Wahnvorstellungen und verdrängt das sichere Scheitern. [Branzi 1984:9]

16 links: Foto Philip Eder, https://www.berlin.de/sen/bauen/baukultur/stadtmodelle, rechts: Office of Metropolitan Architecture (OMA)https://www.oma.com/projects/kadewe 17 vgl. Wendler 2013 18 So lässt sich argumentieren, dass die explizit illusionistische Funktion von Architekturmodellen im Spätbarock bereits als Vorform der heutigen digitalen Simulationen angesehen werden kann: »Das Modell ist der konkrete Träger der Idee und dient als unmittelbar fassliches Kommunikationsmittel zwischen Architekt und Bauherr. Architekturmodelle gab es vereinzelt bereits im Mittelalter, aber ihre selbstverständliche Anwendung zur Korrektur und Anschauung für den Architekten ist erst seit der Renaissance überliefert. (…) Erst im 20. Jahrhundert, und hier besonders in der Architektur der Dritten Reiches, erfährt der Modellbau eine Renaissance und bekommt eine neue Dimension, eine illusionistische Dimension, die – wie ich meine – bereits eine Weiterführung in Richtung auf Architektursimulation bedeutet, und zwar im Sinne einer vorgetäuschten Wirklichkeit.« [Schönberger 1988:43/44] 19  vgl. Cook 1999, Ambasz 1972, Stauffer 2007, C 7.4.1

4 Diskussion von Einzelaspekten

Die von Latour formulierte Zuordnung von CAD-Systemen auf der Seite der matters of fact einerseits und den gesuchten neuen visuellen Sprachen auf der Seite der matters of concern andererseits lässt sich vor dem Hintergrund dieses Diskurses nicht aufrechterhalten. Die materiellen Bauelemente der Architektur werden durch normierte Zeichensysteme eindeutig dargestellt (etwa Stahlträger und Wandstärken), die dadurch die Koordination von Bauvorhaben ermöglichen. Die Architektur beschränkt sich jedoch nicht auf die Kombination von Bauelementen, sondern komplexe Themen wie Wohnen, Arbeiten oder Stadtplanung müssen als die Erarbeitung von Concerns verstanden werden. Hier treffen die unterschiedlichen Kompetenzen und Interessen aller Anspruchsgruppen aufeinander: Architekten, Nutzer, Verwaltung, Anwohner etc. Im Gegensatz zu den eindeutig definierbaren Bauelementen ist hier kaum vorab zu bestimmen, welcher Art diese Concerns sein werden. Was die eine Gruppe als strittiges Thema versteht, kann für die andere lediglich ein unproblematisches Versatzstück (commodity) sein. Architekten und Designer haben die Aufgabe, dieses Feld zu ordnen und zu Entscheidungen zu bringen.

4.5 Die Erweiterung des Designbegriffs Latour stellt fest, dass sich der Designbegriff erweitert hat: Es ist so, als wäre die Bedeutung des Wortes (Design, PFS) in »Begriffsumfang« und »Extension« gewachsen, um in der Sprache der Logiker zu sprechen. Zunächst ist es im Begriffsumfang gewachsen – es hat mehr und mehr Elemente dessen, was ein Ding ist, »geschluckt«. (…) Zweitens ist der extensionale Anwendungsbereich des Wortes gewachsen – Design lässt sich auf immer größere Produktionsgefüge anwenden. Das Spektrum der Dinge, die designt werden können, ist sehr viel breiter geworden und lässt sich nicht mehr auf eine Liste von Gebrauchs- oder sogar nur Luxusgütern beschränken. [Prom_dt:357] Hier stellt sich die Frage, von welchem Ausgangspunkt eine Erweiterung des Designbereichs behauptet werden kann. Wird ein erstes Erscheinen des Designs mit dem Beginn der industriellen Revolution angenommen, so hat sich sein Wirkungskreis sicher erweitert analog zu einer immer umfassenderen technischen Durchdringung der Welt.20 Wenn jedoch Design als anthropologisches Merkmal von Weltaneignung, -umgestaltung und -einrichtung angesehen werden soll, kann es keine Ausweitung geben, da der Wirkungskreis des Designs dann schon immer universell war. Eine solche Perspektive legen Autoren nahe, die – ebenso wie Latour – ihre Überlegungen zum Design in eine evolutionsgeschichtliche Perspektive stellen.21 Vilém Flusser hatte bereits in den 1980er Jahren für die Aufgaben des Designs festgestellt:

20 vgl. Diskussion der Stufenmodelle, A 6 21 vgl. »Humans did not discover fire – they designed it.« [Nelson, Stolterman 2012], »Becoming Human by design« [Fry 2012]

207

208

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Das Problem der Gestaltung ist nicht mehr: Wie gestalte ich Dinge, sondern: Wie gestalte ich Kühe oder Getreide? [Flusser 1988:103].22 Für die evolutionsgeschichtliche Perspektive adoptiert Latour den Slogan »Dasein ist Design« [Oosterling 2009]. Dieser lässt an ähnliche Formulierungen der 1960er und 70er Jahre denken.23 Oosterling und mit ihm Latour bieten daher einen Ref lexionsstand, der schon vor Jahrzehnten erreicht wurde und seitdem an Stringenz nichts dazugewonnen hat. Im Gegenteil: Auch der Widerspruch zu diesen Slogans datiert weit zurück und argumentiert mit der simplen logischen Unterscheidung zwischen potenziell und aktuell: Jeder Mensch kann potenziell ein Designer sein, wenn er nämlich als ein solcher agiert und seine Kompetenz entsprechend entwickelt und anwendet, was in einer freien Gesellschaft niemandem prinzipiell verwehrt sein sollte. Gestaltungsanstrengungen können aber ebenso gut auch unterlassen werden, und nicht jedes zufällige oder zwanghafte Tun soll als Gestaltung gelten.24 Eine entgegengesetzte Lesart zu »Dasein ist Design« bietet die Umkehrung als »Dasein versus Design« [Mitcham 2001]. »Dasein« wird hier im Heideggerʼschen Sinne strenger phänomenologisch aufgefasst und als je spezifische Einbettung in konkrete zeitlich und räumlich gegebene Situationen verstanden. Dagegen setzt sich das Design ab als modernes Phänomen der planenden Übersteigung und Neuformierung des Vorgefundenen (vgl. 7.1, 7.3).

4.6 Latours Kollektivsubjekte Wenn der bei Latour ohnehin noch unscharfe Begriff der »matters of concern« übersetzt wird mit »Sachen, die uns angehen«25 treten die definitorischen Defizite noch deutlicher hervor und provozieren Fragen wie: • Wer ist »uns«? • Wer stellt fest, was wen etwas angeht oder nicht?

22 Die Kapitelüberschriften von Flussers Buch »Vom Subjekt zum Projekt« lauten: »Vom aufrichtigen Leben, Städte entwerfen, Häuser entwerfen, Familien entwerfen, Körper entwerfen, Sex entwerfen, Kinder entwerfen, Technik entwerfen, Arbeit entwerfen.« [Flusser 1998:9-160] Schon vorher hatte Lucius Burkhardt bemerkt: »Anne Cauquelin hat als erste die Hypothese vorgeschlagen: Die Nacht ist gemacht. (…) Die Nacht also, die ursprünglich wohl einmal etwas mit Dunkelheit zu tun hatte, ist ein menschgemachtes Gebilde, bestehend aus Öffnungszeiten, Schließungszeiten, Tarifen, Fahrplänen, Gewohnheiten und auch aus Straßenlampen. Wie das Krankenhaus, so hätte auch die Nacht ein ReDesign dringend nötig (…).« [Burkhardt, L. 1980, https://www.lucius-burckhardt.org/Deutsch/Texte/ Lucius_Burckhardt.html] 23 vgl. »Every human being is a designer« [Potter 2002/1969], »Design Yourself« [Hanks et al. 1977] und »Living by Design« [Gorb 1979], später wiederholt als »Design your life« [Kritzmöller, Frankenberg 2002] 24 vgl. Paul Feyerabends Diktum »Anything goes«, das dieser nicht als Programmatik verstanden wissen wollte, sondern als das überraschende Ergebnis empirischer Untersuchungen. Daher ist die Dif ferenzierung durch Bazon Brock berechtigt: »Alles geht, wenn es geht« [Reck, Brock 1986:15]. 25  Prom_dt:357, 370, 372/373, Übersetzung von Roßler

4 Diskussion von Einzelaspekten

Auch in der Beschreibung seiner »Spezifikationen« (vgl. 3.2.1) bezieht sich Latour auf ein bemerkenswertes Kollektivsubjekt: Can we do better (…), now we have to choose (…) [Prom_E:47] Doch wer ist mit »wir« gemeint?26 Die Anspruchsgruppen eines Concerns? Die Nachbarschaft, eine Nation, die Menschheit? Ist der Kreis der betroffenen Personen räumlich, zeitlich, lokal oder juristisch begrenzt etwa durch Rechtsnormen wie »Bürger eines Staates« oder »Anwohner eines Bauvorhabens«? Welche Instanzen sind von Rechts wegen beteiligt? Welche Gremien, Ämter und Rechtsorgane sind nicht nur am Prozess beteiligt, sondern steuern das Verfahren? Wer ist am Ende dafür zuständig, Entscheidungen zu treffen und diese zu verantworten? Welche Rolle spielen Medien und Journalismus? Beteiligen sich andere, die nicht zu diesen jeweiligen Kreisen gehören, aber den Concern zu ihrer Sache machen wie etwa politische Aktivisten, die andere, umfassendere Ziele verfolgen (hidden agenda)? Wer bestimmt über deren Zugehörigkeit? Wer spricht für andere und mit welcher Motivation und Legitimation?27 Auf welche Art und Weise? Braucht es Übersetzer (wörtlich: von einer Sprache in die andere) oder auch in einem erweiterten Sinne wie: • • • •

von analogen in digitale Formate von Alltagswissen ins Expertenvokabular von Alltagssprache in formale, z.B. juristische Diktion von einer Kultur in die andere?

Auffällig ist, dass Latour ein »Wir« voraussetzt und von ihm ausgehend Concerns bestimmen will, während keine Angaben gemacht werden, wodurch sich das Kollektivsubjekt zuallererst konstituieren soll. Viel wahrscheinlicher und dem Anspruch der ANT angemessener erscheint es aber, der Dynamik von Interessenbildungen nachzugehen und zu erkennen, dass sich die Kausalität genau andersherum verhält: Eine ausreichend große Menge von Menschen muss Interesse und Leidenschaft für ein Thema entwickeln, das hinreichende Energien mobilisieren und bündeln kann, um als Concern wahrnehmbar zu werden und in der Folge ein gemeinschaftsstiftendes »Wir« hervorzubringen. Mögliche Concerns werden in den Medien und auf den Marktplätzen der öffentlichen Meinungen vorgestellt, propagiert und diskutiert. Dabei unterliegen die Artikulationsformen und die auf sie bezogenen Gegenstände in Zuschnitt und Erscheinung den Formgebungen des Designs und werden – ganz im Sinne Tardes – zur Ursache wirtschaftlichen Handelns (vgl. B 7.4). Spezifische Überlagerungen und Muster von Concerns können dann als Lebensform, Haltung, Meinung oder Mem verstanden werden. Diese bleiben an die Kohäsionskräfte der Concerns gebunden und wenden sich mit deren Schwächung und Auf lösung neuen und stärkeren Concerns zu. Eine solche Annahme erscheint auch in der von Latour und Sloterdijk verfolgten evolutionsgeschichtlichen Perspektive plausibel: Erste Gemeinschaften und Stämme 26 Im Namen ungeklärter Kollektivsubjekte zu sprechen, hat Konjunktur, besonders beim normativ orientierten Social Design, vgl. Colomina, Wigley 2016:162/163, Costanza-Chock 2020. 27 Hier stellen sich die Fragen der »Sprachverlegenheit« und der »advocacy«, vgl. 8.5.

209

210

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

bildeten sich um knappe und zu teilende Ressourcen wie Essen und Behausung oder in der ritualisierten Bewältigung von unverfügbaren existentiellen Bedingungen wie Krankheiten und Wetter. In einer Situation des Überf lusses und umfassender Autonomie ist jedoch eine weitgehende Vereinzelung möglich, sodass Personalchefs, PRAbteilungen und Politiker große Anstrengungen unternehmen müssen, um zerstreute Individuen um Concerns zu versammeln, sei es zu einer Arbeitsbelegschaft, einem Kundenkreis oder einer Wählergruppe.28 Darüber hinaus ermöglichen es digitale Netze, die Bildung, Entwicklung, Verteilung und Auf lösung von Concerns in Echtzeit zu beobachten und zu manipulieren.29

4.7 Agency Zu den zentralen Begriffen der ANT gehört die Prägung »Agency«, die als genuine Sprachschöpfung nicht in andere Sprachen übersetzt wird. In dieser Perspektive werden Aktivität und Handlungsmacht nicht mehr ausschließlich Subjekten zugeschrieben. Doch auch die Hilfskonstruktion der »Aktanten«, die Artefakte und Menschen in gemeinsamen Handlungsketten umfassen soll, trifft noch nicht das Konzept der »Agency«. Während Aktionen im Allgemeinen zurückgerechnet werden können auf die sie ausführenden Akteure und Aktanten, soll dies bei »Agency« nicht der Fall sein. Daher belegt Latour den Begriff des Akteurs mit einer anderen Bedeutung: Ein Akteur in dem Bindestrich-Ausdruck Akteur-Netzwerk ist nicht der Ursprung einer Handlung, sondern das bewegliche Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hinströmen. [NSoz:81, vgl. B 8.3], im Original: »swarming toward it« [RAS:46] Auch wenn diese Formulierung eher Fragen provoziert, als diese zu beantworten, wird ein weitreichender Perspektivwechsel begründet: Die Wirkungsmacht der »weltbildenden Aktivitäten« wird nicht einem Akteur oder Aktanten zugeordnet, sondern geht aus einer Vielzahl von Interaktionen hervor, die in einer Handlungskette verbunden sind. Die Interaktionen verbinden unterschiedliche Instanzen wie Artefakte und Organismen, die nur durch diese Verbindung performativ und temporär zu Aktanten werden. Außerhalb der Interaktionen in Handlungsketten verlieren sie diese Eigenschaft. Die Interaktion ist also nicht konstitutiv wie beim Subjekt. Noch genauer kann postuliert werden, dass es am Ende das Phänomen der Übertragung und Übersetzung selbst ist, das sich zu seiner Realisierung die passenden Aktanten sucht. Während der Begriff der »Interaktion« noch Akteure und Aktanten voraussetzt, die diese ausführen, wurde daher der Begriff »Intra-Aktion« eingeführt, um anzuzeigen, dass sich Aktion und Akteure gegenseitig hervorbringen.30 28 Entsprechende Slogans adressieren die Kunden daher als »Stämme« oder »Nationen«, z.B. »United Colors of Benetton« und »Nation of Why Not« (Royal Carribean Kreuzfahrten). 29 vgl. Serviceanbieter wie https://www.complexium.de und https://mfglabs.com. Die Dynamik von Führerschaft und Kollektiven wurde beschrieben als: »It is the first follower who turns a lone nut into a leader«, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=fW8amMCVAJQ 30 Auf diese in der ANT angelegte, aber noch nicht ausbuchstabierte radikale Konsequenz hat Karen Barad in ihrer Rezeption der ANT aus der Perspektive der Quantenphysik hingewiesen, für die das

4 Diskussion von Einzelaspekten

Latour postuliert Hybrid-Wesen und Quasi-Objekte, die eine Übersetzungsarbeit zwischen Natur und Kultur leisten. Doch wie geschieht das genau? Wie entfalten sich »weltbildende Aktivitäten« [ibid.] und wie sind Concerns und Fakten darin verortet? Diese Frage wird bei Latour noch nicht befriedigend beantwortet. Im sozialkonstruktivistischen Verständnis meint »weltbildende Aktivitäten« jene Erzeugung sinnhafter Bezüge, die Bedeutung und Welt erzeugen. Doch muss es dazu eine entwerfende Instanz namens ICH geben? Oder sind die Prozesse vorrangig, da sie dieses ICH erst mitkonstruieren? Dieses Thema berührt Fragen der Entwicklungsgenetik, der Kognitionstheorie und der Soziologie gleichermaßen.31 Bei der Grundlegung seines Ansatzes versucht Latour sorgfältig, psychologische Erklärungen zu vermeiden. Sein Argument besteht gerade darin, den materiellen Aspekt der Sozialität zu betonen und von den Dingen selbst auszugehen. Andererseits wird ein objektiver Charakter von Artefakten bestritten und ihnen werden zumindest Tendenzen, wenn nicht gleich Vernunft und Wille zugesprochen. Die »weltbildenden Aktivitäten« werden daher nicht nur den Subjekten zugerechnet. Die vorgängige Agency umfasst vielmehr auch Hybrid-Wesen und Quasi-Objekte. »Weltbildung« wird damit zu einer symmetrischen Aktivität von Subjekten und Artefakten. Der Begriff »Gesellschaft« ist damit nicht mehr auf Subjekte allein bezogen, sondern umfasst immer schon »Kollektive« als eine Vielfalt von Populationen unterschiedlichster Herkunft. Georg Simmels Frage »Wie ist Gesellschaft möglich?« [Simmel 1908], die für die Begründung der Soziologie einst zentral war, stellt sich daher nicht mehr: Während bei Simmel einzelne Subjekte vorausgesetzt werden und deren spätere Gesellschaftsbildung infrage steht, dreht sich die Perspektive bei Latour um: Es ist immer schon Gesellschaft da im Sinne der unvermeidbaren Verstrickung (entanglement) in materielle Verhältnisse. Damit steht Latour im Gegensatz zur Tradition der Soziologie, freilich ohne dieses im Einzelnen auszuführen. Fraglich wird jedoch, wie sich aus dieser unübersehbaren Komplexität Handlungsfähigkeit ableiten lässt.32 Durch den Rekurs auf die matters of concern und auf Tardes »Psychologie Économique« werden psychologische Faktoren von Latour indirekt anerkannt. Deren mögProblem von Beobachtung und Beschreibung zentral ist: »Also Karen Barad (…) proposes, through her continuation of Niels Bohr’s studies of quantum physics, an ontology that resists pre-existing relata. Barad uses the expression of ›intra-action‹ to depart from the implications of preexisting entities entailed in the expression ›interaction‹. To Barad the smallest entity is ›phenomenon‹. With reference to Bohr, she describes phenomenon as the inseparability between object and agencies of observation. In other words, she argues that we cannot separate the knower and that which is known, since they are co-constituted, become in intra-action and are already entangled. Nevertheless, there is ›agential separability‹ within a phenomenon (…). These are not constant, but a result of ongoing agential cuts enacted through intra-action, which suggests that there is always a possibility for change.« [Lindström, Ståhl 2014:107, vgl. Barad 2007, 2012a/b] 31 Hier wäre etwa zu verweisen auf Piaget 1973 und Berger, Luckmann 2013/1966. In einem umfassenderen Sinne zählen dazu auch Forschungen zum Verhältnis von Körper und Geist, die von integrativen Ansätzen ausgehen wie »Being there – Putting Brain, Body, and World Together Again« [Clark 1997]. 32 Diese Frage wird bei Latour nicht behandelt, in der Systemtheorie jedoch mit Selbstsimplifikation beantwortet: »Keine Beobachtung kann ihren Gegenstand total erfassen, schon gar nicht im Verlauf seiner Prozesse und Änderungen. Auch Selbstbeobachtung ist auf Engführung, auf Selbstsimplifikation angewiesen. Man muss daher fragen, woher ein Gesellschaftssystem die Themen seiner Selbstsimplifikation bezieht.« [Luhmann 2008:o.S.]

211

212

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

licher Gegensatz zum »starken« Ansatz der ANT, der nur von erweiterten materiellen Verhältnissen ausgeht, wird von ihm aber nicht behandelt. Gerade hier wäre jedoch eine Verbindung möglich, die genau in ihrer doppelten Natur Relevanz für das Design hat: Einerseits eine größere Anerkennung des Materiellen bei der Konstruktion sozialer Verhältnisse und andererseits eine verstärkte Anerkennung psychologischer Faktoren, wie sie in der Ästhetik affektregulierend wirksam sind. So definierte Ferdinand Tönnies: Alle sozialen Gebilde sind Artefakte von psychischer Substanz, ihr soziologischer Begriff muss zugleich psychologischer Begriff sein. [Tönnies, F. 1925/1912:55] Im Concern Ansatz wurde das Schema der Concern Canvas entwickelt, in dem Werte und Fakten, psychologische Faktoren und Materialität in Bezug gesetzt werden (vgl. C 5.1). Dabei werden die Concerns als eine Instanz verortet, die zwischen Werten und dem framing von Ereignissen wirksam wird. Eine solche Bestimmung deckt sich mit einer Interpretation von Tönnies’ Ansatz: (…) kommt dies der Aufdeckung einer vergessenen Problemsphäre gleich – der Fundierung der Sozialverhältnisse in Bewusstseinsdispositionen, welche als Verkörperung der ›Gefühle, Triebe, Begierden‹ dem vernunftorientierten Handeln nicht nur genetisch vorausgehen, sondern diese selbst erst aus sich entlassen. [Merz-Benz 1995:15] Der im Folgenden entwickelte Concern Ansatz geht von Attraktoren aus, die Latours Vorstellung von Agency entsprechen als das »bewegliche Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hinströmen« (s.o.). Doch darüber hinaus werden diese bei Latour nicht näher bezeichneten Entitäten im Concern Ansatz vorläufig bestimmt durch Kategorien wie Fakten, Werte, Frames, Issues und Concerns. Dieser Versuchsauf bau soll dazu dienen, die Dynamik der »Strömungsverhältnisse« zumindest im Ansatz zur Darstellung zu bringen und daraus Ansatzpunkte für die Interventionen des Designs abzuleiten (vgl. Teil C).

5 Latours Diagramme

Latour entwickelt und vermittelt seine Positionen häufig durch Diagramme, die in der bisherigen Rezeption nur wenig diskutiert wurden. Textorientierten Autoren scheinen die Mittel fehlen, nicht nur Diagramme zu analysieren, sondern selbst diagrammatisch zu antworten. Latours Denkfiguren und Diagramme verbinden sich zu einem spezifischen Theoriedesign, dass aus Sicht der Gestaltung analysiert und kommentiert werden soll. Zum einen ermöglicht das Design ein »close reading« der Darstellungen, indem es deren Machart befragt und Alternativen diskutiert. Zum anderen können die Diagramme im Design weiterentwickelt werden und damit auf den Theorierahmen zurückwirken.

5.1 Schema von Natur und Kultur Latours bekanntester Slogan »Wir sind nie modern gewesen« wird von einem Diagramm begleitet. Dieses führt wesentliche Begriffe und Unterscheidungen ein und stellt damit die Annahmen dar, aus denen Latour seinen Ansatz entwickelt. Als Denkfigur und Gedächtnisanker gewann dieses Diagramm eine emblematische Funktion und ist auch grundlegend für Latours Designverständnis im Prometheus-Text. Deshalb soll es durch grafische Operationen befragt werden.1 Latour schreibt seine Position zum Design in ein Schema ein, das zwei Dichotomien postuliert (Abb. 26): eine erste zwischen »nicht-menschlichen Wesen/Natur« (links) auf der einen Seite und »menschlichen Wesen/Kultur« (rechts) auf der anderen sowie eine zweite zwischen »Reinigung« (oben) und »Übersetzung« (unten). Die Figur der behaupteten und als fiktional kritisierten Trennung zwischen Natur und Kultur wird bei Latour als gesetzt angenommen und nicht weiter ausgeführt. Damit ergeben sich folgende Fragen zur Ausgangslage: • Lässt das Diagramm Rückschlüsse zu auf Latours Theorieanlage und ihre möglichen Defizite? Sind alternative Darstellungen denkbar?

1 Erst so entsteht ein »diagrammatic reasoning« [Glasgow et al. 1997] oder ein »Denken am Modell« [Stephan 2001].

214

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

• Wer zieht die Trennlinie zwischen Natur und Kultur? Ein Beobachter, der selbst nicht auf einer dieser Seiten steht? Erfordert das Erkennen der Linie eine privilegierte Perspektive, die über dieser Trennung steht? • Wie gewinnt diese Linie Geltung für andere Beobachter? Ist sie nicht ihrerseits ein Produkt von Kultur und daher nur von einer der durch sie selbst unterschiedenen Seiten zu erkennen? • Wird die Vorstellung einer strikten Trennung eingeführt, um einen Anlass zu gewinnen, diese Markierung heroisch zu unterlaufen? Ist die Konstruktion damit nicht ihrerseits fiktiv und hat den gleichen Mangel, den Latour zu bekämpfen vorgibt?

Abb. 26: »Reinigungs- und Übersetzungsarbeit« nach Latour 2 Im Folgenden wird die von der ANT empfohlene Methode befolgt, sich in die Perspektive der Ameise zu versetzen (»ANT’s view«) und »den Akteuren zu folgen«. Dabei gilt es, langsam und kontinuierlich von einem kleinstmöglichen Detail zum nächsten überzugehen, ohne Sprünge und Abstraktionen zuzulassen. Latours Position wird also mit Latour’schen Mitteln befragt und gegebenenfalls wird mit Latour gegen Latour argumentiert. So provoziert das Diagramm einen weiteren Komplex von Fragen: • Warum wird die Ebene der »Hybriden Netzwerke« unten eingezeichnet? • Sollen damit Unsichtbarkeit, Obskurität und illegaler »underground« assoziiert werden? • Soll ein Narrativ der Auf klärung entstehen, in dem Latour als Entdecker dieser bisher versteckten und übersehenen Ebene erscheint? • Zeigt sich bei Latour eine naive Einstellung zum Einsatz grafischer Darstellungen und wird deren Eigensinn instrumentell verkürzt? • Lassen sich durch eine Befragung der zeichnerischen Mittel unterschwellige Aussagen aufspüren?

2 aus NMod:20, vgl. 1.3.1. Das Diagramm wurde bereits scharf, aber undifferenziert kritisiert: Archäologie-Professor Dan Hicks: »This really has to be one of the worst academic diagrams of all time, surely?«, #worstacademicdiagram, https://twitter.com/profdanhicks/status/996774587047309314

5 Latours Diagramme

5.2 Grafisches Experiment mit Latours Schema von Natur und Kultur Bilder und Diagramme argumentieren nicht, sondern suggerieren. Daher lässt sich ein Diagramm am besten mit diagrammatischen Mitteln befragen. Grafische Operationen generieren alternative Darstellungen, die jeweils andere Aspekte sichtbar machen. Wird das Diagramm um 90 Grad gekippt (Abb. 27), verlieren die »hybriden Netzwerke« den suggerierten Charakter einer versteckten Ebene. Die Tätigkeiten von »Reinigung« und »Übersetzung« erscheinen als parallele Aktivitäten, was als gleichberechtigte Rangordnung interpretiert werden kann. Die Nummerierung bleibt in Leserichtung erhalten, wodurch ein zeitliches Verhältnis nahegelegt wird, das der Natur eine ursprüngliche Situation zugesteht (1), woraus sich die Kultur abspaltet (2), aber durch die »hybriden Netzwerke« (3) schließlich wieder verbunden wird.

Abb. 27: Umstellung von Latours Schema durch Drehung um 90 Grad [Montage: PFS]

Abb. 28: Umstellung von Latours Schema durch horizontale Spiegelung [Montage: PFS]

215

216

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Wird die ursprüngliche Darstellung horizontal gespiegelt (Abb. 28) ändern sich die Prioritäten: Nun erscheinen die »hybriden Netzwerke« als vorrangig. Die Trennung zum Bereich Natur/Kultur wird zur »ersten Dichotomie«, die durch »Reinigung« erzeugt wird. Die Nummerierung ändert sich und stellt die »hybriden Netzwerke« an die erste und obere Position (1), die getragen wird von einem symmetrischen Modell von Kultur (2) und Natur (3), deren Verhältnis als »Übersetzung« gefasst wird, wodurch »menschliche und nicht-menschliche Wesen« auf beiden Seiten existieren. Um noch weiter ins Detail zu gehen: Schon die Repräsentation der Trennung durch horizontale und vertikale Linien kann hinterfragt werden. Hier wird die mathematische Konvention einer körperlosen Geraden genutzt. Wird dieser Bestimmung gefolgt, stellen sich jedoch geometrische, logische und mengentheoretische Fragen, wie etwa: Gibt es Punkte, die näher oder ferner zur Grenze liegen, sind Punkte denkbar, die in beiden Feldern liegen, sind Transformationen von einem zum anderen Feld möglich? Damit entsteht ein Überschuss an Bedeutung, der in Latours Verwendung des Schemas offensichtlich nicht beabsichtigt, aber unterschwellig wirksam ist. Bereits die Ersetzung der abstrakten mathematischen Linie durch eine Schraffur (Abb. 29) zeigt ein völlig anderes Bild und ermöglicht grundsätzlich andere Assoziationen: Sofort wird klar, dass es sich nicht um eine statische, kategoriale Ein- und Ausschlusslogik handelt, sondern um eine dynamisch und situativ bestimmbare Durchlässigkeit. Erst damit tritt die Dialektik der Grenzziehung in Erscheinung: Nichts verbindet mehr als eine gemeinsame Grenze.3 Der von Latour vorgetragene Anspruch auf größere Realitätsnähe könnte damit umformuliert werden: Grenzen in der Realität – nicht der Mathematik (ANT’s view!) – haben eine Ausdehnung. Sie sind Zonen der Passage und des Austauschs, wie etwa bei der menschlichen Haut oder der Rinde eines Baumes. Damit würde allerdings von vornherein ein integratives Bild des Verhältnisses von Natur und Kultur gezeichnet, das unterschwellige hybride Netze mit ungeklärten Entitäten weder braucht noch zulässt. Abb. 29: Alternative Darstellung einer Grenze durch Schraf fur4

5.2.1 Beurteilung des Schemas Zusammenfassend ergibt sich folgende Beurteilung des Schemas: Latour nutzt das Diagramm, um seine Problembehauptung (»Trennung von Natur/Kultur«) und seine Lösung (»hybride Netzwerke«) zu illustrieren. Der Darstellung selbst wird aber keinerlei Eigensinn zugeschrieben, was im Gegensatz steht zur behaupteten zentralen Rolle von grafischen Darstellungen als »immutable mobiles« [VisCog:7].

3 vgl. die Spruchweisheit »Gute Zäune machen gute Nachbarn«. Zum Begriff, zur Dialektik und zum »Lob der Grenze« vgl. Liessmann 2012, Debray 2016 4 Quelle: www.anthroposophie.net/lexikon/db.php?id=246

5 Latours Diagramme

Die grafischen Operationen wie Drehung und Spiegelung bringen diesen Eigensinn hervor. Sie zeigen, wie rhetorische Funktionen in den einzelnen Bestandteilen angelegt sind: Allein der Bedeutungsüberschuss einer horizontalen Trennung führt zur impliziten Annahme von »sichtbar« und »unsichtbar«, die mit Wertungen verbunden ist wie »offiziell/inoffiziell« oder »legitim/illegitim«. Latour arbeitet mit diesen unterschwelligen Wirkungen und nutzt suggestive rhetorische Formen wie in seiner Schriftsprache (vgl. 8.1). Dieser Einwand bedeutet nicht, dass neutrale Darstellungen verlangt würden.5 Der grafische Darstellungsraum ist nicht neutral, sondern immer schon semantisch vorstrukturiert durch Konventionen. Allein die Lagebeziehungen von oben und unten, links und rechts sind schon Bedeutungsträger. Und auch eine simple vertikale Gerade beruht auf Voraussetzungen, die befragt werden müssen.6 Latour setzt sich daher dem Vorwurf aus, seinen eigenen Postulaten nicht zu folgen. Wenn Beobachten, Beschreiben und Nachzeichnen von Handlungsketten gefordert werden, hätte auch der Zeichenakt selbst problematisiert werden müssen, statt ihn stillschweigend als vermeintlich neutrales Versatzstück der eigenen Aussagenlogik (oder -unlogik) zu unterstellen. Latours Aussagen und Repräsentationen zum Verhältnis von Natur und Kultur bleiben insbesondere deswegen unbefriedigend, weil nicht klar wird, von welcher Position aus beobachtet und artikuliert wird. Gesucht wird daher eine Darstellung, die verschiedene Perspektiven auf das fragliche Verhältnis zeigt und seine eigenen Produktionsbedingungen in die Darstellung einschreibt.

5.3 »Kulturkalkül« von Dirk Baecker Eine solche Darstellung wird im »Kulturkalkül« gefunden [Baecker 2014]. Dessen Funktion basiert auf einer grafischen Neuformulierung von Verhältnissen der Logik, wie sie von George Spencer-Brown in den »Laws of Form« entwickelt wurde [SpencerBrown 1997].

5.3.1 Die Einheit der Unterscheidung Aus der mathematischen Logik leitete Spencer-Brown ein Verfahren ab, das von der Willkür einer ersten Unterscheidung ausgeht: »Draw a distinction« (Abb. 30). Durch diese erste Setzung entstehen ein Innen und ein Außen, die als »marked space« und »un-marked space« bezeichnet werden. Die Operationen Unterscheiden und Bezeichnen fallen notwendig in einer Aktion zusammen und werden grafisch dargestellt durch einen rechtwinkligen Haken, der sowohl die Unterscheidung, als auch das Innen und Außen markiert.

5 Dies wurde bereits im 17. Jahrhundert als Forderung nach einem »plain style« diskutiert, vgl. 8.6.5. 6 In Bezug auf den Raum als logisch vorgängige Voraussetzung formulierte Wittgenstein: »Einen Raum kann man nicht suchen, sondern nur Dinge in einem Raum. In diesem Sinne bedeutet ›Raum‹ alles, dessen man gewiss sein muss, um eine Frage stellen zu können. Eine logische Entdeckung ist etwas ganz anderes als das Finden von etwas im Raum. Bei der logischen Entdeckung ist es so: Wenn wir das Gesuchte beschreiben könnten, hätten wir es schon gefunden.« [Wittgenstein 1989:39], vgl. C 3.8.3

217

218

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 30: Markierung aus den »Laws of Form« [Spencer-Brown 1997:4]

Dieses formale Verfahren führt dazu, dass die auf den beiden Seiten des marked und unmarked state aufgeführten Begriffe durch Unterscheidung bestimmt werden. Die Begriffe gewinnen Bedeutung erst durch ihr Verhältnis zu anderen Begriffen. Zum Beispiel bedeutet Freiheit im Verhältnis zu Sicherheit etwas anderes als Freiheit im Verhältnis zu Körper oder Freiheit im Verhältnis zu Gewissen. Der Begriff Freiheit gewinnt Kontur durch den Kontext etwa als »die Freiheit zu wählen« oder als »die Freiheit von Ketten«. Es wird deutlich, 1. dass ein Begriff alleine keine allgemeine Aussagekraft beanspruchen kann und 2. dass ein vorgängiger, subjektiver Akt des Ins-Verhältnis-Setzens stattfindet, der explizit gemacht werden muss, um von einem Beobachter akzeptiert und nachvollzogen oder kritisiert und durch Alternativen ersetzt werden zu können Die Figur des »Re-Entry« schließlich ordnet die anfänglich getroffene Unterscheidung einer der unterschiedenen Instanzen zu. Das Zeichen dafür ist die verlängernde Rückführung des oben eingeführten Hakens. Damit wird die Paradoxie bewältigt, dass ein voraussetzungsloser Anfang nicht denkbar ist, außer in der Schöpfungsidee der »Creatio ex nihilo«.

5.3.2 Kultur und Natur im Kulturkalkül Das beschriebene Verfahren wurde von Dirk Baecker zur Entwicklung eines »Kulturkalküls« [Baecker 2014] genutzt. Hier wird das Verhältnis von Natur und Kultur durch Ein- und Ausklammerung bestimmt (Abb. 31). Die Operation Unterscheiden/Bezeichnen wird damit kontingent, sie hätte also auch anders ausfallen können. Unterschiedliche Entscheidungen begründen verschiedene Perspektiven, die gleichermaßen legitim sind.7 So schreibt Baecker: Vico klammert die Natur aus, um die Kultur zu ihrem Recht kommen zu lassen, andere klammern die Kultur aus, um sich einer Natur zu vergewissern, die möglicherweise die Ambivalenz aufzufangen vermag, die in einer Poesie steckt, in der sich eigene und fremde Autorität die Waage halten. [Baecker 2014:23]

7 Baecker hat diesen Ansatz weiter ausgebaut als allgemeine Kulturtheorie im Konzept der »catjects« [Baecker 2007/2008].

5 Latours Diagramme

Abb. 31: Einheit der Unterscheidung von Kultur und Natur [Baecker 2014:23]

5.3.3 Vergleich der Diagramme von Baecker und Latour Baeckers Modell ist prozesshaft angelegt und führt zu multiperspektivischen Darstellungen. Deren Gesamtschau erscheint als Frage-Maschine: Wohin führen die durch Setzung getroffenen Unterscheidungen? Latours Darstellung dagegen ref lektiert die Problematik der Beobachtung nicht, sondern stellt lediglich die eigene Behauptung rhetorisch dar. Sie erscheint als Antwort-Maschine: Es wird ein Problem behauptet und eine Antwort als Lösung präsentiert. Im Vergleich beider Ansätze erscheint Latours Vorgehen nicht nur traditionell, sondern fundamentalistisch, weil es keine Öffnung zu anderen Sichtweisen anbietet. Es ist nicht zu erkennen, wie er damit seinem Anspruch auf Bildung einer »Infra-Sprache« gerecht werden will, die den »reichen Idiomen der Akteure« [NSoz:54, vgl. 8.6] zum Ausdruck verhelfen soll.

5.4 Neue Darstellung Weitere Interpretationen und Umarbeitungen von Latours Diagrammen wurden als »Übung an Weltbildern« [Schüttpelz 2013] präsentiert.8 Dort wird auch das Diagramm der Grafikerin Angela Chen gezeigt (Abb. 32), mit dem diese versuchte, »ihre Lektüre von Bruno Latours ›Wir sind nie modern gewesen‹ in eine grafische Form zu bringen (…).« [Schüttpelz 2013:155]. Dies wird positiv aufgenommen: Das Diagramm Angela Chens entspricht sehr viel genauer einer horizontalen und einer vertikalen Achse als jedes entsprechende Diagramm Latours. (…) die »moderne Matrix« ist in der Mitte dieser Grafik, das heißt dort, wo der »Weltbaum« zwischen Ober- und Unterwelt die Erdebene durchstößt. Ich muss gestehen, dass mir diese Grafik sehr eingeleuchtet hat, weil dieses leicht verfremdete Welt-Bild den Schamanismus von Latours Argumentation genauer trifft als es in seiner eigenen variablen, aber immer isomorph bleibenden Geometrie möglich ist. (…) Angela Chens Diagramm bildet eine ganze schamanistische Welt und ihre Weltreise ab; sie zeigt den Theoretiker auf der trickreichen Suche nach den verlorenen Seelen-Anteilen der Modernen. [Schüttpelz 2013:155]

8 vgl. Kommentare zu Latours Werk: »Denken in Operationsketten« [Schüttpelz 2008] und »Die medientechnische Überlegenheit des Westens« [Schüttpelz 2006]

219

220

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 32: Diagramm von Angela Chen [aus Schüttpelz 2013:155] Interessant erscheint, dass Latours Argumentation hier wie selbstverständlich als »Schamanismus« gekennzeichnet wird.

5.5 Zwei Diagramme zur Operationalisierung Im Folgenden werden zwei Diagramme diskutiert, die in Latours Kurs »Scientific Humanities« unter dem Titel »How to move from object to project« präsentiert wurden: Das AND/OR Diagramm und ein Diagramm zur evolutionären soziotechnischen Entwicklung.9 Die Perspektive der ANT analysiert diese Entwicklungen retrospektiv. Das Design kann aber darüber hinaus eine projektive Nutzung der Diagramme erproben, indem die gleichen Maßstäbe angelegt und spekulative Kategorien eingesetzt werden.

5.5.1 »AND/OR Diagramm« Dieses Diagramm soll die Dynamik technischer Entwicklungen zeigen (Abb. 33). Horizontal werden Aspekte der Verbindung eingetragen (AND), während vertikal die Ersetzungen eingetragen sind (OR). So ergibt sich für die Entwicklung technischer Objekte eine Zick-Zack Linie, die »Frontline« der fördernden und hindernden Aspekte (»pros and cons«). Die Vor- und Rückschritte einer Projektentwicklung sollen so deutlich werden, statt nur auf fertige Objekte zu schauen, deren Entwicklungsgang im Rückblick meist unproblematisch und teleologisch erscheint.10 Latour erklärt: The important point is (…) that any displacement along the composition or association (AND) dimension is offset (…) by a movement along the detour or substitution (OR) dimension. (…) technological invention never proceeds in a straight line; rather, it zigzags between a multitude of compromises. [Latour 2013c:22/23] 9 Die Diagramme sind im Skript zum Online-Kurs im Netz zu finden, wo sie aber nur beiläufig und auf zwei Stellen verteilt gezeigt werden, Latour 2013c:22/12. 10 Im Kontext der ANT wurde daher auch die Entwicklung eines Flugzeugs wie ein Lebenslauf analysiert, vgl. »Leben und Sterben eines Flugzeugs« [Law, Callon 2006].

5 Latours Diagramme AND

AND

Opinions

OR

(t1)

OR

Arguable and confusing statements

Disputes and controversies Discovery

Obvious and undeniable facts frontline (t 2)

Abb. 33: Latours »And/Or diagram«, links: Dynamik der Entwicklung als Addition (»and«) oder Versatz (»or«), rechts: mit Kategorien und »Frontline der pros and cons«11 Das Diagramm betont die Rolle der Transformation beim Verhältnis von Objekt und Prozess: The point is that there is no way to move toward existence without transformation but that each transformation may increase or decrease the number of entities allied with the project. [Latour 2013c:23/24] Als Anlässe für mögliche Transformationen werden fünf mögliche Stufen der Kategorie »Or« angegeben (Abb. 33 unten): »(…) opinions, arguable and confusing statements, disputes and controversies, discovery, obvious and undeniable facts« [Latour 2013c:12]

5.5.2 Diagramm der soziotechnischen Evolution Ein zweites Diagramm zeigt die technische und soziale Entwicklung in großen Zeiträumen der Evolution (Abb. 34 links). Latour postuliert zwei Bewegungen, die wie »Schuss und Kette« einen »Teppich«12 weben: The woof is provided by the new skills invented at each stage (…). The warp is traced by an even longer and more complex zigzag, mobilizing more humans each time (top row) thanks to the mobilization at each stage of the most intimate properties of a larger number of materials and organisms (bottom row). [Latour 2013c:39]

11 Latour 2013c:12/22, Nachbau: Hyttrek 12 »(…) the history of the world in a single page, in the form of a tapestry with woof and warp!« [Latour 2013:39]. »Woof and warp« sind Fachbegriffe der Textilherstellung und können übersetzt werden als »Schuss und Kette«, vgl. »Aber Techniken sind keine Fetische, sie sind unberechenbar, keine Mittel, sondern Mittler, sind Zweck und Mittel in einem; daher weben sie mit am Stoff, aus dem die Gesellschaft besteht.« [Latour 2002:241]

221

222

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die untere Reihe zeigt die Stufen »Basic Tools, Advanced Tools, Agricultural Domestication, Industries und Technologies«. Die obere Reihe zeigt die Stufen »Symbolization, Division of Labour, Megamachine, World Economies und Ecologies«. Die Kolumne am rechten Rand zeigt in der Mitte die Kategorie »Tools«, von der nach unten abgehen: »Techniques, Artificialisation, Machines, Technospheres« und nach oben: »Interactions, Signs, Societies, Empires, Organizations«. Insgesamt entsteht der Eindruck einer Zunahme von Technisierung und sozialer Komplexität. Entscheidend wird nun deren Interpretation. Dazu ergänzt Latour im Diagramm zwei diagonale Entwicklungslinien, eine divergente und eine konvergente (Abb. 34 rechts). Die divergente Linie soll für »Emancipation« und »Modernization« stehen, die konvergente für »Attachment« und »Ecologization«.13 ECOLOGIES WORLDECONOMIES

Empires

MEGAMACHINE DIVISION OF LABOUR

2

Interactions 3

4

5

6

7

8

9

10

11

BASIC TOOLS

Tools Techniques

ADVANCED TOOLS

Artificialisation AGRICULTURAL DOMESTICATION

Machines

INDUSTRIES TECHNOLOGIES

Empires

MEGAMACHINE

Societies Signs

SYMBOLIZATION

Signs

SOCIAL COMPLEXITY

Organizations

DIVISION OF LABOUR

Societies

SYMBOLIZATION

1

ECOLOGIES WORLDECONOMIES

Organizations

SOCIAL COMPLEXITY 1

2

Interactions 3

4

5

6

7

8

9

10

11

BASIC TOOLS

Tools Techniques

ADVANCED TOOLS

Artificialisation AGRICULTURAL DOMESTICATION

Technospheres ?

Machines

INDUSTRIES TECHNOLOGIES

Technospheres ?

Abb. 34: Latours Diagramm »the history of the world in a single page«14 Latour kommentiert: It’s as if two radically opposed interpretations could be given of the narrative I have just provided. The first assumes, at every stage, a radical break from the past, a break by which the subjective and the objective, the political and the scientific, humans and nonhumans, become increasingly distinct from one another—what I call the emancipation and modernization narrative (…). Then there’s a second interpretation, which assumes the reverse, a greater and greater, more and more intimate entanglement, at an ever-greater scale, via longer and longer detours between technology, science, and politics, more difficult to sort out each time. I call that second view the attachment and ecologization narrative. (…) In one case, subjects constantly move away from objects; in the other, they move nearer together! It is not surprising that we have some trouble interpreting our own time. [Latour 2013c:40] In one narrative, we expect more and more Emancipation from material constraints; in the other, many, many more Attachments with material constraints. [Latour 2013c:45] 13 Die beiden Reihen wurden im Prometheus-Text auch als »Emanzipation und Bindung« [Prom_dt:365] bezeichnet, vgl. 7.1.1. 14  Latour 2013c:39/40, Nachbau: Hyttrek

5 Latours Diagramme

Die vorgestellten Diagramme zeigen eine Methode, um technische Artefakte und soziale Kontexte gemeinsam darzustellen. Sie können nützlich sein, um soziotechnische Entwicklungen zu analysieren und vergleichbar zu machen.15 Fraglich bleibt jedoch, wie die beiden Interpretationen zueinander stehen: • Schließen sich die Linien von Emanzipation/Modernisierung und Bindung/Ökologisierung gegenseitig aus? • Kann es Entscheidungen für oder gegen eine Variante geben? • Sind beide immer wieder neu zu vermitteln (etwa im Schema des and/or)? • Oder gilt es zu erkennen, dass beide immer schon aufeinander bezogen sind und nur so geschichtlich wirksam werden? Diese letzte Auffassung scheint Latour zu stützen, wenn er im Prometheus-Text sagt: (…) how the stories of both emancipation and of attachment are a single story. [Prom_eng:8]16 Hier wird wieder die Verbindung zweier unterschiedlicher Reihen angetroffen, die oben als »Anmaßung und Demut« bzw. »Zurückhaltung/Achtung« und »Tatkraft/Bemächtigung« gekennzeichnet wurden.17 »Zurückhaltung und Achtung« entspräche dem AND als behutsame Ergänzung und Zusammensetzung, während »Tatkraft und Bemächtigung« das OR darstellen als disruptiven Austausch und Ersatz.

15 Die Diagramme hätten eine verbindliche Vorgabe sein sollen für die studentischen Arbeiten in Latours Kursen zur Kartografierung von Kontroversen (vgl. 9.3). Ohne einen solchen Standard bleiben diese Projekte auf unterschiedlichen Niveaus singulär und die zugrunde liegenden Analysen undokumentiert. 16 zu Problemen der Übersetzung vgl. 7.1.1 17 vgl. »modesty and hubris« [Jonas 2020a:84], Chesterton 2015/1908:216, A 5.2.1

223

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle

Latours Perspektive auf das Design ist weder historisch noch systematisch begründet, sondern beruht im Wesentlichen auf Annahmen und Aussagen zur Wechselwirkung von Menschen und Dingen und ihrer Verbindung in Handlungsketten. Latour bietet dazu einige Beispiele. Diese sollen die wechselseitige Konditionierung von Menschen und Dingen veranschaulichen, den geforderten Perspektivwechsel zu hybriden Netzwerken begründen und die Begriffe von »Dingpolitik«, »Agency« und »Skripts« verdeutlichen. Die Beispiele ermöglichen eine Überprüfung der theoretischen Aussagen, erlauben einen Vergleich mit anderen Theorien zur Dingwelt und zeigen mögliche Ansatzpunkte für die Gestaltung auf. In den Kulturwissenschaften wurden Latours Beispiele teils kritisch diskutiert.1 Dabei wurde infrage gestellt, inwieweit Latour seinem Anspruch gerecht wird, »den Akteuren zu folgen« und so die von ihnen erzeugten Netze zu erkunden, im Gegensatz zur privilegierten Beobachterposition, die am wissenschaftlichen Blick kritisiert wurde. Weiter wurde bemerkt, dass ein Missverhältnis besteht zwischen Latours Beispielen von einfachen bis trivialen Alltagssituationen und den komplexen Projekten, die Latour und andere Vertreter der ANT empirisch untersuchten.2 Manchem Kritiker erschienen die Schlussfolgerungen Latours als abwegig, etwa wenn einem Sicherheitsgurt im Auto moralisches Verhalten zugesprochen wird [vgl. Bergande 2012:204]. Die von Latour genannten Beispiele lassen sich in zwei Gruppen einteilen: •

materielle Objekte: Latours bekanntestes Beispiel ist der sogenannte »Berliner Schlüssel« [Latour 1996b], weitere Objekte sind Türschließer, Sicherheitsgurte und Straßenschwellen (»sleeping policeman«) [Latour 1989]



materiell-mediale Objekte: Zu den Beispielen, die sowohl eine materielle als auch eine mediale Komponente aufweisen, gehören das iPhone [Prom_dt.] sowie Colin Powells Rede vor den United Nations von 2003 und die Explosion des Challenger Space Shuttle von 1986 [RpDp]

1 vgl. Kneer et al. 2008, Schmidgen 2011, Schulz-Schaeffer 2012 2 Dazu gehören die Entwicklung von Elektrofahrzeugen [Callon 2006/1986], die Planung eines britischen Kampfflugzeugs [Law, Callon 2006/1994] und das Projekt des modularen öffentlichen Verkehrsmittels »Artemis« [Latour 2002/1993].

226

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die Beispiele materieller Objekte wurden bereits in Kritiken Latours und der ANT ausführlich besprochen, während materiell-mediale Objekte weniger berücksichtigt wurden. Die bisherige Diskussion und Kritik sollen knapp zusammengefasst werden, um designspezifische Überlegungen anzuschließen.

6.1 Materielle Objekte Die folgenden Beispiele materieller Objekte wurden in der Latour-Rezeption vielfach diskutiert. Dabei wurden zuweilen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Autors geäußert. Will Latour hier wirklich ernst genommen werden? [Bergande 2012:207] (…) zumal vielfach überhaupt unklar sei, wie ernst einzelne Aussagen gemeint seien. [Collins, Yearley 1992a:317, zitiert nach Schulz-Schaeffer 2012:202] Diese Zweifel rühren von einem Verfremdungseffekt her, den Latour erzielt, indem er nicht-menschlichen Akteuren Eigenschaften zuspricht, die bisher als exklusiv menschlich verstanden wurden. Die Wirkung von Latours Beispielen entsteht aus diesem Gefälle von »trivialem« Gegenstand und »höherer« Fähigkeit. Diese Wirkung mag je nach Interpretation erkenntnisbildend, erheiternd oder befremdend wirken.

6.1.1 Berliner Schlüssel, Hotelschlüssel, Türschließer Latour beschäftigt sich mehrfach mit Schlüsseln, etwa als »Berliner Schlüssel«3 und Hotelschlüssel4 und analysiert außerdem die Funktion eines automatischen Türschließers.5 Diese Beispiele sollen belegen, wie sich Handlungen manipulieren und Regeln durchsetzen lassen durch die Kooperation menschlicher und nicht-menschlicher Akteure: • Was veranlasst die Bewohner eines Mietshauses, abends die Haustür abzuschließen? • Was bringt einen Hotelgast dazu, seinen Zimmerschlüssel an der Rezeption abzugeben? • Wie können die Nutzer einer Tür dazu gebracht werden, diese hinter sich zu schließen? In den genannten Fällen können folgende Eskalationsstufen angegeben werden: • Appell an die Einsicht: Verhalte Dich bitte so, denn … • Androhung von Sanktionen: Wenn nicht, dann … • Faktisch: Bestimmte Handlungen werden technisch ausgeschlossen

3 Latour 1996b 4 Latour 2006/1991 5 Latour 2006/1988

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle

Zu ergänzen wäre die Methode des »Nudging«, die auf ein freundliches Anstoßen setzt.6 Darüber hinaus entstanden durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten der technischen Durchsetzung. Doch Latour geht es letztlich nicht um die Bewältigung der beispielhaft genannten Aufgaben. Ihm geht es allein um den materiellen Aspekt von Methoden, die den jeweiligen Zweck erfüllen sollen wie Doppelbartschlüssel, Schlüsselanhänger und Gasdruckfeder. Auch eine vergleichende Frage, mit welcher Methode sich das erwartete, aber nicht zuverlässig realisierte korrekte Verhalten am sichersten erzielen ließe, interessiert Latour nicht. Er ist einzig bemüht, seine starke Behauptung durchzusetzen, dass es moralische Qualitäten seien, die sich in den jeweiligen Dingen manifestieren.

6.1.2 Sicherheitsgurte und Straßenschwellen Auch bei Beispielen aus dem Straßenverkehr geht es Latour nur vordergründig um Verhaltensänderung. Entscheidend bleibt für ihn die Zuweisung moralischen Verhaltens an Artefakte. So soll der Fahrer eines Autos dazu gebracht werden, den Sicherheitsgurt beim Fahren anzulegen. Die zuständigen Behörden haben eine Bandbreite von Methoden, um dieses Ziel durchzusetzen, die von Latour ausführlich beschrieben wird [Latour 1989]. Im Ergebnis werden dem Sicherheitsgurt komplexe moralische Verhältnisse zugeschrieben, die denen großer menschlicher Dramen entsprechen sollen:7 The point at which the discussion of the seatbelt truly enters the domain of Corneille, at which its morality becomes as complex as the state of the soul of King Lear or Madame Bovary (…). [Latour 1989:3] Der Effekt sei wie bei den oben angeführten Beispielen der gleiche – delegierte Moralität: The safety belt is thus the delegation of the driver’s lost morality. [Latour 1989:2] As a moral law inscribed in fibers. [Latour 1989:3] Diese Zitate erinnern an Latours Motto: »Technologie ist stabilisierte Gesellschaft«.8 Was gesellschaftlich ambivalent und dementsprechend Gegenstand von Diskussionen ist, wird durch Technik eindeutig gemacht. Latours Titel »Moral Dilemmas of a Safety Belt« besticht durch eine überraschende und erheiternde Kombination von komplexen moralischen Fragestellungen und einem trivialen Gegenstand. Doch dessen Verhalten bleibt determiniert, weil er in eine mechanische Kausalität eingespannt ist, die der einfachen Regel folgt: Bei ruckartiger Anspannung blockieren! Ein moralisches Dilemma würde sich aber erst ergeben,

6 Das Nudging setzt auf eine subtile Manipulation zum gewünschten Verhalten durch die Gestaltung der Umwelt in Verbindung mit Anreizsystemen. Dabei könnte etwa dem Hotelgast bei Rückgabe des Schlüssels an der Rezeption ein kleines Geschenk gemacht werden, vgl. John et al. 2011, Thaler, Sunstein 2015, Sunstein 2015. Im Design wurde das Thema diskutiert als »Design for behaviour change« [vgl. z.B. Lockton, Harrison, Stanton 2010]. Auch die »gamification« beschäf tigt sich damit. 7 Inwiefern Latour hier ernst genommen werden will, muss offenbleiben. 8 Latour 2006/1991

227

228

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

wenn zwischen zwei gleichermaßen schlechten Alternativen abzuwägen wäre und es damit keine Möglichkeit gäbe, der Schuld zu entgehen.9 Die von Latour behauptete Verbindung zum moralischen Gesetz »You shall not go too fast« [Latour 1989:2] geht an der Sache vorbei, denn auch bei langsamer Fahrt bleibt ein Sicherheitsgurt sinnvoll. Richtig dagegen beobachtet Latour die verschiedenen Delegationen von angemessener Geschwindigkeit bis zum Anlegen des Gurtes. Das moralische Gesetz ist daher nicht »eingeschrieben ins Gewebe«, wie Latour behauptet, sondern vielmehr verteilt auf Gesetze (Straßenverkehrsordnung), Normen (TÜV) und Technik (Kopplung von Sicherheitsgurt und Antrieb). Erst diese Konstruktion erzwingt das korrekte Verhalten der Fahrer, das jetzt aber – im Gegensatz zur Rede von der Delegation – den Fahrer nicht nur korrekt, sondern moralisch agieren lassen soll: I, plus the car, plus the dozens of patented engineers, plus the police are making me moral (…). [WM:249] A law of the excluded middle has been built, rendering logically inconceivable as well as morally unbearable a driver without a seat belt. (…) Exit the excluded middle. The program of action »IF a car is moving, THEN the driver has a seat belt« is enforced. It has become logically – no, it has become sociologically – impossible to drive without wearing the belt. I cannot be bad anymore. [WM:226] Dieser letzte Aspekt der Zurichtung (»I cannot be bad anymore«) wird von Latour offensichtlich bejaht und begrüßt, wenn man es nicht ironisch lesen will. Kritiker wie Bergande stellen diese Maßnahmen zur Handlungsoptimierung jedoch in den Kontext historischer Zwangspädagogik.10 In deren Logik müsste eine Zwangsjacke als moralischstes aller Artefakte gewürdigt werden, da sie jegliches – potenziell falsches – Handeln unterbindet. Dementsprechend kritisiert Bergande: Die Erkenntnis der wohlgemerkt nur soziologischen Alternativlosigkeit reicht Latour offensichtlich aus. Nach logisch nicht ausgeschlossenen Dritten, die sich dem binär codierten Zwang des soziotechnischen Realraums widersetzen würden, fragt er gar nicht erst, vermutlich rechnet er sich dies sogar als ein postideologisches Verdienst an. [Bergande 2012:206] Latour zweites Beispiel ist die künstlich eingebaute Straßenschwelle »sleeping policeman« [Latour 1989] zur Erzwingung langsamen Fahrens. Dieses bleibt logisch auf der gleichen Stufe wie das Beispiel des Sicherheitsgurts und erscheint damit als ebenso fragwürdig: Durch die Umgestaltung der Straße wird es faktisch unmöglich gemacht, schneller als erlaubt zu fahren, da sonst das Auto beschädigt würde. Das gewünschte Verhalten »langsames Fahren« kommt also nur zustande, indem das Eigeninteresse der Autofahrer auf Vermeidung eines Schadens angesprochen wird. Ein ähnlicher Fall der technischen Reglementierung ist die Autokorrektur von Schreibprogrammen am Computer. Ist diese zu restriktiv eingestellt, gilt: Ich kann 9 Dies ist etwa bei der Software für automatische Fahrzeuge der Fall: Soll für eine Katze gebremst werden, wenn dadurch Menschen gefährdet werden? Solche Fragen werden schon seit längerem erörtert, doch Latour zeigt daran keinerlei Interesse. 10 Diese erfand etwa Gestelle zur Erzwingung einer aufrechten Haltung von Kindern, vgl. Daniel Gottlob Moritz Schreber (1802-1861).

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle

nicht mehr falsch schreiben. Zugunsten einer Normierung werden damit jedoch auch außergewöhnliche Eigennamen oder dichterische Worterfindungen ausgeschlossen. Regeln wie die der aktuellen Rechtschreibung werden durch Technik unmittelbar funktional und schließen alles aus, was als falsch oder unerwünscht definiert wurde. Bisher mag dies noch unproblematisch erscheinen, da sich diese Funktionen mit mehr oder weniger Aufwand umgehen lassen. Denkbar ist jedoch, dass in einem Zeitalter der Künstlichen Intelligenz nicht nur bestimmte Syntaxregeln durchgesetzt, sondern auch unerwünschte Bedeutungen gesperrt werden. Es wäre dann unmöglich, etwa systemkritische Texte zu verfassen, weil das Schreibprogramm es nicht zulässt. Ebenso könnte es unmöglich werden, mit einem Auto in einen gesperrten Bereich zu fahren, wenn Computernetze dies kontrollieren und ausschließen. Solchen Schreib- oder Fahrprogrammen Moral zu attestieren, erscheint als absurd. Die Programme können der Moral wie auch der Unmoral dienen, da sie selbst keinen Maßstab kennen. Angesichts übergriffiger Systeme stellt sich aber die Frage, ob sich moralisches Handeln nicht gerade in deren kluger Abwehr zeigt.

6.1.3 Die Sicherheitstür zum Cockpit Analog zu Latours Beispielen von Schlüssel und Sicherheitsgurten soll ein weiterer Fall besprochen werden, ohne dass dieser bei Latour Erwähnung fand. Am 24. März 2015 zerschellte ein Airbus A320 der Germanwings in den französischen Alpen. Bei der Rekonstruktion des Unfalls spielte die Cockpittür eine zentrale Rolle. Aus dem »Zwischenbericht« der zuständigen französischen Behörde BEA geht hervor, dass die Cockpittür von innen verriegelt wurde und von außen nicht zu öffnen war.11 Damit konnte der allein im Cockpit anwesende Kapitän das Flugzeug vorsätzlich abstürzen lassen. Bei der Planung der Cockpittür wurde dieser Fall offensichtlich nicht bedacht. Somit kann dieses Beispiel als Anschauungsmaterial für die Perspektive der AkteurNetzwerk-Theorie dienen: In der historischen Entwicklung der Luftfahrt gab es zunächst keine Türen zwischen Cockpit und Passagieren. Wegen Bedrohungen und Flugzeugentführungen folgte dann der Einbau von Türen mit komplexen Sicherheitssystemen. Immer vorausgesetzt wurde dabei, dass Gefahren nur von den Passagieren ausgehen könnten, nicht aber von der Crew. Es wurde stillschweigend angenommen, dass die beiden Flugkapitäne die Fähigkeit und das Eigeninteresse haben, das Flugzeug unfallfrei zum Ziel zu bringen. Doch diese Voraussetzungen waren am 24.03.2015 nicht gegeben. Das Cockpit des Airbus A 320 war durch eine Tür gesichert, die den oben beschriebenen Fall nicht vorsieht (Abb. 35).12 Bei einer Analyse der komplexen Aktanten des Netzwerks »Cockpittür« wären viele der von Latour eingeführten Aspekte anzusprechen: soziotechnische Systeme, Politik der Dinge, »Moral« der Gegenstände, Hybride, Materialität, Handlungssteuerung durch Objektmanipulation. Leider liegen solche Analysen bisher nicht vor, und die vorliegenden Projekte unter Führung Latours erreichten bisher nicht die notwendige Detailschärfe.13 11 https://www.bea.aero/uploads/tx_elydbrapports/d-px150324.de.pdf 12 US Patent 10/255, 916, www.google.com/patents/US6830217. Nicht zu recherchieren war, ob – und gegebenenfalls wie – sich die Sicherheitssysteme von Cockpittüren seitdem verändert haben. 13 vgl. 9.5

229

230

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 35: Das »Cockpit Door Locking System – CDLS« [Quelle: Airbus]14, links: die »Cockpit Zutrittstür«, rechts: das »Verschlusssystem der Cockpittür«

6.2 Materiell-mediale Beispiele Auch in dieser Gruppe von Beispielen geht es Latour darum, die Implikationen der »Dingpolitik« darzustellen. Diese erscheint dabei nicht als eine Forderung, die noch eingelöst werden müsste, sondern als längst vorhandenes Phänomen, das aber aufgrund tradierter einseitiger und damit falscher Sicht- und Beschreibungsweisen nicht in seiner vollen Komplexität erkannt wird. Latours Absicht ist es, alternative Perspektiven und Beschreibungen anzubieten, die die komplexen Wechselwirkungen von Dingen und Handlungen angemessen aufzeigen.

6.2.1 Das iPhone Latour sagt über das iPhone: Today everyone with an iPhone knows that it would be absurd to distinguish what has been designed from what has been planned, calculated, arrayed, arranged, packed, packaged, defined, projected, tinkered, written down in code, disposed of and so on. [Prom_eng:2] (…) the old dichotomy between function and form (…) is ridiculous when applied to a mobile phone. Where would you draw the line between form and function? The artifact is composed of writings all the way down! [Prom_eng:4] Versuchen wir, uns ein iPhone als matter of concern vorzustellen. Da der Ansatz Latours vorsieht, die Materialität in die Versammlung der Anspruchsgruppen zurückzubringen, erscheint es naheliegend, mit einer Darstellung und Diskussion der Produktsprache zu beginnen und folgende Fragen zu stellen:15 14 Aus dem Zwischenbericht der BEA, französische Behörde für zivile Luftfahrt-Sicherheitsuntersuchung vom Mai 2015, S. 16ff., https://www.bea.aero/uploads/tx_elydbrapports/d-px150324.de.pdf 15 vgl. »Grundlagen einer Theorie der Produktsprache« [Hochschule für Gestaltung Offenbach 19831987, Steffen 2000]. Krippendorf schlug darauf aufbauend eine »semantische Wende« vor [Krippendorf 2013]. Der Begriff der Produktsprache hat aber heute seine metaphorische Bedeutung teilweise verloren und wird in Form eingebauter Spracherkennung und Sprachausgabe zunehmend zu einer

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle

• • • • •

Was wird durch das Produkt kommuniziert? Wie fühlt es sich an? Was unterscheidet es von anderen? Welche Eigenschaften geben ihm die Anmutung hoher Qualität? Wie kann es Effekte auslösen, die erotischem Begehren und religiöser Anziehung nahekommen?16

Designer können hier Methoden des reverse engineering anwenden, also von der Erscheinung auf die Machart und die dahinterliegenden Methoden und Absichten schließen. So sollten Designer Strategien kennen, um Dinge wertvoll erscheinen zu lassen, etwa durch hohes Gewicht, Hochglanz und geschlossene Form.17 Das iPhone erfüllt diese Merkmale. Es hat keine zu öffnenden Fächer, und es gibt keine Schrauben. Im Gegensatz zu Plastiktelefonen vermitteln die Glas- und Metalloberf lächen eine hohe Wertigkeit. Das iPhone fühlt sich daher eher an wie ein magisches Objekt, als wie eine Maschine. Dazu trägt auch die Verpackung aus hochwertig veredeltem Karton bei, wie sie sonst nur bei Schmuck und Parfum verwendet wird. Die Produktkategorie »Telefon« verlagert sich damit in Richtung »persönliches Accessoire«. Eine Diskussion dieser Eigenschaften entspricht Latours Idee, die Materialität wieder einzuführen, aber sie widerspricht seiner Aussage »The artifact is composed of writings all the way down!« [Prom_eng:4].18 Die Verpackung des iPhone trägt den Hinweis: »Designed by Apple in California« und – wesentlich kleiner auf der Rückseite – »Assembled in China«.19 Was bedeutet dies für das von Latour behauptete Kontinuum von Planung und Produktion? Es ist offensichtlich, dass der innovative Wert im Wesentlichen durch Design kommuniziert wird und sich die Designqualitäten nur auf der Basis einer immer perfekteren Produktion entfalten können. Doch wo werden die Vorgaben entwickelt und wie wird am Ende entschieden? Wenn das iPhone als ein matter of concern behandelt wird und die darin angelegten Kontroversen abgebildet werden sollen, fällt auf, dass es keineswegs das behauptete Kontinuum von Planung und Produktion gibt, sondern ganz im Gegenteil: Kalifornien und westliche Länder sind führend in der Konzeption, dem Design und der Kommunikation der Produkte, während die Herstellung der funktionalen Elemente von den Fertigungsindustrien Asiens geleistet wird. Ein Produkt wie das iPhone ist daher eine praktisch realisierten Funktion intelligenter Objekte. Heute ist es eine Aufgabe des Designs, komplexe digitale Funktionen zu kommunizieren [Antonelli 2011, Stephan/Kornwachs 2009]. 16 Zu Apple Produkten als Statussymbol in China wurde über ein Mädchen berichtet, die sich für ein iPhone prostituierte sowie einen jungen Mann, der für ein iPad eine seiner Nieren verkaufte, FAZ vom 22.08.2011:23. 17 Die Geschlossenheit zeigt aber auch die Grenze dessen an, was bei digitalen Geräten Besitz heißen kann, vgl. den Slogan der Maker Kultur: »If you can’t open it, you don’t own it«, https://makezine. com/2006/11/26/owners-manifesto 18 Die beschriebene magische Wirkung lässt sich vergleichen mit Roland Barthes’ Analyse des Autos Citroën DS, wo explizit auf Mythen Bezug genommen wird: »Bekanntlich ist das Glatte immer ein Attribut der Perfektion, weil sein Gegenteil die technische und menschliche Operation der Bearbeitung verrät (…)«. [Barthes 1964/1957:76] 19 Das Amsterdam Design Manifesto ergänzt die dritte Position: »Made in China, Designed in California, Criticised in Europe«, vgl. Lovink, Gerritzen 2019.

231

232

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Kombination von avancierter Ingenieurleistung, die mit ihren Patenten und Maschinen klar auf der Seite der matters of fact zu verorten ist, und einem Verständnis für neue Nutzererlebnisse und deren kulturelle Bedeutung, die den matters of concern zuzuordnen ist und vom Design ausgelöst und moderiert wird. Hier kann ein Schlüssel für den Erfolg des iPhones als neue Produktkategorie gefunden werden: Bisherige Hersteller von Mobiltelefonen haben ihre Produkte nur als Apparate verstanden, die gut funktionieren müssen und effizient zu bedienen sind. Die zunehmende Beherrschung und Trivialisierung der Technik führte von einst sehr teuren Geräten zu einem Massenmarkt mit stetig fallenden Preisen und schmalen Gewinnmargen. Das iPhone dagegen wurde von vorneherein als ein privater Begleiter konzipiert, der in allen Lebenslagen hilfreich ist.20 Entsprechend eng ist der Grad der Identifizierung mit dem Produkt (»Zeige mir Dein iPhone und ich sage Dir, wer Du bist«), die sich in einer großen Wertschätzung ausdrückt und zur Akzeptanz hoher Preise führt. Apple definierte so die neue Produktkategorie der smartphones, wodurch bis heute hohe Gewinne zu erzielen sind und die meisten Wettbewerber zu Epigonen wurden. Eine Darstellung der matters of concern im Falle des iPhone müsste damit beginnen, die Bedingungen der materiellen Produktion zu untersuchen und darzustellen. So gab es im Jahr 2010 Berichte über eine Serie von Suiziden bei der Firma Foxconn, Apples größtem chinesischen Zulieferer, was umfassend im Netz diskutiert wurde.21 Auf der Ebene der corporate images kollidierte die hoch angesehene Produktästhetik mit den verstörenden Bildern aus China und bedrohte Apples Geschäftserfolg. Die Nachverfolgung der Produktionskette im Falle eines smartphones führt noch zu einer weiteren Einsicht: Smartphones enthalten den Rohstoff Coltan, ein Metall, das unter unakzeptablen Bedingungen hauptsächlich im Kongo gewonnen wird. Dies führte 2006 zu der Kampagne »no blood on my cell phone«.22 Diese und weitere Aspekte wie Datensicherheit, die Politik der Bandbreiten und des GPS-Trackings samt den davon profitierenden öffentlichen und privaten Institutionen müsste modelliert und zugänglich gemacht werden, um iPhones als matters of concern begreif bar zu machen.23

6.2.2 Colin Powells Rede 2003 vor den Vereinten Nationen Als Beispiel für politische Rhetorik diskutiert Latour die Rede des früheren US-Secretary of State Colin Powell vor den Vereinten Nationen am 5. Februar 2003. Powell versuchte, die Versammlung durch eine Präsentation von Bildern von der Existenz von 20 Apple hatte die Vision eines persönlichen Butlers, die von Concerns ausgeht, bereits 1984 in Form eines personal assistant entwickelt, ohne sie damals technisch umsetzen zu können. Dreißig Jahre später konnte an diese Forschung angeknüpft werden. 21 http://en.wikipedia.org/wiki/Foxconn_suicides 22 w ww.wri-irg.org/node/515, Dokumentarfilm http://topdocumentaryfilms.com/blood-coltan 23 Im Rahmen von Latours Projekt »Mapping Controversies« wurde auch zum iPhone gearbeitet. In der im Netz sichtbaren Dokumentation ist jedoch nicht zu erkennen, dass diese Aspekte berücksichtigt wurden. Das studentische Projekt behandelt vor allem die Frage, ob Smartphones durch Nutzer programmierbar sein sollten oder nicht (»Doit-on pouvoir programmer ses ordinateurs?«). https://web.archive.org/web/20110118080602/http://perso.telecom-paristech.fr/~soulas/etic (Projektstand vom Juni 2009, archiviert am 18.01.2011)

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle

Massenvernichtungswaffen im Irak zu überzeugen (Abb. 36). Dazu gab er an, »Fakten« und nicht »Annahmen« zu präsentieren (»facts, not assertions«)24 und präsentierte Bilder, die von Latour kommentiert werden: Every one of the slides was a blatant lie (…). [HTP:8] Latour analysiert im Folgenden allerdings nur den Text der Rede und nicht die dazu gezeigten Bilder. So entgeht er der notwendigen Einsicht, dass die von ihm propagierte Visualisierung keineswegs die Probleme begriff licherDarstellungen löst, im Gegenteil: Die Bildkommunikation erweist sich im Vergleich als noch manipulativer als der Text und zeigt damit erneut, warum sie in der wissenschaftlichen Kommunikation prinzipiell skeptisch beurteilt wird. Im Sinne von Latours Designaufgabe muss jedoch die visuelle Rhetorik analysiert werden, der es gelang, die Versammlung der Vereinten Nationen von Powells Aussagen zu überzeugen und seine Schlussfolgerungen zu akzeptierten, die – wie wir heute wissen und damals ahnen konnten – falsch waren.



Abb. 36: »Mobile Production Facilities for Biological Agents« [Grafik aus der Rede Powells vom 05.02.2003]25

Powell versuchte durch die gezeigten Bilder, Beweise für seine Aussagen zu erbringen und Evidenz zu erzeugen.26 Seine Präsentation ist eine Mischung aus verrauschten Videostandbildern und computergenerierten Grafiken, die militärische Stützpunkte und Waffentransporte darstellen sollen. Die Bilder können jedoch in jede Richtung interpretiert werden und beweisen gar nichts – außer der vom Präsentator gefühlten Notwendigkeit, Bildbeweise vorlegen zu müssen. Hätte Powell Handzeichnungen präsentiert, wären diese vermutlich eher als fiktiv angesehen worden. Offensichtlich hängt es mit der technischen Herstellung zusammen, dass den Grafiken zuge24 Einige URLs zu diesem Fall: Der Text von Powells Rede: http://www.state.gov/secretary/rm/2003/17300. htm, Powells Präsentation und Kommentare der Nutzer: www.youtube.com/watch?v=ovHrd-Q3Av0& feature=related, ein Bericht des US Fernsehens, inklusive einiger von Powell gezeigter Bilder: www.youtube.com/watch?v=IYBA9JD5oW4 25 »Mobile Production Facilities for Biological Agents«, Screenshot vom Video, daher keine bessere Qualität verfügbar, www.youtube.com/watch?v=IYBA9JD5oW4 (2:43 min 26 zur Produktion von Evidenz, vgl. Nohr 2004; Holert 2002; Smith, Kroß 1998

233

234

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

traut wurde, Fakten zu zeigen. Jedes Bild konstruiert seine eigene Realität, und das Publikum kann nur versuchen, sich den künstlichen Charakter eines jeden Bildes zu vergegenwärtigen. Weil Bilder nicht argumentieren – man kann einem Bild nicht widersprechen – ist die einzige Möglichkeit, um eine andere Position in der Diskussion einzunehmen, die Präsentation anderer Bilder, die eine andere Perspektive unterstützen. Offensichtlich war in der Versammlung der Vereinten Nationen niemand darauf vorbereitet. So blieben Powells Bilder ohne Widerspruch oder Alternative und konnten eine starke, aber falsche Vorstellung erzeugen.27 Wie wir heute wissen, unterlag der vermeintliche Bildbeweis der Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak einer bewussten Täuschung. Powell gab später zu, dass seine damaligen Behauptungen nicht zutrafen, er sei jedoch selbst von seinen Informanten in der CIA getäuscht worden.28 Hier zeigt sich der Doppelcharakter neuer visueller Sprachen, die zwar Latours Forderungen entsprechen können, aber dennoch nicht zu besseren Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung führen müssen. Alle Mittel der Repräsentation sind rhetorisch in dem Sinne, dass Sinnverschiebungen produziert werden, die als Über- und Unterbestimmung zusätzlicher Sinnhorizonte wirken. Persuasive Wirkungen werden durch Verstärkungen und Abschwächungen erreicht, die die erste Bedeutungsebene suggestiv überformen. Solche Methoden können vom geschulten Absender kalkuliert eingesetzt werden und erfordern eine ebenso geschulte Rezeption und Reaktion. Die Frage nach der Rhetorik ist aber nicht nur auf die Ebene der medialen Repräsentation beschränkt. Auch die von Latour geforderte Einbringung der Materialität in den Diskurs ist nicht frei von rhetorischem Gehalt. So präsentierte Powell in seiner Rede eine Probe der biologischen Waffe Anthrax als Beweis für terroristische Aktivität, die zurückgeschlagen werden müsse (Abb. 37). Zusammen mit den Grafiken über angebliche Massenvernichtungswaffen sollte dies den Beweis erbringen für eine akute Gefährdungslage der Nation, die den Einmarsch des Militärs in den Irak rechtfertigt.29 Das präsentierte weiße Pulver hätte aber ebenso gut auch ein Waschmittel sein können, um seinen rhetorischen Zweck zu erfüllen. Dieser besteht gerade darin, den als zu schwach empfundenen Worten und Bildern mehr Gewicht zu verleihen durch das Zeigen einer materiellen Substanz, die eben nicht argumentiert, sondern verkörpert. Damit wird eine Evidenz erzwungen, die sich jeder Diskussion entzieht nach dem Motto: »Das sieht man doch!«30 So wird einsichtig, dass es einst gute Gründe gab, nicht nur die Visualisierung, sondern auch die Materialität aus dem Diskurs zu verbannen.31

27 Slavoj Žižek wies auf die Inszenierung von Powells Präsentation hin, in der Picassos Kriegsgemälde »Guernica«, das als Kopie im Tagungssaal der UNO hängt, temporär verhüllt wurde, freilich mit dem Ergebnis, dass die Aufmerksamkeit erst recht darauf gelenkt wurde [Žižek 2005:82], vgl. auch die Analyse von Powells Präsentation durch Tom Holert als Produktion von Unverständnis [Holert 2004, 2005]. 28 TV-Interview mit Powell von 2007, www.youtube.com/watch?v=2ZTLmOoPzjs&feature=fvst 29 Noah Shachtman: Did the Anthrax Attacks Kick-Start the Iraq War? (29.03.2011), www.wired.com/ dangerroom/tag/colin-powell 30 vgl. Nohr 2004; Smith, Kroß 1998 31 Politische Aktivisten sprengen bewusst die Regeln des Diskurses mit materiellen Interventionen wie etwa Milchseen vor einem Regierungssitz, Treckerparaden durch die Hauptstadt oder Fäkalieneimer

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle



Abb. 37: Colin Powell vor den United Nations am 05.02.2003, links: Präsentation eines weißen Pulvers, bei dem es sich um das Gif t Anthrax handeln soll,32 rechts: Fortführung der visuellen Rhetorik auf der gleichen Ebene als Parodie33

6.2.3 Das Challenger Space Shuttle Ein weiteres Beispiel Latours ist die Explosion des Space Shuttle Columbia am 1. Februar 2003. Latour bemerkt dazu: How sad that we need catastrophes to remind us that when Columbia was shown on its launching pad in its complete, autonomous, objective form that such a view was even more of a lie than Mr. Powell’s presentation of the »facts« of WMD. It’s only after the explosion that everyone realized the shuttle’s complex technology should have been drawn with the NASA bureaucracy inside of it in which they, too, would have to fly. [HTP:14]34 Latour argumentiert hier noch radikaler als bisher: Nicht nur die Bilder werden der Lüge angeklagt wie in Powells Rede, sondern die bloße Erscheinung des Shuttles wird der Lüge bezichtigt. Eine Interpretation von Latours Argument könnte lauten: Das Shuttle vermittelte den Eindruck von Unverwundbarkeit, weil es die komplexe Verwaltungsstruktur versteckte, die ihm zugrunde liegt und deren Fehler zur Katastrophe führten. Doch wie sollte es möglich sein, die Bürokratie der NASA innerhalb des Shuttles zu zeigen, wie Latour es verlangt? Ist dies konkret zu verstehen als Empfehlung einer Methode oder handelt es sich um eine metaphorische Beschreibung von zweifelhaftem Wert? Hier hilft nur weiter, Latours Postulate zu befolgen und den Verwicklungen der beteiligten Netze zu folgen, was Latour selbst leider nicht tut. Dabei zeigt sich, wie die von Latour vertretene hybride Handlungsträgerschaft zu einer Verteilung der Verantwortung führt: Der komplexe Prozess des Fliegens wird durch Aktanten realisiert wie in Nobelrestaurants. Dies wird mittlerweile als »Design and Material Activism« theoretisch begründet und nobilitiert, vgl. von Busch 2022. 32 Google Suche: »Powell Anthrax« (24.01.2023) 33  http://praxeology.net/powell-anthrax-threat.PNG 34 Der Hinweis auf eine komplexe soziotechnische Maschine findet sich bereits 1989 bei Félix Guattari, was von Latour nicht erwähnt wird: »That is why the Apollo rocket, which allowed men to walk on the moon, cannot be separated from either the NASA team that built it nor from the political machine that supported Kennedy when he approved the project.« [Guattari 2013/1989:94]

235

236

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Verwaltung und Regulationsbehörden, technische Services und Computernetze sowie Personen im Flugzeug und auf dem Boden (Abb. 38).



Abb. 38: Hybride Handlungsträgerschaf t: Wer f liegt?35 [Konzept: PFS, Illustration: Illligens]

Eine empirisch geleitete Auf klärung der Handlungs- und Kommunikationsketten, die zum Absturz führten, verdanken wir dem Grafiker Edward Tufte. Dieser verfolgte die Kommunikationswege und die verwendeten Darstellungsformen in der Vorbereitung des Shuttle-Fluges. In einer detaillierten Analyse kann er zeigen, dass die Katastrophe eine Folge fehlerhafter Kommunikation war (Abb. 39).36 Tufte weist Verständnisfehler nach, die zum Teil durch den Gebrauch von Power-Point verursacht oder zumindest erleichtert wurden. Das komplexe Netz der Handlungsträgerschaft um den Shuttle-Flug wurde durch die verwendeten Medien und Darstellungsformen in einen kognitiven Stil gezwungen, der die komplexen Wechselwirkungen der technischen Funktionen trivialisierte und es so unmöglich machte, bereits bekannte mögliche Fehlerquellen angemessen darzustellen und zu bewerten.37 Schon vor dem Start waren Probleme mit der Ablösung von Schaumstoffteilen bekannt, die die Kacheln des Hitzeschildes beschädigen und damit zum Absturz führten könnten. Tuftes These ist, dass diese Kausalität unterschätzt wurde, weil der technokratische Stil der Kommunikation mit den abgekürzten Begriffen der Ingenieure und den unübersichtlichen Grafiken die Komplexität der Prozesse nicht angemessen darstellte und so eine Illusion von Kontrolle erzeugte.

35 aus dem Projekt »Intelligente Objekte« der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, vgl. Stephan 2009 36 vgl. Tufte 2003a, 2006 37 Eine umfassende Kritik des Programms PowerPoint findet sich in Pias, Coy 2009.

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle

On this one Columbia slide, a PowerPoint festival of bureaucratic hyper-rationalism, 6 different levels of hierarchy are used to display, classify and arrange 11 phrases. (…). The ›conservatism‹ concerns the choice of models used to predict damage. (…) The correct headline should be »Review of Test Data Indicates Irrelevance of Two Models«. (…) PowerPoint demands the shorthand of acronyms, phrase fragments, and clipped jargon in order to get at least some information into the tight format. [Tufte 2003a] Tuftes Analyse ist ein Beispiel dafür, wie Schrift- und Bildsprachen nicht nur Welt abbilden, sondern Welten erschaffen. Seine Arbeit ist verdienstvoll, da er jenseits allfälliger Meinungen zum Thema eine nüchterne Detailanalyse liefert, die eine plausible Fehlerkette erkennen lässt. Eben dies sollte der Anspruch der Akteur-Netzwerk-Theorie sein, der auch von anderen Autoren erfüllt wurde.38 Doch Latour ist am konkreten Hergang des Unfalls gar nicht interessiert. Ihn interessiert das Shuttle nur im zerstörten Zustand. So publiziert er ein Foto jener Halle, in der versucht wird, die Einzelteile des Shuttles zuzuordnen und die Gestalt des Flugkörpers wieder herzustellen.39 Das Beispiel Columbia ist ihm neben der eineinhalbseitigen Abbildung nur 23 Zeilen wert, um seine Pointe anzubringen, dass die Versammlung der Einzelteile (»assembly«) auf tragische Weise eine sogenannte technische »Explosionszeichnung« nachstellt, die alle Einzelteile und ihre Verbindungen zeigt.

Abb. 39: Tuf tes Analyse einer PowerPoint Präsentation [Tuf te 2003a]

38 Eine Detailanalyse bezieht auch die Untersuchungsergebnisse einer Kommission ein, vgl. Collins, Pinch 2000/1998. Diese Publikation waren bereits vor Latours Text von 2005 (HTP, RpDp) verfügbar, wird dort jedoch nicht erwähnt, obwohl sie dem Anspruch der ANT auf einen »zweiten Empirismus« eher entsprechen als Latours Beitrag, der nur an der rhetorischen Überhöhung einer Anekdote interessiert zu sein scheint. 39 Katalog zur Ausstellung Making Things Public [Latour, Weibel 2005:10/11]

237

238

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 40: Rekonstruktion der Shuttle-Teile durch die NASA40 Tufte dagegen konnte am Beispiel der medialen Kommunikation zum Space Shuttle die Wirkungsmacht von Darstellungsformen zeigen. Die katastrophalen Folgen ergaben sich aus nicht erkannten Unklarheiten sowie unterschiedlich bewertetem Risiko und Fehlern in der Kommunikation. Dies belegt die Richtigkeit von Latours Annahme der essenziellen Bedeutung von Aufzeichnungsformen als »immutable mobiles« [VisCog:7]. Doch paradoxerweise entgeht Latour gerade dieser zentrale Aspekt.

6.3 Zusammenfassung der Diskussion der Beispiele Latour scheint zu wissen, dass viele seiner Beispiele einer genauen Prüfung nicht standhalten, da er bemerkt: »Sicherlich wären detaillierte empirische Fallstudien und starke Argumente sehr viel besser gewesen.« [Latour 2002:371]

6.3.1 Bewertung der Beispiele Die genannten Beispiele sind provokant durch das Gefälle von trivialen Gegenständen und komplexen Handlungen. Die »Anthropomorphisierung von Objekten« [Hagner 2006:130] wird dabei zu Recht kritisch gesehen. So müsste dem Sicherheitsgurt zunächst Bewusstseins zuerkannt werden, bevor ihm eine Moral zugeschrieben werden kann.41 Latour fängt dieses Argument jedoch durch eine weitere Volte auf: Es ist überflüssig, sich (…) zu beklagen, dass die Moral auf die ›unbelebten Wesen‹ ausgedehnt wird. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Endlich ist den unbelebten Wesen das gewaltige moralische Privileg entzogen worden, über das sie im alten System verfüg-

40 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Grid_with_Columbia’s_Debris_-_GPN-2003-00081.jpg 41 Auch Designer dachten schon über »die Moral der Gegenstände« [Lindinger 1987] nach, doch war dies hier – im Gegensatz zu Latour – nicht wörtlich gemeint.

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle

ten, wo sie ›das, was ist‹ definieren und so ohne jede Diskussion in die gemeinsame Welt eintreten konnten. [PD: 344] »Das, was ist« zu definieren, ist aber eine ontologische Aufgabe und keine moralische. Daher bleibt es fraglich, ob Latour mit einer solchen Verwechslung von Kategorien seiner Sache dient. In Latours Argumentation scheinen sich zweifache Definitionsdefizite bemerkbar zu machen. Denn ebenso wie bereits das Fehlen eines präzisen Dingbegriffs moniert wurde, fehlt auch ein präziser Begriff der Moral.42 Dies erscheint umso erstaunlicher, als Latour gerade auf diesen Begriff so viel Wert legt, dass er ihn über viele Jahre und in vielen Artikeln prominent behandelt und ihn auch zu den »fünf Vorteilen des Designs« zählt (vgl. 4.2). Latour argumentiert hermetisch, indem er für eine moralische Handlung lediglich fordert, dass möglichst viele Aktanten berücksichtigt werden: Morality is concerned with the quality of this exploration, with the number of mediators that it leaves in its wake, always wanting to verify if it proliferates the greatest possible number of actants that claim to exist and intervene in their own name or whether, on the contrary, it has not resigned itself to forgetting them. [Latour 2002b:256] Es mag gute Gründe geben, von der Ko-Kreation einer »gemeinsamen Welt« auszugehen, doch warum wird dafür das Argument der Moral gebraucht?43 Zunächst gibt es einen Systemzwang: Der Ausgangspunkt von Transformationen durch Mittler führt zum Konzept der verteilten Handlungsträgerschaft. Wenn diese als symmetrisch aufgefasst werden soll, kommt keine quantitative oder qualitative Abstufung der Anteile an dieser Handlungsträgerschaft infrage. Erst damit ergibt sich schließlich die Frage nach Verantwortung und Moral (vgl. C 6.1). Latour will die Dimension der »missing masses« durchsetzen, um eine einseitige Verortung der Moral beim Menschen zu verhindern.44 Doch was sind die Folgen? In der Konsequenz könnte Latour mit seiner Feststellung einer Moral der Dinge diese verantwortlich machen, weil sie »das, was ist« mitgestalten, indem sie »ohne jede Diskussion« in die »gemeinsame Welt« eintreten. Dieser Gedanke zwingt zu absurden Schlussfolgerungen: Wäre der Atommüll letztlich selbst schuld, wenn er ein Gefahrenpotenzial darstellt? Das »Prinzip Verantwortung« (Hans Jonas 1979) wäre so elegant entsorgt. Bergande weist darauf hin, dass eine moralische Handlung verlangt, einer als richtig erkannten Regel freiwillig und unter Auslassung anderer Optionen zu folgen [Bergande 2012]. Die Ausführung einer Zwangshandlung, die von Dritten als alternativlos gestaltet wurde, kann diesen Anspruch nicht erfüllen. Daher trifft Latour der Vorwurf eines erstaunlich offensichtlichen Kategorienfehlers. Dass sich Hand42 vgl. 3.1 43 Der Begriff der »missing masses« kann an revolutionäre Subjekte erinnern, die von politischen Avantgarden agitiert werden sollten, die heute aber nicht mehr aufzufinden sind. Die Formulierung kann jedoch auch im physikalischen Sinne aufgefasst werden. Danach ergibt sich aus Berechnungen, dass zusätzliche, bisher nicht identifizierte Massen existieren müssen, um Fehlstellen in Gleichungen zu besetzen, vgl. Gutmannsbauer 2017:7. 44 Reziprok dazu sieht er eine Verdinglichung des Menschen nicht kritisch, sondern als positive Forderung (vgl. 7.2.2).

239

240

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

lungen unter Einf lussnahme der jeweiligen materiellen Bedingungen verändern, sei unbestritten, bleibt aber trivial. Doch welchen Sinn hat es, einem Verhalten, das keine anderen Optionen hat, Moral zu attestieren – gleichgültig, ob es sich um menschliche oder nicht-menschliche Akteure handelt? Um es mit einem Gegenbeispiel zu versuchen: Ein schwaches Schloss in der Gefängnistür macht dem Inhaftierten die Flucht – ein amoralisches Verhalten – leichter. Entspricht der Schwäche des Schlosses eine schwache Moral, da es den Flüchtenden nicht auf halten konnte? Müsste einem wirksameren Schloss eine stärkere Moral zugesprochen werden? Wäre dann schließlich ein Hochsicherheitstrakt als effizienteste Verhinderung der Flucht die Einrichtung mit der höchsten Moral?

6.3.2 Kommentar und Kontext Gerade für einen Vertreter von Netzwerkperspektiven ist es erstaunlich, dass Latour seine Beispiele »Sicherheitsgurt« und »Straßenschwelle« nicht in einen größeren Kontext stellt, der andere Verkehrsteilnehmer als interaktive Partner ansieht. Die erste Voraussetzung des langsamen Fahrens könnte nämlich auch dadurch sinnfällig erscheinen und mit erhöhter Wahrscheinlichkeit befolgt werden, wenn Auto und Fahrer nicht in einem hypothetischen Raum der Autonomie platziert sind (wie Latour dies implizit annimmt), sondern im Kontext einer Situation stehen, in denen auch Fußgänger, Radfahrer und Haustiere vorkommen. Die Integration der multiplen Sichten anderer Verkehrsteilnehmer führt zum Phänomen der wechselnden Dominanzhierarchien, durch die die unterschiedlichen Wahrnehmungen bestimmt werden. So fühlen sich Fahrradfahrer vom Auto bedroht, Autofahrer sehen Fußgänger und Fahrradfahrer als Verkehrshindernisse, und Fußgänger erleben Autos und Fahrradfahrer als Gefahr. Dazu kommen weitere verteilte Interessen: Die Eltern wollen Sicherheit für ihre Kinder, der Lieferverkehr will schnelle Verbindungen, die Anwohner wollen Ruhe, aber auch Lieferungen und alle zusammen wollen weniger Emissionen. Die Verkehrsplanung ist daher ein gutes Beispiel für Latours Vorhaben der mapping controversies (vgl. 9.5). Der Versuch eines Ausgleichs zwischen den widerstrebenden Interessen müsste diese jedoch zunächst einmal identifizieren, und das heißt: die unterschiedlichen Concerns benennen. Bisherige Ansätze gingen davon aus, dass entsprechende Gesetze zu formulieren sind, die dann durch Zeichen, Regeln, Kontrolle, Bußgelder und technischen Zwang durchgesetzt werden. Neuere Ansätze dagegen setzen auf eine Selbstorganisation, die sich freilich nur in geeigneter und dafür eingerichteter Umgebung entfalten kann.45 Interessant im Latour’schen Sinne der Materialität ist, dass Regeln und Zeichen abgebaut werden, während materielle Bestandteile bestimmte Handlungsformen nahelegen, erleichtern oder gar erst ermöglichen: Dazu gehören etwa die Gestaltung als Spielstraße (kein Bürgersteig, Verengung etc.) oder als »Berliner Begegnungszone« (gleichberechtigter Verkehr auf einer Ebene).46 45 Dabei sind zum Teil schon weit zurückliegende Erkenntnisse aus der Kybernetik maßgeblich gewesen wie etwa die Arbeiten Frederic Vesters [Vester 1990, 1999], die auch Bezugspunkte sind für aktuellere Forschungen, vgl. Rammler 2015. 46 https://www.begegnungszonen.berlin.de, www.stadtentwicklung.berlin.de/verkehr/politik_planung/ fussgaenger/strategie/de/begegnungszonen.shtml

6 Latours Beispiele: Hotelschlüssel und Space Shuttle

Solche Vorhaben müssen selbstverständlich partizipativ mit Betroffenen und Experten entwickelt werden. Genau hier passt sich die von Latour vorgeschlagene Visualisierungsaufgabe ein, indem sie einerseits die Komplexität des zur Debatte stehenden Phänomens auf neuartige Weise sinnfällig darstellt und zweitens die darauf bezogene Diskussion auf Anschauungsniveau bringt und damit zur Moderation beiträgt. Für diese Funktionen sind bereits unterschiedliche Dienstleister und öffentliche Plattformen entstanden.47 Das von Latour beschworene »vollkommen neue politische Terrain« [Prom_dt:370] der Dingpolitik wird daher bereits seit langem aktiv entwickelt. Es kann die repräsentativen, parlamentarischen Prozesse aber nur ergänzen, nicht ersetzen.

6.3.3 Mechanik und Digitalität Auffällig ist, dass Latour als Beispiele nur Fälle anbietet, die mit mechanischen Mitteln auskommen. In einer zunehmend digitalisierten Umwelt werden es aber vor allem Algorithmen sein, von denen die Strukturierung der Handlungsmöglichkeiten abhängt. Entscheidend bei der verhaltenssteuernden Funktion von Software ist die Verbindung von Daten, die vorher in getrennten Systemen verarbeitet wurden. So können die Funktionen eines Autos heute weitgehend zentral digital kontrolliert werden.48 Wesentliche Funktionen wie etwa die Entriegelung auf biometrischer Basis oder ein automatischer Alkoholtest werden durch Datenaustausch ermöglicht. Latours Formel von »drawing things together« wird hier im technischen Sinne zu einem digitalen »Zusammenziehen« von Daten. Damit könnte etwa die Anschnallpf licht faktisch durchgesetzt werden, indem sich ohne angelegten Gurt der Motor nicht starten lässt. Auch die Durchsetzung von reduzierten Fahrgeschwindigkeiten ist möglich, wenn das GPSSystem erkennt, dass etwa eine Zone mit 30 km/h-Begrenzung durchfahren wird und darauf hin die Motorleistung automatisch reduziert wird. In einem vollständig digitalisierten System wären weitere Regeln und Kontrollen möglich: So könnte technisch ausgeschlossen werden, dass die Straßen bestimmter Gegenden oder Kategorien (etwa Autobahnen) befahren werden können. Bevorzugte Fahrspuren könnten nur für Autos befahrbar sein, die mehrere Personen an Bord haben. Die Motorleistung könnte an Kriterien angepasst werden wie Lebensalter des Lenkers, Tageszeit, Ort und Wetter.49 Gleiches gilt analog für die Durchdringung der Umwelt mit »intelligenten Objekten« in den Dimensionen von »wearables, smart home und smart region« (Abb. 41).

47 w ww.zebralog.de, https://www.fixmystreet.com 48 vgl. Updates von Software »over the air«, wie sie beim Autohersteller Tesla eingesetzt werden, https:// www.tesla.com/de_DE/support/software-updates?redirect=no 49 Die dynamische Anpassung von Versicherungsbeiträgen an das protokollierte Fahrverhalten (»Telematik-Tarif«) ist bereits Realität und kann perspektivisch verbunden werden mit umfassenden digitalen Profilen, wie sie gegenwärtig in Chinas »Social Scoring«-Systemen erstellt werden, vgl. Signal Iduna: AppDrive –Tarif, https://www.app-drive.de und Sparkassen Direkt Versicherung, www.sparkassen-direkt.de/telematik

241

242

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns



Abb. 41: »Smart Region«: Intelligente Objekte konfigurieren neue Umwelten [Konzept: PFS, Illustration: Illigens]50

In den Fachdiskussionen der »Science and Technology Studies« wird angesichts von Robotern und künstlicher Intelligenz in den Anwendungen von Medizin- und Verkehrstechnik gefragt, ob Maschinen handeln können und ob dabei eine Ethik zugrunde gelegt werden kann.51 Mit dieser Frage sind grundlegende Probleme der Wert- und Entscheidungstheorie verbunden. Latour kümmert das jedoch nicht. Einerseits ist er bereits einen Schritt voraus und schreibt den Gegenständen sogar moralisches Handeln zu, andererseits bleibt er jedoch einen Schritt zurück und analysiert ausschließlich mechanische Objekte. Erstaunlich bleibt Latours Erstaunen über die einfachsten und gebräuchlichsten Arten der Handlungsmanipulation: Sicherstellung eines gewünschten Verhaltens durch faktischen Ausschluss anderer Optionen. Die Aufwertung der Artefakte zu moralisch Handelnden erscheint problematisch, weil damit implizit weitere Kriterien negiert werden, die sonst als Voraussetzung für moralisches Handeln gelten wie Vernunftbegabung, Fähigkeit zur Abwägung und Einsicht in die Folgen eigenen Tuns. Die Entwicklung erscheint insofern als paradox, weil eben diese Eigenschaften, die einst als menschliches Kennzeichen galten, von der Hirnforschung in der Diskussion um die Willensfreiheit infrage gestellt werden.52 Damit ergibt sich eine Höherstufung der Dinge bei gleichzeitiger Tieferstufung des Menschen. Konsequent wäre es, bei weiterer Verfolgung der Perspektiven einer »symmetrischen Anthropologie« [NMod] überkommende Begriffe wie »Moral« nicht mehr zu verwenden und stattdessen neue Begriffe einzuführen, die dann aber präzise zu definieren wären. Latour scheint mit seinen Erörterungen zu Fakten und Werten auf diesem Weg zu sein (vgl. C 6.1). Ein solches Vorgehen scheint ohnehin geboten zu sein, da mit der Digitalisierung vollkommen neue Arten der Verhaltensmanipulation entstehen, die mit traditionellen Verfahren und Begriffen kaum zu analysieren sind.

50 aus dem Projekt »Intelligente Objekte« der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften [Stephan 2009] 51 vgl. Rammert 2007 52 vgl. die Arbeiten von Gerhard Roth, https://homepage.univie.ac.at/henning.schluss/seminare/028 freiheit/texte/4.pdf

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

Latour bezieht sich in seinem Prometheus-Text [Prom_dt] auf die Arbeiten von Peter Sloterdijk, Jürgen Habermas und Martin Heidegger. Diese Bezüge werden im Folgenden diskutiert: Peter Sloterdijk wird als maßgeblicher Designdenker und Kronzeuge der Argumentation Latours vorgestellt. Dabei bezieht sich Latour vor allem auf Sloterdijks Neubestimmung des Humanismus durch die Ausweitung der Perspektive auf die Umwelt.1 Allerdings geht Sloterdijk von einem anderen Begriff der Moderne aus als Latour, was dieser aber nicht als Widerspruch bemerkt. Jürgen Habermas wird als Protagonist eines veralteten humanistischen Denkens und Kontrahent Sloterdijks präsentiert. Als Vertreter des von Latour kritisierten Humanismus wird Habermas eine begrenzte Wahrnehmung und Artikulationsfähigkeit vorgeworfen, die auf ideologischer Verengung beruhe. Martin Heidegger wird in Bezug auf seine ontologischen Grundlagen und den Begriff des »Ding« herangezogen, nicht jedoch in Bezug auf seinen Begriff der Technik. Latour behauptet, Heideggers Ontologie weiterzudenken: »Die Netze sind voller Sein. (…) Wir führen das unmögliche Projekt Heideggers durch.« [NMod:90/91] Darüber hinaus ist ein Bezug auf einen weiteren Autor zu nennen, der nicht im Prometheus-Text vorkommt, aber von Bedeutung ist für die Weiterentwicklung von Latours Bestimmungen der matters of concern: Gabriel Tarde (1843-1904) wird von Latour als »Gründer der Akteur-Netzwerk-Theorie« vorgestellt [ÖkW:17]. In dessen »Psychologie Économique« [Tarde 1902] entdeckt Latour eine »Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen« [ÖkW], die er als eine Begründung der Akteur-Netzwerk-Theorie ansieht. In Tardes Werk wird zugleich eine Brücke zum Concern Ansatz gefunden.

1 zur Problematisierung des Begriffs »Humanismus« vgl. »Über den Humanismus« [Heidegger 2000/ 1947] und Sloterdijk 1999, 2001

244

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Latours Bezüge auf die genannten Autoren sind eher beiläufig und selektiv als systematisch. Die Analyse soll daher nicht differenzierter werden als der Ausgangstext. Im Folgenden werden jedoch einige Widersprüche in Latours Bezugnahmen genannt, die dessen Aussagen zum Design erhellen und Ansatzpunkte für eine kritische Revision bieten können.

7.1

Peter Sloterdijk: Modernisierung und Kompetenzspirale

Sloterdijks Thema der Globen, Sphären und Schäume [Sloterdijk 1998-2004] und Latours Thema der Netze haben viele Berührungspunkte. Sloterdijk wird von Latour als eminenter Designdenker vorgestellt, obwohl dieser nur wenige Arbeiten explizit zum Design publiziert hat.2 Sloterdijk äußert sich ebenfalls positiv über Latours Arbeit, bleibt dabei allerdings vage.3 Latour dagegen bekennt: I was born a Sloterdijkian. [Latour 2009a:139] Sloterdijk und Latour sind öffentliche Intellektuelle, die derselben Generation angehören und deren Thesen polarisierende Debatten auslösten. Ebenfalls vergleichbar ist die Vielfalt der Themen, die pointierten Formulierungen und der Umfang der Produktion, bei der theoretische und literarische Ansprüche häufig kaum zu unterscheiden sind.4 Latour bezieht sich explizit und ausschließlich auf Sloterdijks »Sphären-Trilogie« [Sloterdijk 1998-2004], in der er selbst mehrfach positiv erwähnt wird. Darüber hinaus war Sloterdijk an der Ausstellung Making Things Public beteiligt (vgl. 7.1.5). Latour sieht in Sloterdijks Ansatz der Sphären eine Parallele zu seinem Ansatz der Netze, um die »Globalisierung zu reinterpretieren« [Latour 2009a]. Ein weiterer Aspekt ist der gemeinsame Bezug auf Martin Heidegger (vgl. 7.3). Sloterdijk argumentiert evolutionsgeschichtlich und positioniert Design als eine Behauptung von Souveränität inmitten nicht beherrschbarer Verhältnisse. Latour greift dies aber nicht auf, obwohl der entsprechende Artikel »Das Zeug zur Macht« [Sloterdijk 2006] vor Latours Text »Ein vorsichtiger Prometheus« [Prom_dt] von 2008

2 Sloterdijk 2010: Das Zeug zur Macht, 2009: Wie groß ist groß, 2008a: Durchbruch ins Oberflächliche, 2008b: Kosmische Misfits – Selbstaufräumung als Emergency Design 3 »Ich zitiere zum Beispiel Bruno Latour, der den Vorschlag gemacht hat, den Begriff der Gesellschaft abzulösen durch den Begriff der Agentennetzwerke. Dieser Ausdruck steht für eine postsoziologische Reflexionsform, die große Vorteile bietet. Sie erlaubt, die einzelnen Knotenpunkte im Netz in ihrer relativen Autonomie gegenüber dem übrigen Netz viel besser zu respektieren, als wenn man mit einem von oben gesetzten Gesellschaftsbegriff beginnt.« [Sloterdijk 2004a:o.S.] Sloterdijk wird im Titel von Latours Prometheus-Artikel genannt: »(with special attention to Peter Sloterdijk« [Prom_dt]. Dieser übernimmt später das Prometheus-Motiv als »Die Reue des Prometheus« [Sloterdijk 2023:73-76], bezieht sich dabei aber nur allgemein auf Latour (»in memoriam«). Dort findet sich auch eine Kritik an Malm 2020. 4 Sloterdijk veröffentlichte zwei Romane: »Der Zauberbaum« (1987) und »Das Schelling Projekt« (2016). Seine Biografie gibt an »Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller«, https:// www.suhrkamp.de/autoren/peter_sloterdijk_4620.html

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

erschienen ist. Stattdessen bezieht sich Latour selektiv auf Sloterdijks Thesen zum Thema »Künstlichkeit«, wie sie in dessen Konzept der »Sphären« entwickelt wurden.5 Latour gibt an, seine im Prometheus-Artikel dargestellte Position wesentlich den Anregungen Sloterdijks zu verdanken. Dabei sei entscheidend, dass dieser den Menschen als einwohnendes Wesen beschreibt, das durch Interaktionen mit der Umwelt geprägt ist, im Gegensatz zur Sichtweise der von Latour kritisierten Humanisten. Bei genauerer Betrachtung der angegebenen Bezüge stellt sich jedoch heraus, dass diese in mancher Hinsicht nicht plausibel sind und es einige Widersprüche gibt.

7.1.1 Emanzipation und Bindung Latour will an Sloterdijks Thesen zu den Sphären anschließen durch seinen Begriff der »envelopes« [Prom_eng:8] oder »Umhüllungen« [Prom_dt:365]. Sloterdijk habe das Dasein in der Welt im Gegensatz zu den Humanisten weiter und zu Ende gedacht, indem das bisher übergangene »in« nunmehr ausreichend berücksichtigt werde: Wenn wir sagen: »Dasein ist In-der-Welt-Sein«, gehen wir gewöhnlich sehr rasch über die kleine Präposition »in« hinweg. Nicht so Sloterdijk. »Wo ist dies Darin?«, fragt er, »Und in was?« (…) Menschen definieren, heißt die Umhüllungen definieren, die Lebenserhaltungssysteme, die Umwelt, die es ihnen erlaubt, zu atmen. Genau das hat der Humanismus stets versäumt. Aus diesem Grund geriet Habermas so mit Sloterdijk in Streit: Nackte Menschen auf der einen Seite, voll ausgerüstete Menschen mit Lebenserhaltungssystemen auf der anderen – natürlich gab es keinen Weg für diese beiden deutschen Denker, miteinander übereinzukommen. [Prom_dt:365] Latour will Sloterdijks Position nutzen für eine Abgrenzung zu Motiven des Humanismus, als dessen Vertreter er Jürgen Habermas zitiert und kritisiert (vgl. 7.2). Während modernistische oder anti-modernistische Geschichtsphilosophien stets nur eine Erzählung betrachten – die des Fortschritts oder des Scheiterns des Fortschritts –, ist Sloterdijk der rare Denker, der zeigt, wie sich die Geschichten von Emanzipation und Bindung zu einer einzigen Geschichte zusammenziehen. [Prom_dt:366] Latour meint, bei Sloterdijk einen Beleg für seine These des »Zusammenziehens« zu finden.6 So liest es sich jedenfalls in der deutschen Version des Textes. Doch hier gibt es wieder ein Problem der Übersetzung, denn von »Zusammenziehen« ist im englischen Original keine Rede:

5 Dies wird später bei Latours Arbeiten zu »Critical Zones« (2020) und »Inside« (2016) wieder aufgegriffen (vgl. 9.2). Sloterdijk interpretiert den Begriff der Atmosphäre technisch als eine Hülle, die Lebensbedingungen garantiert, im Gegensatz zu einem Verständnis, das eher auf feinstoffliche und ästhetische Aspekte abstellt [vgl. Böhme 2013]. Der zentrale Gedanke, dass die Architektur das Verhältnis von Innen und Außen bearbeitet, wurde allerdings schon weit früher und erheblich knapper formuliert [vgl. Baecker 1990]. 6 vgl. Latours Diagramm der soziotechnischen Evolution, vgl. 5.5.2

245

246

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

(…) Sloterdijk is the rare thinker who shows how the stories of both emancipation and of attachment are a single story. [Prom_eng:8] »Zusammenziehen« setzt eine vorherige Trennung voraus, die Latour zwar behauptet, Sloterdijk jedoch unter Zustimmung Latours von vornherein als »single story« auffasst. Die korrekte Übersetzung müsste lauten: (…) ist Sloterdijk der rare Denker, der zeigt, wie die beiden Geschichten von Emanzipation und Bindung eine einzige Geschichte sind. [Übersetzung und Hervorhebung PFS] Während die deutsche Version die Frage nahelegt, wer oder was denn die »Zusammenziehung« in Gang setzt, stellt sich diese Frage in der englischen Version nicht, da Emanzipation und Bindung immer schon eine einzige Geschichte sind und lediglich als getrennte beschrieben wurden. Im Gegensatz zum englischen Wortlaut besteht Latour in der deutschen Version darauf, dass es einer gesonderten Aktivität der Versöhnung bedarf: Wie können wir die gänzlich verschiedenen Reihen von Gefühlen, Leidenschaften und Antrieben, die durch die beiden alternativen »großen Erzählungen« der Moderne ausgelöst werden, miteinander versöhnen – die der Emanzipation (die offizielle Geschichte) und die der Bindung (die verborgene Geschichte)? [Prom_dt:365] Allerdings wird nicht deutlich, warum diese angestrebte »Versöhnung« notwendig sein soll, was mit ihr gewonnen wäre und was ohne sie entfiele. Auch wie ein Prozess der »Versöhnung« sich ereignen könnte, wie er ausgelöst wird und ob und wann er zu einem Ende kommt, wird nicht erörtert. Es ist daher nicht eindeutig zu klären, was Latour meint: • Waren die beiden Geschichten von Emanzipation und Bindung schon immer eine gemeinsame und wurden bisher lediglich nicht so erkannt und beschrieben? • Oder handelt es sich um zwei alternative Erzählungen der Moderne, die es miteinander zu »versöhnen« gilt durch Aktivitäten wie Design? Im ersteren Sinne der immer schon gemeinsamen Geschichte von Emanzipation und Bindung ist der Verweis auf Sloterdijk berechtigt. Dessen Ansatz, eine alternative Kulturtheorie zu entwickeln, stützt sich auf eine Aufwertung der Aspekte von Materialität, Technik und Umwelt, die evolutionsgeschichtlich als immer schon mit kulturellen Ausprägungen verbunden verstanden werden. Zu diskutieren wäre allenfalls, ob Sloterdijks Vorhaben so originell und rar ist wie von Latour behauptet oder inwiefern andere, vorhergehende Ansätze bereits Mensch-Umwelt Bezüge als Interaktionstheorien entwickelt haben.7 Im zweiten Sinne ist der Verweis auf Sloterdijk nicht berechtigt, denn dieser erwartet vom Design keine Versöhnung, sondern lediglich pragmatisches »In-Formbleiben« angesichts unbeherrschbarer Umstände. 7 Hierbei wäre etwa an die Arbeiten von Herbert A. Simon [1969], Jean Piaget [1973], Gregory Bateson [1987/1979], Leroi-Gourhan [1988] oder Jean Starobinski [2001] zu denken.

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

7.1.2 Der Begriff der Moderne bei Sloterdijk und Latour In seinem Artikel »Das Zeug zur Macht« [Sloterdijk 2010] entwickelt Sloterdijk eine Funktionsbestimmung des Designs. Dabei beschreibt er zunächst die »Geburt des Designs aus dem Geiste des Rituals« und bestimmt daraus die Aufgabe des Designs als »Souveränitäts-Simulation«: Wenn Souveränität angesichts unbeherrschbarer Komplexität nicht möglich sei, erzeugten Designer wenigstens deren Simulation und böten damit Möglichkeiten, besser in Form zu bleiben. Für diese These nennt Sloterdijk das Beispiel von Urmenschen, die ein Unwetter überstehen müssen und denen nur die Alternative bleibt, sich apathisch in ihr Schicksal zu fügen oder rituelle Handlungen auszuführen, die zwar nichts an den Umständen ändern, aber deren Erleben beeinf lussen, indem zumindest Handlungsfähigkeit demonstriert wird [Sloterdijk 2010:302]. Es komme also nicht darauf an, die bedrohlichen Naturkräfte tatsächlich zu beherrschen, sondern es genüge, eine prinzipiell unmögliche Souveränität zu simulieren, um in Form zu bleiben. Es gelte hinreichend kohärenten Weltbezug auch inmitten unbeherrschbarer Komplexität zu gewährleisten: Was kann man tun, wenn man nichts mehr tun kann?8 Das Können in der Moderne wird bei Sloterdijk im Gegensatz zu Latour also nicht als kühle Beherrschung definiert, sondern – im Gegenteil – als Einsicht in die Unzulänglichkeit von Wissen und Können bei gleichzeitiger Notwendigkeit des Handelns. Das Design habe dabei die Aufgabe, gemeinschaftsbildende Formen zu definieren und diese so attraktiv zu machen, dass ihnen gefolgt werde. Diese Tätigkeit benennt Sloterdijk als evolutionsgeschichtliche Konstante, die auf verschiedenen Entwicklungsstufen exemplarisch verortet werden kann. Riten und schamanistische Praxen, Rhetoriklehrer in der Antike und Tanzlehrer im Barock hätten danach die gleiche Aufgabe: Bewältigung der unübersehbaren Komplexität der natürlichen und sozialen Verhältnisse durch die Vorgabe von Formen und Regeln.9 Sloterdijk versteht das Attribut »modern« als ein Synonym für Steigerungen, die in eine »Kompetenzspirale« eingeschrieben sind und zu einer paradoxen Formel führen, dem »Können des Nichtkönnens« [Sloterdijk 2010:301]. Angesichts der Komplexität der technischen Welt seien Ansprüche auf Verständnis oder gar Beherrschung der Geräte und Prozesse nicht mehr sinnvoll zu erheben. Deshalb komme dem Design eben jene Funktion der Simulation von Souveränität zu, die durch die Gestaltung von Interfaces hergestellt werde. Gleichzeitig grenzt Sloterdijk das Design als »Anti-Andacht« von klassischen Dingund Funktionsbegriffen ab zugunsten eines »kategorischen Komparativs«10 [Sloterdijk 2010:307], der die wertsteigernden Funktionen des Designs betont. Sloterdijks Auffassung erscheint damit – im Gegensatz zu Latours Annahme – als Widerspruch zu dessen Begriff von Modernität: Latour konstruiert den Gegensatz der »zwei großen alternativen Narrative« [Prom_dt: 358] und erwartet Versöhnung, während Sloterdijk durch 8 Der Gedanke ist allerdings nicht neu. Odo Marquard hatte bereits weit früher angeregt, die Philosophie als eine »Inkompetenzkompensationskompetenz« [Marquard 1981] zu verstehen. 9 Dieses Schema ähnelt Baeckers These von der Absorption der Ungewissheit, vgl. 3.2.7. 10 »Präsentiere Deine Erscheinung auf dem Gütermarkt immer so, dass das Motiv Deines Daseins jederzeit als Ausdruck und Anreiz des Strebens nach Besserung verstanden werden könnte!« In einer Neuausgabe wurde der Ausdruck »kategorischer Komparativ« falsch übertragen als »kategorischer Imperativ« [Sloterdijk 2019/2006:86].

247

248

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

seine »Kompetenzsteigerungsspirale« [Sloterdijk 2019/2006:75] die Kontinuität der Entwicklung betont und weiterhin Differenzierung und Steigerung der Welt erwartet.11

7.1.3 »Surface Feature« vs. »Durchbruch ins Oberflächliche« Latour behandelt die Oberf läche nur oberf lächlich als »surface feature« [Prom_eng:2], übersetzt als »Form-Fassade« [Prom_dt:356]. Sie ist ihm keine detaillierte Untersuchung wert. Insofern verlässt Latour seine selbst gewählte Maxime des »ANT´s view« und des Denkens in Operationsketten. In seinem Schema der beiden gegensätzlichen Narrative bestimmt er Design historisch als triviales »surface feature« und setzt dagegen die von ihm formulierten neuen und achtsamen Qualitäten des Designs, die es zu entwickeln gälte (vgl. 4.2). Zwar wird in der Folge von Latours Argumentation der Designbegriff ausgeweitet und aufgewertet, weil er die Versöhnung von »Emanzipation« und »Bindung« organisieren soll. Es wird aber nicht deutlich, wie das geschehen kann, wenn nicht durch eine Aufwertung der Oberf läche, die auch der von Latour geforderten Anerkennung der Dinge in ihrer Eigengesetzlichkeit entsprechen würde. Durch die Diskussion des Designs als »Form-Fassade« und »oberf lächliche, äußere Eigenschaften« [Prom_dt:356] entgeht Latour die Entwicklung eines Arguments, das seiner Position gerade nahestände. Dieses liegt darin, der traditionellen Dichotomie von Oberf läche und Tiefe – und weiter gefasst von Schein und Substanz – eben nicht zu folgen und deren scheinbar evidente Hierarchie nicht zu bestätigen.12 Die Bestimmung des Verhältnisses von Oberf läche und Tiefe bietet vielfältige Möglichkeiten, ästhetische, epistemologische und ethische Aspekte integrativ zu behandeln, so wie es Latour auch beansprucht, aber in diesem Falle leider verpasst.13 So bemerkt Nietzsche: Oh, diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehenzubleiben, den Schein anzubeten, an For-

11 Sloterdijk beschreibt daher an anderer Stelle mehrere Modernen: »(…) dass wir heute (…) in der fünf ten Moderne stehen, weil die Neuzeit als Modernisierungsprozess über mindestens vier Krisen oder Großreaktionen hinweggeschritten ist: Gegenreformation, Romantik, Vitalismus und Faschismus, folglich befinden wir uns zur Zeit im Übergang zur sechsten Moderne, weil sich vor unseren Augen der Sieg des Konstruktivismus über den Regionalismus und Antiglobalismus als vorerst letzte Antimodernismen abzeichnet.« [Sloterdijk 2001:377], vgl. Latours Forderung »modernize modernization«, A 3.1 12 Hegel hatte bereits bemerkt, dass der Schein zum Wesen gehört: »Der Schein selbst ist dem Wesen wesentlich, die Wahrheit wäre nicht, wenn sie nicht schiene und erschiene.« [Hegel 1986/1835-39:21], vgl. die »zwiefache Dialektik des Scheins« bei Kant [Tönnies, I. 1933:1]. 13 Die Dialektik von Substanz und Oberfläche war ein zentraler Diskurs von Moderne und Postmoderne, der im Kontext der Digitalisierung erneuert wurde, vgl. »Tiefe Oberflächen« [Faßler 2002], die »Rache der Oberfläche« [Harman 2015] sowie über die »Ästhetik der Oberfläche« bei Goethe [Han 2007]. Flusser formulierte bereits 1985 ein »Lob der Oberflächlichkeit« [Flusser 1985]. Sloterdijks fast gleichlautender Titel »Durchbruch zur Oberflächlichkeit« [2008] erschien 23 Jahre später und erwähnt diese Quelle nicht. Das Thema wurde bereits bei Siegfried Kracauer und Heinrich Mann behandelt [vgl. Braungart 1995]. Im Design wird der Diskurs zur Oberfläche häufig wieder aufgegrif fen, jedoch nicht immer mit neuen Erkenntnissen, vgl. »Lob der Oberfläche« [Hunter 2020].

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

men, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe! [Nietzsche 1886/1980: 352] Dieser Widerspruch gegen die Dichotomie von trivialer Oberf läche und bedeutsamer Tiefe wurde später auch wissenschaftstheoretisch eingeholt. Während Nietzsche aus ästhetischer Perspektive spricht, begründeten die Philosophen, Mathematiker und Naturforscher des Wiener Kreises14 ihre Position erkenntnistheoretisch, indem sie sich gegen arkane Wissensbestände richteten: In der Wissenschaft gibt es keine »Tiefen«; überall ist Oberfläche: Alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im Einzelnen fassbares Netz. Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge. Hier zeigt sich Verwandtschaft mit den Sophisten, nicht mit den Platonikern; mit den Epikureern, nicht mit den Pythagoreern; mit allen, die irdisches Wesen und Diesseitigkeit vertreten. [Neurath, Hahn, Carnap 1929:305] Vor diesem Hintergrund entwickelte Otto Neurath mit dem Grafiker Gerd Arntz die Zeichensprache »Isotype« [Neurath 1936], die der Volksauf klärung dienen sollte. Ganz folgerichtig bezieht sich Latour auch auf Neurath als Vorbild für die neue Rolle des Designers, ohne jedoch dessen erkenntnistheoretische Voraussetzungen zu teilen.15 Gerade die von Latour propagierte »Ameisen-Perspektive« (»ANT‘s view«) und das vielfach beschworene »Falten« und »Einhüllen« könnten ein starkes Argument FÜR die Oberf läche bilden. Das Bestehen des Wiener Kreises auf den Menschen als das »Maß aller Dinge« führt allerdings wieder eine humanistische Position ein, die möglicherweise eine weitergehende Adaption durch Latour verhindert hat, ohne dass dies explizit gemacht wurde.16 Der von Latour referenzierte Sloterdijk ist hier in seinen Überlegungen weiter und argumentiert auf dem aktuellen technischen Niveau der Nanotechnik, die auch in den kleinsten Dimensionen immer wieder nur Oberf lächen erkennt und erzeugt [Sloterdijk 2008a]. Latour ist dieser entscheidende Widerspruch zur Position Sloterdijks offenbar entgangen, obwohl dieser erst dadurch zu dem eminenten Designphilosophen wird, als den Latour ihn vorstellt. Latours Argument der Faltung und des Einhüllens [»envelopes«, Prom_eng:8-10] könnte wesentlich gewinnen durch einen Bezug zum Verhältnis von Ästhetik und Erkenntnis. In diesem Kontext wird schon seit langem die Oberf läche aufgewertet und die Zugänglichkeit und Erkennbarkeit eines Kerns verneint. Danach gilt: Alles, was Menschen wahrnehmen und erkennen können, sind Oberf lächen, und hinter den

14 Dazu gehörten u. a. Otto Neurath, Moritz von Schlick, Kurt Gödel und Rudolf Carnap. 15 »When Otto Neurath devised his ›Isotypes‹ he was trying to do something which was the equivalent of what had been attempted during the Renaissance, namely to link together in a powerful synthesis a certain conception of science – logical positivism –, a certain political aspiration – the socialism of Red Vienna – with a certain artistic style – Bauhaus modernism.« [Prom_eng:49-50] 16 Auch Nietzsche lehnte einen solchen Anthropomorphismus ab: »Unwillkürlich schwebt ihnen ›der Mensch‹ als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maß der Dinge vor.« [1878: Menschliches, Allzumenschliches, I.1.2]

249

250

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Oberf lächen ist nicht etwa das Innere und Eigentliche zu finden, sondern nur weitere Oberf lächen.17 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Latours Konzeption der Einbettung des Menschen in immer weitere Dimensionen der Künstlichkeit sowohl an historische wie auch an aktuelle Diskurse zur Oberf läche perfekt anschlussfähig ist, offenbar ohne, dass dies von ihm bemerkt wurde: • Zum einen wird für die Funktion der »Mapping Controversies« eine neue diagrammatische Erscheinungsform gefordert (Ästhetik), die nur auf Oberf lächen denkbar ist (was Latour nicht thematisiert) • Zum anderen wird für die Dingpolitik eine Transparenz und Zugänglichkeit aus politischen Gründen gefordert (Ethik), die sich nur als immer weitere Entfaltung von Oberf lächen denken lässt, ohne je zu einem nur fundamentalistisch vorstellbaren Kern vorstoßen zu können (was Latour nicht zu Ende denkt). Das von Latour neu gedachte »Ding« jedoch aufzuteilen in eine triviale Oberf läche einerseits und eine wesentliche Substanz andererseits, läuft den Zielen seines Programms diametral zuwider. Dies wurde in der Latour-Rezeption bisher nicht als Widerspruch erkannt. Der von Latour als Vordenker des Designs propagierte Sloterdijk dagegen hat eine Formel gefunden, die Latours »drawing things together« [DrawT] entspricht: »Souverän ist, wer über die Verf lachung entscheidet.« [Sloterdijk 2006:161]18

7.1.4 Sprachform und Theorieerzählung Neben den genannten Widersprüchen gibt es auch Gemeinsamkeiten von Latour und Sloterdijk, die ihre öffentliche Wirkung und die Sprachformen betreffen. Beide äußern sich zu einem großen Themenspektrum, formulieren Positionen, die Aufmerksamkeit erregen und stoßen damit sowohl auf begeisterte Zustimmung als auch auf entschiedene Ablehnung. Schließlich gelten beide als äußerst produktive Vielschreiber, was es der Rezeption erschwert, ausreichend schnell und gleichzeitig detailliert zu reagieren.19 Ein weiteres gemeinsames Kennzeichen ist der ausgiebige Gebrauch von Metaphern. Dazu bemerkt Latour: 17 Diese Thematik wurde im Zusammenhang der »Aktualität des Ästhetischen« diskutiert: »Überall setzt sich heute in den Wissenschaf ten das Bewusstsein vom grundlegend ästhetischen Charakter des Erkennens und der Wirklichkeit durch. Ob zeichentheoretisch oder systemtheoretisch, ob in Soziologie, Biologie oder Mikrophysik, allenthalben bemerken wir, dass es kein erstes oder letztes Fundament gibt, dass wir vielmehr gerade in der Dimension der Fundamente auf eine ästhetische Verfassung stoßen. (…) Wirklichkeit wird zu einem Angebot, das bis in seine Substanz hinein virtuell, manipulierbar, ästhetisch modellierbar ist.« [Welsch 1993:41], vgl. David Hockney: »Surface is illusion, but so is depth«, https://densitydesign.org/research/brain-houses-three-interieurs-stories 18 Eine Analogie zu Carl Schmitts Ausspruch: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« [Schmitt 1922:9], vgl. die Replik »Vernünf tig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet.« [Marquard 2004, vgl. Boldt 1972] 19 Sloterdijk setzte den Umfang seiner Produktion ungeniert als Argument in einer Debatte mit Axel Honneth um eine Reform der Steuergesetzgebung ein: »Man hätte ihn vorher eine Textkenntnisklausur schreiben lassen sollen. (…) Die Wahrheit ist doch, unser Professor hat in Bezug auf meine

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

(…) Sloterdijk ist vor allem Literat in seiner Verwendung von Metaphern (…) An den erweiterten Metaphern, die Sloterdijk bis zum bitteren Ende einsetzt und ausreizt, ist am wichtigsten, dass sie genau das zu leisten beginnen, was ich im ersten Teil dieses Vortrags verlangt habe. [Prom_dt:365] Ähnlich wie bei Latour wird auch Sloterdijks Sprachform als ein eigenes Genre angesehen, das unterschiedlich beurteilt wird. So kennzeichnet ein Kommentator Sloterdijks Stil als »schöngeistige, pointenorientierte Schreibweise« [Thies 1999:5] und schlägt drei Arten der Lektüre vor: 1. symptomatisch oder entlarvend 2. assoziativ oder literarisch 3. analytisch oder philosophisch 3a. historisch-hermeneutisch 3b. systematisch-argumentativ [Thies 1999:3-5] Von anderen Kommentatoren wird ein Changieren zwischen Philosophie und Literatur kritisiert, das es erschwert, den Autor dingfest zu machen: (…) Misstrauen gegenüber Autoren geboten, die sich, zumal wenn es brenzlig wird, auf das Literarische ihrer Texte öffentlich etwas einbilden. (…) Wer sich als Philosoph auf die Literatur herausredet, redet sich aus der Philosophie heraus.20 Karl-Heinz Bohrer schließlich konstatiert bei Sloterdijk unter dem Titel »Mythologie, nicht Philosophie«: (…) einfachste Theorie, als einfachster Methodik, und komplexem Belegarchiv und Material-Inszenierung (…) eine neue Spezies von Theorie-Literatur, die keine Theorie hat. [Bohrer 1999:1117/1118] Sloterdijk beschreibt die Rollenverteilung bei der Produktion dieser »Theorie-Literatur«: Ich funktioniere eher wie ein Schriftsteller, der sich einen Denker ausdenkt, dem immer wieder andere Gedanken zustoßen. Darum ist das Buch teilweise in der ersten Person Plural geschrieben: Der Philosoph ist bei mir eine Kunstfigur, die in der Werkstatt des Schriftstellers erfunden wird. [Sloterdijk 2004a:o.S.] Damit wird ein doppelter Mechanismus installiert: Dem Denker stoßen die Gedanken nur zu, er ist nicht ihr Urheber und die Figur des Denkers ist fiktiv, da sie vom Schriftsteller ausgedacht wurde. Mit dieser Konstellation ist keinerlei Zurechnung von Verantwortung möglich. Die Konstruktion erinnert an Latours Inszenierung als »Student Arbeit einen Lektüre-Rückstand von, freundlich geschätzt, sechstausend bis achttausend Seiten – was sinngemäß besagt, dass er wahrscheinlich weniger als zehn Prozent meiner Publikationen kennt, möglicherweise nicht einmal so viel und selbst diesen Rest nur flüchtig und ohne guten Willen zum adäquaten Referat.« [Sloterdijk 2009a:o.S.] 20 Martin Seel in Die ZEIT vom 30.09.1999, zitiert nach Thies 1999:5

251

252

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

und Liebhaber der Wissenschaften« (vgl. A 1.4), der ebenfalls kaum für seine Aussagen verantwortlich gemacht werden kann. In Latours Schreibstil lassen sich auch die in der Sloterdijk-Kritik genannten Aspekte finden wie »komplexes Belegarchiv und Materialinszenierung«, das Changieren zwischen Philosophie und Literatur sowie eine Mischung verschiedener Stile, die viele Lesarten gleichzeitig ermöglicht und erzwingt. Beiden Autoren ist gemeinsam, dass ihre Schreibstile und Theorie- bzw. Erzählanlagen als anregend oder als überladen empfunden werden können. Ein entscheidendes Manko jedoch ist bei beiden die kaum gegebene Fassbarkeit und die damit verbundene Schwierigkeit der Erwiderung. So muss eine Replik auf beide Autoren zunächst einmal die Argumentationsstränge – soweit vorhanden – freilegen und Idiosynkrasien dekonstruieren. Dazu jedoch müssen die Kritiker bereits wesentliche Vorgaben der Autoren akzeptieren. Der Verdacht bleibt, dass beide Autoren ihre Texte bewusst hermetisch anlegen, um sich gegen mögliche Widersprüche zu immunisieren.

7.1.5 Der Humor der Großdenker Eine weitere Gemeinsamkeit von Sloterdijk und Latour ist ihre Vorliebe für absurden Humor. So tragen beide zur Idee eines »Parlaments der Dinge« bei: Latour fordert ein Mitspracherecht der Tiere21, und Sloterdijk entwirft ein auf blasbares Parlament.22 Dieses soll in kompakter Form über Gebieten abgeworfen werden, die Nachhilfe in Parlamentarismus brauchen und nicht in der Lage sind, die dafür nötigen architektonischen Formen zu entwickeln.23 Am Boden entfaltet sich die Hülle zu einer Traglufthalle, die als Sitz des künftigen Parlaments dient (Abb. 42).

Abb. 42: »Instant Democracy: The Pneumatic Parliament« [Sloterdijk, Mueller von der Haegen 2005:956], gekürzt und umgestellt von vertikal auf horizontal, PFS24

21 »Wir haben auch die Kühe nicht gefragt, ob sie Tiermehl fressen wollen.« [Latour 2000] 22 Für die Ausstellung »Making Things Public – Atmospheres of Democracy« [Sloterdijk, Mueller von der Haegen 2005] 23 Anregungen dazu kommen zweifellos von Buckminster Fullers »Geodesic Domes« und auch vom »Floating Conference Center« von John M. Johansen 1997, vgl. Sloterdijk 2004:808. 24 Der Comic wurde nicht in der Ausstellung gezeigt, ist aber im Netz verfügbar mit der Angabe »Idee und philosophische Beratung: Peter Sloterdijk«, www.g-i-o.com/pp5.htm. Die im Bild zu sehende geografische und kulturelle Verortung erscheint heute als fragwürdig, wurde aber offenbar im Jahre 2005 als unproblematisch angesehen.

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

Selbstverständlich ist dieses Projekt absurd und wird daher im Katalog zur Ausstellung auch als »Advertising« präsentiert.25 Zu vermuten ist, dass die polarisierende Darstellung Widerspruch provozieren und auf die Frage hinführen soll: Welche künftigen Repräsentationen können der Dingpolitik entsprechen? So schreibt Latour zu Sloterdijks Projekt: Doch was, wenn jedes Mal, sobald dieses aufblasbare Parlament abgeworfen wird, viele andere Stimmen zu vernehmen wären: »Bitte keine Politik!«, »Keine Repräsentation!«, »Nicht mit Euch«, »Demokratie, nein danke«, »Bleiben sie so weit weg wie möglich«, »Lasst uns in Ruhe«, »Ich möchte lieber nicht«, »Ich ziehe meinen König vor«? Was, wenn die Meinungsverschiedenheiten nicht jene Themen beträfen, die Menschen normalerweise entzweien, sondern sich auf die Versammlungsweise als solche erstreckten? [RpDp:59] Während das Ausstellungsobjekt für Aufmerksamkeit und möglicherweise für Empörung sorgt, verweist der Kommentar auf die Komplexität des Themas. So scheint der strategisch eingesetzte Humor in diesem Falle seinen Zweck zu erfüllen. Jedenfalls versuchen Latour und Sloterdijk auf je eigene und auch auf kombinierte Weise, das Repertoire der Artikulationen zu erweitern. Was das Interesse des Publikums angeht, haben sie ihre Ziele wohl erreicht. Inwiefern aber lediglich Adressaten erreicht werden, die ohnehin schon in derselben Meinungsblase leben wie die Autoren, muss offenbleiben. Möglicherweise ergibt sich hier noch ein ganz neuer Sinn für Sloterdijks Sphären und Latours Netze: eine Ein- und Ausschlusslogik, nach der ohnehin nur mit jenem Publikum kommuniziert wird, dessen Einverständnis vorausgesetzt werden kann.

7.2 Jürgen Habermas: Humanismus und kommunikative Vernunft Jürgen Habermas wird bei Latour als Gegner Sloterdijks präsentiert, womit Bezug genommen wird auf die Kontroverse um Sloterdijks Text »Regeln für den Menschenpark«.26 Bei Latour wird der Name Habermas zu einer Chiffre für alles, was die ANT nicht will und nicht ist. Besonders deutlich wird das an einem fiktiven Dialog, dargestellt als SHE und HE.27 SHE: Deliberative democracy has become the opium of the people. My feeling, for what it’s worth, is that if science studies, which used to be a radical movement, has of late degenerated into a wishy-washy appeal to consultation, round tables, stake holder meetings, and talks, talks, talks. Then I give up … It’s all about consensus conferences, focus groups, citizens’ debates. Habermas. Habermas everywhere. It stinks. [Latour 2012:2]

25 Doch immerhin wird über die Ausstellung ein Budget aufgebracht, dass laut Katalog die Entwicklung durch ein 15-köpfiges Team erlaubt. 26 Sloterdijk 1999, vgl. Thies 1999 27 »I have tried to capture some of the energy and arguments of a lively discussion between Dominique Pestre and the members of the CSI-School of Mines« [Latour 2012:1]

253

254

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Latour sieht in Habermas das Beispiel eines Humanisten, dem er vorwirft, in einem »modernistischen Idiom« gefangen zu sein und damit das Ziel des Humanismus, eine Bestimmung des Menschen zu geben, zu verfehlen: Humanisten wie Posthumanisten scheinen über kein anderes Repertoire als das modernistische Idiom der unabänderlichen Tatsachen zu verfügen, wenn sie über Wissenschaft und Technik sprechen. [Prom_dt:369] Menschen definieren, heißt die Umhüllungen definieren, (…). Genau das hat der Humanismus stets versäumt. [Prom_dt:365, vgl. 7.1.1] Mit dem ersten Teil des zweiten Zitats befindet sich Latour in der besten Gesellschaft klassischer Aussagen des Designs, die eine Bestimmung des Menschen durch seine gestaltende und gestaltete Beziehung zu den Umwelten postulierten.28 Der zweite Teil behauptet, dass der Humanismus daran keinen Anteil hat.

7.2.1 Humanismus und Verdinglichung Latour moniert eine limitierte Ausdrucksweise und Wahrnehmung, die lediglich auf Menschen fokussiere, statt deren Verbindungen zu Dingen und Umwelten zu erkennen. Ein Humanist kann sich nicht vorstellen, dass Objekte Dinge sein können, dass unabänderliche Tatsachen umstrittene Sachen sein können (…) Humanisten beschäftigen sich allein mit Menschen; alles Übrige ist für sie bloße Materialität oder kalte Objektivität. Aber Sloterdijk behandelt Menschen nicht als objektive Tatsachen, wie es eben die Humanisten tun. Sondern er behandelt sowohl Menschen als auch Nicht-Menschen als »Angelegenheiten von großer Wichtigkeit«, (im Original »matters of concern«, PFS) mit denen sorgsam umgegangen werden muss. [Prom_dt:368] Die behauptete Gegensätzlichkeit der Positionen wird zugespitzt bei der Frage nach den ethischen Implikationen der Gentechnik, wie sie bei Sloterdijk [1999] angesprochen wurde als Antwort auf Heideggers »Über den Humanismus« [Heidegger 2000/1947]. Für einen guten alten modernistischen Humanisten ist es gleichbedeutend mit Orwells Welt, mit Eugenik, wenn jemand über Lebenserhaltung zu sprechen anfängt, über die Bedingungen, die notwendig sind, um »Menschen aufzuziehen« (…). Habermas entgeht jedoch völlig, dass Humanisten, wenn sie Menschen anklagen, »Menschen wie Objekte zu behandeln«, überhaupt nicht merken, dass sie selbst die Objekte unfair behandeln. [Prom_dt:368] Diese Wendung birgt Potenzial zur Provokation, denn vergangene und aktuelle Katastrophen sind mit dem Begriff der »Verdinglichung« verbunden. Dieser bezeichnet den Gegensatz zu Menschenwürde und Menschenrechten. Menschen wie Objekte zu 28 vgl. »(…) the proper study of mankind is the science of design« [Simon 1968:138] und das deutsche Echo dreißig Jahre später: »Wer heute Kants Frage: ›Was ist der Mensch?‹ beantworten will, muss Design studieren« [Bolz 1997:232/233].

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

behandeln, gehört zu den denkbar schwersten Verbrechen, wie sie in der Sklaverei, im Krieg und bei Folter vorkommen.29 Indem Latour diese Parallele zieht, fährt er rhetorisch schwerste Geschütze auf, was in Verbindung mit dem Vorwurf einer »unfairen Behandlung von Objekten« unangemessen wirkt. (…) müssen wir uns daran erinnern, dass ein matter of fact [PFS] zu sein keine »natürliche« Existenzweise ist, sondern, seltsamerweise, ein Anthropomorphismus. Dinge, Stühle, Katzen, Matten und schwarze Löcher verhalten sich nie wie matters of fact [PFS]; Menschen tun es manchmal, (…). Also wäre es absurd, sich dagegen zu wenden, »Menschen wie Objekte zu behandeln.« Schlimmstenfalls würden einfach Menschen mit anderen matters of concern [PFS] in Physik, Biologie, Computerwissenschaft gleichgestellt, Komplexität würde einfach zu Komplexität hinzugefügt. (…) [NSoz:438]30 Auf dieser Basis dreht Latour die Forderung der Humanisten um, Menschen nicht wie Dinge zu behandeln: Bitte, behandelt Menschen als Dinge, bietet ihnen wenigstens den Grad an Realismus an, den ihr bereit seid, einfachen matters of concern [PFS] zuzugestehen, materialisiert sie und, ja, verdinglicht sie so weit wie möglich! [NSoz:438] Selbst wenn die Herleitung dieser Position im Rahmen von Latours Theorieprogramm folgerichtig sein mag, muss sie doch als massive Provokation erscheinen. Dabei irritiert insbesondere, dass eine so schwerwiegende Aussage nur wie nebenbei formuliert wird und keinerlei Bezüge zur Geschichte und zum Bedeutungsumfang des Begriffs berücksichtigt werden.31

7.2.2 Diskussion: Menschen als Dinge behandeln? – ANT und Ethik In Latours Schema der Trennung von Natur und Kultur (vgl. 5.1) wird eine »zweite Dichotomie« behauptet, wodurch »hybride Netzwerke« die Funktionen der »Übersetzung« zwischen »menschlichen« und »nicht-menschlichen Wesen« wahrnehmen, was in Latours Terminologie der »Bindung« entspricht. Bergande weist darauf hin, dass es bei Latours Argumentation darauf ankomme, dass dieser nicht von einem Modus des Als-ob spricht, indem etwa Kunstwerken sub29 An anderer Stelle zeigt Latour an, dass er den Begriff »human« schon hinter sich gelassen hat: »Um es zuzuspitzen: sie sind humans, ich bin Gaian.« [Latour 2014b:3] 30 Im Zitat wurde der Ausdruck »unbestreitbare Tatsache« ersetzt durch »matters of fact«, und der Ausdruck »umstrittene Tatsache« durch »matters of concern«, vgl. 3.2. 31 vgl. den Begriff der »Verdinglichung« in Axel Honneths Theorie der Anerkennung [Honneth 2015]: »Die ganze Idee der Verdinglichung hat eine lange Tradition, geht auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Aufgebracht wurde sie damals durch den Marxisten Georg Lukács, der mit dem Begriff die Tendenz bezeichnen wollte, dass Menschen, menschliche Eigenschaften, zu Waren auf dem Markt werden. Das war die Grundintention. Deswegen sprach er von einer wachsenden Tendenz zur Verdinglichung.« [Honneth, zitiert nach »Die Verdinglichung unter dramatischen Umständen – Rezension von Axel Honneths ›Verdinglichung‹« von Hans-Martin Schönherr-Mann vom 18.01.2016, https://www.deutschlandfunk.de/rezension-von-axel-honneths-verdinglichung-die.700. de.html?dram:article_id=342778)

255

256

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

jekthafte Qualitäten wie Selbstbezüglichkeit und Eigenlogik zugesprochen werden. Die geforderte Gleichwertigkeit von Objekt und Subjekt sei vielmehr wörtlich zu nehmen, was zu deren Austauschbarkeit führen muss: Werden dagegen den Produkten diese Qualitäten realiter zugesprochen, dann setzen sie sich als Fetisch, als vermeintlich sinnliche Inkarnation des psychischen Interaktionsprozesses, den sie vermitteln sollen, an die Stelle der Subjekte. [Bergande 2012:195] Letztlich soll es nach Latour – wie Bergande ebenfalls erwähnt – jedoch nicht darum gehen, (…) Subjektivität auf Dinge zu übertragen oder Menschen als Objekte zu behandeln oder Maschinen als soziale Akteure zu betrachten, sondern (darum), die Subjekt-Objekt Dichotomie ganz zu umgehen und stattdessen von der Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen auszugehen. [Latour 2002:236f.] Danach entscheidet Latour nicht über eine Priorisierung von Objekt und Subjekt, sondern negiert diese Dichotomie und setzt stattdessen die zweite Dichotomie Trennung/ Verbindung als Ausgangspunkt. Doch wie lassen sich bei einer solchen Ausgangslage operationalisierbare Entscheidungen treffen? Können aus Latours Position Handlungsempfehlungen abgeleitet werden? Kann sie ethische und moralische Aspekte aufnehmen? Der Anwendungsfall der Gentechnik zeigt, dass es hierbei nicht lediglich um die Spitzfindigkeiten von Beschreibungen geht, sondern Aspekte von Macht und Ideologie berührt werden, die in eine fundamentale Frage münden: Es ist irgendwie verständlich, dass Sloterdijk mit dem Aufwerfen der Frage, wie Menschen »designt«, das heißt künstlich aufgezogen werden könnten, das alte Phantasma eugenischer Manipulationen heraufbeschworen hat. (…) Ja, Menschen müssen auf artifizielle Weise gemacht und neu gemacht werden, doch alles hängt davon ab, was man unter artifiziell und noch tiefliegender, was man unter »machen« versteht. Wir sind zu Prometheus und der Frage nach der Schöpfung zurückgekehrt. Sind wir fähig, der Gott des intelligenten Designs zu sein? [Prom_dt:370, Hervorhebung PFS]32 Fragen dieser Größenordnung umstandslos dem Design zuzuschlagen, ist nicht unproblematisch. Zwar geht Latour nicht von individuellen Designgöttern aus, die kaum zu legitimieren wären, sondern behauptet ein »völlig neues politisches Terrain« [Prom_dt:369]. Dieses bleibt jedoch im Verhältnis zu den durch die Gentechnik aufgeworfenen konkreten technischen und ethischen Fragen seltsam unbestimmt. Die geforderte Transparenz und Mitwirkung allein erscheinen jedenfalls als unzureichend und naiv, wenn nicht gar als ideologisch motivierte Unschärfe. Diesen Verdacht belegt Bergande vor allem durch die Analyse von Latours Beispielen angeblich moralbegabter Objekte wie Straßenschwellen, Hotelschlüssel, Tür-

32 »Are we able to be the God of intelligent design?« [Prom_eng:11]. Im englischen Original wird der Bezug zu den Kreationisten in den USA deutlich, die mit »intelligent design« die göttliche Schöpfung bezeichnen, was Latour auch diskutiert [Prom_eng:5].

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

schließer und Sicherheitsgurte.33 Eine Pointe liegt darin, dass Bergande, um Latours Ansatz als Ideologie zu kennzeichnen, exakt die Argumente nutzen kann, die der von Latour kritisierte Habermas schon vor Jahrzehnten geliefert hat.34 Es sei zugestanden, dass Latour eher beschreibt und diagnostiziert, während Habermas normativ spricht. Doch eine konditionierte Verhaltensweise als moralisch auszuweisen, wie Latour es tut, ebnet den entscheidenden Unterschied ein, ob aus Einsicht und Selbstbeschränkung gehandelt wird (was moralisch genannt werden kann) oder lediglich einem Sachzwang gefolgt wird (was unmoralisch bleiben kann). Auf diesen Unterschied weist Habermas hin: Einerseits ein Verhalten, das sich aus Abwägungen und »sprachlich vermittelter Interaktion« entwickelt und andererseits ein »zweckrationales Handeln«, das adaptiv erzwungen wird. Diese Differenz zu verschleiern, sieht er als Beweis an für die »ideologische Kraft des technokratischen Bewusstseins«: Die sozialpsychologische Signatur des Zeitalters wird weniger durch die autoritäre Persönlichkeit als durch Entstrukturierung des Über-Ich charakterisiert. Eine Zunahme des adaptiven Verhaltens ist aber nur die Kehrseite einer, unter der Struktur zweckrationalen Handelns sich auflösenden Sphäre sprachlich vermittelter Interaktion. Dem entspricht subjektiv, dass aus dem Bewusstsein nicht nur der Wissenschaften vom Menschen, sondern der Menschen selber die Differenz zwischen zweckrationalem Handeln und Interaktion verschwindet. Die ideologische Kraft des technokratischen Bewusstseins bewährt sich an der Verschleierung dieser Differenz. [Habermas 1969:83, zitiert nach Bergande 2012:211) Latour dagegen beschreibt Sicherheitsgurte als »a moral law inscribed in fibers (…)« mit der Folge: »I cannot be bad anymore.« [Latour 1989:2/3, vgl. 6.1.2]. Auch wenn Latours Tendenz zur frivolen Pointe abgerechnet wird, bleibt doch, dass sich diese erst entfaltet durch die kontraintuitive Aufwertung konditionierten Verhaltens und die damit verbundene, lustvolle Negation des Unterschieds zu traditionellen Moralbegründungen.

7.2.3 Kommunikative Vernunft Habermas Formel der »kommunikativen Vernunft« wird von Latour nicht abgelehnt, aber als reduktionistisch kritisiert, weil darin nur die Teilnahme von Menschen vorgesehen ist. Im »Parlament der Dinge« [PD] brauche es aber auch nicht-menschliche Stimmen. Diese freilich werden von Latour noch sehr unscharf konzipiert:35 DIE ZEIT: Was ist nun der Unterschied zwischen ihrer Politik der Dinge und Habermas ̓ Vorstellung von einer diskutierenden Öffentlichkeit? Latour: Um zum Parlament der Dinge zu gelangen, muss man eine Portion Habermas mit einer Portion Gedanken vermischen, die er entsetzlich fände. Habermas bemüht 33 vgl. 6.1 34 vgl. »Technik und Wissenschaft als Ideologie« [Habermas 1969] 35 vgl. »Die Natur muss ins Parlament« [Latour 2016b], vgl. 8.4

257

258

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

sich ja gerade darum, die menschliche Kommunikation frei von instrumenteller Vernunft zu halten. Die will ich aber in einer verwandelten Form in der Arena laut werden lassen: dadurch, dass stellvertretend für die menschlichen Wesen gesprochen wird. Diese Stimmen mischen sich dann mit den menschlichen Interessen. Für Anhänger von Habermas klingt das monströs. [Latour 2000:o.S.] Latour will eine erweiterte kommunikative Vernunft durchsetzen, die auch die Artikulation nicht-menschlicher Wesen umfasst. Selbst wenn über deren Zulässigkeit Einvernehmen herrschte, bliebe doch die praktische Frage: Wie sollen diese Wesen sich äußern? Hier bleibt Latour unklar und spricht von »spokesperson« (eine sprechende Stellvertretung) und »Sprachverlegenheit«.36

7.2.4 Ideologie und Utopie des Designs Für das Design sind die Zusammenhänge von Ideologie und Utopie schon früh thematisiert worden [vgl. Selle 1973]. Mit der erweiterten Wirkungsmächtigkeit des Designs in digitalen und biologischen Kontexten und dem auf kommenden »interspecies design«37 ist es an der Zeit, wieder stärker die politischen Funktionen und ideologischen Voraussetzungen zu berücksichtigen. Ein Beispiel für die Relevanz dieser Fragen liefert das Stichwort der »Human Centredness«, das auf der Suche nach Gestaltungskriterien nach dem Paradigma des Funktionalismus populär wurde.38 Wenn jedoch anerkannt werden soll, dass der Mensch zu großen Teilen von seiner Umwelt bestimmt wird, können menschliche Attribute nicht zur Grundlage der Umweltgestaltung werden, ohne in einen infiniten Regress zu geraten. Menschliche Eigenschaften können nicht als normative Begründung für Gestaltungsentscheidungen dienen, da diese dafür zuerst selbst normativ festgestellt werden müssten. Dies kann jedoch nicht gelingen, ohne ideologische Maßstäbe zu akzeptieren. Diese logische Lücke mag überspielt werden mit Naivität und Pragmatismus (»make the world a better place«), was jedoch als Kennzeichen einer Gestaltungsideologie erscheinen muss, die sich selbst nicht als solche erkennt.39 Die europäische Perspektive sollte aber ein historisches Bewusstsein ausgebildet haben für die Versuche, eine bessere Welt und bessere Menschen ideologiegeleitet zu produzieren, da diese im 20. Jahrhundert stets zu größten Katastrophen geführt haben. Jürgen Habermas’ Begriff des »Strukturwandels der Öffentlichkeit« [Habermas 1962] wird von Latour nicht erwähnt, obwohl sich hier positive Bezüge zu Latours Ansatz der matters of concern hätten finden lassen.40 Unter diesem Begriff kann eine Vielzahl von Initiativen zur Bezeichnung eben jener neuen Öffentlichkeit zusammen36 PD:298, vgl. 8.6 37 https://www.interspeciesdesign.co.uk, Antonelli, Tannir 2019 und Antonelli, Pietroiusti auf https:// www.youtube.com/watch?v=vB-fXUH1EUs 38 Besonders im Bereich des Interface- und Service-Designs US-amerikanischer Prägung wurden Slogans formuliert wie »defending human attributes in the age of the machine« [Norman 1993]. 39 vgl. die Versuche, für eine »gute Gesellschaft« zu gestalten, A 5.1.3 40 Habermas Titel ist nach vierzig Jahren sprichwörtlich geworden und dient auch als Vorlage für die Frage nach einem »Strukturwandel der Öffentlichkeit 2.0«, www.bpb.de/veranstaltungen/dokumentation/129698/strukturwandel-der-oeffentlichkeit-2-0

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

gefasst werden, die Latour vielleicht im Sinn hat, wenn er vom »neuen politischen Terrain« [Prom_dt:370] spricht. Allerdings zeigt sich hier, dass Habermas’ Ansatz allein dafür nicht ausreicht, wie Wolfram Hogrebe feststellt: Seine sprechakttheoretische Basis (…) ist viel zu schmal, um die szenisch ausdifferenzierten Modi kommunikativen Handelns angemessen szenisch diskutieren zu können (…). [Hogrebe 2019:74] Hogrebe postuliert, dass Habermas eine neue Ontologie zwar fordere, diese aber nicht eingelöst habe. Eine Ontologie, die beides umfasst, also den Bezug zur sozialen ebenso wie zur objektiven Welt, »ist in der Philosophie nicht ausgebildet worden. Diesen Mangel soll die Theorie des kommunikativen Handelns wettmachen.« Sie macht diese Fehlanzeige (…) aber gar nicht wett, sondern überspringt lediglich das eigentliche ontologische Problem, nämlich das unserer szenischen Existenz. In dieser ist der doppelte Bezug, den Habermas anmahnt, bereits vorhanden. [Hogrebe 2019:73, Habermas zitierend] Die von Hogrebe entwickelte »szenische Metaphysik« bietet sich als Lösung an (vgl. C 8.5.2). Diese geht von einem Raumbegriff aus, der immer schon vorgängig strukturiert ist und damit einwirkt auf das Was und Wie, die in diesem Raum verhandelt und kommuniziert werden können. Die Forderung nach gewaltfreien Räumen muss daher ins Leere gehen, ebenso wie die Forderung nach »herrschaftsfreier Kommunikation«, die bei Habermas postuliert wurde.41 Als sinnvolle Forderung erscheint nur, ein Austarieren der Gewalten zu fordern.42

7.3 Martin Heidegger: Ontologie, Ding und Nähe Die Bezüge Latours auf Heidegger sind wie die zu den meisten Autoren nur wenig explizit. Dabei scheinen beide ähnliche Ziele zu verfolgen: Heidegger liefert eine Neubestimmung des »In-der-Welt seins«43 während Latour eine Neufassung der »weltbildenden Aktivitäten« [RA:561] beschreibt. Beide gehen jedoch unterschiedliche Wege. Latour widerspricht Heideggers Position, beansprucht aber, eine Lösung für dessen Aufgabenstellung zu liefern.

41 Dies wurde schon von der zeitgenössischen Kritik bei Erscheinen der »Theorie des kommunikativen Handelns« bemerkt: »Sein Gestus ist ein aufklärerischer, die unerbittlich menschenfreundliche Einladung: Kommt schon, hier oben ist noch Platz; in Wahrheit ist nur hier oben Platz!« [Michel 1982:210]. 42 »Gewaltfreie Räume sind durch ein Defizit an Gewaltpräsenz der drei Gewalten definiert, daher ein negativer Begriff.« [Hogrebe 2019:78] 43 Heidegger: Sein und Zeit 1993/1927:63ff.

259

260

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

7.3.1 Das Ding Martin Heideggers Begriffe des »Zeug« und des »Ding« [Heidegger 1962] sind populäre Bezugspunkte für Ref lexionen zur Alltagswelt. Sie wurden auch für die Design-, Informatik- und Medientheorie bereits früh entdeckt und genutzt.44 Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn auch Latour sein Konzept der matters of concern auf Heideggers Begriff des »Ding« bezieht. Dabei folgt Latour Heideggers historischem Bezug zum »Thing« der alten Germanen, auf dem angeblich alle die Gemeinschaft betreffenden Angelegenheiten besprochen und entschieden wurden. Allerdings bleibt fraglich, inwiefern dieser Bezug tragfähig ist in Relation zu den von Latour geforderten Qualitäten eines »neuen politischen Terrains« [Prom_dt:370]. Zu vermuten ist wohl, dass auf einem »Thing« die Wortführer der Stämme versucht haben, ihre jeweiligen Anliegen durchzusetzen, und zwar mit verbalen oder praktischen Mitteln, die hinter jeder demokratischen Debattenkultur und erst recht hinter jeder darüberhinausgehenden Qualität weit zurückblieben. Auch Sloterdijk hatte sich in seinem Text »Das Zeug zur Macht« [Sloterdijk 2010, vgl. 7.1] auf Heidegger bezogen, was von Latour kommentiert wird: Peter asks his master Heidegger the rather mischievous questions: »When you say Dasein is thrown into the world, where is it thrown? What’s the temperature there, the color of the walls, the material that has been chosen, the technology for disposing of refuse, the cost of the air-conditioning, and so on?« Here the apparently deep philosophical ontology of »Being qua Being« takes a rather different turn. Suddenly we realize that it is the »profound question« of Being that has been too superficially considered: Dasein has no clothes, no habitat, no biology, no hormones, no atmosphere around it, no medication, no viable transportation system even to reach his Hütte in the Black Forest. Dasein is thrown into the world but is so naked that it doesn’t stand much chance of survival. [Latour 2009a:140] Es geht Latour um eine Konkretisierung des In-der-Welt-Seins, wie es von Heidegger beschrieben wurde durch die Anerkennung der dazu notwendigen materiellen Grundlage, die durch eine Vielzahl von Aktanten geleistet wird. Daher kann er Sloterdijk zustimmen, wenn der sich gegen Heideggers »katholische Dingandacht«45 ausspricht: Wer sie sinngetreu in die Tat umsetzte, wäre kein souveränitätssuchender kompetentinkompetenter Benutzer von Zeug zur Macht, sondern ein Meditierer und ein dingfrommer Empfänger von Geschenk im Gewand von Werkzeug, Stoff und Lebensmittel. Cum grano salis entspräche dies einer katholischen Handwerks- und Bauernphilosophie; für diese beginnt jeder Gebrauch von Werkzeugen oder Apparaten rechtens immer mit einer Dingandacht, so wie das Essen mit einem Tischgebet. Auf diese Weise ist 44 vgl. Winograd/Flores 1986/1983, Bonsiepe 1991, Fry 1993, Capurro 2001. Dabei sind häufig Verkürzungen und Missverständnisse entstanden, die zum Teil schlicht auf Übersetzungsprobleme zurückzuführen sind. So weist Wolfgang Coy darauf hin, »(…) dass amerikanisierte Neo-Heideggerismen eingeführt werden, die keine Entsprechung in deutschen Originalen haben.« [Coy 1989:310] 45 Hier kann ein biografischer Bezug hergestellt werden, da Latours intellektueller Ausgangspunkt eine Beschäftigung mit Charles Péguy und der katholischen Theologie war [vgl. Schmidgen 2011:27].

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

noch kein Designer entstanden. (…) Alles Design entspringt aus einer Anti-Andacht (…). [Sloterdijk 2010:306] Allerdings wird nicht klar, warum das Design nicht mit einer Andacht im Sinne einer Einfühlung in die gegebenen Umstände beginnen sollte, bevor dann beherzt eingegriffen und umgeformt wird.46 Latour geht in seinem Bezug zu Heidegger nicht ins Detail und verpasst daher dessen Begriff der »Nähe«, aus dem der Begriff des »Ding« erst entwickelt wird. Dieser wäre aber entscheidend, wenn es darum geht, die Concerns genauer zu bestimmen und jeweils angemessene Darstellungs- und Beteiligungsformen zu entwickeln.

7.3.2 Heideggers »unmögliches Projekt« Zu den wenigen expliziten Bezügen Latours auf Heidegger gehören diese Aussagen: Die Netze sind voller Sein. (…) Wir führen das unmögliche Projekt Heideggers durch. [NMod:90/91] Was ist das »unmögliche Projekt« Heideggers und wie kann es durchgeführt werden? Ein Hinweis wird gegeben mit dem Begriff des Seins, den Latour auf seine zentrale Kategorie der Netze bezieht. In der Mikroperspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie zeigen sich viele vernetzte Aktanten, denen Latour »Sein« zuspricht. Bei diesen Aktanten kann es sich um Menschen, Artefakte oder Natur handeln, denn Latour bezieht seinen Begriff der Gesellschaft auch auf die Populationen von Sternen und Bakterien.47 Latour will mit seinem Programm der ANT dieser vorgängigen, meist übersehenen, recht- und sprachlosen Dimension des Seins zur Erscheinung verhelfen. So entwickelt er in einer explizit ontologisch ausgerichteten Untersuchung eine Systematik der »Existenzweisen« [Exw, MEx].48 Heidegger behauptet, dass die bisherige Philosophie sich nur mit dem Seienden beschäftigt habe, nicht aber mit dem vorgängigen Sein, welches das Seiende erst ermöglicht. An diese ontologische Fragestellung schließt Latour an, während er Heideggers Position ablehnt: »Doch Heidegger hat unrecht.« [Latour 2002:214]. Auf diese Ambivalenz weist Graham Harman hin: Latour does not like Heidegger, Heidegger would not have liked Latour, and their readership overlaps in a mere handful of people. [Harman 2009:146] Andererseits erkennt Harman die Möglichkeit und Notwendigkeit, Latour und Heidegger zu verbinden: (…) one of the aims of this book is to join Latour with Heidegger. [ibid.:146]

46 vgl. Chesterton 2015/1908:216, A 5.2.1 47 so Tardes Beispiele, die von Latour positiv aufgenommen wurden, vgl. 7.4 48 vgl. Laux 2016

261

262

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Um die Widersprüche zu illustrieren, zitiert Harman eine Aussage Latours, auch wenn Heidegger dabei nicht explizit erwähnt wird. Latour widerspricht hier der bekannten Auffassung Heideggers, dass der Mensch der Hüter und Hirte des Seins sei: Who told you that man was the shepherd of being? Many forces would like to be shepherd and guide the others as they flock to their folds to be sheared and dipped. In any case there is no shepherd. There are too many of us, and we are too indecisive to join together to a single consciousness strong enough to silence all the other actors.« [PF:194, zitiert bei Harman 2009:24]

7.3.3 Die Gründungsszene der ANT: »Irreductions« Wenn Heideggers Differenzierung von Sein und Seiendem nachvollzogen wird, öffnet sich eine neue Perspektive, die ebenso wie Latours Ansätze zu einer neuen Wahrnehmung führen können.49 Latours Ontologie beschreibt diese Verschiebung als Gründungsszene der Akteur-Netzwerk-Theorie, die ihm wie eine Erleuchtung erschienen sei:50 I knew nothing, then, of what I am writing now but simply repeated to myself: »Nothing can be reduced to anything else, nothing can be deduced from anything else, everything may be allied to everything else«. (…) And for the first time in my life I saw things unreduced and free. [PF:163] Diese Szene von 1972 liefert nach Latour den Impuls für ein Programm, das er 1984 unter dem Titel »Irreductions« als Anhang zu »The Pasteurization of France« veröffentlicht.51 Hier werden die Axiome systematisiert und mit Dezimalklassifikation dargestellt ähnlich wie in Wittgensteins Tractatus. Das erste Kapitel enthält unter anderem folgende Axiome: 1.1.1 Nothing is, by itself, either reducible or irreducible to anything else. (…) 1.1.5.1 The real is not one thing among others but rather gradients of resistance. (…) 1.1.5.4 Nothing is known – only realized. (…) 1.1.9 An actant can gain strength only by associating with others. (…) 1.1.14.1 Order is extracted not from disorder but from orders. (…) 1.2.1 Nothing is, by itself, the same or different from anything else. That is, there are no equivalents, only translations. In other words, everything happens only once, and at one place [PF:158-162] 49 Diese Perspektive wird in der westlichen Philosophie allenfalls in den Überlieferungen von Mystikern angesprochen, während sie in der östlichen Philosophie jedoch zentrale Bedeutung hat. Die Bezüge zwischen Heideggers Ansatz und chinesischen und japanischen Denktraditionen sind offenbar [vgl. May 2014]. Bei Heidegger selbst wird diese Verbindung jedoch kaum erwähnt. 50 »(…) I was forced to stop, brought to my senses after an overdose of reductionism.« [PF:162], zitiert und kommentiert u.a. von Graham Harman [Harman 2009:13], Schmidgen 2011:110, Tellmann 2014:o.S., zum Thema von Gründungsszenen allgemein vgl. Koschorke 2007 51 Dieses beinhaltet laut Latour den Kern seiner Philosophie: »Any argument about my philosophy has to start with ›Irreductions‹, which is a totally orphan book.« [Latour am 11.11.2005, zitiert nach Harman 2009:12]

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

Diese letzte Bestimmung könnte mit Heideggers Denken des Ereignisses in Verbindung gebracht werden.52 Latour belässt es jedoch bei den wenigen Andeutungen in Bezug auf Heidegger, und die hier zu verfolgenden Bezüge zum Design sollten nicht darüber hinausweisen. Philosophisch allerdings mag es interessant erscheinen, weitere Dimensionen zu beschreiben.53

7.4 Gabriel Tarde: Die »Ökonomie der leidenschaftlichen Interessen« Der französische Jurist Gabriel Tarde (1843-1904) entwickelte um 1900 eine Soziologie, die mit allen bisher gültigen Vorstellungen brach, kurzzeitigen Erfolg hatte und danach wieder in Vergessenheit geriet.54 In Tardes Ansätzen erkennt Latour eine frühe Version der Akteur-Netzwerk-Theorie: Man kann sagen, dass Tarde die Mikrogeschichte viele Jahrzehnte vor ihren Entdeckern erfunden hat, so wie er auch ANT erfunden hatte, lange bevor wir die leiseste Ahnung davon besaßen, wie ein Netzwerk aussieht. [Latour 2001:8] Latour geht so weit, Tarde vorzustellen als »(…) meinen nicht vollkommen respektablen Großvater (…)« [Latour 2001:2/3] und »Gründer der Akteur-Netzwerk-Theorie« [ÖkW:17].55 Tarde prägte das Credo »Existieren heißt differieren …« [Tarde 2009/1893:71] und lieferte eine Vielzahl von Anregungen, die auf die Gebiete der Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Anthropologie und (Evolutions-)Biologie ausstrahlen. Er gilt als Anreger einer »frühen Soziologie der Differenz« [Balke 2009] und war ein wichtiger Einf luss für Deleuzes »Différence et Répétition«.56 Für das hier verfolgte Ziel, Positionen der ANT für Aufgaben des Transformation Designs fruchtbar zu machen, ist Tardes Auffassung der Ökonomie entscheidend, wie sie 1902 als »Psychologie Économique« (im Folgenden PE) veröffentlicht wurde. Latour sieht darin eine »Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen«, für die er als CoAutor eine Einführung schrieb [ÖkW]. Bei dieser euphorischen Rezeption Tardes durch Latour bleibt unverständlich, warum Latour seinen zentralen, aber unscharf gebliebenen Begriff der matters of concern 52 vgl. Heidegger 2013/1938 53 vgl. Harman 2009. Hier schließt die Frage an, ob nicht die »Modernität als ontologischer Ausnahmezustand« [Makropoulos 1989] aufzufassen sei, vgl. Gumbrecht 1978. 54 Etwa zeitgleich mit Gabriel Tardes »Psychologie Économique« erschienen weitere Versuche einer alternativen Betrachtung der Ökonomie: Georg Simmels »Philosophie des Geldes« (1900) und Rudolf Steiners »Nationalökonomischer Kurs« (1922). 55 Latour spielt sogar Tardes Rolle in einem Reenactment einer Diskussion mit Émile Durkheim, der dessen Nachfolger am Collège de France wurde, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=C1TGYXXWUe0, Transkription auf Englisch unter www.bruno-latour.fr/sites/default/files/related_content/ TARDE-DURKHEIM-GB.pdf, vgl. das Reenactment von Louis Pasteur 1999, vgl. 9.2 56 Deleuze 1992/1968:107

263

264

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

nicht mit dem bei Tarde gefundenen Konzept der »leidenschaftlichen Interessen« verbindet. Während sich Latour bei den matters of concern nur auf deren Kontroversen fokussiert, erkennt Tarde in den »leidenschaftlichen Interessen« den Kern wirtschaftlichen Handelns. Die »Verf lechtung der Begehren und Überzeugungen« [ÖkW:98] wird bei Tarde zum Ausgangspunkt der ökonomischen Dynamik. Dies hat wesentliche Folgen für die Bestimmung der Aufgaben des Designs, für die Latour nur eine Visualisierung der matters of concern gefordert hatte: Durch die Neubestimmung und erweiterte Wirkungsmächtigkeit der Concerns erweitert sich die Designaufgabe zur anteiligen Gestaltung der Concerns selbst (vgl. Teil C). Damit entfällt ein seit langem diskutierter Widerspruch zwischen den sozialen Zielen des Designs und dessen wirtschaftlicher Nutzung. Das Design von Concerns interveniert in die »Verf lechtung der Begehren und Überzeugungen« [ÖkW:98], gestaltet anteilig deren Inhalte und Erscheinungsformen und organisiert die begleitende Kommunikation.

7.4.1 Grundlagen von Tardes Sozialtheorie Die Grundlagen für Tardes »Metaphysik der Sozialtheorie« [Latour 2001:17] können hier nur angedeutet werden.57 Sie liegen in einer Übernahme von Leibniz’ Theorie der Monade (1714), weshalb Tardes Ansatz auch als »Neo-Monadologie« [Runkel 2017:53] verstanden werden kann. In deren »sehr offenen und weniger anthropozentrierten Begriffsverständnis des Sozialen« [Runkel 2017:53] findet Latour einen Anknüpfungspunkt für seine Perspektive, die überall Gesellschaften sieht: »everything is a society« [ÖkW:148]. Für Tarde existiert keine prinzipielle Grenze zwischen organischen und nicht-organischen Gesellschaften, so wie dies auch in der Perspektive der ANT der Fall ist. Gesellschaften von Sternen oder Bakterien – so Tardes Beispiele – lassen sich nur von außen betrachten und die Zahl ihrer Mitglieder ist groß und f lüchtig, sodass sich die Wissenschaften bei ihrer Erforschung auf Statistik und strukturelle Gesetze stützen müssen. Menschliche Gesellschaften sind nach Tarde davon nicht prinzipiell unterschieden, außer dass die Zahl ihrer Mitglieder vergleichsweise klein ist und Forscher sie von innen beobachten können und müssen. Diese Nähe sollte als ein Privileg verstanden werden, das es ermöglicht, von Individuen auszugehen und ihnen bei der Bildung von Aggregationen nahtlos zu folgen, statt einen Sprung vom Einzelnen zum Strukturgesetz machen zu müssen, wie es in den Naturwissenschaften notwendig ist. Aus dieser epistemologischen Prämisse ergeben sich weitreichende Folgerungen, die zunächst ungewohnt und kontraintuitiv wirken mögen. Sobald die neue Perspektive aber einmal akzeptiert ist, kann sie logisch weiterentwickelt werden – ähnlich wie bei Latours Ansätzen. Dabei zeigt sich eine Eigenschaft, die von Tarde in den »Sozialen Gesetzen« beschrieben wurde: Im Allgemeinen ist in einem Satze mehr Logik zu finden als in einer Abhandlung, in einer Abhandlung mehr als in einer Folge oder Gruppe von solchen, in gleicher Weise ist ein spezieller Ritus logischer als ein ganzes Glaubensbekenntnis, ein Gesetzesartikel logischer als eine ganze Gesetzessammlung, eine besondere wissenschaftliche 57 Eine kurze Einführung bietet Latour im Vorwort der deutschen Ausgabe von »Monadologie und Soziologie« [Tarde 2009/1893].

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

Theorie logischer als ein ganzer Wissenschaftskörper; mehr Logik steckt auch in der einzelnen vom Arbeiter ausgeführten Arbeit als in seiner Gesamtaufführung. [Tarde 2009/1908:82] Latour kennzeichnet diese Perspektive als (…) umgekehrten Reduktionismus, da das Kleine immer das Komplexere ist (…). [Latour 2001:8]

7.4.2 Wiederholung, Opposition, Anpassung Die »sozialen Gesetze« bestimmt Tarde als: »Répétition, Opposition, Adaption des phénomènes« [Tarde 2009/1898]. Mit diesen Kategorien versucht er, die soziale Dynamik als »Assoziations- und Ansteckungsprinzip« [ÖkW:97] zu beschreiben, ohne auf übergeordnete Erklärungsmuster wie Kontext, Struktur, Darwinismus, Dialektik oder Marktgesetze zurückgreifen zu müssen. Die Wiederholung und die Nachahmung stehen am Anfang der individuellen Entwicklung. Neuerungen entstehen durch Widerstand und Abweichung, bevor schließlich Adaption und Normalisierung einsetzen. Diese Abfolge wird als Punkt-zu-Punkt-Verhältnis der »Verf lechtung der Begehren und Überzeugungen« [ÖkW:98] konzipiert, und dieses »Drama in drei Akten« [ÖkW:51] ist es auch, das soziale Innovationen hervorbringt als »Exposition« (Wiederholung, Verbreitung) »Erfindung« (Differenz, Verdichtung) und »Normalisierung« (Lösung) [ÖkW:92/51] Diese Beschreibung wird aktuell wiederentdeckt und diskutiert als »(…) Beitrag zur Mikrofundierung einer Soziologie der Innovation« [Howaldt et al. 2014]. Der Bezug zu den Themen des Transformation Designs sollte offenbar sein, denn auch das Design wird vom Code »Irritation und Normalisierung« bestimmt (vgl. C 2.6.1).

7.4.3 Quantifizierung des Sozialen? Um eine wissenschaftlich akzeptable Soziologie58 entwickeln zu können, ist die Frage nach der Quantifizierbarkeit essenziell. Die alte Opposition lautete: Naturwissenschaften arbeiten mit quantifizierbaren Größen und gelten daher als solide Wissenschaft, während die Sozialwissenschaften qualitativ arbeiten und wissenschaftliche Ansprüche daher nur ungenügend erfüllen können. Somit wurde implizit vorausgesetzt, dass die kalten Zahlen der Ökonomie die »leidenschaftlichen Interessen« nicht oder nur sehr unvollkommen abbilden können. Tarde behauptet jedoch das Gegenteil:

58 Tarde nennt sie »Inter-Psychologie«: »Er unterscheidet immer sehr sorgfältig zwischen der Intra-Psychologie, mit der er sich nicht beschäftigt, und der Inter-Psychologie, die synonym mit Soziologie ist.« [Latour 2001:13, Fußnote 17]

265

266

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die Tendenz, die ökonomische Wissenschaft zu mathematisieren, und die Tendenz, sie zu psychologisieren sind keineswegs miteinander unvereinbar, sondern sollten sich in unseren Augen gegenseitig stützen. [Tarde 1902:141, ÖkW:91/92]59 Nach Tarde gilt es, mehr zu quantifizieren, denn nur was quantifizierbar ist, hat Wert. Der Wert als zentraler Begriff der Ökonomie wird von Tarde zwar als subjektiv, aber auch als quantifizierbar definiert: Er [der Wert, PFS] ist eine den Dingen von uns zugeschriebene Qualität, die jedoch in Wirklichkeit, wie die Farbe, nur in uns mit einer gänzlich subjektiven Wahrheit existiert. Er besteht in der Übereinstimmung der kollektiven Urteile über die Tauglichkeit der Objekte begehrt oder genossen zu werden, an die mehr oder weniger und von einer mehr oder weniger großen Anzahl von Personen geglaubt wird. Diese Qualität gehört demnach zur singulären Art jener Qualitäten, welche die Bezeichnung Quantität verdienen, da sie geeignet erscheinen, zahlreiche Abstufungen aufzuweisen und auf dieser Stufenleiter auf- oder abzusteigen, ohne ihre Natur wesentlich zu verändern. [PE-1:63, ÖkW:15] Tarde unterscheidet »den Wahrheitswert, den Nützlichkeitswert und den Schönheitswert«60 und stellt fest: Wenn man diesen wahrhaft quantitativen Charakter, auf jeden Fall aber de jure und de facto messbaren Charakter verkennt, den Macht, Ruhm, Wahrheit, Schönheit besitzen, so stellt man sich gegen das konstante Empfinden der Menschengattung und sieht im Ziel der allgemeinen Anstrengung nur eine Chimäre. [PE-1:67, ÖkW:20] Maßeinheiten für Macht, Ruhm, Wahrheit und Schönheit zu finden, mag um die vorletzte Jahrhundertwende noch fantastischer geklungen haben als heute, doch Tarde besteht darauf, dass solche Quantifizierungen nicht nur möglich, sondern notwendig sind und darüber hinaus auch vorgängig zu anderen Formen ökonomischer Messung etwa durch Geld. Latour interpretiert Tarde: Die Ökonomen quantifizieren nicht genug alle die Bewertungen, zu denen sie Zugang haben. Oder vielmehr, gehen nicht weit genug zurück, kontinuierlich, bis zu den sich überkreuzenden Vektoren und Tensoren des Begehrens und der Überzeugung, die, wenn man so sagen darf, den Grund der sozialen Materie bilden. [ÖkW:21] Heute, unter den Bedingungen allgegenwärtiger digitaler Netze mag diese Beschreibung schon realistischer klingen, denn jede Kommunikation und jede Interaktion werden vermessen, sodass quantifizierbare Werte ablesbar sind. Wird die soziale Dynamik in vernetzten Systemen nicht selbstverständlich als Nachahmung, Ansteckung und Innovation beschrieben?61 Hier öffnet sich eine Perspektive für das Design von 59 Tarde 1902: Psychologie Économique, im Folgenden PE-1, zitiert nach ÖkW 60 PE-1:63, ÖkW 2010:19 61 Sogar eine Parallele zur Blockchain-Technologie und deren Distributed Ledger liegt nahe, da dort jede Transaktion auf einer Vielzahl von Akteuren beruht, die Differenzen messen und durch Kopien beglaubigen. Davon wurde der Slogan der Kryptowährung Bitcoin abgeleitet: »Vires in Numbers«.

7 Bezüge auf Sloterdijk, Habermas und Heidegger sowie Tarde

Concerns, die sich nicht im Widerspruch zur Ökonomie, sondern – im Gegenteil – auf deren Basis entfaltet, dem »Grund der sozialen Materie«?

7.4.4 Ökonomie und Ökonomik Tarde behauptet, dass das ökonomische Handeln bisher nur sehr unvollständig verstanden und beschrieben wurde. Traditionelle Darstellungen seien lediglich als Ökonomik aufzufassen, die sich mit Sonderfällen des Warentauschs beschäftigten, während vielfältiges ökonomisches Handeln in jeder sozialen Interaktion wirksam, aber bisher unberücksichtigt geblieben sei. Nach Latour stellt Tarde die bisherige Ökonomie infrage als Eine desinteressierte Wissenschaft vom Interesse, die vollständig darauf gegründet ist, Interessen zu verteidigen? (…) Man verwechsle nicht länger die Ökonomik, die Ökonomie als Disziplin – nie war dieses Wort angemessener –, mit der Ökonomie als Sache. Zwischen Ökonomik und Ökonomie muss man sich entscheiden. Letztere bleibt immer noch ein unbekannter Kontinent, weil erstere, damit beschäftigt, sie performativ darzustellen, ständig ihre wahre Zusammensetzung geflohen hat. [ÖkW:48] Das Programm laute daher: Die ökonomische Aktivität der szientistischen Prätention entreißen. [ÖkW:63] Dass Latour das Verhältnis von ökonomischer Aktivität und Ökonomik so interpretiert, verwundert nicht, denn es entspricht seiner Auffassung, wonach zwischen dem Sozialen und der Soziologie ebenso zu unterscheiden sei wie zwischen der Ökonomie und der Ökonomik.62 Latours Aussage, nach der die Ökonomik ständig damit beschäftigt sei, die Ökonomie performativ darzustellen, kann daher analog auf seine Arbeiten bezogen werden: Die ANT lehnt es ab, Beschreibungen zu liefern, die ihren Gegenständen durch unzulässige Abstraktion äußerlich bleiben. Sie will mit ihren Beschreibungen den Phänomenen entsprechen und das soziale Geschehen performativ darstellen (vgl. das »Beschreibungsgeschäft«, 8.4). Latour findet daher in Tarde zu Recht einen Vorläufer seines Programms, wenn er bemerkt: (…) weil er nie die Gesellschaft dem Individuum entgegensetzt, sondern der Ansicht ist, dass beide nur provisorische Aggregate sind, partielle Stabilisierungen, Knoten in Netzen, die den Begriffen der üblichen Soziologie vollkommen entgehen. [Latour 2001:17] Die neue, von Tarde begründete Perspektive erkennt Latour in einer Öffnung des Blickwinkels ökonomischer Betrachtung, denn bei Tarde zählen dazu nicht nur die Verhältnisse der Warenproduktion, sondern generell alle Austauschprozesse von Intensitäten und Leidenschaften, Energie, Vertrauen und Risikobereitschaft.63 Damit ist die ökonomische Aktivität nicht eingebettet in ein soziales Geschehen, das auch 62 Im Hinblick auf Latours Anspruch, »das unmögliche Projekt Heideggers durchzuführen«, könnte ergänzt werden: Ebenso ist zu unterscheiden zwischen dem Sein und dem Seienden, vgl. 7.3. 63 vgl. ÖkW:56

267

268

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

noch andere, unökonomische Bereiche hat, sondern alles soziale Handeln ist ökonomisch, da es von Austauschprozessen geprägt ist. Die Konversation nimmt dabei eine zentrale Rolle ein (was ein längeres Zitat rechtfertigt): Die Konversation ist ein Thema, das den Ökonomen ganz besonders interessiert. Es gibt keine ökonomische Beziehung zwischen Menschen, die nicht zunächst begleitet wäre von Worten, gesprochenen Worten oder geschriebenen, gedruckten, telegrafierten, telefonierten. (…) Und wie sind im Übrigen diese Bedürfnisse der Produktion und der Konsumtion, des Verkaufs und des Kaufs entstanden, die durch den dank Konversationen vollbrachten Austausch gegenseitig befriedigt werden? Meist wiederum nur dank Konversationen, die die Idee eines neuen zu kaufenden oder zu produzierenden Produkts von einem Gesprächsteilnehmer zu einem anderen verbreitet haben und mit dieser Idee das Vertrauen in die Qualitäten dieses Produkts oder seinen baldigen Absatz, schließlich den Wunsch, es zu konsumieren oder zu fabrizieren. (…) Wenn in Paris nur für acht Tage die Konversationen verstummten, so würde man bald die eigenartige Verringerung der Anzahl der Käufe in den Läden bemerken. Es gibt demnach keinen mächtigeren Chef der Konsumtion und in der Folge keinen mächtigeren, wenn auch indirekten Produktionsfaktor als das Geplauder der Individuen in ihren Mußestunden. [PE-1:139, ÖkW:70/71, dort wird S. 195 angegeben] Was Tarde dem Warenverkehr attestiert, gilt radikaler gedacht auch für die von ihm als ursprünglicher gefassten Verhältnisse des Vertrauens und des Glaubens und erst recht für die »Verf lechtung der Begehren und Überzeugungen« [ÖkW:98]: Sie sind nicht nur Gegenstand der Kommunikation, sondern sie entstehen im Wesentlichen in der Kommunikation und damit in der Nachahmung, Abweichung und Innovation (um Tardes Begriffe zu gebrauchen). Die von Tarde genannten Werte wie Macht, Ruhm, Wahrheit und Schönheit sind wie von ihm behauptet quantifizierbar nur durch den Umstand ihrer mehr oder weniger intensiven Darstellung und Diskussion von Personen in mehr oder weniger relevanten Positionen und Netzen.64 An dieser Stelle öffnet sich ein Weg, um Ökonomie und Ökologie zusammenzudenken: Concerns/leidenschaftliche Interessen bilden sich in sozialen Interaktionen und wirken als temporäre Verdichtungen, Intensitäten und Musterbildungen wiederum auf diese ein (vgl. Teil C – Der Concern Ansatz).

64 Mit dieser Einsicht setzt die »Soziometrie« [Moreno 1995] ein, die von Latour erstaunlicherweise nicht genannt wird.

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

Latour zu lesen und seine Positionen zu diskutieren setzt voraus, seiner speziellen Diktion zu folgen. Sprach- und Theoriekritik sind bei der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) nicht zu trennen. Eine Bewertung der Argumente Latours kann daher nicht ohne eine Analyse seiner Sprachform auskommen. Versuche, neue Sprachformen einzuführen, können leicht als »Jargon« diskreditiert werden.1 Es gibt jedoch eine Notwendigkeit, neue Ausdrucksformen einzuführen, denn mit traditionellen Begriffen sind mögliche Aussagen begrenzt und ontologische Annahmen impliziert.2 Die wechselseitige Bedingtheit von Inhalt und Medium ist daher ein zentraler Aspekt des Theoriedesigns. Latour ist ganz in seinem als Element als Erfinder und Erzähler von fantastischen, aber plausiblen Geschichten, die elegant und unterhaltsam vorgetragen werden. Die Bewertungen seiner Ausdrucksformen liegen zwischen originell und abwegig. Dabei wird anerkannt, dass seine Begriffe nicht nur periphere Bedeutung haben, sondern geradezu den Kern seines Ansatzes ausmachen: Gerade die Brüche und Inkohärenzen, die gezielte Missachtung der Regeln wissenschaftlichen Sprachgebrauchs sind es, die Latour und die Akteur-Netzwerk-Theorie nicht nur populär gemacht haben, sondern auch den Kern des gesamten Projekts ausmachen. [Greif 2005:57, vgl. Gutmannsbauer 2017:92]

1 vgl. Adornos Heidegger-Kritik 2 vgl. Wittgensteins Einsicht: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« [Wittgenstein Tractatus, Satz 5.6], die ein Ausgangspunkt war zum linguistic turn der Philosophie. Über die Frustration mit der sprachlichen Formulierung von avancierten Theorieentwürfen schreibt Niklas Luhmann exemplarisch: »Es gehört zu den schlimmsten Eigenschaften unserer Sprache (und die Gesamtdarstellung der Systemtheorie in diesem Buche ist aus diesem Grunde inadäquat, ja irreführend), die Prädikation auf Satzsubjekte zu erzwingen und so die Vorstellung zu suggerieren und schließlich die alte Denkgewohnheit immer wieder einzuschleifen, dass es um ›Dinge‹ gehe, denen irgendwelche Eigenschaften, Beziehungen, Aktivitäten oder Betroffenheiten zugeschrieben werden.« [Luhmann 1991/1984: 115]

270

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

8.1 Latours Sprachform Latour liefert eine Vielzahl unterschiedlicher Sprachgenres: So verfasst er einen Bericht über das Scheitern eines Verkehrs-Projekts als Dialog-Roman [Latour 2002/1993], schreibt ein Hörspiel [Latour 2011a], erfindet einen fiktiven Dialog mit einem Doktoranden [NSoz:244-271], schreibt eine Serie von Briefen an eine abwesende Studentin [Latour 2016] und präsentiert ein fiktives Planetarium als neuen Blick auf vertraute Verhältnisse [Latour 2019]. Er schreibt eher literarisch als wissenschaftlich, oft redundant, metaphernreich und pathetisch, integriert Fotos, Diagramme und Comics. Bei all dem pf legt er einen speziellen Humor, der in der französischen Tradition des esprit durchaus erkenntnisleitend sein kann.3 So wird einem Verkehrsmittel Liebeskummer attestiert4 und bei einem Sicherheitsgurt werden moralische Dilemmas in der Dimension klassischer Dramen gefunden.5 Latours Stil steht im Gegensatz zu angloamerikanischen Formen, die den globalen Wissenschaftsbetrieb dominieren und deren Ideal die knappe Formulierung ist. Aus dieser und auch aus der deutschen Perspektive werden die französischen Meisterdenker wie Foucault, Derrida, Serres, Lyotard und Lacan häufig mit einer Mischung aus Bewunderung und kritischer Distanz oder gar offener Ablehnung wahrgenommen.6 So wurde in Bezug auf Latours Buch »Wir sind nie modern gewesen« kritisiert: Der Text steht erkennbar in der französischen Tradition bahnbrechender Essays (…). Latour positioniert seinen Beitrag mit beachtlichem Geschick auf der Arena der ganz großen Texte und schreibt mit lässiger Selbstverständlichkeit innerhalb eines auserwählten Kreises von hommes des [sic!] lettres. Er verlangt Lesern, die mit dieser Selbstpositionierung und der teilweise atemberaubenden Arroganz des Subtextes nicht übereinstimmen, viel Entgegenkommen ab. [Rottenburg 2008:401, Fußnote 2] Allerdings wird nicht geklärt, wie Latour diese Positionierung erreicht, worin sein »beachtliches Geschick« besteht oder worauf sich die »atemberaubende(n) Arroganz des 3 Zum Unterschied des französischen und deutschen Denkens hatte Friedrich Schiller bemerkt: »Wir gebildeten und besonders ästhetisch gebildeten Deutschen wollen immer aus dem Beschränkten ins Unendliche gehen, und werden also den Geist ernsthafter nehmen und in das Tiefe und Ideale setzen; der Franzose hingegen wird sich seines absoluten Vermögens mehr durch das freie Spiel der Gedanken bewußt, und wird also schon mit dem Witz zufrieden seyn. Aber auch der Witz nähert sich, sobald er constitutiv wird, dem Genialen, ja ich glaube, daß manche luminöse und tiefe Wahrheiten dem Witz sich früher dargestellt haben, nur daß er nicht das Herz hatte, Ernst daraus zu machen, bis das Genie kam, und wie eine edle Art von Wahnwitzigen sich über alle Rücksichten wegsetzte.« [Brief an Gottfried Körner vom 17.03.1802, https://www.friedrich-schiller-archiv.de/briefe-schillers/briefwechselmit-gottfried-koerner/schiller-an-gottfried-koerner-17-maerz-1802] 4 »Ah, I can see the headlines of the tabloids now – if only they would pay attention to Aramis’ love troubles instead of Lady Di’s.« [Latour 2002/1993:277]. Aramis ist ein fehlgeschlagenes Verkehrsprojekt. 5 vgl. 6.1.2 6 Latour persifliert dies, indem er einen Studenten in einem fiktiven Dialog sagen lässt: »I’m not too much into French stuf f either (…).« [RAS:141]. Die Verbindung von spekulativem Denken in freier Formulierung mit fundamentaler Kritik an wissenschaf tlichen und politischen Themen wurde gar als Af front aufgenommen und führte zu den so genannten Science Wars [vgl. Gutmannsbauer 2017:89f f.].

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

Subtextes« bezieht. In Bezug auf den für das Design einschlägigen Prometheus-Text finden sich jedoch Merkmale, die ähnliche Vorwürfe stützen:7 • eine unkritische Übernahme von Versatzstücken, die für Fachleute – in diesem Falle Designer – problematisch sind (wie etwa das unterentwickelte historische Bewusstsein von Design) • die Ignoranz gegenüber aktuellen Entwicklungen des Faches • das Fehlen jeglichen historischen oder systematischen Bezugs zu Diskursen, Werken und Autoren • die Etablierung eines ausschließenden Narrativs (wir und die anderen, vor und nach der ANT) und schließlich • ein anmaßendes Urteil über zukünftige Aufgaben des Designs

8.1.1 Sprachform und Sprachpolitik Die Sprache Latours fällt nicht nur aus dem Rahmen wissenschaftlicher Konvention, sondern wird von den Protagonisten der ANT explizit thematisiert und bewusst gestaltet. Aus der Perspektive der ANT gilt die Art und Weise der Versprachlichung von soziotechnischen Verhältnissen bereits als ein Indikator für die jeweils eingenommenen Perspektiven und deren unterliegenden Kategorien der Beobachtung. Analog zum Begriff der »Dingpolitik« könnte dies als »Sprachpolitik« bezeichnet werden. Die Verwendung einer eigenen Sprache wird als notwendig angesehen, um einen grundlegenden Perspektivwechsel zu begründen. So wollten etwa die Urheber der ANT den Anspruch auf eine symmetrische Behandlung von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren auch sprachlich wirksam werden lassen und prägten dafür die Begriffe »Agency« und »Aktanten«:8 All the shifts in vocabulary like ›actant‹ instead of ›actor‹, ›actor network‹ instead of ›social relations‹, ›translation‹ instead of ›interaction‹, […] ›delegation‹ instead of ›social roles‹, are derided because they are hybrid terms that blur the distinction between the really social and human-centered terms and the really natural and object-centered repertoires. [Callon, Latour 1992:347] Bemerkenswert ist, das hierbei nicht an anthropomorphe Akteure gedacht ist. Vielmehr werden nicht nur Aktanten, sondern auch Akteure als dynamische Attraktoren konzipiert: Ein Akteur in dem Bindestrich-Ausdruck Akteur-Netzwerk ist nicht der Ursprung einer Handlung, sondern das bewegliche Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hinströmen. [NSoz:81, vgl. 4.7] Dieses Zitat liefert ein Beispiel für Latours Sprachform, die vorgibt, Beschreibung, Definition und Erklärung zu sein, aber vor allem neue Fragen erzeugt: Welche Entitäten

7 vgl. 1.1 8 Zum Begriff »Agency« vgl. die Anmerkungen des Übersetzers in Roßler 2007.

271

272

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

sind gemeint? Warum strömen sie zu den Akteuren hin? Unter welchen Bedingungen findet dies statt? Welche Kräfte wirken hier und warum?

8.1.2 Die ANT als »Theorieerzählung« Bereits besprochen wurde die Vielzahl neuer Begriffe, die von Latour und anderen Autoren der ANT geprägt wurden (vgl. 3). Darüber hinaus inszeniert Latour seine Texte mit Metaphern und Rhetorikformeln, Parodie, Polemik und Pathos. Er selbst nennt seine Mittel mitunter »Kniffe« [NSoz:301] oder »Märchen« [Latour 2002:175]. Die Eigenarten seiner Darstellung können als Teil einer rhetorischen Strategie bewertet werden, was auch bei einem Kommentar zu Latours schwierigem Verhältnis zur Kritik vermerkt wurde: Latours Beschäftigung mit den verschiedenen Spielarten der Kritik zeichnet sich – ähnlich wie sein gesamter Arbeitsstil – nicht immer durch analytische Stringenz aus. Vielmehr enthält sie Inkonsistenzen und Vereinfachungen und ist zudem teilweise mit beißender Polemik durchtränkt. [Conradi, Muhle 2011:314] Bereits der Begriff »Theorie« im Ausdruck Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) begründet ein Missverständnis, da die ANT nicht im klassischen Sinne als Theorie angelegt ist: Es gibt kaum konsistente Definitionen, systematischen Auf bau, hierarchische Gliederungen, kausale Verknüpfungen oder logische Folgerungen und nur hoch selektive historische oder systematische Bezüge. Den Vorwurf von Defiziten in der Konstruktion der Theorie fängt Latour jedoch beiläufig auf, indem er vorgibt, nicht den Anspruch auf Formulierung einer alternativen Sozialtheorie zu erheben, sondern nur methodische Probleme zu adressieren. Dies zeige sich schon beim Namen, der nach Latour unglücklich gewählt sei, da die ANT (…) eher eine Methode ist, die eigenen weltbildenden Aktivitäten des Akteurs zugänglich zu machen, als eine alternative Sozialtheorie. [RAS:561, vgl. 2.3]9 Nicht nur im Hinblick auf ihre Aussagen ist die ANT daher provokant, sondern auch in ihrer Form. Latours Sprach- und Theorieform kann vielleicht am ehesten als eine »Theorieerzählung« verstanden werden, deren Wirkung sowohl als anregend und produktiv, als auch als irritierend und problematisch wahrgenommen werden kann.10

8.1.3 Latours Theoriedesign Designer sehen sich nicht dazu berufen, die oben genannten metatheoretischen Debatten nachzuzeichnen oder ihnen gar neue Erkenntnisse hinzuzufügen. Ihr Interesse gilt vielmehr dem bei Latour beschriebenen und von ihm selbst praktizierten Theoriedesign als Verhältnis von Untersuchungsfeld, Darstellung und Erkenntnisbildung. Latours Ansatz bezieht Theorie, Methode und Darstellung in einer spezifischen Weise aufein9 Dies hindert Latour aber nicht daran, die ANT an anderer Stelle doch als eine Theorie zu behaupten, nämlich als eine des Raumes, vgl. A 1.1. 10 vgl. 7.1.4

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

ander. Dabei nutzt er neben der Schriftform auch andere Medien wie Ausstellungen, Theater, Hörspiel, Workshops und Netzpräsenzen.11 Dies ist speziell für das Transformation Design von Bedeutung, denn dessen Handlungsbereich sind jene unbegrenzten gesellschaftlichen Situationen, die als »Reallabor« beschrieben wurden.12 Tradierte Formen der Bildung und Kommunikation von Wissen erscheinen hier nur bedingt als geeignet. So stellen sich praktische Fragen für ein zu entwickelndes »Wissensdesign«13: Wie werden komplexe Ausgangslagen beschrieben, Rahmungen inszeniert oder dekonstruiert, Forschungsfragen definiert, Experimente gestaltet, Erkenntnisse gewonnen und Ergebnisse verbreitet? Diesen Kontext adressiert auch Latour, wenn er fragt: »Which protocol for the new collective experiments?« [Latour 2004b].

8.2 Kritik an Latours Theorie und Sprache Die Kritik Latours wird erschwert durch die schiere Masse von Texten und deren Redundanz.14 Zu vermuten ist jedoch, dass die vielen tausend Seiten seiner Textproduktion durch computational linguistics auf wenige essenzielle Aussagen komprimiert werden könnten. Latours Desiderat folgend, könnten auf dieser Basis seine Concerns visualisiert werden.

8.2.1 Parlando: Sound und Resonanz Das Sprachspiel Latours entfaltet sich in einem Genre, das am ehesten dem »Parlando« entspricht. Als typische Merkmale von Parlando-Texten werden genannt: • äußerlich wenig gegliedert, wirken sie wie eine monologische Rede • sie weisen häufig eine sogenannte »Texthintergrundslogik« auf: Auch, wenn man die Argumente des Textes selbständig durch eigene ergänzt und den Text manchmal nicht ganz wörtlich nimmt, bleibt er dennoch klar und verständlich • Geschwätzigkeit • Subjektivität: Der Autor stellt deutlich seine Meinung zum behandelten Sachverhalt dar • lange Sätze mit wenig gliedernder Interpunktion15 Latour gelingt es, einen spezifischen »Sound« für sein spezielles Weltbild zu schaffen, der im Vergleich zur traditionellen Wissenschaftsliteratur als erfrischend neu und faszinierend wahrgenommen werden kann oder eben als abseitig und ärgerlich. Die 11 vgl. 9 12 vgl. Seebacher et al. 2018 13 vgl. Stephan, Asmus 2000 14 Latours Website führt 25 Monografien und Herausgaben von Büchern seit 1991 auf sowie 181 Artikel, die kaum unter 20 Seiten lang sind und nur wenig Gliederung aufweisen (www.bruno-latour.fr, Stand: Januar 2023). Daher wurde bemerkt: »(…) scheint es fast schon berechtigt zu sein, von einer Überfülle, einer Plethora Latour’scher und Latourianischer Schriften zu sprechen.« [Schmidgen 2011:11/12] 15 Alle Aspekte finden sich bei Sieber 1994, zitiert nach https://www.wikiwand.com/de/Parlando (Sprachwissenschaft).

273

274

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

großdenkerische Attitüde, die Geschichte noch einmal neu und richtig zu erzählen, kann Lust machen, den originellen Gedankengängen zu folgen, zumal sie gut gelaunt präsentiert werden, Lust an der Provokation haben und keine Angst vor Pathetik oder pointierter Formulierung zeigen. Dies mag die große Resonanz Latours erklären, die weit über Fachkreise hinausgeht.16

8.2.2 Selbstbezug und Hermetik Die Position Latours ist selbstbezüglich: Sie praktiziert neue Perspektiven der Wahrnehmung, die neue Gegenstände hervorbringen, die eine neue Sprache erfordern, die neue Wahrnehmungen hervorbringt. Wer durch die Brille der ANT in die Welt schaut, sieht nur noch Assoziationen und Handlungsketten, die nur mit ANT-Sprache zu beschreiben sind. So erzeugt die ANT einen Mechanismus von Ein- und Ausschluss, der sich in der Polarisierung der Rezipienten zwischen enthusiastischen Anhängern und entschiedenen Kritikern widerspiegelt.17 Die Anti-Form der Schriften Latours entfaltet gegenüber Kollegen, Kommentatoren und Kritikern eine hermetische Wirkung. Diese sind vor die Wahl gestellt, entweder das Vokabular zu akzeptieren, wodurch nur noch immanente Kritik möglich ist oder mit dem Vokabular den ganzen Ansatz abzulehnen, wodurch nur noch von außen argumentiert werden kann. Die Kritik ist darauf angewiesen, den schillernden Facetten von Latours Angebot in ihrem losen Arrangement zu folgen. Sie muss Einzelaspekte durcharbeiten und Argumentationsstränge freilegen, die in den Ausgangstexten nur defizitär vorhanden sind. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Wirkungen durchaus den Absichten des Autors entsprechen. Es fällt jedoch schwer, eine Kritik zu entwickeln, die kohärenter ist als ihr Gegenstand. Die spezielle Theorieanlage der ANT in ihrer Ausprägung bei Latour wurde daher kritisiert als das »Verschwinden der Theorie in der Akteur-Netzwerk-Theorie« [Greif 2006].18 Wenn die ANT also nicht als wissenschaftliche Theorie gelesen werden kann und soll: als was dann? Vielleicht kommt es den eingangs genannten Fragestellungen entgegen, Latours Unternehmen selbst als ein Experiment im Reallabor zu verstehen, das eher den Charakter eines Gesamtkunstwerks annimmt, zu dem auch die Vielfalt 16 Gleiches gilt für Peter Sloterdijk, auf den sich Latour im Prometheus-Text positiv bezieht. Auch bei Sloterdijk wurde etwa die oft kontextlose Präsentation von Einsichten Dritter und der metaphernreiche Stil kritisiert (vgl. 7.1). 17 Die beschriebenen Merkmale gelten auch für die Sprachform anderer Autoren wie Deleuze/Guattari und Lyotard, vgl. C 2.5.4. 18 »Ein vielversprechenderer Weg, aus den Paradoxa, Inkonsistenzen und falschen Fährten in Latours Texten eine Lehre zu ziehen, scheint mir in der Betrachtung des literarischen Stils dieser Texte zu liegen. (…) Die zum Teil experimentellen Textformen, der reichliche Gebrauch grob geschnitzter Schlagworte und unerläuterter Kategorien, die notorisch fehlenden Textbelege und das Scheitern zahlreicher Aussagen am einfachen Test der wahrheitserhaltenden wechselseitigen Ersetzung von Begriffen, die zuvor als synonym definiert wurden, ergeben in ihrer konsequenten Anwendung das Gesamtbild einer rhetorisch brillant vorgetragenen, regelmäßigen, kontrollierten Verfehlung der Normen wissenschaftlichen Schreibens und Argumentierens. Das größte Missverständnis gegenüber der ANT besteht demnach darin, überhaupt zu versuchen, sie als wissenschaftliche Theorie zu lesen.« [Greif 2006:63/64]

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

seiner medialen Projekte gehört.19 So könnten Latours Texte auch als »Denkperformance«20 oder »literarische Imaginationshilfe« aufgefasst werden: Die ANT vor diesem Hintergrund anstatt als einen gescheiterten Versuch an wissenschaftlicher Rationalität als eine literarische Imaginationshilfe zum Zwecke der Kritik bestimmter wissenschaftlicher und politischer Praktiken zu betrachten, die konventionelle Rationalitätskriterien zumindest teil- und zeitweise suspendiert, scheint mir die Lesart zu sein, die dieser Theorie am ehesten gerecht wird. [Greif 2006:66] Latours Ansatz und Formulierungen eine Nähe zur Literatur zu attestieren, sollte nicht als despektierlich aufgefasst werden, denn es ist Latour selbst, der diese Einschätzung bestätigt: Der Unterschied verläuft nicht zwischen denen, die sicheres Wissen besitzen, und denen, die Texte schreiben, nicht zwischen »wissenschaftlichen« und »literarischen« Köpfen oder »esprit de géographie« und »esprit de finesse«, sondern zwischen denen, die schlechte Texte schreiben und denen, die gute Texte schreiben. (…) Gute Soziologie muss gut geschrieben sein: wenn nicht, dann ist sie unfähig, das Soziale zum Vorschein zu bringen. [NSoz:216/217, Hervorhebung im Original] Die Verbindung von Wissenschaft und Literatur steht sogar am Beginn von Latours Entwicklung, ablesbar im letzten Satz des einf lussreichen Buches »Laboratory Life«: Our discussion is a first tentative step towards making clear the link between science and literature. [Latour, Woolgar 1979:261]21 Manche Kritiker Latours erkennen jedoch lediglich ein »Sprachspiel«22, während andere auf Latours Rhetorik abheben: Deciphering Latourʹs logical and verbal pyrotechnics might be fun because he is indeed an adept rhetorician. [Amsterdamska 1990:499, vgl. Conradi, Muhle 2011]23 In Bezug auf Latours Beispiele wurden wiederholt Zweifel an seiner Ernsthaftigkeit geäußert.24 Es ist aber Latour selbst, der es geradezu darauf anlegt, zu irritieren, um Aufmerksamkeit für eine neue Perspektive zu erreichen. Als Beleg dafür können seine Bemerkungen zu zwei historischen Szenen wissenschaftlicher Erkenntnisbildung dienen.

19 vgl. 9 20 Kommentar zu Latours Buch »Jubilieren – Über religiöse Rede« [Bogner et al. 2021:14] 21 vgl. Schmidgen 2011:77 22 Dölemeyer, Rodatz 2010 23 Das Zitat stammt aus einer Rezension von »Science in Action« [Latour 1987] unter dem Titel »Surely You Are Joking, Monsieur Latour«, deren Titel sich auf ein populäres Buch des Physikers Richard Feynman bezieht [Feynman 1985]. 24 vgl. 6.1

275

276

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

8.2.3 Beispiele: Ramses II und Louis Pasteur Die 3000 Jahre alte Mumie des ägyptischen Königs Ramses II wurde 1976 für eine medizinische Untersuchung nach Paris gebracht. Dabei wurde das Tuberkulosebakterium nachgewiesen, das neben anderen Krankheiten zum Tod des Königs geführt haben soll. Latour beschreibt den Fall und widerspricht: How could he have died of a bacillus discovered in 1882 (…). (…) The attribution of tuberculosis and Koch’s bacillus to Ramses II should strike us as an anachronism of the same caliber as if we had diagnosed his death as having been caused by a Marxist upheaval, or a machine gun, or a Wall Street crash. [Latour 1996c:248] Latour provoziert hier mit einer scheinbar kontrafaktischen Behauptung. Die Reaktionen darauf fallen – wie zu erwarten – ablehnend aus: Der Vergleich ist, mit Verlaub, Unfug. Maschinengewehre gab es zur Pharaonenzeit nicht, während der Tuberkuloseerreger lediglich noch nicht entdeckt war. [Keil 2019:896] Diese Kritik argumentiert mit der faktisch feststellbaren Substanz von Bakterien, die unabhängig von menschlichen Erkenntnissen gegeben ist. Sie unterstellt Latour eine konstruktivistische Sichtweise, die zwischen Erfinden und Entdecken falsch unterscheide, aber nichts am historischen Faktum ändern könne. Gerade dieses ist aber Latours Anliegen, wenn er versucht, eine neue Sichtweise zu etablieren: Surely, if we want to respect actor’s categories, there must be a word in the Egyptian language, a term and a set of hieroglyphs, for instance ›Saodowaoth‹ that define the cause of Ramses’ death. But if it exists it is so incommensurable with our own interpretations that no translation could possibly replace it by ›an infection of Koch’s bacillus‹. [Latour 1996c:248/249] Dieses Gedankenexperiment zeigt, dass Erklärungen und Erkenntnisse abhängig sind von Situationen, die durch Ort und Zeit bestimmt werden. Die angenommene ägyptische Erklärung durch den spekulativen Begriff »Saodowaoth« wird den Zeitgenossen als ebenso plausibel vorgekommen sein, wie dem heutigen Publikum die aktuelle Erklärung »Tuberkuloseerreger«. Es erscheint als leicht vorstellbar, dass eine zukünftige Wissenschaft andere Erklärungen finden wird. Möglicherweise sind diese so feinstoff lich, dass die heute gültige Erklärung rückblickend als substanzialistisch erscheinen wird und damit als ebenso wenig nachvollziehbar, wie uns Heutigen die altägyptische Erklärung »Saodowaoth«. Eine Ansicht, die dies nicht zugesteht, müsste fundamentalistisch ein Ende der Erkenntnis postulieren: Die Todesursache ist ein für alle Mal geklärt, und die heute als gültig anerkannte Diagnose hat Bestand in alle Ewigkeit. Vor diesem Hintergrund mag die historisch relativierende Sichtweise Latours an Plausibilität gewinnen. Latours Ausdruck der »partial existence« der infrage stehenden Substanzen soll den Zustand zwischen materieller, aber unerkannter Existenz bezeichnen.

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

Dies belegt auch sein bekanntestes Beispiel der Beschreibung von Milchsäure-Hefe durch Louis Pasteur im Jahre 1852. Hier postuliert er nicht nur, dass sich das Material durch die Erkenntnis verändert habe, sondern er personifiziert es sogar: (…) traf Pasteur auf einen unbestimmten, wolkigen und grauen Stoff, der bescheiden in der Ecke seiner Glaskolben saß – und machte daraus die berühmte, genau definierte, artikulierte Milchsäure-Hefe, die prächtig durch den Tanzsaal der Akademie wirbelte. [Latour 2002:175] Inwiefern diese rhetorischen Mittel der Pointierung und Provokation dienen oder ernsthafter Prüfung standhalten sollen, ist kaum auszumachen.25 Latour lässt sich zwischen Realismus und Konstruktivismus nicht festlegen, sondern ist eher daran interessiert, die starren Grenzen zu unterlaufen und Zuordnungen in der Schwebe zu halten. So kann er auf seine polarisierenden Aussagen bezogen lässig eingestehen: Natürlich sind meine Märchen nicht sehr viel hilfreicher als die der Wissenschaftskrieger (…). [Latour 2002:175] Wichtiger als die fragliche »Geschichtlichkeit des Ferments«26 jedoch bewertet Latour die Funktion der Gestaltung: Sagen wir, dass Pasteur in seinem Laboratorium in Lille einen Akteur ›designt‹. [ibid.:147; Hervorhebung im Original] »Aber gab es nicht schon Fermente, bevor Pasteur sie gestaltete?« (…) Und die Antwort kann nur lauten: »Nein, sie existierten nicht, bevor er daherkam«. (…) Die durch meine fixe Antwort aufgeworfene philosophische Schwierigkeit liegt allerdings nicht in der Geschichtlichkeit des Ferments, sondern in dem kleinen Wörtchen »gestaltete«. [ibid.:175] Latour wird einkalkulieren, dass solche Formulierungen im Mainstream der Wissenschaften kritisch bis ablehnend aufgenommen werden, aber wesentlich zur Popularisierung seiner Thesen beitragen.27 Die Basis für seine gewagten Schlussfolgerungen ist jedoch – jedenfalls in diesem Falle – eine detaillierte empirische Arbeit zu Pasteur. Es ist diese Spannung zwischen solider Untersuchung und selbstbewusst formulierten, experimentellen Folgerungen, die die Kontroversen um Latours Position und seine Ausdrucksformen begründen.28 25 Latour zieht damit Kritik auf sich: »Das Problem ist vielmehr die schleichende Anthropomorphisierung von Objekten, die immer wieder die Tendenz hat, Probleme seitens der menschlichen Akteure nur auf eine andere Ebene zu verschieben. Genau das passiert in der Ausweitung der Wissenschaftsforschung zur politischen Ökologie.« [Hagner 2006:130] 26 vgl. »Substanzen haben keine Geschichte, Propositionen dagegen wohl« [Latour 2002:177]. Interessant ist in diesem Kontext der Versuch, »Stoffgeschichten« zu schreiben, vgl. Soentgen 2020 27 Der Text mit der Ramses-Anekdote wurde aber in einem seriösen Band der Wissenschaftstheorie publiziert, zusammen mit Autoren wie Lorraine Daston und Hans-Jörg Rheinberger. 28 Eine Kritik [Malm 2020:120] erwähnt die Ramses-Anekdote, widerlegt aber nicht Latours Argumentation und sein Konzept der Quasi-Objekte.

277

278

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

8.2.4 Das Hörspiel »Kosmokoloss« Ein Beispiel für Latours literarische Ambitionen und die dort wirksame Imagination gibt sein Hörspiel »Kosmokoloss – Eine Tragikomödie über das Klima und den Erdball« [Latour 2011a]. Verhandelt wird das Verhältnis von Schöpfung und Mensch im Zeitalter des »Anthropozäns«. Hier lässt Latour Figuren auftreten wie »Colère« (zu übersetzen als Wut, Zorn, Ärger) »Peur« (Angst, Schrecken, Furcht) »Ruse« (List, Schlauheit) und »Naïvité« (Naivität, Unbefangenheit, Einfältigkeit, Ahnungslosigkeit) Außerdem sind zu hören: Dr. James Lovelock, Autor von »Gaias Rache – Wenn die Welt sich wehrt« und Dr. Clive Hamilton, Autor von »Requiem for a Species«. Auch Mary Shelley, Autorin von »Frankenstein oder der neue Prometheus« (1816) hat einen Auftritt, ebenso wie ihre Romanfigur Dr. Victor Frankenstein und dessen Geschöpf als »Kreatur«, die sich darüber beklagt, dass sie von ihrem Schöpfer verlassen wurde [Latour 2011a:28/29]. Sogar die juristische Konstruktion des Vorsorgeprinzips (»principe de précaution«) hat eine Rolle u.a. mit dem Text: »Die wirkliche Risikobereitschaft, das bin ich. Und übrigens hat Ulrich Beck gesagt,  …« [ibid.:21]. Die weiteren Rollen umfassen u.a. einen Politikberater und Meinungsforscher sowie Noah und eine Bauingenieurin, die feststellt, dass dessen Arche viel zu klein ist. Die Sprachform besteht aus einfacher Alltagssprache mit teils drastischen Formulierungen, ergänzt durch Noahs Tonfall religiöser Erweckung sowie den Sachreferaten der Wissenschaftler (Lovelock, Hamilton), die mit ihren akademischen Titeln und bekanntesten Publikationen vorgestellt werden. Die zehn Szenen haben Titel wie »Die Nacht der multiplen Himmel«, »Drei Appelle an die höheren Mächte« oder »Theatrum Mundi«. Durch die Handlung führt »Monsieur Joyeux«. Die Menschheit, vertreten durch die Personen Colère, Peur, Ruse und Naïvité diskutiert, was angesichts des Klimawandels zu tun sei, während sich bereits eine Sintf lut ankündigt. Dabei werden Optionen wie das Besteigen einer Arche und der Bau von Atomkraftwerken erwogen (jeden Monat eines für die nächsten zehn Jahre). Zentrale Sätze sind: Ruse:



»Wir müssen von vorne anfangen. Alles muss neu gemacht werden, sogar das Machen selbst.« [ibid.:30]29 Joanna: »Wir Wissenschaftler inszenieren die Welt. Ist das kein Theater?« [ibid.:32] Ruse: »Seltsam. Gerade in dem Moment, in dem gesagt wird, es sei mit dem Menschen vorbei, wird ihm die Hauptrolle gegeben.« [ibid.:42]

Der Epilog bezieht sich auf die biblische Geschichte vom Sündenfall und postuliert, dass die Menschen drei verbotene Äpfel gegessen hätten, wobei die Strafen für die ersten beiden noch moderat ausfielen, die für den Dritten aber unabsehbare Folgen haben werden.30

29 vgl. »Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!« (Bibel Offenbarung 21, 3-5a) 30 Hier sind Bezüge zu Latours Herkunft aus der Bibel-Exegese denkbar, vgl. Schmidgen 2011:21.

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

Latour inszeniert seine Grundthemen von Wissenschaft und Sozialität, Schöpfung und Anthropozän auf eine neue Weise. Die Handlungsoptionen der Menschen werden als existenzielle Entscheidung geschildert. Doch dadurch ergibt sich noch kein dramatisches Geschehen. In der Produktion des Hörspiels wurde versucht, die nicht vorhandene Spannung durch überdramatisiertes Sprechen zu kompensieren, was stellenweise wie Schülertheater wirkt, besonders wenn in den Sprechpausen Meeresbrandung zu hören ist, die vermutlich die kommende Sintf lut darstellen soll. Die Regieanweisungen lauten etwa »Horrorfilmmusik« [ibid.:25] oder »Der Lärm der Sintf lut und die Schreie der Tiere werden ohrenbetäubend« [ibid.:25]. Auffällig ist, dass sich Latours Sätze und seine Sprache in dem Hörspiel nicht fundamental von seinen sonstigen Arbeiten abheben müssen, da auch diese schon ähnliche Register enthalten. Erstaunen mag dagegen, dass dieser kaum dramaturgisch gestaltete Text vom Bayerischen Rundfunk als Hörspiel produziert und als CD publiziert wurde.

8.3 Das »Beschreibungsgeschäft« Latour betont die zentrale Funktion von Beschreibungen: »(…) wir sind im Beschreibungsgeschäft.« [NSoz:253]. Dabei geht er von dem Befund aus »Von nichts haben wir eine sehr gute Beschreibung« [NSoz:252] und fordert »eine Kunst der Beschreibung wiederzuerfinden« [WSMC:46]. Der simple Akt, irgend etwas auf Papier aufzuzeichnen, ist bereits eine immense Transformation, die genau so viel Fertigkeiten und Kunstgriffe erfordert wie das Malen einer Landschaft oder der Aufbau einer wohldurchdachten chemischen Reaktion. Kein Forscher sollte die Aufgabe erniedrigend finden beim Beschreiben zu bleiben. Sie ist, im Gegenteil, die höchste und seltenste Leistung. [NSoz:237] Dieser Anspruch erscheint Latour weltgeschichtlich vergleichbar mit der Herausbildung der Naturwissenschaften in der frühen Neuzeit: (…) ganz wie im 16. und 17. Jahrhundert alle intellektuellen Vermögen von Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern, Staatsmännern, Organisatoren aller Art, Kaufleuten und Mäzenen versuchten, eine Kunst der Beschreibung wiederzuerfinden oder eher eine Kunst der Wiederbeschreibung von Tatsachen (…) um den »verlogenen Export« zu beenden und zu begreifen, »was im Erlebnis gegeben ist«. [WSMC:46] Latour gibt eine Selbstverortung: (…) wir sind im Beschreibungsgeschäft. Alle anderen handeln mit Klischees. Nehmen Sie Befragungen, statistische Erhebungen, Feldforschungen, Archive, Meinungsumfragen – wir gehen hin, hören zu, lernen, praktizieren, wir werden kompetent, wir ändern unsere Konzeptionen. (…) Gute Untersuchungen produzieren eine Menge neuer Beschreibungen. [NSoz:253] Diese Beschreibung des Beschreibungsgeschäfts erfüllt sicher nicht die Ansprüche der ANT auf das detaillierte Nachzeichnen von Assoziations- und Handlungsketten. Im

279

280

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Gegenteil: Akteure (»alle anderen«) werden unverhohlen diffamiert und ausgeschlossen. Sollen diese Simplifizierungen eine Werbung sein für die Programmatik der ANT und die Beteiligung an ihrer historischen Mission? Ist hier eine Absicht zu erkennen, die revolutionäre Botschaft attraktiver erscheinen zu lassen durch Radikalisierung? Latours Sprachform ist theoriebildend, da sie ihre Gegenstände erst in der Beschreibung erzeugt. Latour beschreibt nicht Phänomene oder Sachverhalte, sondern liefert im Wesentlichen Meta-Beschreibungen, die erklären sollen, was gute Beschreibungen gemäß der ANT sind: mehr Details, Skalierung von kleinsten zu größeren Dimensionen ohne Sprünge zu abstrakten Begriffen und Nutzung einer »Infra-Sprache«, die den »reichen Idiomen« der Akteure zum Ausdruck verhelfen soll.31 Diesen häufig wiederholten Forderungen stehen jedoch kaum erfolgreiche Beispiele gegenüber. Überzeugender wären komplexere und detailliertere Beschreibungen, die den selbst gestellten Anspruch auch in eigener Sache erfüllen. Leider sind jedoch bisher kaum Ansätze zu sehen, die diese Aufgabe adressieren, was den Protagonisten der ANT aber nur einen Anlass liefert, sich als einsame und heroische Vordenker zu inszenieren. An der traditionellen »Soziologie des Sozialen« kritisiert Latour, dass sie ihre Gegenstände in Form von zusammenfassenden, abstrakten Begriffen für vorgefertigte Kategorien immer schon voraussetzt, damit über Lücken (»gaps«) springt und blind wird für jene Prozesse, die die Phänomene des Sozialen zuallererst hervorbringen. Eine »Soziologie der Assoziationen« soll dagegen als »second empiricism« [WSMC:24] eine Alternative bieten, indem sie realistischere Beschreibungen liefert und allgemeine Begriffe ersetzt durch »mehr Details«: Wenn Verbindungen zwischen Orten hergestellt werden, so sollte dies durch mehr Beschreibung geschehen, nicht durch eine freie Reise auf Allzweck-Geländewagen wie Gesellschaft, Kapitalismus, Imperium, Normen, Individualismus, Felder und so weiter. Ein guter Text sollte in einem guten Leser folgende Reaktion auslösen: »Mehr Details, bitte, mehr Details.« Gott steckt im Detail, und alles andere auch – einschließlich des Teufels. Es ist der Charakter des Sozialen, spezifisch zu sein. Nicht um Reduktion geht es, sondern um Irreduktion. [NSoz:239] Nach Latour sollen Texte als gut gelten, wenn sie den Wunsch nach »mehr Details« auslösen. Für Latours Texte gilt dies allemal, allerdings wird dieser Wunsch nicht erfüllt. Die Forderungen der ANT werden ständig nur wiederholt, aber kaum einmal empirisch eingelöst, wie kritisch bemerkt wurde: In der Wissenschafts- und Technikforschung hat die ANT ein starkes rhetorisches Echo und eine hohe soziale Bindungskraft. Die konkreten Methoden ihrer Forschungsarbeiten und ihre empirischen Resultate sind jedoch oft umso konventioneller, je stärker die Berufung auf die ANT ist. [Greif 2006:63/66] Latours Aussage »Gute Untersuchungen produzieren eine Menge neuer Beschreibungen« [NSoz:253] führt zu der Frage: Wie sehen diese neuen Beschreibungen aus? Wie verändern sie sich im Kontext von Computervisualisierungen und Big Data? Latour empfiehlt das Führen von traditionellen Notizbüchern und gibt dazu praktische Hinweise [NSoz:232ff.]. 31 vgl. 8.6

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

Wenn man keine Notizen sammeln und sorgfältig niederschreiben will, dann sollte man nicht versuchen, in die Soziologie zu gehen. Es ist der einzige Weg, um etwas objektiver zu werden. [NSoz:235] Wie ist diese Aussage aus dem Jahre 2005 zu verstehen? Einerseits soll mit nie dagewesener Genauigkeit und Detailschärfe beobachtet werden, doch andererseits soll die Komplexität aus all den subtilen Details mit ihren Wechselwirkungen und Handlungsketten ohne Verlust schriftlich darstellbar sein? Und selbst wenn ein idealer ANT-Forscher die geforderten Fähigkeiten auf brächte: Was dann? Wie umgehen mit den enormen Textmengen, wie rezipieren und auswerten, ohne die notwendig sprunghafte Bildung abstrakter Begriffe, die in der ANT ausgeschlossen sein sollen?

8.3.1 Das Ziel der Beschreibung: Isomorphie und Performanz Als Ziel der Beschreibung wird eine Entsprechung von Theorie und Gegenstand postuliert: (…) um so geschmeidig und artikuliert zu werden wie der zu behandelnde Gegenstand. [NSoz:233] Ist damit eine Isomorphie gemeint, in dem Sinne, dass etwa hybride Gegenstände nur durch hybride Begriffe bezeichnet werden können? Tatsächlich scheint es eine solche Entsprechung von Latours Gegenständen und seinen Beschreibungen zu geben: Die Assoziationen und Handlungsketten werden beschrieben als mäandernd und redundant, versammelt und zerstreut, und das Gleiche lässt sich von Latours Beschreibungen feststellen.32 Doch wird hier nicht das falsche Ideal einer Isomorphie von Signifikant und Signifikat verfolgt, die letztlich zu einer Karte im Maßstab 1:1 führen müsste? Da es programmatisch keine Sprünge auf Abstraktionsebenen geben darf, kann keine Systembildung stattfinden. Es gibt keine ersten und letzten Gründe, sondern nur eine endlose Aufzählung von Details als »und, und, und«. Eine solche unabsehbare Häufung provoziert die Frage nach einem Ende der Beschreibung.

8.3.2 Das Ende der Beschreibung: Wo aufhören? Das Material soll immer weiter ausgebreitet werden, und immer mehr Details werden benannt bzw. zum »Sprechen« gebracht. Aber wo endet dieser Prozess? Wie Schluss machen mit den Details? Latours Antwort auf die entsprechende Frage eines Studenten findet sich in einem fiktiven Dialog: Student: Sie sagen immer: »Mehr Beschreibungen«, doch das ist wie Freud und seine Kuren: unendliche Analyse. Wann hören Sie auf? Meine Akteure bewegen sich überall hin! Wohin soll ich mich wenden? Was ist eine vollständige Beschreibung?

32 Zu diesem Abbildungsverhältnis wurde bemerkt: »In einem abschließenden Satz in Die Rechtsfabrik, dessen für den Leser gewöhnungsbedürftige Länge die Latour’sche Verkettungslogik, Verfahrensförmigkeit und Gewebehaftigkeit des Rechts mimetisch spiegelt (…).« [Kirsch 2016:142]

281

282

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Professor: Das ist eine gute Frage, weil es eine praktische ist. Wie ich immer sage: Eine gute Dissertation ist eine fertige Dissertation. Aber es gibt noch einen anderen Weg, sie fertigzustellen, als »eine Erklärung hinzufügen« oder sie »in einen Rahmen zu stellen«. Student: Dann nennen Sie ihn mir bitte. Professor: Sie hören auf, wenn Sie ihre 50.000 Wörter geschrieben haben, oder was immer genau das Format hier ist, das vergesse ich immer wieder. [NSoz:255] Konsequenter, pragmatischer und formaler lässt sich die Frage nach dem Abschluss wohl kaum beantworten. In Bezug auf Forschungsprojekte müsste Latours Aussage übersetzt werden als: Sie hören auf, wenn der Abgabetermin erreicht oder das Budget aufgebraucht ist. Doch was Latour für die Anfertigung akademischer Schriften empfiehlt, wirkt als Antwort auf eine berechtigte Frage unbefriedigend und es bleibt ein Einwand gegen die Theorieanlage.

8.3.3 Kein Ende, keine Form Die ANT kennt kein Ende, weder ihrer Gegenstände (»mehr Details«, NSoz:239) noch ihrer Aktivität (Abbruch aus formalen Gründen, NSoz:255). Der Grund dafür ist: Sie hat keinen Begriff der Form. Die Assoziationsketten sollen programmatisch f lach bleiben33 und können nur zeigen, was mit wem jeweils lokal zusammenhängt. Der Beobachter soll die Perspektive der Aktanten einnehmen (»ANT’s view«) und bleibt daher eindimensional: Er kann keinerlei Formen erkennen. Im Modell der ANT wird ein Beobachter implizit vorausgesetzt, der unendlich verfeinerte Wahrnehmungsinstrumente und unbegrenzt Zeit hat. Gegenüber der kritisierten Makroebene mit ihren allgemeinen Kategorien wird die Mikroebene stark gemacht als eine vermeintlich weniger manipulierte »Versammlung«. Darüber hinaus wird postuliert: »Maßstab ist die Leistung der Akteure selbst« [NSoz:319], was Latour für die »älteste und wichtigste Aussage«34 der ANT hält. Aktuelle Technologien können jedoch Beispiele dafür geben, dass Maßstäbe nicht immer eindeutig zuzuordnen sind. Kleinste und größte Dimensionen im Sinne Latours können ohne Sprung als Handlungskette kausal zusammenhängen: So sind Bakterien und Viren mikroskopisch klein, können aber makroskopische gesellschaftliche Folgen haben, wie kürzlich in der Pandemie sichtbar wurde. Mikroprozessoren haben eine räumliche Ausdehnung im Nanobereich, und Algorithmen werden in Nanosekunden ausgeführt, doch beide können Wirkungen im größten Maßstab auslösen vom Flugzeugabsturz bis zum Zusammenbruch der Bankensysteme.35 Latour fordert eine fortlaufende Skalierung von Mikro zu Makro ohne Sprünge, um das »reiche Idiom« der Akteure und ihrer Assoziationen zu erhalten. Doch worin soll dieses bestehen, wenn nicht in einer unerschöpf lichen Aufzählung von Einzelmerkmalen? Und was, wenn diese Merkmale als DNA-Sequenz oder Algorithmus darstellbar wären, die diese Phänomene jeweils generativ erzeugen? Das Kriterium der 33 »Wie kann man das Soziale flach halten?« [Nsoz:286] 34 NSoz:319, Fußnote 27, dabei bezieht sich Latour auf Callon, Latour 2006/1981 35 vgl. Hunt 2020, vgl. 8.6.3

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

stufenlosen Skalierung wäre erfüllt: Von einer Dimension, die natürlicher Wahrnehmung zugänglich ist durch immer mehr Details auf die molekulare Ebene bis zur Genstruktur. Sollten solche Reihungen dem »reichen Idiom« eines Akteurs entsprechen? Und widerspricht ihnen ein symbolischer Ausdruck wie etwa die Basenpaare A/T und G/C bei der DNA-Sequenz? Die Assoziationen der ANT kennen das Wort »sozial« nicht, sie wirken sich nur aus. Die Kennzeichnung dieser Wirkung als »sozial« ist das Etikett von Beobachtern, die nichts mit der Assoziation zu tun haben. Es wird also eine Unabhängigkeit zwischen Beobachter und Beobachtetem postuliert. Die Fragwürdigkeit dieser Position ist eine zentrale Frage der Systemtheorie, die Latour – vermutlich aus gutem Grund – negiert.36

8.4 Sprachverlegenheit Mit »Sprachverlegenheit« bezeichnet Latour die Probleme der Artikulation einer »gemeinsamen Welt«. Wenn diese von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren gemeinsam hervorgebracht und gestaltet wird, stellt sich die Frage nach der sprachlichen Vermittlung. Diese besteht nach Latour aber nicht im Gegensatz zwischen normativen und defizitären Ausdrucksformen, sondern die Verlegenheit markiert die notwendige Schwierigkeit der Artikulation: Sprachverlegenheiten (embarras de parole): bezeichnet [sic!] nicht nicht das Sprechen, sondern die Schwierigkeit zu sprechen, nicht die Rede, sondern die Schwierigkeit zu reden oder vielmehr: die gemeinsame Welt zu artikulieren. Damit soll vermieden werden, das logozentrische Wörter (…) für den unproblematischen Ausdruck einer Bedeutung gehalten werden, die keinerlei besonderen Vermittlung erfordere und sich in transparenter Weise bekundete. [PD:298] Latour sieht nicht nur die »gemeinsame Welt« als bevölkert mit Aktanten an, sondern auch den Diskurs, so schreibt Scott Lash in einem Kommentar: Der Diskurs ist (…) eine Population von Aktanten, die sich mit den Dingen und Gesellschaften mischen (…). Diese Aktanten – diese Monster, diese Hybriden, die das Reich der Mitte bevölkern – übersetzen, vermitteln und erweitern die Netze, sie »bahnen Netze«. [Lash 1999 unter Bezug auf NMod:122] Danach muss also keine Teilnahme am Diskurs gefordert werden für bis dahin Ausgeschlossene, sondern es gilt lediglich anzuerkennen, dass diese immer schon mitreden. Eine Perspektive, die Sprachfähigkeit auf menschliche Begriff lichkeiten reduziert, wird daher immer zu kurz greifen und der gegebenen Komplexität der Concerns sowie der sie begleitenden Sprachspiele nicht gerecht werden.

36 vgl. Latours Kommentar zu Luhmann, A 1.2.3

283

284

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

8.4.1 »Beings of Fiction« Im Buch Existenzweisen hat Latour der Fiktion ein Kapitel gewidmet: »Die Wesen der Fiktion situieren« [Exw:331-362].37 Die Begriff des »Fiktiven«, des »Fingierens« und der »Figuration« erscheinen als benachbart, sodass Fiktionen und Figurationen als eine besondere Existenzweise ausgezeichnet werden, wie in einem Kommentar bemerkt wird: Figuration has its own ontological posture, however frail, for it is a method of imprinting, of giving shape to all other modes of existence. [Pavel 2017:151] Für die Kunstproduktion und -rezeption mag diese Erkenntnis ein Allgemeinplatz sein, aber sie gilt auch für andere Gebiete, wie sich in der Systematik der »Existenzweisen« zeigt, etwa als Kreuzung von Figuration und Repräsentation oder Figuration und Religion:38 Ohne die Figuration ist keine Politik möglich – wie ließe sich die Zugehörigkeit zu irgendeiner Gruppe erklären? [FIK–POL] Keine Religion – welches Gesicht gäbe man Gott, seinen Thronen, seinen Heerscharen, seinen Engeln und Heiligen [FIK–REL] (…) [Exw:353] Mit dem Begriff der »figures« (englisch/französisch) können sowohl bildliche Darstellungen als auch metaphorische und rhetorische Figurationen gemeint sein. Fiktionen und Figurationen sind daher für das Design relevant, da sie einerseits dessen Funktion der Projektion in zukünftige Formen entsprechen und gleichzeitig eine konkrete Form annehmen als Grafik, Diagramm oder Modell. Entsprechend wurden folgende Funktionen unterschieden: (…) figures of graphicity (designating, as we shall see, the graphic character, pertaining to a kind of aesthetics of the surface, according to which the sense of existents can be found in their trajectory, in their manner of drawing and stylizing this trajectory) figures of montage (or of composition, of design – which may be aesthetic and existential at the same time) and figures of performativity (of the action of fabricating, of figuring and, hence, of mediating between modes, between ontological conditions). [Pavel 2017:151/152] Latour behauptet eine Infra-Sprache anzustreben, die auf eine zwangsläufige Sprachverlegenheit reagiert. Da es die Akteure selbst sind, denen Gelegenheit und Mittel zur Artikulation gegeben werden sollen, können die Beschreibungen Dritter nur vorläufig

37 Ein verstärkte Interesse an Fiktion wurde auch bemerkt bei Donna Haraway (»speculative fabulation«) und Isabelle Stengers (»speculative practise«), vgl. Wiame 2015:1 38 vgl. Farzin 2016:128

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

sein und sollten diese Differenz nicht durch Abstraktionen überspielen.39 Einer Bifurkation zwischen ontologischer Gegebenheit und zufälliger Bezeichnung wird widersprochen, womit auch Voraussetzungen der Semiotik relativiert werden. Dagegen werden Perzepte und Affekte, Epistemologie und Ästhetik als untrennbar verbunden aufgefasst.40 Bedeutsame Differenzen, die als Sprache aufgefasst werden können finden sich überall, und sprachliche Zeichen bilden nur eine kleine Untermenge davon: Wir beginnen nun aber allmählich zu verstehen, dass es die Welt selbst ist, die artikuliert ist. [Exw:362].41

8.4.2 Wer spricht im Parlament der Dinge? Die Idee, das nicht-menschliche Wesen eine Sprache haben, mag neu und fremd erscheinen. Die Abwehrreaktionen sind schnell formuliert: dingmagisches Denken und Okkultismus. Latour tut wenig, um dies aufzuklären. Er beschränkt sich auf unscharfe Formulierungen, provokante Behauptungen und Forderungen wie jener, beim Thema Rinderwahnsinn die Kühe selbst zu Wort kommen zu lassen.42 Dieser je nach Perspektive absurde oder revolutionäre, alberne oder notwendige Gedanke funktioniert immerhin medial, indem er eine Schlagzeile produziert.43 Bevor daher an Kritik gedacht werden kann und mögliche Anschlüsse für weitere Perspektiven gesucht werden können, bleibt es – wie häufig bei Latour – zunächst Sa39 vgl. 8.6 40 Dies wurde auch bei Deleuze/Guattari bemerkt, auf die sich Latour bezieht, vgl. Exw:343, Deleuze/ Guattari 1996:192, ebenso spricht Heidegger vom »vorstellend-herstellenden Menschen« [Heidegger 2013/1938:89]. 41 Diese Auffassung scheint mit einer Vorstellung von »Dingsprachen« zu korrespondieren, vgl. Francis Ponge 1942: Le parti pris des choses (und die Kommentare von Jean-Paul Sartre 1944: L’homme et les choses und Jacques Derrida 1988: Signéponge), außerdem Michel Foucault 1966: Les mots et les choses sowie die Sprachtheorie Walter Benjamins: »Es gibt eine Sprache der Plastik, der Malerei, der Poesie. So wie die Sprache der Poesie in der Namensprache des Menschen, wenn nicht allein, so doch jedenfalls mit fundiert ist, ebenso ist es sehr wohl denkbar, dass die Sprache der Plastik oder Malerei etwa in gewissen Arten von Dingsprachen fundiert sei, dass in ihnen eine Übersetzung der Sprache der Dinge in eine unendlich viel höhere Sprache, aber doch vielleicht derselben Sphäre, vorliegt. Es handelt sich hier um namenlose, unakustische Sprachen, um Sprachen aus dem Material; dabei ist an die materiale Gemeinsamkeit der Dinge in ihrer Mitteilung zu denken. Übrigens ist die Mitteilung der Dinge gewiss von einer solchen Art von Gemeinschaftlichkeit, dass sie die Welt überhaupt als ein ungeschiedenes Ganzes befasst.« [Benjamin 1991/1916:156] 42 »DIE ZEIT: ›Wie sollen wir uns denn vorstellen, dass die rinderwahnsinnige Kuh im Parlament ihre Stimme erhebt? (…)‹ BL: ›Nach der Katastrophe des Rinderwahnsinns sind wir klüger als zuvor. Wir haben Tiermehl verfüttert – aber haben wir zuvor nach der Meinung des Konsumenten gefragt? Wir haben auch die Kühe nicht gefragt, ob sie Tiermehl fressen wollen. Sie haben nicht das Recht, sich zu äußern, wir haben einfach ein unkontrolliertes Experiment mit ihnen durchgeführt. Wir müssen also ein Verfahren finden, die Kühe und die Konsumenten zu Wort kommen zu lassen.‹« [Latour 2000] 43 Latours Forderung fand aber bereits eine Nachfolge im real existierenden Parlament: »Wir wollen, dass in den nächsten vier Jahren jede Biene und jeder Schmetterling weiß: Wir werden uns weiter für sie einsetzen.« Katrin Göring-Eckardt (https://twitter.com/goeringeckardt?lang=en, 25.11.2017). Die Idee einer »Partei der Tiere« wurde bereits vom Ur-Grünen Joseph Beuys formuliert, https://www. thebroad.org/art/joseph-beuys/eine-partei-f%C3%BCr-tiere.

285

286

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

che der Rezeption, seine Anstöße überhaupt erst in eine stringente Form zu bringen. Bei einer näheren Bestimmung seines »Parlaments der Dinge« überlagern sich verschiedene Aspekte: • Repräsentation: Wie artikulieren sich die Aktanten? • Delegation: Wer hat welches Mandat von wem? • Stellvertretung: Wer spricht im Parlament? Diese Aspekte sind eingebettet in grundsätzlichere Bestimmungen der Metaphysik (Sprache als Existenzform der Menschen) und der Ontologie (kann es sprachbegabte Dinge geben?). Latours Ansatz wurde handlungstheoretisch untersucht und mit dem Konzept der »egoistischen Gene« von Richard Dawkins verglichen [Greif 2005]. Aus anderer Perspektive wird die Frage nach der Diskursfähigkeit der nicht-menschlichen Dinge auf die Sprachfähigkeit von revolutionären Subjekten als »missing masses« [WM] bezogen.44 Am ergiebigsten für die Perspektive des Designs und der Concerns erscheint jedoch die Verbindung zur Konzeption einer »Szenischen Metaphysik« [Hogrebe 2019], die ironischerweise ihre Bezüge zu Latours Ansatz nicht erkennt. Hier werden jedoch Kontexte genannt, die geeignet sind, die »Sprachverlegenheit« Latours zu erhellen und diese gleichzeitig in Funktionen der Gestaltung einzubetten.

8.4.3 Die »szenische Metaphysik« Das Konzept der »szenischen Metaphysik« benennt als historische und systematische Quellen die Theorien zu »Sprechakt« (Searle, Austin) und »Bildakt« (Bredekamp) sowie zu den Begriffen der »Situation« (Sartre)45 und der »Lebensformen« (Spranger).46 Damit gelangt Hogrebe zur Einsicht in die Begrenztheit der begriff lichen Erkenntnis: Die entscheidende Einsicht in eine szenische Existenz ist die, dass eine exklusive Terminierung unserer erkennenden Kraft im Begrifflichen in Abrede gestellt werden muss. [Hogrebe 2019:66] So wird philosophisch nachvollzogen, was Dichter, Künstler und Gestalter schon immer praktiziert haben: Die Verbindung von der Sinnlichkeit der Erfahrung zur Sinnhaftigkeit der Erkenntnis. Jeder Produktion von Sprache geht die Fähigkeit voraus, angesprochen werden zu können, empfänglich zu sein, für das, was sich ereignet, lange bevor es begriff lich zu fassen ist:47 44 Scott Lash verfolgt diese Frage und bezieht sich u.a. auf Untersuchungen zur Sprachfähigkeit wie »Can the Subaltern Speak?« [Spivak 2007/1988], vgl. Lash 1999. Dabei sind Parallelen zu erkennen zum »Kampf um Anerkennung« [Honneth 2010]. 45 »Wir nennen Situation die Kontingenz der Freiheit inmitten des Seins-Plenums der Welt.« Jean-Paul Sartre 1970: Das Sein und das Nichts. Versuche einer phänomenologischen Ontologie, zitiert nach Hogrebe 2019:65, Hervorhebung im Original 46 Hogrebe 2019:57, 24 47 Damit ist das Vermögen der Antizipation angesprochen, das bei Hogrebe leider keine Beachtung findet, jedoch seit langem systematisch erforscht wird, vgl. Rosen 1985, Nadin 2003.

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

In gewisser Weise tasten wir schon, bevor wir ergreifen, sehen wir schon, bevor wir erblicken, hören wir schon, bevor wir registrieren. [Hogrebe 2019:28] Mit dieser existenziellen Grundannahme wird die Reduktion deutlich, die in einer Instrumentalisierung der Sprache zu Zeichen und Information liegt. Bezogen auf Latours Frage nach der Sprachlichkeit der nicht-menschlichen Wesen bedeutet das: Nicht diese müssen sich dem normativen, reduzierten Sinn menschlicher Begriffssprache vermitteln, sondern menschliche Akteure sollen ihr Vermögen aktivieren, sinnliche Affizierungen als erweiterte Sprache wahrzunehmen.48 Formulierungen wie die »Sprache der Natur« sind daher nur zum Teil metaphorisch zu verstehen.49 So erscheinen die Dinge als untereinander verbunden und verständigt zu Ensembles, allenfalls gestört durch menschensprachliche Begriffe.50 Wäre so eine vorgängige Sprachgemeinschaft denkbar, aus der sich die Menschen entfernt haben durch den Verlust der Fähigkeit, unbegriff lich angesprochen werden zu können? Die unbegriff liche Ansprache ist aber eine Grundannahme der Gestaltung: Dinge artikulieren Möglichkeiten und Erwartungen, sie prägen Handlungen, steuern Affekte und lösen Begehren aus.51 Mit dem Begriff der »Affordance« sollte benannt werden, dass der Mensch in der Umwelt Angebote und Aufforderungen zu Handlungen erkennt. Dieses Konzept verortet aber die Aktivität ausschließlich im Wahrnehmungsprozess des Menschen, der entsprechende Signale der Umwelt interpretiert. Die Perspektive der ANT legt dagegen nahe, die Aktivität symmetrisch zu verteilen. Die Umwelt bleibt daher nicht passiv und stumm und wartet darauf, vom Menschen gelesen zu werden. Vielmehr spricht sie den Menschen aktiv an und strukturiert Wahrnehmungen und Handlungen.52 Hier lässt sich eine Verbindung ziehen zur schon vor Jahrzehnten entwickelten »Theorie der Produktsprache« [HFG Offenbach 1983-87]. Diese bezog sich auf eher traditionelle Kommunikationsmodelle, nach denen etwa Bedeutung und Gebrauch in ästhetische Formen eingeschrieben werden sollten. Der Ansatz könnte aber eine wesentlich Aufwertung erfahren, wenn er sich mit der Dimension einer immer schon als sprachlich verfassten Umwelt verbinden würde. Denn ist es nicht unser Verlangen, in 48 Dies wurde auch bei Walter Benjamin angesprochen: »Wem teilt die Lampe sich mit? Das Gebirge? Der Fuchs? (…) Zudem: wenn Lampe und Gebirge und der Fuchs sich dem Menschen nicht mitteilen würden, wie sollte er sie dann benennen?« [Benjamin 1991/1916:143] 49 Ein poetischer Sinn nimmt dies wahr: »Aber das Wehende höre, die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet.« (Rainer Maria Rilke 1912: Erste Duineser Elegie) und womöglich in implizitem Bezug darauf: »Der ununterbrochene Strom dieser Mitteilung fließt durch die ganze Natur vom niedersten Existierenden bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott.« [Benjamin 1991/1916:21] 50 Hier wäre der Begriff des »Entanglements« anzuschließen, wie er von Latour und Haraway entwickelt wurde, doch Hogrebe geht darauf nicht ein. 51 vgl: Jean Baudrillard 1991/1968: Eine neue Sprache? in Das System der Dinge, S. 231, Nelson Goodman 1969: Languages of Art, Christopher Alexander 1977: Pattern Language, Charles Jencks 1978: Die Sprache der postmodernen Architektur und das »semantische Differential« [Jochen Gros in HFG 1983-87:27] 52 Mit Umwelt sind selbstverständlich auch die medialen Angebote gemeint, deren stärkste Einflüsse nicht begrifflich, sondern bildlich und klanglich verfasst sind und so zur Bildung und Ausgestaltung von Concerns beitragen, die Handlungsoptionen vorbereiten. Exemplarisch dafür ist die Popkultur zu nennen. Die Musik, die Mode und die Künste sprechen. Sie sind mächtige Verbündete etwa von Jugendkulturen, denen daher zu Unrecht eine »sprachlose Opposition« [Baacke 1968] unterstellt wird.

287

288

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

deren Vermittlungen und Transformationen einzugehen? Die Gestaltung würde sich dann nicht mehr als Teil eines instrumentellen Verhältnisses zur Umwelt auffassen, wie es für die Moderne prägend war. Vielmehr würden subtile Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen »Morphismen« (um Latours Ausdruck zu gebrauchen, vgl. Einleitung) angenommen werden: jenen der menschlichen Produktion und jenen der Natur, bis hin zu einer Ununterscheidbarkeit in Gestalt der Hybriden. Scott Lash argumentiert, dass die Funktionen möglicher Sprachen aufgefächert werden können als Symbol (vormodern), Ikon (modern) und indexikalische Vermittlung/ Verfolgung (nachmodern). Die Artikulation im Kontext hybrider Netze sei nicht repräsentativ, sondern verfolgend: Einen Morphismus zu weben bedeutet mehr, als nur zu repräsentieren: Es bedeutet auch »Pass«, »Sendung«. (…) es heißt also, den eigenen Morphismus zu schaffen und dann zu kommunizieren. (…) Dort gibt es weder Auralität (das Symbolische) noch Vision (das Ikonische), sondern Taktilität, Indexikalität im Zentrum des Signals und der Informationsökonomie. [Lash 1999:o.S.]

8.4.4 Vom Parlament der Dinge zum Internet der Dinge Die infrage stehende Artikulation nicht-menschlicher Wesen betrifft daher weniger traditionelle Diskursgemeinschaften, sondern die neuen Verhältnisse der »Informationsökonomie«. Hier werden Kommunikationen statistisch erfasst und das Begehren lässt sich in Metriken quantifizieren (wie von Tarde gefordert). Dinge und »Undinge« [Flusser 1993] sind technisch implementiert. Die »ununterbrochene Nachricht« (Rilke) bildet sich nicht mehr aus Stille, sondern aus Datenbanken, die miteinander kommunizieren unter Ausschluss menschlicher Akteure. Diese Prozesse über- und unterschreiten jedes menschliche Maß, da sie zu abstrakt, zu schnell und zu komplex sind und gleichzeitig zu einfach und zu formal. Neben den zu vermittelnden Dingen und Menschen erscheint als dritte Größe die algorithmische Berechnung. Ist hier noch eine gemeinsame Welt vorstellbar? »Der in Papiermedien denkende Latour (…)« [Thielmann 2009:102] kann dazu keine Auskunft geben. Doch seine Begriffe der »Verfolgung« und »Bahnung« gewinnen noch an Bedeutung, denn sie sind im Digitalen keine fragwürdige Option, sondern faktische Realität. Sie werden als »Internet der Dinge« unmittelbar operativ in Dimensionen, die nicht mehr menschlich nachvollziehbar sind, schon gar nicht mit Notizbüchern.53 Eine »szenische Metaphysik« dagegen kann auch in einer digital erweiterten Situation gelten. Denn hier wird keine »gemeinsame Welt« ontologisch vorausgesetzt. Vielmehr lebt jeder in seiner eigenen Welt, die prinzipiell nicht vermittelbar ist, bis auf 53 Das Digitale erzeugt eine Überfülle von Repräsentationen, deren hervorbringende Mechanismen jedoch unsichtbar bleiben. Während sich analoge Repräsentationen auf vorherige Repräsentationen stützen mussten, um verständlich zu sein, können digitale Repräsentationen völlig neue Formen annehmen, für die sich ein kulturelles Verständnis erst noch entwickeln muss. Bilder, Texte und Töne werden aus Datensätzen dynamisch generiert durch »Verfolgung« und »Bahnung« (Latours Begrif fe) und mit Handlungen kurzgeschlossen. Dies zeigt sich etwa bei der Visualisierung von Transaktionen an der Börse, die sich in einem rückgekoppelten Prozess modellieren. Der Ausdruck »Money Talks« gewinnt damit eine neue Bedeutung.

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

temporäre, situativ erzeugte Ensembles, die sich nach kürzerer oder längerer Dauer wieder auf lösen und zu neuen Konstellationen umarrangieren. In diesem Auf bau der Szenen finden die »weltbildenden Aktivitäten« Latours ihren Gestaltungsgegenstand. Der »Sprachverlegenheit« kann daher einerseits nicht ausgewichen werden, da es immer neue Szenen mit immer neuen Aktanten und ihren jeweiligen Artikulationen gibt. Andererseits wird der Anspruch auf das Verstehen dieser Artikulationen relativiert zu einer pragmatischen situativen Verbindung.

8.5 »Infra-Sprache«: Sprechen die Akteure oder wer spricht für sie? Die ANT erkennt ihre Aufgabe im »Beschreibungsgeschäft« und entwickelt dafür eine »Infra-Sprache«.54 Deren Aufgabe ist es, die Akteure nicht zu dominieren, sondern sie zu ihrem eigenen Ausdruck kommen zu lassen. Dazu unterläuft sie konventionelle kategoriale Trennungen und bildet nur schwache Rahmungen aus: Ich finde es am besten, das allgemeinste, das banalste, ja sogar das vulgärste Repertoire zu verwenden, damit keine Gefahr besteht, es mit den eigenen reichen Idiomen der Akteure zu verwechseln. (…) Die ANT zieht es dagegen vor, eine, wie man es nennen könnte, Infrasprache zu verwenden, die strikt bedeutungslos bleibt, sofern sie nicht die Fortbewegung von einem Bezugsrahmen zum nächsten erlaubt. [NSoz:54] Die »Infra-Sprache« soll also nicht selbst positiv bezeichnen, sondern nur als Marker und »Enabler« dienen, um andere sprechen zu lassen: (…) bieten all die von mir eingeführten idiosynkratischen Begriffe nicht viel mehr als spezifische Kniffe, um der Versuchung zu widerstehen, zum Globalen zu springen. Wegen der korrektiven Natur dieser gymnastischen Übung sind die Tugenden der nun folgenden Begriffe vor allem negative. Sie gehören zu unserer Infra-Sprache, wie die schwachen Begriffe ›Gruppe‹, ›Akteur‹, ›Handeln‹, ›Übersetzung‹ und ›fluide‹. Wie auch der Netzwerkbegriff bezeichnen sie nicht was kartographiert wird, sondern wie es möglich ist, irgend etwas aus einem solchen Territorium kartografisch zu erfassen. Sie sind Teil der Ausrüstung, die auf dem Arbeitstisch des Geographen liegt und mit der er Umrisse auf ein Stück Papier projizieren kann. Daher werden die Begriffe (…) nichts Substanzielles über den sozialen Bereich aussagen; sie erlauben nur den ANTForschern, das fluide Soziale wieder versammelbar zu machen (…). [NSoz:301] Diese Vorstellung einer »Infra-Sprache« erinnert an das Konzept des »plain style« im 17. Jahrhundert (vgl. B 8.6.5). Dort wurde von der entstehenden Wissenschaftskommunikation gefordert, dass die Sprache unverstellte Perspektiven auf die Gegenstände der Untersuchung ermöglicht und daher selbst möglichst neutral und transparent sei. Die Sprache sollte als Instrument dienstbar sein, aber nicht selbst in Erscheinung treten. So sollte sie zur Bildung und Standardisierung eines wissenschaftlichen Stils etwa für Experimentberichte beitragen und ist damit Teil jenes Prozesses, den Latour als »Reinigung« bezeichnet und kritisiert. Daher ist bemerkenswert, dass er mit dem 54 In den Übersetzungen Latours finden sich beide Schreibweisen: »Infra-Sprache« und »Infrasprache«.

289

290

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Konzept der »Infra-Sprache« zwar ähnliche Funktionen etablieren will, diese jedoch als »Anti-Reinigung« versteht, da sie den »reichen Idiomen der Akteure« [NSoz:54] zum Ausdruck verhelfen soll.55 Bei Latours Konstruktion der »Infra-Sprache« bleibt fraglich, wie der Ausdruck der Aktanten, Hybride und Quasi-Objekte konzipiert werden soll. Ein »Sprechen« im Sinne einer Teilnahme an menschlicher Kommunikation kann kaum gemeint sein, auch wenn Latour das in seiner eigenwilligen Diktion nicht ausschließen will.56 Dass jede Beschreibung verzerrt, verengt, einseitig und interessegeleitet ist, wird wohl allgemein zugestanden. Wie sollte es auch einen objektiven Maßstab geben können? Doch solange nicht deutlich wird, wie genau sich die »reichen Idiome« und die »Konzepte der Akteure« [NSoz:54] artikulieren sollen, erscheinen die entsprechenden Forderungen als rein rhetorisch. Latour ist sich dieser Schwierigkeit bewusst: Wo werden wir das Widerlager finden, auf das wir diese Fähigkeiten zur Rede provisorisch stützen können, eine Fähigkeit, die irgendwo zwischen dem »ich spreche« und »die Tatsachen sprechen für sich« angesiedelt ist (…). [PD:95]

8.5.1 Die Form des Berichts Transformation Designer wollen komplexe soziotechnische Situationen verstehen und verändern. Dazu brauchen sie angemessene Beschreibungen. Die Form und Funktion eines Berichts sind daher für sie besonders relevant. Latour bestimmt diese zwar nicht präzise, aber sie können aus verstreuten Äußerungen zusammengetragen werden: Einen guten Bericht würde ich definieren als einen, der ein Netzwerk aufzeichnet. Mit diesem Wort meine ich eine Reihe von Aktionen, bei denen jeder Beteiligte als vollwertiger Mittler behandelt wird. (…) Ein guter ANT-Bericht ist eine Erzählung oder Beschreibung oder Proposition, in der alle Akteure etwas tun und nicht bloß herumsitzen. Anstatt bloß Wirkungen zu transportieren, ohne sie zu transformieren, kann jeder der Punkte im Text zu einer Verzweigung werden, zu einem Ereignis oder zum Ursprung einer neuen Übersetzung. [NSoz:223/224] Das Ziel ist es, das Soziale nicht bloß zu beschreiben, sondern seine Performanz zu wiederholen: Haben wir Erfolg (…) so wird ein guter Bericht eine Performanz des Sozialen in dem Sinne sein, dass einige der an der Aktion Beteiligten – durch die kontroverse Vermittlung des Autors – versammelt oder wiederversammelt werden. [ibid.:239/240, Hervorhebung im Original]

55 Die »Idiome der Akteure« werden damit implizit als authentisch angenommen, was im Kontext der gesellschaftlichen Co-Kreation von Concerns als problematisch erscheint. 56 Einige Kommentatoren erkennen darin eine romantische Vorstellung, nach der sich die Dinge selbst aussprechen sollen: »Schaffer kann darin nichts anderes sehen als einen Rückfall in den ›Hylozoismus‹, d.h. eine letztlich romantische Auffassung von der Belebtheit und Beseeltheit der Materie.« [Schüttpelz 2008:15]

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

Der Bericht soll also auch eine Rahmung sein, die ein Re-Enactment ermöglicht, sodass die Performanz der Akteure sich entfalten kann und beobachtbar wird. Hätte ich eine Checkliste aufzustellen, woran man einen guten ANT-Bericht erkennt (…) so würde sie lauten: Ist es den Konzepten der Akteure erlaubt, stärker als die der Analytiker zu sein, oder ist es der Analytiker, der die ganze Zeit redet? [ibid.:55] Für die Funktion ein »Netzwerk aufzeichnen«, erscheinen die Möglichkeiten der Sprache als limitiert, während das Design mit Visualisierung und Modellierung über ein weit größeres Repertoire verfügt. Gerade die Fokussierung auf die Dynamik der Akteure kann, zumal in digitalen Medien, besser durch Design gezeigt als durch Sprache beschrieben werden. Ebenso können die Verzweigungen, von denen Latour spricht, in Hyperstrukturen unmittelbar technisch operativ gemacht werden. Gesucht werden also ein Medium und eine Form der zusammenfassenden Darstellung unterschiedlicher Datentypen. Latour beschreibt die Sammlung des Materials: (…) nach ein paar Monaten ertrinken wir in einer Flut von Daten, Berichten, Transkripten, Tabellen, Statistiken und Artikeln. Wie soll man sich einen Reim auf dieses Durcheinander machen, während es sich auf unseren Schreibtischen stapelt und unzählige Speichermedien mit Daten füllt? Leider bleibt es meist noch zu schreiben und wird gewöhnlich aufgeschoben. (…) weil man in diesem dunklen Datenschlamm herumwatet, um der Welt Licht zu bringen. [ibid.:214/215] Latour scheut sich nicht, die alte Metapher vom Licht der Auf klärung zu bemühen. Die Aufgabe der ANT-Forscher besteht demnach darin, den »dunklen Datenschlamm« in lichte Texte zu verwandeln. Hier scheint Latours visionäre Mission plötzlich kleinmütig zu werden. Warum muss alles in Schrift verwandelt werden, um die Produktion des Sozialen darzustellen? Diese Fixierung auf Schrift und Schreiben muss erstaunen, da Latour selbst mit verschiedenen Medien arbeitet und er eine seiner ersten und wichtigsten Studien als »photophilosophische Montage« bezeichnet.57 Designer dagegen sehen die Schrift als einen Sonderfall von Visualisierung und Modellierung und können die oben genannten Funktionen des »Nachzeichnen eines Netzes« und der »Performanz des Sozialen« in neuen Formen und Formaten realisieren, wie sie etwa in der Forschung zum Wissensdesign entwickelt werden.58 Dabei ist die Kritik der Schriftkultur ein wesentlicher Einf luss, der bei Latour keinerlei Niederschlag findet.59 57 Latour 1997: Der Pedologenfaden von Boa Vista. Zum anderen ist zu fragen, wie bei Latour der Stand der Schriftkritik reflektiert wird nach Dekonstruktion und »visual turn«, für die exemplarisch die Positionen von Wittgenstein, Derrida, Searle und Flusser stehen, außerdem Rheinberger 1992, Nadin 1999, Krämer et al. 2007, 2009a. Das Verhältnis der ANT zu den Medien wurde untersucht als »Akteur-Medien-Theorie« [Thielmann, Schüttpelz 2013]. 58 vgl. Projekt MIND 17, Abb. 19 59 Exemplarisch sei dazu eine Aussage Derridas angeführt: »Es geht auch nicht darum, der Buchhülle noch nie dagewesene Schriften einzuverleiben, sondern endlich das zu lesen, was in den vorhandenen Bänden schon immer zwischen den Zeilen geschrieben stand. Mit dem Beginn einer zeilenlosen Schrift wird man auch die vergangene Schrift unter einem veränderten räumlichen Organisations-

291

292

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

8.5.2 Das Narrativ des Revolutionären Latour postuliert eine Situation, bei der Akteure (in den Handlungsketten) und Soziologen (klassischer Art) konkurrieren. Unklar bleibt jedoch, um was konkurriert wird und wer über den Erfolg entscheidet. Geht es um Aufmerksamkeit (wessen?), akademische Deutungshoheit, Diskursmacht, politischen Einf luss? Behauptet wird jedenfalls, dass bisher die Soziologen ihre einseitigen Kategorien durchsetzen. Die ANT beansprucht nun nicht, sich an deren Stelle zu setzen, sondern will als »Enabler« den bisher unterrepräsentierten Akteuren zur Sichtbarkeit und zum Ausdruck verhelfen. Diese Konstellation erinnert stark an revolutionäre Narrative, wo privilegierte Intellektuelle die unterdrückten Massen befreien wollen.60 Doch was, wenn die Konkurrenz um die Sichtbarkeit und Gültigkeit von Beschreibungen gar nicht so entscheidend wäre, sondern sich die Akteure (in Latours Sinne) ohnehin faktenschaffend artikulierten? Wem sollen die verlangten besseren Beschreibungen dienen? Den Akteuren wohl kaum, denn ihnen äußerlich bleibende Beschreibungen würden deren Funktionen kaum verändern. Bezogen auf das revolutionäre Narrativ: Wer behauptet, dass es Massen gibt, die befreit werden wollen? Und wurde die Kategorie »Revolution« nicht gerade von Latour als Kennzeichen der Moderne verabschiedet? Latour hatte gefragt: »Where are the missing masses?« [WM] und zeigte sich erfreut darüber, in Gabriel Tarde einen Vorläufer zu erkennen, der auch in Sternen und Bakterien Gesellschaften erkennt, deren soziale Gesetze nicht prinzipiell unterschieden sind von denen menschlicher Gesellschaften.61 Doch wie wird die Selbstbeauftragung als Revolutionsführer legitimiert? Ist das Sprechen im Namen der anderen nicht schon eine erste Kränkung ihrer behaupteten Autonomie?

8.5.3 Beobachter und Form, »Flatland« (Abbott) und die »Powers of Ten« (Eames) Die Form des Berichts hängt wesentlich davon ab, wie Beobachter und Beobachtetes konzipiert werden. Wenn die Handlungsketten tatsächlich »f lach« blieben, wie verlangt und die Beobachter den Aktanten nur in ihrer »Bahnung« folgen dürfen (»follow the actors«), sind Aussagen immer nur möglich in der Form: Dies ist verbunden mit jenem, diese Handlung schließt an jene an. Ein solche Perspektive entspricht derjenigen von Bewohnern einer Welt, die nur aus einer Linie besteht. Dieses Gedanken-

prinzip lesen. […] Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden […].« [Derrida 1974/1967:155] 60 Dieses Narrativ beinhaltet auch eine französische Tradition, die das »Denken des Außen« [Ott 2018] forderte und heute im Kontext von Forderungen nach De-Kolonialisierung neu diskutiert wird unter Verweis auf Sartre, Deleuze/Guattari, Foucault und Derrida. Latour könnte hier für die Pointe sorgen, dass gar kein Außen existiert, sondern Menschen erkennen müssen, dass sie immer nur Innen sein können, wie es etwa bei den »envelopes« im Prometheus-Text erwähnt wird (vgl. Lecture-Performance »Inside«, 9.2). Die zu befreienden Massen können daher nicht als Außen gedacht werden, sondern sie sind immer konstitutiver Bestandteil des Innen, allerdings ohne, dass dies bisher ausreichend erkannt und gewürdigt wurde, vgl. »Where are the missing masses?« [WM]. 61 vgl. 7.4

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

experiment wurde bereits im 19. Jahrhundert in einer Erzählung durchgespielt.62 Dort besucht der Ich-Erzähler das »Lineland« und gibt die Auskünfte des Königs wieder: It need scarcely be added that the whole of their horizon was limited to a Point; nor could anyone ever see anything but a Point. (…) Moreover, as each individual occupied the whole of the narrow path, so to speak, which constituted his Universe, and no one could move to the right or left to make way for passersby, it followed that no Linelander could ever pass another. Once neighbours, always neighbours.63 In einer Abbildung wird deutlich, dass der König in der Mitte einer Linie residiert und von dort genau zwei Punkte sehen kann, die jeweils einen Endpunkt seiner nächsten Nachbarn darstellen und gleichzeitig den – allerdings vollständig verdeckten – Horizont (Abb. 43).



Abb. 43: »My view of Lineland«, Illustration aus »Flatland« [Abbott 1884]64

Bezogen auf Latours Forderung bedeutet dies, dass die Aktanten einer Handlungskette keine Auswahl treffen können. Um Bifurkationen zuzulassen, die neue Bahnungen ermöglichen, müsste eine weitere Dimension zur Bildung von Flächen ergänzt werden. Ebenso können Beobachter, die den Aktanten in ihren Bahnungen folgen sollen, keine Alternativen erkennen. Für die Bewohner der Linien-Welt sind Rückblicke und Vorausschauen nicht möglich. Formen können nicht erkannt werden, denn dies würde Beobachter voraussetzen, die mindestens eine Dimension mehr erfassen können.65 Es ist daher nur konsequent, dass Latour eine bekannte Visualisierung ablehnt, die von Designern jedoch als stilprägend anerkannt wird: Die »Powers of Ten« von Charles und Ray Eames [Eames 1977]. Hier wird eine Auf- und Abskalierung von Mikro- und Makroebenen gezeigt, die als Einlösung von Latours Forderung nach neuen Visualisierungen verstanden werden könnte. Latour kritisiert diese jedoch als »grotesk irreführend« und »grotesk falsch«:

62 vgl. Abbott 1884: Flatland. A Romance of Many Dimensions 63 https://en.wikisource.org/wiki/Flatland_(second_edition)/Section_1, S. 55/56 64 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:A-view-of-Lineland.png 65 vgl. den Bezug bei Luhmann und Baecker auf die »Laws of Form« [Spencer-Brown 1997]

293

294

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

(…), dass wir dazu neigen, uns die Größenordnung – Makro, Meso, Mikro – als ein wohlgeordnetes Zoom vorzustellen. Das erinnert ein wenig an das wunderbare, aber grotesk irreführende Buch Zehn hoch, in dem jede Seite ein Bild zeigt, das eine Größenordnung näher rückt als das vorhergehende, angefangen bei der Milchstraße bis zu den DNA-Strängen, mit einem Foto irgendwo in der Mitte, das zwei junge Menschen beim Picknick in der Nähe des Lake Superior zeigt. Eine Mikrosekunde Nachdenken genügt, um sich klarzumachen, dass diese Montage irreführend ist – wo sollte eine Kamera lokalisiert sein, um die Milchstraße als Ganzes zeigen zu können? Wo ist das Mikroskop, das in der Lage wäre, diesen DNA-Strang anstelle des anderen zu zeigen? Entlang welchen Maßstabs ließen sich die Bilder so regelmäßig anordnen? Eine schöne Assemblage, doch grotesk falsch. [NSoz:319/320] Warum hier die Frage des Maßstabs gestellt wird, erschließt sich nicht, denn die Antwort wird ja bereits im Titel genannt: Die Maßstäbe wandeln sich in Zehnerpotenzen. Die Fragen nach Kamera und Mikroskop wirken seltsam deplatziert, weil sie sich auf operative Fragen beziehen, um die sich Latour sonst nicht kümmert und deren Orientierung an der Optik im Zeitalter des Digitalen ohnehin als technisch überholt erscheint. In der Ausstellung Reset Modernity von 2016 wird das Video von Powers of Ten gezeigt und auf einer Schrifttafel kommentiert: In order to develop a more accurate vision of the scientific worldview, we believe that it is important to show the gaps, separating the many different instruments and the legions of skilled engineers and scientists. They are those who would need to assemble different viewpoints in order to guide the observer from galaxies to atomic particles.66 Die Visualisierung der Eames’ wird kritisiert, weil sie die Lücken zwischen den verschiedenen Instrumenten und Situationen der Visualisierung elegant überspielt (»fake continuity«, »fake omniscience«, ibid: 7:57 min.). Gleichzeitig wird aber an der Forderung festgehalten, verschiedene Perspektiven zu verbinden. Hier scheint ein Missverständnis vorzuliegen: Die Visualisierung der Powers of Ten liefert ein Narrativ der nahtlosen Reise zwischen den Dimensionen, ohne jedoch einen von der Kritik unterstellten wissenschaftlichen Anspruch zu erheben. Stattdessen erfüllt sie designgemäß genau Latours Forderung einer Assemblage als »drawing things together« [DrawT]. Wenn aber auf einer Markierung der Lücken bestanden wird wie oben gefordert, fallen die Darstellungsräume wieder auseinander und die Fachwissenschaften finden keinen common ground für die Verbindung ihrer unterschiedlichen Perspektiven. Die vor 50 Jahren konzipierte Visualisierung der Powers of Ten hat ihren Wert gerade darin, die Zusammensetzung eines gemeinsamen Vorstellungs- und Handlungsraumes sichtbar zu machen. Dies entspricht Latours Begriff »compositionist« [Latour 2010]. Zwar ist die raum-zeitliche Anordnung der Eames’ nicht das, was Latour im Sinn hat, wenn der Maßstab »die Leistung der Akteure selbst« [ibid.:319, vgl. 8.4.3] sein soll. Doch was spricht dagegen, die jeweiligen Maßstäbe der Akteure in geometrische, zeitliche oder andere Register einzutragen (oder umgekehrt, um jeden Verdacht der Superiorisierung zu zerstreuen)? Voraussetzung dafür wäre allerdings wenigstens ein 66 https://vimeo.com/316139089, 5:46 min

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

Beispiel für die behaupteten »Maßstäbe der Akteure« samt ihrer Visualisierung genannt und gezeigt zu bekommen, was Latour jedoch schuldig bleibt.67 Die Frage der Maßstäbe gewinnt eine völlig neue Bedeutung in Bezug auf digitale Umwelten, die bei Latour weitgehend ausgeblendet bleiben. Hier gehen die Dimensionen weit unter und über jedes menschliche Maß hinaus: Unvorstellbar winzige Strukturen im Silizium und unvorstellbar kurze Zeiten der Prozesse verbinden sich mit globaler Übertragung und weitreichenden Folgen.68 Das Thema der Skalierung muss hier völlig neu gedacht werden und es bleibt fraglich, ob dies mit Latours begriff lichen Mitteln zu leisten ist. Können Kabel und Satelliten, Bits und Quanten Aktanten sein, und welche Maßstäbe sollten ihnen entsprechen?

8.6 Welches Protokoll für die neuen kollektiven Experimente? In seinem Text »Ein vorsichtiger Prometheus …« [Prom_dt.] hatte Latour eine Aufgabe für Designer formuliert: Wie können die Kontroversen um matters of concern visualisiert werden? Schon vorher hatte Latour eine andere Frage gestellt, die nach einem umfassenderen Rahmen fragt: »Which protocol for the new collective experiments?« [Latour 2004b].

8.6.1 Das »Protokoll« als Bericht, Ermöglicher und Format Der englische Begriff »protocol« wurde einfach als »Protokoll« ins Deutsche übertragen. Damit wird ein Bezug zur Funktion der Dokumentation suggeriert, des Festhaltens von Prozessen ex post. Eine wesentliche, auch im Deutschen mitschwingende Bedeutung von »Protokoll« liegt jedoch in der Funktion des Ermöglichens, also ex ante. Ein formaler Austausch zu den Randbedingungen wird vorgeschaltet, um in der Folge den eigentlichen Austausch erst zu ermöglichen.69 Latour behauptet, in seinem Projekt »An Inquiry Into Modes of Existence« [MEx] von 2013 ein »research protocol« entwickelt zu haben. Dieses soll die einst negativ formulierte Aussage »Wir sind nie modern gewesen« von 1991 um eine positive Antwort ergänzen:

67 Ebenfalls in der Ausstellung gezeigt wurde Superpowers of Ten von Andrés Jaque/Office for Political Innovation. Dieses Werk bezieht sich sowohl auf die Powers of Ten als auch auf den diesem zugrunde liegenden Comic Cosmic View: The Universe in 40 Jumps von Kees Boelke von 1957 (https://en.wikipedia. org/wiki/Cosmic_View): »(…) focusing the collective gaze, as a linearity in which the jumps in scale and the interaction between genes, bodies, societies and technologies were seen as automatic, nonproblematical and apolitical. We are fans of the Powers of Ten (…) and that is precisely why we inhabit its conflicts.« [Jaque 2016:79] Seit 2012 gibt es die App Cosmic Eye, die einen ähnlichen Zoom wie ihre Vorbilder interaktiv auf dem Smartphone zeigt (https://en.wikipedia.org/wiki/Cosmic_Eye). Latour will seine Kritik aber ausdrücklich als »Anti-Zoom« verstanden wissen. [vgl. Mersmann 2019:54/55] 68 vgl. Hunt 2020, vgl. 8.4.3 69 Dies ist beim diplomatischen Protokoll der Fall, das einen formalen Rahmen definiert etwa für die Begegnung von Botschaftern. Gleiches gilt in der technischen Datenübertragung, wo im Protokoll zunächst die verwendeten Standards abgeglichen werden, um den folgenden Datenaustausch zu ermöglichen, vgl. Krajewski 2010.

295

296

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

(…) if ›we‹ have never been modern, then what have ›we‹ been? From what sort of values should ›we‹ inherit? In order to answer this question, a research protocol has been developed that is very different from the actor-network-theory. The question is no longer only to define ›associations‹ and to follow networks in order to redefine the notion of ›society‹ and ›social‹ (as in ›Reassembling the Social‹) but to follow the different types of connectors that provide those networks with their specific tonalities. [www.brunolatour.fr/node/252] Dieses »research protocol« entspricht weniger einer Dokumentation von Prozessen, sondern ist vielmehr selbst ein Versuchsauf bau. Der Begriff »protocol« sollte daher auch die Funktionen der Eröffnung eines Forschungs- und Beschreibungsraums umfassen. Die Übersetzung als »Protokoll« erscheint dafür als ungeeignet. Alternativ wird als angemessenere Übersetzung der Begriff »Format« vorgeschlagen, der außerdem spezielle Konnotationen in Design und Datentechnik hat. Latours Frage nach den Beschreibungen und Berichten (accounts) erfährt hier insofern eine Spezifizierung, als nicht mehr allgemein nach den Beschreibungen von Assoziationsketten gefragt wird, sondern nach Berichten, Protokollen und Formaten der »neuen kollektiven Experimente«. Mit diesem Ausdruck soll bezeichnet werden, dass es nicht mehr um Experimente im Labor geht, sondern um unbegrenzte, gesellschaftliche Situationen. Damit ist die ohnehin illusionäre Trennung der Wissenschaft von Werten und Concerns nicht länger aufrechtzuerhalten: The sharp distinction between, on the one hand, scientific laboratories experimenting on theories and phenomena inside their walls, and, on the other, a political outside where non-experts were getting by with human values, opinions and passions, is simply evaporating under our eyes. We are now all embarked in the same collective experiments mixing humans and non-humans together – and no one is in charge. Those experiments made on us, by us, for us have no protocol. No one is explicitly given the responsibility of monitoring them. Who has the power of saying the last word, of deciding for all of us? This is why a new definition of sovereignty is being called for. [Latour 2004b:4]

8.6.2 Der Wettbewerb der Beschreibungen Latours Frage galt einem Protokoll, Bericht oder Format für die »kollektiven Experimente«. Doch wie kann bei den angedeuteten komplexen Fragestellungen davon ausgegangen werden, dass hier nur ein Protokoll, Bericht oder Format möglich wäre? Latour behauptet: »Those experiments made on us, by us, for us have no protocol« [Latour 2004b:4]. Dies trifft jedoch nicht zu. Im Gegenteil: Alle Anspruchsgruppen produzieren Protokolle, Berichte und Formate, ebenso wie die gesamte Vielfalt rhetorischer Formen, Narrative und Visualisierungen. Keine dieser Beschreibungen kann jedoch hoffen, die Gesamtheit der Perspektiven zu erfassen, und keine Beschreibung kann erwarten, allgemein anerkannt zu werden. Vielmehr bilden die konkurrierenden Beschreibungen den Schauplatz der Auseinandersetzungen. Der politische Kampf ist der Kampf um die Durchsetzung der eigenen Darstellung. Wer die Mehrdimensionalität komplexer Probleme auf wenige, beherrschbare Aspekte reduziert und dies als Standardansicht durchsetzen kann, dem wird es auch gelingen, die darauf basierenden Entscheidungen herbeizuführen. Die geforderte »new

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

definition of sovereignty« [ibid.:4] wurde damit bereits gefunden: »Souverän ist, wer über die Verf lachung entscheidet.« [Sloterdijk 2006:161]70 Auch wenn daher kein »Universal-Protokoll« denkbar ist, kann doch die Vielfalt von Berichten und Beschreibungen produktiv gemacht werden. Es käme darauf an, die unterschiedlichen Lebens-, Sprach- und Bildwelten in ihrer Pluralität zu versammeln und in Austausch zu bringen. Genau das ist häufig die Aufgabe von Designern, wenn sie als Moderatoren komplexer Prozesse die Mitwirkung von Anspruchsgruppen organisieren und dafür die Mittel des Designs einsetzen wie etwa personas, user journeys oder moodboards.

8.6.3 »New collective experiments« als Reallabore? Bei den von Latour angesprochenen »new collective experiments« ist nicht klar, ob er dabei von seinem Begriff der Kollektive ausgeht, der auch nicht-menschliche Akteure umfasst oder ob eine traditionelle Beschreibung von Gesellschaft gemeint ist, die auf menschliche Akteure beschränkt ist. Diese Unterscheidung hat Auswirkungen für die Überschneidungen mit dem Begriff des Reallabors: Die Idee des Reallabors überträgt den naturwissenschaftlichen Begriff »Labor« in die Analyse gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Sie knüpft an die experimentelle Wende in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an. Es bestehen enge Verbindungen zu Konzepten der Feld- und Aktionsforschung. (…) Reallabore bezeichnen gesellschaftliche Kontexte, in denen Forscherinnen und Forscher Interventionen im Sinn von »Realexperimenten« durchführen, um über soziale Dynamiken und Prozesse zu lernen.71 Die hier gemeinten Reallabore beziehen sich meist auf die Verbindung wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Parteien und die Partizipation von Betroffenen etwa in der Stadtplanung [vgl. Seebacher et al. 2018]. Reallabore sind aber weder neu noch exklusiv progressiven Zwecken vorbehalten. Hier sind historische Projekte zu nennen, in denen sich wissenschaftliche Forschungen nicht nur über Laborwände, sondern auch über praktische und ethische Grenzen hinwegsetzten. So fand die Eugenik unter den totalitären Bedingungen der Nazi-Herrschaft erweiterte Möglichkeiten, die von Wissenschaftlern gerne angenommen wurden [vgl. Nate 2014]. Ein solches Forschungs- und Wirkungsfeld wäre als ein Reallabor dystopischer Art anzusehen. Aber auch gegenwärtig werden Daten erzeugt und genutzt, die bis vor Kurzem noch entweder nicht vorhanden waren oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand hätten gewonnen werden können. Die Macht der großen digitalen Plattformen durch den Besitz von Daten begründet deren Forschungsinteresse an intelligenter Auswertung. Damit haben sich einst auf das Labor beschränkte Forschungsgebiete längst in

70  vgl. 7.1.3 71 Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung – Globale Umweltveränderungen 2014: Sondergutachten Klimaschutz als Weltbürgerbewegung, S. 93, https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/ wbgu/publikationen/sondergutachten/sg2014/wbgu_sg2014.pdf

297

298

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Reallabore entgrenzt.72 Latour erkennt richtig, dass sich hier zwei Formen der Repräsentation treffen und durchdringen: We used to have two types of representations and two types of forums: one that was in charge of representing things of nature – and here the word representation means accuracy, precision and reference – and another one which was in charge of representing people in society – and here the word representation meant faithfulness, election, obedience. One simple way to characterize our times is to say that the meanings of representation have now merged into one around the key notion of spokesperson. [Latour 2004b:4]73 Der Ausdruck »new collective experiments« suggeriert einen Neuigkeitswert, der im Verschwinden einer Grenze zwischen der Forschung in Laboren und der politischen Außenseite besteht. Doch hat es diese Grenze je gegeben? Wer finanziert die Forschung in den Laboren und nach welchen Regeln läuft sie ab? Zum großen Teil finanziert sie der Staat, der auch die politischen Rahmenbedingungen vorgibt, in denen sich staatliche wie kommerzielle Forschung bewegen müssen. Wo bleiben die Ergebnisse und Produkte der Forschung? Sie f ließen ein in das Handeln von politischen Entscheidungsträgern und werden im Markt genutzt.74 Sämtliche technischen Neuerungen lassen sich daher als kollektive Experimente in gesellschaftlichem Maßstab verstehen: die Erfindungen von Eisenbahn, Auto und Mondrakete, Stahl, Plastik und Asbest, Buch und Computer: Wie sollten solche experimentellen Entwicklungen je auf ein Labor beschränkt gewesen sein?75 Latours Beobachtung ist zutreffend, aber nicht originell. Jede neue, aus der Forschung hervorgegangene Technik stellt Fragen von gesellschaftlicher Tragweite: Welche Folgen haben Freilandversuche mit genverändertem Mais, die Forschung an Stammzellen oder durch CRISPR manipulierte menschliche Gene? Die realistische Antwort kann nur lauten: Man weiß es nicht. Die Politik beauftragt Experten, die Risiken und Nutzen abschätzen sollen als Grundlage für Entscheidungen der Verwaltung. Dabei hat sich jedoch gezeigt, dass für jede beliebige Bewertung wissenschaftliche Begründungen geliefert werden können, wie in der Corona-Pandemie erneut belegt wurde.

72 So entstehen Reallabore auch, wenn unausgereifte Software auf den Markt gebracht wird, damit sie durch die Mitwirkung von Kunden und deren Zeit, Geld und Nerven weiterentwickelt wird. 73 Die Nennung einer »spokesperson« – noch dazu in zentraler Rolle – kann als Hinweis auf menschliche Akteure gelesen werden, was zur Frage führt, wo die Aktanten in Latours Sinne geblieben sind, die sich doch selbst ausdrücken sollten. 74 Als aktuelles Beispiel eines Reallabors kann die Corona-Pandemie betrachtet werden. Das Virus ist im Sinne der ANT ein Mittler, der umfangreiche Transformationen auslöst. Institutionen und Verfahren, Systeme und Personen müssen sich auf bisher unbekannte Gefahren einstellen, ohne dass es ein Außen der gesicherten Beobachtung gibt. Auch der massive Einsatz von biometrischer Erfassung in Verbindung mit »Social Scoring«-Systemen in China kann als ein Reallabor angesehen werden. 75 Besonders deutlich wird dies an der Geschichte des LSD, das in den Laboren der Firma Sandoz seinen Anfang nahm, in den USA vom Militär genutzt und zu ärztlichen Testzwecken abgegeben wurde, sich von dort unkontrolliert verbreitete und schließlich verboten wurde, vgl. Pollan 2019.

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

8.6.4 Design für das Protokoll von Experimenten in Reallaboren Im Prometheus-Text formulierte Latour die Aufgabe des Designs, Visualisierungen für matters of concern zu erstellen. Im Hinblick auf die gezeigten Schwierigkeiten des »Beschreibungsgeschäfts« ergibt sich aber eine wesentliche Erweiterung dieser Aufgabe: Die neue Konzeption des Sozialen mit ihren Assoziationen, Akteuren und Handlungsketten in ihren mikroskopischen Dimensionen, Komplexität und Heterogenität bringt die sprachliche Darstellung an ihre Grenzen. Latours Sprache mit ihrer übermäßigen Nutzung von Metaphern und der gewollten Nähe zur Literatur mag als »Imaginationshilfe« [Greif 2016:63/66] dienen, sie beantwortet aber nicht die Frage, wie die neuen Protokolle für Experimente in Reallaboren verfasst sind. Wenn sich Experimente auf Labore beschränken, mag es ausreichen, wenn sich eine wissenschaftliche Gemeinschaft darüber mit Fachsprachen verständigt. Reallabore jedoch lassen diese Beschränkungen nicht zu. Damit öffnet sich für die hier stattfindenden Experimente die ganze Vielfalt von Kommunikationsformaten, die in der realen Welt gegeben ist. Diese werden längst vom Design bearbeitet: von der Datenvisualisierung bis zu komplexen Szenarios und VR-Umgebungen samt deren algorithmischen Funktionen. Rhetorische Formen sind dabei ausdrücklich inbegriffen, womit dem »plain style« des traditionellen Wissenschaftsbetriebs nur mehr eine Nischenfunktion zukommen kann.76 Latours Projekt, die Verstrickung der wissenschaftlichen Aktivität mit sozialen, öffentlichen und politischen Aspekten zu zeigen, wird operativ in Form der Reallabore. Der Preis für diese Wissenschaft auf dem Marktplatz der Öffentlichkeit ist aber die Auf hebung von Schutz- und Filterfunktionen durch Qualifikation und Einweihung, wie sie am wirksamsten durch Fachsprachen praktiziert wurde. Experten für Medizin, Mobilität oder Klimawandel müssen ihre Positionen heute als visuelle Rhetorik darstellen und damit auf medialen Schauplätzen überzeugen. Der politische Kampf um Positionen ist ein Kampf um die Deutungshoheit qua Medien geworden – eine Einsicht, die schon vor Jahrzehnten gewonnen wurde, aber von Latour in Absenz jeder Medienref lexion ignoriert wird.

8.6.5 Wissenschaft, Rhetorik und Literatur in der frühen Neuzeit In Latours Ausstellungen lassen sich Aspekte der barocken Kunstkammer finden77, und die Arbeiten für das Theater werden von den Autoren explizit in eine vormoderne Tradition gestellt.78 Daher liegt die Frage nahe, ob vormoderne Formen nicht auch Verbindungen zu den gesuchten Protokollen der »new collective experiments« [Latour 2004b] haben könnten. Damit gerät gerade jene Epoche des 16. und 17. Jahrhunderts in den Blick, wo »Wissenschaft, Rhetorik und Literatur« [Nate 2009] vielfach und produktiv aufeinander bezogen waren. So dokumentieren etwa die Experimentberichte der englischen Royal Society explorative Aktivitäten, die Erfinden und Erforschen nicht strikt unterscheiden 76 Die Corona-Pandemie zeigte diesen Zusammenstoß der wissenschaftlicher Fachkommunikation von Virologen und Epidemiologen mit den medialen Mitteln von Journalisten und Laien. 77 vgl. 9.2.1 78 vgl. Aït-Touati 2020, 3.2.6

299

300

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

und durchaus Elemente des Phantastischen enthalten können. Sowohl die Sprachform als auch die Visualisierungen dieser Berichte scheinen Latours Forderung nach »mehr Details« [NSoz:239] und seinem Slogan »Follow the actors!« zu entsprechen. So wird die Untersuchung einer Ameise für Robert Hookes »Micrografia« in einem »ausführlichen Verlaufsprotokoll« als »interaktive(n) Begegnung zwischen Forscher und Versuchstier« beschrieben [Nate 2009:113/114]. Das Objekt der Untersuchung wird dabei nicht auf einen bestimmten physiologischen Aspekt reduziert (…) sondern ist, wenn auch in extrem eingeschränkter Form, Akteur (»struggling and striving«). [Nate 2009:114/115] Über die Darstellung wird geurteilt: Zum anekdotischen Charakter des Berichts trägt entscheidend bei, dass Hooke das Geschehen nicht von seinem Ergebnis her schildert, sondern dessen Prozesshaftigkeit textlich nachvollzieht. (…) weniger ergebnis- als prozessorientiert gestaltet, erfüllt die Darstellung die Anforderungen eines »true and full account« (…). [Nate 2009:113, 119] Wahr und vollständig sollen die Experimentberichte auch nach Latour sein, aber bedeutet dies, auf jede Auswahl von berichtenswerten Parametern zu verzichten? Hooke berichtet ausführlich von den Schwierigkeiten, die Ameise durch Alkoholisierung stillzustellen, um physiologische Untersuchungen am Mikroskop durchführen zu können. In der Nacherzählung des Experiments durchdringen sich daher verschiedene Ebenen von Aktion und Reaktion, Beobachtung und Beschreibung. In den Berichten anderer Autoren wie Robert Boyle werden dazu auch noch die zufälligen Lebensumstände des Forschers berichtet.79 Die von Latour so genannte »Reinigung« moderner Berichte betrifft die Ausklammerung eben dieser weniger relevanten Umstände. Im Modell des Experimentalsystems nach Rheinberger (vgl. 3.2.3, Abb. 22) vollzieht sich der Forschungsprozess durch die Bildung temporärer Black Boxes, die aktuell nicht interessierende Aspekte aufnehmen. Die physiologische Untersuchung der Ameise hätte also davon abzusehen, wie diese stillgestellt wurde, sondern setzt dieses als Faktum voraus. Das Thema einer anderen Versuchsreihe könnte aber die Frage des Alkoholeinf lusses auf Ameisen sein, wobei dann entsprechend die physiologischen Fragen ausgeklammert würden. Das Kriterium »wahr und vollständig« bedeutet daher nicht, einfach alle nur denkbaren Faktoren unabschließbar aufzuzählen, sondern Rechenschaft zu geben über die zugrundeliegenden Entscheidungen für Ein- und Ausklammerungen. Die Effizienz der modernen Forschung beruht im Wesentlichen auf der Durchsetzung allgemeingültiger Formate zur Beschreibung von Experimenten, sodass nicht für jeden Versuch individuelle Beschreibungen entwickelt und begründet werden müssen. Diese Forschungsdesigns ermöglichen die Wiederholung und Überprüfung der Experimente sowie die Vergleichbarkeit von Prozessen und Ergebnissen. Latour fordert für seinen »zweiten Empirismus« [WSMC:24] jedoch eine lückenlose Beschreibung, die alle Umstände der Untersuchung referiert und der kein Detail zu un-

79  z.B. » tagebuchartige Vermerke« wie »this night after supper« [Nate 2009:116, 118]

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

wichtig sein darf. Seine »Infra-Sprache«80, die den »reichen Idiomen« der Akteure zum Ausdruck verhelfen soll, scheint daher der Position vormoderner Autoren zu entsprechen, die sich als »Sekretär« der Natur verstanden und einen »plain style« forderten: (…) setzt sich in den Wissenschaften des 17. Jahrhunderts eine Vorstellung durch, die für das naturwissenschaftliche Selbstverständnis nachfolgender Jahrhunderte maßgeblich bleiben wird: die Vorstellung einer Transparenz von Sprache und Stil. Dementsprechend präsentiert sich der von den Naturwissenschaften propagierte plain style als ›stilloser Stil‹ der seine eigene Sprachlichkeit so weit wie möglich zu verbergen sucht. [Nate 2009:15, auch 105] Dieser Anspruch wurde allerdings schon zeitgenössisch persif liert81, während ihn Latour 300 Jahre später mit seiner Konzeption der »Infra-Sprache« ernsthaft zu erheben scheint. Die Vergleichbarkeit Latours mit Autoren wie Jonathan Swift oder Edgar Allen Poe scheitert damit an der bei Latour fehlenden Selbstdistanzierung. »Gute Soziologie muss gut geschrieben sein« [NSoz:217] forderte Latour und will keinen Unterschied zwischen »wissenschaftlichen« und »literarischen Köpfen« [NSoz:216] erkennen (vgl. 8.2) Für die historische Entwicklung galt: (…), dass die ehemals rhetorische inventio, Prozess des Findens geeigneter Argumente in der Rede, inzwischen der sachbezogenen, wissenschaftlichen inventio gewichen ist. [Nate 2009:157] Latour scheint diese historische Entwicklung umkehren zu wollen und die wissenschaftliche Erfindung wieder durch die rhetorische zu ersetzen oder zumindest zu ergänzen. Die Forscher und Projektemacher des 17. Jahrhunderts übernahmen rhetorische Formen von Seefahrern und Entdeckern, indem sie nie gesehene Welten in Aussicht stellten.82 Eben dies praktiziert auch Latour mit seinen ausdauernd gebrauchten Metaphern von Landschaft, Reise und unbekannten Entitäten, denen Namen zu geben er für sein gutes Recht als Entdecker hält.83

80 vgl. 8.6 81 vgl. Jonathan Swifts »A Tale in the Tub« von 1704 [Nate 2009:87] 82 Dies ist etwa bei Francis Bacon und seiner Instauratio Magna (»große Erneuerung«) von 1620 der Fall. Auch die heute propagierte »Große Transformation« [WBGU 2011] steht noch in dieser Tradition. 83 Die Fokussierung auf kleinste Dimensionen (»ANT’s view«) ist dabei plausibel gewählt, da diese als vorgängig zu den infrage gestellten Kategorien argumentiert werden können. Allerdings steht diese Festlegung im Widerspruch zu der zentralen Aussage, dass die Akteure ihren Maßstab selbst bestimmen. Vergleichbar ist die These des Physikers Otto Rössler, nach der alle bisherige Physik als »Exophysik« anzusehen sei, da sie ihre Gegenstände nur von außen beschreibe. Dementsprechend sei eine komplementäre »Endo-Physik« zu entwickeln [Rössler 1992]. Dies kann als Hinweis auf ein noch ausstehendes »Denken des Innen« verstanden werden, wird jedoch in Latours Theaterstück »Inside« [Aït-Touati, Latour 2022:15-47] nicht thematisiert.

301

302

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 44: Albrecht Dürer und Robert Hooke: »ANT’s view«?84 Nie gesehene Welten versprachen in der frühen Neuzeit auch die neuen Werkzeuge wie Mikroskop und Teleskop. »Mehr Details« war daher nicht nur eine Frage der Beschreibung, sondern zuallererst eine der Beobachtung (Abb. 44). Visualisierungen sollten die technisch möglich gewordenen Einblicke vermitteln und durch Nutzung neuer und erschwinglich gewordener Drucktechniken verbreiten. Die Auswahl und Inszenierung der Motive wurden allerdings auch durch die Fantasie der Illustratoren und Autoren bestimmt, sodass das Ideal eines »plain style« im Visuellen kaum aufrecht zu erhalten war. Auch für die heutigen Techniken der Visualisierung gilt noch, dass eine visuelle Rhetorik nicht weniger unvermeidlich ist als eine sprachliche. Latours Suche nach den Protokollen für die neuen kollektiven Experimente wird daher auch in den Visualisierungen keine neutralen Darstellungen und Vermittlungsformen finden. Die Einsicht in den Eigensinn von Visualisierungen, die Verwendung von Metaphern und die Vielgestaltigkeit der Sprache bedeutet eine Aufwertung der Ästhetik und ihrer Erkenntnis generierenden Funktionen. Latours experimentelle Medienpraxis scheint dies bereits zu realisieren, auch wenn ihr Urheber davon kaum etwas weiß oder es jedenfalls nicht explizit zulassen will. Daher wäre Latour vermutlich einverstanden mit der Ehrung durch einen Titel, den die Royal Society im Jahre 1662 an Robert Hooke verlieh: »Curator of Experiments«.85

8.6.6 Projektemacher und Designer Die Epoche der frühen Neuzeit ist für das Design auch deswegen relevant, weil hier der Typus des »Projektemachers« entsteht.86 Dieser verband die Entwicklung neuer technischer Verfahren und Produkte mit fantastischen, teils literarisch ausgeschmückten Versprechungen zum Vorschlag eines Geschäftsmodells. Dieses erforderte zunächst die Finanzierung durch ein gutgläubiges Publikum, dem dafür entsprechende Erträge versprochen wurden. Die Verbindung von Forschung und Technik, Leidenschaften und Spekulation, persuasiver Ästhetik und Ökonomie in origineller und gewagter Weise scheint auch der Positionierung heutiger Designer zu entsprechen. 84 Albrecht Dürer 1503: Das große Rasenstück [Ausschnitt, Albertina Wien], Robert Hooke 1665: Ameise, Mikrographia [aus Nate 2009:114] 85 vgl. Nate2009:162 86 vgl. Krajewski 2004, außerdem Daniel Defoe 1887: An Essay upon Projects, https://www.gutenberg.org/ files/4087/4087-h/4087-h.htm

8 Latours Sprachform und Theoriedesign

Auf dem Bild »Der Projektemacher« von Carl Spitzweg (Abb. 45) ist der Projektemacher als Erfinder und Gestalter von seinen Ideen im Wortsinn bef lügelt. Er schaut visionär aufwärts zu den neuen Möglichkeiten, während sein Assistent bereits die Katastrophe erkennt und die Hände zum Beten hebt, da sich der Ballon vom Luftschiff gelöst hat und der Absturz unweigerlich folgen muss.

Abb. 45: Carl Spitzweg: »Der Projektemacher« (um 1870), Ausschnitt87

8.7 Fazit Sprach- und Theorieform sind bei Latour nicht zu trennen. Sein Ansatz ist originell und unterläuft gängige Kategorien und Genres. Der redundant vorgetragene Anspruch, neue Bahnungen und Vernetzungen zu ermöglichen, wird jedoch konterkariert durch eine selbstbezügliche Begriffswelt, die sich gegen Kritik weitgehend immunisiert hat. Latours Nähe zur Kunst und zum Ausstellungs- und Theaterbetrieb legt nahe, seine Produktion als Gesamtkunstwerk anzusehen, innerhalb dessen sich der Autor geschickt zwischen Demutsgesten und Großdenkerattitüde inszeniert. Für einen solche Position kann die vormoderne Figur des Projektemachers als Muster dienen. Dessen Rhetorik entspricht seinen vielfältigen Zwecken und lässt sich nicht einschränken durch fachliche oder moralische Grenzen: Beim Projektemachen geht es um die unwahrscheinliche Kombination von Akribie und Argumenten, Übertreibung und Spekulation, Überzeugung und Pathos. Was der Projektemacher verspricht, erscheint als unerhört, vielleicht unmöglich, aber allemal interessant. Er kann daher leicht als unseriöser Gaukler, Hasardeur oder Scharlatan erscheinen, dessen Pläne häufig scheitern. Er kann aber auch immer wieder überraschende neue Perspektiven erzeugen, und warum soll ihm nicht doch einmal der große Wurf gelingen? Wie anders sollten echte, disruptive Innovationen entstehen? Projektemacher müssen solvente Partner zur Durchsetzung ihrer Vorhaben gewinnen, sodass einem staunenden Publikum unerhörte Neuigkeiten vorgesetzt werden können. All das scheint auf Latour zuzutreffen. Gut möglich, dass er zustimmen würde, ihn nicht nur als Liebhaber und Studenten der Wissenschaften zu sehen, sondern in ihm auch einen Projektemacher zu erkennen.

87 vgl. das Buchcover von Krajewski 2004

303

9 Latours Projekte

Neben seinen Schriften ist Bruno Latour durch zahlreiche Projekte präsent. Dazu gehören Ausstellungen und Netzprojekte, Theaterarbeiten und ein Hörspiel, samt opulenten begleitenden Publikationen.1 Die Projekte Latours wurden im Gegensatz zu seinen Texten bisher weniger vollständig und detailliert rezipiert. Sie zeigen jedoch ein originelles Theoriedesign, das theoretische und praktische Aspekte verbindet. Im Folgenden sollen einige Beispiele besprochen werden, die speziell für das Thema Design und Transformation relevant sind. Ergänzend wird das Forschungsprojekt »MACOSPOL« (2008–2009) vorgestellt, das Beispiele zum Thema Visualisierung bietet, aber bisher kaum wahrgenommen wurde. Dieses Projekt bietet die seltene Möglichkeit, praktische Umsetzungen nach den Vorgaben der Akteur-Netzwerk-Theorie zu verfolgen und zu bewerten. Im Vergleich zur ambitionierten Theorie war das Projekt jedoch eher traditionell angelegt und wurde nur unzureichend dokumentiert. Hier wird es durch medienarchäologische Erschließung so weit wie möglich rekonstruiert.

9.1 Aktuelle Omnipräsenz Bei seinen Aktivitäten kooperiert Latour mit einer Vielzahl von Partnern außerhalb seines Fachgebiets wie Theaterregisseuren, Künstlern und Programmierern und erreicht so ein Publikum, das weit über die engeren Fachkreise hinausgeht. Diese Projekte entfalten eine populäre Wirkung durch die Verbindung mit prominenten Namen aus Wissenschaft, Kunst und einf lussreichen Institutionen. Durch seine Präsenz im Ausstellungsbetrieb hat Latour bereits vor Jahren eine führende Position in der Kunstwelt erreicht.2 Seine aktuellen Performances, Ausstellungen und Workshops fokussieren sich auf das Thema Klimawandel und treffen damit offensichtlich auf eine große Bereitschaft zur Förderung und Kooperation. 1 Die Projekte sind teilweise auf Latours Website unter dem Stichwort »Mixed Media« aufgeführt, www. bruno-latour.fr/mixed_media.html 2 Im Jahre 2017 wurde Latour auf Platz 9 der »Power 100 – The annual ranking of the most influential people in the contemporary artworld« gewählt, Donna Haraway kam auf Platz 3, https://artreview. com/artist/bruno-latour/?year=2017, 2020 belegte Latour Platz 47, danach war er nicht mehr in den Top 100 vertreten.

306

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Im Sommer 2020 präsentierte Bruno Latour gleich zwei Ausstellungen: Critical Zones: The Science and Politics of Landing on Earth in Karlsruhe3 und Down to Earth in Berlin4. Darüber hinaus war er Co-Kurator der 12. Biennale in Taipeh unter dem Titel »You and I don’t live on the same planet«.5 Die Ausstellung Critical Zones wurde in bewährter Verbindung mit Peter Weibel vom ZKM Karlsruhe und diversen institutionellen Partnern opulent inszeniert.6 Sie setzt sich ein ambitioniertes Ziel: The thought exhibition »CRITICAL ZONES« invites us to deal with the CRITICAL situation of the Earth in various ways and to explore new modes of coexistence between all forms of life.7 Bemerkenswert erscheint, dass in zwei weiteren, fast zeitgleichen Ausstellungen ganz ähnliche Themen präsentiert wurden: •



Countryside, The Future von Rem Koolhaas und dessen Thinktank AMO im Guggenheim Museum in New York City wird beschrieben als: »(…) an exhibition addressing urgent environmental, political, and socioeconomic issues (…)«8 Broken Nature von Paola Antonelli und Ala Tannir auf der 22. Triennale in Mailand beschreibt sich als: »The thematic exhibition is an in-depth exploration of the strands that connect humans to the natural environment that have been intensely compromised, if not entirely severed, over the years.«9

Offensichtlich gibt es vergleichbare internationale Allianzen von Akteuren aus Architektur und Design, Wissenschaft und Politik, die auf prominenten Bühnen mit umfassender Sichtbarkeit und großen Etats produzieren können. Latours Ausstellungen sind ebenso wie die von Koolhaas und Antonelli Großunternehmen im inhaltlichen, räumlichen, finanziellen und editorischen Sinne. Die Vielfalt der Themen und ihr umfassender Geltungsanspruch spiegeln sich in der Vielzahl der Exponate, Veranstaltungen und Publikationen.10 Diese Masse wirkt überwältigend und kann auch als eine Machtdemonstration aufgefasst werden, die zeigt, wer welche 3 https://zkm.de/en/exhibition/2020/05/critical-zones), Latour, Weibel 2020 4 Ein »Ausstellungs-, Aufführungs- und Diskursprojekt«, das sich auf Latours gleichnamiges Buch bezieht [Latour 2018], https://www.berlinerfestspiele.de/en/berliner-festspiele/programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_309206.html 5 https://universes.art/de/taipeh-biennale/2020/curators 6 Als institutionelle Akteure werden u.a. genannt: »Kulturstiftung des Bundes, Baden-Württemberg Stiftung, Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Institut Français, Goethe Institut, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, Karlsruher Institut für Technologie, Naturkundemuseum Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, EnBW« [Latour, Weibel 2020:467], Katalog im coffee table Format bei MIT Press. 7 https://zkm.de/en/exhibition/2020/05/critical-zones 8 https://www.guggenheim.org/exhibition/countryside, vgl. AMO/Koolhaas 2020 9 XXII. Triennale di Milano, https://www.triennale.org/en/events/broken-nature, vgl. Antonelli, Tannir 2019 10 Bei »Making Things Public – Atmospheres of Democracy (2005) am ZKM über 100 Künstler, Wissenschaftler, Historiker, Soziologen und Philosophen auf über 3000 Quadratmetern« [Mersmann 2019:40], Katalog mit über 1000 Seiten, https://www.dropbox.com/s/aalh93eyu5aaitg/MAKING-THINGS-PUBLICtotal.pdf?dl=0

9 Latours Projekte

Institutionen bespielen und bedeutende Förderer organisieren kann. Es wäre interessant, im Sinne der ANT die Agency dieser Veranstaltungen zu analysieren: Welche Aktanten und Netze ermöglichen diese Produktionen, mit wessen Geld, mit welchen Interessen?11 Bleiben die präsentierten Projekte im symbolischen Raum der Museen oder werden gesellschaftliche Fragen auch praktisch bearbeitet etwa im Sinne der oben besprochenen Reallabore? (vgl. 8.7.3 ff).

9.2 Umfang und Vielfalt von Latours Projekten Schon eine unvollständige Auf listung zeigt den Umfang und die Vielfalt von Latours Aktivitäten und Partnern: • Die Ausstellungen Critical Zones (2020), Reset Modernity! (2016), Making Things Public: Atmospheres of Democracy (2005) und Iconoclash (2002), alle am ZKM in Karlsruhe12 • Arbeiten für das Theater: die »Trilogie terrestre« mit Viral (2021), Moving Earths (2019) und Inside (2016)13, Gaia Global Circus (2013)14 • Workshops wie Présentation de la démarche Où atterrir? (2020),15 ein Théâtre de Négociations (2015)16 sowie Performance Lectures (2014)17 • Das Forschungsprojekt im Netz AIME – An Inquiry into Modes of Existence (2012-14)18 • Das Hörspiel Kosmokoloss. A Global Climate Tragic Comedy (2011)19

11 Bei den Ausstellungen am ZKM war Latour in einem Team von Kuratoren verantwortlich, https://zkm. de/de/ausstellung/2016/04/globale-reset-modernity 12  vgl. Latour, Weibel 2002, 2005, 2020; Latour 2016 13 mit Frédérique Aït-Touati vgl. Aït-Touati, Latour 2022, https://www.zonecritiquecie.org/trilogie-terrestre 14 mit Frédérique Aït-Touati, Chloé Latour und Pierre Daubigny, Kritik siehe https://allegralaboratory. net/all-the-worlds-a-stage-a-review-of-bruno-latours-gaia-global-circus 15 vgl. 1.5.3 16 »A political, diplomatic, scientific, pedagogical, and artistic experiment took place in May 2015 at Nanterre-Amandiers. (…) 200 students from all over the world took part in a simulation of the international conference of parties on climate change, the COP21 in front of an audience for 5 days.« https:// raumlabor.net/le-theatre-des-negociations, https://www.zonecritiquecie.org/nouvelle-page-2, vgl. Wiame 2015:4-6, Aït-Touati 2022a 17 z.B.: »How Better Register the Agency of Things: Semiotics«, Tanner Lecture on Human Values, Yale University 26.03.2014, https://www.youtube.com/watch?v=18pYfcbBRL8 und »US-Premiere of Bruno Latour’s Inside – a performance lecture«, https://www.youtube.com/watch?v=yISs7KeiuMY 18 MEx, www.modesofexistence.org 19 »An attempt at bringing in on stage the global climate crisis by exploring the disconnect between the dimension of the crisis and the lack of ›feel‹ for it.«, www.bruno-latour.fr/node/358 (mit Chloé Latour und Frédérique Aït-Touati), dt. »Kosmokoloss« (2013), https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/ hoerspiel-und-medienkunst/hoerspiel-latour-kosmokoloss-klima-erdball100.html

307

308

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

• Ein »Reenactment (…) of Louis Pasteur’s lecture in 1864 on spontaneous generation« im Rahmen der Ausstellung »Laboratorium«, 1999 in Antwerpen kuratiert von Hans Ulrich Obrist (Abb. 46 links)20 • »Paris – Ville Invisible – A sociological Web Opera«21 (2004) mit Emilie Hermant (Abb. 46 rechts)

Abb. 46: Projekte Latours: Reencament und Visualisierung, links: »Bruno Latour’s reenactment of Louis Pasteur’s lecture at the Sorbonne in 1864«22 , rechts: »Paris, Ville Invisible – a Sociological Web Opera«, 200423 Der Versuch, neue Formate der Darstellung und möglicherweise auch der epistemischen Praxis zu entwickeln, ist in vielen von Latours Projekten zu erkennen, beginnend mit seiner ersten größeren Studie »Der Pedologenfaden von Boa Vista: eine photophilosophische Montage« [Latour 1997]. Deren Untertitel deutet bereits methodische Experimente an, die später als »Sociological Web Opera«, »Théâtre de Négociations« und »Tragic Comedy« fortgeführt werden. Unter dem Aspekt des Designs sind besonders zwei Projekte interessant: • Das Projekt AIME – An Inquiry into Modes of Existence (2012-14) versucht, neue Methoden einzuführen (»eine kollektive Untersuchung«, MEx:21) und eine begleiten-

20 Video https://vimeo.com/394466335, Text www.bruno-latour.fr/sites/default/files/related_content/ SORBONNE%201864-GB.pdf. Obrist wies im Rahmen der Corona-Pandemie erneut auf dieses Ereignis hin: »In the spirit of the present coronavirus pandemic, a historical archive from @HUObrist exhibition 1999: BL’s reenactment of Louis Pasteur’s lecture at the Sorbonne in 1864 against spontaneous generation« (https://twitter.com/BrunoLatourAIME, 02.03.2020), www.bruno-latour.fr/node/846. html, vgl. das reenactment von Gabriel Tarde, weitere »Lectures« und »Re-Enactments« unter www. bruno-latour.fr/node/351 21 w ww.bruno-latour.fr/virtual/EN/index.html, Text dazu: www.bruno-ltour.fr/sites/default/files/downlo ads/PARIS-INVISIBLE-GB.pdf 22 https://twitter.com/BrunoLatourAIME (02.03.2020) vgl. Video des Reenactments unter https://vimeo.com/394466335 23 w ww.bruno-latour.fr/virtual/EN/index.html

9 Latours Projekte

de, analog/digitale Publikationsform mit Buch und Webplattform aufzubauen. Damit kann es als eine Erkundung neuartigen Wissensdesigns gelten, ohne dies jedoch auf einer zweiten Ebene methodisch zu ref lektieren. (http://modesofexistence.org) • In der Ausstellung Making Things Public – Atmospheres of Democracy (2005) konkretisiert Latour seine theoretischen Vorstellungen einer Dingpolitik. Der Anspruch für diese komplexe und umfangreiche Ausstellung wird von Latour geschickt tief angesetzt: Wir versprechen nichts Großartigeres als eine Lagerhalle von Hilfsmitteln für die von den politischen Fronten zurückgekehrten Invaliden – und sind wir nicht alle in den letzten Jahren übel zugerichtet worden? Die Politik ließe sich wohl besser als ein Zweig der disability studies begreifen. [RpDp:52] Mittlerweile hat Latour sein Wirkungsfeld an der Universität überschritten und ist zum Protagonisten von inszenierten Vorträgen geworden, die sich mit dem Klimawandel beschäftigen. Nach verschiedenen Versuchen mit partizipativen Formaten steht er dann doch wieder selbst auf der Bühne und übernimmt die klassische Rolle des Welterklärers (Abb. 47).24

Abb. 47: Bruno Latours Produktion »Inside«, Screenshots, links: »Inside BXL Kaaitheater«25, rechts: »US-Premiere«26

9.2.1 Das Format »Gedankenausstellung« Latours Ausstellungsprojekte am ZKM bringen Akteure und Projekte aus Kunst, Wissenschaft, Design und Technik zusammen. Die Präsentationen umfassen technische Artefakte, Zeichnungen, Bilder und Modelle in unwahrscheinlicher Kombination, Durchdringung und vielfacher Spiegelung.27 Unterschiedliche Erschließungswege und Partizipationsformen sollen den Besuchern neue Ansichten und Denkmöglichkeiten eröffnen. Die Verbindungen von Theoriearbeit mit medialen Inszenierungen 24 Dies brachte ihm auch eine Würdigung seines modischen Erscheinungsbildes ein als »Wes Anderson Character«, https://www.nytimes.com/2018/10/25/magazine/bruno-latour-post-truth-philosopherscience.html. Die Vorträge ähneln anderen Formaten zu verwandten Themen wie Al Gores »An Inconvenient Truth« von 2006, https://en.wikipedia.org/wiki/An_Inconvenient_Truth. 25 https://www.youtube.com/watch?v=2n8VIIlaWh0 26 https://www.youtube.com/watch?v=yISs7KeiuMY 27 vgl. die Kunst- und Wunderkammern des Barock, Mersmann 2019, Bredekamp 1993

309

310

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

und partizipativen Formen können als ein »Wissensdesign« verstanden werden, das die wechselseitige Begründung und Steigerung von Form und Inhalt experimentell erkundet.28 Latours Ausstellungen wurden als »Gedankenausstellung« bezeichnet und darüber hinaus sogar als die Realisation eines »Parlaments der Dinge« bewertet: Die Ausstellung als »Parlament der Dinge« – Theorie und Praxis der Gedankenausstellung bei Bruno Latour [Mersmann 2019]. Dieser Anspruch kann jedoch nicht aufrechterhalten werden, denn die gewünschte Erzeugung einer Vielfalt von Perspektiven hängt wesentlich von der Auswahl und Inszenierung der Ensembles ab. Diese lassen aber nur begrenzt partizipatives Handeln zu und wurden auch bei Latours Ausstellungen von Kuratoren-Teams entschieden. Die vielfältigen Aspekte eines »Parlaments der Dinge« von der Sprachfähigkeit und Repräsentation der Mitglieder bis zu den zu verhandelnden Machtfragen werden für informierte Rezipienten jedoch allenfalls partiell sichtbar. So wird etwa eine Kontroverse über die Ansiedlung von Wölfen in Form eines Bergpanoramas in Miniaturform dargestellt, während ein Bildschirm ergänzend unterschiedliche Aspekte der Frage zeigt (Abb. 48). Die Komplexität des Themas kann so aber nur angedeutet werden, und sie kann keinesfalls schon der Praxis eines postulierten »Parlaments der Dinge« entsprechen.

Abb. 48: »When wolves settle: A Panorama« von Studio Polo u.a.29 Auch eine Interpretation der Ausstellungen als »science-in-the-making« [Meyer 2012] geht an der Sache vorbei. Das Ziel der Präsentationen ist es, alternative epistemische Praxen experimentell zu erkunden und nicht, einen Einblick in wissenschaftliche Pro28 Die Ausstellungen wurden jedoch auch als diffus kritisiert: »Die kuratorische oder – wenn man so will – ästhetische Strategie der Schau setzt auf eine Vergleichbarkeit der Plausibilität in großer Zahl vorgeführter Ding-Repräsentationen, worin aber zugleich auch eine Schwierigkeit der Ausstellung lag, die einzelne und vielfach kaum korrespondierende Positionen mit Hilfe einer aufwendigen Ausstellungsarchitektur räumlich und mit Hilfe von Meta-Narrativen inhaltlich aber gleichzeitig nur lose miteinander in Beziehung setzte. Latour (…) kaschiert hier eine vermeintlich fehlende gestalterische und kuratorische Sinnlichkeit mit dem vagen Programm einer Ästhetik, das auf der Überwindung der Boyleschen »matters of concern« beruht (…).« [Martos 2008:98] 29 In der Ausstellung Making Things Public [Latour, Weibel 2005:377-378]

9 Latours Projekte

zesse zu vermitteln. Eine Ausstellung wie Making Things Public zeigt auf einer MetaEbene, an welchen Fragen und mit welchen Mitteln künftige »Parlamente der Dinge« arbeiten könnten. Es ist nicht ihre Aufgabe, diese Arbeit an konkreten Einzelfragen bereits durchzuführen. Die Vermischung dieser beiden Ansprüche und die Verwirrung der Begriffe zeigt sich in der abwegigen Idee, es handele sich bei der Konzeption von »Gedankenausstellungen« um das »Kuratieren« von Gedanken.30 Dieser Begriff legt eine Nähe zu ideologisch einseitiger Programmatik nahe, zumal auch ein »dezidiert didaktischer Anspruch« [Mersmann 2019:33] unterstellt wird. Auch eine weitere Behauptung trifft nicht zu: Das Konzept der Gedankenausstellung war nicht von Anfang an vorhanden, Latour hat es mit der Realisierung der drei genannten Ausstellungen entwickelt. [Mersmann 2019:18]

9.2.2 Die Vorgeschichte der »Gedankenausstellungen« Für das Konzept einer »Gedankenausstellung« gibt es Vorbilder, an denen Latour beteiligt war. Es erscheint plausibel, dass er dort wesentliche Anregungen für seine späteren Ausstellungen empfangen hat, freilich ohne diese zu benennen. Bereits 1985 realisierte Jean-François Lyotard die Ausstellung Les Immatériaux am Centre de Création Industrielle (CCI) des Centre Pompidou in Paris.31 Latour arbeitete damals als Autor mit am Katalog.32 Neuartig waren sowohl das Thema, die Inszenierung und die Konzeption auf philosophischer Grundlage.33 Es standen Positionen der Moderne zur Debatte, die sich durch neues biologisches und synthetisches Material sowie den Einsatz von Elektronik verändern.34 Schon damals wurden bereits viele Aspekte angesprochen, die für Latours spätere Projekte maßgeblich wurden wie das Verhältnis zur Moderne, die Beziehung von Subjekt und Objekt sowie Veränderungen der Maßstäbe.35 Lyotards Methodik und Zielsetzung sind Latours späteren Produktionen eng verwandt, etwa wenn formuliert wird: (…) die Veranstaltung (…) soll aber anlässlich der gezeigten ›Objekte‹ Übergänge, Übergriffe als Gleiten von einer semantischen Zone in die andere anregen. [Lyotard 1985:78]

30 »Vom Ausstellungsmacher zum Gedankenkurator« [Mersmann 2019:24] 31 Lyotard hatte 1979 den Bericht La condition postmoderne veröffentlicht, der zur Konzeption für »Les Immatériaux« und zur Beauftragung als Kurator führte [vgl. Wunderlich 2008:26]. Bereits 1972 hatte Lyotard auf der documenta 5 die Abteilung Architektur und Utopie verantwortet und dabei mit Ernst Bloch zusammengearbeitet [Lyotard 1985:29]. 32 Kataloge und Begleitmaterial unter https://monoskop.org/Les_Immat%C3%A9riaux und www.medienkunstnetz.de/ausstellungen/lesimmateriaux. Die Ausstellung wird auch 30 Jahre später noch als wegweisend gewürdigt, vgl. Wunderlich 2008, Broeckmann, Hui 2015. 33 »Die Konzeption soll philosophisch sein.« [Lyotard 1985:77] 34 »In der Tradition der Moderne ist die Beziehung des Menschen zu den Materialien durch das cartesianische Programm festgelegt: es gilt, sich zum Herrn und Besitzer der Natur zu machen. (…) Die Veranstaltung (…) hat sich die Aufgabe gesetzt, fühlbar zu machen, wie sehr sich diese Beziehung durch die Tatsache der neuen Materialien verändert hat.« [Lyotard 1985:77] 35 vgl. Lyotard 1985:82/83

311

312

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Ein weiteres Projekt, an dem Latour beteiligt war, ist die Ausstellung Laboratorium von Hans Ulrich Obrist 1999 in Antwerpen.36 Auch hier wurden die epistemischen und politischen Funktionen von Laboren und Experimenten und deren Verhältnis zu Experten und Gesellschaft befragt.37 In diesem Rahmen führte Latour ein Reenactment auf, das eine historisch bedeutsame Vorlesung Louis Pasteurs von 1864 nachstellte (Abb. 46 links).

9.2.3 Neuorientierung der Theoriebildung Die beiden Ausstellungen mit Latours Beteiligung standen in einem Kontext, der im Rückblick als eine Neuorientierung der Theoriebildung erkennbar wird. Diese entstand aus den Erfahrungen mit den bisherigen medialen Formen der Theoriearbeit und der Enttäuschung über deren marginale Wirkung. Retrospektiv wurde beschrieben, dass aus einer »Kritik der Bleiwüste« neue Formen des »Theoriedesigns« hervorgehen sollten, um deren »Existenz als Flachware« [Felsch 2014:780, 791] aufzuwerten.38 Wo Texte waren, sollten Dinge werden. So oder ähnlich muss man sich die Agenda des Centre Pompidou vorstellen, das zusammen mit der Figur des Theoretiker-Kurators das Format der Theorie-Ausstellung erfand. 1975 präludierte Paul Virilio mit seiner Fotoschau zur Bunker Archéologie an der französischen Atlantikküste – und wurde im Anschluss als Redakteur für Traverses verpflichtet. Es folgten 1985 Jean-François Lyotard mit Les Immatériaux, Jacques Derrida 1990 mit Mémoires d’aveugle im Louvre und Jean Starobinski, der mit Largesse 1994 ebenfalls im Louvre eine Ausstellung über den Gabentausch kuratierte. [Felsch 2014:791] Zum einen entsprach diese Entwicklung einer neuen Ref lexion über Dinge und Materialität. Diese ging über den vorher den Diskurs prägenden marxistischen Gegensatz von Tausch- und Gebrauchswert hinaus und umfasste neue Formen der Ästhetik und auch die auf kommende Popkultur. Zum anderen wurde selbstref lexiv die Medialität der eigenen Theoriebildung mitgedacht. Deren Begrenzung auf eine lustfeindliche Bleiwüste wurde der Multiperspektivität aktueller Theorieansätze nicht gerecht und war auch unter agitatorischen Gesichtspunkten unbefriedigend. Am Centre Pompidou wurde deshalb mit Traverses eine Zeitschrift neuen Typs erfunden, bei der Text und

36 https://en.wikipedia.org/wiki/Laboratorium_(art_exhibition) 37 Die Programmatik wird vom Organisator Bruno Vanbergt beschrieben: »How can we attempt to bridge the gap between the specialized vocabulary of science, art, and the general interest of the audience, between the expertise of the skilled practitioner and the concerns and preconceptions of the interested audience? What is the meaning of the laboratories? What is the meaning of experiments? When do experiments become public and when does the result of an experiment reach public consensus? Is rendering public what happens inside the laboratory of scientist and the studio of the artist a contradiction in terms? These and other questions were the beginning of an interdisciplinary project starting from the ›workplace‹ where artists and scientist experiment and work freely.« [Broschüre zur Ausstellung in Obrist, Vanderlinden 2001] 38 »Die Dinge wurden mächtiger als die Wörter. Nicht als ob diese Alternative theoretisch entschieden worden wäre zugunsten der Dinge. Aber die kulturelle Saison schmeckt danach.« [Bohrer 1978:977, auch Felsch 2014:792]

9 Latours Projekte

Bild, Autoren und Grafiker eng und gleichberechtigt zusammenarbeiteten.39 Für das deutsche Pendant Tumult wurde formuliert: Es gehe um die »Erprobung neuer Schreib- und Darstellungstechniken«, schrieb Dietmar Kamper, »die eher in der Kunst und in der Literatur, im Theater und im Film entwickelt wurden«. [Felsch 2014:787]40 Diese experimentelle Öffnung war nicht nur eine modische Anpassung, sondern tatsächlich auch eine programmatische Neuorientierung der Theorie: Aus der Krise der Linken ist die Theorie mit einem neuen Sound und einer neuen Optik hervorgegangen, denen sie ihr weiteres Überleben verdankt. [ibid.:781] Bemerkenswert erscheint heute vor allem, dass sowohl die Ausstellungen von Virilio 1975 und Lyotard 1985, als auch die Zeitschrift Traverses von einer Designinstitution ausgingen, dem Centre de Création Industrielle am Centre Pompidou. In Deutschland bedeutete die Verbindung avancierter Theorie zur Produktion von Objekten eine Abkehr von der bis dahin vorherrschenden Diskurshoheit der sogenannten »Suhrkamp-Kultur«41. Dies wurde auch vom kleinen Berliner Merve Verlag erkannt, der viele der französischen Theoretiker in Deutschland verlegt und erstmals bekannt gemacht hatte. So präsentierte der Verlag 1984 in seinen Räumen die Ausstellung »Kaufhaus des Ostens«.42 Dort wurden Objekte einer neuen Designbewegung gezeigt, die sich aus funktionalistischer Enge befreit hatte und die Entwicklung theoretischer Positionen mit praktischer Projektarbeit und avantgardistischer Ästhetik verband (Abb. 49).43



Abb. 49: links: Verkaufskatalog Kauf haus des Ostens 1984, rechts: Zeitschrif t Traverses Nr. 47, 1989 [Archiv PFS]

39 vgl. Raulff, Syring 2013/1979; Felsch 2013 40 Felsch zitiert nach »Dietmar Kamper, Manuskript für eine Vorstellung von Tumult in der West-Berliner Autorenbuchhandlung am 23. Februar 1982. Nachlass Dietmar Kamper, Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv« [Felsch 2014:787] 41 Begriff von George Steiner 1973, vgl. Felsch 2014:785 42 »Kurzzeitprojekt an der Hochschule der Künste Berlin, Fachbereich 3, Fachgruppe Prof. Roericht im Sommersemester 1984. Betreut wurde das Projekt von A. Brandolini, J. Morrison und J. Stanizek« (Katalog). 43 vgl. Kunstforum Bd. 82 (1986), Borngräber 1987, Eisele 2000

313

314

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

9.3 »Scientific Humanities« – Lehre am Médialab der Sciences Po Ein weiteres Beispiel für Latours experimentelle Medienprojekte ist ein Kursprogramm, das unter dem Titel »A primer in Scientific Humanities« als »Massive Open Online Course« (MOOC) angeboten wurde.44 Als Motto wurde eine Alternative zu Descartes’ »cogito ergo sum« gewählt: »cogitamus ergo civitas sumus«.45 Latours Thema ist die Vermittlung zwischen den beiden Kulturen von Naturwissenschaft/Technik und den humanities. Das Programm ist für »undergraduate students« gedacht und soll den (…) einzigen Weg aufzeigen, um die Kluft zwischen den zwei Kulturen zu überwinden.46

Abb. 50: Latours Kurs »Scientific Humanities« (Screenshots) Der Kurs besteht aus kurzen Vorlesungen Latours, die dieser wie ein Nachrichtensprecher vorträgt, während im Hintergrund assoziative Bilder ablaufen.47 In zwei von acht Abschnitten werden die Beiträge Studierender besprochen, die aufgefordert wurden, Blogs mit Rechercheergebnissen anzulegen.

44 Das Originalmaterial scheint nicht mehr greifbar zu sein, jedoch wurde 2020 eine gekürzte Version auf Vimeo veröffentlicht: »With Donato Ricci, Michael Flower, Maxime Crepel, Paul Girard. A product of the Médialab of Sciences Po (…) Recomposed Michael Flower, 2020« [Latour 2013c:1]. Serie von 13 Videos von ca. 3 bis 8 min Länge, Start https://vimeo.com/319312048, Text unter www.bruno-latour. fr/sites/default/files/downloads/Scientific%20Humanities%20MOOC.pdf 45 »So when he says: ›I think therefore I know for certain that I am‹, he is also implying something exactly opposite: ›We, the new emerging community of philosophers and experimenters, are thinking collectively, trying to ascertain, through experiments, a whole set of new claims about what the world is made up of‹. Hence the enigmatic motto we have chosen for this class: ›cogitamus ergo civitas sumus‹. Not ›I think‹, but ›we think‹ and not ›therefore I am‹, but ›therefore we form a group of citizens sharing more or less the same values and having more or less the same responsibilities in checking each others claims‹.« [Latour 2013c:8] 46 »Usually the word ›humanities‹ means the interpretation of the literary and artistic traditions. ›Scientific humanities‹ means the extension of those interpretative skills to the discoveries made by science and to the technical innovations that define a large part of our daily world. It is the only way to overcome what is often called the ›two cultures‹ divide: science on one side; literature on the other.« [Latour 2013c:1] 47 Collagen aus Kunst (Picasso, Hundertwasser, Miro, Mondrian) und Wissenschaft (Darwin, Bourdieu, Hacking, Pickering), technische Artefakte (Werkzeuge, Auto, Kamera, teils in Explosionsdarstellung), Alltagsszenen aus Industrie und Logistik (Container, Autobahn), teils als Cluster und grafisch verfremdet. Das Interesse für Material, Werkzeuge und Alltagssituationen lässt an Ausstellungen und Videos von Charles und Ray Eames denken, vgl. Eames et al. 1989, Schramke 2010.

9 Latours Projekte

Für das Design ist die dritte Vorlesung von besonderem Interesse.48 Latour beschreibt eindrücklich und präzise das Zusammenwirken von Naturwissenschaft/ Technik einerseits und den humanities andererseits in einem dritten Register eigenen Rechts. Damit liefert er eine Einführung in das Design, ohne dies zu bemerken: (…) everything that seems solid will be set in motion; everything that seems material will become alive; everything that seems part of the natural landscape will become a vast building site; everything that seems destiny, will become decision. You will recover a feel and a taste for a material world that has been made, so far, without you, and that, incredibly enough, is almost totally ignored by the field of humanities. But also totally misrepresented by what is called ›technical hype‹. [Latour 2013c:21] Latour entwickelt dazu zwei Diagramme, die die Dynamik soziotechnischer Entwicklungen zeigen sollen und die bereits oben analysiert wurden (vgl. 5.5.1, 5.5.2).

9.3.1 Studentische Arbeiten Im Kontext des Kurses »Scientific Humanities« werden Arbeiten von Studierenden gezeigt. Das »TSR-2 Aircraft Project« setzt auf eine Studie auf, die die Entwicklung eines Kampff lugzeugs mit Mitteln der Akteur-Netzwerk-Theorie analysiert.49

Abb. 51: Arbeiten von Studierenden Latours, links: Animation zum »TSR-2 Aircraf t Project«50, rechts: Visualisierung zum Thema »What the frack is going on?«51

48 »Sequence 3: How to handle technical innovations«, Part 1 https://vimeo.com/383739316, Part 2 https://vimeo.com/383739516 49 Die Studie verfolgt die gescheiterte Entwicklung des Flugzeugs 1952-1965 unter dem Titel: »The Life and Death of an Aircraft: A Network Analysis of Technological Change [Law, Callon 2006]. Ähnlich wie bei Latours Studie zum Verkehrssystem ARAMIS werden dem technischen Artefakt menschliche Attribute zugeschrieben, vgl. »Who killed Aramis?« [Latour 2002/1993:1]. 50 »The TSR-2 Aircraft Project – Norbert Truxa, Samuel Garcia Perrez 2013«, https://vimeo.com/72034201 (7:38 min) 51 https://issuu.com/densitydesign/docs/whatthefrack (S.  126/127, 27.02.2013). »Here we provide an example taken from the work done by one of our best groups of students at the University of Politecnico of Milano (Density Design Lab) on the hydraulic fracturing/fracking controversy.« [Venturini in Latour 2013c:29-31], vgl. »Kapitel 8 – Die Wesen der Technik sichtbar machen« [Exw:297]

315

316

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die Designer mussten daher keine eigene Recherche betreiben und konnten sich auf die Visualisierung beschränken, die sie als Animation mit Legetrick und Video realisieren. Die Stakeholder wie Ministerien, Hersteller und Zulieferer werden durch farbige Bohnen dargestellt, und ein elaboriertes Sound-Design verbindet Werkstattgeräusche mit dem Gemurmel von Stimmen wie von den Zeichentrickfiguren der Minions. Der Gesamteindruck ist unterhaltsam und witzig. Die Frage ist aber, ob diese spielerische Animation die richtige Darstellung ist für ein politisch wichtiges, aber gescheitertes Projekt, bei dem öffentliches Geld verschwendet wurde. Das Projekt »What the frack is going on?« (Abb. 51 rechts) visualisiert vorhandene Daten zum umstrittenen Thema der Ölgewinnung durch fracking. Hier werden alle Register der professionellen Datenvisualisierung und Info-Grafik gezogen: Statistiken und Daten werden übersetzt in Kurven-, Balken- und Tortendiagramme. Der Gesamteindruck ist ästhetisch ansprechend und bleibt auch über die Länge von über 200 Seiten abwechslungsreich. Die Arbeit ist hoch professionell und ähnelt in ihrer Perfektion dem Geschäftsbericht einer Bank. Doch warum wirkt diese Arbeit so unbefriedigend? Was fehlt? Was müsste anders sein? Eine mögliche Antwort: Es kommen keine Concerns darin vor. Das Projekt zeigt nicht, was die Auswirkungen des frackings sind. Warum sollte man dafür oder dagegen sein? Die Kontroverse erscheint nur als ein abstrakter Abgleich von Daten. Für Fragen von solcher Tragweite reicht es jedoch nicht aus, lediglich »Armchair Research« zu betreiben, die nur bereits vorliegende Daten verarbeitet. Stattdessen müssten Designer vor Ort sein, eigene Erfahrungen machen und den Dialog mit Betroffenen suchen. Wie sieht die Landschaft aus (vorher/nachher), welche Menschen/Tiere sind unmittelbar betroffen? Wie muss man sich etwa einen Befürworter des frackings vorstellen: dumm, dreist, naiv? Oder gibt es auch gute Gründe für eine solche Position jenseits ideologischer Vorbehalte? Beide studentischen Arbeiten zeigen eine unterschiedliche Ästhetik, haben aber das gleiche Problem: Sie verlieren sich im Allgemeinen (Flugzeug) ebenso wie im Speziellen (fracking). Zu zeigen wären aber – gemäß der ANT – gerade die Übergänge, die Transformationen und Einschnitte, etwa analytisch gegliedert wie in Latours And/ Or-Schema (vgl. 5.5.1) Nach dem Schema in diesem Entwicklungsdiagramm bleiben die studentischen Visualisierungen auf der Reihe von Emanzipation/Moderne, obwohl sie genau das Gegenteil, nämlich die Reihe Attachment/Ökologisierung darstellen wollen. Beide Projekte mögen andere Daten und Perspektiven nutzen im Vergleich zu den offiziellen Versionen der Diskursteilnehmer und werden damit zu einer zweiten, informierten oder »alternativen Moderne«.52 Sie schaffen es aber noch nicht, die gemeinsame Geschichte von Emanzipation und Attachment zu zeigen.

52 Ein Begriff von Arturo Escobar: »Many examples of ecologically-minded design move in-between conventional ways of doing things, alternative modernities, and transformative relational practices. However, people are pushing in the latter direction.« [Escobar, Maffei 2021:46]

9 Latours Projekte

9.4 Kritik der Projekte Latours Latour behauptet, dass für ihn alle seine Äußerungsformen gleich seien: (…) For me there is absolutely no difference between doing an exhibition, writing a piece of philosophy or doing fieldwork with ethnographic method, or writing a play. For me this is the same thing (…). [Latour 2016a]53 So ist es wohl gerechtfertigt, auch die Einschätzung zu Latours Schriftproduktion auf seine weiteren medialen Aktivitäten zu übertragen. Seine Texte wurden als unwissenschaftlich kritisiert, aber als »literarische Imaginationshilfe« gewürdigt [Greif 2006:66, vgl. 8.9.1]. Ähnlich können Latours andere Medienformate als Imaginationshilfen verstanden werden, die – den eigenen Postulaten folgend – sich zwangläufig quer zu gängigen Kategorien bewegen müssen, wenn sie Latours Denkweise gerecht werden wollen. Die Differenzierung von Kunstmuseum und wissenschaftlicher Sammlung, argumentativem Vortrag und Performance sind Produkte der Moderne, die Latour infrage stellt. Es ist also nur folgerichtig, nach neuen Formen zu suchen, die diese Unterscheidungen unterlaufen. Die Ausstellungen haben lose, aber kaum explizite Beziehungen zum Design: Zum einen werden vereinzelt designrelevante Projekte gezeigt und besprochen 54, zum anderen sind Interfaces und user journeys der Ausstellungen teilweise in Kooperationen mit Designern entstanden, ebenso wie die begleitenden Kataloge und Webseiten. Latour und seine Co-Kuratoren bringen zwar eine Vielzahl von Exponaten aus Kunst und Wissenschaft zusammen und versuchen, zwischen den Themen Wissenschaft, Technik, Gesellschaft und Ökologie zu vermitteln. Doch der hier schon immer platzierte Diskurs des Designs wird dabei kaum berücksichtigt. Das erscheint besonders deswegen als erstaunlich, weil Latour dem Design mehrfach eine zentrale Rolle in seinem Programm »Recall Modernity« zugeschrieben hat (vgl. A 3). In seinen Publikationen und Projekten ist jedoch vom Design kaum etwas zu sehen.

9.5 Das Projekt »Mapping Controversies on Science for Politics – MACOSPOL« Entscheidend für eine Bewertung von Latours Thesen zum Design und zur Visualisierung ist das Projekt »Mapping Controversies on Science for Politics (MACOSPOL)«. Anschlussprojekte wurden mit Latours Wechsel an die Universität Sciences Po weitergeführt – so weit zu sehen – bis 2015.55 Die Wurzeln von Vorläuferprojekten gehen bis ca. 1995 zurück, als Latour an der École des Mines in Paris tätig war. 53 »What is a Gedankenausstellung? Thougt Exhibition«, Interview mit Hans Ulrich Obrist, 09.01.2016, http://modesofexistence.org/what-is-a-gedankenausstellung 54 Dazu gehören etwa Tom Thwaites The Toaster Project in Reset Modernity [Latour 2016:354-361] oder Otto Neuraths Isotype im Beitrag von Frank Hartmann in Making Things Public [Latour, Weibel 2005:698-707]. 55 In einem Video von 2010 datiert Latour die Gründung auf »fifteen years ago« [MapCon 0:14 min]. Die Projektbeispiele auf einer aktuellen Webseite datieren zurück bis 2007. Laut Abschlussreport des MACOSPOL Projekts begannen die Vorarbeiten im Themenfeld bereits in den frühen 1990er Jahren:

317

318

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Das Ziel des Projekts ist es, Visualisierungen für Kontroversen zu entwickeln, so wie es auch als Designaufgabe im Prometheus-Text [Prom_dt.] formuliert wurde. Die sparsame Darstellung auf der aktuellen Website gibt kaum Informationen preis und die alten Projektseiten sind nur noch unvollständig über Webarchive zugänglich. Forscher, die Latours Aufgabenstellung folgen wollen, finden daher nur wenig Informationen über die Versuche der praktischen Umsetzung. Die Projektergebnisse können kaum eingesehen werden und Rückwirkungen auf den Theorierahmen sind nicht erkennbar. Durch diese defizitäre Quellenlage wird verständlich, dass das Projekt trotz der breiten Rezeption von Latours sonstigen Arbeiten bisher kaum beachtet wurde. Hier soll das Projekt durch eine medienarchäologische Untersuchung erstmalig vorgestellt und diskutiert werden.



Abb. 52: Präsentation des Projekts »Mapping Controversies« am MIT/USA 56

9.5.1 Die Quellenlage Das Projekt MACOSPOL wurde von einem Verbund europäischer Universitäten unter Führung der Universität Sciences Po in Paris durchgeführt und von der EU im 7. Rahmenprogramm von 2008–2009 gefördert.57 Für ein Projekt dieser Größenordnung und Prominenz ist die verfügbare Dokumentation äußerst dürftig.58 Die auf der Website veröffentlichten Ergebnisse sind wenig aussagekräftig.59 Weder sind die Ausgangs- und Endzustände der bearbeiteten Projektteile benannt, noch werden die ein»The body of experience has been given to us by the teaching method called »Cartography of Scientific Controversies« initiated by Bruno Latour at the School of Mines at the beginning of the 1990s (…).« [Latour o.J.:7] Unter dem Titel »Cartographie des Controverses« veranstaltete das Médialab der Universität Siences Po Veranstaltungen in Schulen, an den auch Latour teilnahm, https://vimeo. com/154046912 (undatiert, hochgeladen 2016). 56 Screenshot von http://web.archive.org/web/20120729072245/www.demoscience.org 57 https://cordis.europa.eu/project/id/217701 58 Der Abschlussbericht Latours ist undatiert und enthält 12 Seiten, https://cordis.europa.eu/docs/results/217/217701/116654541-6_en.pdf [Latour o.J.] 59 Die Seite ist auf dem Stand vom April 2016 archiviert unter https://web.archive.org/web/20150 310090045/www.mappingcontroversies.net

9 Latours Projekte

gesetzten Methoden angegeben. Die Informationen zu Programmatik, Methodik und Ergebnissen müssen daher aus verschiedenen Quellen rekonstruiert werden: 1. Website des Médialabs der Sciences Po60 (Projekte von 2007–2014) 2. Archivierte Website des Vorläuferprojekts61 3. Zwei Videos von Latour 2010, die das Projekt erklären [MACOSPOL, MapConCase]62 4. Latours Abschlussbericht: »Learning to Navigate through Controversial Datascapes. The MACOSPOL Platform« [Latour o.J.] 5. Latours programmatischer Text von 2009 [MapCon] liegt archiviert vor, ist aber im Netz nicht mehr zu finden Vom Lehrbereich Latours an der Sciences Po wird auf eine Projektseite verwiesen, die Arbeiten aus den Jahren 2007-2015 versammelt.63 Hier sind allerdings nur weitere Links zu finden, die teilweise zu den einzelnen Arbeiten führen, häufig aber auch zu anderen Projekten oder auch gar keine Einträge mehr erreichen (broken links). Latour zieht in seinem Abschlussbericht [Latour o.J.] ein positives Fazit, aber es wird nicht deutlich, worauf sich der behauptete Projekterfolg beziehen soll.64

9.5.2 Die Programmatik Der Untertitel des Projekts MACOSPOL lautet »Democracy is the possibility to disagree – Equipment for mapping and interpreting controversies.«65 Die Ziele werden von Latour in einem kurzen Statement benannt: The expression »technical democracy« will remain an empty term as long as it is not possible for the citizens of this socalled democracy to be equipped with the right instruments to navigate in common a shared space where the issues at hand are represented. [MACOSPOL:12]

60 https://controverses.sciences-po.fr 61 http://web.archive.org/web/20120729072245/www.demoscience.org 62 »MACOSPOL Teaser – English Version«, Video 7:11 min, https://vimeo.com/10037075 [MACOSPOL], »Mapping Controversy. A Case«, Video 9:15 min, https://vimeo.com/10036879 [MapConCase] 63 https://medialab.sciencespo.fr/activites/macospol 64 Die bis zum Mai 2013 aktive Website www.demoscience.org, von der einige der hier gezeigten Screenshots stammen, zeigte detailliertere Informationen als die archivierte Projektseite www.mappingcontroversies.net. Für die Referenzen zu den erwähnten Projekten sollte daher das Archiv der Demoscience Seite genutzt werden unter http://web.achive.org/web/20120328054946/http://demoscience. org. Die letzte hier gesicherte Version der Seite stammt vom 26.05.2013, später wurde die URL von einem anderen Anbieter übernommen. 65 Die Online-Präsenz des Projekts ist nur noch über Archive erreichbar. Alle folgenden Zitate sind zu finden unter https://web.archive.org/web/20150314225840/http://mappingcontroversies.net/Home/ AboutMacospol. Am MIT, einem der Projektpartner, gibt es einen knappen Hinweis auf das Projekt unter http://oeit.mit.edu/gallery/projects/mapping-controversies. Außerdem existiert ein Wikipedia Eintrag, https://en.wikipedia.org/wiki/Mapping_controversies

319

320

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Ganz im Sinne von Latours Ansatz von Making Things Public (2005) soll das Projekt Mittel bereitstellen, um die Teilnahme an der Diskussion kontroverser gesellschaftlicher Themen zu ermöglichen. Leitend ist dabei die Einsicht in die Notwendigkeit • eines geteilten Repräsentationsraumes • einer Darstellung der Themen (issues) und • technischer Mittel zur Navigation.



Abb. 53: Das Projekt MACOSPOL im Netz66

Als Kompetenzfelder der Partner werden genannt: Teaching Controversy Mapping (Paris), Risk Cartography (München), Digital Methods (Amsterdam), Geography (Lausanne), Architecture and Design (Manchester), Issue Professionals (Liège), Journalists and Decision-makers (Vicenza)67 Im Projekt wurden folgende work packages bearbeitet: Collecting tools for controversy mapping, Delivering full scale to internet-based mappings of controversies, Organizing the platform and improving the compatibility of the tools, Dealing with visual space, Designing the space of controversies, Testing the political relevance of the platform, Managing the Macospol project 68 Latour gibt zu diesem Forschungsprojekt einen einführenden Videovortrag [MACOSPOL]. Danach lautet das Ziel seiner akademischen Kurse im undergraduate Bereich »preparing scientists for a complex world«.69 Die Aufgabe der studentischen Arbeiten im Projekt Mapping Controversies ist der Auf bau einer Website, die jeweils eine ausgewählte Kontroverse darstellt. Unterschiedliche Standpunkte sollen grafisch gezeigt und in Beziehung gesetzt werden. Als Ziel wird angegeben, dass die Kontroverse gelöst werden soll (»to settle the controversy«, MapConCase:4:45min.). 66 links: Die Webseite von demoscience.org, Stand April 2012, nicht mehr aktiv, nur noch über archive. org erreichbar, rechts: Das »Controversy Mapping Archive« der neuen Website. Hier sind 62 Projekte aus den Jahren 2007-2015 aufgeführt, Screenshot von https://controverses.sciences-po.fr 67 https://web.archive.org/web/20150310090045/www.mappingcontroversies.net 68  ibid. 69 Die Kursbeschreibung vom Frühjahr 2008 ist nur noch über archive.org zu finden unter http://web. archive.org/web/20130823081700/http://demoscience.org/MappingControversies2009.pdf (dort mit dem Stand vom 23.08.2013 archiviert)

9 Latours Projekte

9.5.3 Beispiele aus dem Projekt MACOSPOL Die thematische Bandbreite der im Rahmen von MACOSPOL behandelten Kontroversen umfasst u.a. die Alzheimer Krankheit, die Sicherheit von Lebensmitteln in Schulen, Ground Zero in den USA, den Drei-Schluchten-Staudamm in China, die Statistik der Arbeitslosenzahlen, die Problematik von Wahlmaschinen und die Wiederansiedlung des Wolfes in Frankreich. Die hier versammelten Fragen berühren öffentliche Interessen und sind so komplex, dass die Konsequenzen jeder Entscheidung neue Kontroversen hervorbringen werden. So schreibt Latour im Prometheus-Text: We know that whenever we prepare to change our fixtures from incandescent to low energy light bulbs, to pay our carbon expenses, to introduce wind farms, to reintroduce the wolf to the Alps, or to develop cornbased fuel, immediately, some controversy will be ignited that turns our best intentions into hell. [Prom_eng:12]



Abb. 54: Teilprojekte von MACOSPOL 70, links: Kontroverse zur Wiedereinführung des Wolfes in Frankreich, rechts: Kontroverse zu elektronischen Wahlmaschinen

9.6 Beispiel »Taser« – Elektroschockwaffen für die Polizei? Ein Beispiel soll die Arbeitsweise und Ergebnisse im Projekt MACOSPOL verdeutlichen. Latour präsentiert im Video ein Projekt, das den Gebrauch von Elektro-Schockwaffen (»Taser«) durch die Polizei zum Gegenstand hat.71 Dabei werden drei Schritte unterschieden: 1. Materialsammlung und Anordnung auf einem Zeitstrahl 2. Information über die Hardware des Produkts (»each part is actually controversial« [MapConCase 2:15 min]), grafische Animation und textliche Darstellung (Explosionsdiagramm) 70 Screenshots von http://web.archive.org/web/20110906150020/www.demoscience.org/controversies/ projects_past.php (in Graustufen konvertiert) 71 MapConCase, vom Projekt »Pistolet à Impulsions Électriques« ist unter archive.org nur die Startseite ohne weitere Verlinkungen archiviert mit dem Stand vom 20.04.2011, http://web.archive.org/ web/20110420065501/http://ionesco.sciences-po.fr/com2009/taser/-wordpress. An anderer Stelle ist der Stand vom 15. 05.2014 archiviert, zeigt aber nur tabellarische Angaben, die keinen Rückschluss auf das Projekt zulassen, www.mappingcontroversies.net/Home/PlatformPistoletImpulsionsElectriques

321

322

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

3. Eine Darstellung der Versammlung der Akteure in dynamisch wechselnden Anordnungen als zusammenfassendes Torten-Diagramm Latour erkennt eine »soziotechnische Versammlung« um den Taser Around the taser you have a completely different assembly, not a political, but a socio-technical assembly. [ibid.: 5:10 min.] Als Ziel gibt Latour aus, dass die Kontroverse nicht nur dargestellt, sondern auch zu einer Lösung gebracht werden soll: (…) to invent as many tools as possible, tools which are really political tools in order to settle the controversy. [ibid.: 4:45 min.]

Abb. 55: Material zum Thema »Taser« 172, links: Zeitstrahl relevanter Ereignisse, rechts: Filmdokumentation einer Diskussion

Abb. 56: Material zum Thema »Taser« 2, links: Hardware Bestandteile, rechts: »SocioTechnical Assembly«: Diagrammatische Darstellung der Anspruchsgruppen«

72 Quelle für Abbildungen 55-57 ist das Video MapConCase, daher ist keine höhere Auflösung verfügbar.

9 Latours Projekte

Abb. 57: Material zum Thema »Taser« 3, links: »Tree of Questions«, hierarchisches Diagramm, rechts: »Quantitative Proof«, Beweisführung mit statistischen Belegen

9.6.1 Bewertung des Projekts Taser Die im Projekt Taser gezeigten Analysen beziehen sich auf Aspekte wie Hardware und Anspruchsgruppen sowie das Pro und Kontra der Kontroverse. Die Visualisierungen bleiben im Rahmen der Standards von Netz-, Torten- und Baumdiagrammen. Das Framing der Aufgabe setzt an der Hardware an, womit nahegelegt wird, dass sich die zu behandelnden Fragen aus den Details der materiellen Realisation ablesen lassen. Dieses Vorgehen mag innerhalb des Projekts den Vorgaben entsprechen, die von den Postulaten der ANT abgeleitet sind. Die Frage ist jedoch, ob dadurch die wesentlichen Aspekte der Kontroverse erfasst werden. Der selbst gesetzte Anspruch war es, ein vollständiges Bild der Kontroverse zu zeigen und sie damit einer Lösung näherzubringen. Dieser Anspruch wird jedoch deutlich und prinzipiell verfehlt. Der Grund dafür sind nicht die begrenzten Ressourcen eines studentischen Projekts, sondern prinzipielle Defizite des Ansatzes, da die Concerns nicht berücksichtigt werden.

9.6.2 Emotionaler Bezug: Concerns Der Taser ist eine Waffe. Damit gibt es zwei grundsätzlich unterschiedliche Positionen des Erlebens: die des Schützen und die des Getroffenen.73 Beide werden in ihren jeweiligen Funktionen starke Gefühle erleben. Gemäß den Vorgaben der ANT gilt es, möglichst genau die Frage zu beantworten: Was geschieht wirklich? (»second empiricism«, WSMC:24). In diesem Falle: Wie fühlt es sich an, einen Taser abzufeuern, und wie, davon getroffen zu werden? Die verlangte vollständige Darstellung der Kontroverse müsste diese Frage ins Zentrum stellen und ins Verhältnis setzen zur Perspektive weiterer Anspruchsgruppen wie etwa schutzbedürftige Bürger, Hersteller der Waffen und politische Entscheider. Erst dann lautet die Frage: Wie kann die Vielzahl unterschiedlicher und widerstreitender Aspekte wie politische Kalküle, wirtschaftliche In-

73 Als dritte Position wäre noch die des Beobachters zu nennen, der im Zeitalter allgegenwärtiger Smartphones mit Kamera auch eine dokumentarische Funktion zukommt. Dieser Aspekt wird hier aber nicht weiterverfolgt.

323

324

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

teressen und die Abwägung von Schaden und Nutzen in Visualisierungen dargestellt werden (in Latours Sprache: »drawn together«)? Dazu wäre es notwendig, Werte und Concerns in einen Austausch zu bringen mit Fakten und Framing, so wie es der später vorgestellte »Concern Ansatz« vorschlägt (Teil C). Designer sollten versuchen, die jeweiligen Gefühls- und Motivationslagen aller Beteiligten zu verstehen und diese durch ein möglichst breites Repertoire von Methoden darzustellen. Medien sind dafür unverzichtbar, auch wenn dabei die Risiken und Nebenwirkungen von Inszenierungen zu berücksichtigen sind. Die im Folgenden gezeigten Screenshots von Videoaufnahmen können davon zumindest eine Ahnung vermitteln.

Abb. 58: Demonstration eines Tasers, links: »See a taser strike a man in slow motion«74 mit Konfetti zur Erkennung der genutzten Waf fe, rechts: »Taser Impacts on Bare Skin at 28,000 fps«75, Produktion: »Slow Mo Guys« Die Demonstration eines Tasers zeigt sowohl den Schützen als auch den Getroffenen. Der Effekt der Waffe auf den Körper lässt sich in Nahaufnahme und in extremer Zeitlupe gut abschätzen (Abb. 58). Darstellungen wie diese müssten den Stakeholdern gezeigt und zur Diskussion gestellt werden. Auf der Basis dieser Wahrnehmungen wären die beteiligten Concerns wie öffentliche Sicherheit, Macht und möglicher Missbrauch in der jeweiligen Perspektive der Anspruchsgruppen zu untersuchen. Von dort kann die gestalterische Frage entwickelt werden, wie sich die Concerns individuell und sozial, historisch und systematisch entwickelt haben, welchen Einf lüssen sie unterliegen und wie sie sich durch die infrage stehenden Artefakte und Interventionen verändern würden. Eine solche umfassende Frage würde den Taser in einen Kontext stellen, von dem aus er im Vergleich zu Alternativen bewertet werden kann. All dies kann von einer noch so detaillierten Analyse des Tasers als Gerät selbst nicht geleistet werden. Um den beteiligten Concerns näherzukommen, würden Designer versuchen, das eigene Erleben einzubringen und das anderer so weit wie möglich in Erfahrung zu bringen. Offenbar wurde im MACOSPOL Projekt jedoch nur »Armchair Research« betrieben. Digitale Medien helfen sicher bei der Sammlung, Sortierung und Visualisierung. Andererseits jedoch scheint die Arbeit am Rechner die Distanz zum Geschehen vergrößert zu haben. Auch die emotionalsten Themen erscheinen nur noch als Statistik und Diagramm, wodurch der eigene Anspruch, die entscheidenden Aspekte von Kontroversen abzubilden, verfehlt wird. Dies erscheint als besonders erstaunlich, da Latour seine Vorstellungen zu einem »Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen« gerade am Beispiel des Waffengebrauchs vorgeführt hat: 74 https://www.youtube.com/watch?v=LtdsrlU_LoE (1:20 min) 75 https://www.youtube.com/watch?v=gCZziT6yit8 (6:15 min)

9 Latours Projekte

Mit der Waffe in der Hand bist Du jemand anderes, und auch die Waffe in Deiner Hand ist nicht mehr dieselbe. Du bist ein anderes Subjekt, weil Du eine Waffe hältst; die Waffe ist ein anderes Objekt, weil sie eine Beziehung zu Dir unterhält. [Latour 2002:218] Um die selbst gestellten Ansprüche zu erfüllen und den obigen Befund zu visualisieren, müsste der Fokus der Projekte umpositioniert werden: Im Mittelpunkt müsste die situative Modulierung von Artefakten und Concerns stehen, die zwischen den Fakten einerseits und den Werten andererseits eingespannt ist. Dies leistet die in Teil C präsentierte »Concern Canvas« (vgl. C 5.1.7).

9.7 Kritik der Projekte Neben dieser grundsätzlichen Kritik des im Projekt MACOSPOL verfolgten Ansatzes sollen Einzelaspekte der Projekte diskutiert werden. Leider sind dort viele Details auf Grund der mangelnden Dokumentation nicht mehr nachvollziehbar. Dennoch konnten einige designrelevante Gemeinsamkeiten gefunden werden, die im Folgenden analysiert werden.

9.7.1 Standardtools Die Projekte zeigen soziotechnische Graphen wie Entscheidungsbäume mit farbcodierten Ästen. Dadurch sollen etwa Produkte erklärt werden wie in Gebrauchsanweisungen. Es ist zu vermuten, dass Softwaretools eingesetzt wurden, um Argumente nach ihrem logischen Stellenwert zu ordnen und zu hierarchisieren. Dies ist aber nicht detailliert zu sehen und nicht dokumentiert. In der Dokumentation sind lediglich mehrere Hundert Standardtools aufgeführt, die häufig webbasiert und kostenfrei verfügbar sind.76 Welche Tools aber in welchem Projekt eingesetzt wurden und ob sie sich dort bewährt haben, ob es Anpassungen gab oder zumindest Desiderate genannt werden können, wird nicht deutlich. Eine Ref lexion der eingesetzten soziografischen Methoden kann so nicht abgelesen werden, obwohl Latour zu diesem Thema schon früher gearbeitet hat [Latour 1992a]. Der Einsatz von professionellen Tools der Datenanalyse wäre möglicherweise zu anderen Ergebnissen gekommen

9.7.2 Struktur und Grafik Die Strukturierung der komplexen darzustellenden Themen folgt einem einfachen Schema, das immer eine Darstellung der Zeitleiste, der Anspruchsgruppen (stakeholder) und der beteiligten Artefakte enthält. Es werden nur bekannte grafische Standards wie Kurven-, Balken-, Tortendiagramme genutzt. Dynamische Darstellungen beschränken sich auf die durch Programme vorgegebenen Funktionen wie skalierbare Vektor-Grafik (SVG). Überraschende Querverbindungen, Kontextualisierungen oder Detailansichten werden nicht gezeigt.

76 http://mappingcontroversies.net/Demoscience/ResourceOverview, http://web.archive.org/web/ 2011 0903021401/www.demoscience.org/resources/index.php

325

326

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Es ist keinerlei Ref lexion über die eingesetzten Bilder und Grafiken dokumentiert. Die Symbole, Farben und Formen auf dem Bildschirm verursachen in ihrer Vielfalt und mangelnden Ordnung ein semiotisches Chaos. Es sind weder Regeln noch konsistente Stile der Arbeitsgruppen oder der Projekte zu erkennen. Unverständlich bleibt, warum nicht wenigstens aktuelle ästhetische Lösungen übernommen werden, wie sie etwa in den Mustervorlagen von Standardsoftware wie wordpress angeboten werden (und auch schon im Projektzeitraum 2007-2015 verfügbar waren). Von dem neuen »visuellen, öffentlich einsehbaren und kodifizierten Raum« [Prom_dt:370], den Latour fordert, ist in den Projekten nichts zu sehen. Dieses Fazit muss verwundern, denn mit dem AND/OR-Diagramm (Abb. 33, 5.5.1) hatte Latour einen Standard entwickelt, der eine Vergleichbarkeit zwischen den Projekten hätte schaffen können und spätestens ab 2013 verfügbar war [Latour 2013c].

9.7.3 Interaktion Jeder Nutzer, der mit heutigen Medienplattformen vertraut ist, wird erstaunt darüber sein, dass keines der Projekte interaktive Funktionen hat. Weder wurden Möglichkeiten vorgesehen, Betroffene zu Wort kommen zu lassen (etwa in der Frage der Elektroschockwaffen), noch wird den Beteiligten die Möglichkeit eingeräumt, auf die gezeigten Ergebnisse zu reagieren. Auch wenn die partizipativen Qualitäten von Medienprodukten im Projektzeitraum noch nicht so weit entwickelt gewesen sein mögen wie heute, muss dieses Faktum erstaunen, zumal es in scharfem Gegensatz steht zu den hohen theoriegeleiteten Ansprüchen eines »new political territory …« [Prom_eng:11]. Die Projekte werden als statische Resultate von Forschern präsentiert, die offensichtlich keine Reaktion wünschen und erwarten. Die Autoren sprechen von Versammlung und zeigen grafische Darstellungen von Anspruchsgruppen (stakeholder), aber es gibt keine direkte Beteiligung der Betroffenen außer einem Hinweis auf geführte Interviews. Latour lobte schon vor Jahrzehnten die Vorteile des Netzes für die quantitative Recherche [Latour 1992a], aber es wird keinerlei Gebrauch vom Potenzial des Netzes für Kommunikationen mit Rückkanal gemacht.77 Für Designer dagegen ist es selbstverständlich, bei Projekten mit komplexen und kontroversen Aspekten die betroffenen Nutzer ins Zentrum zu stellen und zu beteiligen (user-centered). Die von Latour gezeigten Projekte provozieren daher die Frage, welches Publikum hier adressiert werden soll: • Die versammelten Anspruchsgruppen? Werden sie sich angemessen repräsentiert fühlen? • Das allgemeine Publikum? Warum sollte es sich für Projekte interessieren, bei denen keine Möglichkeit der Beteiligung besteht? • Politische Institutionen, die über die Kontroverse entscheiden müssen? Sie könnten das vorgeschlagene Tool nutzen, um eine Strategie zu entwickeln oder anzupassen, indem sie mehr über die starken und schwachen Punkte in der Argumentation ihrer Gegner erfahren. 77 Anders ist es beim Buch und Netzprojekt »Modes of Existence«, wo persönliche virtuelle Arbeitsräume eingerichtet werden können und dazu aufgefordert wird, sich am Projekt zu beteiligen. Über die Zahl und Beiträge der Nutzer wurde aber nichts bekannt, vgl. http://modesofexistence.org

9 Latours Projekte

• Die akademische Gemeinschaft von Kollegen und Studierenden? Nachdem das Projekt schon seit vielen Jahren läuft, werden Fachkollegen nach Meta-Informationen verlangen über empirische Ergebnisse, neue Erkenntnisse, produzierte Werkzeuge und den weiteren Verlauf der Projekte wie Implementierung der Tools, Fortgang der Diskussion oder erfolgreiche Lösung von Kontroversen. Die dürftige Dokumentation liefert jedoch nichts davon.

9.7.4 Die Rhetorik der Debatten und der Bilder Wenn es das Ziel ist, die Rhetorik einer Debatte zu analysieren und zu unterlaufen, indem die Kontroverse möglichst sachlich dargestellt wird, müssten sich die Analysten bewusst sein, dass auch ihre Darstellungen notwendig rhetorischen Prämissen folgen. Ein »plain style« wie er in der frühen Neuzeit als neutraler Ausdruck und »Anti-Rhetorik« angestrebt wurde, hat sich als illusionär herausgestellt.78 Im Gegenteil: Wer behauptet, nur neutral abzubilden und wiederzugeben, erkennt seine eigene Bindung an rhetorische Formen nicht und unterliegt ihr damit. Es müsste daher angestrebt werden, eine Vielfalt von Formen visueller Rhetorik zu entwickeln, die als solche erkennbar sind und damit kontingent bleiben. Dies wirft die Frage nach der Autorschaft auf: Während im akademischen Umfeld der Hinweis auf studentische Arbeiten noch genügen mag, stellen sich bei einer realen Umsetzung in der Öffentlichkeit viel weitergehende Fragen, die – so weit zu sehen – nicht erörtert wurden: • • • • • •

Wer erzeugt und verantwortet diese Darstellungen? Wer bringt sie in Verkehr? Wer sind die Nutzer? Welche Motivations- und Interessenlagen sind im Spiel? Kann es einen professionellen Service des »Debatten-Designs« geben? Wie können sich die Anbieter dafür legitimieren?

9.8 Bewertung des Projekts MACOSPOL Es muss verwundern, dass ein Projekt dieser Größenordnung keine Ergebnisse in der akademisch üblichen Form eines detaillierten Projektberichts präsentiert, der auch eine Auswertung auf theoretischer Ebene enthält. Ein Vergleich mit dem Forschungsstand in verwandten Fächern ist so kaum möglich. Wird ein solcher Abgleich durch eine entsprechende Recherche wenigstens näherungsweise ermöglicht, so zeigt sich, dass die als Ergebnis präsentierten, allgemeinen Schlussfolgerungen Latours [Latour o.J.] weit hinter dem bereits erreichten Sachstand in angrenzenden Kompetenzfeldern wie Argument Visualization und Online Deliberation zurückbleiben.79

78 vgl. 8.6 79 vgl. Kirschner, Buckingham Shum, Carr 2003 und www.VisualizingArgumentation.info, www.argumentations.com, außerdem das Projekt »climaps«, wo verschiedene Aspekte der Diskussion zum Klimawandel auf interaktiven Karten gezeigt werden und das ebenfalls im 7. Rahmenprogramm

327

328

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Das Projekt MASCOPOL erreicht weder die ausgegebenen praktischen Ziele, noch entspricht es dem von Latour formulierten theoretischen Anspruch. Trotz der vielen Projektpartner erscheint der Ansatz als hermetisch, da er nicht die langjährige Forschung in anderen Arbeitsbereichen einbezieht.80 Latours Argumentation ignoriert vollständig jede Anstrengung, die je in verwandten Fächern unternommen wurde. Ebenso gibt es keine Hinweise darauf, ob die in seinem Forschungsprojekt entwickelten Plattformen je einem Praxistest unterzogen wurden und welches in diesem Falle die Ergebnisse sind. So bleibt die zentrale Frage nach dem spezifischen Beitrag des Designs im Felde der matters of concern ohne jeden Kontext und gewinnt keinerlei empirische Dimension, was weit hinter dem aktuellen Forschungsstand sowie dem eigenen Anspruch eines »second empiricism« [WSMC:24] zurückbleibt. Die im Rahmen von MACOSPOL erstellten Projekte wurden laut Latour von undergraduate Studierenden im zweiten Studienjahr durchgeführt [MapCon]. Allerdings wurden die Gruppen von Hochschullehrern betreut und alle Arbeiten wurden – soweit ersichtlich – mit excellent bewertet. Qualitätsmängel sind deshalb nur schwer zuzuordnen. Über die Gründe der genannten Defizite kann nur spekuliert werden: Sind es lediglich Nachlässigkeiten? Das wäre bei der Prominenz der Forschungspartner und der Größte der Forschungsgruppe erstaunlich. Oder hat das Vorgehen Methode, um etwaige Mängel im konzeptionellen Ansatz oder der methodischen Durchführung zu verbergen? Hieran lassen sich weitere Fragen anknüpfen, die auch aus schwachen Ergebnissen noch neue Erkenntnisse zu Tage fördern könnten: • Weisen die schwachen Ergebnisse auf theoretische Defizite hin oder gibt es prinzipielle Probleme bei der Umsetzung der avancierten Theorieansprüche in komplexe Anwendungen? • Fehlt es an der Integration von professioneller Expertise aus Mediendesign, Softwaretechnik, Diskursanalyse und Social Media? • Würde die Integration der genannten Fachkompetenzen zu anderen Projektergebnissen führen, die wiederum Auswirkungen auf die theoretischen Annahmen hätten?

9.8.1 Beteiligung von Designern? Designer schätzen sicherlich die Tatsache, dass ein eminenter Autor wie Latour sich auch um empirische Erkenntnisse und praktische Umsetzungen bemüht. Es scheint aber noch erheblicher Investitionen an gestalterischer Expertise wie konzeptioneller Schärfung zu bedürfen, um die von Latour ausgegebenen Ziele zu erreichen. Latours vehement und teils pathetisch vorgetragene Aufforderung an das Design, die als epochal beschriebene Visualisierungsaufgabe anzunehmen, wird durch die beschriebenen Defizite unglaubwürdig: Warum hat Latour nicht längst die als unverzicht-

der EU gefördert wurde, http://climaps.eu/#!/map/absolute-and-relative-visibility-of-issues-inunfccc-negotiations-1995-2013 80 Obwohl die im Projekt MACOSPOL entwickelten Medienplattformen entsprechende Software nutzen und diese sogar evaluieren, http://mappingcontroversies.net/Demoscience/ResourceOverview

9 Latours Projekte

bar behaupteten Designleistungen in sein Projekt integriert?81 Falls Designer das Projektziel teilen, einen »visuellen, öffentlich einsehbaren und kodifizierten Raum« [Prom_dt:370] zu erschaffen, können sie durch folgende Fragen an die Projektstände anschließen: • Sind die theoretischen Annahmen korrekt und hinreichend? • Wie kann die Übertragung in praktische Anwendungen verbessert werden? • Wie können praktische und theoretische Designkompetenzen eingebracht werden, um matters of concern künftig erfolgreicher zu modellieren? Gerade die unzureichende empirische Dimension ist ein Kritikpunkt am Ansatz der ANT, der in der Zusammenarbeit von Sozialforschern mit dem Design gut zu bearbeiten wäre und gegebenenfalls zur Neujustierung des theoretischen Ansatzes genutzt werden könnte.

81 Der Beitrag von Designern in diesem Projekt ist nicht belegt, außer dass eine Partnerhochschule für Architektur und Design aus Manchester beteiligt war. Hier wurde das Projekt durchgeführt von Albena Yaneva, einer früheren Mitarbeiterin Latours. Diese hat auch in dem Bereich publiziert [Yaneva 2012, 2022], blieb dabei aber auf der analytischen Seite wie der Beobachtung von Entwurfsprozessen in Rem Koolhaas’ Büro OMA [Yaneva 2009] oder wiederholte Latours Positionen ohne sichtbare Kritik oder Weiterentwicklung [Yaneva, Heaphy 2012].

329

10 Fazit: Latours Position zum Design

Latours Text Ein vorsichtiger Prometheus … [Prom_dt.] wurde als gelungene Provokation des Designs gelesen. Latours Sprachform, seine Begriffe und Diagramme, Beispiele und Projekte zeigen ein Wissensdesign, das sich zwangsläufig den tradierten Formen der wissenschaftlichen Kommunikation entziehen muss, um diese problematisieren zu können. Die gewählten Formen haben komplexe theoretische Fragen sichtbar gemacht, auch wenn sie dabei kaum zur Klärung von Sachfragen beigetragen haben. Designer können vom Ansatz Latours aber eine Vielzahl von Anregungen empfangen, ohne auf die Klärung von Details warten zu müssen. So lassen sich die Begriffe matters of fact und matters of concern weiterentwickeln zu einem Concern-Ansatz, der im Rahmen des Transformation Designs wirksam wird. Was Latour anbietet, ist im Design nicht unbekannt, aber das Design kann Latours Perspektive zum Anlass nehmen, um die eigene Position präziser zu formulieren und mit den Fragestellungen und Methoden der Akteur-Netzwerk-Theorie zu verbinden. Darüber hinaus inspiriert die Vielfalt von Latours Projekten, die verschiedenen Formen gestalterischer Wissensbildungen stärker zu entwickeln und selbstbewusst zu vertreten. Die Bearbeitung von designrelevanten Themen durch die Akteur-Netzwerk-Theorie kann den Designern willkommen sein. Die Erkenntnisse der ANT müssen allerdings noch kritisch analysiert und umformatiert werden, um zur fachspezifischen Theoriebildung beitragen zu können. Freilich ist auch hier vor einer allzu großen Nähe oder gar Übertragbarkeit von theoretischen Erträgen zur praktischen Anwendung und umgekehrt zu warnen: Designer konnten bisher schon tun, was sie taten, ohne auf die Einholung durch irgendein theoretisches Fach zu warten. Daher ist die Designaufgabe heute NICHT, Designerkenntnisse nach einem wissenschaftlichen Standard zu reartikulieren (dies kann allerdings eine wissenschaftliche Aufgabe sein). Die Designaufgabe heute – wie immer schon – besteht darin, Projekte zu realisieren, die die Lebenswelten als Projekte bereichern und zugleich in den Diskursarenen wirksam werden als eine jeweils neue und experimentelle Integration von Beobachtung, Forschung und Umsetzung.

Teil C Der Concern Ansatz Grundlagen und Kontextualisierung, Methoden und Tools, Visualisierung (innovativ, spekulativ) Zusammenfassung Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und speziell die Beiträge Bruno Latours sollen genutzt werden, um Grundlagen und Methoden des Designs im Hinblick auf das entstehende Kompetenzfeld der Transformation neu zu bestimmen. In Teil B wurden Positionen der ANT in Bezug auf das Design gesichtet. Dabei wurde festgestellt, dass Latours Fokussierung auf die Designaufgabe der Visualisierung als zu eng gewählt erscheint, aber sein Begriff der matters of concern weiterentwickelt werden kann. Die Grundlagen des Concern Ansatzes bestehen aus der ANT (ein neues Verständnis sozialer Dynamik), der »Wunschökonomie« (Märkte und Politik der Affekte und Interessen) sowie der »Praxeologie« (Lebenswelt und Handlungspraxis). Der Concern Ansatz bietet eine neue Perspektive auf das Design und antwortet damit auf oben festgestellte Defizite und Problemlagen.1 Der Ansatz soll zur Entwicklung des Transformation Designs beitragen und die Überwindung unproduktiver Dichotomien (z.B. kritisch/affirmativ) ermöglichen. Als Werkzeuge des Concerns Designs werden Diagramme vorgestellt: Die Concern Canvas verortet Concerns im Kontext von Werten, Ereignissen/Frames, Issues und Fakten. Die Kulturellen Formate integrieren Concerns und Fakten zu einer Gestaltungsaufgabe, die ethische und ästhetische, konzeptionelle und materielle Aspekte verbindet. Die Kontextualisierung des Concern Begriffes führt zu einer Diskussion über das Verhältnis von Werten und Fakten samt dessen Reformulierung durch Latour. Schließlich wird Latours Forderung nach Visualisierungen wieder aufgenommen. Für die Bestimmung von Concerns wird auf das Konzept der »handelnden Bilder« (imagines agentes) zurückgegriffen, deren Handlungsmacht den Prämissen der ANT entspricht, dort aber bisher nicht berücksichtigt wurde. Das Spannungsverhältnis von universalistischen Karten zu pluriversalen Ansätzen wird gezeigt, ebenso wie Verfahren des Unmappings, der Metaphern und der Ironie. Es werden Projekte gezeigt, die als Concern Design avant la lettre gelten können. Als Ausblick werden »Narrative Panoramen« als zukünftige Karten vorgestellt. 1 vgl. A 4/5

1 Die Aufgaben des Concern Ansatzes (…) social science’s difficulties in acknowledging that people’s relation to the world is one of concern. Andrew Sayer 2011:1

1.1 Ausgangspunkte der Concerns Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) fasst soziale Prozesse als eine dynamische Verbindung von Handlungsketten auf. Diese werden von Akteuren und Aktanten, Hybriden und Quasi-Objekten gebildet. Vorstellungen von Subjekten, die ihre Interessen, Ziele und Werte in einer passiven Welt der Objekte verhandeln, werden überwunden zugunsten einer Co-Kreation mit den aktiven, handlungsleitenden Tendenzen der Artefakte. Die »weltbildenden Aktivitäten« [RA: 561] der Subjekte werden so durch die »menschbildenden Aktivitäten« der Umwelten symmetrisch ergänzt. Das Design hat die Frage nach den sozialen Qualitäten immer schon als eine Wechselwirkung von Menschen und Umwelten verstanden, zunächst mit einem Fokus auf Formen und Objekte, später zunehmend unter den Aspekten von Gebrauch und Interfaces. Im Kontext der heute geforderten Transformationen wird jedoch nach Beiträgen des Designs gefragt, die mit den Kategorien von Form, Gebrauch und Vermittlung alleine nicht zu entwickeln sind. Für die künftigen Aufgaben des Transformation Designs gilt es, von Concerns auszugehen, was im Folgenden vorgeschlagen und begründet wird. Concerns werden dabei als Ausdrucksformen von Affekten und Interessen beschrieben. Latour hatte den Begriff der matters of concern zwar eingeführt, die Concerns dabei aber weitgehend unbestimmt gelassen, statt sie mit Tarde als »leidenschaftliche Interessen« zu bestimmen, die dieser zur Grundlage wirtschaftlicher Aktivität erklärt hatte. Der Concern Ansatz greift diese Verbindung auf und bestimmt Concerns als »values in action«. Concerns setzen Handlungsketten in Gang und bestimmen ihre Dynamik. Sie präkonfigurieren Muster der Wahrnehmung, die Bildung von Präferenzen und das Erkennen von Handlungsoptionen. Damit werden weitere Grundlagen des Designs formuliert, die immer schon wirksam waren, aber bisher nicht ausreichend erkannt wurden. Ähnlich wie bei der Perspektive der ANT werden bisher übersehene Aspekte beschrieben. Doch während die ANT den Beitrag der materiellen Bestandteile zu Handlungsketten aufwertet, ergänzt das Concern Design deren psychologische Aspekte. Damit wird ein Aspekt der ANT erhellt, der bei Latour vage geblieben war: Warum und wie setzten sich Handlungsketten zuallererst in Gang? Wenn es weder die

336

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

handelnden Subjekte noch die Agency der Objekte allein sind, müssen dann emergente Prozesse im Sinne einer Feldtheorie angenommen werden? Können diese nur in den Extremwerten von Zufall und Sachzwang beschrieben werden oder sind hier gestaltete Formen denkbar, die als Attraktoren wirken? Die Design Aufgabe könnte dann darin bestehen, die treibenden Kräfte der Concerns temporär in kulturellen Formaten zu stabilisieren.

1.2 Wirkungseinheit statt Dichotomien Der Concern Ansatz will mit gestalterischen Sichtweisen und Werkzeugen zu einer künftigen transformativen Forschung und Praxis beitragen. Zentral sind dabei die integrative Gestaltung von Affekten und Interessen einerseits und von Artefakten und Systemen andererseits. Das Concern Design realisiert sich als eine Wirkungseinheit von Ausdrucksgestalten und Handlungsformen. Die von Latour bei Tarde gefundene »Verf lechtung der Begehren und Überzeugungen« [ÖkW:98] wird als Gegenstand der Gestaltung aufgefasst. Die Akteur-Netzwerk-Theorie will diese Verf lechtungen beschreiben, doch Beobachtung und Protokollierung finden ihre Grenzen in der Komplexität und Dynamik des Geschehens. Das Concern Design verbindet sich mit dem analytischen Interesse der ANT, will darüber hinaus aber praktisch eingreifen und die Entwicklung mitgestalten.1 Damit unterläuft der Concern Ansatz eine zentrale ideologisch verfestigte Dichotomie, die das Design blockiert: Entweder »affirmativ« im Dienste von ökonomischen Verhältnissen zu arbeiten, die als fragwürdig gelten müssen (Kapitalismus, Profit, Manipulation) oder als »kritisch« zu versuchen, diese Verhältnisse zu bekämpfen und zu überwinden (Revolution, Utopie, systems-level change).2 Für das Concern Design sind die genannten Aspekte jedoch keine Gegensätze, sondern Folge und Ausdruck derselben verengten ökonomischen Begriffe. Stattdessen fokussiert sich der Concern Ansatz auf grundlegende psycho-energetische Aspekte. Diese gehen den Tauschprozessen von Arbeit und Waren voraus, modulieren diese als Motivationen und Interessen und beeinf lussen Handlungen und Entscheidungen. Die Ausgangspunkte des Concern Designs sind daher Affekte und libidinöse Besetzungen, die individuelle Dispositionen bestimmen, aber ihrerseits von gesellschaftlichen Strukturen wie Technik, Medien und Bildung geprägt werden. Zwischen Authentizität und Manipulation kann hier nicht sinnvoll unterschieden werden. Concerns sind immer authentisch-manipuliert. Zurückgewiesen werden absolute Referenzgrößen wie Echtheit und Eigentlichkeit, Kern und Wesen, Wahrheit und Natur, die das Gestalterische für ihre Zwecke in Dienst nehmen wollen. Stattdessen wird der Eigensinn der Gestaltung betont und bejaht. Gestaltung kann nicht auf eine normativ bestimmte Verbesserung von Lebensformen reduziert werden. Vielmehr gilt es, die Verstrickung (»entanglement«) des Designs in Machtkonstellationen und damit auch die »dunkle Seite der Gestaltung« [Erlhoff 2021] anzuerkennen. 1 Diese »teilnehmende Beobachtung« könnte auch für die Aufgaben der ANT neue Einsichten ermöglichen, die bisher ihre Rolle der Beobachtung nur unzureichend thematisiert hat, vgl. ähnliche Ansätze der Aktionsforschung. 2 vgl. A 4

1 Die Aufgaben des Concern Ansatzes

Ein »Social Design«, das sich auf ungeklärte Größen wie »das Soziale« und »die Gesellschaft« beziehen will, wird damit infrage gestellt. Für das Concern Design gilt es, soziale und gesellschaftliche Bezüge im Sinne der Dingpolitik Latours zu denken, womit ein traditioneller Begriff von politischer Gestaltung überwunden wird. Auch die Dichotomie von Theorie und Praxis wird unterlaufen, da der Concern Ansatz seine Erkenntnisse durch die Verbindung von praktischen Interventionen mit theoretischen Fragestellungen gewinnt. Der Concern Ansatz versteht sich als »research through design« [Frayling 1993/94] und steht historisch im Kontext einer Entwicklung, die vom »Action Research« der 1940er Jahre bis zur heutigen »Praxeologie«3 reicht. Concerns werden nicht als Wünsche aufgefasst, die sich auf eine ungewisse Zukunft richten, sondern sie werden als »values in action« anerkannt, die bereits in der Gegenwart wirken. Das Concern Design beschäftigt sich daher weniger mit Projektionen, deren Umsetzung fraglich ist, sondern es greift in real gegebene Verhältnisse ein durch die Auswahl, Modifizierung und Priorisierung von Concerns sowie deren temporäre Stabilisierung zu kulturellen Formaten. In der Moderne wurden Designern mitunter heldenhafte Züge verliehen als Führungsfiguren in unbekannte Zukünfte. Diese werden im heutigen Social Design häufig unbedacht und unwidersprochen fortgeschrieben als »Pioniere« und »Zukunftsgestalter.«4 Dagegen entwickelt das Concern Design eine postheroische Position aus seiner Verstrickung in die widersprüchlichen Perspektiven der Anspruchsgruppen, die im Sinne der ANT auf nicht-menschliche Aktanten erweitert werden. Das Concern Design kann so zu einem Beispiel transformatorischer Praxis werden.

3 vgl. Reckwitz 2003, Schäfer 2016 4 https://www.zukunftsdesign.net

337

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

Der Concern Ansatz wird auf der Basis folgender Grundlagen entwickelt: • Die Akteur-Netzwerk-Theorie Latours und speziell der Bezug auf Gabriel Tarde in der »Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen« [ÖkW] • Die »Wunschökonomie«, wie sie von Deleuze/Guattari (»Wunschmaschinen«) und Jean-François Lyotard (»Économie libidinale«) in den 1970er Jahren beschrieben wurde • Das Konzept von Lebenswelt und Handlungspraxis, dessen Ideengeschichte von Husserls Phänomenologie und Heideggers Verständnis des Seins bis zu aktuellen Fragen neuer Ontologien (Barad, Massumi) und »Praxeologien« (Schäfer, Reckwitz) reicht Das verbindende Merkmal dieser Bereiche ist, dass verfestigte Dichotomien unterlaufen oder zumindest produktiver ins Verhältnis gesetzt werden. So wird Latours Konzept der »Interobjektivität« gefolgt, die er als ontologische Neugründung gegen eine behauptete »Deontologisierung« der Sozialwissenschaften positioniert.1 Auch die Konzeption von »gesellschaftlichen Maschinen« bei Deleuze/Guattari2 und die daran anschließende Fragen nach »Subjektivierungsmodalitäten«3 zielen auf eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Individuum, technischen Strukturen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Die Praxeologie schließlich stellt Handlungen in den Mittelpunkt und strebt an, zwischen Theorie und Praxis, Denken und Machen zu vermitteln. Die genannten Bereiche verstehen sich nicht als programmatische Forderungen, auf deren Erfüllung hinzuarbeiten ist, sondern als eine neue Empirie, die bereits vorgefundene Realitäten genauer und angemessener beschreibt.

1 Hier wird der Auffassung widersprochen, dass soziologische Modelle entweder vom Individuum (Akteure, Intersubjektivität) oder von Strukturen (Felder, Kräfte) ausgehen müssen, vgl. Latour 2001c:1, 16 2 Deleuze/Guattari 1997/72:512, 517, vgl. »Hinter der Diversität der Seienden ist kein univoker ontologischer Sockel gegeben, sondern eine Ebene aus maschinellen Schnittstellen.« [Guattari 2014/1992:77] 3 Guattari 2014/1992:15

340

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

2.1 Neue Ontologie Die neue ontologische Grundlage ergibt sich aus einer Verschiebung der Perspektive von autonom handelnden Subjekten in einer neutralen Umwelt zu einer aktiven Matrix, die Agency produziert und Subjekte wesentlich mitbestimmt.

Subjekte in Interaktion Subjekte werden als Individuen aufgefasst, die sich durch Interaktion und Kommunikation austauschen. Die Subjekte werden dabei gegenüber ihren Mitteln und Interessen als souverän angenommen. Die Umwelt erscheint als neutral und stellt lediglich ein passives Repertoire von Material, Zeichen und Artefakten bereit, dessen sich die handelnden Subjekte bedienen. Postulat: Herrschaftsfreie Kommunikation ist möglich (Habermas)

Matrix, Rhizom, Netz Gesellschaftliche Gesetze und Institutionen sowie technische Maschinen bilden eine Matrix (blau), die als Infra- und Kontrollstruktur ermöglichende und zugleich verhindernde Funktionen hat. Affekte, libidinöse Energien und Wünsche realisieren sich auf der Basis und in Auseinandersetzung mit der Matrix als dynamische Energief lüsse (rot). Subjekte erscheinen als Schaltstellen und Resonanzräume an den Interferenzen der Strukturen. Postulat: Nur die Kommunikation kommuniziert (Luhmann)

Concerns und Formate

Abb. 59: Neue Ontologie, schematische Darstellung der Entwicklung [PFS]

Matrix und libidinöse Energien bilden die »Wunschmaschinen« (Deleuze/Guattari), auf deren Bahnen sich die Concerns bilden und bewegen (grün). Deren unübersehbare Komplexität und Dynamik wird durch Gestaltung selektiv reduziert und temporär stabilisiert zu Formaten. Diese werden als Artefakte, Narrative und Interfaces wahrnehmbar und nur auf diese »Ausdrucksgestalten« (Oevermann) kann die Selbst- und Fremdwahrnehmung reagieren. Postulat: »Interobjektivität« [Latour 2001c]

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

Die skizzierte Perspektive fasst ontologische Annahmen neu und bildet die Grundlage des Concern Designs. Im Folgenden werden ihre Ausgangspunkte detaillierter beschrieben.

2.2 ANT: Ein neues Verständnis sozialer Dynamik Die Akteur-Netzwerk-Theorie geht von den Assoziationen menschlicher und nichtmenschlicher Akteure aus, der Anerkennung des Eigensinns materieller Artefakte und dem Konzept der Agency (Aktion ohne Akteure). Das Concern Design übernimmt diese Prämissen, aber geht noch darüber hinaus, indem es nach den Triebkräften und der Entwicklungsdynamik fragt: Was setzt die Agency zuallererst in Gang? Die Handlungsketten wurden von Latour als eine Reihung von Transaktionen konzipiert, für die jeweils ein Preis zu zahlen ist. Damit wurde eine materielle Auffassung gestärkt, die von Aufwand, Abnutzung und Transportschäden ausgeht im Gegensatz zur Vorstellung einer körper- und kostenlosen Weitergabe von Daten, die nur fiktiv, aber nicht real zu haben ist. Bisher wurde jedoch nicht ausreichend geklärt, welche Erregungsmuster und Energiegefälle zu berücksichtigen sind. Erst im Rückgriff auf Gabriel Tardes »Psychologie Économique« von 1902 findet Latour eine Beschreibung der »leidenschaftlichen Interessen« [ÖkW] als Grundlage wirtschaftlichen Austauschs und erkennt in diesem Ansatz die Grundlage der ANT avant la lettre:4 (…) bis zu den sich überkreuzenden Vektoren und Tensoren des Begehrens und der Überzeugung, die, wenn man so sagen darf, den Grund der sozialen Materie bilden. [ÖkW:21] Mit der Formulierung »Grund der sozialen Materie« scheint Latour Grundsätze der ANT zu verletzen: Wenn alle Phänomene aus Netzen, Übertragungen und Handlungsketten hervorgehen sollen, wie kann dann von einem »Grund« oder gar von »sozialer Materie« gesprochen werden? Denkbar ist aber, dass Latour in Tardes »Vektoren und Tensoren des Begehrens und der Überzeugung« jene Triebkräfte erkannte, die in der Konzeption der ANT bisher fehlten und diese erst komplettieren, da sie die Frage nach dem movens der sozialen Dynamik beantworten. Latour hatte den Begriff der Concerns mit der Unterscheidung von matters of fact und matters of concern zwar eingeführt, aber nicht weiterentwickelt. Nun gilt es zu erkennen, dass es genau jene »Vektoren und Tensoren des Begehrens und der Überzeugung« sind, die seinem unbestimmt gebliebenen Begriff der Concerns entsprechen. Wird diese Verbindung hergestellt, gewinnen Concerns eine zentrale Bedeutung für die Komplettierung der ANT durch eine neue Erklärung für den Antrieb zur Aktivität. Eine Pointe dabei ist, dass die ANT, die Artefakte und Materialität ins Zentrum stellte, durch die Anerkennung psycho-energetischer Faktoren ergänzt werden soll. Entscheidend ist jedoch, dass diese Faktoren bei Tarde eben nicht mehr als individuelle erscheinen, sondern als überpersönliche Dynamik konzipiert werden, was erst Jahrzehnte später in den »Wunschmaschinen« von Deleuze/Guattari wieder aufgenommen wird. 4 vgl. B 7.4, allerdings hatte Deleuze schon 1968 in Dif ferenz und Wiederholung den Bezug zu Tardes Mikrosoziologie hergestellt [Deleuze 1992/1968:106ff.], was in Mille Plateaux wieder aufgenommen wurde [MP:298]

341

342

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

2.2.1 Dingpolitik Wenn das Design als die Realisierung einer »Dingpolitik« [RpDp] verstanden wird, gilt es zu klären: Wie entstehen und verschwinden Dinge, wie konstituieren sie sich, welche Formen nehmen sie an und wie wird über sie entschieden? Gemäß der ANT wäre hier mit Agency zu antworten, also überpersönliche Handlungsketten aus menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Damit sind die Ursachen, Wirkungen und Bildungsgesetze aber noch nicht vollständig benannt. Diese Dimensionen kommen erst in den Blick, wenn die Frage nach dem Ding mit »Concerns« beantwortet wird: Dinge entstehen aus den spezifischen Konstellationen von Concerns. Die Geschichte, Politik und Macht der Dinge beruht auf den Concerns und deren selektiver Reduktion und temporärer Stabilisierung durch eine Formatierung als Ding.5 Grundannahmen der ANT wie die Verbindung von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren zu Handlungsketten finden sich bereits bei Deleuze/Guattari in den 1970er Jahren, auch wenn diese von Latour nur an entlegenen Stellen ausgewiesen wurden:6 Der Komplex Mensch – Pferd – Bogen stellt eine nomadische Kriegsmaschine unter Bedingungen der Steppe dar. [AÖ:498] Für die Bedingungen der Industrialisierung wurde formuliert: Es ist nie ein Mensch, der da arbeitet (…), sondern eine Anordnung von Organen und Maschinen. Ein Mensch kommuniziert nicht mit seinesgleichen: eine trans-humane Kette von Organen konstituiert sich und tritt mit Gliedern semiotischer Ketten und einer Überkreuzung materieller Ströme in Verbindung. [Guattari 1977:21] Die Maschine wird also nicht mehr als Gegner konzipiert, sondern das Maschinenhafte wird als inhärentes Merkmal betont.7 Solche Beschreibungen einer »(Mensch-Maschine)-Maschine« lassen an die Verdinglichung der Arbeiter als Anhängsel der mächtigeren industriellen Maschinen denken, wie sie etwa bei Karl Marx formuliert wurde:8

5 Dies scheint auch Heideggers Position und seinem berühmten Beispiel des Krugs zu entsprechen, müsste aber detaillierter ausgearbeitet werden, vgl. Heidegger 1950:182 6 Grundlegend für die Konzeption der Wunschökonomie sind der »Anti-Ödipus« [Deleuze/Guattari 1997/1972], im Folgenden AÖ, und die »Mille Plateaux« [Deleuze/Guattari 1993/1980], im Folgenden MP. Latour benennt Deleuze explizit als Einfluss: »Deleuze is the greatest French philosopher (along with Serres). (…) I have read Deleuze very carefully and have been more influenced by his work than by Foucault or Lyotard.« [Crawford, Latour 1993:263, zitiert nach Schmidgen 2012], »Das war es, was ich untersuchte, ich beobachtete die Modernisierungsfront. Und las dauernd im Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari.« [Latour 2013d:67] 7 »Nicht mehr geht es darum, Mensch und Maschine zu konfrontieren, um darin die möglichen oder unmöglichen Korrespondenzen, Verlängerungen, Untersetzungen des einen oder anderen einzuschätzen, vielmehr darum, beide zu verbinden und zu zeigen, wie der Mensch mit der Maschine, oder wie er mit anderen Dingen zu einem Stück (einer Einheit) wird, um so eine Maschine zu konstituieren.« [AÖ:498, Hervorhebung im Original] 8 Genial ins Bild gesetzt von Charlie Chaplin im Film »Moderne Zeiten« von 1936

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

(…) ein automatisches System der Maschinerie (…), bestehend aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen, so dass die Arbeiter selbst nur als bewusste Glieder desselben bestimmt sind. [Marx 1983/1858:592] Marx geht so weit, der Maschine selbst Virtuosität zuzuschreiben: Nicht wie beim Instrument, das der Arbeiter als Organ mit seinem eignen Geschick und Tätigkeit beseelt und dessen Handhabung daher von seiner Virtuosität abhängt. Sondern die Maschine, die für den Arbeiter Geschick und Kraft besitzt, ist selbst der Virtuose, die ihre eigne Seele besitzt in den in ihr wirkenden mechanischen Gesetzen und zu ihrer beständigen Selbstbewegung, wie der Arbeiter Nahrungsmittel, so Kohlen, Öl etc. konsumiert (…). [ibid.:593] Diese vor 150 Jahren entwickelte Maschinentheorie lässt die Handlungsketten, Mittler und Quasi-Objekte Latours ebenso wie die gesellschaftlichen Maschinen Deleuze/ Guattaris als weniger überraschend und radikal erscheinen. Die politischen Auswirkungen von Technik werden bei Latour nicht klar unterschieden, was zum Anlass von Kritik wurde: Als eine Leerstelle in Latours Philosophie lässt sich jedoch anführen, dass er keine Begrifflichkeit bereitstellt, mit der zwischen verschiedenen Technologien unterschieden werden kann; etwa zwischen eher demokratischen und eher autoritären Technologien. Wenn Latour Technik als stabilisierte Gesellschaft begreift, erscheint es notwendig, seine Begriffe dahingehend zu verfeinern, dass es Stabilisierungen gibt, die gesellschaftliche Hierarchien stabilisieren und erweitern und solche, die diese unterlaufen und in Frage stellen. [Barla, Steinschaden 2012:7] Durch diese fehlende Unterscheidung entgeht Latours Position zur Dingpolitik eine wesentliche Dimension. Falls Technik allein als »stabilisierte Gesellschaft«9 aufgefasst werden soll, müssten sich Gesellschaften bei zunehmender Technisierung stetig weiter stabilisieren. Dies scheint jedoch bereits empirisch widerlegt zu sein angesichts etwa der Fragilität von Infrastrukturen. Je höher diese Strukturen technisiert sind, desto angreif barer erscheinen sie, etwa in der Cyberkriminalität, und je mehr gesellschaftliche Prozesse von diesen Strukturen abhängen, desto leichter sind sie zu destabilisieren. Viel plausibler erscheint es daher, in der Technik sowohl stabilisierende wie destabilisierende Qualitäten zu erkennen. Damit sind schließlich Machtfragen angesprochen, die bei Latour kaum explizit behandelt werden.10 Die Dingpolitik Latours kann durch den Concern Ansatz ergänzt werden, da dieser nach der Formatierung von Handlungsketten fragt. Traditionell und instrumentell formuliert: Wer kann wem mit welchen Mitteln welche Vorgaben machen? Oder unter Berücksichtigung von Latours Begriffen: Wie gewinnen Handlungsketten Dominanz über andere, und wie können sie deren Konstituierung oder Auf lösung veranlassen? 9 Latour 2006/1991, vgl. B 3.2.1, B 6.1.2 10 Latour spricht zwar von der »Macht der Assoziation« [Latour 2006/1986] und der »Macht der unveränderlich mobilen Elemente« [ibid. 1990]. Er entwickelt jedoch keine explizite Theorie der Macht, wie sie etwa bei Luhmann zu finden ist [vgl. Luhmann 2012, 2013], B 2.2.1.

343

344

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Zu diesen Fragen kann das Design einen Beitrag leisten, indem es die Wechselwirkungen von Concerns und Formaten genauer bestimmt.11

2.3 Wunschökonomie: Märkte und Politik der Affekte und Interessen Neben der ANT ist für den Concern Ansatz das Modell der »Wunschökonomie« grundlegend. Diese geht von einer überindividuellen Dynamik aus, die sich aus der Wechselwirkung zweier Systeme bildet: Zum einen die gesellschaftlichen und technischen Strukturen, die bei Deleuze/Guattari (im Folgenden DG) als Maschine bezeichnet werden und zum anderen die Ströme der Anziehung und Abstoßung von Affekten in der Wunschproduktion.12 Für den Ansatz der Wunschökonomie ist das Konzept der »Wunschmaschine«13 zentral: Denn die Wunschmaschinen bilden die fundamentale Kategorie der Wunschökonomie, bringen selbsttätig einen organlosen Körper hervor und treffen eine Unterscheidung weder zwischen ihren eigenen Bestandteilen und den Agenten noch zwischen den Produktionsverhältnissen und ihren eigenen Verhältnissen noch endlich zwischen den Gesellschaften, dem Gesellschaftlichen und dem Technischen. Die Wunschmaschinen sind gesellschaftlich und technisch in einem. [AÖ:42/43] Fast zur gleichen Zeit, aber mit einem anderen Schwerpunkt, beschrieb Jean-François Lyotard mit der »Économie libidinale« [Lyotard 1984/1974, deutsch: Die Ökonomie des Wunsches, im Folgenden ÖW] eine weitere Perspektive auf die Wunschökonomie. Beiden Ansätzen gemeinsam ist eine Verarbeitung der enttäuschten revolutionären Hoffnungen aus den politischen Ereignissen um 1968, die Abkehr vom Marxismus und der Bruch mit klassischen psychoanalytischen Konzepten in der Tradition Sigmund Freuds. Diese gingen von einem ödipalen Drama aus und übertrugen familiäre Konstellationen in gesellschaftliche Bereiche. Die Vorstellung der Repräsentation libidinös besetzter Partialobjekte führte zum Modell eines Theaters, in dem Rollen gespielt werden, die vom beobachtenden Analytiker zu entschlüsseln sind. Dagegen stellen DG das Modell einer Fabrik, in der Wünsche gesellschaftlich produziert werden und es im Gegensatz zum Theater kein »Außen« gibt. Statt die Interaktionen und Kommunikationen von Subjekten ausgehen zu lassen, wird eine vorgängige Agency von »Wunschmaschinen« anerkannt:

11 Damit wird die Theorie der Handlungsketten durch eine politische Wertung ergänzt, wie sie auch in Ivan Illichs Konzept der »Tools for Conviviality« [Illich 2009/1973] entwickelt wurde. 12 Eine Grundlage für diese Konzeption hatte Deleuze bereits 1968 in »Dif ferenz und Wiederholung« entwickelt: »Alle Identitäten sind nur simuliert und wie ein optischer Ef fekt durch ein tiefer liegendes Spiel erzeugt, durch das Spiel von Dif ferenz und Wiederholung. Wir wollen die Dif ferenz an sich selbst und den Bezug des Dif ferenten zum Dif ferenten denken, unabhängig von den Formen der Repräsentation, durch die sie auf das Selbst zurückgeführt und durch das Negative getrieben werden.« [Deleuze 1992/1968:12] 13 Im französischen Original als »les machines désirantes« [AÖ:7], wodurch der tätige, produzierende Charakter deutlicher wird als in der englischen und deutschen Nominalisierung.

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

Die Wunschmaschinen stecken nicht in unserem Kopf, sind keine Produkte der Einbildung, sondern existieren in den technischen und gesellschaftlichen Maschinen selbst. [AÖ:512]

2.3.1 Kritik der Wunschmaschinen (Deleuze/Guattari) Das Konzept der »Wunschmaschinen« von DG eröffnete neue Perspektiven. Es wurde aber auch kritisch aufgenommen, und zwar nicht nur – wie zu erwarten – von den darin angegriffenen orthodoxen Freudianern und Marxisten.14 Gerade von politisch ähnlich Denkenden wurden genauere Bestimmungen eingefordert, die zur praktischen Grundlage künftigen Handelns werden könnten: Wenn man irgendetwas von dem, was von der Ordnung des Wunsches in der Gesellschaftsmaschine vorgeht, begreifen will, dann müssen wir durch diese Engführung hindurch, die im Augenblick das Objekt ausmacht. Es genügt nicht zu behaupten, dass alles Wunsch ist, sondern man muss sagen, wie das vor sich geht. [Leclaire in Guattari 1977:55] Zu Recht wird gefragt, wie aus der unübersehbaren Komplexität und Dynamik der Wunschmaschinen Ordnungsbezüge und Handlungsmacht hervorgehen sollen. Zwar wurden in der Beschreibung der »wünschenden Maschinen« auch »Agenten« genannt, doch wurden diese nicht weiter spezifiziert.

2.3.2 Das Concern Design als Formatierung der Wunschökonomie Das Concern Design kann auf diese Frage antworten, denn es geht von einer Wirkungsmacht des Designs aus, die dieses durch die Maschinen und Märkte der Affekte und Emotionen entfaltet. Dabei wird eine überindividuelle Dynamik der Concerns anerkannt, die erst formatiert werden muss, um Werte artikulieren zu können. Die Formatierung reduziert die Komplexität der Concerns auf kommunizierbare Einheiten als Begriff, Bild, Artefakt oder Handlung.15 Die Produkte der von DG postulierten Fabrik scheinen Wünsche oder Begehren (désir) zu sein. Diese Begriffe drängen jedoch immer noch zu einer Erfüllung und erscheinen als ungeeignet, da diese explizit verneint wird: Dem Wunsch fehlt nichts, auch nicht der Gegenstand. [AÖ:36] Das Konzept der Concerns dagegen kann diesen Widerspruch auf lösen: Concerns werden zunächst ebenso konzipiert wie der Wunsch in DGs Modell, der nicht einem 14 So fragte Slavoj Žižek, allerdings erst 30 Jahre nach Erscheinen des AÖ: »Welche inhärente Sackgasse veranlasste Deleuze, sich Guattari zuzuwenden? Ist Anti-Ödipus, Deleuzes wohl schlechtestes Buch, nicht das Ergebnis einer Flucht vor der vollen Konfrontation mit einer Aporie mittels einer vereinfachten, flachen Lösung (…). Wurde Deleuze deshalb zu Guattari gedrängt, weil Guattari ihm ein Alibi bot – einen leichten Ausweg aus der Aporie seiner vorherigen Position? Beruht Deleuzes Begrif fsgebäude nicht auf zwei Logiken, auf zwei begrif flichen Gegensätzen, die in seinem Werk koexistieren?« [Žižek 2005:37] 15 Slogans wie »Design for Happiness« oder »Form follows emotion« deuten zwar auf dieses Aufgabenfeld, setzen aber Gefühlslagen und Bedürfnisse voraus, statt deren vorgängige gesellschaftliche Produziertheit zu erkennen und bleiben damit trivial im Vergleich zur radikalen Analyse von Deleuze/Guattari.

345

346

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Mangel entgegengesetzt ist, sondern sich selbst genügt. Während jedoch bei DG die Wunschmaschine zwischen sich und ihren Agenten nicht unterscheidet, sollen Concerns und Maschine situativ unterschieden werden, wenn auch nicht prinzipiell: Was aktuell ein Concern ist, der sich spontan und f lüchtig wie eine elektrische Entladung über die Matrix der Wunschmaschine legt, kann schon bald ein fest verdrahteter Teil einer neuen Matrix sein, die ihrerseits völlig andere Concerns speist. Ebenso kann sich ein Teil der Maschine als Concern dynamisieren und auch als solcher verausgaben.16 DG konzipieren den Wunsch als unmittelbare Realität: Das objektive Sein des Wunsches ist das Reale an sich. Eine besondere Existenzform, die psychologische Realität genannt werden könnte, existiert nicht. (…) Es gibt nur eine Produktion, die des Realen. [AÖ:36, 42/43] Ebenso sollen Concerns als Produkte von Wunschmaschinen als konkrete Realisierung der Einheit von Affekt und Ausdruck verstanden werden (vgl. Abb. 59 unten). Kein Affekt ohne Ausdruck, und kein Ausdruck ohne Affekt. Unklar bleibt bei DG jedoch, wie diese unübersehbare Vielfalt und Dynamik des »objektiven Seins« von Wünschen handhabbar werden sollen. DG scheinen auf diesen Anspruch zu verzichten und konzipieren Subjekte nur als möglich »kraft Repression«17. Damit können sich Designer jedoch nicht zufriedengeben. Auch wenn der Wunsch als ein »Ensemble passiver Synthesen«18 aufgefasst wird, soll er doch zugleich auch »Produktionseinheit« sein und für diese stellt sich die Frage, woher sie ihre Energie bezieht und wie sie sich organisieren lässt. Hierauf antwortet das Konzept der Formate. Diese organisieren die Vielfalt der Concerns durch Selektion und temporäre Stabilisierung. Erst über Formate werden Concerns als Muster darstellbar und adressierbar. Die Erstellung und Umformung von Formaten ist daher die Aufgabe des Concern Designs. Dieses reduziert die Komplexität der Wunschmaschine durch die simultane Selektion und Formgebung19 und liefert als Ergebnis »Ausdrucksgestalten« [Oevermann 2002]. Rahmungen, Narrative und Interfaces verbinden sich zu Formaten, die eine kommunizierbare Illusion von Identität erzeugen.20

16 Diese Bestimmung mag wie die Unterscheidung von Handlung und Struktur in der Soziologie erscheinen, vor allem in der Konzeption von Übergängen: Wiederholte Handlungen werden zu Konventionen und bilden Strukturen, nicht befolgte Strukturen verlieren bindende Kraft und lösen sich in eine Pluralität von Handlungen auf, vgl. das Verhältnis von Treibstoff und Maschine bei DG, 2.6.1 17 »Vielmehr ist es das Subjekt, das den Wunsch verfehlt, oder diesem fehlt ein feststehendes Subjekt; denn ein solches existiert nur kraft Repression.« [AÖ:36] Allenfalls eine »molare Dimension«, die der molekularen entgegengesetzt wird, könnte als Hinweis auf die Bearbeitung dieser Frage gesehen werden, vgl. 2.5.3. 18 »Der Wunsch ist jenes Ensemble passiver Synthesen, die die Partialobjekte, die Ströme und die Körper maschinisieren und wie Produktionseinheiten funktionieren.« [AÖ:36] 19 Unterscheiden und Bezeichnen fallen notwendig in einem Akt zusammen, vgl. Spencer-Brown 1997, B 5.3 20 Arnold Gehlen sprach von einer »Versachlichung der Triebe« [Gehlen 2016/1956:74-78]: »Ein gefühlsstarker, bildbesetzter Interessenkomplex hat erlebnismäßig eine anschauliche Eigenständigkeit, in der die Person sich selbst gegenständlich wird, obgleich nicht im Sinne der Selbstbeobachtung oder Selbstbesinnung.« [ibid.:85/86]

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

2.3.3 Die »Économie libidinale« (Lyotard) Für das hier verfolgte Ziel, das Design als Modellierung von Concerns zu verstehen, die als »leidenschaftliche Interessen« Anlass und Schauplatz wirtschaftlichen Handelns sind, ist jedoch noch eine weitere Quelle bedeutend, die von Latour ignoriert wird: die »Économie libidinale« von Jean-François Lyotard [ÖW].21 Lyotard entwickelt eine libido-ökonomische Analyse, die Tardes Idee von »Vektoren und Tensoren des Begehrens« sehr ähnlich ist, diese jedoch nicht erwähnt. Ein Ausgangspunkt ist die Beschreibung des »libidinösen ›Körpers‹« als eine Abfolge ineinander gefalteter Oberf lächen, die neben organischem Material auch Artefakte enthalten. Dies mag an Latours Hybride erinnern, doch Lyotard geht darüber hinaus, indem er den Körper in seiner Ambivalenz benennt. So wird etwa Karl Marx als doppelgeschlechtliches Wesen vorgestellt: einerseits als Philosoph, der das »artistische Ganze«22 seiner Konzeption verwirklicht sehen will und andererseits als »die kleine Marx«, die das Unrecht der Welt nicht ertragen kann und sich von dem großen, bärtigen Gelehrten vertreten lässt, »damit er die These aufstellt, dass das nicht nicht auf hören kann (…)« [ÖW:149].23 Diese doppelte Verneinung heißt: Das Unrecht kann und muss auf hören. Die Setzung des »libidinösen ›Körpers‹« als Ausgangspunkt eines politischen Programms begründet nach Lyotard ein neues Verhältnis zur Revolution: Mit der Revolution von vorn anfangen bedeutet nicht, wieder von vorn anzufangen, es bedeutet, dass man damit aufhört, die Welt als entfremdet anzusehen und zu glauben, man müsse die Menschen retten, oder ihnen helfen oder ihnen sogar dienen (…). [ÖW:180]

2.4 Lebenswelt und Handlungspraxis Die Aufgabe des Designs ist es, in alltägliche Verhältnisse einzugreifen und neue Praxen experimentell zu entwickeln. Das Design befragt und ermöglicht dabei den Normalfall, in dem es Abweichungen und Irritationen einführt und gleichzeitig Angebote zur Integration in einen neuen Normalfall macht. Der Begriff »Alltagskultur«24 sollte zeigen, dass es dem Design nicht um die museale Auszeichnung von ästhetischen Sonderfällen geht, sondern um die Nutzung und Bewährung von Artefakten und Handlungsketten im Gebrauch. Die Bestimmung der

21 Ein Beispiel für Machttechnik: historische Vorläufer benennen und als Verbündete integrieren, aber andere Autoren nach Belieben ignorieren (vgl. A 3.3.5). 22 »Ich kann mich aber nicht entschließen, irgend etwas wegzuschicken, bevor das Ganze vor mir liegt. Whatever shortcomings they may have, das ist der Vorzug meiner Schriften, dass sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen.« [Marx an Engels, 31.07.1865, MEW 31:132, vgl. ÖW:150] 23 Karl Marx selbst hof f te, mit seiner Arbeit schneller fertig zu werden: »Ich bin so weit, dass ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin. Et cela fait, werde ich zu Haus die Ökonomie ausarbeiten und im Museum mich auf eine andre Wissenschaf t werfen. Ça commence à m’ennuyer.« [Marx an Engels, 02.04.1851, MEW 27:228]. Der erste Band des Kapitals erscheint 1867, 16 Jahre später. 24 vgl. u.a.: »Kritik der Alltagskultur« [Meurer, Vinçon 1979], »Alchimie des Alltags« [Siepmann 1987]

347

348

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Kategorie »Alltag« ist jedoch komplex. Einem politisch und sozial ambitionierten Design der 1970er Jahre genügte es noch, den »Alltag« als Massenkultur im Gegensatz zur Hochkultur zu bestimmen. Seitdem versuchen soziologische und anthropologische Forschungen, den Alltag als Everyday Life näher zu bestimmen.25 Gegenüber deren Erkenntnisinteressen sind für das Design jedoch eher die Fragen der Handlungspraxis entscheidend, wie sie etwa im amerikanischen Pragmatismus von John Dewey26 und in der »Kunst des Handelns« von Michel de Certeau entwickelt wurden.27 Die Soziologie untersucht diese Fragen seit einigen Jahren in ihrem »practice turn«.28 Mit den Dimensionen Praxis, Materialität und Handlung werden endlich Aspekte diskutiert, die im Design immer schon zentral waren, dort aber nicht begriff lich ausgearbeitet werden konnten. Insofern wird in dieser Bewegung ein vom Design lange vermisster Beitrag der Sozialwissenschaften gefunden (vgl. A 2.1).

2.4.1 Probleme der Methodik: Praxeologie Die Begründung einer »Praxeologie« wird als Ziel eines »soziologischen Forschungsprogramms« [Schäfer 2016] ausgegeben. Inspiriert durch die Akteur-Netzwerk-Theorie widerspricht eine solche »Praxistheorie« der Trennung von Fakten und Werten als Fiktion, da diese keine Entsprechung in den untersuchten Gegenständen der Alltagspraxis findet. Wenn Latours Forderung nach einem »zweiten Empirismus« [WSMC:24] gefolgt wird, sind Praxen zu untersuchen, die weniger mit unterstellten Zielen, Werten und Planungen zu tun haben, sondern die die situierte Kompetenz als Alltagswissen anerkennen. Diese wird in Handlungsketten wirksam, bleibt aber als nicht deklaratives Wissen vordiskursiv und »schweigend/tacit«.29 Eine »Theorie sozialer Praktiken« geht daher von folgenden Voraussetzungen aus: (…) drei Grundannahmen: eine ›implizite‹, ›informelle‹ Logik der Praxis und Verankerung des Sozialen im praktischen Wissen und ›Können‹; eine ›Materialität‹ sozialer Praktiken in ihrer Abhängigkeit von Körpern und Artefakten; schließlich ein Spannungsfeld von Routiniertheit und systematisch begründbarer Unberechenbarkeit von Praktiken. [Reckwitz 2003:1]

25 vgl. »Lebensstilforschung« [Hartmann 1999], »The Design of Everyday Life« [Shove et al. 2007], »The Dynamics of Social Practice – Everyday Life and how it Changes« [Shove et al. 2012], »Design Anthropology« [Clarke 2018, Gunn et al. 2013]. Grundlegend sind die Begrif fsprägung »Lebenswelt« in der Phänomenologie Edmund Husserls von 1924 [vgl. Blumenberg 2010:111], die existenziellen Bestimmungen wie »Sorge«, »Zuhandenheit« und »In-der-Welt-Sein« in Martin Heideggers »Sein und Zeit« von 1927 sowie die »Strukturen der Lebenswelt« bei Alfred Schütz von 1959. 26 vgl. »The Quest for Certainty: A Study of the Relation of Knowledge and Action« [Dewey 1929] 27 vgl. de Certeau 1988 28 vgl. Schäfer 2016:11. Als Grundlage des »practice turns« wurden so unterschiedliche Autoren genannt wie u.a. Bourdieu, Giddens, Wittgenstein, Heidegger, Taylor, Garfinkel, Boltanski, Foucault, Deleuze/ Guattari, de Certeau, Latour, Wirth und Butler. Hier ist nicht darüber zu urteilen, inwiefern diese Reihung berechtigt ist oder ob sie nicht zu unterschiedliche Ansätze einebnet. 29 vgl. »The Tacit Dimension« [Polanyi 1966], »Experten des Alltags – Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens« [Hörning 2001]

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

Das Concern Design interessiert sich sowohl für den Forschungsgegenstand dieser »Praxeologie« als auch für dessen Methodik. Bisherige Formate von Praxen und Akteuren scheinen aber noch nicht auszureichen, um die »Instabilität der Praxis« und die Dynamik der »Reproduktion und Transformation des Sozialen« [Schäfer 2013] angemessen zu beobachten und zu beschreiben.30 Hier könnten Interventionen des Designs weiterhelfen, die die Handlungsketten zur Umstellung und Neujustierung anregen. Eine künftige »Praxeologie« müsste integrative Forschungsformate entwickeln, in denen sich das Design und die Sozialwissenschaften treffen können.31

2.4.2 »Objektive Hermeneutik« (Oevermann) Die von Ulrich Oevermann begründete »objektive Hermeneutik« geht davon aus, dass sich eine innerpsychische Wirklichkeit nur dialogisch und selbstref lexiv bilden und vermitteln kann durch »Ausdrucksgestalten«.32 Damit wird behauptet, dass sich Form und Sinn entsprechen: Es ist kein Inhalt denkbar, der formlos existieren könnte, ebenso wie keine neutrale Form existiert, die nicht auch als sinnhaft verstanden werden kann. Keine Existenz ohne konkrete Erscheinungsform: Viel mehr macht die objektive Hermeneutik ernst mit den Konsequenzen der grundlegenden Erkenntnis, dass jede subjektive Disposition, d.h. jedes psychische Motiv, jede Erwartung, jede Meinung, Haltung, Wertorientierung, jede Vorstellung, Hoffnung, Fantasie und jeder Wunsch methodisch überprüfbar nie direkt greifbar sind, sondern immer nur vermittels einer Ausdrucksgestalt oder einer Spur, in der sie sich verkörpern oder die sie hinterlassen haben. [Oevermann 2002:2] Ebenso wurde eine »Kritik von Lebensformen« angeregt, die nach den gestalteten Formen und den Möglichkeiten ihrer Umgestaltung fragt: (…) von Lebensform nur da zu sprechen, wo etwas gestaltet (oder geformt) ist und demnach auch umgestaltet werden könnte, (…). [Jaeggi 2014:20/21] Diese Bestimmungen von Ausdrucksgestalt und Lebensform formulieren prägnant eine Relevanz von Gestaltung, ohne dass diese bisher vom Design beantwortet oder auch nur zur Kenntnis genommen wurde. Es erscheint aber als aussichtstreich, nach 30  vgl. eine »Soziologie der Praktiken« [Schmidt 2012] mit empirischen Untersuchungen u.a. zum Büro 31 »Praxeologie meint dabei kein stringentes oder holistisches Theoriedesign im Sinne der Großtheorien der 1970er Jahre. Sie bietet vielmehr ein Angebot, verschiedene Formen von Handlungsmacht und ›Sozialität‹ – sei es nun Körperlichkeit und Performanz, Artefakt und Materialität, Interaktionsbeziehung und Netzwerkbindung – umfassender in den Kulturwissenschaften einzubinden und diese dort als Formen des Sozialen zu verorten.« [Reichart 2015:61], vgl. A 2.2 32 »Es soll nur in Rechnung gestellt sein, dass methodologisch ein überprüfbarer und erschließbarer Zugriff auf diese eigenlogische Wirklichkeit von Intentionen bzw. intentionalen Gehalten, generell: der innerpsychischen Wirklichkeit von Empfindungen, Affekten, Vorstellungen, Kognitionen und Volitionen, nur vermittelt über Ausdrucksgestalten möglich ist, in denen sie sich verkörpern, ebenso wie in der Unmittelbarkeit der Vollzüge der Praxis selbst sowohl die dialogische Vermittlung wie die selbstreflexive Vergegenwärtigung solcher innerpsychischer Wirklichkeiten auf jene Verkörperung in Ausdrucksgestalten notwendig angewiesen ist.« [Oevermann 2002:2], vgl. Kraimer, Garz 1994 sowie Garz, Raven 2015

349

350

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Verbindungen zu diesen Fragestellungen zu suchen, denn schließlich geht es auch dem Transformation Design um Lebensformen, die verstanden werden als (…) ›kulturell geprägte Formen menschlichen Zusammenlebens‹, ›Ordnungen menschlicher Koexistenz‹, die ein ›Ensemble von Praktiken und Orientierungen‹, aber auch deren institutionelle Manifestationen und Materialisierungen umfassen. [Jaeggi 2014:20/21]

2.5 Schnittstellen der drei Theorieansätze Mit der ANT, der Wunschökonomie und der Praxeologie wurden drei Bereiche vorgestellt, die vor allem in ihren Überschneidungen für die Begründung des Concern Ansatzes entscheidend sind. Gemeinsame Themen und Schnittmengen werden im Folgenden in den Kontext des Designinteresses an Lebenswelt und Handlungspraxis gestellt. Folgende Themen werden diskutiert: Fabrik vs. Theater, »organloser Körper« vs. »libidinöser ›Körper‹«, Mikro-/Makro- und molekulare/molare Dimensionen, Primat der Aktion: Information vs. Transformation.

2.5.1 Fabrik vs. Theater Deleuze/Guattari lehnen die Vorstellung einer psychischen Realität ab und widersprechen der Trennung von symbolischer und materieller Realität: So der Wunsch produziert, produziert er Wirkliches. So er Produzent ist, kann er nur einer in und von Wirklichkeit sein. [AÖ:36] Entsprechend konzipieren DG die Wunschmaschinen als Fabrik und positionieren sie damit als Gegensatz zum Modell eines Theaters der Repräsentation, wie es bei Freud entwickelt wurde. Dieses wird kritisiert, da die Repräsentation von Rollen und Zeichen immer durch Rahmungen konventionalisiert werden müssen, deren Produktion aber nicht gezeigt oder hinterfragt wird. Latour spricht – vierzig Jahre später und ohne expliziten Bezug – von »Fabriken der Innerlichkeit«: Wir müssen also lernen, den Fabriken der Innerlichkeit zu folgen (…), unseren Weg entlang den besonderen Netzwerken zu suchen und den genauen Tenor dessen, was sie transportieren, entdecken. [Exw:275] Unseren Methoden gemäß müssen wir uns also daranmachen, zu verifizieren, ob es nicht bei den Modernen Netzwerke der Produktion von Innerlichkeiten und Psychen gibt, die eine vergleichbare Materialität, Rückverfolgbarkeit, Solidität haben wie die bereits aufgefundenen Netze für die Produktion von »Objektivitäten«. [Exw:269] Unter dem Aspekt der Produktion muss zwischen der Alternative Fabrik oder Theater nicht entschieden werden, denn das Theater ist nur ein Sonderfall der symbolischen Produktion. Entscheidend ist die Perspektive des Beobachters: Bleibt er Zuschauer im Auditorium oder bewegt er sich auch hinter die Bühne? Eine solche doppelte Perspekti-

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

ve wurde Deleuze/Guattari bereits unterstellt.33 Diesen fehlen jedoch die Begriffe, um beide Perspektiven im Zusammenhang zu beschreiben. Das Begriffspaar Concerns/ Formate bildet dagegen beide Perspektiven ab: Einerseits das gerahmte Spiel der Concerns, andererseits die maschinellen Voraussetzungen dieser Produktion als Format.34 Der Hinweis von DG auf Künstler, die die autonome Präsentation der Wunschmaschinen sicherstellen sollen35, lässt sich auf das Theater anwenden. Bei Autoren wie Bertold Brecht und Samuel Beckett wird häufig mit dieser Verdoppelung der Perspektive gearbeitet: Szenen werden dramaturgisch aufgeführt, doch zusätzlich wird die Inszenierung selbst ausgestellt, etwa durch den Wegfall der Dekoration, die Demaskierung von Schauspielern oder die Wiederholung gleicher Szenen in wechselnden Perspektiven. Für die Konzeption von Concerns und Formaten bleibt entscheidend, dass keine Authentizität behauptet wird, sondern nur verschiedene Rahmungen im Hinblick auf ihre unterschiedliche Wirksamkeit verglichen werden können. Es gilt daher, den eigenen Geschichten nicht zu glauben, sondern diese nur als die Realisierung einer möglichen Rahmung anzusehen, der gegenüber auch andere möglich wären (Kontingenz). Im Sinne der ANT müsste trotzdem weiter gefragt werden, wie diese Produktionen und Wahrnehmungen jeweils zustande kommen und welche Transformationen und Handlungsketten daran beteiligt sind. Damit wäre auch die Machtfrage angesprochen, die bei DG und Lyotard zwar wirksam ist als Anlass für den Theorieentwurf, aber letztlich ungeklärt bleibt. Hier ist zu fragen, wer wem welchen Rahmen als Bedeutungskonstruktion verbindlich vorgeben kann. Dafür wären Inszenierungen empirisch zu untersuchen, die etwa im Gericht, in der Arztpraxis oder im Seminarraum beobachtet werden können. So versorgt ein Arzt seine Patienten mit therapeutischen Interaktionen und erklärenden Narrativen, die als Inszenierung in der Praxis oder im Krankenhaus aufgeführt werden.36 Diese Formate der Aufführung und Begegnung können aber nur in einer Rahmung existieren, die durch ein komplexes Rechts- und Finanzsystem aufrechterhalten wird. Eine besondere Pointe erreicht die Plausibilisierung von Rahmungen, wenn diese als solche ausgestellt werden, statt wie sonst üblich aus der Wahrnehmung zu verschwinden. So kann etwa ein Banküberfall als Filmszene aufgebaut und dem Publikum glaubhaft gemacht werden, sodass dieses nur staunend beobachtet, statt einzugreifen, bis sich später herausstellt, dass der Überfall echt war. Oder auf der Theaterbühne wird eine Hinrichtung gespielt, die durch einen technischen Fehler zum realen Todesfall wird. Damit wird noch eine weitere Art der Auf lösung des Konf likts von Fabrik vs. Theater sicht33 »Während der Psychoanalytiker gewissermaßen nur im Zuschauerraum sitzt und vom Inhalt des aufgeführten Stücks fasziniert ist, sind Deleuze und Guattari an der Theatermaschine interessiert, die den reibungslosen Ablauf der Vorstellungen gewährleistet. Genauer muss sogar gesagt werden, dass Deleuze und Guattari versuchen, in einer Art Querschnitt zugleich auf die Bühne und die Bühnentechnik, zugleich in die Garderobe und in die Textbücher, auf Schauspieler und Regisseur zu blicken. Das Interesse richtet sich auf die Gesamtheit jener Einrichtungen, die die Auftritte und Abgänge, die Rollenverteilung, die Kostüme, die Stichworte, die die Inszenierung des Ödipusdramas regeln.« [Schmidgen 1997:26| 34 vgl. A 3.2.5, 7.2.1 35 vgl. 2.3.3 36 Im Begriff des »anatomischen Theaters« und seiner architektonischen Formen ist die Beziehung zur Inszenierung noch präsent. Zur Entwicklung der historischen Formen vgl. Foucault 1988/1963 sowie die Untersuchungen Latours zum »Conseil d’État«, übersetzt als »Die Rechtsfabrik« [Latour 2016b], zum Bezug von Inszenierung und Recht vgl. Luhmann 1995, Vismann 2019, Schürmann 2018:157ff.

351

352

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

bar: Das Theater ist von der Realität nicht mehr zu unterscheiden.37 Inszenierungen sind überall zu finden, ohne dass deren Anfang und Ende zeitlich oder räumlich abgegrenzt werden können. Radikalisiert wird diese Perspektive, wenn mit Deleuze/Guattari eine Realitätsproduktion durch gesellschaftliche Maschinen anerkannt wird.38

2.5.2 »Körper ohne Organe« vs. »libidinöser ›Körper‹« Deleuze/Guattari prägten die Formulierung vom »Körper ohne Organe« [AÖ:15, MP:205ff.]. Der Körper ist nur noch ein Haufen von Klappen, Schleusen, Schleusenkammern, Schalen oder kommunizierenden Röhren (…). Ein organloser Körper (oK) ist so beschaffen, dass er nur von Intensitäten besetzt und bevölkert werden kann. [MP:210] Der Begriff des organlosen Körpers wird bis heute kontrovers diskutiert. Es scheint aber nahezuliegen, mit dem Ausdruck keine leere Hülle anzunehmen, die einst Organe umschlossen hat und nach deren Entnahme funktionslos ist. Vielmehr soll der Begriff dazu dienen, die Verarbeitung einer unübersehbaren Vielfalt von verteilten Intensitäten zu verorten. Während die erste Auffassung noch eine individuelle Bestimmung zuließe, schließt die zweite an den Begriff der »gesellschaftlichen Maschinen« an.39 Damit wäre das Verhältnis von Organ und Körper durch Selbstähnlichkeit ersetzt: Körper bestehen aus Körpern. Ähnliches scheint Latour im Sinn zu haben, wenn er formuliert: No matter how far we go, there are always forms; within each fish there are ponds full of fish. [Irred:161]40 Diese Vorgängigkeit der Netzwerke setzt Latour auch dem Begriff des Individuums der »Modernen« entgegen. Er erkennt in den Netzen eine existenzielle Dimension, die über das Individuum hinausreicht und nicht mit dessen Geburt beginnt oder mit dessen Tod endet.

37 vgl. B 3.2.5 38 So beschreibt Gerald Raunig eine Verbindung von »Kriegsmaschinen« und »Theatermaschinen«: »Theatermaschinen, Kriegsmaschinen (…) entsprechen auch zwei Hauptkomponenten aktueller sozialer Bewegung (…). (…) Die dabei angewendeten Aktionsformen sind meist an der Grenze zwischen Legalität und Illegalität, zwischen Spiel und militanter Aktion angesiedelt, diese Grenze bewusst verwischend.« [Raunig 2008:62/63] Falls diese Kennzeichnung zutrifft, würden auch selbsternannte künstlerische und politische Avantgarden nur Praxen kopieren, wie sie in der organisierten Kriminalität, der Politik und der Industrie ohnehin gegeben sind. Es sind die gleichen Strategien, die den Hacker mit dem Sicherheitsberater und den Straßenkämpfer mit dem Minister verbinden (vgl. das Sprichwort: It takes a thief to catch a thief). 39 Assoziiert werden könnte auch der Begriff des Volks- und Staatskörpers, wie er beim »Leviathan« von Thomas Hobbes 1668 allegorisch als Zusammensetzung von vielen individuellen Körpern dargestellt wird. 40 Diese Vorstellung erinnert an Leibniz’ Auffassung einer lebendigen Maschine, die noch in ihren kleinsten Teilen Maschine bleibt im Gegensatz zu künstlichen Maschinen (Monadologie § 64).

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

Aber die Netzwerke, welche die Psychen zernagen, graben und abstützen? Keiner von uns entgeht ihnen, (…) und es dauert und es wimmelt, und es verfolgt uns, und es bohrt sich in uns seit unserer Geburt, ja schon davor, und es setzt sich nach unserem Tod noch fort. Und dennoch beschreiben die Modernen weiterhin ihr ›Ich‹ als wäre es eine Insel, umgeben von Haien und bewohnt von Eingeborenen im Evakostüm. [ExW:276] Ähnlich spricht Lyotard vom »libidinösen ›Körper‹« der als »grenzenloses Gewebe« und »Gegenteil eines Gliederbaus« gleichzeitig konkret und poetisch beschrieben wird:41 Und eng verbunden mit den äußersten Hautschichten der Fingerspitzen muss man sich vielleicht, von Fingernägeln aufgeraut, die großen seidigen Hautflächen der inneren Schenkelseite denken, oder einen Halsansatz oder Gitarrensaiten. Und zu der völlig von Nerven durchzogenen, wie ein vergilbtes Blatt gekrümmten Handfläche müsste man vielleicht Lehm hinzufügen, oder auch mit Silber inkrustrierte Kreuze aus hartem Holz, oder das Lenkrad eines Autos oder auch den Schalthebel eines automatischen Flugnavigators. (…) (…) man muss unmittelbar zur äußersten Grausamkeit übergehen, die Anatomie der polymorphen Perversion entwickeln, das grenzenlose Gewebe des libidinösen »Körpers« entwickeln, das völlige Gegenteil eines Gliederbaus. Dieses Gewebe besteht aus den unterschiedlichsten Stoffen, aus Knochen, Schleimhautzellen, aus Schreibpapier, aus vibrierenden Lüften, aus Metallen, aus Glas, aus Völkern, Gräsern und Malerleinwand. [ÖW 12/13]42 Organische Bestandteile, Naturphänomene, Materialien und Artefakte werden in enger und kontinuierlicher Verbindung konzipiert. Damit wird hier bereits eine Perspektive eingenommen, wie sie erst später auch von der ANT artikuliert wird. Auffällig ist jedoch, dass der eigentliche Gegenstand einer Économie libidinale, die Leidenschaften und Affekte nicht aufgeführt werden. Werden diese als Effekte der beschriebenen Struktur verstanden? Oder müssten sie als »Organe ohne Körper« aufgefasst werden, so wie Slavoj Žižek es unter Bezug auf Deleuzes Konzeption der Virtualität vorschlägt: Ist einerseits der produktive Fluss des reinen Werdens nicht der Körper ohne Organe, der Körper, der noch nicht strukturiert oder als Gesamtheit funktionaler Organe bestimmt ist? Und sind andererseits die Organe ohne Körper nicht die Virtualität des reinen Affektes, der aus seinem Eingebettetsein in einen Körper herausgelöst wurde, wie das Lächeln in Alice im Wunderland, das selbständig weiter existiert, auch wenn der Körper der Edamer Katze nicht mehr anwesend ist? [Žižek 2005:50]43

41 vgl. 7.2 42 vgl. 7.5 43 Žižek zitiert dazu das »Grinsen ohne Katze« aus Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1865): »›Schon gut‹ sagte die Katze, und diesmal verschwand sie ganz langsam, wobei sie mit der Schwanzspitze anfing und mit dem Grinsen aufhörte, das noch einige Zeit sichtbar blieb, nachdem das Übrige verschwunden war. ›Oho, ich habe of t eine Katze ohne Grinsen gesehen‹ dachte Alice, ›Aber ein Grinsen ohne Katze! so etwas Merkwürdiges habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen!‹«, https:// www.projekt-gutenberg.org/carroll/alice/chap006.html

353

354

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

2.5.3 Mikro- und Makro-, molekulare und molare Dimensionen Wenn Körper aus Körpern bestehen und eine f lache Ontologie im Sinne Latours vertreten wird, muss die Frage nach Dimensionen und Skalierungen neu gestellt werden. In Abgrenzung zu klassischen Theorien wurden zeitgleich eine »Mikro-Physik der Macht« [Foucault 1977] und eine »Mikro-Politik des Wunsches« [Guattari 1977] postuliert.44 Dabei ist Foucault einer Internalisierung von Kontrollfunktionen auf der Spur, während sich Guattari gegen eine Trennung von Wunsch und Realität wendet: Eine Mikro-Politik des Wunsches würde den Imperialismus der signifikanten Semiologien, die den Wunsch vom Realen trennen, zurückweisen. [Guattari 1977:22] Guattari will in immer kleinere Dimensionen der Objekte vordringen, um deren Funktion zu erfassen: Die Analyse müsste beständig im Sinne einer Molekularisierung ihres Objekts fortschreiten, um imstande zu sein, aus nächster Nähe die Funktion zu erfassen, die es im Inneren der Ensembles, in dem es funktioniert, erfüllt. [Guattari 1977:18] Damit scheint er aber noch einer traditionellen Skalierung zu folgen, die in ihrem Essenzialismus meint erkennen zu können, »was die Welt im Innersten zusammenhält«.45 Erst wenn der Molekularisierung eine »Molarisierung« gegenübergestellt wird, zeigt sich eine analytische Kategorie: Makro- und Mikro-Mannigfaltigkeiten. Einerseits extensive, teilbare und molare Mannigfaltigkeiten, die vereinheitlicht, summiert und organisiert werden können, die bewusst oder vorbewusst sind – und andererseits libidinöse, unbewusste, molekulare, intensive und aus Teilchen bestehende Mannigfaltigkeiten, die sich nicht teilen lassen, ohne ihre Gestalt und ihren Abstand zu ändern, die unaufhörlich entstehen und sich auflösen, indem sie diesseits, jenseits oder durch eine Schwelle ineinander übergehen und miteinander kommunizieren. [MP:52] Diese Aufteilung lässt sich auf den Concern-Ansatz übertragen: Concerns sind molekular, unteilbar und im Werden begriffen, während Formate bewusste oder unbewusste Organisationsformen sind, denen eine »molare« Dimension entspricht. Beide sind allerdings gleichermaßen notwendig und bestätigen keine Dichotomie zwischen emanzipatorisch und reaktionär oder – wie im Design formuliert wurde – als »kritisch« und »affirmativ«:

44 In Mille Plateaux bezogen sich DG explizit auf die »Mikro-Soziologie« nach Gabriel Tarde: »Tarde ist der Erfinder einer Mikro-Soziologie, der er ihre ganze Ausdehnung und Tragweite gab, indem er von vornherein die Fehlinterpretationen kritisierte, deren Opfer sie werden sollte.« [MP:299] 45 vgl. J. W. von Goethe 1808: Faust Monolog, Zeile 382/83. Die ANT ist zwar auch an den kleinsten Dimensionen der Handlungsketten interessiert, geht aber davon aus, dass diese sich selbst darstellen und aussprechen können, vgl. B 8.9.

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

There is no logic of contradiction between the molar and molecular levels. The same kinds of elements and the same kinds of individual and collective components that operate in a certain social space may function in an emancipatory way at a molar level, and coextensively may be extremely reactionary at a molecular level. [Guattari, Rolnik 2008:187] Bei Latour wird die Unterscheidung Mikro/Makro ohnehin ersetzt durch die Unterscheidung verbunden/unverbunden46 woraus folgt: Es gibt nicht eine Mikro-Soziologie und eine Makro-Soziologie, sondern zwei verschiedene Weisen, die Beziehungen zwischen Mikro und Makro zu sehen: Die erste baut eine Reihe von Russischen Puppen – das Kleine wird eingebettet, das große ist das, was einbettet; und die zweite entfaltet Verbindungen – klein sein heißt unverbunden sein, groß sein heißt verbunden sein. [NSoz:310]

2.5.4 Primat der Aktion: Information vs. Transformation Die ANT interessiert sich für Handlungsketten, Übertragungen und Transformationen. Sie will da sein »where the action is« [Rammert 2008] und wird daher zu Recht im Kontext der »Praxeologie« verortet.47 Da die ANT jedoch weniger eine Theorie sein will als vielmehr eine Methode, stellt sie das Verhältnis von Verstehen und Teilnehmen infrage. Noch grundsätzlicher bleibt aber die Frage nach der konzeptionellen Rahmung, die Latour formuliert: Is this a battle? Is this a game? Is this a market? [Irred:159, vgl. A 1.4.1] Erst aus solchen Bestimmungen könnten Ziele und in der Folge Strategien zu deren Erreichung abgeleitet werden, doch kategoriale Bestimmungen sind kaum mit dem Gebot einer f lachen Ontologie der ANT vereinbar. Zwar wird die Anerkennung von Partizipation und Vielfalt vorausgesetzt, doch diese münden nur in ein vages Versprechen: Wir werden vom ontologischen Pluralismus profitieren. [Exw:266] Deutlicher wurden die Inspiratoren Latours fünfzig Jahre vorher: Es gibt keine Repräsentation mehr, es gibt nur Aktion: die Aktion der Theorie und die Aktion der Praxis in einem Netz von Beziehungen und Übertragungen. [Deleuze/Foucault 1977:87] 46 »Das Makro beschreibt nicht länger eine umfassendere oder ausgedehntere Stätte, in der das Mikro wie eine russische Puppe eingebettet ist, sondern einen anderen, gleichfalls lokalen, gleichfalls MikroOrt, der mit vielen anderen durch irgendein Medium verbunden ist, das spezifische Typen von Spuren transportiert. Von keinem Ort kann es heißen, er sei größer als alle anderen, aber von einigen lässt sich sagen, dass sie von weitaus sichereren Verbindungen mit sehr viel mehr Orten profitieren als andere. Dieser Schritt hat den vorteilhaften Effekt, die Landschaft flach zu halten (…).« [NSoz:304], vgl. B 8.8.3 und die Kritik an »Powers of Ten« von Charles und Ray Eames, B 8.10.3. 47 vgl. 2.4.1

355

356

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Die Analyse ist unmittelbar politisch geworden. ›Gesagt – getan‹. Die Arbeitsteilung zwischen Spezialisten des Sagens und Spezialisten des Tuns verwischt sich. [Guattari 1977:15] Hier wurde der ehemals revolutionäre Elan umgeleitet in eine Theorie und Praxis integrierende Aktion.48 Damit wird auch das Verhältnis von Information und Transformation neu bestimmt: Sagen wir, um es kurz zu machen, dass das, was zur Frage steht, nicht die Information ist, sondern die Transformation. [Guattari 1977:33] Ganz ähnlich äußern sich Latour und Callon fast zur gleichen Zeit: The sociologist studies all associations, but in particular the transformation of weak interactions into strong ones and vice versa. This is of special interest because here the relative dimensions of the actors are altered. When we use the word »study« we must make clear there is of course no suggestion of knowledge. All information is transformation, an emergency operation on and in the Leviathan’s body. [Callon, Latour 1981:300, Hervorhebung PFS]49 Das Konzept der Information geht von einer körperlosen Übertragung aus, die es faktisch nicht geben kann. Bei jeder Übertragung sind gewollt oder ungewollt Deformationen und Transformationen beteiligt. In den aktuellen Diskursen zur »digitalen Transformation« wird dies bisher noch zu wenig berücksichtigt. Transformation Design jedoch nimmt genau diese unvermeidlichen dynamischen Umformatierungen zum Ausgangspunkt für gestalterische Interventionen.

2.5.5 Kontext heute Viele der oben angesprochenen Positionen von ANT, Wunschökonomie und Praxistheorie sind über Jahrzehnte relevant geblieben. Besonders in den Überschneidungen der drei Felder finden sich viele Aspekte, die erst im aktuellen politischen und technischen Kontext ihre volle Bedeutung gewinnen. So erscheinen die Ausführungen zu Maschinen im heutigen Kontext der Digitalisierung noch plausibler als vor fünfzig Jahren.50 Auch 48 Ebenso räumt Jacob Moreno, Psychoanalytiker und Erfinder der »Soziometrie« [Moreno 1995/1953], der Tat den Vorrang ein: »Im Anfang war die Existenz, aber die Existenz gibt es nicht ohne einen Existierenden oder ein Existierendes. Am Anfang war das Wort, die Idee, aber die Tat war früher. Im Anfang war die Tat, aber eine Tat ist nicht möglich ohne Täter, ohne ein Objekt, auf das der Täter abzielt, und ein Du, dem er begegnet. Am Anfang war die Begegnung.« [Moreno 2008/1959:53] Moreno wendet sich damit explizit gegen die Vorrangigkeit des Dialogs, wie sie von Martin Buber vertreten wird. 49 Ähnlich wiederholt es Latour Jahre später, diesmal mit technischem Bezug: »There is only transformation. Information as something which will be carried through space and time, without deformation, is a complete myth. People who deal with the technology will actually use the practical notion of transformation. From the same bytes, in terms of ›abstract encoding‹, the output you get is entirely dif ferent, depending on the medium you use. Down with information.« [Latour 1997a:o.S.] 50 Latour betont zu Recht die Bedeutung von digitalen Verfahren, die Aufmerksamkeit und Resonanz in Echtzeit und in jedem Detail numerisch erfassen und damit Tardes über hundertjähriges Postulat

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

die Frage nach ökonomischen Voraussetzungen und Folgen der Affekte haben Konjunktur, ebenso wie die Prozesse zwischen Organismen und Maschinen, technischen Konfigurationen des Sozialen und dem Verhältnis von Theorie und Praxis.51 Unter Bezug auf Deleuze/Guattari wurden Bestimmungen der Gegenwart formuliert als »Postcapitalist Desire« [Fischer 2021] und »Molecular Red – Theory for the Anthropocene« [Wark 2016]. Ebenso wurden Deleuzes Positionen auf Fragen der künstlerischen Praxen und der konkreten Anwendungen im Design bezogen.52

2.6 Concerns und Formate Durch die Gestaltung als »Format« werden eigensinnige, unkoordinierte Concerns organisiert und formalisiert. Die Formate bestimmen den Normalfall als soziale Konventionen, technische Interfaces und vorgeprägte Praxen. Als Produkte von Design, Künsten, Werbung und Medien konditionieren sie die Einbildungskräfte, prägen das Imaginäre und entwickeln Rollenbilder durch Film und Fernsehen, Literatur und Theater sowie die Gestaltung von Alltagsgegenständen und die Inszenierung sozialer Interaktionen. So geben Orpheus und Wilhelm Meister, Carmen und Madame Bovary, Tony Soprano und Pipi Langstrumpf Anregungen für das Verhalten der Adressaten. Concerns sind die dynamischen Wünsche und Affekte, aus denen Motivationen und Handlungen hervorgehen.53 Formate dagegen sind eine temporäre Stabilisierung der Concerns zu beobachtbaren und adressierbaren Formen.54 Die unüberschaubare Diversität und Dynamik der Concerns wird selektiert, temporär stabilisiert und in Beziehung gesetzt durch Formate. Inhalt und Form sind daher ununterscheidbar. Weder sind es Concerns, die erstrangig gegeben sind und von Formaten lediglich in Form gebracht werden, noch sind die Formate nur leere Hüllen, die darauf warten, von Concerns gefüllt zu werden. Jenseits der Dichotomie von Inhalt und Form erscheinen

vom quantitativen Charakter des Wunsches endlich bestätigen: »(…) caractère quantitatif du désir (…)« [Tarde 1902:102], vgl. Latour 2012a: »A Digital Test of Gabriel Tarde’s Monads application« 51 vgl. Wiesse 2017; Ott 2018a; Ochsner 2020; Witzgall, Kesting 2021 sowie den Sonderforschungsbereich »Af fective Societies – Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten«, www.sfbaf fective-societies.de/forschung/themengruppen/af fektoekonomie/index.html 52 vgl. »Practising with Deleuze – Design, Dance, Art, Writing, Philosophy« [Attiwilli et al. 2017], »Deleuze and Design« [Marenko, Brassett 2015] 53 Im Sinne Latours sind Concerns die »(…) sich überkreuzenden Vektoren und Tensoren des Begehrens und der Überzeugung, die, wenn man so sagen darf, den Grund der sozialen Materie bilden.« [ÖkW:21], vgl. 2.2 54 Im Sinne Latours sind Formate eine »artifizielle Organisation«: »Alles in der Verflechtung der Begehren und Überzeugungen muss Gegenstand einer artifiziellen Organisation sein.« [ÖkW:98] Im Sinne Guattaris eine »Verlangsamung durch kategoriale Systeme«: »Von diesem Chaos aus bilden sich komplexe Kompositionen, die in energetisch-räumlich-zeitlichen Koordinaten oder in kategorialen Systemen verlangsamt werden können.« [Guattari 2014/1992:78]

357

358

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

»Ausdrucksgestalten« (Oevermann)55 und »Ausdruckssubstanzen« (Guattari)56. Diese sind der Gegenstand des Concern Designs.

2.6.1 Affekt und Form, Irritation und Normalisierung Mit den aufeinander bezogenen Konzepten von Concerns und Formaten werden Funktionen spezifiziert, die bei DG noch unscharf geblieben waren. Die oben gestellte Frage »wie das vor sich geht« (vgl. 2.3.1) müsste spezifiziert werden als die Frage nach dem Verhältnis von Affekt und Form. DG hatten etwas unscharf von einer »autonomen künstlerischen Präsentation« gesprochen, in der die »(Un-)möglichkeit« und »(Un-)brauchbarkeit« der Wunschmaschinen »aufscheinen« sollen:57 Die Maschinen sind immer schon da, unaufhörlich produzieren wir sie, lassen sie laufen, weil sie Wunsch, Wunsch wie er ist, sind – obgleich es der Künstler bedarf, ihre autonome Präsentation sicherzustellen. (…) Unselig die Frage nach Brauchbarkeit oder Unbrauchbarkeit, nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Wunschmaschinen. Denn Unmöglichkeit (und weniger) und Unbrauchbarkeit (und weniger) scheinen nur auf in der autonomen künstlerischen Präsentation. [AÖ:512, Hervorhebung: PFS] Doch künstlerische Arbeiten als Beispiele von Wunschmaschinen zu nennen, führt ja gerade wieder weg vom Konzept der Fabrik und setzt erneut individuelle Wahnsysteme ein, die eben nicht als Modell des gesellschaftlichen Normalfalls gelten können. Mit dem Konzept der Concerns/Formate wird dagegen eine Antwort vorgeschlagen, die einerseits ein Gestaltungspotenzial wie die Künste nutzt, aber andererseits der Gestaltung einer gesellschaftlichen Lebenspraxis verpf lichtet bleibt und auf den künstlerischen Sonderfall bewusst verzichtet. Selbst wenn DG in ihrer Vorstellung der Wunschmaschinen gefolgt wird, die diese als »gestörte« konzipieren, bedeutet das keine Dysfunktionalität, die nur im Sonderraum der Künste zu realisieren wäre.

55 »Zentraler Gegenstand der Methodologie der objektiven Hermeneutik sind die latenten Sinnstrukturen und objektiven Bedeutungsstrukturen von Ausdrucksgestalten, in denen sich uns als Erfahrungswissenschaf tlern von der sinnstrukturierten Welt die psychischen, sozialen und kulturellen Erscheinungen einzig präsentieren, und in denen wir als Lebenspraxis uns selbst verkörpern sowie die uns gegenüberliegende Erfahrungswelt repräsentieren.« [Oevermann 2002:1] 56 »Anstatt auf den Gegensatz Ausdruck/Inhalt zu setzen (…) ginge es um eine Parallelisierung, um eine Polyphonisierung einer Mannigfaltigkeit von Ausdruckskomponenten oder Ausdruckssubstanzen. (…) Es ginge darum, den Begrif f der Substanz auf pluralistische Art und Weise zersplittern zu lassen, um die Kategorie der Ausdruckssubstanz nicht nur in den semiologischen und semiotischen Bereichen zu fördern, sondern auch in den außersprachlichen, nicht-menschlichen, biologischen, technologischen, ästhetischen Bereichen usw.« [Guattari 2014/1992:35-37] 57 Im »Anti-Ödipus« wird ein Kanon moderner Künstler zitiert u.a. James Joyce, Kurt Schwitters, Franz Kafka, William Burroughs, Marcel Proust, Jean Tinguely, Salvador Dalì, Henri Miller, Buster Keaton. Dieser erscheint auch für die damalige Zeit als eher konventionell und einseitig. Auffällig ist, dass keine Beispiele aus der Musik genannt werden, obwohl doch gerade diese reiches Material bietet zur Frage der Energien und Ströme, der überpersönlichen Strukturen und Einschnitte.

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

Die Wunschmaschinen demgegenüber stören fortwährend ihren Funktionsablauf und laufen nur als gestörte: stets propft sich dem Produkt das Produzieren auf, bilden die Maschinenteile den Treibstoff. [AÖ:41, Hervorhebung: PFS] Ebenso wie der Wunsch in der Konzeption von DG keinem Mangel entgegengesetzt ist, sondern sich selbst genügt, um weitere Wünsche zu produzieren, sind die Wunschmaschinen weniger am Produkt, sondern am Prozess des Produzierens interessiert. Wunschmaschinen gehen daher weder in einer Produktion auf (die irgendwann beendet sein könnte), noch kennen sie einen Leerlauf (als Produktion ohne Produkt). Zwar können Maschinenteile zum Treibstoff werden, wie DG bemerken, aber es gilt eben auch der weniger spektakuläre Normalfall, dass der Treibstoff immer schon Maschinenteil ist. Beides kann daher nicht prinzipiell, sondern nur situativ unterschieden werden. Es gibt also nicht die eine Produktion, der eine Störung entgegengesetzt wäre, sondern durch die Störung wird die Produktion stets neu in Gang gesetzt und gewinnt Ausrichtung und Sinn.58 Das Design von Concerns/Formaten behandelt genau dieses Verhältnis von Produktion und Störung durch die Einführung von Irritationen (Innovation, Abweichung) bei einem gleichzeitigen Angebot der Integration zum neuen Normalfall.59 Wenn Luhmanns System der binären Codierung gefolgt wird, können für das Design die Operationen Irritation und Normalisierung angegeben werden.

2.7 Fazit Entscheidend für den Ansatz des Concerns Designs ist es, das Verhältnis von Wirtschaft und Leidenschaften neu zu denken. Die alte Ontologie konzipierte Subjekte als autonome Einheiten und behauptete Werte wie Wahrheit, Natur und Authentizität, die manipuliert und ausgebeutet würden. Dieser Anthropomorphismus wird überwunden zugunsten einer neuen Ontologie, die eigensinnige Artefakte anerkennt (Latour), ebenso wie die gesellschaftliche und technische Produktion libidinöser Energien als Maschine und Fabrik (Deleuze/Guattari). Dies führt zur Einsicht in die notwendige Gestaltung des »libidinösen ›Körpers‹« (Lyotard) und der »molekularen Energien« in »molare Formen« (Deleuze/Guattari). Die unterschwellige, kaum ausgewiesene Beziehung von ANT und Wunschökonomie wird durch das Concern Design aktualisiert und expliziert sowie in den pragmatischen Kontext einer Praxeologie gestellt. Dabei stellt das Concern Design nicht die 58 Diese Funktionen der »breakdowns« (Zusammenbrüche) wurden bereits in anderem Zusammenhang als entscheidend für das Design beschrieben: »In Anlehnung an Heideggers Analyse von Brüchen in der Zuhandenheit bevorzugen wir den Begriff ›Zusammenbruch‹. Damit meinen wir den Augenblick, in dem unser gewohnheitsmäßiges, normales, bequemes ›In-der-Welt-sein‹ ins Stocken gerät. Derartige Zusammenbrüche haben eine äußerst wichtige, erkenntnisvermittelnde Funktion. Sie offenbaren uns unsere üblichen Verfahrensweisen und Einrichtungen und zeigen uns – vielleicht zum ersten Mal – ihr ›Vorhandensein‹. In diesem Licht haben sie eher eine positive als eine negative Funktion. Nur in einem durch die Struktur sich periodisch wiederholender Zusammenbrüche hervortretender Möglichkeitsraum kann Gestaltung (design) von Computersystemen neu konzipiert und umgesetzt werden. Jede Gestaltung stellt eine Interpretation von Zusammenbrüchen und das besorgende Bemühen, zukünftige Zusammenbrüche vorwegzunehmen, dar.« [Winograd/Flores 1989:135] 59 Dies entspricht auch Gabriel Tardes Schema in den »Sozialen Gesetzen«, vgl. B 7.4.

359

360

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Frage nach Bedeutungen (Semantik), sondern nach dem Funktionieren (Pragmatik) und bleibt daher ganz bei Deleuze/Guattari: Die Frage des Wunsches ist nicht »Was bedeutet das?«, sondern wie es läuft. [AÖ:141, Hervorhebung im Original] Ähnlich wie die ANT versteht sich das Concern Design weniger als Theorie, sondern als Methode, die zugänglich machen möchte, was empirisch längst geschieht, aber mit veralteten Begriffen nicht adäquat zu erkennen oder gar zu gestalten ist. Deleuze/ Guattari formulierten die »autonome Präsentation der Wunschmaschinen« als künstlerische Aufgabe [AÖ:512, vgl. 2.6.1]. Weit darüber hinaus jedoch geht der Anspruch, die Wunschmaschinen nicht nur zu präsentieren, sondern in ihre Produktion selbst einzugreifen. Das Design geht insofern über die Künste und deren symbolische Präsentation hinaus, als sie den Wunsch als eine Realität behandelt, die als Form sichtbar und wirksam wird in ihrer paradoxen Verfassung von Störung und Normalisierung. Ein Beispiel dafür gibt ein pharmakologisches Experiment, wie es in »Testo Junkie« beschrieben wird: Durch die Gabe von Testosteron wird der »libidinöse ›Körper‹« umformatiert, was zu der Einsicht führt: Im Punk der Hypermodernität geht es nicht mehr darum, eine okkulte Wahrheit der Natur aufzudecken, es geht darum, die kulturellen, politischen und technischen Prozesse zu explizieren, durch die der artifizielle Körper seinen natürlichen Status erhält. Die Onkomaus, die als Träger eines Krebsgens designt ist, sie isst Heidegger. (…) Am Geschlecht gibt es nichts zu enthüllen, auch nicht an der sexuellen Identität. Die Wahrheit des Sexes ist nicht Enthüllung, sie ist Sexdesign. [Preciado 2016/2001:37]

2.7.1 »Meta-Design« (Virilio) und »Meta-Modellierung« (Guattari) Wahrheit, Körper und Natur erscheinen nicht mehr als gesetzte, unhintergehbare Einheiten und Werte, sondern als gemachte, artifizielle Größen. Was gemacht wird, kann auch anders gemacht werden und ist damit Gegenstand von Gestaltung.60 Aus der Perspektive der Technikentwicklung hatte Paul Virilio bereits zuvor von einem »MetaDesign« des post-industriellen Zeitalters gesprochen:61 Das Design der Formen des Objekts im industriellen Zeitalter wird abgelöst werden vom Meta-Design der Sitten und der menschlichen Verhaltensweisen im postindustriellen Zeitalter. (…) Die kognitive Ergonomie ist – häufig zu militärischen Zwecken – bereits damit beschäftigt, die letzte Form des menschlichen Designs zu entwickeln. Hierbei handelt es sich um die Züchtung konditionierter Reflexe, das Meta-Design der Bewusstseins- und Wahrnehmungsfähigkeiten. [Virilio 1993:75, 87/88, kursiv im Original]

60 vgl. B 4.6 – Die Erweiterung des Designbegriffs 61 Ebenso sprach Guattari unmittelbar zuvor von einer »Schizoanalytischen Metamodellierung« [Guattari 2014/1992:77]. »Was eine Metamodellierung von einer Modellierung unterscheidet, ist also, dass sie über Terme verfügt, die mögliche Öffnungen auf das Virtuelle und auf die kreative Prozessualität erschließen.« [ibid.:45]

2 Grundlagen des Concern Ansatzes

Foucaults Analysen einer »Mikro-Physik der Macht« [Foucault 1977] wurden aus den dort untersuchten Gebieten von Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin von Virilio auf den Nenner eines »Meta-Designs« gebracht. Dieses bestimmt nicht nur Formen wie das Design, sondern es bestimmt die Prozesse, die Formgebung zuallererst ermöglichen. Latours Technikref lexionen fokussierten auf die »envelopes«, die den Menschen umgeben, um Schutz und Wirksamkeit zu gewährleisten. »Inside« wurde für Latour ein zentrales Motto.62 Doch längst sind innen und außen nicht mehr so deutlich zu trennen. Wenn pharmakologische Wirkungen und biochemische Stimulationen berücksichtigt werden, sind die »Techniken des Selbst« [Foucault 1984] und die »gesellschaftlichen Maschinen« [Deleuze/Guattari AÖ:512, 517] kaum zu unterscheiden. Es muss vielmehr eine wechselseitige Ergänzung und Steigerung angenommen werden:63 Die neue Perspektive besteht darin, dass der Körper mit miniaturisierten Organismen kolonisiert werden kann, während sich die Technologie vorher damit begnügte, den Körper zu umhüllen und ihn vor der Außenwelt zu schützen. (…) In der Tat war die Beherrschung der geo-physikalischen Ausdehnung niemals möglich ohne die noch genauere Kontrolle der Dichte, der mikrophysikalischen Tiefe des unterjochten Wesens: Domestizierung der Gattungen, rhythmische Dressur des Verhaltens der Krieger und der Diener, Entfremdung des Fließbandarbeiters, Abgabe von Anabolika an Sportler. [Virilio 1993:86/87] Dieses Meta-Design richtet sich an Concerns aus, wie im Folgenden gezeigt wird.

62 So führt Latour 2018 die »Lecture Performance« »Inside« auf, vgl. 5.2, https://www.youtube.com/ watch?v=yISs7KeiuMY 63 Diese Perspektive wurde auch beschrieben als »De-Materialisierung durch Körperorientierung« [Jonas 1995].

361

3 Der Concern Begriff

Aber vergessen wir auch dies nicht: es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge neue »Dinge« zu schaffen. Friedrich Nietzsche 1886: Fröhliche Wissenschaft Der von Latour eingeführte Begriff der matters of concern spielt eine zentrale Rolle in seiner Konzeption der ANT. Es wurden aber Unschärfen in der Begriffsbildung und -verwendung festgestellt.1 Um als Ausgangspunkt eines neuen Designansatzes nutzbar zu werden, muss der Begriff der Concerns genauer gefasst werden. Gleichwohl soll der vorläufige Charakter eines Leit- und Suchbegriffs erhalten bleiben, sodass er für weitere Entwicklungen offen bleibt.2 Im Folgenden soll es daher nicht darum gehen, eine letztgültige Definition von Concerns vorzugeben, von der aus dann deduktiv die Folgen zu ermitteln wären. Vielmehr soll das Konzept der Concerns als Attraktor dienen für ein neues Designverständnis, das zur Entwicklung eines künftigen Transformation Designs beitragen kann. Abb. 60: Das Design modelliert Concerns, ebenso wie die Künste, die Werbung und die Medien [Collage: PFS]3

1 vgl. B 3 2 Dieses Verständnis der Ausgangsposition entspricht Wittgensteins Sprachphilosophie, nach der die Bedeutung von Begriffen in ihrem Gebrauch liegt, sich also erst in der Verwendung differenziert. Auch Latour nutzt ein solches Vorgehen: »Den Ausdruck politische Ökologie behalten wir bis auf weiteres als rätselhaftes Emblem bei, mit dem wir ohne verfrühte Definition die richtige Art und Weise bezeichnen wollen, eine gemeinsame Welt zu bilden, einen Kosmos im Sinne der alten Griechen.« [PD:17/18] 3 unter Verwendung eines Motivs von Alexander et al. 2011

364

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

3.1 Merkmale der Concerns Das Konzept der Concerns und seine Merkmale werden gemäß den oben genannten Grundlagen in Akteur-Netzwerk-Theorie, Wunschökonomie und Praxeologie entwickelt.

3.1.1 Erste Annäherung Bruno Latour ging bei den matters of concern von »Spezifikationen« aus, die als zu unspezifisch kritisiert wurden.4 Matters of concerns wurden bestimmt als … • • • •

»Sachen, die uns angehen« [Prom_dt:357, 370, 372/373] »Dinge von Belang« [WSMC] »Angelegenheiten von großer Wichtigkeit« [Prom_dt:368] und »umstrittene Tatsachen« [NSoz:199]

Ein gemeinsames Kennzeichen der matters of concerns ist, dass sie Anlass von Kontroversen sind, die für die Beteiligten große Bedeutung haben und nur temporär beigelegt werden können.5 Es erscheint daher als gerechtfertigt, Concerns als »leidenschaftliche Interessen« aufzufassen. Mit diesem Begriff werden bei Gabriel Tarde inter-psychologische Phänomene benannt, die Kommunikation und wirtschaftliches Handeln hervorbringen. Concerns sind der stets konkrete Ausdruck von Gefühls- und Willenskräften wie Affekten und Projektionen, Phantasmen und Obsessionen. Concerns werden gebildet durch Faktoren wie individuelle Disposition und gesellschaftliche Sozialisation, situative Interessenlagen, Rollenmodelle und symbolische Verkörperungen sowie materielle und mediale Manipulationen. Vorausgesetzt wird, dass es keine natürliche oder authentische Erscheinungsform von Concerns gibt, sondern dass diese mit ihren gestalteten Formen identisch sind. Die Concerns können in den Dimensionen Inhalt, Richtung und Intensität unterschieden werden.6 Als Ursprung der Concerns wird die Wechselwirkung von Vorstellung und Darstellung bestimmt (vgl. 7.2). Concerns prägen die materielle Umwelt und wirken sich aus in den Interaktionsformen von Menschen, Maschinen und Organisationen. Concerns mögen in ihren Herleitungen ähnlich schwer zu bestimmen sein wie Traumbilder, sie sind aber auch ebenso konkret wirksam, sodass zwischen real und virtuell nicht sinnvoll unterschieden werden kann. Concerns artikulieren sich als ästhetischer Ausdruck in Bildern, Tönen und Worten, Inszenierungen und Narrativen. Concerns sind keine Lippenbekenntnisse oder Willensbekundungen, sondern konkrete Artikulationen und Handlungsweisen. Concerns werden politisch, technisch, rechtlich und organisatorisch gestaltet und in der Wirtschafts- und Gesellschaftskommunikation eingesetzt, um Kommunikationen und Präferenzen zu beeinf lussen. Concerns zu benennen, ist ein selbsterfüllender Mechanismus, ähnlich wie bei der erstmaligen Benennung von Krankheiten wie etwa dem Burnout-Syndrom: Verschiedene 4 vgl. B 3.2.1 5 vgl. B 3.2.3 6 vgl. 3.3

3 Der Concern Begriff

Symptome werden zu einer Klassifizierung begriff lich zusammengefasst, und ist der Begriff eingeführt, werden Symptome künftig gemäß dieser Benennung interpretiert. Die Suche nach determinierenden Faktoren der Concerns führt in das Forschungsgebiet der Theory of Mind, wo Geistes- und Naturwissenschaften versuchen, psychische und biologische Prozesse in ihren Wechselwirkungen zu erklären. Bis auf einige Aspekte der Gestalt- und Wahrnehmungspsychologie sind Kompetenzen des Designs hieran bisher kaum beteiligt. Das Design wird aber einen zentralen Beitrag liefern können, wenn es seine Funktionen in Bezug auf Concerns als »Ausdrucksgestalten« (Oevermann) und »Ausdruckssubstanzen« (Guattari) auf klärt.7 In einer ersten Annäherung werden zunächst mögliche Einf lussgrößen auf Concerns benannt. Dabei werden unüberschaubare Wechselwirkungen und Korrelationen angenommen, die jede Illusion von kausalen oder vollständigen Modellen verbieten. Die Adressierung jener Kräfte ist daher nur durch eine »artifizielle Organisation« möglich, wie sie Latour in seiner Tarde-Rezeption benennt: Alles in der Verflechtung der Begehren und Überzeugungen muss Gegenstand einer artifiziellen Organisation sein. [ÖkW:98]



Abb. 61: Concerns und Formate, links: Concerns mit angedeuteten Verdichtungen von Einf lussgrößen, rechts: Formate kontrollieren das Chaos der Concerns8

3.1.2 Abgrenzung Das Konzept der Concerns grenzt sich ab von den Bedürfnissen, die durch einen Gegensatz von Mangel und Befriedigung definiert sind, ebenso wie vom Begehren, das auf eine Erfüllung zielt.9 Concerns kennen weder Mangel noch Befriedigung oder 7 vgl. 2.2 8 Stickerei von Felice Kaufmann im Seminar »Low End Theory Club«, Kunsthochschule für Medien Köln, WS 2020/21 (Begriffe später hinzugefügt von PFS), Ausschnitt 9 Das französische »désir« in »les machines désirantes« (Wunschmaschine) kann als Wunsch, aber auch als Begehren und Verlangen übersetzt werden. Bedürfnisse, die erfunden und gestaltet werden, kommen den Concerns nahe, auch wenn diese nicht auf jene beschränkt sind. Diese Aufgabe wurde im

365

366

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Erfüllung, sondern nur unmittelbar wirksame Produktion, die nicht in psychisch/virtuell und physisch/real unterschieden ist.10 Concerns sind auch abzugrenzen von Interessen, die durch die bewusste Setzung von Positionen und Zielen und die daraus folgende Entwicklung von Strategie und Taktik definiert sind. Für Concerns können weder Positionen noch Ziele angegeben werden. Sie sind nur temporär zu bestimmen durch Energie und Ausrichtung, die keinem Plan folgt, sondern Gelegenheiten nutzt. Schließlich können Concerns den expliziten Interessen der Subjekte sogar zuwiderlaufen. Dieses Verhältnis wird angesprochen, wenn eine Kunstinstallation paradox formuliert »Protect me from what I want« (Abb. 62).



Abb. 62: »Protect me from what I want«, ein »Truism« von Jenny Holzer 11

3.1.3 »Emotional Design«? Der handwerkliche Kern des Designs unterscheidet nicht vorab in kritische oder affirmative Positionen, sondern kennt nur mehr oder weniger gut erzielte Wirkungen. Ein Beispiel dafür sind etwa die Verfahren des »Wertvollmachens«: Dazu nutzen Designer formal-ästhetische Mittel wie geschlossene Formen, glänzende Oberflächen und die Weite im Raum, die in ihrer ästhetischen Gesamtheit den Eindruck von Exklusivität und Hochwertigkeit suggerieren. Diese Mechanismen des Designs sind universell gültig. Sie entfalten sich in einer Luxus-Boutique ebenso wie in einem Biomarkt oder der politischen Kommunikation und bestätigen die alte Werbeweisheit: »It´s the sizzle, not the steak!« Im Design geht es weniger um die Substanz (das Was), sondern die Modalität (das Wie). Selbst die Illustration auf einer Milchpackung bietet in dieser Hinsicht einen Mehrwert an Concerns. Zwar ist allgemein bekannt, dass das Motiv »Kuh auf grüner Design schon früh formuliert und einer Manipulationskritik entgegengesetzt: »Design muss in eigener Initiative mögliche Bedürfnisvarianten erfinden, visualisieren, publizieren und zur Debatte stellen.« [Jonas 1995:83], vgl. »Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.« [Nietzsche 1973/1886:506] 10 vgl. »(…) dann wird das Bedürfnis dasjenige, was vom relativen Mangel bestimmt und von seinem eigenen Gegenstand her definiert wird; während der Wunsch als derjenige erscheint, der die Fantasie wie zugleich sich selbst im Akt seiner Abtrennung vom Gegenstand erschafft (…).« [Deleuze/Guattari AÖ:35] 11 Screenshot von https://awarewomenartists.com/en/decouvrir/oeuvres-feministes-monumentalesdans-lespace-public

3 Der Concern Begriff

Wiese« kaum der Realität der Milcherzeugung entspricht. Aber das Bild in Verbindung mit dem Geschmack bietet doch ein Gesamterlebnis, das die Erwartungen und das Urteilsvermögen der Adressaten prägt. Die Gestaltung der sinnlichen Erlebnisse durch materielle Gestaltung erschöpft sich nicht in einem »interesselosen Wohlgefallen« (Kant), sondern zielt auf Gefühle, Leidenschaften und Affekte. Das »Emotional Design« [Norman 2004] untersuchte zwar affektive Bindungen an Objekte, blieb aber auf diese beschränkt. Der Slogan »form follows emotion« benennt affektive Qualitäten als maßgebend, meint aber, deren Gestaltung in trivialen Reiz-Reaktionsschemata unterbringen zu können.12 Es gilt daher, den Begriff der Funktion zu erweitern, statt sich von ihm zu verabschieden.13 Das Concern Design geht noch einen Schritt weiter und setzt nicht einfach Gefühle voraus, die dann auf Objekte bezogen werden, sondern es erkennt in den Gefühlen selbst bereits gestaltete Concerns, die es entwickeln, differenzieren und umformen will. Das Design arbeitet an Concerns, indem es ihnen Form und Ausdruck verleiht und sie dadurch miterzeugt. Das Design leitet die Wahrnehmung durch ästhetische Differenzierung, rahmt das Erlebnis von Ereignissen, weist Sinn und Bedeutung zu, entwirft soziale Rollen und antizipiert künftiges Verhalten. Die Formen des In-der-WeltSeins werden so durch das Design modelliert.

3.2 Bezug zum »Sozio-Design« (Brock) und »Meta-Design« (Virilio) In den 1960er Jahren erweiterte sich die Perspektive des Designs vom einzelnen Produkt zu dessen komplexen Bezügen in Systemen und der Umwelt.14 Für die damit verbundenen Gestaltungsaufgaben der Inszenierung prägte Bazon Brock den Begriff des »Sozio-Designs«.15 12 vgl.: »Gewiss ist die Psychoanalyse nicht gezwungen, in der erbärmlichsten Form einer Psychoanalyse des Gegenstandes (Psychoanalyse des Nudelpakets, des Autos, des ›Ding‹) in Markt und technische Innovationsforschung zu münden.« [Deleuze/Guattari AÖ:35] 13 Daher können auch modernistische Architekten etwa von Las Vegas lernen, dem Musterbeispiel einer auf Emotionen abzielenden Gestaltung, vgl. »Learning from Las Vegas« [Venturi et al. 1972]. 14 vgl. exemplarisch die Gründung des Instituts für Umweltplanung in der Nachfolge der Hochschule für Gestaltung Ulm, Gerhard Curdes: HFG – IUP – ZPI 1969-1972 – Gestaltung oder Planung? https://publications.rwth-aachen.de/record/572833/files/572833.pdf sowie Spitz 2012 15 »Sozio-Design ist die Inszenierung nicht nur der physikalisch-kulturellen Objekte in einem bestimmten Segment der Lebenswirklichkeit, sondern auch die Inszenierung des Umgangs mit und Gebrauchs dieser Objekte sowie der Handlungsweisen, Beziehungsformen und Sprache der in diesem Segment vorhandenen sozialen Wesen. In einem konkreten Hinweis würde das bedeuten, dass etwa Architekten oder Ökologen oder Erzieher nicht jeweils isoliert nur die materiale Gestalt einer sozialen Umgebung vorgeben dürfen, indem sie Räume, Möbel, Kleidungsstücke, klimatische Bedingungen, Spielzeug, Lehrmittel, Landschaft konstruieren und vorgeben. Sie sind in gleichem Maße auf Entwurf und Vorgabe von Verhaltensweisen, von Beziehungsformen, von Sprachformen, von Vorstellungsformen verwiesen. Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass konstruierte Umwelt ohne Sozio-Design nicht zu wie immer gewünschten Resultaten führt.« [Brock 1972:49] Das Sozio-Design ist nicht zu verwechseln mit dem später aufkommenden Social Design: »Während das Phänomen Social Design das Soziale im karitativ-altruistischen Sinne in den Mittelpunkt zu rücken scheint, wird beim Konzept Sozio-Design das Soziale im gesellschaftsstrukturellen Sinne verwendet.« [Park 2014:19-20]

367

368

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Im »Sozio-Design« werden Handlungsmuster und Interaktionsformen entwickelt und inszeniert. »Sozio-Design« findet überall und in jeder Größenordnung statt: von der Tisch- und Sitzordnung zuhause bis hin zu Theater- und Parlamentssälen und von der Dating-Software bis zu Chinas »Social Scoring«-System. Damit steht das Sozio-Design in einem historischen und systematischen Kontext der Beeinf lussung von Verhalten durch Inszenierung, der von der Rhetorik und dem Theater der Antike über religiöse und politische Kontexte bis zur aktuellen Markt- und Medienwirkungsforschung reicht.16 Das Concern Design bezieht sich auf die Ansätze des »Sozio-Designs« (Brock) und des »Meta-Designs« (Virilio, vgl. 2.7.1), indem es die wechselseitige Konstitution von Subjekten und Strukturen untersucht und Interventionen konzipiert. Die begriff lichen Grundlagen dafür können rückblickend vor allem in den späteren Arbeiten Guattaris gefunden werden, der diese wechselseitigen Prägungen als »Subjektivierungsmodalitäten« beschreibt:17 (…) Bildung von Subjektivierungskomplexen: von einem Individuum-Gruppe-Maschine-Austausch in vielfachen Formen. (…) Man schafft neue Subjektivierungsmodalitäten, ebenso wie ein bildender Künstler von der Palette aus, über die er verfügt, neue Formen schafft. [Guattari 2014/1992:15] Die hier genannte metaphorische Verbindung zur Kunst kann im Design wörtlich genommen werden: Das Repertoire der entwickelten gestalterischen Formate wird wirksam als Meta-Modellierung, die eine Pluralität von konkreten Ausgestaltungen ermöglicht und motiviert.18 Sozio-Designs geben die Muster für Handlungsoptionen vor: Eine Urlaubsreise, eine Tanzstunde, eine Vorlesung oder ein Arztbesuch sind Formate, die Erwartungen prägen und Begrenzungen formulieren für die dort jeweils möglichen Äußerungen und Interaktionen. Diese Formate können mit Guattari als »Kartografien«19 verstanden werden, die Handlungen anleiten, die aber auch abgelehnt oder modifiziert werden können. Das entscheidende Kriterium dieser Modellierungen ist ihr Grad an Verbindlichkeit. Dieser wird in den Registern real (Hardware) und virtuell (Regelwerk) in einer wechselseitigen Steigerung erzeugt und von Guattari als »Intensitätskristallisation«20 bezeichnet. 16 Im Design wurde das Thema der Beeinflussung von Verhalten als »Design for behavior change« diskutiert [vgl. z.B. Lockton, Harrison, Stanton 2010], während die Verhaltensforschung den Ansatz des »Nudging« entwickelte [vgl. John et al. 2011; Thaler, Sunstein 2010; Sunstein 2015]. 17 Guattari bezog sich dabei u.a. auf Karl Marx, wo es heißt: »Die Produktion produziert (…) nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand.« [Marx 1983/1858:27] 18 »Der individuellen und kollektiven Subjektivität mangelt es von der einen wie der anderen Seite an Modellierung. (…) Tatsächlich tut sich eine immense Baustelle der Theorieneubildung und der Erfindung neuer Praktiken auf. (…)« [Guattari 2014/1992:77] 19 »Die Interaktion dieser Kartografien gibt den Subjektivierungsgefügen ihre Ordnung. Von keiner dieser Kartografien, ob phantasmatisch, delirierend oder theoretisch, wird man sagen können, dass sie eine objektive Erkenntnis der Psyche ausdrückt.« [ibid.:20] 20 »Um die dualistischen Gegensätze von Sein-Seiendes, Subjekt-Objekt und die manichäischen Wertungssysteme infrage zu stellen, habe ich den Begriff der ontologischen Intensität vorgebracht. Er impliziert eine ethisch-ästhetische Verpflichtung des enunziativen Gefüges – in aktualen Registern ebenso wie in virtuellen. (…) Man befindet sich hier in einem Register der Koexistenz, der Intensitätskristallisation.« [ibid.:43/44]

3 Der Concern Begriff

3.2.1 Fragen an das Sozio-Design Diese Bestimmung des Sozio-Designs führt zu den folgenden Fragen: • Wie soll es den Sozio-Designern gelingen, auf die genannten Verhaltensweisen, Beziehungen, Vorstellungen und Sprachformen Einf luss zu gewinnen? • Was soll die Beteiligten veranlassen, in der Inszenierung der Sozio-Designer zu agieren wie von diesen vorgesehen? Für die Durchsetzung der Einf lussnahmen sind zunächst alle Arten von materiellen Konstruktionen denkbar, die gewünschtes Verhalten vereinfachen und priorisieren, wenn nicht gar erzwingen. Auch Latours Beispiele von Handlungsketten, die bevorzugtes Verhalten erzeugen, heben ab auf die beteiligten Objekte wie Sicherheitsgurte, Türöffner und Straßenschwellen.21 Weitere Gegenstände und Verfahren sind hier zu nennen, deren Problematik Latour jedoch nicht erörtert. Dazu gehören etwa jene mechanischen Geräte des Moritz Schreber zur körperlichen Zurichtung von Kindern über die Kleider- und Sitzordnungen der höfischen Gesellschaft22 bis zu den digitalen Methoden der Überwachung. Je weniger Zwang jedoch unmittelbar materiell ausgeübt werden kann oder soll, desto subtiler gestalten sich die Mittel der psychischen Manipulation und der Internalisierung der Vorgaben und Zwänge. Mit dem Aufschwung der Medien wurde die Konstruktion von neuen Rollenbildern massenwirksam. Fotografie und Kino, Mode, Popmusik und Internet boten immer neue und weitreichendere Möglichkeiten der Inszenierung von Vorbildern und der Propagierung ihrer Botschaften.23 Je weitgehender jedoch die Lebensformen durch die digitalen und materiellen Mittel bestimmt werden und je umfassender diese Konditionierungen wirtschaftlichem Kalkül unterliegen, desto dringender stellt sich die Frage nach der Legitimation der Sozio-Designer: • Was berechtigt sie zu ihren Manipulationen? • Können vermeintlich gute Zwecke auch fragwürdige Mittel rechtfertigen (z.B. Pharma, Militär, digitale Überwachung, …)? • Wie werden Partizipation und Selbstbestimmung gewährleistet? Im Hinblick auf die Frage nach der Legitimation bleibt entscheidend, dass Umwelten als kontingente Konstruktionen verstanden werden müssen, also als jeweils aktuelle Realisierungen von Möglichkeiten, die auch andere Auswahlen zulassen würden. Die Aufgabe des Sozio-Designs ist es dann, sowohl neue Möglichkeiten zu erzeugen (etwa 21 vgl. B 6 22 vgl. die Analyse zur Umcodierung von Kleiderordnungen in Zeiten der französischen Revolution [Müller 1991] 23 Solche medialen Wirkungen sind jedoch auch schon aus Romanen des 18. Jahrhunderts bekannt. So kennt die Medienwirkungsforschung den »Werther-Effekt«: Junge Leser von J.  W. von Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« von 1774 kleideten sich wie die Romanfigur, und der dort beschriebene Suizid aus Liebeskummer löste eine Welle von Nachahmungstaten aus, https://www. wikiwand.com/de/Werther-Effekt, vgl. 3.5.3, 7.3.2.

369

370

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

durch neue Materialien und Medien sowie Umnutzungen und Umdeutungen), als auch gleichzeitig Gründe für die Bildung von Präferenzen zu liefern durch den oben erwähnten Code des Designs als Irritation und Normalisierung (vgl. 2.6).24 Solche Angebote zur Identifikationsbildung, Umcodierung und Neubildung von Konventionen sind immer schon wirksam gewesen im Theater und in der Architektur, den bildenden Künsten und der Literatur sowie in Film, Comics und Popmusik. Daher ließe sich behaupten, dass die genannten Medien- und Kunstformen schon immer einen Designanteil hatten, sofern das in ihnen Artikulierte zur Umstellung von Lebensformen anregte. Es war daher nur konsequent, diese zunächst unterschwellige und implizite Wirkungsmacht schließlich explizit auszuweisen als Design.

3.2.2 Beispiel für Sozio-Design: Ernährung Designer haben sich häufig mit der Gestaltung von Gerätschaften und Orten zum Kochen und Essen befasst. Die Gestaltung der Nahrung selbst wurde dabei aber meist nur als eine Styling-Aufgabe des »Food Designs« angesehen.25 Eine tiefergehende Beschäftigung im Sinne des Sozio-Designs und der Transformation erkennt in der Frage des Essens jedoch den gesamten Kreislauf von Produktion, Verteilung und Konsumtion. Aus ökologischer und gesundheitlicher Sicht wird eine »Ernährungswende«26 gefordert, die nicht nur andere Produkte und Lieferketten konzipiert, sondern den gesamten Concern »Essen« umgestaltet. Dabei zeigt sich, dass einige Jahrzehnte industriellen Essens ausgereicht haben, um die Kompetenzen des Schmeckens und die Kulturtechniken des Zubereitens stark zu reduzieren. Hier hat eine Enteignung stattgefunden, die erst allmählich als Verlust bemerkt wird, der gegen die historisch einmalige Vielfalt von Nahrungsangeboten zumindest in der westlichen Welt aufgerechnet werden muss.27 Eine Wertschätzung von Substanzen und den Prozessen ihrer Herstellung ist daher ein erster Schritt für eine Transformation der Ernährung.28 Das Gastmahl der Antike, der Gang in die Kantine, die familiären Mahlzeiten oder das TV-Dinner von Singles zeigen, dass das Essen eine Urform des Sozio-Designs ist. Tischordnungen und Speisefolgen, Zubereitung und gemeinsames Essen sind eng mit Ritualen verbunden und dienen der Selbstvergewisserung von Gruppen. Dessen Formate verbinden die sozio-psychologischen Aspekte von Geschmack, Geruch und Kon24 Dabei wird auch die Frage nach den unterschiedlichen Perspektiven von Kunst, Design und Kunsthandwerk angesprochen: »Künstler, Designer, Kunstgewerbler, die im Sinne von Morris dienen wollen, indem sie anderen zur Herrschaf t verhalfen, wenn auch nur zur Herrschaf t über sich selbst, über die Probleme der Wohnungseinrichtung, der Kleidung, der Organisation des Alltagslebens, des Aufbaus einer Biografie, Künstler als soziale Strategen, als Therapeuten, als Arbeitsbeschaf fer, als Animateure, als Freizeitgestalter! Sie sind, sie waren die sozial Wirksamsten und wurden entsprechend von den Stilisten des einsamen Genies verachtet.« [Brock 1983:85] 25 vgl. Stummerer, Hablesreiter 2009. Eine Ausnahme ist Otl Aichers Studie »Die Küche zum Kochen« [Aicher 1982, vgl. Stephan 2002] sowie Burkhardt, F. 1981: Cibi et Riti – Essen und Ritual, die Dokumentation eines Workshops u.a. mit Peter Kubelka, der bisher einzige Professor an einer Kunsthochschule, der neben dem Film auch Kochen als Kunstgattung betrieb (1978–2000 am Frankfurter Städel) 26 Lemke 2018, vgl. »Theorien des Essens« [Kashiwagi-Wetzel, Meyer 2017] 27 vgl. Banz, Schulze 2017 28 vgl. dazu das Projekt »Geschmacksarchiv«, https://geschmacksarchiv.de

3 Der Concern Begriff

sistenz mit den sozialen Situationen ihres Erlebens. Sie sind tief in der Erfahrungswelt verankert und entsprechend schwer zu transformieren. Experimentelle Praxen können aber etwa an Kunsthochschulen eingerichtet werden, die sich ohnehin verstärkt mit materiellen und sozialen Prozessen beschäftigen (Abb. 63).

Abb. 63: Workshops zum Kochen und Essen mit Arpad Dobriban29

3.2.3 Explizite Regeln vs. implizite Modelle Explizite Regeln für das Sozio-Design sind in Haus- und Hofordnungen ebenso zu finden, wie in den Leitbildern von Unternehmen. Für die Artikulation und Durchsetzung ist die nonverbale Gestaltung aber ungleich wirkungsvoller, sei es durch die Veranschaulichung begehrenswerter oder zu vermeidender Zustände oder das Schaffen von Tatsachen.30 Sozio-Designs argumentieren nicht, sondern machen alternative Möglichkeiten so attraktiv, dass sie sich im Wettbewerb gegenüber traditionellen Modellen durchsetzen können.31 Dazu einige Beispiele: •

Organisationskybernetik: Ab den 1960er Jahren wurde die Planung von Büros an den damals aktuellen Theorien der Organisationskybernetik ausgerichtet. So empfahlen die Berater vom »Quickborner Team« ihrem Kunden Bertelsmann die Teamarbeit, f lache Hierarchien und niederschwellige Kommunikation. Um dieses zu ermöglichen und durchzusetzen, wurden offene und f lexibel nutzbare Bürolandschaften entworfen. Ein solches Sozio-Design verband die Konzepte der Managementberatung mit der konkreten Gestaltung der Arbeitsräume (Abb. 64).32



29 An der Kunsthochschule für Medien Köln 2022 und 2018, Fotos: Jacqueline Hen, PFS, vgl. https:// grundlagen.design/projekte/taste 30 vgl. Latours Beispiel des Hotelschlüssels, B 6.1.1 31 vgl. »You never change things by fighting the existing reality. To change something, build a new model that makes the existing model obsolete.« Buckminster Fuller, https://www.bfi.org/2015/10/21/greenwave-wins-the-2015-fuller-challenge 32 vgl. die empirische Forschungsarbeit zu den Projekten des »Quickborner Teams«, Rumpfhuber 2013

371

372

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns



Abb. 64: Büroorganisation, Quickborner Team, ca. 196733



IKEA: Das Unternehmen wandelte sich vom innovativen Möbelvertrieb zum Lebenseinrichter. Es präsentiert nicht nur einzelne Möbel, sondern komplette Ensembles, die den Kunden zeigen, wie sie sich geschmackvoll, effizient und günstig einrichten können. Voraussetzung dafür ist ein genaues Verständnis für den aktuellen Ausdrucks des Concerns Wohnen beim Publikum. So wurden Protagonisten vorgestellt, die für unbürgerliche Lebensentwürfe stehen: »Jakob aus Kreuzberg«34 und »Marc aus Mitte« (Abb. 65).35 Zu untersuchen bliebe, welche Lebensformen in anderen Ländern oder Regionen gezeigt werden. Im Laufe der Jahrzehnte hat IKEA global wirksame Sozio-Designs hervorgebracht. Zunächst gelang das durch innovative Produkte und einen neuartigen Vertrieb, die sich indirekt auf neue, f lexible Lebensformen und Haushaltsgründungen auswirkten. Heute dagegen werden Verhaltensregeln auch explizit als Empfehlung ausgesprochen, was als übergriffig kritisiert wurde.36 Gleiches gilt für den vor Jahren vollzogenen Wechsel in der Kundenansprache vom »Sie« zum »Du«.37



McDonald‘s: Ähnliche Beobachtungen wie bei IKEA lassen sich auch bei McDonald’s machen. Hier wurde der Concern »Essen« neu formatiert durch eine Standardisierung der Produkte und Prozesse, Schnelligkeit, günstige Preise und Franchising. Der Mangel an Vielfalt, Service und Ausstattung wurde kompensiert durch Spielzeug, Familienangebote und Aktionswochen, später ergänzt um ein Café-Angebot, vegetarische Menus und Online-Bestellung.

33 Quelle: Rumpfhuber, https://www.ex-d.net/work/research/architektur-der-organisationskybernetik 34  »Hi, mein Späti ist mein Leben, daher wohne ich im hinteren Zimmer auf 30 qm.« (Abb. 65 links) 35 »Hi, tagsüber bin ich Marc und nachts werde ich zu Marcia Midnight.« (Abb. 65 rechts) 36 Beispiele für Hinweistafeln bei IKEA: »Wenn du abends schlafen gehst, leer doch einfach Deine Taschen schon im Flur, statt alles in Deinem Schlafzimmer zu verteilen. Ordnung in Deinem Schlafzimmer unterstützt nämlich guten Schlaf.« »Zelebriere tägliche Rituale. Ein heißes Bad senkt die Körpertemperatur – und lässt Dich schneller und besser einschlafen.« [IKEA Berlin, 15.09.2018, Recherche des Autors]. Eine Kritik lautete: »Es reicht Dir nicht, ein Möbelhaus zu betreiben, Ingvar. Du willst mir sagen, wer ich sein soll. Verkaufst Du nun ein Sofa oder ein Glaubensbekenntnis?« Kersten Augustin in: DIE ZEIT Nr. 38, 08.09.2016, S. 54. Eine Fallstudie kommt zu dem Schluss: »Melancholie und Enttäuschung sind dem System IKEA (…) eingebrannt.« [Düllo 2011:144-147] 37 https://ikea-unternehmensblog.de/article/2017/du-sag-mal

3 Der Concern Begriff

Im Fast Food-Format wird die Wahrnehmung von Inszenierung, Mediatisierung, Werbung und Verpackung absorbiert und abgelenkt. Es wird nur noch nebenbei gegessen, und die Substanz des Essens rückt in den Hintergrund.

Abb. 65: Präsentationen bei IKEA, links: »Jakob aus Kreuzberg«, rechts: »Marc aus Mitte« [Fotos: PFS, 15.09.2018 Berlin-Tempelhof] •

Soundtracks: Soundtracks praktizieren Sozio-Designs, indem sie Gruppierungen der Hörenden bilden und damit Lebensformen differenzieren. Das »Format-Radio« unterscheidet weniger nach Künstlern, Titeln oder Alben, sondern nach Situationen, für die Algorithmen die passenden Klänge als Soundtapeten zusammenstellen. Die Streamingdienste kennen darüber hinaus die Hörgewohnheiten ihrer Nutzer und stellen kuratierte Playlisten für alle denkbaren Zwecke zusammen.38 Im auf kommenden Zeitalter der künstlichen Intelligenz erscheint es als wahrscheinlich, dass diese den Sound künftig nicht nur kuratieren, sondern selbst generieren wird und Interpreten (oder deren Bilder) nur noch als Interface aufgeboten werden, um eine Illusion von Urheberschaft zu erhalten.39



Formatierung durch digitale Plattformen: Viele Sozio-Designs wurden durch die Digitalisierung umformatiert. Tätigkeiten wie Einkaufen und Zeitunglesen, Bankgeschäfte und Bezahlen, Partnersuche und beruf liche Besprechungen finden auf digitalen Plattformen statt. Neben der Übertragung bekannter Formate ins Digitale werden dabei auch originäre Formate entworfen, wodurch die Betreiber der Plattformen neue soziale Standards setzen. Die Plattformen versuchen, immer mehr Dienste zu integrieren (z.B. WeChat in China). Smartphones werden mit immer mehr Sensoren ausgestattet, um Nutzungssituationen erkennen zu können und die Vorselektion von Optionen zu ermöglichen. Perspektivisch soll mit dem 6G-Standard für Funknetze ein »fühlendes Netz« entstehen, das neue Sozio-Designs möglich und notwendig machen wird.40

38 Beispiele: »Chill Mix, Power Mix, Midnight Mood, Breakup Song Essentials, Zeit für mich, Zum Heulen schön, Wenn man nur Deppen um sich herum hat« (iTunes). 39 Konzeptionell wurde dies längst vorgedacht etwa in Eric Saties »Musique d’ameublement« (1917) oder Brian Enos »Music for Airports« (1978) und der darauf folgenden Ambient Music. 40 https://www.welt.de/wirtschaf t/webwelt/plus238157945/6G-Mobilfunk-Es-wird-auch-fuehlen-koennen-Wie-6G-unser-Leben-veraendern-soll.html (29.04.2022)

373

374

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

3.2.4 Schlussfolgerungen Umformatierung von Concerns Die Erfolge von IKEA und McDonald’s gründen auf neuen Sozio-Designs: Während Abholung und Selbstauf bau den Möbelhandel revolutionierten, wurde die Selbstbedienung durch ein junges Publikum aufgewertet zum »anderen Restaurant«. Komplexe Concerns wie »Möbel/Wohnen« und »Essen/Geselligkeit« wurden umformatiert. Dies war möglich, da sich seit den 1960er Jahren neue gesellschaftliche Trends entwickelt hatten wie informelle Begegnungsformen, Reduktion von Repräsentation und Bereitschaft zur Partizipation. In anderen Bereichen wie etwa der Mobilität gelang das bisher jedoch weniger. Der Grund dafür könnte sein, dass hier weniger individuelle Entscheidungen ausschlaggebend sind. Der Umbau von Infrastruktur erfordert gemeinschaftliche und politische Willensbildungen, deren Sachzwänge ein höheres Beharrungsvermögen haben. Die referierten Beispiele zeigen, wie neue Formate Lebensformen prägen und ihrerseits von ihnen beeinf lusst werden. Neue Technologien, die bisherige Formen disruptiv verändern, führen zu einem Wettbewerb um neue Formate, wie gegenwärtig in der digitalen Transformation zu sehen ist. Über die Akzeptanz neuer Formate entscheiden aber nicht die Kräfte des Marktes allein, sondern auch die politischen Vorgaben. Projekte wie die geplante Abschaffung des Bargelds, die digitale Gesundheitskarte oder das automatisierte Fahren unterliegen staatlichen Regelungen, die einen neuen Normalfall definieren und Abweichungen sanktionieren können. Das Concern Design kann dazu beitragen, die hier angesprochenen Concerns wie »Sicherheit« und »Privatheit« besser zu verstehen und gestalterische Kriterien im Kontext wirtschaftlicher, technischer und politischer Aspekte zur Geltung zu bringen. Daher erscheint das Concern Design zu Recht als eine Aktualisierung und Detaillierung des historischen Begriffs des Sozio-Designs.

3.3 Die Vektoren der Concerns Mit Tarde und Latour werden Concerns beschrieben als »sich überkreuzende Vektoren und Tensoren des Begehrens und der Überzeugung« [ÖkW:21]. Während dort die Bezeichnung als »Vektor« eher metaphorisch erscheint und keine weitere Ausgestaltung erfährt, sollen hier die Vektoren der Concerns in den Dimensionen Inhalt, Intensität und Ausrichtung konkret bestimmt werden. Diese werden aber nicht etwa in mögliche »Karten« im Sinne Guattaris 41 eingezeichnet, was deren Vorgängigkeit behaupten und die Frage provozieren würde, aus welchem Stoff diese Karten gemacht sind. Vielmehr soll umgekehrt gelten, dass es die dynamische Verf lechtung der Concerns ist, die jene Konstellationen erst erzeugen, die als Momentaufnahmen in der Form von Karten beschreibbar werden.

41 »Schizoanalytic Cartographies« [Guattari 2013/1989]

3 Der Concern Begriff

3.3.1 Inhalt Die Inhalte von Concerns können als die Ausgangspunkte von Vektoren repräsentiert werden, die sich durch Überlagerung verstärken. Starke Concerns können als Attraktoren oder Kraftfelder aufgefasst werden, die Wahrnehmungen, Präferenzen, Motivationen, Handlungen und Entscheidungen beeinf lussen. Dazu gehörten zu allen Zeiten Themen wie Sicherheit, Herkunft, Wohlstand, Macht, Hedonismus, Erotik, Religion, Reputation, Angst, Trauer und Tod. Deren Genese und Formatierung werden in immer neuen Formen inszeniert und verhandelt, die kulturellen und sozialen Entwicklungen unterliegen. So war etwa der Concern »Ehre« für lange Zeit und in vielen Gesellschaften ein dominanter Concern, während er heute nur noch partiell einen Ausdruck findet, dort aber umso intensiver kultiviert wird. Eine solche Entwicklung von Concerns nachzuzeichnen, ist eine Aufgabe, die sozio-psychologische, ethnografische und kulturgeschichtliche Aspekte zusammenführt.42

Abb. 66: Exemplarische Darstellungen von Concerns: Reichtum, Angst, Ruhe, Hedonismus, Transzendenz, Reputation, Sicherheit/Kontrolle, Spaß, Tod [im Uhrzeigersinn von oben links, Fotos/Collage: PFS]

42 So formulierte Peter Sloterdijk eine Würdigung des Zorns (thymós), die er dem Eros als vorherrschendem Erklärungsmodell der Psychoanalyse entgegenstellt, vgl. »In seinem Staat unterscheidet Platon (…) drei Seelenanteile: Eros, Logos und Thymos. Eros ist der (liebes-)hungrige Anteil; Logos bezeichnet den vernunf tbezogenen Anteil. Thymos bezeichnet einen leidenschaf tlicheifernden, stolz- und zornfähigen Anteil, für den Sloterdijk (…) auch die Übersetzung »Beherztheit« vorschlägt.« (https://www.sigma-akademie.de/wp-content/uploads/2016/09/Psyche-und-M%C3%A 4nner-Tymothisch-aggressive-Anteile.pdf), vgl. Sloterdijk 2006a

375

376

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Concerns sind nicht eindeutig skalierbar: Ein verlorenes Fußballspiel in der Nachbarschaft kann wirkungsmächtiger sein als die Niederlage in einem entfernten Krieg. Ein mediales Ereignis wie etwa der Tod einer TV-Figur in einer Serie kann als bedeutender empfunden werden als ein reales Ereignis in der Familie. Symbolische Handlungen wie das Verbrennen einer Fahne können als schmerzhafter empfunden werden als eine körperliche Verletzung. Aber auch ein zentraler Concern wie Trauer oder Macht kann alle anderen überlagern.43 Gemeinsame Concerns tragen zur Bildung von Gemeinschaften bei, während die Neuorientierung von Concerns bei den Mitgliedern einer Gruppe deren Zugehörigkeit auf kündigen kann. Wer in Politik, Religion oder Militär andere Menschen für Ideen und Zusammenarbeit begeistern will, wird versuchen, deren Concerns durch mehrheitsfähige Inszenierungen anzusprechen.44 Die Grundlage von Gemeinschaften sind nicht Argumente, sondern vordiskursive Concerns. Nur auf dieser Basis können maximale Stressfaktoren (Naturkatastrophen, Kriege) bewältigt werden, die in der Folge die Entwicklung von Kulturen als »Begründungsgemeinschaften« [Steinhauer 2001:4] ermöglichen.45

3.3.2 Intensität Concerns werden mit Latour als »leidenschaftliche Interessen« [ÖkW:21] aufgefasst, deren Intensitäten die Einstellungen, Meinungen und Werte prägen. Diese sollen quantifizierbar sein und die Grundlage ökonomischer Aktivitäten bilden, wie Latour unter Bezug auf Tarde argumentiert. Concerns werden nicht als randständige soft factors positioniert, die den harten wirtschaftlichen Größen entgegengesetzt sind, sondern sie gewinnen eine zentrale Funktion, indem sie die Dynamik von Austauschbeziehungen erst in Gang setzen und wesentlich bestimmen, wovon die Waren- und Geldwirtschaft nur ein späterer Ausdruck sind. Die Intensität von Concerns bemisst sich nach der Energie, die von ihnen freigesetzt oder konsumiert wird. Diese Werte können positiv sein, wenn etwa Euphorie, Zorn oder Ärger Kräfte freisetzen und zur Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfreude beitragen.46 Ebenso können Concerns aber auch Energie kosten, indem sie etwa als Ängste oder Traumata ständige Aufmerksamkeit beanspruchen und die Fähigkeit zur Handlung schwächen oder blockieren. Als Anlässe für Concerns sollen daher nicht nur positivistische Tatsachen gelten, sondern auch jene Leerstellen, die nicht oder nur ungenügend ausagiert wurden.47 Dazu zählen unterlassene Handlungen, verpasste Gelegenheiten oder unmögliche Dialoge mit Abwesenden oder Toten.48 43 Hier wäre etwa an eine umformulierte Spruchweisheit zu denken: Der Gesunde hat viele Concerns, der Kranke nur einen, nämlich gesund zu werden. 44 So erhielten sich soziale Rituale und Inszenierungen wie Fackelzug und Lichtdom auch unter völlig verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen. 45 vgl. das Konzept der »MSC – Maximal Stress Cooperation« [Mühlmann 2005] 46 vgl. John Lydon: »Anger is an energy« (Public Image Limited 1986: Titel Rise, Album Album), https:// genius.com/Public-image-ltd-rise-lyrics 47 vgl. die Familienaufstellungen nach Hellinger, https://www.hellinger.com/home/familienstellen 48 So bemerkte Salvador Dalí: »Wir werden von den Toten gesteuert; die mächtigste Kybernetik ist die der Toten.« [Dalí 1969:64]

3 Der Concern Begriff

Damit ist zu fragen: Wie entsteht die Motivation, einen bestimmten Aufwand für einen Concern zu treiben und wie wird fehlende Energie an anderer Stelle kompensiert? Hier ist eine Verbindung gegeben zum Konzept der »Wunschmaschinen« von Deleuze/Guattari sowie zu Ansätzen der Psychotherapie, die bei Krankheiten nach der Energiequelle für die Ausbildung von Symptomen fragt.49 Dabei wird von einem akkumulativen Modell ausgegangen, nach dem möglichst viel Energie zu sammeln sei, um sie dann sinnvoll investieren zu können. Dem gegenüber steht jedoch die anarchische Besetzung libidinöser Objekte und die lustvolle Verausgabung, wie sie etwa in Erotik, Tanz, Kunst, Musik und Sport sichtbar ist und – so die wunschökonomische These – auch allen anderen Feldern sozialer Aktivität zugrunde liegt und damit deren wirtschaftliche Funktion und Bewertung prägt. Die Intensität eines Concerns kann sich als ein langer, schmaler Vektor zeigen, der auf ein eng begrenztes Ziel deutet. Ebenso sind aber auch breit gestreute und diffuse Ziele möglich. Denkbar sind auch Concerns, deren Energie gering ist, die aber trotzdem weitreichende Wirkungen haben, indem sie andere Concerns grundieren. So entfaltet der häufig unscharf definierte Concern »Ökologie« Wirkung auf Feldern wie Mobilität, Wohnen und Ernährung. Concerns können eigensinnige Skalierungen annehmen, etwa wenn sich eine Trivialität des Alltags so stark verdichtet, dass sie andere, wesentliche Concerns überstrahlt.

3.3.3 Ausrichtung Die Inhalte und Energien von Concerns lösen Wirkungen aus, die als Ausrichtung beschreibbar sind. Ähnliche Inhalte und Energien können sich lokal, zeitlich und individuell in ganz unterschiedlichen Ausrichtungen realisieren. So kann der Concern »Gesundheit« die Bedeutung annehmen, einen Zugang zu sauberem Wasser zu haben, während er in einem anderen Kontext zu einer Warnung vor dem Konsum von zu viel Fett und Zucker führt. Die Angabe einer Richtung setzt eine übergeordnete Perspektive voraus. Wenn Concerns jedoch Bestandteile von Handlungsketten nach Latour sein sollen, können sie nur als »f lach«, also zweidimensional konzipiert werden. Concerns können sich also nur von Punkt zu Punkt orientieren und gewinnen weder einen Überblick des Kontexts noch einen Begriff der eigenen Richtung und Ausdehnung. Damit entfällt ein strategischer Aspekt, der den Concerns etwa Absichten unterstellen könnte. Die Eigendynamik der Concerns schafft sich ihre Bahnen und Überkreuzungen ohne Absichten und Ziele. Concerns sind einfach mehr oder weniger intensiv gegeben und mehr oder weniger ausgerichtet, wobei sie Einschnitten und Abzweigungen folgen gemäß Deleuze/Guattaris Modell der »Wunschmaschine«.

49 Dies gilt etwa für die Arbeiten Wilhelm Reichs [vgl. Reich 1985/1942] und führt u.a. zu einer Deutung des Faschismus, die Deleuze/Guattari aufgreifen: »Wilhelm Reich ist nicht zuletzt dann ein großer Denker, wenn er es ablehnt, zur Erklärung des Faschismus Verkennen und Illusionismus seitens der Massen heranzuziehen, und demgegenüber darauf besteht, ihn mittels des Wunsches, in dessen Begrif fen zu erklären: Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus in diesem Augenblick und unter diesen Umständen gewünscht.« [AÖ:39]

377

378

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

3.4 Beispiele für Concerns Bei der Gestaltung von Concerns geht es um praktische Aspekte, die Auswirkungen auf die Gestaltung und Kommunikation sowie Politik und Wirtschaft gleichermaßen haben. Dies zeigen die folgenden Beispiele aus der Werbung.

Abb. 67: Eine Vielfalt von Antworten auf die Frage: »Was treibt Dich an?«50 So fragte die Anzeige einer Bank: »Was treibt Dich an?« (Abb. 67). Zusammen mit den Abbildungen der Protagonisten wurde eine Vielzahl unterschiedlicher Antworten präsentiert, die als Concerns gelten können: »Ehrgeiz«, »Verantwortung« oder »Der Wald. Das Wild. Die Natur«. Dem Publikum wurde so nahegelegt, dass es die Frage auch auf sich selbst beziehen kann mit dem Schluss: Eine Bank, die so unterschiedliche Kunden versteht, sollte auch für andere individuelle Adressaten geeignet sein. Ein weiteres Beispiel zeigt, wie der Concern »Kämpfen« für einen Beruf in der Bundeswehr motivieren soll (Abb. 68 links). Das dynamische Bildmotiv zeigt eine Kämpferin inmitten sonniger Natur mit dem Claim »Folge Deiner Berufung«. Diese Kampagne spricht nur noch zu den individuellen Concerns und bezieht sich auf archaische Instinkte. Dabei verzichtet sie auf einen gesellschaftlichen Kontext, während die bisherige Werbung der Bundeswehr die Funktion des Dienens in den Mittelpunkt stellte und Vernunftgründe ansprach.

50 Werbung der Volks- und Raiffeisenbanken, ca. 2009

3 Der Concern Begriff

Abb. 68: Artikulation und Generierung von Concerns51 Das dritte Bespiel (Abb. 68 rechts) zeigt das Schaufenster eines Modegeschäfts, in dem neben der Kleidung auch deren mediale Inszenierung in Zeitschriften ausgestellt ist. Der Concern »Geltungsbedürfnis« wird so gleich doppelt angesprochen: Zum einen durch eine soziale Aufwertung der Kunden durch das Tragen von Luxusmode und zusätzlich durch die suggerierte Aussicht auf Prominenz in deren medialer Spieglung.

3.4.1 Mediale Formatierung von Concerns Inhalt, Intensität und Ausrichtung von Concerns beruhen auf Einbildungskräften, die insbesondere durch die Medien mitbestimmt werden. Dies gilt schon für deren früheste Formen, denn Geschichten, Märchen und Lieder prägten die Vorstellungen und Überlieferungen. Minnesänger verbreiteten die Idee der romantischen Liebe und machten sie überhaupt erst vorstellbar. Romane erzählten Schicksale und gaben der Leserschaft Möglichkeiten zur Übertragung auf das eigene Leben. Die »gesellschaftlichen Maschinen«, von denen Deleuze/Guattari 1972 sprachen, sind heute weniger in Industrieanlagen, als vielmehr in den allgegenwärtigen Medien zu suchen, die permanenten Einblick in die Sozio-Designs Dritter geben und damit den Adressaten Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Umformatierungen zeigen.

51 links: »#Kämpfen – Folge Deiner Berufung«, Werbung der Bundeswehr, Berlin 8/2018, rechts: Mode in den Medien, Schaufenster von Città di Bologna, Köln 5/2018 [Fotos: PFS]

379

380

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 69: Beispiele für die mediale Formatierung von Concerns52 Die seit Langem formulierte Kritik an einer Gleichschaltung der Medien (»manufacturing consent«53) mag auf weite Teile der Medienlandschaft zutreffen. Doch längst besteht diese weniger in der Abstimmung von Argumenten als vielmehr in der medialen Formatierung von Anliegen und Aufregern als »manufacturing Concerns«. Emotional wirksame Themen werden so inszeniert, dass die Aufmerksamkeit geweckt und die Intensität für die Dauer einer Staffel erhalten und auf die Werbepartner ausgerichtet bleibt. TV-Programme und Social Media sind dabei in Wechselwirkungen von redaktionellen Inhalten und populärer Dynamik verbunden. Das Ziel aller Anbieter ist die Bildung von Communities, die durch gemeinsame Concerns verbunden sind.54 Ob öffentlich-rechtliche oder private Programme, politische Parteien oder die Markenkommunikation von Unternehmen: Immer geht es weniger um die Diskurshoheit über Inhalte, sondern um ein Management der mit diesen verbundenen Gefühle und Affekte, Leidenschaften und Interessen. Daher gilt: Vom »Content Management« zum »Concern Management«. 52 von links nach rechts, oben: RTL Let’s Dance, 01.05.2021 und 16.05.2021, unten: alte und neue Helden – Leonardo da Vinci: Studie zu »Die Schlacht von Anghiari« (1505), Tennisspieler Nadal in Tennis TV, Heldengestalt beim Tennisturnier der ATP in Rom, beide 02.05.2021 53 vgl. Film über Noam Chomsky von 1988, https://www.youtube.com/watch?v=EuwmWnphqII 54 Sloterdijk findet eine aktuelle Definition der Nation in einer Verbindung der Concerns: »Ich möchte mich des Verdachts vergewissern, dass Nationen, wie wir sie kennen, möglicherweise nichts Anderes seien als Effekte von umfassenden psychoakustischen Inszenierungen, durch die allein tatsächlich zusammenwachsen kann, was sich zusammenhört, was sich zusammenliest, was sich zusammenfernsieht, was sich zusammen informiert und aufregt.« [Sloterdijk 1998:27]

3 Der Concern Begriff

3.5 Merkmale der Concerns 3.5.1 Universalität und Interkulturalität Viele Concerns haben überzeitliche und interkulturelle Funktionen, wie etwa das Überleben der Familie zu sichern, Gerechtigkeit zu erlangen oder das Andenken der Ahnen zu bewahren. Der Begriff der Concerns soll weit genug gefasst werden, um dieser Universalität zu entsprechen und die Concerns verschiedener Kulturen vergleichen zu können. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Concerns anderer in ihrer Andersartigkeit akzeptiert werden. Da Concerns grundlegend sind für »weltbildende Aktivitäten« [ibid.], muss einerseits eine Pluralität von Welten (Pluriversum) anerkannt werden, während gleichzeitig Mindeststandards der Normalisierung auf eine Welt (Universum) einzuhalten sind. Die universelle Geltung rechtlicher oder zivilisatorischer Standards wie etwa der Menschenrechte muss daher auch als ein Concern artikuliert werden, gerade weil hier jederzeit Spannungsverhältnisse zu anders ausgerichteten Concerns erwartet werden müssen, die immer wieder neu auszuhandeln sind.

3.5.2 Concerns als soziale Systeme Die Vektoren der Concerns führen ihr Eigenleben, indem sie sich kürzer oder länger mit anderen Vektoren verbinden, sich gegenseitig steigern oder widerstreitende Kräfte austauschen. Wenn von einer Vielzahl kleinteiliger dynamischer Concerns ausgegangen wird, sind besonders temporäre Cluster mit je unterschiedlichen Wirkungsmechanismen, Dominanz- und Hierarchiebildungen zu berücksichtigen. Concerns werden daher als übergreifende sozial wirksame Formen verstanden, die sich als Erregungsmuster über Populationen ausbreiten und damit die individuellen Konstellationen von Gefühlsund Willenskräften bestimmen.55 Mit einer solchen Konzeption können Concerns als soziale Systeme aufgefasst werden, die ihre Dynamik entfalten, ohne auf die Bewusstseinsleistungen der Subjekte angewiesen zu sein. Handlungsweisen und Entscheidungen, modische Erscheinungsformen und politische Meinungen sind die Produkte der Aneignung und Verarbeitung von Versatzstücken der vorgeformten Concerns.

3.5.3 Formate und die Concerns der anderen Die formbildenden Prozesse von Concerns sind bestimmt durch individuelle Affekte, Phantasmen und Obsessionen ebenso wie durch soziale Faktoren wie Erwartungen, tradierte Muster und Kommunikation. Inhalt, Intensität und Richtung der Concerns sind hochvolatil und entziehen sich weitgehend der Beschreibung. Ihre Erscheinungsformen und ihre soziale Wirksamkeit jedoch realisieren sich über Formate. Mit diesem Begriff sollen übergreifend strukturelle Phänomene bezeichnet werden, die über eine gewisse Zeit konstant bleiben, wie Muster, Rituale, Automatismen und Rollenbil-

55 Hierbei wäre etwa an Konzepte zu denken wie »Meme« [Blackmore 1999] und »morphische Felder«, https://www.sheldrake.org/deutsch/morphische-felder

381

382

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

der; Praktiken also, die auf Gewöhnung und Einübung beruhen, Erwartungen prägen und einlösen und die Reproduktion sozialer Formen erlauben.56 Formate ermöglichen den Umgang mit den Concerns anderer, indem sie einen Rahmen schaffen für zu erwartende Verhaltensweisen. So wird die Unwahrscheinlichkeit reduziert, auf die Concerns der anderen angemessen reagieren zu können. Die Ohnmacht etwa war einst ein Verhaltensmuster, das es ermöglichte, mit peinlichen Situationen umzugehen. Ohnmachten hatten keine natürliche Ursache, sondern waren eingeführt als formatierte Verhaltensweise für den Umgang mit Situationen, die sonst nur schwer oder gar nicht in Kommunikation aufzulösen wären. Formate legen Handlungsformen nahe, indem sie auf Fragen wie diese antworten: • Was kann wo und wie gesagt werden? z.B. beim Bewerbungsgespräch, im Seminarraum, auf einer Party etc.57 • Welches Verhalten wird in verschiedenen Situationen erwartet? z.B. in der Familie, am Arbeitsplatz, im Tennisklub, bei einer Beerdigung etc. • Welche Inszenierungen machen die Zugehörigkeit zu welchen Gruppen erkennbar? z.B. Mode, Wohnungseinrichtung, social media Profil etc. Formate können daher auch als Protokolle58 aufgefasst werden, so wie der Begriff im Technischen verwendet wird, nämlich als Ermöglichung von Kommunikation und Handlung. Ein Repertoire der akzeptablen Varianz von Ausdrücken wird vor der eigentlichen Kommunikation abgesprochen, was in der Folge den eigentlichen Austausch erst ermöglicht.59 Die Befolgung konventioneller Formate überwindet die sonst zu erwartende Inkompatibilität. Formate werden erlernt durch Vorbilder und explizite oder implizite Regeln, und sie werden tradiert durch soziale Konventionen und Gewöhnung. Sie erleichtern den Umgang mit komplexen Concerns. Ein Beispiel dafür ist etwa das Kennenlernen möglicher Liebespartner, seien dies Tanzschritte und Konversationsformen oder die Verhaltensregeln auf Dating-Plattformen.60 Der Umgang mit der Formatierung und die soziale Verbindlichkeit ihrer Befolgung haben sich in der Moderne wesentlich verschoben: Als vormodern gilt es, vorgegebene Formate der Lebensführung zu erfüllen, ohne sie zu hinterfragen. Dagegen gilt es als modern, den Imperativ auf Selbstgestaltung zu akzeptieren und eigene Formate entwickeln zu können.61

56 vgl. den Begriff der »Rahmen-Analyse« als »Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen« [Goffman 1980] 57 vgl. »Soziologie der Party« [Bude 2015] 58 vgl. B 8.7 59 vgl. Latours Frage: »Which protocol for the new collective experiments?« [Latour 2004b] sowie seinen Hinweis auf Michel Callons Arbeiten zu »Formatierung und Sprengung des Formats« [ÖkW:50, Fußnote 2], außerdem Krajewski 2010 60 Die Tanz- und Rhetoriklehrer im Barock haben solche Formate erstellt und geübt und gelten daher zu Recht als eine Vorform der Designer [vgl. Sloterdijk 2010], B 7.1. 61 vgl. Reck, Brock 1986

3 Der Concern Begriff

3.5.4 Historische Perspektiven Formate können in ihrer Zeitgebundenheit beobachtet und in ihrer Wechselwirkung mit den Concerns analysiert werden. Historische Untersuchungen können zeigen, wie sich die Formen von Concerns und die Formate ihrer Äußerung über die Zeit wandeln. So können etwa die unterschiedlichen Formatierungen des Concerns »Schönheit« in ihrer historischen Entwicklung verglichen werden (Abb. 70). Dabei sind kulturelle Wechselwirkungen der Erscheinungs- und Umgangsformen zu beschreiben, so wie etwa die »höfische Galanterie als Ursprung der bürgerlichen Empfindsamkeit« [MeyerSickendiek 2016] gilt. Auch die Formen und Formate der Liebe unterliegen einer »transitorischen Semantik« [Luhmann 1999:7], die medialen, literarischen und bildnerischen Vorgaben und Mustern folgt.62 Abb. 70: Universeller Concern »Schönheit« in historisch unterschiedlicher Ausprägung63 Entwicklungsgeschichtlich sind gemeinsame Concerns in der Schutz- und Nahrungssuche zu finden sowie in der kollektiven Gefahrenabwehr. Diese Kollektiverfahrungen werden von einem metaphysischen Vorstellungsraum umfasst, der etwa als Götterhimmel verbindlich artikuliert und durch Mythen und Sagen veranschaulicht wird. Exemplarische Fälle wären systematisch und historisch zu diskutieren, was hier nur angedeutet werden kann: • Das Seelenheil ist ein wichtiger Concern in religiös geprägten Zeiten und Kulturen, hinter dem die täglichen Nöte zurückgestuft sind • Die Selbstoptimierung wird in der Moderne als übergreifender Concern propagiert, indem es zur Pf licht wird, die eigenen Möglichkeiten zu entwickeln und möglichst vollständig zu nutzen • Der Heldentod ist immer schon ein mächtiger Concern gewesen, um dem eigenen Leben und Sterben einen höheren Sinn zu geben, sei dies religiös oder militärisch begründet • Das Leben nach dem Tode soll für die Frühkulturen der Ägypter der zentrale Concern hochgestellter Personen gewesen sein, dessen Auswirkung darin bestand, das Leben vor dem Tode als dessen Vorbereitung zu gestalten [vgl. Assmann 2010]

62 vgl. »Der Code der Liebe – Gesellschaftsstruktur und Liebessemantik im Wandel der Zeit« [Sommerfeld-Lethen 2008], »Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität« [Luhmann 1994], »Fragmente einer Sprache der Liebe« [Barthes 1988]. Barthes bezieht sich neben den Romanen Flauberts im Wesentlichen auf Goethes »Die Leiden des jungen Werther« von 1774, vgl. 3.2.1, 7.3.2. 63 links: griechische Statue, rechts: Dornröschen von Disney, Fotos: PFS, Montage: Doppelpunkt

383

384

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Concerns können nicht beliebig konfiguriert und repräsentiert, sondern nur modifiziert und modelliert werden. Eine historische Perspektive müsste die Kontinuitäten und Brüche, Variationen und Transformationen, Überformungen und Aktualisierungen von Concerns nachzeichnen. Archaische Concerns wären zu bestimmen wie etwa Furcht, Freude und Lust sowie die »ältesten Schmerzen«64 und zwar jeweils im konkreten Ausdruck ihrer Zeit, also als Bild, Musik, Wort, Geste oder Ritual. Zu beschreiben wären die Zeiten überdauernden Concerns und ihre wechselnden Formen, wie etwa jene von Soldaten auf dem Weg in die Schlacht, von den Römern bis zu den heutigen Kriegern. Auch die unterschiedlichen Formen der religiösen Rede können als eine Verschiebung von Concerns beschrieben werden.65 Schließlich wären die Grenzen der Einfühlung und Beschreibung zu markieren, sowohl zu anderen Zeiten als auch zu anderen Kulturen. All dies würde dazu beitragen, die Geschichte der Ideen und Interessen zu ergänzen durch eine Geschichte der Mentalitäten und Stimmungen.66 Untersuchungen zu Gefühlen haben gegenwärtig Konjunktur.67 Das Concern Design kann dazu im Sinne der ANT beitragen, indem es die in den Concerns wirksamen Übertragungen und Mittler aufspürt und die von ihnen verursachten Transformationen nachzeichnet. Dabei fragt es gemäß seinem Code nach dem Verhältnis von Irritation und Normalisierung (vgl. 2.6.1). So könnte das Concern Design als eine analytische Kategorie zur Erfassung historischer Entwicklung werden, neben seinem Fokus auf den Entwurf von Interventionen und künftiger Praxis. Solche Analysen erscheinen als unverzichtbar als Grundlage für einen umfassenden Anspruch auf die Gestaltung sozialer Praxis.68 Die Verbindung von Akteur-Netzwerk-Theorie und Transformation Design könnte hier ein neues Tätigkeitsfeld auch für Designhistoriker eröffnen.69

64 vgl. Rainer Maria Rilke: Erste Duineser Elegie (1912): »Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen fruchtbarer werden?«, https://www.rilke.de/gedichte/die_erste_duineser_elegie.htm 65 Latour hat dem eine Untersuchung gewidmet: »Jubilieren – Über religiöse Rede« [Latour 2011]. 66 Für ein solches Vorhaben können hier nur einige Bezüge angedeutet werden: Die Berkeley Public Opinion Study Group, Bourdieus Habitus-Theorie, Émile Durkheims »conscience collective« und »représentation collective« [vgl. Gilcher-Holtey 1998:489], die Mentalitätsgeschichte von Marc Bloch und Lucien Febvre mit ihrer Zeitschrift »Annales d’histoire économique et sociale« (1929-1992, vgl. Schöttler 2015), die politische Anthropologie Helmuth Plessners sowie Einzelstudien zu Concerns wie die »Verhaltenslehren der Kälte« [Lethen 2022/1994] und »Cool« [Poschardt 2002], außerdem die aktuellere, aber weniger existenziell formulierte »Poetologie der Stimmung« [Hajduk 2016], die die Rolle der »Artefakte, Praktiken und Fiktionen« ins Zentrum stellt, https://www.springer.com/series/11198 67 vgl. »Demokratie der Gefühle« [Früchtl 2021], »Sad by Design« [Lovink 2019], »Manufacturing Happy Citizens« [Cabanas, Illouz 2019], »Wa(h)re Gefühle« [Illouz 2018], enzyklopädische Beschreibungen von Gefühlen [Smith 2017], die »Macht der Stimmungen« [Bude 2016], »Philosophie der Gefühle« [Döring 2009], »Logik der Gefühle« [Ben Ze’ev 2009] 68 Historische Untersuchungen sind häufig Teil einer Recherche für Entwurfsprozesse, jedoch bisher eher als informelle Studien privater Designstudios und nicht als systematisch begründete Methodik, vgl. Otl Aichers Studien zur Küche [Aicher 1982] und zum Auto [Aicher 1984] sowie die Untersuchungen von Rem Koolhaas’ Studio OMA/AMO zum Warenhaus, https://www.oma.com/projects/kadewe 69 vgl. die Tagung »Reassembling the Past?! Akteur-Netzwerk-Theorie und Geschichtswissenschaft« https://www.hsozkult.de/event/id/event-75160

3 Der Concern Begriff

3.6 Concerns und Transformation »Change« wurde zum Modewort in Wirtschaft und Politik«.70 Damit sollte dem Imperativ nach Innovationen entsprochen werden, wie er etwa in Märkten und Unternehmen gegeben ist. Das Thema »Change« dient dem Management jedoch auch als Frühwarnsystem, um potenziell gefährliche Entwicklungen zu erkennen und diese entweder abzuwehren oder durch Integration unschädlich zu machen. Für Organisationen unterliegt der institutionalisierte »Change« damit einer Dialektik der Systemerhaltung: Sie müssen sich wandeln, damit sie bleiben können, was sie sind. Der einfache »Change/Wandel« braucht keinen Agenten, denn er geschieht ohnehin (»pantha rei« – alles f ließt). Soll sich der Wandel aber an Concerns oder Werten orientieren, müsste von »transformational change« gesprochen werden, da dem Wandel eine Richtung und ein Sinn gegeben wird. Wenn das Transformation Design seine Aufgabe darin sieht, dies zu organisieren, muss es an der Modellierung der leitenden Concerns beteiligt sein. Entscheidend ist, dass das Transformation Design einen strukturellen Ansatz verfolgt, der eine Vielzahl von Concerns in ihrer Diversität anerkennt und dabei ergebnisoffen bleibt, im Gegensatz zum normativen Ansatz des Social Designs, der sozialen und ökologischen Anliegen folgt, die als Concerns vorausgesetzt werden.

3.6.1 Auswege aus der Höhle Das Concern Design antwortet auf Dichotomien, die ihre Wirkung explizit oder implizit aus kulturellen Voraussetzungen beziehen.71 Dazu gehört etwa die alteuropäische Trennung von Schein und Sein und, auf allgemeinerer Ebene, Geist und Materie. Deren Folge ist die Behauptung, dass der Mensch nur mit Abbildern und Schatten hantieren könne, ihm die Dinge selbst aber verschlossen blieben, so wie es in Platons Höhlengleichnis beschrieben ist. Ein solches Narrativ als Ausgangslage motiviert die Ambition, mit einer heroischen Geste den Schleier des Scheins zu zerreißen, um damit doch die Dinge selbst und ihren unverstellten und wahrhaftigen Kern erkennen zu können. Dabei wird vorausgesetzt, dass es ein Authentisches und Eigentliches gibt, das zwar verdeckt und manipuliert, im Prinzip aber erkennbar ist. Latour sieht im Höhlengleichnis einen Ursprungsmythos von Dichotomien, die zu überwinden sind, um zu einem neuen Verständnis sowohl von Wissenschaft als auch von Politik zu kommen [PD:22-32].72 70 etwa als »Change Management« oder »Change Agents«, während die Rahmenbedingungen der strategischen Führung in Wirtschaf t und Politik als »volatility, uncertainty, complexity und ambiguity« gekennzeichnet wurden, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/VUCA 71 vgl. A 4 72 Dabei weist Latour auch auf einen logischen Fehler in der Konstruktion des Höhengleichnisses hin und kommentiert: »Da uns die Aufklärung nur beeindrucken kann, wenn die (politische) Epistemologie uns zuvor in die Höhle hinuntergeführt hat, gibt es ein sehr viel probateres Mittel als das von Platon vorgeschlagene, um aus der Höhle hinauszugelangen: gar nicht erst in sie hineingehen! (…) Wie würde das öf fentliche Leben derer aussehen, die sich weigerten, die Höhle überhaupt zu betreten?« [PD:30/31] Deleuze interpretiert das Gleichnis so: »Der vorsokratische Philosoph verlässt die Höhle nicht und meint im Gegenteil, dass man sie noch nicht genug zur eigenen Sache gemacht habe, noch nicht tief genug in sie eingedrungen sei. (…) Die Vorsokratiker haben das Denken in den Höhlen, das Leben in der Tiefe eingerichtet.« [Deleuze 1993/1969:163]. Hans Blumenberg hat dem Thema »Höhlenausgänge« eine umfangreiche Untersuchung gewidmet [Blumenberg 2019/1989].

385

386

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Immerhin setzt das Höhlengleichnis noch voraus, dass die Schattenspiele gemeinsam angeschaut werden und ein Austausch darüber möglich ist. Eine Beschreibung der aktuellen medialen Verfassung müsste dagegen von einer Vereinzelung der Behausungen ausgehen.73 Dort dienen die von Latour geforderten Visualisierungen nur noch als »Ornament Tapete«: Die graphischen Oberflächen, in denen die Datenprozesse visualisiert werden, verdichten sich zur Ornament-Tapete der kognitiven Behausungen. [Winkels 1999:67] Das Design kennt jedoch noch eine andere Lösung: Es findet den Ausweg aus der Höhle nicht durch Zeichnen oder Kommunikation, sondern durch Tasten. Das Herstellen einer direkten Beziehung zur Umgebung profitiert von deren Agency. Es ist die Topologie der Höhle selbst, die den Ausweg weist für den, der mit den Händen zu lesen weiß.74

3.6.2 Design als »éducation sentimentale« Das Concern Design unterläuft die Unterscheidung zwischen Schein und Sein, real und virtuell. Es zählen allein die aktivierten und formatierten Intensitäten der Concerns und deren Folgen. Aus der Perspektive des Designs macht es keinen Unterschied, ob eine Kampagne für Konsumartikel oder für das soziale Verhalten von Jugendlichen entworfen wird, denn es kommen die identischen Werkzeuge und Prozesse zum Einsatz.75 Auch noch der Protest gegen den Konsumkapitalismus wird mit den technischen und ästhetischen Mitteln gestaltet, die dieser hervorbrachte.76 Ob sich Designer für Mächtige oder für Müllvermeider engagieren, für Großkonzerne oder Einzelpersonen, für critical oder affirmative Design, ihre Aufgaben werden immer die gleichen Bestandteile umfassen: • Erzeugung von Wahrnehmungsanlässen • Lenken der Aufmerksamkeit 73 Sloterdijk bestimmt daher die weltbildenden Aktivitäten als »kognitive Inneneinrichtung«, die stets mit dem Verhältnis zum Nachbarn rechnen muss: »Es (das Subjekt, PFS) ist nicht nur Designer seines eigenen, mit relevanten Objekten vollgestellten Innenraumes, es muss sich immer und unvermeidlich auch als befreundetes Mobiliar, als Resonanzkörper, als feindliche Wand im Behälter der inneren Nahen und Nächsten hinstellen lassen. (…) löst also die moderne Psychologie den individualistischen Schein auf, der die Einzelnen als substanzielle Ich-Einheiten auffassen möchte, die wie die Mitglieder eines liberalen Clubs auf freiwilliger Basis in Verkehr mit anderen träten, nachträglich, willkürlich, widerruflich, wie es der Ideologie der individualistischen Vertragsgesellschaft entspricht.« [Sloterdijk 1998a:84/85] 74 Diese Lesart findet sich bei Botho Strauß: »Es ist so, dass die meisten in der großen Höhle die Wand vollmalten mit scheinbaren Menschen und illusionären Gästen. Doch einer, der niemals malte, sondern tastete, fand irgendwann die einzige Stelle, an der man die Wand durchschreiten kann (…) und nun traten die Erschöpf ten allesamt hinaus in eine unvertraute aufgeräumte Welt.« [Strauß 2009:o.S.], vgl. Andrea Alciato: manus oculata, die ›sehende Hand‹, Emblematum libellus, Venedig 1546, zitiert bei Gumbrecht 2020:262 75 vgl. ein Projekt zur Suizidberatung von Jugendlichen der australischen Agentur Portable, https:// www.portable.com.au/case-studies/orygen-co-design 76 vgl. die Projekte von Aktivisten wie »Adbusters« und »Yes-Men« [Lasn 2005] sowie die Dialektik der »Disobedient Objects« [Flood, Grindon 2014]

3 Der Concern Begriff

• • • • •

Auf bau von Interesse und Empathie Aufforderung zu Interaktionen Bildung von Prioritäten Anregung und Steuerung von Handlungen Auslösung von Entscheidungen

Das Design formuliert Handlungsmöglichkeiten durch die Gestaltung von Artefakten und Rollenbildern, Inszenierungen und Interaktionen und bietet Gelegenheiten zu deren experimenteller Erprobung und Diskussion. Ob für ein Konsumprodukt oder eine politische Partei, eine Dating-Börse, eine Popband oder ein Computerspiel: Immer ist es die Aufgabe der Designer, in die Concerns der Beteiligten einzugreifen und über Angebote für neue Ausdrucksformen zu deren Veränderung anzuregen. Schon ein neuer Haarschnitt kann eine neue Lebensform bedeuten. In dieser Hinsicht ist Design eine »éducation sentimentale«, eine Bildung oder »Erziehung des Gefühls«.77 Der Concern Ansatz will zu einer genaueren Beschreibung dieser Dynamik beitragen. Eine so verstandene Ausrichtung des Transformation Designs bezieht sich pragmatisch auf die Modellierung gesellschaftlich wirksamer Handlungsmöglichkeiten und in seinen ikonografischen und narrativen Ausprägungen auf die Einbildungskräfte, an denen auch die Künste und die Werbung in der gesamten Breite ihrer Ausdrucksformen arbeiten. Das Concern Design nimmt teil an der permanenten Verhandlung gesellschaftlicher Formate, bei denen Darstellung und Inhalt nicht zu trennen sind. Das Design entwirft Produkte, Services und Interaktionen und bietet damit neue Formate zur experimentellen Erprobung an.78

3.7 Concerns und Sinn In der oben entwickelten Beschreibung erscheinen Concerns als jenseits des Sinns. Formate wurden eingeführt als Konstruktionen, die Orientierung ermöglichen. Die Wechselbeziehung zwischen Concerns und Formaten wurde mit Guattari als »Intensitätskristallisation« beschrieben.79 Doch wie lässt sich diese Auffassung mit der Frage nach Sinn verbinden? Das Concern Design will zur Begründung eines nicht-normativen Transformation Designs beitragen. Daher ist eine normative Beantwortung der Sinn-Frage ausgeschlossen, anders als im Social Design, das seinen Gestaltungsspielraum durch die ausschließliche Fokussierung auf ökologische und soziale Imperative selbst verengt.80

3.7.1 Systemtheoretische Bestimmung Systemtheoretisch wird Sinn als Medium bestimmt, in dem die Kontingenz des Weltbezugs zu Formen verarbeitet wird:

77 Deutscher Titel des Romans »Éducation sentimentale« von Gustave Flaubert 1869 78 vgl. »Ritualdesign« [Karolewski, Miczek 2012], »Verhaltensdesign« [Moser, Vagt 2018; Bohnet 2017] 79 vgl. 2.3 80 vgl. A 5

387

388

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Sinn ist das Medium (…), das die selektive Erzeugung aller sozialen und psychischen Formen erlaubt.81 Diese Definition erfasst die Konstruktion von Sinn rein funktional und nicht normativ. »Soziale und psychische Formen« werden dabei nicht als gegeben angenommen, sondern müssen hergestellt und gestaltet werden durch »selektive Erzeugung«. Dieses findet statt im Medium des Sinns, der daher immer nur individuell bestimmt werden kann. Einer solchen Perspektive schließt sich der Concern Ansatz an, da keine Instanz gegeben ist, die die Prozesse der sozialen und psychischen Formbildung von außen beurteilen könnte, weder im Hinblick auf ihre Gründe noch auf ihre Wirkungen. Das Design von Concerns hat die Aufgabe, die Vielfalt der Sinnkonstruktionen in der Form soziokultureller Formate zu beobachten und alternative Angebote als Interventionen in den sozialen Praxen zu platzieren.82

3.7.2 Concerns und Viktor Frankls Konzept von »Sinn« Die Concerns anderer Menschen zu beobachten, zu beschreiben und ihnen einen Sinn zu unterstellen, bedeutet, sich über Antriebe und Ängste, Freude und Frustration, Referenz- und Belohnungssysteme, Energiequellen und -blockaden zu orientieren. Damit stellen sich Fragen, wie sie vor allem in der Psychologie etwa von Viktor Frankl und Wilhelm Reich bearbeitet wurden. Diese versuchten zu verstehen, warum Energien für bestimmte Verhaltensweisen aufgebracht werden oder wie Resilienz erzeugt wird.83 Eine Einordnung in die klassischen Kategorien der Psychologie stellt das Konzept der Concerns in die Nähe der von Viktor Frankl begründeten Logotherapie und Existenzanalyse, deren Überzeugung lautet: (…) zutiefst und zuletzt ist der Mensch nicht interessiert an irgendwelchen inneren Zuständen, sei es Lust, sei es inneres Gleichgewicht, sondern er ist auf die Welt hin orientiert, auf die Welt da draußen, und innerhalb dieser Welt sucht er einen Sinn, den er zu erfüllen vermöchte, oder einen Menschen, den er lieben könnte. [Frankl 2017/1985:180] Frankl bezieht sich mehrfach auf einen Aphorismus von Nietzsche: »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie« [ibid.:212]. Das »Warum« wird hier durchgehend mit der Frage nach Sinn gleichgesetzt. Damit unterscheidet sich Frankls Ansatz von den beiden klassischen Schulen der Wiener Psychotherapie, der Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Individualpsychologie Alfred Adlers: Solange sich nun eine Motivationstheorie um den »Willen zur Lust« dreht – wie wir nunmehr das Lustprinzip im Sinne von Freud umbenennen können – oder aber um das 81 »Sinn erlaubt die selektive Erzeugung aller sozialen und psychischen Formen (…) Form des Sinns ist die Unterscheidung ›real‹/›möglich‹ (…) Sinn ist die Simultanpräsentation von Aktuellem und Möglichem (…) Sinn bestimmt Anschlussfähigkeit an weitere Kommunikation.« [Baraldi et al. 1997:170-173] 82 Oevermann spricht von »Ausdrucksgestalten«, an denen allein die latenten Sinnstrukturen erkennbar seien, vgl. 2.2. 83 vgl. Reich 2011/1933: Massenpsychologie des Faschismus und exemplarisch Frankl 2017: Wer ein Warum zum Leben hat. Lebenssinn und Resilienz

3 Der Concern Begriff

Streben nach Überlegenheit im Sinne von Adler, handelt es sich um eine typische Tiefenpsychologie. Dem gegenüber würde eine »Höhenpsychologie« in ihr Menschenbild auch solche Strebungen einbeziehen, die »jenseits des Lustprinzips« und des Willens zur Macht anzusiedeln wären, und unter diesen Strebungen rangiert des Menschen Suche nach Sinn wohl an erster Stelle. [ibid.:181] Frankls Konzept des Sinns stimmt in wesentlichen Kriterien überein mit dem Konzept der Concerns und der Formate als deren temporärer Stabilisierung. Beide sind konkret und beinhalten Aufforderungen zur Gestaltung: Im Zusammenhang mit Logotherapie meint nun Sinn nichts Abstraktes, vielmehr handelt es sich um einen durchaus konkreten Sinn, nämlich den konkreten Sinn einer Situation, mit der eine ebenso konkrete Person jeweils konfrontiert wird. Was aber die Wahrnehmung solchen Sinns anlangt, wäre zu sagen, dass sie einerseits mit einer Gestaltwahrnehmung im Sinne von Max Wertheimer und andererseits mit einem »Aha«Erlebnis im Sinne von Karl Bühler etwas zu tun hat. (…) So läuft denn der Unterschied zwischen der Sinnwahrnehmung und der Gestaltwahrnehmung darauf hinaus, dass wir im letzteren Falle einer »Figur« auf deren Hintergrund gewahr werden, während im Laufe der Sinnwahrnehmung, wenn ich so sagen darf, auf dem Hintergrund der Wirklichkeit eine Möglichkeit aufleuchtet (…) die Situation so oder so zu gestalten. [ibid.:183/184] In Frankls Konzept kann Sinn nicht einfach aufgefunden werden, sondern beinhaltet den Aspekt der Herstellung, die auf eine Situation antwortet, indem sie Wahrnehmungen und Handlungen formt und so durch Selektion Sinn erzeugt. Dies ist immer nur individuell und konkret möglich. Sinn kann daher nicht universalistisch bestimmt werden.84 Das Konzept des Sinns wird bei Frankl zwar zunächst als Konstruktion entwickelt, danach aber doch eher statisch betrachtet. Das genannte »Warum zum Leben« ist gegeben oder eben nicht. Die Konzeption der Concerns dagegen fokussiert auf die permanente Erzeugung und den ständigen dynamischen Umbau von Concerns. Dabei gilt es, aus dem Überangebot möglicher Sinnkonstruktionen zu wählen und Anpassungen vorzunehmen. Sinnangebote erscheinen damit nicht als eine rare Ressource, derer man habhaft wird oder nicht wie bei Frankl, sondern als eine Überfülle von Concerns, die kontingent bleibende Möglichkeiten eröffnen und formbildende Entscheidungen erfordern.

3.7.3 Sinn durch Design In »Die Logik des Sinns« nimmt Deleuze eine Frage Immanuel Kants nach der »Orientierung im Denken«85 auf und bemerkt, dass das Denken nicht voraussetzungslos ist, sondern bereits Formen voraussetzt: Sobald man fragt, »Was heißt, sich im Denken zu orientieren?« wird deutlich, dass das Denken selbst schon Achsen und Orientierungen voraussetzt, denen gemäß es sich

84 Die Frage danach ist so unsinnig wie jene nach »(…) dem besten Schachzug der Welt« [vgl. Frankl 2017/1993:220]. 85 Immanuel Kant: »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« (1786)

389

390

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

entwickelt, dass es über eine Geografie verfügt, noch bevor es eine Geschichte hat, dass es Dimensionen absteckt, noch bevor es Systeme entwirft. [Deleuze 1993/1969:162] Was ist unter diesen »Achsen, Geografien und Dimensionen« zu verstehen, und wie kommen sie zustande, wenn sie der Geschichte und den Systemen des Denkens vorausgehen sollen? In einer entwicklungsgeschichtlichen Perspektive könnte hier von Prägungen gesprochen werden, die aber im Sinne Deleuze/Guattaris als Maschinen zu konzipieren wären. In dieser Konzeption würde der Gegensatz zwischen individueller und gesellschaftlicher maschineller Prägung verschwinden zugunsten eines Feldes von Einschnitten. Der Sinn würde dann darin bestehen, dieses Feld zur Erscheinung zu bringen, etwa durch Kartografie: Das leere Feld zirkulieren zu lassen und die prä-individuellen und unpersönlichen Singularitäten zum Sprechen zu bringen, kurz den Sinn zu produzieren: Darin besteht heute die Aufgabe. [Deleuze 1969:100] Die Formulierung zum »Sprechen bringen« sollte aus der Perspektive des Designs ausgelegt werden als »zur Darstellung bringen«.86 Es geht nämlich nicht darum, das Vor- und Außersprachliche der »prä-individuellen und unpersönlichen Singularitäten« auf die menschliche Sprache zu reduzieren. Vielmehr soll die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Singularitäten für mögliche Sinnkonstruktionen zur Erscheinung gebracht werden. Dabei geht es nicht um das WAS (die Frage normativer Zuschreibungen), sondern um das WIE. Der Sinn wird produziert durch Prozesse wie Unterscheiden und Bezeichnen, Trennen und Verbinden. Dabei entstehen Formen als Beantwortung der Frage nach dem WIE. Ein solches Verhältnis von Sinn und Design wurde bereits beschrieben: (…) ist Sinn-Designer ein Pleonasmus (…). Denn Design stellt Sinn dar. (…) Design verschafft und ist selbst Orientierung. Deshalb hat das Design niemals ein Sinnproblem, sondern ist dessen Lösung – es zeigt, dass der Sinn kein Was, sondern eine Gegebenheitsweise ist. Anthropologisch formuliert: Sinn ersetzt dem Menschen die natürliche Umwelt. [Bolz 1997:232/233]

3.7.4 Empirie und Forschung Psychologische Faktoren wurden im Design zunächst und vor allem im Hinblick auf Objekt- und Medienwirkungen berücksichtigt. Auch Erweiterungen zum Interaktionsdesign und Service Design wurden von Forschungen zur Wahrnehmung und Kognition begleitet. Das aktuell zu entwickelnde Concern Design muss sich ebenso mit detaillierten sozialwissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnissen ausstatten, die über eine einfache Wirkungsforschung weit hinausgehen. Dabei kann es empirische Erkenntnisse nutzen, die aus der Konsumforschung stammen. Aus Wahrnehmungspsychologie, Medienwirkungsforschung und Verhaltensökonomie liegen Einzelstudien zu vielen Aspekten der Handlungsmanipulation vor, ergänzt durch Forschungen zur 86 Der Ausdruck »zum Sprechen bringen« korrespondiert mit Latours Konzeption der Infra-Sprache, vgl. B 8.6

3 Der Concern Begriff

Affekt- und Neuro-Ökonomie.87 Deren Fokus ist zumeist einseitig auf die Interessen von Werbung und Konsumsteigerung ausgerichtet und registriert gesellschaftliche Transformationen vorrangig unter diesem Blickwinkel. Paradoxerweise sind es aber gerade diese Studien, die eine empirische Grundlage bieten können für eine Ausrichtung des Designs, dessen Ziele umfassender oder gar diametral entgegengesetzt sind. Das Concern Design ist angewiesen auf Erkenntnisse aus Gebieten wie Psychologie, Sozialwissenschaften, Wahrnehmungs-, Verhaltens- und Kognitionsforschung. Es kann sich an der Formulierung von Forschungsthemen beteiligen und dabei gestaltungsrelevante Aspekte wie Materialität, Interaktion und Antizipation einbringen. Für die Bearbeitung dieser Fragen wurde jedoch bisher kein konsistenter Theorie- und Methodenrahmen entwickelt. In der Praxis werden Designer daher mit einem Methodenrepertoire arbeiten, das gestalterische Methoden und Proto-Methoden verbindet mit tradierten wissenschaftlichen Methoden sowie mit aktuellen Ansätzen der »Praxeologie«.88 Aus Projekten des Concern Designs sollten jedoch künftig empirische Daten gewonnen werden können, die in Verbindung mit einer Begleitforschung neue Methoden für das Transformation Design begründen könnten.

3.8 Neuer Anthropomorphismus? Das Concern Design ist nichts Neues, im Gegenteil. Hier findet das Design zu seiner Wurzel, die darin besteht, in »weltbildende Aktivitäten« [ibid.] einzugreifen. Dies aber nicht im Sinne normativer Großdesigns, wie sie oben in der Kritik des Social Designs besprochen wurden (A 5). Im Gegenteil: Das Concern Design stabilisiert oder erneuert Handlungsketten und hinterfragt soziale Formen durch praktische Interventionen. Damit ist das Design sowohl ein Mittel zur Selbstermächtigung und Selbstbestimmung als auch ein Mittel zur Machtausstattung Dritter. Freilich ist in diesem Entzug der natürlichen Bestimmung auch der Imperativ zur Selbstgestaltung zu erkennen, da sich der Mensch als nicht festgestelltes Wesen sein Selbst und die Welt erfinden, erzählen und gestalten muss. Eine Selbstübersteigung zum Posthumanistischen ist darin immer schon mit angelegt.89 Der Begriff des Designs ist zu umfassend geworden, als dass sein Diskurs verkürzt werden könnte auf die Optimierung von Artefakten und Kommunikation. Gestaltung im oben dargestellten Sinne bedeutet eine Auseinandersetzung mit der Lebenswelt, samt aller existenziellen Fragen und Artikulationsformen. Dies wurde schon früh erkannt und beschrieben: In einer kurz bevorstehenden Welt fast unbegrenzter technischer Möglichkeiten ist es nicht mehr angemessen, Design-Richtlinien in Form von Material, Technik, Form etc. zu begründen, sondern in menschlichen Werten. Und Werte entstehen aus Präferenzen. Und Präferenzen entstehen aus Aufmerksamkeit. Design muss also Aufmerksamkeit herstellen für mögliche Zukünfte. (…) Es gibt kein Feld, in dem sich Design potenziell 87 vgl. Kahneman 2016, Schirrmacher 2006 88 vgl. 2.4 89 Hier setzen Überlegungen an zu Themen wie dem »Design des Menschen« [Frühwald et al. 2004], wobei unter diesem Titel leider keinerlei Designexpertise erscheint.

391

392

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

nicht einmischen könnte/sollte, denn die heutigen Problemsituationen laufen quer zu allen disziplinären Gliederungen. [Jonas 1995:83/84] Ein solches Designverständnis – vor einem Vierteljahrhundert formuliert – mag in Deutschland immer noch als außergewöhnlich erscheinen, doch italienische Designer-Autoren wie Alessandro Mendini90 und Ettore Sottsass brachten ebenfalls schon vor Jahrzehnten eine poetische Qualität in das Design und seinen Diskurs ein, indem sie einen erweiterten Funktionalismus forderten. So schreibt Sottsass: (…) werden wir auch den Begriff »Funktionalismus« neu definieren müssen und ihn vom technisch-ökonomisch-rationalen in einen existentiellen Zusammenhang einbetten müssen. So wird die Definition des Funktionalismus auch Leidenschaften und Ängste, Sicherheiten, Erinnerungen, Liebe und Hass, Sinnlichkeit – das Leben einschließen müssen (…). Design verleiht heute Wünschen Gestalt, regt den Spieltrieb an, führt in Rituale ein und weckt Erinnerungen. Heute muss Design etwas erzählen, und zwar erzählen vom Leben (…). [Sottsass 1992:43] Das Design wird nicht mehr eingespannt in den Dualismus von Problem und Lösung, sondern setzt eigene Ursachen wie die Künste und stellt eigene Fragen wie die Wissenschaften. Mendini formulierte bereits in den 1980er Jahren: (…), dass das Projekt seinen missionarischen, katholischen und rhetorischen Sinn verliert, der typisch für die Moderne ist und der von oben herab Rationalität verteilt. [Mendini 1981:41] (…) nach einem faszinierenden, unbekannten Risiko (suchen, PFS), das mehr in mir als außerhalb meiner selbst verborgen liegt. [ibid.:42] In Bezug auf Concerns interessiert hier besonders die Kritik der Normativität (»von oben herab Rationalität verteilen«). Die Gestaltung in der Moderne wollte den massenhaften Konsum anleiten und erziehen. Dies gelang jedoch weder im kapitalistischen noch im sozialistischen System, sodass die Moderne zwar die Diskurshoheit gewann, letztlich aber ein elitäres Projekt blieb. Mendini fordert daher, das Banale und den Kitsch zu akzeptieren: Numerisch große Serien beinhalten das Konzept des Banalen. Die Vervielfältigung des Meisterwerks ist eine intellektuelle Utopie: (…) Die Menge kann dem Banalen nicht ausweichen. Vom Banalen zu sprechen, bedeutet, dem Kitsch, das heißt dem schlechten Geschmack, einen Sinn beimessen. [ibid.:37]91

90 Mendini schrieb in den 1970er und 80er Jahren poetische Nachtgedanken und persönliche Reflexionen für seine Kolumnen »Idee in letargo« in der Zeitschrif t Casabella und »To You« in der Zeitschrif t domus. 91 vgl. A 3.2.1

3 Der Concern Begriff

Der Kitsch, jene Essenz des unauthentischen und manipulierten Bewusstseins, stellt sich als eine konsequente Form der Selbsterhaltung heraus, über die sich Designer nicht moralisch erheben dürfen, zumal wenn sie vorgeben, für progressive Ziele einzutreten. Mendini sieht im Kitsch ein (…) politisches Faktum und direkt an die Kraft der Mittelklasse gebunden, ein trojanisches Pferd der Volksmassen, um sich wieder der Künste zu bemächtigen. [ibid.:294] Diese Perspektiven entsprechen genau dem Ansatz des Concern Designs, das die Artikulation und Verortung existenzieller Fragen im Design ermöglichen will, ohne sich durch ästhetische Programme oder moralische Gebote Vorgaben machen zu lassen. Die paradoxe Pointe ist jedoch, dass es häufig gerade die Designer selbst sind, die sich solche Vorgaben auferlegen, wie sich gegenwärtig beim Social Design zeigt (vgl. A 5). Das Design ist dabei notwendig manipulativ, ebenso wie Kunst, Theater, Literatur, Wissenschaft und Technik manipulativ sind. Das Design ist kein Produkt der Ausdifferenzierung der Künste, das als jüngstes Mitglied ihrer Ahnenreihe noch um Anerkennung kämpfen müsste. Im Gegenteil: Design ist ein archaisches Vermögen und reicht zurück vor die Trennung von Künsten und Wissenschaften, Technik und techné.92 Eine gesellschaftliche Transformation epochaler Dimension wird zu einem solchen anthropologischen Gestaltungsbegriff finden müssen, anstatt Design nur als das späte Produkt industrieller Arbeitsteilung zu begreifen. Freilich ändert sich dabei der Begriff des anthropos. Das Menschliche ist nicht auf Subjekte reduziert, sondern in ihm ist immer schon die Übersteigung seiner selbst und die Verbindung zur Welt angelegt, wie auch Latour betont: Im Menschlichen kreuzen sich Technomorphismen, Zoomorphismen, Physiomorphismen, Ideomorphismen, Theomorphismen, Soziomorphismen, Psychomorphismen. Ihre Allianzen und ihr Austausch definieren alle zusammen den anthropos. Ein Wesen, das Morphismen zusammenbraut und mischt, reicht das nicht als Definition? (…) Die modernen Humanisten sind Reduktionisten, denn sie wollen das Handeln nur wenigen Mächten zuschreiben und lassen allem anderen nur die Rolle bloßer Zwischenglieder oder stummer Kräfte. Wenn man das Handeln auf alle Mittler umverteilt, verliert man zwar die reduzierte Form des Menschen, gewinnt aber eine andere, die man unreduziert nennen muss. Das Menschliche ist gerade in der Delegation, im Pass, in der Sendung, im ständigen Austausch von Formen. [NMod:182/3, Hervorhebung PFS]

92 vgl. Stephan 2001. Hier wird auch eine Verbindung zu Latour gefunden, wenn er Design als vormodernes Phänomen benennt, denn Design widerspricht der modernen Arbeitsteilung, vgl. Jonas 2002.

393

4 Concerns: Jenseits der Dichotomien

Das Concern Design erkennt Verstrickungen (entanglement) und Ambivalenzen an und widerspricht der einseitigen Auf lösung von Dichotomien wie Kritik und Affirmation, Problem und Lösung, Theorie und Praxis.1 Es geht jedoch nicht darum, Dichotomien zu bestreiten, sondern ihre Spannung produktiv zu machen. Dabei wird auf die Bildung und den Austausch von Energien und Intensitäten fokussiert, die als eine grundlegende Ökonomie angesehen werden.

4.1 Vergleichende Übersicht: kritisches/affirmatives Design und Concern Design In einer Übersicht (Tab. 5) wird das Concern Design verglichen mit den Positionen des »kritischen« und des »affirmativen« Designs. Unter anderem werden folgende Merkmale diskutiert: Selbst- und Fremdbild, Ethik, Leitbild, Erfolgskriterien, Fokus und Werte.2 Die Gliederung folgt dem Konzept des »Golden Circle« und dessen Fragen nach dem »Warum, Was und Wie« [Sinek 2011].

1 vgl. A 4 2 Diese Aufstellung ist vergleichbar mit der Tabelle von Jonas 1997, vgl. A 6.1, Tab. 2.

Concern Design und »kritisches/affirmatives« Design – Vergleich ausgewählter Merkmale Peter Friedrich Stephan, www.designingtransformation.org, Vers. 2.0, 2023

396

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

»kritisches« Design

»affirmatives« Design

Merkmale Warum?

Teil der Lösung

Teil des Problems

Apokalyptiker, Heilige »Design Activism« (Fuad-Luke) »Material Activism« (von Busch)

Integrierte, Sünder Machtausstatter Designer als Marke (Starck)

normativ, »im Dienst der Gesellschaft« (Dunne/Raby 2009)

nicht normativ, opportunistisch im Dienst des Kapitals

Vernunft: Bedürfnis/Mangel Negation der Triebkräfte

Unvernunft: Befriedigung/Überfluss Ausbeutung der Triebkräfte

Selbst-/ Fremdbild Position der Designer

Ethik

Leitbild

Was? Designer bilden die Nutzer, intervenieren in soziale Praxen, gestalten partizipativ

Designer manipulieren die Nutzer, finden neue Geschäftsfelder, setzen effizient um

angemessen, funktional gute Dinge/Services

unangemessen, überflüssig schlechte/»böse« Dinge/Services

(Produkt-) charakter

Provokation von Aufmerksamkeit z.B. After Life Euthanasia Device [Dunne, Raby 2009]

Profitabilität z.B. Yachtdesign für Oligarchen

Erfolgskriterien

Akademie, Diskurs

Markt, Praxis

Aufgabe

Referenzsysteme

Wie? human centered

profit centered

Fokus

Gebrauchswert

Tauschwert

Werte

Fragen

Antworten

Handlungsweisen

Tab. 5: Concern Design und »kritisches/af firmatives« Design, Vergleich ausgewählter Merkmale

ale

n

en

4 Concerns: Jenseits der Dichotomien

Concern Design

Beispiele

»Schizoanalytische Kartographen« (Guattari), Modellierungen Dritter und die Entwicklung von Alternativen

Gestaltung von Concerns und Formaten, Wirkung auf sozio-technische Systeme wie Mobilität, Gesundheit, Energie, Kommunikation, Bildung, …

Forscher, Berater: selbstbeauftragt vermittelnd zwischen Gestaltung, Wirtschaft, Technik, Gesellschaft

»Heilige und Sünder zugleich« (Luther) »Dabeisein und Dagegensein« (Luhmann)

Beobachtung der Normbildung ethische Aspekte situativ bestimmt

Schnittmenge der Interessen von Kunde – Designer – Gesellschaft (Eames) »first world problems«? Ontologie?

erweiterte Vernunft: Anerkennung von Concerns als Triebkräfte des Handelns (Intensität, Richtung, Interaktion)

»Protect me from what I want« (Holzer) Askese/Exzess, Empathie/Egomanie Laien/Experten, Individuen/Gruppen, …

Designer formatieren Concerns, begleiten Transformationsprozesse, forschen und moderieren

Design »reduziert Ungewissheit« (Baecker) Design »bewältigt Unverfügbarkeit« (Sloterdijk)

Eigensinn von Dingen und Material neue Praxen/Handlungsketten widerständige/fügsame Dinge/Services

Umnutzungen: Ghettoblaster, Jeans, SMS, … Geschäftsmodelle von Ikea, McDonald’s, PayPal, …

Realisation und Akzeptanz neuer Formate

Neuformatierung des Concerns Vertrauen: »How to design trust?« (Nevejan 2007)

Akademie und Markt, Diskurs und Praxis

Think- und Dotanks Praxeologie (Bourdieu, Reckwitz, Schäfer, …)

concern centered, formatierte Handlungsketten

Zukunftswerkstatt für Banken

Concerns als »values in action« Tausch von Intensitäten

Wert als »quantifizierbare Überzeugungskraft« (Tarde), »Ökonomie des Wunsches« (Lyotard)

Fragen und Antworten Dialog und Intervention

»Willst Du erkennen, lerne zu handeln« (von Foerster)

397

398

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

4.2 Concern Design: WARUM? Im Folgenden werden die Aspekte aus Tabelle 5 diskutiert.

4.2.1 Selbst- und Fremdbild Kritisches Design … ist Teil der Lösung

Affirmatives Design … ist Teil des Problems

Concern Design Sinn- und Problem-Modellierungen Dritter erkennen, darstellen und Alternativen entwickeln

Das Concern Design bestreitet eine objektive Existenz von Problemen. Eine Funktion des Designs als Problemlöser erscheint dem Concern Design als zu einseitig. Das Design kann zwar zu Lösungen beitragen, aber es kann auch neue Probleme aufwerfen. Das Concern Design stellt die Frage nach den Sinn-Modellierungen Dritter, stellt diese als »schizoanalytische Karten« (Guattari) dar und entwickelt Alternativen. Aufgabenfelder wie etwa die Gestaltung von Arbeit, Bildung, Mobilität und Energie bestehen nicht nur aus faktisch abgrenzbaren Problemen, sondern beinhalten historisch bedingte und präfigurierte Concerns. Diese sind entscheidend für wahrgenommene Qualitäten wie etwa Vertrauen und Sicherheit. Wie können Formate und Systeme auf dieser Basis umformatiert werden? Das Concern Design ist kein universeller Problemlöser und folgt keiner Fortschrittsideologie. Neue Formen erzeugen neue Probleme, von denen nur zu hoffen ist, dass sie interessanter oder produktiver sind als die alten.

4.2.2 Position der Designer Kritisches Design Apokalyptiker, Heilige, Autoren, Forscher Designer als Aktivisten (»Material Activism«, von Busch 2022, »Design Activism«, Fuad-Luke 2009)

Affirmatives Design Integrierte, Sünder, Machtausstatter Designer als Marke (Starck)

Concern Design Designer als Berater und Forscher: selbstbeauftragt vermittelnd zwischen gestalterischer Position, wirtschaftlicher Macht, technischer Realisierung und sozialen Folgen Heilige und Sünder zugleich (Luther), Dabeisein und Dagegensein (Luhmann)

Der Erfolg des Designs besteht nicht in Wahrheitswerten oder akademischer Diskurshoheit, sondern in seiner pragmatischen Wirksamkeit. Diese realisiert sich in sozialen Praxen und wird in der Regel durch die Kooperation mit Machtstrukturen (Wirtschaft, Technik, Medien) erreicht. Ehrentitel wie Autor und Forscher sollten diese Tatsache nicht verdecken. Concern Designer verstehen sich nicht als moderne Revolutionäre, sondern als nach-moderne, postheroische Entwickler. Sie bejahen die unvermeidliche

4 Concerns: Jenseits der Dichotomien

Verstrickung (entanglement) und die damit verbundenen Ambivalenzen. Beispielhaft sind die selbstbeauftragten Arbeiten von Luigi Colani und Rem Koolhaas in seiner Agentur AMO. Concern Design ist kritisch UND affirmativ, dabei UND dagegen.3

4.2.3 Ethik Kritisches Design normativ, »im Dienst der Gesellschaft« [Dunne, Raby 2009]

Affirmatives Design nicht normativ, opportunistisch im Dienst des Kapitals

Concern Design Beobachtung der Normbildung, ethische Aspekte situativ bestimmt Schnittmenge der Interessen von Kunde – Designer – Gesellschaft (Eames) »first world problems« Ontologie?

Der Anspruch des »kritischen Designs«, »im Dienst der Gesellschaft« [Dunne, Raby 2009] zu arbeiten, behauptet einen exklusiven Zugang zur »Gesellschaft«, der als maximale Legitimation eingesetzt wird. Zu fragen ist aber: Welche Gesellschaft?4 und: Wer stellt fest, was »der Gesellschaft« dient und was nicht? Affirmatives Design muss nicht zwangsläufig heißen, dem Verwertungsinteresse des Kapitals zu dienen, bejaht werden können auch die Concerns der Anspruchsgruppen, für die sich Designer zuständig machen wollen. Das Concern Design vermeidet solche normativen Festlegungen, weil es Normen als ein Produkt von Verhandlungen und Gestaltung ansieht. Ethische Fragen werden situativ beantwortet: Jede Befragung und Beobachtung, jede Methode und jedes Experiment müssen für sich vertretbar sein und nicht nur im Hinblick auf ein übergeordnetes Ziel. Die Entwurfspraxis des Concern Designs geht von verteilten Handlungsträgerschaften aus und damit auch von verteilten Modellen der Verantwortung, die sich ethischen Beurteilungen stellen müssen.5

3 Mit der Formel »Dabeisein und Dagegensein« beschreibt Luhmann die Ambivalenz des Protests [vgl. Luhmann 1996]. 4 vgl. »They are casting their problems at society. And, you know, there’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look af ter themselves first. It is our duty to look af ter ourselves and then, also, to look af ter our neighbours.« Margret Thatcher im Interview mit Woman’s Own, 23.09.1987, https://de.wikiquote.org/wiki/Margaret_Thatcher 5 vgl. Jonas 1994a

399

400

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

4.2.4 Leitbild Kritisches Design Vernunft Bedürfnis/Mangel Negation der Triebkräfte

Affirmatives Design Unvernunft Befriedigung/Überfluss Ausbeutung der Triebkräfte

Concern Design erweiterte Vernunft: Anerkennung von Concerns als Triebkräfte des Handelns (Intensität, Richtung, Interaktion) Bedürfnis/Mangel und Begierde/Überfluss

Das Concern Design geht von einem erweiterten Verständnis von Rationalität aus, in dem Vernunft und Unvernunft integrativ erfasst werden. Damit kann es eine größere Realitätsnähe beanspruchen als Modelle, die sich ausschließlich auf Vernunft fokussieren. Die Erfüllung von normativ feststellbaren Bedürfnissen erscheint in dieser Perspektive als eine Untermenge nicht-normativer Concerns. Das Concern Design erkennt alle wirksamen Kräfte an, ohne diese normativ zu bewerten.

4.3 Concern Design: WAS? 4.3.1 Aufgabe Kritisches Design Designer bilden die Nutzer, intervenieren in soziale Praxen, gestalten partizipativ

Affirmatives Design Designer manipulieren die Nutzer, finden neue Geschäftsfelder, setzen effizient um

Concern Design Designer formatieren Concerns, begleiten Transformationsprozesse, forschen und moderieren

Concern Designer beobachten soziale Praxen und versuchen, die treibenden Concerns zu erkennen, zu verstehen und zu verändern. Es gilt, verdeckte Concerns aufzuspüren, ihre Relationen und Verdichtungen zu Formaten nachzuvollziehen und durch Interventionen zu verändern. Das Concern Design unterscheidet dabei nicht zwischen einer positiv bewerteten »guten Nutzung« und einer negativ bewerteten »Manipulation«. Vielmehr wird den als neutral vorgestellten Referenzgrößen wie Natur, Authentizität oder Realität widersprochen zugunsten eines vorgängigen Begriffs der Formate, dem diese Erscheinungen unterliegen. Das Concern Design gestaltet kulturelle Formate.

4 Concerns: Jenseits der Dichotomien

4.3.2 (Produkt-)Charakter Kritisches Design angemessen, funktional gute Dinge und Services

Affirmatives Design unangemessen, überflüssig schlechte, »böse« Dinge und Services

Concern Design Eigensinn von Dingen und Material, neue Praxen/Handlungsketten widerständige/fügsame Dinge und Services

Das Concern Design widerspricht der simplen Codierung von Botschaften in Dingen und geht von komplexen Prozessen der Aneignung und Umcodierung aus. Anstelle der Opposition gut/böse werden neue Kategorien entwickelt wie widerständige/fügsame und stabilisierende/auf brechende Dinge im Hinblick auf die starke oder schwache Prägung sozialer Praxen innerhalb von Handlungsketten.6 Beispiele für Umnutzungen und Umcodierungen sind etwa die Jeans (von der funktionellen Arbeitshose zum Modeartikel) und der Ghettoblaster (von der passiven Rezeption des Kofferradios zum aktiven Auslöser von Hip-Hop Kultur).7 Das Concern Design erkennt den Eigensinn von Dingen und Material an.

4.3.3 Erfolgskriterien Kritisches Design Provokation von Aufmerksamkeit Beispiel: After Life Euthanasia Device [Dunne, Raby 2009]8

Affirmatives Design Profitabilität Beispiel: Yachtdesign für Oligarchen

Concern Design Realisation und Akzeptanz neuer Formate Beispiel: How to design trust? [Nevejan 2007]

Das »kritische« Design will Diskussionen auslösen und produziert dafür »conversation pieces«, während das »affirmative« Design vor allem profitable Geschäftsfelder entwickeln will. Das Concern Design dagegen zielt auf Projekte, die transformatorische Wirkungen haben.9 Damit ist es gleichzeitig pragmatisch und wertorientiert ausgerichtet, wobei die Werte projektorientiert und nicht normativ zu bestimmen sind. Im Umfeld der Transformationsforschung sind Berater aus unterschiedlichen Kompetenzfeldern tätig wie Wirtschaft, Psychologie, Technik und Marketing. Kategorien wie critical und affirmative sind für diesen Kontext zu grob. Hier zählt vielmehr der nächste in der Entwicklung pragmatisch erreichbare Schritt, von dessen Qualität und Notwendigkeit die Mehrheit der Anspruchsgruppen überzeugt werden kann. 6 vgl. den Begriff und die Funktionen von »Disobedient Objects« [Flood, Grindon 2014] 7 vgl. weitere Beispiele für solche Transformationen bei Düllo 2011 8 http://dunneandraby.co.uk/content/projects/486/0 9 Dazu gehört etwa die Neuformulierung des Mission-Statements einer Bank, vgl. https://www.deginvest.de/%C3%9Cber-uns/Unsere-Organisation/Unser-Leitbild, Projekt von PFS

401

402

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Profitable Arbeit steht dazu nicht im Gegensatz, denn auch die Erreichung von wie auch immer bestimmten Zielen muss finanziert werden, sofern Design keine Wohlfahrtsveranstaltung sein soll. Das Concern Design liefert einen gemeinsamen Bezugsrahmen für Anspruchsgruppen in Transformationsprozessen.

4.3.4 Referenzsysteme Kritisches Design Akademie, Diskurs

Affirmatives Design Markt, Praxis

Concern Design Think- und Do-Tanks, Beratung und Forschung, Nutzung und Wirkung, Akademie und Markt, Diskurs und Praxis

Das Concern Design versteht sich als eine Form des »Research through Design« [Frayling 1993/94]. Es entwickelt seine Thesen aus der Beobachtung von Markt und Realität, nimmt sich aber auch experimentelle und akademische Freiheiten der Hypothesenbildung und lässt sich von den Erfahrungen in der empirischen Umsetzung zum nächsten Entwicklungsschritt führen. Eine solche Arbeitsweise entwickelt sich erfolgreich in Think- und Do-Tanks. Sie referenziert sozial-, kultur- und naturwissenschaftliche Forschung ebenso wie Ergebnisse der Markt- und Verhaltensforschung sowie der Wahrnehmungs- und Sozial-Psychologie. Das Concern Design trägt bei zu einer künftigen Praxeologie, die Verstehen, Teilhaben und Intervenieren als notwendige Wirkungseinheit ansieht.

4.4 Concern Design: WIE? 4.4.1 Fokus Kritisches Design human centered

Affirmatives Design profit centered

Concern Design Concern centered (»values in action«) Handlungsketten stehen im Fokus

Die Formulierung »human centered design« erscheint als fragwürdig: Welche menschlichen Attribute sind gemeint? Die Formel bietet keine differenzierte Bestimmung und wirkt daher als Diskreditierung anderer Ansätze, die etwa von soziotechnischen Systemen ausgehen. Der Gegensatz des »profit centered« soll Gewinne aus Projekten diskreditierten, obwohl es gerade das Ziel des Designs ist, alle Akteure profitieren zu lassen und auch zukünftige Ausgaben zu finanzieren. Der Concern Ansatz geht deshalb von »values in action« aus, um mögliche Gewinne für alle Anspruchsgruppen zu bestimmen. Inspiriert von der Akteur-Netzwerk-Theorie vertritt dieser Ansatz ein erweitertes Verständnis sozialer Praxen, an deren Handlungsketten neben Menschen auch Artefakte, Regeln und Institutionen beteiligt sind, die mit darüber entscheiden,

4 Concerns: Jenseits der Dichotomien

was als »human« verstanden werden soll.10 Das Concern Design versteht die Bestimmung des Humanen als Gestaltungsaufgabe.

4.4.2 Werte Kritisches Design Gebrauchswert

Affirmatives Design Tauschwert Concern Design Concerns als »values in action« Tausch von Intensitäten

Die Begriffe Gebrauchswert und Tauschwert stammen aus der ökonomischen Theorie marxistischer Prägung. Postmarxistische Ansätze dagegen beschrieben eine »Wunschökonomie« als »Wunschmaschine« [Deleuze/Guattari AÖ], »Économie libidinale« [Lyotard ÖW] und »Psychologie Économique« [Tarde 1902]. Die Zirkulation von Intensitäten, Aufmerksamkeit und symbolischem Kapital erscheint dabei als ein umfassendes System, in das der Warentausch und der Geldverkehr als Spezialfälle eingebettet sind. Das Concern Design folgt diesem erweiterten Modell der Wunschökonomie.11

4.4.3 Handlungsweisen Kritisches Design Fragen

Affirmatives Design Antworten Concern Design Fragen und Antworten Dialog und Intervention

Das »critical design« gibt an, im Modus des Fragens zu operieren. Mit Fragen alleine kann jedoch die soziale Praxis weder verstanden noch verändert werden. Antworten als affirmativ zu diskreditieren, erscheint als eine Flucht aus der Verantwortung.12 Das Concern Design dagegen stellt seine Haltungen und Positionen zur Diskussion und zum Gebrauch durch eine intervenierende Praxis. Daraus können sich Dialoge mit und innerhalb von Anspruchsgruppen entwickeln, die zu neuen, partizipativen Praxen führen. Jede Antwort generiert dabei neue Fragen.

10 vgl. 3.6 11 vgl. B 7.4, 2.3 12 vgl. Colomina, Wigley 2016:162/163, A 4.3

403

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

Auf der Basis des neu gefassten Konzepts der Concerns wurden Tools und Methoden entwickelt, die in Projekten des Transformation Designs produktiv werden sollen. Auf der Basis theoretisch fundierter Begriffe und aus den praktischen Anforderungen in der Gestaltung und Beratung wurden Diagramme entwickelt, die im Prozess des Concern Designs genutzt werden. Die Diagramme zeigen Funktionszusammenhänge für die verschiedenen Phasen von Transformationsprozessen. Sie verbinden sich mit angepassten Methoden zu einer neuen Praxeologie1 und sollen als Ausgangspunkte für weitere Entwicklungen verstanden werden.2 Bisher wurden drei Diagramme entwickelt und publiziert: die Concern Canvas (Analyse), die Kulturellen Formate (Synthese) und der Hyperzyklus der Transformation3 (Projektion). Neben der Vorstellung der Diagramme werden auch Methoden und Kontexte diskutiert. Als beispielhaft für die selbstbezügliche Konzeption von Inhalt und Form der Concerns wird Jean-François Lyotards Modellierung des »libidinösen ›Körpers‹« als Möbiusband vorgestellt.

5.1 Die Concern Canvas Die Concern Canvas ist ein Diagramm, das dabei hilft, die Ausgangslage für komplexe Projekte des Transformation Designs besser zu strukturieren.4 Dabei bezieht sie sich auf zwei Fragestellungen, die von Latour formuliert wurden:

1 vgl. 2.4 2 Der aktuelle Stand wird im Netz als open source zur Verfügung gestellt, um einen Austausch zur Entwicklung weiterer Tools zu ermöglichen, vgl. www.designingtransformation.org 3 vgl. A 7.1 4 Das Schema der Concern Canvas ist an Modellen orientiert, die als Business- und Projekt-Canvas bekannt sind und die sowohl analytisch als auch operativ wirksam werden, vgl. »Business Model Canvas«, https://strategyzer.com/canvas und »Maker Project Canvas«, http://patternbuffer.com.

406

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

• Wie artikulieren sich die »weltbildenden Aktivitäten« [RA:561] der Beteiligten? • Wie ist der Darstellungsraum strukturiert, in dem die gemeinsame Entwicklung von Designprozessen stattfindet?5 Die Concern Canvas dient dazu, das Wissen über die Anspruchsgruppen zu strukturieren sowie Leerstellen zu erkennen und diese durch Beobachtung, Interviews oder Spekulation zu füllen. Dazu werden verschiedene Instanzen in einem Schema positioniert und in Beziehung gesetzt (Abb. 71). Das Transformation Design befragt alle Instanzen unter dem Aspekt ihrer Gestaltbarkeit (Designability). Damit sollen geeignete Ansatzpunkte zum Einbringen von Designleistung gefunden werden. Für den internationalen Gebrauch wurde die Concern Canvas im Netz auf Englisch beschrieben: »The Concern Canvas is … … a diagram that helps to analyze complex socio-psychological dynamics … makes you understand what drives the stakeholder’s minds and actions … helps to find the best starting points for intervention, innovation and design … builds a common ground for teams of designers and non-designers … transforms a »battlefield of interests« into a »trading zone of knowledge«6

5.1.1 Das Schema Als Einf lussgrößen werden folgende Instanzen definiert:7 • • • • • •

Werte (values) z.B. Menschenrechte, Religion, Frieden, Würde, … Concerns individuelle und sozio-psychologische Konstellationen Ereignisse (events) raumzeitliches Geschehen, das ein Subjekt auf sich bezieht Rahmungen (frames) Wahrnehmung und Bewertung von Ereignissen8 Themen (issues) kommunizierbare Einzelaspekte der Rahmungen9 Fakten (facts) Gegenstände, die Bedeutung und Handlung mitbestimmen

5 vgl. Latour 2004b: »Which protocol for the new collective experiments?« 6 https://designingtransformation.org/the-concern-canvas 7 Hier werden teilweise die englischen Begriffe verwendet, die in der Literatur bereits eine feste Bedeutung haben und zu denen der Begriff der Concerns passend gebildet wurde. 8 »Frames« werden verstanden wie in Gof fmans Theorie der Rahmungen und der Interaktion, die über Michel Callon Eingang in die Konzeption der ANT fand, vgl. Gof fman 1980, Callon 1998. 9 »Issues« werden verstanden als eine Setzung von öffentlich und politisch wirksamen Themen, vgl. »No issue no public« [Marres 2005].

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate Which values can you identify in the stakeholder’s world?

values

concerns

events frames

Designability?

Which concerns drive the stakeholder’s frames of mind? Can you influence them?

Which events are experienced by the stakeholders? Can you design alternatives?

Which frames are used by the stakeholders? Can you design alternatives?

Which issues drive the stakeholder’s frames of mind? Can you influence them?

issues Which facts can you identify in the stakeholder’s world?

facts

Version b 05, March 20, 2023

The Concern Canvas. Idea & concept: Peter Friedrich Stephan. Design: Enno Hyttrek. Contact: [email protected] This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial 4.0 International License. To view a copy of this license, visit http://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ or send a letter to Creative Commons, PO Box 1866, Mountain View, CA 94042, USA

Abb. 71: Die Concern Canvas zeigt Concerns im Kontext. Auf jeder Ebene werden Fragen zur »Designability« gestellt, um Ansatzpunkte für das Design zu finden [Konzept: PFS, Grafik: Hyttrek]

5.1.2 Die zentrale Frage: Designability? Die Concern Canvas soll dazu beitragen, Ansatzpunkte für die Gestaltung zu finden. Die Frage der »Designability« wird daher an alle Instanzen des Schemas gerichtet. Im Zentrum der Concern Canvas (Abb. 71) steht die Agency. Diese setzt sich zusammen aus den Interaktionen und Intraaktionen von Subjekten und Objekten, Regeln und Institutionen.10 Diese komplexen raumzeitlichen Ereignisse (events) können sehr unterschiedlich erlebt und bewertet werden, was von den jeweiligen individuellen Rahmungen (frames) abhängt. Diese bestimmen Wahrnehmungen, Handlungen und Entscheidungen und sind ihrerseits vertikal eingespannt zwischen Concerns und Themen (issues). Diese wiederum sind verbunden mit Werten (values) und Fakten (facts).11 Die im Schema der Concern Canvas gestellten Fragen lauten von oben nach unten:12 10 vgl. Intraaktionen im Sinne Karen Barads, die eine Agency konzipiert, die nicht von Akteuren ausgeht, sondern diese erst hervorbringt (vgl. B 4.9). 11 Die Gesamtkonstellation mit Werten und Fakten als Extremwerte mag an ein bekanntes Schema erinnern: »Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräf te und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.« (Friedrich Schiller: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, 27. Brief, 1795) 12 Hier werden wie im international eingesetzten Diagramm die englischen Begriffe verwendet, um keine Unschärfen der Übersetzung zu erzeugen.

407

408

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

• • • • • •

Which values can you identify in the stakeholder’s world? Which concerns drive the stakeholder’s frame of mind? Can you inf luence them? Which events are experienced by the stakeholders? Can you design alternatives? Which frames are used by the stakeholders? Can you design alternatives? Which issues drive the stakeholder’s frame of mind? Can you inf luence them? Which facts can you identify in the stakeholder’s world?

Entscheidend ist, dass alle Instanzen der Concern Canvas in einem Wirkungsgefüge13 verbunden sind. Es werden hochvolatile Wechselwirkungen unter den Instanzen angenommen, die sich untereinander gleichwertig beeinf lussen. Ein Ausschnitt möglicher Wechselwirkungen könnte so beschrieben werden: Aus den Ereignissen und ihren Rahmungen ergeben sich Themen, die als abgrenzbare Aspekte bearbeitet und kommuniziert werden können. Diese Themen werden repräsentiert durch Zeichen und Artefakte (facts). Ebenso ist aber auch eine umgekehrte Beeinf lussung möglich, indem die Fakten sich zu Themen entwickeln und darüber in die Rahmungen einf ließen. Das Gleiche gilt für Concerns, die als psychisch wirksame Konstellationen die Rahmungen mitbegründen und dadurch das Erleben der Ereignisse prägen. Über die Zeit verdichten sich aber auch verschiedene Erlebnisse zu Erfahrungen, die ihrerseits die Concerns und längerfristig auch die Werte verändern. Die Arbeitsgebiete der Designer als Artefakte, Services und Systeme können in das Schema eingetragen werden. Nach dem oben beschriebenen Code von Irritation und Normalisierung wird die Gestaltbarkeit durch praktische Interventionen auf den verschiedenen Ebenen untersucht. Da sich das Transformation Design besonders mit transdisziplinären und interkulturellen Projekten beschäftigt, sind die unterschiedlichen Rahmungen von Ereignissen und die daraus abgeleiteten Themen und Concerns wichtige Aspekte zur Bestimmung einer angemessenen Methodik.

5.1.3 Die Concern Canvas als Treffpunkt, Schauplatz und Protokoll Die Concern Canvas und die damit eingeführten Symbole verhelfen den Concerns von Anspruchsgruppen zum Ausdruck durch … • …  einen Treffpunkt (common ground), in den heterogen zusammengesetzte Anspruchsgruppen (stakeholder) ihre Sprach- und Zeichenformen eintragen können • …  einen Schauplatz, auf dem die Einf lussgrößen für »weltbildende Aktivitäten« [ibid.] gezeigt und die Grundlage für ein Verständnis der unterschiedlichen Vorstellungswelten und Artikulationsweisen gelegt werden • …  einen ersten Schritt zu künftigen Protokollen, die das gemeinsame Handeln unterschiedlicher Gruppen erst ermöglichen im Sinne des ex ante.14

13 Im Sinne von Deleuze/Guattaris Begriff des »agencement«: »Die Herausgeber haben sich entschieden, den französischen Begriff ›agencement‹ in diesem Buch durchgängig mit ›Gefüge‹ zu übersetzen. ›Agencement‹ bedeutet im Alltagsfranzösisch so viel wie Einrichtung, Anordnung, Aufstellung oder Arrangement und wird hauptsächlich im handwerklichen Bereich verwendet. [MP:12] 14 vgl. B 8.11.1

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

5.1.4 Die Selbstorganisation der Instanzen Bei der Bestimmung der Instanzen wird ein Verständnis vorausgesetzt, wie es im radikalen Konstruktivismus für »weltbildende Aktivitäten« [ibid.] formuliert wurde: Die menschlichen Akteure sind mit ihrer Umwelt strukturell gekoppelt, aber informationell geschlossen. Sensorische Impulse werden empfangen, aber nur ein geringer Teil davon geht in die Wahrnehmung ein und wird kognitiv und emotional verarbeitet. Eine unmittelbare Übertragung von Information ist nicht möglich. Das psychische System interpretiert die von ihm selbst generierten Zustände unter loser Kopplung mit Sinnesdaten.15 Dieses Modell spricht für einen weitgehend selbstorganisierten Austausch zwischen den Instanzen, dessen energetische und informationelle Dynamik kaum kausal beschreibbar ist.

5.1.5 Kritik und Abgrenzung: Anti-Metapher Das Schema der Concern Canvas produziert – wie jede andere Darstellung – semantische Überschüsse. So wird durch die vertikale Anordnung ein hierarchischer Auf bau suggeriert. Die Instanzen Werte und Fakten erscheinen als weit auseinander positioniert, was einer traditionellen westlichen Trennung und Anordnung von Geist (oben) und Materie (unten) entspricht.16 Ein Anliegen der Concerns Canvas ist es jedoch, Werte und Fakten in ihrer Verbindung zu zeigen, was erst später in der Modellierung als Möbiusband deutlich wird (vgl. 5.2.1, 6.1). Eine horizontale Anordnung wiederum würde eine zeitliche oder kausale Abfolge nahelegen, die aber ebenfalls nicht beabsichtigt ist. Es bleibt daher zu berücksichtigen, dass die Concern Canvas – wie jedes Schema und auch jede sprachliche Darstellung – notwendig unvollständig und irreführend ist, aber als erste Annäherung und Arbeitsmodell nützlich sein kann. Auch jede andere Visualisierung wird Konventionen der Darstellung aufnehmen oder zurückweisen müssen und damit Stärken und Schwächen haben. Diesem prinzipiellen Problem kann nur mit einer Vielfalt von Visualisierungen begegnet werden, die sich jeweils auf verschiedene Aspekte fokussieren.17 Die Concern Canvas ist keine Metapher. Andere Schemata – wie etwa das EisbergModell (vgl. 6.3.2) – arbeiten mit eingeführten Metaphern. Das dadurch ermöglichte leichtere Verständnis wird teuer erkauft durch die dort eingeschriebenen und nicht explizit gemachten Bedeutungen. Die Concern Canvas dagegen lehnt unterschwellig suggerierte Plausibilitäten ab und besteht darauf, für alle geltend gemachten Einf lussfaktoren passende Ausdrucksformen zu finden, die dann im Schema artikuliert werden können. Die Übernahme von Metaphern ist dabei kontraproduktiv, da diese Konventionen bestätigen, die gerade infrage gestellt werden sollen.18

15 vgl. exemplarisch Schmidt 1987 16 vgl. »Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.« [Friedrich Schiller 1799: Wallensteins Tod II] 17 vgl. B 5.2 18 vgl. 6.4.1

409

410

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

5.1.6 Beispiele für Top-down und Bottom-up Prozesse Als Beispiel für einen Top-down Prozess bei der Modellierung von »weltbildenden Aktivitäten« [ibid.] kann der prägnante Sonderfall eines Klosters gelten: Die religiösen Werte prägen die meisten Concerns, die in der Folge die Auswahl der Rahmungen und damit das Erleben bestimmen. Die zu bearbeitenden und zu kommunizierenden Themen werden dadurch eingrenzt, um schließlich den Umgang mit Fakten und Objekten zu prägen. Im Allgemeinen werden die Werte jedoch vielfältiger und weniger eindeutig sein als in diesem Beispiel und sich auch über längere Zeiträume als wandelbar erweisen. Ein Beispiel für einen Bottom-up Prozess wäre etwa die Einführung neuer Artefakte (Facts), die die Art und Weise von Handlungen und Kommunikationen verändern. Solche Prozesse ließen sich für technische Kommunikationsmittel nachzeichnen. So begründete die Einführung der SMS neue kulturelle Formate, die bestimmen, was wann und wie kommuniziert werden kann.19 Der Concern »Privatheit« etwa hat durch digitale Medien eine neue Auf ladung und Umcodierung erfahren, indem er entweder neue Relevanz gewinnt im Sinne des Schutzes digitaler Daten oder an Relevanz verliert, weil eine neue Generation von Mediennutzern die mangelnde Privatheit im Digitalen als unkritisch bewertet. Artefakte setzen neue Themen, die die Rahmungen von Erlebnissen beeinf lussen. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Modellierung von Concerns, was schließlich Verschiebungen in den Werten bewirkt.

5.1.7 Latours Beispiel des »Tasers« in der Concern Canvas Um auf ein Beispiel Latours zurückzukommen20: Die Elektroschockwaffe Taser kann als Artefakt mit Hilfe der Concern Canvas als matter of concern analysiert werden. Das Diskurs- und Erfahrungsfeld »öffentliche Sicherheit« wird umstrukturiert durch die Einführung neuer Optionen, die »weltbildenden Aktivitäten« [ibid.] des Tasers. Dazu gehören zum eine die Netze, die zur Erfindung und Herstellung des Tasers führten, als auch die durch den Taser eröffneten neuen Handlungsräume. Im Sinne der Dingpolitik ist der Taser hier – ganz nach Latours Definition – als Akteur aufzufassen: (…) das bewegliche Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hinströmen.21 Die Concern Canvas stellt diese »Entitäten« integrativ dar. Dazu gehören neben rationalen Argumenten auch die damit verbundenen Empfindungen, Vorurteile und Werte. Erst so entspricht das Schema dem von Latour gesuchten »(…) protocol for the new collective experiments (…)« [Latour 2004b]. So lassen sich etwa Themen wie »Stromschlag« und »unschädlich machen« auf verschiedene Rahmungen beim Einsatz des Tasers beziehen wie Straßenkämpfe und Terrorabwehr (Bottom-up). Top-down dagegen lässt sich etwa der Wert »Sicherheit« übersetzen in die Concerns »Verhältnismäßigkeit« und »De-Eskalation«. Über die Einführung von weiteren Instanzen (Issues, 19 Die Auswirkung zunehmend mobiler Medien auf soziale Formen wurde untersucht als: »Das Versprechen mobiler Freiheit – Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy« [Weber 2008]. 20 vgl. B 9.6 21 vgl. NSoz:81, B 4.7, 8.1.1

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

Events/Frames, Concerns und Values) kann der komplexe Gegenstand samt seiner ihn umgebenden Politik differenziert werden. Die Behandlung des Themas bei Latours Studenten dagegen lieferte nur eine mechanische Analyse des Artefakts Taser sowie eine Auf listung von Pro- und Kontra-Aussagen, ohne diese beiden Dimensionen jedoch in Beziehung setzen zu können. Die Projekte blieben damit genau jenen erweiterten Darstellungsraum schuldig, den Latour eingefordert hatte.

5.2 Modellierung von Concerns und Kontexten als Möbiusband Die vorgestellte Concern Canvas entspricht in ihrer Darstellung und den zugeordneten Fragen einem ersten analytischen Zugang zum Komplex der Concerns und den umgebenden Instanzen. Es wurden aber auch Grenzen und Fehldeutungen des Modells bemerkt und die Aufgabe formuliert, die Instanzen in nicht hierarchischer Weise sowie in dynamischer Wechselwirkung darzustellen. Dafür bietet sich die Figur des Möbiusbandes an, wie sie Lyotard für die sich ständig ändernde Gestalt des »libidinösen ›Körpers‹« [ÖW] entwickelt hat (Abb. 72). Diese Figur wird auch bei Latour angesprochen: »The new feeling of sliding along a Moebius strip.« (Abb. 73)22

5.2.1 Das Möbiusband Das Möbiusband trennt nicht zwischen innen und außen, sondern kreiert eine hermetische Welt (Abb. 72). Traditionelle Zuordnungen (zumindest in der westlichen Weltsicht), wie die von inneren Werten und äußeren Zwängen, lassen sich daher nicht aufrechterhalten. Eine Modellierung der »artifiziellen Organisation« von Concerns als Möbiusband nimmt nicht in Anspruch, alle damit verbundenen methodischen und epistemologischen Fragen zu lösen. Die Idee ist lediglich, mit den Mitteln des Designs eine Darstellung von »weltbildenden Aktivitäten« [ibid.] anzubieten, die es ermöglicht, das Material zu veranschaulichen und der Diskussion zugänglich zu machen. Es geht darum, sich den »Wie?«-Fragen des Transformation Designs zu nähern und neue Schauplätze für künftige Debatten durch Modelle anzuregen. Das Möbiusband steht für sich, es teilt oder produziert keinen Raum. Die geometrische Form ist endlich und abgeschlossen, erlaubt aber endlose Durchgänge auf einer einzigen Fläche, die nicht als Ober- oder Unterseite unterschieden werden kann. Ereignisse und Positionen auf dem Band sind jeweils nur situativ bestimmbar und können sich bei jedem Durchgang verändern. Darüber hinaus bezieht sich die Figur des Möbiusbandes nicht auf ein Drittes, das von ihm ein- oder ausgeschlossen wäre wie bei anderen geometrischen Figuren. Das Möbiusband verhält sich nur zu sich selbst und erzeugt damit einen Wert, den es gleichzeitig darstellt und aufführt.23 22 Vortrag von Bruno Latour: »How to better Register the Agency of Things: Ontology, The Tanner Lectures in Human Values«, https://www.youtube.com/watch?v=1uMO_7aXcFw 23 Ranulph Glanville bemerkte dazu: »We can think (metaphorically) of the circle as doing something: it distinguishes two spaces. Through that, it creates some value. We could say the purpose of the line is to separate inside from outside (…). If that is so, how do we conceive the Möbius line? It has no value in separating space (even if to the observer viewing from above it seems to do so). So what might its

411

412

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Abb. 72: Concerns und Kontexte auf der Möbiusschleife, links: Möbiusschleife mit Instanzen, rechts: angedeuteter Austausch von Intensitäten [Modell: PFS] Im Modell des Möbiusbandes sind keine Hierarchien zwischen den Instanzen mehr feststellbar. Abstände und Wechselwirkungen sind durch die komplexe Geometrie nur noch situativ und nicht mehr absolut zu bestimmen. Ein interner Beobachter müsste sich auf dem Band selbst platzieren, wo Instanzen und Wechselwirkungen immer nur situativ beschrieben werden können, etwa als: »bei diesem Durchgang oben, beim nächsten unten«. Wollte man eine Meta-Instanz einsetzen (etwa die Vernunft), so müsste diese ebenfalls auf der einzigen Fläche platziert sein und könnte daher nie das gesamte Modell überblicken. Die Aktivitäten und Intensitäten auf dem Möbiusband werden als selbstorganisierend und emergent konzipiert. Das Band befindet sich zwar in einer Umwelt, aber da es kein Außen kennt, sind keine unmittelbaren, kausal eindeutigen Einf lussnahmen möglich. Insofern entspricht dieser Auf bau auch dem konstruktivistischen Erkenntnismodell der informationell geschlossenen Subjekte, auf das sich der Concern Ansatz bezieht.

5.2.2 Der »libidinöse ›Körper‹« (Lyotard) Das Modell des »libidinösen ›Körpers‹« bildet den Ausgangspunkt von Jean-François Lyotards »Ökonomie des Wunsches« [ÖW:13].24 Diese will zu enge ökonomische Vorstellungen erweitern, indem der Austausch libidinöser Energien ins Zentrum gestellt wird.25

purpose be, where might its value reside? The way I conceive this is that its value is in itself. Since it distinguishes itself rather than inside and outside spaces, what else could be its value? All it does is be itself: it has no being through its effect on the plane. The circle’s edge may be interpreted as separating spaces, but the Möbius line is just itself. In terms of Spencer-Brown, the mark that, metaphorically, is the circle creates the value that is making the inside (and outside), whereas the mark that, metaphorically, is the Möbius line can only create the value of being the Möbius line. The value lies inside (and outside) the circle, the value lies in or on the Möbius line.« [Glanville 2010:101] 24 Fast 50 Jahre später erscheint dieser Begriff als attraktiv genug, um damit Luxusfahrzeuge zu bewerben. So nennt Mercedes-Benz seine aktuelle Strategie »Ökonomie des Begehrens«, https://www. faz.net/aktuell/wirtschaf t/unternehmen/mercedes-setzt-auf-luxus-a-und-b-klasse-koennten-verschwinden-18043464.html (18.05.2022) 25 Dieser Ansatz geht ähnlich wie bei Deleuze/Guattari darauf zurück, enttäuschte revolutionäre Hoffnungen der 1960er Jahre zu verarbeiten. Lyotard war von 1950-1963 Mitglied in der Gruppe »Socialisme ou Barbarie«, https://en.wikipedia.org/wiki/Socialisme_ou_Barbarie

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

Die Verbindung zu Tardes »Ökonomie der leidenschaftlichen Interessen«26 sollte offenbar sein, wurde aber bisher – so weit zu sehen – kaum bemerkt. Der »libidinöse ›Körper‹« besteht aus miteinander verwobenen Intensitäten und kann nur noch in Anführungszeichen als »Körper« bezeichnet werden, denn er ist kein organischer Gliederbau, sondern vielmehr dessen »Gegenteil«.27 Dieser »libidinöse ›Körper‹« soll modelliert werden mit der Vorgabe, nicht zwischen Ober- und Unterseite, präsenten und abwesenden Einheiten zu unterscheiden. Dafür entwickelt Lyotard das Modell eines Möbiusbandes: Alle diese Schichten verknüpfen sich zu einem Band ohne Rückseite, zu einem Möbiusband, das nicht deshalb interessant ist, weil es geschlossen ist, sondern weil es nur eine Seite hat, zu einer Möbiushaut, die nicht glatt, sondern (ist das topographisch möglich?) von Unebenheiten, Winkeln, Krümmungen und Einbuchtungen völlig bedeckt ist, die beim »ersten« Durchlauf lauter Vertiefungen sein können, beim »zweiten« aber vielleicht Wölbungen. [ÖW:13] Lyotard spricht die Machtfragen der Kartierung an und bemerkt zu seinem Modell des Möbiusbandes: Niemand hat die Macht, eine Karte des großen Hautfilms zu zeichnen; von außen gesehen (aber er hat keine Außenseite) könnte er wie ein monströses Tier erscheinen, und die Teile, aus denen er zusammengesetzt ist, würden sich durch unvorhersehbare Modulationen verändern, mit der gleichen erschreckenden Leichtigkeit auftauchen und verschwinden wie Bilder auf einer Leinwand. [ÖW:60] Auffällig ist, dass diese Beschreibung in vielen Hinsichten Latours Postulaten entspricht: Das Möbiusband hat keine Tiefe, sondern es ist f lach. Es bleibt bei Skalierungen erhalten, bietet also keinen Zoom durch die Dimensionen an.28 Damit erscheint es als geeignet, die »soziale Materie« [ÖkW:21] im Sinne Latours und Tardes zu repräsentieren, auf dem die »(…) sich überkreuzenden Vektoren und Tensoren des Begehrens und der Überzeugung« [ÖkW:21] frei f lottieren. Lyotard konzipiert das »Gewebe des libidinösen ›Körpers‹« als eine unwahrscheinliche Kombination heterogener Bestandteile aus Natur und Artefakten sowie unabsehbarer Mengen singulärer Objekte, wie sie für die Handlungsketten der ANT typisch sind: Man muss (…) das grenzenlose Gewebe des libidinösen »Körpers« entwickeln, das völlige Gegenteil eines Gliederbaus. Dieses Gewebe besteht aus den unterschiedlichsten Stoffen, aus Knochen, Schleimhautzellen, aus Schreibpapier, aus vibrierenden Lüften, aus Metallen, aus Glas, aus Völkern, Gräsern und Malerleinwand. [ÖW:13] Hier bietet sich eine Parallele aus dem Design an. So schrieb die italienische Designgruppe Superstudio, simultan zu Lyotard in den 1970er Jahren als design fiction avant la lettre:

26 vgl. B 7.4 27 vgl. 2.5.2 28 Dies hatte Latour bei Eames’ »Powers of Ten« kritisiert, vgl. 8.10.3.

413

414

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

These are the objects we’ll carry with us: some strange, pressed flowers, a few videotapes, some family photos, a drawing on crumpled paper, an enormous banner of grass and reeds interwoven with old pieces of material which once were clothes, a fine suit, a bad book (…). [Superstudio 1972:247] Wie bei Lyotards Konzeption des »libidinösen Gewebes« geht es auch bei Superstudios Reiseutensilien um eine Sammlung heterogener Objekte. Diese werden im Hinblick auf ihre Besetzung mit Emotionen und Affekten ausgewählt, und ihre Organisation wird durch visuelle und sprachliche Bilder dargestellt/erzeugt. Dieser Ansatz entspricht dem Konzept der Concerns als eine poetisch offene, assoziative Darstellung.

5.2.3 Latours Modell des Möbiusbandes Auch Latour bezieht sich explizit auf das Modell des Möbiusbandes zur Veranschaulichung seines Slogans: »Als ob es ein Außen gäbe«. Dabei weist er darauf hin, dass es im ökologischen System Erde kein Außen gibt, da alles in Wechselwirkung verbunden ist.29 Latour interpretiert die Position des Menschen dabei immer materialistisch und stellt fest, dass der menschliche Körper nur innen bleiben kann: in »envelopes« mit lebenserhaltenden Systemen.30 Was Latour jedoch nicht erkennt ist, dass die Entscheidung über die Grenze zwischen innen und außen relativ zu einem Beobachter ist. Dazu gehört die Tatsache, dass menschliche Körper auch zum »envelope« werden können, wenn sie etwa chemische Substanzen oder Nanomaschinen in sich aufnehmen.31



Abb. 73: Latour: »The new feeling of being sliding along a Moebius strip«32

29 Ähnliches hatte Ulrich Beck mit seinem Konzept der »Weltinnenpolitik« [Beck 2010] formuliert, ebenso wie Peter Sloterdijk mit seinem Begriff des »Weltinnenraums« [Sloterdijk 2006]. 30 In seiner Lecture-Performance »Inside« weist Latour darauf hin, dass auch das berühmte Bild der blauen Weltkugel, das als neuer Blick von außen auf die gemeinsame Heimat des Planeten Erde verstanden wurde, nur möglich war, weil die Astronauten sich immer noch innerhalb ihrer lebenserhaltenden Systeme aufhielten, ohne das Außen je erreichen zu können, https://www.youtube.com/watch?v=yISs7KeiuMY 31 vgl. 2.7.1 32 Vortrag von Bruno Latour: »How to better Register the Agency of Things: Ontology, The Tanner Lectures in Human Values«, https://www.youtube.com/watch?v=1uMO_7aXcFw (7:43 min)

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

Mit der Modellierung als Möbiusband (Abb. 73) sind auch bei Latour Fragen nach den Bedingungen der Repräsentation verbunden, wie sie bereits bei der Diskussion um das Theater und die Rahmungen der Szenografie gestellt wurden.33 Doch während Latour seine matters of concern noch als inszenierte, auf einer Bühne präsentierte Fakten definierte, lehnt Lyotard den Begriff eines »Libido-Theaters« ab:34 Das unendliche Band (…) hat keine zwei Seiten, sondern nur eine einzige, also weder Außen noch Innen. Es ist also ganz bestimmt kein Libido-Theater, kein geschlossener Raum, weil die Intensitäten mal hier, mal da verlaufen, sich aufbauen und verschwinden, ohne dass man sie jemals in den Bühnenraum eines Theatersaales, in eine Szene einsperren könnte. [ÖW:13/14]

5.3 Kulturelle Formate Schon bei der Diskussion von Stufenmodellen des Designs wurde deutlich, dass Übertragungen zwischen den Kompetenz- und Handlungsebenen des Designs als problematisch erscheinen.35 Traditionelle Designfelder gehen häufig vom Material aus und sind dadurch eher faktenorientiert, während Gebiete wie das Service- und SystemDesign durch Strategie- und Organisationsfragen geprägt sind. Entscheidend für die Qualität des Transformation Designs ist aber die Anerkennung von Wechselwirkungen: Die Beobachtung materieller Praxen soll ein Ausgangspunkt sein für die Entwicklung von Konzepten für die komplexen Aufgaben der Transformation, während von diesen gleichzeitig verlangt wird, auch in materiellen Realisationen wirksam zu werden (»make transformation tangible«)36. Für dieses Arbeitsfeld der gegenseitigen Inspiration und Steigerung der beiden Bereiche werden der Begriff und das Schema »Kulturelle Formate« vorgeschlagen.37

5.3.1 Kulturelle Formate als Verhandlungszone Das Konzept der kulturellen Formate antwortet auf die moderne Bifurkation von Kultur und Natur mit einem jeweils praktisch realisierten, lokalen und situierten Kultur/ Naturverhältnis. Im Sinne Latours sollen »Multikulturalismus« und »Mononaturalis-

33 vgl. B 3.2.5 34 vgl. 2.5.1 »Fabrik vs. Theater?« 35 vgl. A 6 36 vgl. den gleichlautenden Titel einer Veranstaltung an der Freien Universität Bozen 2019, https://socialdesign.de/by-design-or-by-disaster-make-transformation-tangible 37 Die so bezeichnete Vermittlung durch das Design wurde bereits klassisch formuliert von Heinrich Heine, wenn auch nur einseitig: »Freilich, die geistigen Interessen müssen immer mit den materiellen Interessen eine Allianz schließen, um zu siegen.« [Heine 2021/1834:31] Der Begriff Kultur wird hier wie von Roland Barthes vorgeschlagen als »Anerkennung von Kräften« verstanden: »Kultur als »Dressur« (≠Methode) verweist in meinen Augen auf das Bild eines unschlüssigen, regellosen Vorgehens auf exzentrischer Bahn: zwischen Wissensbrocken herumsuchen, Wissensgrenzen missachten, Wissensbestände abschmecken. Paradoxerweise widerstrebt Kultur in diesem Sinne, als Anerkennung von Kräften, der Idee der Macht (die in der Methode liegt). (Wille zur Kraft ≠ Wille zur Macht).« [Barthes 2007:39]

415

416

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

mus« [PD:274/275] überwunden werden durch praktische, sozial wirksame Gestaltung. Damit wird auch die Zuschreibung von »primären und sekundären Qualitäten« aufgelöst:38 Die Herrschaft der Materie – jenes Amalgams aus Reproduktion [REP], Referenz [REF] und dem Politischen [POL] – über das Reich der primären Qualitäten hat die Modernen verpflichtet, irgendwo anders alle sekundären Qualitäten unterzubringen, auf denen Subjektivitäten, Gefühle, Sinn, kurz »das Erlebte« beruhen. [Exw:334] Kulturelle Formate werden als Verhandlungszonen sozialer und materieller Formen aufgefasst. Hier findet die von Latour genannte Tätigkeit der Zusammensetzung von Welten statt, wie sie im Compositionist Manifesto beschrieben ist [Latour 2010]. Kreation und Interpretation sind dabei verbunden39, wie es auch in der Praxeologie konzipiert wird: Die Vielfalt der faktischen Eindrücke verdichten sich zu sozial wirksamen Erfahrungen, während sich soziale Qualitäten in konkreten materiellen Praxen artikulieren. Kulturelle Formate bearbeiten und gestalten das Verhältnis von res cogitans und res extensa40 sowie Perzepten und Affekten in einer »molaren Organisation« im Sinne Deleuze/Guattaris (vgl. 2.5.3).41

38 vgl. Latour: Do Objects Reside in res extensa and If Not, Where are They Located? Video https://www. youtube.com/watch?v=PFM6aFm3wDc (15:10 min, »An object is always a project«, 28:42 min.) 39 vgl. den Kommentar zu Latours »Compositionist Manifesto«: »The compositionist, reconstructive method takes its inspiration from artistic practice (be it literary, pictorial, musical, visual, performative). By definition noncritical or postcritical, compositionism is a postproduction activity, an alternative process of creation-interpretation, of (re)composing and reordering the life inherent in various types of beings – an open laboratory for the collective redistribution of figures«. [Pavel 2017:158] 40 vgl. »Da das Außen zu rasch angefüllt wurde durch die ungeschickte Geste der Expansion der Referenzketten (…) ist vielleicht auch das Innen nur das Resultat einer anderen ungeschickte Geste (…) der Unterbringung, in jedem Falle der Logistik: ›Sorry, unsere res extensa ist schon voll; lassen Sie sich woanders einquartieren!‹ [Exw:274] sowie »Alle vermeintlich transzendentalen Grundlegungen sind letzten Endes gezwungen, sich auf eine Tatsache, ein rohes Faktum zu berufen: dass es Erfahrung gibt (Kant); dass es eine Lebenswelt gibt (Husserl). Umgekehrt existiert die Idee einer Tatsachenwissenschaf t, die nicht auch eine Ontologie enthielte, immer nur in der Phantasie von Wissenschaf tlern, als ein in sich widersinniges Phantasma, das als solches schon – und erst recht, was seinen Inhalt angeht – eine ganz spezifische Metaphysik verrät, und zwar eine besonders widersinnige.« [Castoriadis 1997:552] zu Lyotards Bezug auf Castoriadis vgl. ÖW:175-179 41 vgl. »(…) jede Politik ist zugleich Makro- und Mikropolitik. Ob nun Ensembles vom Typus Wahrnehmung oder vom Typus Gefühl: ihre molare Organisation, ihre harte Segmentarität, schließt keineswegs einen ganzen Kosmos von unbewussten Mikro-Perzepten, unbewussten Affekten und feine Segmentierungen aus, die nicht dieselben Dinge erfassen oder erleben, die sich anders verteilen und die anders vorgehen. Eine Mikropolitik der Wahrnehmung, der Empfindung, des Gesprächs etc.« [MP:290/291]

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

5.3.2 Das Schema Die Gestaltung der kulturellen Formate betrifft vor allem die Aspekte • Verhaltensweisen und Umgangsformen (awareness) • Erwartungen und Absichten (anticipation) • Artikulation und Ausdruck (literacy)

Cultural Formats awareness – anticipation – literacy

) o per langu logy cep age a f fe t i o n de c t p a s s ir e si o n

opi s n at t i io n t ud e

concerns

ices serv tion a e duc h healt y ilit mob it y r secu s s t at u …

soci al en so c io v (sig -psyc h n

on excha ties ӎc n si inte tives mo

lt “ we ns be

ent - context m ”le n le“ o ina e th r d i i ib valu ics ie l ge n e om

ce spa y b o d t ur e itec a rc h a nis m ur b

un

facts

ma ter sma ials r bio t nan hy b o r id

ive

tim rh e dr a y t hm ma s o u t ur g y nd

cultural formats e her o sp atm let tes pa hesia es t s y na o l o r c r o do

r s al e x p e

c rie n

es

Abb.74: Kulturelle Formate werden geprägt von Concerns und Fakten [Konzept: PFS, Grafik: Hyttrek] Das Schema der »Kulturellen Formate« (Abb. 74) bietet einen Schauplatz für Fragen nach den Wechselwirkungen von Concerns und Fakten: • Wie finden Energien und Intensitäten zu ihrem gegenständlichen Ausdruck als Fakten? Und umgekehrt: • Welche Agency entfalten die raumzeitlich bestimmten Fakten für die Modellierung von Affekten und Gefühlen? Und zusammenfassend: • Können beide Bereiche in gegenseitiger Durchdringung und Steigerung bearbeitet werden in der integrativen Gestaltung kultureller Formate?

417

418

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Mit »Fakten« werden dabei alle materiellen Gegebenheiten bezeichnet, die Gegenstand formal-ästhetischer Gestaltung sind. So finden sich in der unteren Hälfte des Schemas alle sinnlich affizierenden Qualitäten, wie Raum (Körper, Architektur), Zeit (Rhythmus, Dramaturgie), Material (Bio, Nano) sowie deren Kombinationen zu subtilen Qualitäten wie Atmosphäre (Farbe, Synästhesie). Diese bilden eine Gesamtheit der Sinneseindrücke als »universellen Erlebnisse«. Der Begriff der »Concerns« steht für die sozio-psychologischen Faktoren und deren Verbindung zu Verhaltensweisen, Haltungen und Werten. Die Concerns fächern sich auf in Affekte, Wünsche und Leidenschaften, Haltungen, Motive und Intensitäten. In Bereichen wie Bildung, Gesundheit und Sicherheit kann die Gestaltung Ansatzpunkte finden, in dem sie nach den damit verbundenen Concerns fragt. Solche Bereiche sind in der oberen Hälfte des Schemas versammelt und können als »Lebenswelt« im Sinne der Phänomenologie verstanden werden.

5.3.3 Historischer Bezug: Schema der Grundlehren am Bauhaus und der HfG Ulm Das kreisförmige Diagramm der kulturellen Formate bezieht sich auch auf die Visualisierung historischer Grundlehren: So standen bei der schematischen Darstellung der Lehre am Bauhaus die Kategorien »Bau, Bauplatz, Versuchsplatz, Entwurf, Bau- und Ingenieurwissen« im Zentrum (Abb. 75 links), während bei der Hochschule für Gestaltung Ulm die Grundlehre zentral platziert war (Abb. 75 rechts).

Politik

Politische Methodik Soziologie

Stadtbau

Architektur

Presse Rundfunk Grundlehre

Zeitgeschichte Produktform

Photo Film

Ökonomie

Werbung Information Philosophie

Psychologie

Abb. 75: Vergleichende Darstellung von Gestaltungslehren, links: Bauhaus [Wingler 1962:62], rechts: Hochschule für Gestaltung Ulm 195042 Damit ist zwischen der Konzeption des Bauhauses und jener der HfG Ulm eine Verschiebung von zentralen Was- zu den Wie-Fragen festzustellen. Das hier entwickelte Konzept verschiebt den Akzent erneut und beantwortet die Was-Frage neu mit kulturellen Formaten. Das Schema ist selbstverständlich auch selbst ein kulturelles Format und stellt daher Bezüge her, denen es selbst unterliegt. 42 »Frühe schematische Darstellung der Arbeitsfelder der geplanten HfG (Aicher 1950)« [aus Curdes 2006:7, Nachbau Hyttrek]

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

5.4 Prozessmodelle Ein Prozessmodell des Designs aus den 1990er Jahren fasst das Entwerfen auf als »3-Schritt-Prozeß der Kontingenzreduktion« [Jonas 1996:13]. Der Ausgangspunkt wird hier noch unscharf bezeichnet als »ein vages Gefühl von Unzufriedenheit« (Abb. 76 links unter »Analyse«). Dieser Punkt kann nun genauer bestimmt werden als ein Concern, der zum Anlass von Gestaltung wird. Hierbei ist nicht nur an Mangel, Probleme und ein »vages Gefühl von Unzufriedenheit« zu denken, sondern ebenso an Steigerungsformen des Lebens wie Lust, Freude und Schönheit.43

Abb. 76: »Entwerfen (designing) als 3-Schritt-Prozeß der Kontingenzreduktion« [aus Jonas 1996:13, auf Graustufen reduziert] Während ein traditioneller Designprozess nur als Weg vom Problem zur Lösung konzipiert wurde, zeigt sich in diesem Schema bereits die Notwendigkeit, die Problemdefinition zu untersuchen: Wie werden Ausgangsfragen, Ausschnitte der Beobachtung, Referenzsysteme und Zielvorstellungen formuliert? Sind Designer daran beteiligt oder arbeiten sie nur auftrags- und weisungsgebunden und übernehmen die Definitionen der Auftraggeber? Nach der Überwindung der Stufenmodelle und der Adaption des »Hyperzyklus« (vgl. A 7) zeigt sich, dass die Phase der Problemmodellierung ins Zentrum rückt. Für Aufgaben des Transformation Designs mit dem Problemtypus »super wicked«44 ist das klassische Schema von Problem und Lösung nicht mehr angemessen. Dessen Linearität wird die Dynamik des Ein- und Auszoomens vom Allgemeinen zum Speziellen und

43 vgl. 6.2, Tab. 6 44 vgl. 1.1

419

420

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

zurück gegenübergestellt.45 Der professionelle Kern formal-ästhetischer Gestaltung (Synthese) bleibt erhalten, wenn beim Auszoomen in die »Projektion« Stakeholder, Nutzer und Laien zur Bedarfsgestaltung und -ref lexion dazukommen und schließlich in der Ebene der »Analyse« alle denkbaren gesellschaftlichen Kräfte und Aspekte präsent sind.46 Eingeführte Unterscheidungen wie »Design – Co-Design – Collective Dreaming« oder »Design for people – Design with people – Design by people« [Sanders, Stappers 2014]47 benennen diese Ebenen zwar angemessen, sollten aber nicht als lineare Abfolge und gar als Fortschrittserzählung verstanden werden. Es gilt vielmehr, eine permanente Oszillation zwischen diesen Ebenen anzustreben und zu organisieren. Auf allen Ebenen ist jeweils das Verhältnis von Beobachtung und Intervention zu bestimmen. Dabei sind zwei Positionen mit jeweils spezifischen Vor- und Nachteilen (+/-) zu unterscheiden:48

von außen: Designer sind nicht Teil des Systems (+) bedingt mögliche Objektivität (–) fehlende Nähe von innen: Designer sind Teil des Systems (+) unmittelbare Erfahrung (–) mögliche Verzerrung durch partielle Sichten

5.4.1 Prozessmodell des Concern Designs Im Entwurfszyklus des Concern Designs wird auf jeder Stufe eines der vorgestellten Diagramme genutzt. Analyse: Concern Canvas, Projektion: Kulturelle Formate und Synthese: Hyperzyklus der Transformation. Damit sind jeweils spezifische Aufgaben und Fragen verbunden:

45 Die Anwendung von Thesen der ANT auf Themen der Architektur kommt zum gleichen Ergebnis, vgl. »Scaling Up and Down« [Yaneva 2005]. 46 Diese Richtung der Suchbewegung zu größeren Kontexten, ohne einen geordneten Kern zu verlieren, wird auch von der Perspektive der ANT eingenommen. Die vorher scheinbar klare Welt der Artefakte und der Dichotomien wie Problem/Lösung wird zunehmend bevölkert von weiteren Aktanten wie Hybride und Quasi-Objekte, die ihre Eigengesetzlichkeit mitbringen. Sie entspricht auch der Konzeption des »Golden Circle« in der Management-Theorie mit den Fragen nach »Why? What? How?« [Sinek 2011]. 47 Hier klingt Abraham Lincolns Formulierung an: „(…) and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.“ https://www.wikiwand.com/de/Gettysburg_Address 48 In der Konzeption des Soft Systems Designs wurden diese Verhältnisse bereits frühzeitig beschrieben und systematisch entwickelt, vgl. Lutz 1979

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

Analyse Aufgabe Frage

Concern Canvas Beschreibe soziale Interaktionen auf der Basis von Concerns Welche Ansatzpunkte für Interventionen des Designs lassen sich finden?

Projektion Kulturelle Formate Aufgabe Entwickle (oder spekuliere über) künftige Concerns Frage Wie lassen sich diese Concerns temporär zu Formaten stabilisieren? Synthese Hyperzyklus der Transformation Aufgabe Beziehe die Concerns auf die Dynamik des Hyperzyklus’ mit den Instanzen (Meta-)Material, Produkt, Symbol, Interaktion und Organi sation (vgl. A 7.5) Frage Welche Gesamtdynamik lässt sich ableiten (Szenarien)?

Unter diesen Voraussetzungen orientiert sich ein Entwurfszyklus des Concern Designs an folgenden Schritten (Tab. 6): 1 Analyse – Concern Canvas: Warum? 1.1

Wahl des Ausschnitts einer Praxis, Handlungskette, Situation, Interaktion, Organisation, … Problembehauptung, Abgrenzung

1.2

Untersuchung der Concerns der Beteiligten (Motivation, treibende Kräfte, …) Nähe herstellen: Beobachtung, Recherche, Fragen, Mitmachen, …

1.3 Angemessene Artikulation und Darstellung der beobachteten Praxis (Mapping, Beschreibung, Selbstaufzeichnung, …) 1.4

Decodierung und Umcodierung von Concerns Dekonstruktion etablierter Darstellungen (unmapping, counter narratives, hidden agendas)

1.1 – 1.4 rekursiv

Ergebnis: Definition der Ziele

2 Projektion – Kulturelle Formate: Wie? 2.1

Spekulation über die Konstellationen der gefundenen Concerns historische und systematische Entwicklung, Sachzwänge, Medieneinflüsse, …

2.2

Beobachtung, Recherche, Fragen zu den Formaten (Muster, Rollen, Routinen, …)

2.3

experimentelle Entwicklung neuer Formate, Umformatierungen Rückwirkungen auf die Concerns?

2.4

Interaktion mit den Anspruchsgruppen: Was wäre, wenn …? Experimente, Versuchsaufbauten, Systemwechsel, …

2.1 – 2.4 rekursiv

Ergebnis: Definition der Strategie

421

422

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns 3 Synthese – Hyperzyklus der Transformation: Was? 3.1

Entwicklung der Konzepte für Material, Produkt, Symbol, Organisation, Interaktion

3.2

Planung der Interventionen und Narrative, Taktik

3.3

Entscheidung über Entwurfstypologien Prozessorientiert: Festhalten am Prozess, wohin er auch führt Zweckorientiert: Festhalten am Zweck, welcher Mittel es auch bedarf

3.4

Gestaltung der Artefakte/Interventionen, Maßnahmen der Verbreitung

3.1 – 3.4 rekursiv

Ergebnis: Definition der Taktik

4 Evaluation

Implementierung, Review in Bezug auf Ziele, Dokumentation

Tab. 6: Prozessmodell des Concern Designs: Analyse, Projektion und Synthese mit jeweils spezifischen Fragen und Aufgaben

5.5 Zusammenfassung und Ausblick Die Entwicklung einer Methodik erfordert auch, das Potenzial des Designs für angemessene Beschreibungen weiterzuentwickeln sowie zur Typisierung und zur Wissensakkumulation beizutragen. Dafür kann Latours Frage leitend sein: »Which protocol for the new collective experiments?« [Latour 2004b].49 Ein weiterer Bezugspunkt kann die objektive Hermeneutik sein, wie sie von Ulrich Oevermann entwickelt wurde. Dieser postulierte ein Zusammenfallen von Ausdrucksmaterial und Protokoll: Die objektive Hermeneutik ist ein Verfahren, diese objektiv geltenden Sinnstrukturen intersubjektiv überprüfbar je konkret an der lesbaren Ausdrucksgestalt zu entziffern, deren Ausdrucksmaterial als Protokoll ihrerseits hör-, fühl-, riech-, schmeck- oder sichtbar ist. [Oevermann 2002:2] Der Begriff der Hermeneutik betont die Fähigkeit zur Beobachtung und Interpretation. Das Design fokussiert sich jedoch bisher vor allem auf den Entwurf und die Gestalt. Instrumente für die genauere Wahrnehmung sind im Design daher kaum entwickelt worden. Teilweise wurden Methoden aus Anthropologie und Ethnologie übernommen, sofern sie überhaupt bewusst eingesetzt wurden.50 Die Verfeinerung der Wahrnehmungskategorien ist jedoch ein entscheidender Ausgangspunkt für das Concern Design. Hier gilt es, subtil wirkende Sozio-Designs und ihr Verhältnis zu den Concerns zu erkennen. Anthropologische Erkenntnisse können dabei weiter nützlich sein, müssen aber angepasst werden.51 Das Design der Moderne ging häufig von einer creatio ex nihilo aus. Das Concern Design jedoch adaptiert 49  vgl. B 8.8, 4.1 50 vgl. Miller 2009, Gunn et al. 2013, Clarke 2018 51 vgl. »Deciphering a Meal« [Douglas 1972], Geertz 2022/1987

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

Latours Position eines »vorsichtigen Prometheus« [Prom_dt.], der sich bewusst ist, in immer schon existierende Handlungsketten einzugreifen und dabei nur ein Einf lussfaktor unter anderen zu sein. Die Basis für eine genaue Beobachtung ist die Bemühung, zunächst möglichst wenig zu werten. Der Concern Ansatz beobachtet und dokumentiert, was als Aufgabe bereits komplex genug erscheint und vollkommen Latours Forderung entspricht.52 Jeder Concern kann für sich genommen zwar durch Inhalt, Intensität und Ausrichtung bestimmt werden.53 Erst die Formatierungen bilden jedoch eine »artifizielle Organisation« [ÖkW:98], die Concerns und deren implizite Wertungen akzeptiert, ohne selbst zu werten. Der Concern Ansatz ist sich des methodischen Problems bewusst, keine neutralen Beschreibungen erzeugen zu können, sondern mit jeder Beschreibung neue Realitäten zu schaffen und andere auszublenden.54 Daher muss der Umgang mit Beschreibungen jeweils explizit ausgewiesen werden, etwa durch die Angabe der Perspektive des Beobachters oder die Erzeugung multipler Perspektiven.

5.5.1 Konzeptioneller Rahmen für Wissensakkumulation Der Concern Ansatz bietet einen konzeptionellen Rahmen, um psycho-energetische Aspekte anzusprechen, die sprachlich schwer zu fassen sind. Die Mittel des Designs sollen eingesetzt werden, um auf vorbegrifflicher Ebene ergänzende Beobachtungen zu machen und Experimente durchführen zu können. Dabei wird die These verfolgt, dass Wahrnehmungen des Alltags und Interaktionen mit Objekten ebenso wie nicht intentionale Spuren – etwa Körperhaltungen und sinnlicher Ausdruck – aussagekräftiger sein können als begriffliche Abstraktionen. Insofern ist eine Querverbindung gegeben zu therapeutischen Ansätzen, die auf Alltagsästhetik und bildnerischem Gestalten basieren.55 Der Concern Ansatz propagiert nicht die Durchsetzung einer bestimmten Perspektive. Ganz im Gegenteil: Er strebt an, verschiedene mindsets in ihrer Unterschiedlichkeit zur Artikulation zu bringen. Daher ist auch die Integration weiterer Methoden nicht nur möglich, sondern erwünscht. Dazu gehören jene, die sich in Partizipation und Organisation bewährt haben, wie etwa cultural probes, personas, world café, charrette, open space und design thinking ebenso wie Prozess- und Organisationsformen wie Agile und Scrum.56 Dem sich entwickelnden Transformation Design fehlt es bisher an einer Wissensakkumulation, die sich durch vergleichende empirische Studien und die stärkere Ausbildung eines historischen Bewusstseins erreichen ließe.57 Parallel durchgeführte Methoden mit anschließendem Vergleich sollten sich dabei als besonders aufschlussreich erweisen. 52 »(…) wir sind im Beschreibungsgeschäft.« [NSoz:253], vgl. B 8.4 53 vgl. 3.1.7 54 Das Gleiche gilt für die Limitierungen von Latours »Infra-Sprache«, vgl. B 8.10. 55 In Hamburg wurde der Studiengang »Transformation in the Arts« eingerichtet, der eine therapeutische Ausrichtung hat [vgl. Jahn, Sinapius 2015]. Historische Vorläufer können in der Programmatik der Werkkunstschulen und dem ganzheitlichen Bildungsbegriff der Reformpädagogik gefunden werden [vgl. Winter 1977]. 56 Für eine Übersicht zu partizipativen Methoden siehe https://www.buergergesellschaft.de/mitentscheiden/methoden-verfahren 57 Dazu gehört auch der Bezug auf historische Methoden, die auf öf fentliche und politische Wirkung zielten wie die »Zukunf tswerkstätten« von Robert Jungk [Jungk, Müllert 1981] und die »Planungs-

423

424

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

5.5.2 Concern Design als Wissenspraxis Die Operationalisierung als Concern Canvas ermöglicht es Designern und Projekt-Partnern einen gemeinsamen Darstellungs- und Sprachraum aufzubauen, wo die jeweiligen Beiträge platziert und verhandelt werden können. Das Design organisiert so ein Feld, in dem das Wissen und die Concerns Dritter in Erscheinung treten und neue Konstellationen eingehen. können. Designer werden sich dafür möglichst offen und unvoreingenommen in die Situation begeben, um diese selbst zum Sprechen zu bringen und ihr zu ermöglichen, Neues mitzuteilen. Dazu müssen sie ihre eigene Wissensdomäne zunächst zurücknehmen, ähnlich wie ein Arzt dem Patienten zunächst möglichst genau zuhören und beobachten sollte oder ein Forscher versucht, sein Experiment vorurteilsfrei einzurichten.58 Im traditionellen akademischen Bereich wird es als eher kritisch angesehen, wenn das Design nicht die Trennschärfe anderer Fächer erreicht. Es kann aber gut argumentiert werden, dass es notwendig einen methodisch gewollten Grad an Unschärfe geben muss, um hart definierte Bereiche in Austausch bringen zu können, etwa durch ein »lose gekoppeltes Gefüge von Beziehungen dritter Art«.59 Lose Kopplungen erweisen sich überall da als nützlich, wo lebensweltlich, kommunikativ oder ideologisch unterschiedliche Milieus auf das Gelingen gemeinsamer Unternehmungen angewiesen sind, seien es Baugruppen, Forschungsteams oder Nachbarschaften.60 Es sollte darüber aber nicht vergessen werden, dass es bei Transformationsprozessen nicht vorrangig um einen Austausch von Wissen geht, sondern um die Verhandlung handfester Interessen. Die Wahl einer Plattform, die Definition eines Bild- und Sprachraums und damit die Festlegung von Voraussetzungen und Randbedingungen der Positionen und ihrer Kommunikation folgen bereits diesen Interessen und Machtverteilungen. Es ist daher eine der ersten Aufgaben im Transformationsprozess, in-

zellen« von Peter Dienel [Dienel 2002]. Das Transformation Design hat diese Quellen bisher nur wenig rezipiert und verpasst damit die Möglichkeit, von diesen Erfahrungen zu profitieren. 58 Dirk Baecker versteht Design daher als eine »Praxis des Nichtwissens«: »Man wird das Design als Praxis des Nichtwissens auf unterschiedlichste Interfaces hin lesen können, aber dominierend sind wahrscheinlich die Schnittstellen zwischen Technik, Körper, Psyche und Kommunikation: Wenn man diese ›Welten‹, die jeweils von einem mehr oder weniger elaborierten Wissen beschrieben werden, miteinander in Differenz setzt, verschwindet dieses Wissen und macht Experimenten Platz, die die Experimente des Designs sind. […] Hier nichts mehr für selbstverständlich zu halten, sondern Auflösungsund Rekombinationspotenzial allerorten zu sehen, wird zum Spielraum eines Designs, das schließlich bis in die Pädagogik, die Therapie und die Medizin reicht.« [Baecker 2002:155/156] 59 Anlässlich der Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Kultur wurde postuliert: »(…) eine dichte Beschreibung von sich überlagernden oder gegenläufigen Kohärenzen, Querverbindungen, lokalen Grenzüberschreitungen und Symbiosen, kurz: in ein bewegliches, lose gekoppeltes Gefüge von Beziehungen dritter Art.« [Koschorke 2010: o.S.] Eine ähnliche Bestimmung hatte bereits Michel Serres vorgeschlagen mit der Metapher der »Ost-West Passage« [Serres 1994/1980]. 60 Die Formulierung dieser losen Kopplungen in theoretischen Begriffen ist keine Voraussetzung für ihr Gelingen, kann aber die Legitimation und Akzeptanz von Designleistung bei den Anspruchsgruppen verbessern und damit den Wirkungsgrad erhöhen. Was transklassische Fächer in dieser Hinsicht leisten können, wurde empirisch längst erkannt, vgl. Schneidewind, Singer-Brodowski 2013.

5 Tools und Methoden: Concern Canvas und Kulturelle Formate

nerhalb des »battleground of interests«61 einen »common ground« zu gestalten, der die divergierenden Perspektiven der Beteiligten zulässt und darstellen kann.

5.5.3 Beispiele aus der Praxis Die beiden vorgestellten Diagramme Concern Canvas und Kulturelle Formate wurden seit 2017 in Workshops eingesetzt. Dazu gehörten so unterschiedliche Aufgaben wie • Entwicklung eines Corporate Mission Statements für eine Bank, 2017 (Abb. 77)62 • »Designing Concerns of Future Cities: Bauhaus Transformed«, Workshop an der Central Academy of Fine Arts, Beijing/China auf der Media Architecture Biennale 201863 • »Restarting Development Aid«, neue Ansätze für die deutsche Entwicklungshilfe, Workshop am Weizenbaum Institut für die vernetzte Gesellschaft, Berlin 2019 (Abb. 78)64 • »Introduction to Concern Design«, Workshop an der Parsons School of Design, New York/USA 2019 • »Design Education for the 21st Century«, Workshop am Beijing Institute of Fashion Technology (BFIT), Beijing/China 2019 (Abb. 79) Die beiden vorgestellten Diagramme haben sich bei den verschiedenen Aufgaben bewährt. Vor allem gelang es, die unterschiedlichen Concerns der jeweiligen Stakeholder zu klären (für diese selbst), genauer zu artikulieren (für die anderen) und diese Erkenntnisse in die Entwurfsprozesse einzubringen. Abb. 77: Bilder und Texte zu Concerns im Workshop »Corporate Mission Statement«, oben: bei der DEG Köln 2017, unten: Ergebnis auf der Website [Foto: PFS, Screenshot]

61 vgl. »trading zone of knowledge« [Galison, Thomson 1996:11] 62 https://www.deginvest.de/Internationale-Finanzierung/DEG/%C3%9Cber-uns/Wer-wir-sind/UnserLeitbild 63 https://mab18.org/designing-concerns-of-future-cities-bauhaus-transformed 64 http://restartingdevelopmentaid.io

425

426

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Neben den pragmatisch erzielten Erfolgen steht eine empirisch begründete Auswertung aber noch aus. Ideal wäre es, eine Begleitforschung zu organisieren, die einen Vergleich von Projektergebnissen ermöglicht. Allerdings sind die Auftragslagen und Finanzierungen für Designprojekte bisher überwiegend auf die Erreichung praktischer Ziele eingestellt. Darüber hinaus sind häufig Geheimhaltungspf lichten der Kunden zu berücksichtigen. Es wird daher künftigen Forschungsprojekten vorbehalten bleiben, einen belastbaren Methodenvergleich zu erarbeiten. Der Concern Ansatz entwickelt sich auf der Basis theoretisch begründeter Annahmen (vgl. 2), aber der »proof of concept« liegt designgemäß in der Anwendung. In den bisherigen Projekten wurden »Proto-Methoden« eingesetzt, die es weiter auszubauen gilt anhand folgender Fragen: Wie wird das Concern Design in Prozessen der Transformation wirksam? Welches sind die Methoden und Erfolgskriterien? Können tradierte Verfahren übertragen und angepasst werden? Wie können neue Prozesse und Modelle entwickelt werden?

Abb. 78: Concern Canvas im Workshop »Restarting Development Aid«, links: am Weizenbaum Institute for the Networked Society, Berlin 2019, rechts: Screenshot Website [Foto: PFS, Screenshot]

Abb. 79: Concern Canvas und Cultural Formats im Workshop »21st Century Design Education« am Beijing Institute of Fashion Technology (BIFT), Beijing/China 2019 [Fotos: BIFT]

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes

Eine zentrale Frage der Soziologie ist das Verhältnis von Werten und Fakten. Im Concern Design wird diese Frage neu gefasst, indem Concerns und weitere Instanzen als Vermittlungen eingeführt und dynamische Wechselwirkungen betont werden. Dabei wird einem Modell Latours gefolgt [vgl. PoN:91-127]. Durch Concerns sollen normative Konzepte von Bedürfnissen überwunden werden, ebenso wie erweiterte Konzeptionen, die als »Begehrnisse« [Böhme 2016:28] entwickelt wurden. Ansätze der »Bedarfsgestaltung/-ref lexion« [Jonas 1996] werden erneuert und fortgeführt. Schließlich wird der Concern Ansatz in Beziehung gesetzt zur »Causal Layered Analysis« [Inayatullah 1998].

6.1 Werte und Fakten Das Verhältnis von Werten und Fakten wurde in der Soziologie unterschiedlich bestimmt: Nach Max Weber sind es Werte, die Fakten beeinf lussen, nach Émile Durkheim sind es Fakten, die Werte beeinf lussen und nach John Dewey sind Wechselwirkungen zwischen Fakten und Werten anzunehmen [Abb. 80].

Abb. 80: »The relation of facts and values in sociological theory building«, die Konzeptionen von Weber, Durkheim und Dewey [Jonas 2016:124, »adapted from Lykins 2009«]

428

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

6.1.1 Latours alternative Modellierung von Werten und Fakten In »Politics of Nature« [PoN]1 entwickelt Latour ein neues Modell, das aus der Opposition von Fakten und Werten herausführen soll. Aus der Perspektive der ANT erscheinen die Kategorien von Fakten und Werten als unsymmetrisch konstruiert, da die Vertreter der Fakten (Wissenschaften) das Privileg haben, Vorgaben zu machen, auf die die Vertreter der Werte (Moral, Politik) nur reagieren können. Latour kritisiert die intransparente Genese sowohl der Fakten wie der Werte: It is forbidden, for example, to banish all the secondary qualities by an ultimatum, on the pretext that one already possesses the primary qualities that have become, without due process, the only ingredients of the common world. (…) Behind the false distinction between facts and values was hidden an essential question about the quality of the procedure to be followed and about the outline of its trajectory, a question now liberated from the confused quarrel that (political) epistemology sustained with ethics. [PoN:110/126, Hervorhebung PFS] Andererseits wird jedoch die Funktion der Begriffe Fakten und Werte für die Unterscheidung von Wissenschaft und Ideologie anerkannt. Um diese Funktion zu erhalten, aber gleichzeitig eine symmetrische Behandlung der Aspekte zu erlauben, schlägt Latour eine Umstellung vor: The solution that we have adopted for this chapter consists in untying the two packets, fact and value, in order to liberate the contradictory requirements that were unduly combined in each, then (in the following section) regrouping them differently and under another name, in much more homogeneous parcels. [PoN:102] Latour erstellt dazu ein »Leistungsverzeichnis« für mögliche Nachfolger des Begriffspaars »Fakten/Werte«. Auf dieser Basis schlägt er ein neues »Zwei-Kammersystem« vor, das aus den Funktionen »Einbeziehung« (»Perplexität/Konsultation«) und »Ordnen« (Institution/Hierarchie) besteht. Diese Funktionen werden jeweils durch einen Imperativ gekennzeichnet: Perplexity Consultation Institution Hierarchy

Thou shalt not simplify the number of propositions to be taken into account in the discussion Thou shalt ensure that the number of voices that participate in the articulation of propositions has not been arbitrarily shortcircuited Once propositions have been instituted, thou shalt no longer debate their legitimate presence within collective life Thou shalt discuss the compatibility of the new propositions with those which are already instituted, in such a way as to maintain them all in the same common world that will give them their legitimate rank [PoN:104-108, PD:131-168]

1 Deutsch als »Das Parlament der Dinge« [PD]. Im Folgenden werden englische Zitate verwendet, da die deutsche Übersetzung Unschärfen enthält.

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes

Der entscheidende Vorteil dieses Modells ist die Betonung der wiederholten dynamischen Durchläufe durch alle vier Funktionen. Die Konstruktion von Werten (»what ought to be«) und die Definition von Fakten werden weder auf Zeitpunkte im Prozess noch auf Arbeitsbereiche (»stages«) beschränkt. Dadurch wirkt sich der gesamte Prozess auf beide Aufgaben aus und es werden symmetrische Verhältnisse hergestellt. The question of what ought to be, as we can see now, is not a moment in the process; rather, it is coextensive with the entire process — whence the imposture there would be in seeking to limit oneself to one stage or another. Symmetrically, the famous question of the definition of facts is not reduced to just one or two stages but is distributed through all the stages. [PoN:125]

6.1.2 Bewertung von Latours Modell Das Modell Latours kann hier nicht vollständig erörtert werden, soll aber in Bezug auf das Design besprochen werden. Im Zentrum steht dabei Latours Vorschlag, die Aufgabenfelder und Ziele in Bezug auf Fakten und Werte neu zu ordnen. Er sagt, was zu tun ist, aber nicht wie.2 Das Design dagegen operiert immer im Modus des Wie. Das Design kann von Latours Beschreibungen des Was profitieren, da es sowohl auf Fakten als auch Werte bezogen ist, deren Bezug aber häufig nicht ausreichend geklärt ist. Ebenso kann Latours Modell vom Design profitieren, denn die bei Latour genannten Kriterien werden dort bereits auf spezifische Weise realisiert [Tab. 7]. Latours Funktionen

Latours Kriterien

Latours Ziele (kursiv) Realisation durch Design

»Einbeziehung«

Kriterium 1 Perplexität

Außenwelt Berücksichtigung bisher übersehener Aspekte/Stakeholder durch die ganzheitliche Perspektive des Designs

Kriterium 2 Konsultation

Relevanz Artikulation, Dialog, Interaktion – auch nicht-sprachlich, z.B. durch Zeichnen, Spuren, Körpersprache, …

Kriterium 1 Hierarchie

Öffentlichkeit Gestalterische Prägnanz bestimmt Relationen als vor- oder nachrangig

Kriterium 2 Institution

Schließung Temporäre Stabilisierung zu Formen und Formaten

»Ordnen«

Tab. 7: Latours alternatives Modell zu Fakten und Werten mit Realisierung durch Design3

2 Damit wird zumindest in Bezug auf Werte über die bisherige Funktionszuweisung hinausgegangen, vgl. »Werte sind das Medium für eine Gemeinsamkeitsunterstellung, die einschränkt, was gesagt und verlangt werden kann, ohne zu determinieren, was getan werden soll.« [Luhmann 1997:343] 3 kursiv geschriebene Begriffe in PD:150

429

430

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Latours Modell regt neue Bezüge von Fakten und Werten an, wie sie in den Diagrammen »Concern Canvas« und »Kulturelle Formate« realisiert werden. Es hat aber auch Mängel, die zur weiteren Ausarbeitung auffordern: • Bei der Frage nach »Konsultationen« scheint Latour einem traditionellen Begriff von Diskussion verhaftet zu bleiben.4 Die Voraussetzung von Artikulationsfähigkeit und die Hoffnung auf »kommunikative Vernunft« hatte Latour bei Habermas aber kritisiert (vgl. B 7.2). Das Design kann differenziertere Methoden von Artikulation, Dialog und Interaktion anbieten. • Die Begriffe »common world, common good«5 erscheinen als überraschend normativ, was durch die Einführung der »Concerns« korrigiert werden kann.6 • Entgegen dem Untertitel des einschlägigen Kapitels »A new separation of powers« [PoN:91] werden Machtfragen nicht ausreichend geklärt. Wer soll über die Erfüllung der oben genannten Kriterien befinden und mit welcher Legitimation? In der bisherigen Konstellation (»old Constitution«, PoN:95) waren es die unterschiedlichen Legitimationen von Wissenschaft und Politik, die die Grenze für die Zuordnung von Fakten und Werten markierten. Diese wären im neuen Modell erst zu definieren. Das Design umgeht diese Frage, da es formell machtlos bleibt und auf die Anregung und Überzeugung durch bessere Lösungen setzt in Kooperation mit den Machtkonstellationen aus Ökonomie, Wissenschaft, Technik und Politik.

6.1.3 Concerns als »values in action« Für die Funktion »Ordnen« gibt Latour die Kriterien »Hierarchie« und »Institution« an. Zur Hierarchie wird gefragt: Wie können wir die Propositionen nach ihrer Wichtigkeit ordnen, was ja wohl der Zweck der Werte ist (…)? [PD:135] Latour beantwortet diese Frage jedoch nicht und spricht nur ungenau davon, dass es »Moralisten« ermöglicht werden soll, sich »den Kontroversen zu nähern«. [PD:135, kursiv im Original]. Es bleibt aber problematisch, das »Wir« zu bestimmen und für die Entscheidungen über die Ordnungen der »Wichtigkeit« zu legitimieren. Das Concern Design nähert sich den Werten pragmatisch, indem gefragt wird, was Werte tun und nicht, was sie sind. Concerns werden dabei als »values in action« definiert.7 Was nicht als Handlung beobachtbar und als Ergebnis erkennbar ist, quali4 vgl. u.a. »new propositions emerge in the discussion« [PoN:103], »to be taken into account in the discussion« [PoN:104], »the range of stakeholders in the discussion« [PoN:106] 5 »I maintain that I am replacing the difference between the common world and the common good with the simple difference between stopping and continuing the movement of the progressive composition of the good common world (…).« [PoN:122] 6 Auch der Vorschlag von Normen wurde von Latour bei Habermas kritisiert: »Habermas (1996) attempts to find an intermediary between facts and values in the notion of norms. Like many of his solutions, this one has the disadvantage of retaining the defects of the traditional concepts, even as it finds astute social means to alleviate them.« [PoN:266] 7 vgl. 1.1

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes

fiziert sich nicht als Concern.8 Die Werte erscheinen damit nicht als abstrakte Begriffe, sondern als konkret realisierte Handlungen und Qualitäten. Über die vor- oder nachrangige Bedeutung einzelner Aspekte zur Gesamtqualität wird durch die Ausarbeitung gestalterischer Prägnanz entschieden. Das zweite Kriterium der Funktion »Ordnen« lautet »Institution«. Hierbei geht es nach Latour um Fragen der Form, wie im Glossar erklärt wird: I also use the expression »conceptual institution« as a synonym for »form of life«. [PoN:243] Die hier unscharf bleibende Ausdruck »form of life« kann im Design verstanden werden als die Wirkungseinheit von Fakten und Werten, wie sie oben als »Kulturelle Formate« entwickelt wurde (vgl. 5.3). Latour beschreibt auch ein Ziel: Fakten sollen sich behaupten können gegenüber denjenigen, die »über sie schwatzen« (»chatter«). Die Methode beschreibt Latour in designrelevanten Begriffen wie shape, form und model: An effort to shape, form, order, model, and define seems necessary if one wants brute facts, speaking facts, obtuse facts, to be able to stand up forthrightly to those who chatter on about them. [PoN:96]9 Das Diagramm »Kulturelle Formate« setzt Werte/Concerns und Fakten in Bezug und wendet die genannte Methodik von Formatieren, in Form bringen, Anordnen und Modellieren an. Das Ziel ist es, das Verhältnis von Fakten und Werten temporär zu stabilisieren und praktisch zu realisieren.

6.1.4 Beispiel für verkörperte Werte Entscheidend bei den »kulturellen Formaten« ist die Einheit von Erscheinungsweisen, Interaktionsformen und verkörperten Werten. An dieser Einheit haben neben den Fakten und Werten weitere Instanzen ihren Anteil wie Ereignisse und deren Rahmung, Themen und Concerns (vgl. die Concern Canvas, 5.1). Zusammen mit dem Hinweis der ANT auf Handlungsketten, Vermittlung und Transformation könnte etwa die folgende Beschreibung einer Praxis gegeben werden: Stellen wir uns eine Szene vor, in der gezeichnet wird: Hand, Auge, Stift, Papier und Unterlage sind in einer Handlungskette verbunden. Doch nicht nur die materiellen Aspekte sind beteiligt, sondern auch die Erfahrungen und Erinnerungen der Zeichnenden sowie deren Projektionen, wie die Zeichnung aussehen wird, warum sie 8 vgl. »Wenn eine Frau behauptet, sie liebe Blumen, und wir sehen dann, wie sie vergisst, sie zu gießen, dann glauben wir ihr ihre ›Blumenliebe‹ nicht. Liebe ist die tätige Sorge für das Leben und das Wachstum dessen, was wir lieben. Wo diese tätige Sorge fehlt, ist auch keine Liebe vorhanden.« [Fromm 2000:41] 9 In der deutschen Übersetzung wird der Begriff »Formatierung« verwendet. Der letzte Teil des Satzes hat allerdings keine Entsprechung im Original: »Eine Arbeit der Formatierung, der Formgebung, des Ordnens, der Modellbildung, der Definition erscheint notwendig, wenn man will, dass die rohen, stumpfen Fakten, die für sich selbst sprechenden Tatsachen den über sie orakelnden Schwätzern die Stirn bieten können.« [PD:133], vgl. B 3

431

432

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

angefertigt wird und welche Wirkung sie entfalten soll. Die oben im Diagramm der »Kulturellen Formate« genannten Aspekte wie »Awareness, Anticipation und Literacy« sind damit gegeben.10 Die Erfahrung zeigt, dass Anfänger nicht das zeichnen, was sie sehen, sondern Vorstellungen von dem, was sie schon als Zeichnung gesehen haben und zu wissen glauben. Alle Striche, die die Hand je gezogen hat und alles, was das Auge je sah, wirken mit als Erfahrung und verkörperte Werte.11 Zeichenlehrer wissen, dass dies die erste und schwerste Lektion ist: Zeichnen nach der Natur heißt nicht, vorhandene Konzepte zu illustrieren, sondern ohne Vorurteil genau zu schauen und das Geschaute wie eine écriture automatique aufs Papier zu bringen, oder noch besser: bringen zu lassen. Pointiert gesagt: Idealerweise zeichnen sich die Gegenstände selbst. Die Zeichnenden sollen möglichst wenig dazwischenkommen und schauen nachher ebenso überrascht auf ihr Blatt wie unbeteiligte Betrachter.12 Das Gleiche gilt für die materielle Gestaltung. Design wird hier häufig nach dem Interface-Modell als Vermittlung aufgefasst. So vermittelt etwa die Teetasse zwischen Getränk und Mund über die Schnittstellen von Hand/Henkel und Tassenrand/Mund. Neben diesen mechanischen Schnittstellen sind aber noch weitere zu nennen: Schon vor dem Trinken ist der Duft des Tees zu riechen und dessen Temperatur zu spüren durch die Form und das Material der Tasse (awareness), womit für die entsprechend Erfahrenen (literacy) eine Erwartungshaltung (anticipation) erzeugt und bestätigt wird. Darüber hinaus ist auch eine akkumulierte Erinnerung an alle Tassen wirksam, die je in der Hand gehalten wurden, ebenso wie an alle je getrunkenen Tees und jede davon wiederum eingebettet in je spezifische Situationen. Das Aufspüren der materiellen und körperlichen Schnittstellen in immer feinerer Auf lösung ist sicher im Sinne der ANT. Doch wie sollen die psychologisch wirksamen kognitiven und emotionalen Bestandteile, die doch zweifellos zu den gesuchten »weltbildenden Aktivitäten« [ibid.] gehören, beobachtet und beschrieben werden? Die Modellierung als »kulturelles Format« eröffnet die Möglichkeit, Werte und Fakten aufeinander zu beziehen. Bei vielen Designleistungen wird – bewusst oder nicht – exakt diese Verbindung von Werten und Fakten hergestellt. Beispiele dafür sind etwa die aufwendige Verpackung eines iPhones, dessen Inszenierungsweise vorher nur im Bereich von Schmuck bekannt war oder die Wertigkeit eines Autos, die nicht nur durch Geometrie und Glanz erfahrbar wird, sondern auch durch Geruch (Holz, Leder), Klang (Türschloss, Motor) und Smartheit (Fernbedienung), womit Anzei-

10 vgl. 5.3.2. Dieser Aspekt entgeht Siegert bei seinem Bezug auf Latour in der Beschreibung von Handlungsketten des Zeichnens, vgl. Siegert 2009, außerdem Schäfer 2005:241-265. 11 Souverän ist daher nicht nur, wer über die Verflachung entscheidet (Erfindung von Symbolen, Entwicklung von Repräsentation, Herstellung von Karten), sondern zuallererst, wer über die Verkörperung entscheidet (Frühkindliche Prägung, Einübung von Mustern, Erlernen von Formaten), vgl. 7.1.3. 12 Ähnliche Verhältnisse sind in anderen Tätigkeiten zu beobachten. So heißt es etwa in asiatischen Musiklehren: erst sieben Jahre Flöte lernen, dann sieben Jahre Flöte vergessen. Als Ideal wird genannt, dass der Wind durch die Flötenden spielt. Die Musikausübung wird weniger als handwerkliches Training aufgefasst, sondern als geistige Übung, deren Ziel es ist, durchlässig zu werden und im Moment präsent zu sein, statt an der Realisierung vorgeformter Konzepte zu hängen, vgl. https://www. sein.de/spielend-meditieren-die-japanische-zenfloete-kyotaku, außerdem das Konzept des »Music Mind« [Berger 2020].

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes

chen einer Fetischisierung gegeben sind, deren Umcodierung bei der Transformation von Mobilität Schwierigkeiten bereitet.13 Als weitere Beispiele für das Zusammenfallen von Werten und Fakten können Werkzeuge angeführt werden. So verkörpert der chinesische Pinsel die Wertschätzung für Kalligrafie. Er ist aber nicht nur Zeichen und Repräsentant dieser Kultur, sondern die Kultur selbst, da sich in seiner Machart die Werte dieser Kultur verkörpern und er als Werkzeug die Kunst der Kalligrafie mit realisiert. Auch die Patina von Werkzeugen kann sich als faktische Verkörperung der sie hervorbringenden Handlungen manifestieren. Die korrekte Ausführung von Handarbeit und die richtige Behandlung der Werkstoffe wird angeleitet von Werten, die den Eigensinn der Dinge ebenso anerkennen wie die Erfahrungswerte der Handelnden [vgl. Sennett 2008]. Designer greifen in dieses Feld faktisch und wertend ein. So bemerkt Otl Aicher: Was hat ein Designer zu machen? Ein funktionierendes Produkt? Ein gutaussehendes Produkt? Ein gebrauchsfähiges Produkt? Ein informatives Produkt? (…) Die Tätigkeit des Designers besteht darin, Ordnung in einem Konfliktfeld heterogener Faktoren zu schaffen, zu werten. [Aicher 1991b:67]

6.2 Concerns, Bedürfnisse und »Begehrnisse« Das Konzept normativ feststellbarer Bedürfnisse wird schon lange kritisiert. Vorgeschlagen wurde eine Erweiterung auf »Begehrnisse« [Böhme 2016:28]. Schon weit früher wurde für das Design die Aufgabe »Bedarfsgestaltung/-ref lexion« [Jonas 1996] beschrieben. Das Konzept der Concerns integriert diese nicht-normativen Ausrichtungen in einem konzeptionellen Rahmen.

6.2.1 Abschied vom homo oeconomicus Das Konzept der Bedürfnisse geht von den Aspekten Mangel und Befriedigung aus. Bedürfnisse werden dabei als objektiv feststellbare Größen behandelt, die in legitime und illegitime unterschieden und hierarchisch geordnet werden können.14 Die Verhaltensökonomie entwickelte das Modell des homo oeconomicus, der überall seinen wirtschaftlichen Vorteil sucht, um Bedürfnisse zu befriedigen, die mit ihrer Befriedigung allerdings stetig wachsen. Das Modell wurde daher vielfach kritisiert, was zur Formulierung von Alternativen anregte wie dem »Human Scale Development«.15 Das klassische Konzept der Bedürfnisse prägt jedoch noch immer implizit oder explizit viele wirtschaftliche und kulturelle Annahmen. Auch im Design haben sich Vorstellungen von höheren und niedrigeren Bedürfnissen erhalten.16 Die Behauptung 13 Das Zusammenfallen von Werten und Fakten kann als Fetisch bezeichnet werden. Latour prägte den Begriff »factish«, um das Verhältnis der Wissenschaften zu ihren Fakten als fetischisierend zu kennzeichnen [Latour 2010a]. 14 Prägend dafür war die Bedürfnispyramide, wie sie von Abraham Maslow entwickelt wurde. 15 Max-Neef et al. 1989, vgl. Sen 2020/1977 16 »In order for design to be successful, it must meet people´s basic needs before it can attempt to satisfy higher-level needs.« [Lidwell et al. 2003:106] Schon vor Jahrzehnten wurde diese Auffassung

433

434

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

von normativ feststellbaren Bedürfnissen verursacht eine fundamentale Dichotomie, die die weitere Entwicklung des Designs blockiert.17 Der Ansatz des Concern Designs dagegen adaptiert erweiterte Konzeptionen der Ökonomie, wie sie als »Wunschökonomie« von Deleuze/Guattari und Lyotard mit dem Vorläufer Tarde formuliert wurden.18 Diese beschreiben die Zirkulation von Intensitäten als wirtschaftliche Prozesse, die wesentlich umfassender sind als der Warentausch und diesem vorausgehen: Nicht der Wunsch lehnt sich den Bedürfnissen an, vielmehr entstehen die Bedürfnisse aus dem Wunsch: es sind Gegen-Produkte im Realen, vom Wunsch erzeugt. [AÖ:36]

6.2.2 Concerns als »Bedarfsgestaltung und -reflexion« (Jonas) Im Design wurden Erweiterungen des tradierten Konzepts der Bedürfnisse bereits früh formuliert [vgl. Jonas 1996]. Dabei wurde ein »Kontextwandel im Design« festgestellt durch eine Entwicklung zu »Bedarfsweckung« und »Bedarfsgestaltung« (Abb. 81).



Abb. 81: »3 Phasen (Schichten) des Kontextwandels im Design« [Jonas 1996:8], auf Graustufen reduziert

Mit dem Concern Ansatz können in dieses Schema neue Begriffe eingeschrieben werden. Die Dimension der Bedarfsgestaltung/-ref lexion wird als das Design von Concerns identifiziert.19 Dieses umfasst die Bedarfsweckung als »Begehrnisse« [Böhme 2016:28], die wiederum den Sonderfall der Bedarfsdeckung umfassen. Diese drei Diim Design ironisch kommentiert: »Es gibt niedrige und höchste Bedürfnisse. Niedrige Bedürfnisse werden z.B. von Zahnbürsten, Kleiderbügeln und Fernsehapparaten befriedigt. Die höchsten Bedürfnisse werden z.B. vom lieben Gott, Parteien und wiederum Fernsehapparaten befriedigt.« [van den Boom 1984:3] Doch auch in den Programmatiken des Transformation Designs wurde ein traditioneller Begriff des Bedürfnisses weiter unproblematisch vorausgesetzt: »Transformation Design begreif t Gestaltung konsequent von menschlichen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen her und versucht, einen nachhaltigen Beitrag zur Zukunf tsfähigkeit der Gesellschaf t zu leisten, ohne dabei die ökonomischen Rahmenbedingungen zu vernachlässigen.« Beschreibung des Masterprogramms Transformation Design an der Hochschule für bildende Künste Braunschweig, https://www. hbk-bs.de/studium/studienangebot/transformation-design 17 vgl. A 4, 4 18  vgl. B 7.4, 2.3 19 Hier wäre auch Buchanans Definition des Designs als »new liberal art« [Buchanan 1992:5] zu verorten, die ihre Voraussetzungen selbst schafft, statt auf Bedürfnisse und Aufträge zu reagieren.

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes

mensionen können anhand der Kriterien Einheit, Situation, Bedingung und Prozess unterschieden werden. Damit ergibt sich folgendes Schema:

Einheit Situation Bedingung Prozess

Bedarfsgestaltung/-reflexion Concerns Mangel an Orientierung Wertung, Selektion Reduktion von Kontingenz

Bedarfsweckung Begehrnisse Mangel an Mangel Steigerung zirkulär

Bedarfsdeckung Bedürfnisse Mangel Erfüllung linear

Tab. 8: Concerns im Kontext von Bedarfsweckung und Bedarfsdeckung Damit erscheint ein Modell, das der Steigerungslogik von Böhme und anderen Autoren entgegengesetzt ist: • Als vorgängige und allgemeinste Form werden die Ref lexion und die Gestaltung von Bedarf benannt, die Kontingenz reduzieren und Orientierung schaffen durch Wertung und Selektion • Darin eingeschlossen ist eine Teilmenge der Bedarfsweckung, die unter der Bedingung stetiger und zirkulärer Steigerung neue Mangelsituationen erzeugt, die zum Anlass für den Entwurf von »Begehrnissen« werden • Darin wiederum eingeschlossen ist die Teilmenge der Bedarfsdeckung, die auf Mangelsituationen linear durch Erfüllung reagiert Diese Darstellung bestätigt die Kategorien aus Jonas’ Ansatz von 1996, insofern die Bedarfsgestaltung/-ref lexion als umfassendste Kategorie verstanden wird. Allerdings wird diese nunmehr als Concerns definierte Dimension als Grundlage gesetzt, gegenüber der Bedarfsweckung und Bedarfsdeckung als Ausdifferenzierungen erscheinen. Jonas’ Modell unterstellte eine Zeitdimension, in der ein Fortschrittspfeil von einer ursprünglichen Bedarfsdeckung über die Bedarfsweckung zur Bedarfsgestaltung/ref lexion führt. Daraus ergibt sich die Frage nach weiteren Entwicklungen (gezeigt als Fragezeichen). Außerdem könnte die Darstellung als evolutionäres Schema gelesen werden, nach der die Bedarfsdeckung ein ursprünglicher und die Bedarfsgestaltung ein höher entwickelter Zustand sind. Dem wird durch den Bezug auf Concerns jedoch widersprochen: Die Concerns sind vorgängig, da sie unübersehbare Komplexität bearbeiten, die nicht nur für eine voll entwickelte Warengesellschaft angenommen werden muss (wie bei Böhme), sondern die schon auf früheren menschlichen Entwicklungsstufen gilt, wo Orientierung gesucht wurde für das Verhalten in der Koexistenz mit unübersehbaren, übermächtigen und unverständlichen Kräften der Natur.20

20 vgl. A 7.1

435

436

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

6.2.3 Das Verhältnis von Concerns, Bedürfnis und »Begehrnis« Concerns sind eine Erweiterung des Konzepts der Bedürfnisse und stellen deren vorgängige Existenz infrage.21 Sie sind ein Versuch, implizit vorausgesetzte ökonomische Annahmen anders zu fassen und zu grundieren. Das Konzept der Concerns geht dabei nach Tarde und Latour von einem erweiterten Verständnis von Ökonomie aus, das den Austausch von den Intensitäten der »Begehren und Überzeugungen« als vorgängig auffasst [vgl. ÖkW:98]. Die folgende Tabelle zeigt die Concerns als umfassendste Dimension der Ref lexion und Gestaltung von Bedarf, der die Spezialfälle der »Begehrnisse« und Bedürfnisse unterstellt sind. Die Modellierung von Concerns steht am Anfang von Designprozessen und ist den anderen Stufen vorgeschaltet.

Ausgangslage

Behandlung Merkmal

Concerns

»Begehrnisse«

Bedürfnisse

Komplexität, Mangel und Überfluss zugleich, sowohl an Waren als auch an Sinn (kontingente Verfügbarkeit) Austausch von Intensitäten

»Mangel an Mangel« Grundbedürfnisse sind befriedigt

Mangel

»ökonomische Ausbeutung« normativ

Befriedigung

nicht-normativ

normativ

Ordnung

Freie Vektoren: Inhalt, Intensität, Richtung

Steigerung

hierarchisch

Modell

Möbiusband

Maslowsche Pyramide

Ökonomie

Auf- und Abbau von Werten

Spitze der Pyramide Fortschritts-Pfeil Tauschwert

Gebrauchswert

Tab. 9: Vergleich von Concerns, »Begehrnissen« und Bedürfnissen [unter Bezug auf Jonas 1996 und Böhme 2016] Diese kategorialen Unterscheidungen dienen vor allem der analytischen Trennschärfe, während sich empirisch vielfältige Überschneidungen und Durchdringungen ergeben. Ein solches Verständnis trifft sich auch mit Modellen des Leadership und des Lernens: Komplexe Situationen werden durch Narrative geordnet, die Concerns modellieren und so einen übergreifenden Sinn erzeugen. Das Führungspersonal in Unternehmen, Bildung, Sport und Militär wird immer zunächst die Bedeutung der gemeinsamen Mission herausstellen (Why), um damit die Leistungsbereitschaft zu motivieren (What) und schließlich Umsetzungen abzuleiten (How).22

21 »Das Bedürfnis gilt als die Ursache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen.« [Nietzsche 1999/1882:506] 22 vgl. Sinek 2011 sowie das Prozessmodell des Concern Designs, 5.4.1

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes

6.2.4 Kritik der »Begehrnisse« Seinen Begriff der »Begehrnisse« begründet Böhme wie folgt: In einem gewissen Entwicklungsstadium, jenem, in dem die Bedürfnisse der Menschen in einer Gesellschaft im Wesentlichen befriedigt sind, muss der Kapitalismus auf einen anderen Typ von Bedürfnissen setzen, den man zweckmäßigerweise mit einem eigenen Terminus, nämlich dem der Begehrnisse bezeichnet. Begehrnisse sind solche Bedürfnisse, die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt, sondern gesteigert werden. (…) Wichtig ist, dass es Begehrnisse gibt, die direkt ökonomisch ausgebeutet werden können. Und gerade diese richten sich auf die Inszenierung und damit die Steigerung des Lebens. Für Ausstattung, Glanz und Sichtbarkeit gibt es keine natürlichen Grenzen. Vielmehr verlangt hier jede Stufe, die man erreicht, nach einer weiteren Steigerung. Da Wachstum wesentlich zum Kapitalismus gehört, muss die kapitalistische Produktion (…) für das Weitere explizit auf Begehrnisse setzen. Die Wirtschaft wird damit zur ästhetischen Ökonomie. [Böhme 2016:28/29] Böhmes Fokussierung auf »Begehrnisse (…), die direkt ökonomisch ausgebeutet werden können«, lässt nur positive Werte zu (»Ausstattung, Glanz und Sichtbarkeit«). Das Begehren wird als ein Streben nach Werten oder Gütern verstanden. Damit wird es jedoch unterschätzt, denn als Teil der Triebstruktur und gesteuert durch gesellschaftliche Techniken (»Wunschmaschinen«) erscheint das Begehren als eine ungeordnete Energie, die ebenso planvoll wie planlos ihre Gegenstände findet, besetzt und wechselt, was immer auch verbunden ist mit Leiden und Frustration durch das notwendige Verfehlen seiner immer ausgreifender vorgestellten Gegenstände. Daher ergänzt Böhmes Perspektive zwar eine notwendige Dimension, bleibt aber doch der gleichen Haltung verhaftet, die schon der »Kritik der Warenästhetik« [Haug 1971] zugrunde lag. Dieser galt das Verhältnis von Mangel und Befriedigung als vollständige Beschreibung der ökonomischen Grundlage. Die Funktionen des Ästhetischen wurden allein auf der Seite des Tauschwertes verortet, der in der Folge kritisiert wurde als Erzeugung unechten Mangels und damit überf lüssiger und illegitimer Bedürfnisse. Böhme dagegen akzeptiert die ästhetischen Funktionen als erweiterte Funktionen und konzipiert seine »Begehrnisse« als eine weiterte Stufe von Bedürfnissen, um die Verhältnisse vollständig zu beschreiben. Diese Erweiterung werde notwendig, da die Situation eines Mangels für große Teile der westlichen Gesellschaften nicht mehr gegeben sei. Diese stereotyp wiederholte Formel »kein Mangel mehr« mag für die Versorgung mit vielen Konsumgütern zutreffen. Doch für viele Menschen auch in westlichen Gesellschaften besteht auf existenziellen Gebieten wie Arbeit, Wohnen, Bildung oder Gesundheit weiterhin ein eklatanter Mangel an Zugänglichkeit und Qualität. »Begehrnisse« sollen nach Böhme eine Teilmenge von Bedürfnissen sein, »die dadurch, dass man ihnen entspricht, nicht gestillt, sondern gesteigert werden« [ibid.]. Diese Abgrenzung mag zunächst als plausibel erscheinen, ist aber kaum durchzuhalten. Bedürfnisse zu erfüllen, ohne den Wunsch nach einer Steigerung auszulösen, ist am ehesten bei Ressourcen denkbar wie etwa Wasser und Strom, die in entwickelten Gesellschaften in fast beliebiger Menge angeboten werden. Doch selbst dort würde eine immerhin denkbare Verknappung und Rationierung sofort die Frage provozieren,

437

438

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

wieviel für wen und welche Zwecke als angemessen gelten soll.23 So unterliegen auch die vermeintlichen Basisbedürfnisse der Maslow’schen Pyramide einer Steigerungslogik. Sogenannte höhere Bedürfnisse, wie etwa das Verlangen nach Bildung müssten nach Böhmes Definition erst recht und unbedingt zu den »Begehrnissen« gehören. Als Inhalt der »Begehrnisse« werden jedoch lediglich »Ausstattung, Glanz und Sichtbarkeit« genannt, die der »Inszenierung von Leben« dienen, also wesentlich über die Anerkennung durch Dritte zur Geltung kommen. Angeblich verlangten die bei Böhme beschriebenen Stufen selbst nach endloser Steigerung, nicht aber die Menschen, die diese erreicht haben. Damit werden »Begehrnisse« wie eine Sucht konzipiert, die sich verselbständigt und der gegenüber die Menschen willenlos sind. Die Bedürfnispyramide nach Maslow hatte in ihrer Spitze die höheren Bedürfnisse wie soziale Anerkennung und Selbstverwirklichung positioniert, also intrinsische Ziele der Selbsttranszendenz. Böhme dagegen platziert hier – in Steigerung bisheriger Bedürfnisse – extrinsisch konzipierte »Inszenierungen des Lebens«. Damit fügt er sein Konzept der »Begehrnisse« nicht als eine weitere Stufe in die Pyramide ein, sondern erzeugt eine zweite Spitze. Er gibt dabei jedoch keine Auskunft darüber, was mit der bisherigen Spitze und ihren Werten geschieht, obwohl diese exakt seiner Definition der »gesteigerten Bedürfnisse« entsprechen. Das hier vorgestellte Schema (Tab. 8) weicht daher von Böhmes Konzeption ab und fasst Bedürfnisse als Teilmenge von »Begehrnissen« auf und nicht umgekehrt. Fazit: Böhme gesteht mit seinem Begriff der »Begehrnisse« zwar einen erweiterten Funktionalismus zu, letztlich konzipiert er die genannten Verhältnisse aber konventionell und denunziert die Funktion der Ästhetik gleich doppelt: Zum einen als überf lüssigen Zierrat, dessen Funktion erst greift, wenn alle anderen, existenziellen Bedürfnisse gedeckt sind und zum anderen als Verführung, der sich Menschen nicht entziehen können. Ästhetik ist jedoch immer schon auf allen Ebenen – auch den scheinbar geringsten – wirksam. Gerade im Bereich der einfachen und grundlegenden Bedürfnisse und Tätigkeiten sind die anerkanntesten Formgebungen zu finden, wie etwa im Bereich der Werkzeuge, der Küche und des Gartenbaus.24

6.3 Die »Causal Layered Analysis«: Kritik und Vergleich mit dem Concern Ansatz Die »Causal Layered Analysis« (CLA) von Sohail Inayatullah wird als »Poststructuralism as method« [Inayatullah 1998] bezeichnet, was aber nicht weiter ausgeführt wird. Die CLA unterscheidet vier Ebenen: die offizielle Lesart (Litany), die Analysen der Sozialwissenschaften (Social Science Analysis), die Diskurs-Analyse und Weltsicht (Discourse Analysis/Worldview) und die Ebene der Mythen und Metaphern (Myth/Metaphor Analysis). Den Kategorien auf den vier Ebenen wird eine universelle Gültigkeit zugeschrieben:

23 Die Mangellage bei Gas und Strom im Winter 2022/23 und der politische Umgang damit zeigten dies deutlich. 24 Als historisches Beispiel kann hier die Dingkultur der Shaker angeführt werden, https://www.wikiwand.com/de/Shaker-M%C3%B6bel, außerdem Aicher 1982.

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes

(…) in general, these categories work because they capture how we think and categorize the world. [Inayatullah 1998:43] Das Anliegen der CLA wird deutlicher, wenn seine Kriterien und Beispiele als Tabelle formuliert werden [Tab. 10]. Problem/Issue

Solved by

1. Litany, official public description of an issue

financial problems, failures in performance

government or corporations

2. Social Science Analysis

more money and power

partnership between different groups

3. Discourse Analysis/ Worldview

collaboration with diverse partners

people or voluntary associations

4. Myth/Metaphor Analysis

Are we meant to be separate races and nations (as ordained by the myths of the western religions) or is a united humanity (as the Hopi Indians and others have prophesied) our destiny?

leaders and artists Solution: Rethink the values and structure of the UN At the visual level, the challenge would be to design another logo for the UN (…).

Tab. 10: Die vier Ebenen der »Causal Layered Analysis« am Beispiel der Vereinten Nationen [PFS nach Inayatullah 1998:821/825] Die Merkmale der CLA werden beschrieben als • paradigmatic method that reveals deep worldview commitments behind surface phenomena • inclusion of different ways of knowing • decolonize dominant visions of the future • difference as method [Inayatullah 1998:815-826] Versprochen wird also ein Blick unter die Oberf läche der Phänomene und die Aufdeckung von tief liegenden weltanschaulich begründeten Verpf lichtungen. Inayatullah gibt das Beispiel eines Projekts, bei dem das Selbstverständnis der Vereinten Nationen bearbeitet wurde.

6.3.1 Kritik der »Causal Layered Analysis« Die Ziele der CLA sind nachvollziehbar, doch die Methode bleibt sowohl in ihrer Begründung als auch in den vorgestellten, sehr knapp beschriebenen Fallstudien fragwürdig. Beim genannten Beispiel der Vereinten Nationen (Tab. 10) wird die vierte Ebene »Myth/ Metaphor Analysis« der Zuständigkeit von »leaders and artists« zugeordnet. Diese Kombination erscheint als erklärungsbedürftig, wird aber nicht weiter begründet. Es könnten sinnstiftende Narrative gemeint sein, die als Machttechnik zweifellos zu den Führungsaufgaben gehören (vgl. 6.2.3). Die Aufgabe der Künstler wird dann aber doch nur

439

440

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

enttäuschend eng gefasst, indem ein neues Logo für die UN entworfen soll. Designer kommen in dem Schema nicht vor. Sie müssten aber auf allen Ebenen platziert werden: 1. Designer sind an der Formulierung und Kommunikation der offiziellen, öffentlichen Beschreibung von Themen beteiligt (»Litany«) 2. Die »Social Science Analysis« wird heute häufig ergänzt durch die Analysen zur Qualität des Prozess-, Service- und System-Designs 3. Bei der »Diskursanalyse« können alle Verfahren greifen, die auf Partizipation und Beteiligung ausgerichtet sind, woran das Design seinen Anteil hat 4. Auf der Ebene der »Mythen und Metaphern« werden die Narrative und das »Sensemaking« von Organisationen entwickelt, die sich dann etwa als Mission Statements zeigen, die in Wort und Bild artikuliert werden Der Ansatz diskreditiert die Oberf läche, übernimmt unkritisch Vermutungen über tief liegende Strukturen und macht Anleihen bei ungeklärten psychologischen Begriffen.25 Er bedient damit implizit ein Auf klärungsdispositiv, ohne dies dialektisch auf sich selbst anzuwenden. Daher erkennt der Urheber nicht, dass der Ansatz eher Auskunft gibt über die »worldview commitments« des Autors, als für deren intendierte Analyse nützlich zu sein.

6.3.2 Visualisierungen Die Causal Layered Analysis folgt einer konventionellen Sicht psychologischer Dynamik. Inayatullahs Visualisierung (Abb. 82 links) zeigt ein Dreieck, dessen Basis als »Myth-Metaphor« bezeichnet ist, gefolgt von den Ebenen »Worldviews«, »System« und »Litany« an der Spitze. Das simple Schema ist vergleichbar mit verbreiteten Darstellungen wie dem Eisberg-Modell (Abb. 82 rechts).

Abb. 82: Visualisierungen zur »Causal Layered Analysis«, links: Schema von Inayatullah26, rechts: »The Iceberg – A tool for Guided Systemic Thinking«27

25 vgl. den Diskurs zur Oberfläche B 7.1.3 26 www.millennium-project.org/wp-content/uploads/2020/02/35-Causal-Layered-Analysis.pdf, ohne Jahr 27 https://ecochallenge.org/iceberg-model

6 Kontextualisierung des Concern Ansatzes

Beide Visualisierungen legen nahe, dass Mythen und Metaphern eine lang sedimentierte unterste Schicht bilden, die am umfangreichsten und wirkungsmächtigsten ist, aber nur schwer in Bewegung gebracht werden kann. Nach den implizit vorausgesetzten Gesetzen der Schwerkraft müssten Transformationen aber gerade hier ansetzen, um einen nachhaltigen Effekt auf allen anderen Ebenen der Pyramide zu erreichen. Die schmale Spitze der »Litany« dagegen wird als sichtbare, kurzlebige Erscheinung konzipiert und in der unguten Tradition einer Abwertung der Oberf läche geringgeschätzt. Zu fragen ist, ob nicht umgekehrt die oberste Ebene der »Litany« als umfassendste konzipiert werden müsste, weil sich hier eine unübersehbare Anzahl von Ereignissen, Interaktionen und Kommunikationen findet. Die Ebene »Myth-Metaphor« dagegen müsste als klein im Umfang, dabei aber als hoch verdichtet angesehen werden, da diese ihre Wirkung aus nur wenigen, aber starken Narrativen bezieht. Daraus ergäben sich Folgen für die angestrebte Transformation: Aus dem Kern des Mythos müssten alternative Ableitungen entstehen, die zu neuen Weltbildern, Systemen und »Litanies« führen. Es wird also nicht versucht, die mächtige Schicht des Mythos zu bewegen, was ohnehin als aussichtslos erscheinen muss. Vielmehr gilt es, den Mythos als überzeitlich anzuerkennen und seine Wirkungsmacht zu nutzen, statt sich ihr entgegenzustellen.28

6.3.3 Vergleich Concern Ansatz und »Causal Layered Analysis« In ihren Zielen sind der Concern Ansatz und die »Causal Layered Analysis (CLA)« vergleichbar: Beide wollen die Komplexität sozialer Dynamik erfassen, um angemessenere Vorschläge für Interventionen erstellen zu können, die eine planvolle Änderung dieser Dynamik zum Ziel haben. Die CLA fokussiert sich aber – so weit zu erschließen – auf die Analyse, während der Concern Ansatz über die Analyse hinaus auf die Synthese zielt. Bei der CLA ist nicht zu erkennen, wer die Analyse durchführt und wie diese zur Synthese führen soll. Beim Concern Ansatz dagegen wird die Analyse bereits als gemeinsames Projekt der Anspruchsgruppen durchgeführt, womit ein common ground für die folgende Synthese entsteht. Weitere Unterschiede von Concern Ansatz und CLA betreffen die Haltungen zu Hierarchie, Sprache und Visualisierung sowie der Konstruktion des Sozialen. Die CLA ist als ein hierarchisches Schema konzipiert: (…) behind the level of empirical reality is cultural reality and behind that is world view. [Inayatullah 1998:817] Die CLA setzt traditionelle Begriffe voraus und adaptiert damit Bedeutungen, die als fragwürdig erscheinen müssen: Wie konstituiert sich der »world view«? Wie grenzt er sich ab von der »kulturellen Realität«? Wie werden beide bestimmt und welche Wechselwirkungen sind gegeben? Können sich die empirische Realität und der »world view« überlagern, etwa im Sinne von »das Sein bestimmt das Bewusstsein« (Marx)? Es wird zugestanden, dass Sprache realitätsbildend ist:

28 vgl. die antike Definition des Mythos durch Sallust: »Was niemals war und immer ist« sowie Joseph Campbell 1949: »The hero with a thousand faces« und seinen Einfluss auf Hollywood und die Popkultur, https://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Campbell#The_Hero_with_a_Thousand_Faces

441

442

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Language is not symbolic but constitutive of reality. [Inayatullah 1998:817] Dies wird jedoch nicht zum Anlass genommen, den in der Sprache immer schon enthaltenen »world view« zu hinterfragen. Die CLA nutzt die gleichen traditionellen Kategorien, die sie vorgibt zu analysieren. So lässt sich kein neuer Begriff der Politik entwickeln, wie es etwa die ANT in ihrer Prägung der »Dingpolitik« unternahm. Falls die CLA über ihre Analyse hinaus auch zur Synthese beitragen will, werden die traditionellen Begriffe zu einer Beschränkung, die kontraproduktiv wirkt zu den angestrebten Funktionen wie »inclusion of different ways of knowing« [Inayatullah 1998:816]. Der Concern Ansatz dagegen folgt der ANT in ihrem Bemühen, die »weltbildenden Aktivitäten« [ibid.] der Aktanten zunächst einmal nachzuvollziehen und ihnen in der Diversität ihrer Perspektiven zur Erscheinung zu verhelfen. Dafür werden alle verfügbaren Mittel an Visualisierung und Modellierung aufgeboten. Schon dadurch wird sich die »empirische Realität« anders darstellen als die offizielle »Litany«, von der die CLA ausgeht. Der Concern Ansatz liefert einen Rahmen, um das Auf und Ab der Skalierung zwischen Fakten und Werten darzustellen mit dem Ziel, Interventionen für Veränderungen einzubringen. Die beteiligten Instanzen wie events, frames und issues (vgl. Concern Canvas, 5.1) werden als soziale Konstruktionen aufgefasst, die dekonstruiert werden müssen, um ein dynamisches Wechselspiel von temporärer Stabilität und Instabilität auszulösen. Weitere Aufschlüsse wären von einem empirischen Vergleich der beiden Methoden in der Projektarbeit zu erwarten. Dafür allerdings ist die Datenlage bisher nicht ausreichend, da die CLA zu wenige Daten vorlegt (sofern sie überhaupt erhoben werden) und der Concern Ansatz durch seine Neuigkeit noch keine ausreichende Datenbasis bilden konnte.

6.4 Fazit Der Concern Ansatz realisiert eine praktische Umsetzung neuer Ordnungen: 1. Das Verhältnis von Werten und Fakten wird im Sinne Latours umpositioniert und dadurch operativ 2. Die Bedarfsgestaltung/-ref lexion wird zur grundlegenden Kategorie, in deren offener Umgebung Bedürfnisse und Begehrnisse positioniert werden 3. Dem hierarchischen Modell der »Causal Layered Analysis« wird widersprochen, und deren »world view« wird ersetzt durch einen »common ground«, wie er in der Concern Canvas erzeugt wird.

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns Ich begann wohlweislich mit einer Karte und machte die Geschichte passend. J. R. R. Tolkien Latours Forderung nach einer Visualisierung von matters of concern wird auf der Grundlage der oben bestimmten Concerns erneut betrachtet (vgl. 3.1.1). Als Ursprung der Concerns wurde die Wechselwirkung von Vorstellung und Darstellung bestimmt. Dadurch wird die Frage nach der Visualisierung von Kontroversen umgestellt auf die Modellierung der Concerns selbst. Im Hinblick auf ihre Funktionen im Transformation Design werden Karten als Machtinstrumente diskutiert, ebenso wie die Programmatik des Unmapping und der Counter Visualization. Alternative Kartografien werden gezeigt mit Beispielen zu Metaphern, Ironie und Fiktion. Schließlich werden Visualisierungen als Concern Design avant la lettre besprochen anhand der Arbeiten von Superstudio und Archigram aus den 1970er Jahren und einer frühen digitalen Modellierung der 1990er Jahre. Als eine Inspiration für künftige Modellierungen von Concerns werden »Narrative Panoramen« vorgestellt.

7.1

Keine Kartografierung von Concerns

Concerns entziehen sich in ihrer Einmaligkeit und Dynamik den universellen Ansprüchen der Kartografie. Latours Designaufgabe muss daher auf die Visualisierung von Argumenten beschränkt bleiben, sofern und soweit diese formalisierbar sind. Die bei Latour als entscheidend herausgestellte Dimension der Kontroverse in unüberschaubarer Handlungsketten kann daher gerade nicht realisiert werden. Dagegen sprechen prinzipielle und graduelle Gründe: •

Prinzipielle Gründe: Die Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Concerns lässt sich nicht vom privilegierten Standpunkt eines Beobachters festhalten. Jede Anspruchsgruppe hat ihre eigenen Sprach-, Bild- und Symbolwelten, die immer nur punktuell vermittelt werden können. Die Kommunikation über Kontroversen dagegen setzt ein gemeinsames Interesse und einen Konsens über die Verfahren voraus. Diese müssen formalen Regeln entsprechen, können aber nicht gleichermaßen symbolisch eindeutig definiert werden. Neutrale Visualisierungen sind undenkbar, da jede Form, jede Farbe und jede topologische Beziehung immer

444

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns



schon Bedeutung haben. Das Sagbare und das Zeigbare unterliegen rhetorischen und metaphorischen Wirkungen, die jede Kommunikation prägen und überformen. Graduelle Gründe: Die große Anzahl von Concerns samt ihren Akteuren und Aktanten und die damit exponentiell wachsende Komplexität ihrer Bezüge könnten auf einer Karte immer nur in Teilmengen dargestellt werden. Selbst bei unterstelltem besten Willen der Anspruchsgruppen wird man sich auf Ausschnitte und Abstraktionen einigen müssen. Doch wie soll dieser Konsens zustande kommen? Eben nicht wiederum durch eine Karte, die ja erst das Produkt des Vorhabens sein soll. Das Ringen um eine temporär konsensfähige Darstellung kann allenfalls multiperspektivisch konzipiert werden. Der Prozess der Kartografie wird somit zum Schauplatz der Auseinandersetzung, aber nicht im Sinne einer Metakartierung, sondern in der Verhandlung je individueller Präferenzen, die sich als Karten artikulieren.

Concerns als singuläre Phänomene können als individuelle Figurationen und Muster visualisiert werden, die sowohl zueinander als auch zu allgemeinen Ordnungsschemata wie etwa Zeitleisten in Beziehung gesetzt werden. Latour selbst nutzte dies für seinen Kurs »Scientific Humanities«, für den Visualisierungen als »narrative Panoramen«1 angefertigt wurden, ohne dass diese Formen jedoch theoretisch ref lektiert wurden (vgl. Abb. 92). Das hier entwickelte Konzept der Concerns liefert jedoch den missing link zwischen Latours Konzeption der ANT und angemessenen Visualisierungen.

7.1.1 Concerns als Akteure? Latours Forderung nach einer Visualisierung der matters of concern bezog sich auf eine Darstellung von Kontroversen. Transparenz, Öffentlichkeit und Teilhabe als Bedingungen für demokratische Öffentlichkeit sollten durch Visualisierung gewährleistet werden, gemäß dem Slogan »Making things public«. Doch eine Visualisierung von Kontroversen wie von Latour gefordert, kann sich nicht darauf beschränken, lediglich Pro- und Kontra-Argumente zu einer strittigen Angelegenheit diagrammatisch darzustellen. Jeder einzelne Beitrag zur Kontroverse ist vielmehr von individuellen Concerns getrieben, die daher notwendig in der Darstellung enthalten sein müssten, sich aber dem normierenden Zugriff des Diagramms entziehen. Ganz im Sinne Latours müssten die Akteure von Kontroversen nicht als Person oder Institution aufgefasst werden, die verschiedene Argumente artikulieren, sondern genau umgekehrt müssten Concerns als Akteure gesehen werden, die sich Protagonisten suchen, die sie verkörpern.2 Erst so können Concerns als das »riesige Aufgebot von Entitäten« aufgefasst werden, »die zu den Akteuren hinströmen«3 und sie dadurch erst als solche konstituie1 vgl. Beispiele von Michele Graphieti zu Latours MOOC-Kurs »Scientific Humanities«, www.graphieti. com/mooc-latour 2 vgl. »Vielmehr ist es das Subjekt, das den Wunsch verfehlt, oder diesem fehlt ein feststehendes Subjekt; denn ein solches existiert nur kraf t Repression.« [Deleuze/Guattari AÖ:36] 3 »Ein Akteur in dem Bindestrich-Ausdruck Akteur-Netzwerk ist nicht der Ursprung einer Handlung, sondern das bewegliche Ziel eines riesigen Aufgebots von Entitäten, die zu ihm hinströmen.« [NSoz:81, vgl. B 4.7]

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

ren. Wenn Concerns aber als eine solche unübersehbare Population aufgefasst werden, wie sollte dann eine objektivierende Darstellung gelingen können? Eine Neuformulierung der Aufgabe zielt nicht auf die Visualisierung von Kontroversen um matters of concern, sondern auf die Darstellung der Concerns selbst. Davon könnten analytische Zwecke wie sie etwa die ANT verfolgt, ebenso profitieren wie die synthetischen Zwecke des Designs. Visualisierungen sind hier ebenso denkbar wie andere Ausdrucksformen, etwa poetische oder musikalische. Doch Kartografien, die mehrere Concerns simultan und unter gleichem Maßstab abbilden, kann es nur für deren »artifizielle Organisation« [ÖkW:98] geben, die Latour – Tarde interpretierend – entdeckte. So können Concerns in ihrer Wechselwirkung mit Fakten, Issues, Ereignissen und Frames diagrammatisch gefasst werden, wie dies experimentell in der Concern Canvas begonnen und im Modell des Möbiusbandes weitergeführt wurde (vgl. C 5.2).

7.1.2 Suche nach Attraktoren für Concerns Es bleibt jedoch zu fragen, in welchem Medium, über welche Zeichen und Verkörperungen die simultane Darstellung und Modellierung von Concerns stattfindet. Der doppelte Bezug als Darstellung und Erzeugung rechtfertigt eine Konzeption als Attraktor. Zu diesen strömen Intensitäten hin, versammeln sich und nehmen Form an, bevor andere Attraktoren wirksam werden, die eine neue Bewegung auslösen und andere Formen bilden. Wenn das Transformation Design solche Umstellungen analysieren und initiieren will, muss es diese Dynamik begleiten und in der Lage sein, neue Attraktoren zu erzeugen, die als Leitbilder wirksam werden. Als Attraktoren sind zunächst die tradierten Ikonografien von Metaphern zu nennen, wie sie im kollektiven Gedächtnis verankert sind: Zu großen Concerns wie Tod und Liebe sind umfangreiche Bildwelten überliefert. Neben kirchlichen Symbolen tritt etwa der Tod als Sensenmann und Totentanz auf, während die Liebe etwa durch Herzen und Cupids dargestellt wird. Diese Symbole sind eingebettet in Rituale, die die Attraktoren rahmen. Hier entscheidet sich, was wann wie gesagt und gezeigt werden kann mit der Aussicht, verstanden zu werden. In den Ritualen verkörpern, bilden und erneuern sich die Concerns.4 Traditionelle Symbole sind zwar wirkungsmächtig durch ihre Normativität, aber gleichzeitig wenig hilfreich, wenn neue oder differenziertere Concerns angesprochen und dargestellt werden sollen. Eine Differenzierung von Gefühlen, Haltungen und Handlungen muss immer neue Ausdrucksformen bilden, im äußersten Falle bis hin zu einer Privatsprache, die nur zwei Menschen verstehen oder mit der sich sogar nur eine Person selbst verständigt.5 Neue Symbole und Rituale werden zunächst nur als Abweichungen von den etablierten Formen wahrgenommen, bevor sie sich als eigenständiger Ausdruck durch4 So wurde gefordert, dass sich das anthropologische Interesse auf sichtbare Rituale fokussieren sollte, statt sich in Spekulationen zum Glauben zu verlieren, vgl. »Study the ritual, not the belief« [Malinowski, zitiert nach Jarvie 2010:44], zum Thema Ritualdesign vgl. Karolewski, Miczek 2012. Beim Thema Tod kann das Design unterschiedliche Dimensionen bearbeiten, wie beim Projekt »Design your death« von Portable gezeigt wurde, https://www.portable.com.au/articles/death-design-research-and-development, vgl. A 10.5.3. 5 zum Ausdruck »Privatsprache« vgl. Wittgenstein 1996

445

446

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

setzen können oder auch wieder verschwinden. Wenn der Kanon ehemals verbindlicher, etwa religiöser Formen zum Beispiel zum Thema Tod oder Liebe verlassen wird, werden die Leerstellen zunächst mit Ersatzdarstellungen gefüllt. Diese können von Naturdarstellungen bis zur Popmusik reichen, erscheinen gegenüber der Geschlossenheit der Tradition aber oft als wenig stabil.

7.2 Vorstellung und Darstellung Concerns und Darstellung sind nicht in einem einfachen Abbildungsverhältnis verbunden. Die Repräsentation illustriert keinen a priori gegebenen Inhalt. Vielmehr bilden sich die Concerns erst in den wiederholten Versuchen ihrer Artikulation. Hier gibt es nicht den einen gültigen Ausdruck, sondern es braucht immer wieder neue Anläufe und Umformungen. Analog zur von Latour konstatierten »Sprachverlegenheit«6 kann von einer »Bildverlegenheit« gesprochen werden. Die wechselseitige Bedingung von Vorstellung und Darstellung7 wird als Ursprung der Concerns verstanden. Aus dieser Verbindung entspringt eine Poiesis, die das Potenzial des Denkens und Fühlens in Analogien und Relationen erschließt. Die Concerns bilden und zeigen sich gleichzeitig in einem Ausdruck, sei dieser unwillkürlich wie bei Mimik und Gestik oder bildnerisch durchgearbeitet wie in der gesamten Bandbreite medialer Formen von den Künsten über das Design bis zur Werbung. Die Antwort auf Latours Forderung nach Visualisierungen der matters of concern führt daher zur Frage der Konstituierung der Concerns selbst: Wie begründen sich diese in Lebens-, Bild- und Sprachformen? Die bei Latour vorausgesetzte Ausbreitung und Explikation der Handlungsketten muss auch für Concerns gelten, an deren Zusammensetzung viele Agenten und ihre Übersetzungen arbeiten (vgl. B 3). Concerns müssen daher auf einer Pluralität von Maßstäben, Abbildungsregeln und Kategorien bestehen. Traditionelle Karten bieten jedoch universalistisch nur einen Maßstab, eine Abbildungsregel und ein Set von Kategorien und sind daher für Concerns nicht geeignet. Unterschiedliche Maßstäbe sind beim Konzept des »Gigamappings« zugelassen, das versucht, die Begrenzungen von Sachgebieten durch ein zusammenfassendes Diagramm zu überwinden.8 Doch etwa beim Thema »Eat/Food«9 wird lediglich die Logistik der Produktion und die Verteilung von Nahrungsmitteln in unüberschaubarer Komplexität gezeigt. Es fehlen die entscheidenden Concerns, sodass weder die Lust am Essen noch die damit verbundenen Kontroversen deutlich werden. Für das Concern Design ist eine solche Darstellung daher nicht geeignet.

6 vgl. B 8.6 7 vgl. »den vorstellend-herstellenden Menschen« [Heidegger 2013/1938:89], B 8.4.1 8 »Gigamapping is super extensive mapping across multiple layers and scales with the goal of investigating relations between seemingly separate categories, hence providing boundary critiques on the conception and framing of systems.« https://systemsorienteddesign.net/what-is-gigamapping 9 Der Anspruch ist eine neutrale, aber umfassende Beobachtung, die nicht problematisiert wird: »(…) the current food system was mapped out« (https://systemsorienteddesign.net/eat-food).

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

7.2.1 Leben in Metaphern, Mustern und Modellen Die Karten zugrunde liegenden Metaphern sind keine einfachen Abbildungen von andernorts entwickelten Inhalten, sondern die Inhalte werden erst durch ihre Fassung als Metapher entwickelt.10 Die Prägung des »soziologischen und politischen Imaginären« [Lüdemann 2004] durch Metaphern wurde ausreichend belegt. So macht es einen grundlegenden Unterschied, ob etwa der Staat als Maschine oder als Organismus angesehen wird. Die Rede von den »kognitiven Karten« hebt ab auf Orientierung und Kategorisierung, die ebenso emotional wie strukturell grundiert sind. Erst die Wechselwirkung und detaillierte Übersetzung von unbewusster Disposition zur Bildung von Präferenzen und schließlich zu bewussten Entscheidungen begründet das Vermögen der Concerns, zu den »weltbildenden Aktivitäten«11 beizutragen. Damit wird das Selbstbild der vermeintlich rationalen Planung konterkariert von vorgängigen, unwillkürlichen und intuitiven Entscheidungen, die ex post rationalisiert werden. Metaphern und Karten sind immer schon unhintergehbar gegeben. Beide finden keine unbeschriebenen Blätter vor, auf denen sie so oder anders artikuliert werden könnten. Vielmehr fügen sich beide in ein Netz längst etablierter Analogien und Relationen ein, die ebenso virtuell wie real, metaphorisch wie materiell das Verhältnis von ich und Welt bestimmen und beide in dieser Beziehung erst hervorbringen.12 Dadurch werden nicht nur das Gleiche und Ähnliche, sondern auch das Fremde und Andere zu Mustern verbunden. Was sich nicht verbinden ließe, wäre grundsätzlich nicht adressierbar. Vielleicht könnte Gregory Batesons Frage in diesem Sinne verstanden werden: Welches Muster verbindet den Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit der Primel und all diese vier mit mir? Und mich mit Ihnen? Und uns alle sechs mit den Amöben in einer Richtung und mit dem eingeschüchterten Schizophrenen in einer anderen? [Bateson 1987/1979:15] Relationen und Muster sind das ureigene Gebiet des Designs.13 Nach dem oben eingeführten Code von Irritation und Normalisierung (2.6.1) ist zu fragen: Welche neuen Muster und Transformationen erzeugt das Design (Irritation) und welche Formen der Bewältigung und Stabilisierung (Normalisierung) bietet es? Die Form interessiert hier weniger als autonome Einheit, sondern in Relation zu anderen; weniger was da ist soll bedeutsam sein, als vielmehr wie es ist. Daher wird die Ästhetik im Design nicht wie in der Kunst als autonom aufgefasst, sondern als immer schon auf andere bezogen

10 Daher wurde zu Recht von einem Leben mit und durch die Metapher gesprochen als »Metaphors we live by« [Lakoff/Johnson 2000/1980], vgl. auch Kroß/Zill 2001. 11 vgl. Goodman 1990/1978, RA:561 12 Dazu wurde eine Einsicht formuliert, die der ANT nahekommt: »(…) Darstellungen wirken wie Akteure, die den Deutungsrahmen eröffnen und begrenzen, innerhalb dessen wahrgenommen und gehandelt wird. Mensch und Welt gehen ihrer Relation nicht als substanzielle Gegebenheiten voran, sondern sie entstehen erst im Prozess ihrer Relationierung.« [Schürmann 2018:12] 13 vgl. die »pattern language« von Christopher Alexander [Alexander 1977] sowie »I argue this is the key human quality: man the pattern maker, homo designans. [Glanville 2010:104]

447

448

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

und ist dadurch ethisch grundiert. In Bezug auf die Gestaltung von Concerns treffen daher die literarisch formulierten Einsichten zu: Man hat im Wesentlichen nach Mustern gelebt und nach Mustern sich verbraucht. [Strauß 2016:52] Wer kann heute noch sagen, dass sein Zorn wirklich sein Zorn ist, wo ihm so viele Leute dreinreden und es besser verstehen als er?! [Musil 2005/1930:150] Bei der Prägung und Durchsetzung kultureller Muster lassen sich historische Stufen definieren: Waren es früher Fürstenhöfe, Aristokratie und Tradition, sind es heute Medien und Märkte, auf denen das Spannungsfeld zwischen bewussten und unbewussten, eigenen und fremden Mustern verhandelt wird. Die Gewohnheit bietet dabei Fassung, Haltung und Sicherheit, aber auch Limitierung, Enge und Zwang.14 Das Verhältnis von gesellschaftlicher Prägung und individueller Selbstbestimmung neu zu vermessen, war das Thema sowohl von Félix Guattaris »Schizoanalytic Cartography« [Guattari 2013/1989] als auch von Michel Foucaults Programm der »Technologien des Selbst«, durch die bewusste Transformationen ermöglicht werden sollten: Darunter sind gewusste und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren […] suchen. [Foucault 1989:18] Diese Praktiken können als Modellierung aufgefasst werden, denn wo findet dieser Selbstentwurf sein Ziel, wenn nicht in den Projektionen und Antizipationen, wie sie im Design behandelt werden?15 In Latours Sichtweise drückt sich darin nur ein typisches Merkmal der Moderne aus, die eine Selbstoptimierung und Selbstübersteigung anstrebt. Tradierte Muster zu verlassen, um zu völlig neuen, unbekannten Formen aufzubrechen, ist ein zentrales Narrativ der Moderne. Die Paradoxie liegt darin, dass auch das Narrativ des Auf bruchs aus alten Mustern nur ein weiteres Muster ist. Wird dieses als absoluter Wert16 gesetzt, wird es unmodern und fordert Alternativen des Vor-, Post- oder A-modernen heraus. Für die Frage der Concerns und ihre Funktion im Transformation Design bleibt der Schluss, dass Aspekte wie Vernunft und Planung und ihre Werkzeuge wie Strategien und Karten zurückgestuft werden zugunsten einer offenen Umgebung, in der sich Metaphern, Muster und Modelle aneinander abarbeiten (vgl. 2.7.1). Daher kann diese Designarbeit als »Meta-Modellierung« im Sinne Guattaris verstanden werden.17 14 vgl. »Netz der Gewohnheit« [Hampe, Lindén 1993], wo Aussagen zur Gewohnheit aus über 2000 Jahren versammelt sind von Autoren wie Aristoteles, Thomas von Aquin, Luther, De Montaigne, Descartes, Hume, Rousseau, Kant, Hegel, Nietzsche, Peirce, Dewey und Heidegger. 15 vgl. Nadin 1989, 2003 16 vgl. »Il faut être absolument moderne«, Arthur Rimbaud 1873: Eine Zeit in der Hölle, dort allerdings eher als Zumutung formuliert: »Immerhin, ich dachte kaum mehr an das Vergnügen, den modernen Leiden zu entwischen«, vgl. https://www.matthes-seitz-berlin.de/artikel/fluctuat-nec-mergitur-rimbauds-poetischer-altwarenhandel-i.html 17 vgl. »Schizoanalytische Metamodellierung« [Guattari 2014/1992:77], A 2.7.1

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

7.2.2 Produktion und Rezeption: Visual Literacy Die Funktionen von Karten und Metaphern, Mustern und Modellen in Bezug auf Concerns führen auch zur Frage der Kompetenz. Diese betrifft sowohl die Produktion als auch die Rezeption: Wer ist in der Lage, avancierte Karten und Modelle zu konzipieren und zu produzieren? Und, ebenso wichtig, aber weit seltener gefragt: Wer kann diese lesen und nutzen? Dabei fällt auf, dass es weniger an neuartigen Karten und Modellen zu fehlen scheint als an einer entsprechend geschulten Rezeption.18 Dafür wären Kompetenzen erforderlich, die zwischen einer humanistisch-literarischen und einer naturwissenschaftlichtechnischen Sicht vermitteln können und damit genau jenen entsprechen, die Latour in seinem Kurs als »scientific humanities« angesprochen hat (vgl. B 9.3). Dort wurde leider nicht erkannt, dass mit dem Design längst eine Grundlage für diese Kompetenzbildung gegeben ist, die durch den Begriff »bildnerisches Denken« angedeutet wird.19 Eine systematische Entwicklung dieser Erfahrungen und Kenntnisse steht aber immer noch am Anfang und müsste verstärkt auch Potenziale der Rezeption entwickeln. Komplexe Modelle sind für Laien nicht ohne Weiteres verständlich, einfachere Modelle dagegen können auf den Widerspruch von Experten treffen. Es ist daher eine Frage der Gestaltung, ob interaktive Möglichkeiten entworfen werden können, die etwa verschiedene Auswahlmöglichkeiten für den Grad an Komplexität anbieten, ähnlich dem »level of detail« in Architekturmodellen. Die entscheidenden Fragen lauten: • Ist das Wissen um die Produktion und Rezeption von Karten und Modellen ein Spezialwissen oder kann es zum Allgemeingut einer »Visual Literacy« werden? Latour hatte begründet, warum Darstellungen einen zentralen Stellenwert haben für die Organisation demokratischer Öffentlichkeit. Wenn ihm darin gefolgt wird, muss geklärt werden, ob nur Experten grafisch kommunizieren können oder inwieweit auch Laien daran zumindest passiv teilhaben können • Wie wird das Verhältnis zwischen pluriversalen und universalen Karten verhandelt und vermittelt? Welche Karten können als normativ verbindlich durchgesetzt werden, z.B. in Bildung und Verwaltung und welche können als »Privatsprache« entwickelt und erhalten werden? • Wie stark prägen digitale Tools die Funktionen und die Ästhetik von Karten und Modellen? Wer hat Zugang dazu in Kompetenz und Finanzierung? Darüber hinaus muss festgehalten werden, dass Visualisierungen nicht einfach in einer neutralen Umgebung erscheinen, sondern dass sie beim Kampf um Aufmerksamkeit in Konkurrenz treten zu anderen Visualisierungen und Wahrnehmungsangeboten. Wie bei jeder Machttechnik stellen sich auch bei den Karten die Fragen nach der Prägnanz und Durchsetzung.

18 So sind die Arbeiten in »Terra Forma« [Aït-Touati et al. 2020] ästhetisch anspruchsvoll, aber nur für Eingeweihte verständlich. 19 vgl. die Verwendung dieses Begriffs bei Paul Klee, Rudolf Arnheim und Charles Sanders Peirce

449

450

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

7.3 Transformation Design und Kartografie Wie kann sich das Transformation Design positionieren zu den Perspektiven der ANT einerseits und der Kartografie als Werkzeug und Schauplatz der Macht andererseits? Hier sind vor allem zwei Strategien zu nennen: • Die Wirkungsmächtigkeit von Visualisierungen und Karten wird genutzt, um Sachverhalte zu zeigen, die in der medialen Öffentlichkeit unterrepräsentiert sind. Die Erstellung der Karte bleibt dabei traditionell, allein die Auswahl der Daten macht den Unterschied. Beispiele: Lieferketten, Besitz- und Produktionsverhältnisse, besetzte Häuser20 • Die Karte selbst wird als Instrument der Normalisierung sichtbar gemacht durch gestalterische Abweichungen. Diese regen an zu neuen Wahrnehmungen und kritisieren die sonst unterschwellig bleibende Manipulation von Karten. Beispiel: Buckminster Fullers »Dymaxion-Karte« ist modular angelegt und kann verschiedene Perspektiven zeigen. Dadurch wird eine auf Europa, die USA oder China zentrierte Weltsicht infrage gestellt (Abb. 84 rechts)

7.3.1 Wissensräume und Leerstellen Ein entscheidender Vorteil von Karten gegenüber der Schrift ist die Möglichkeit, simultane Vergleiche und Zuordnungen zu ermöglichen. Schon eine einfache Tabelle ermöglicht Denkfiguren, die über die Schriftform hinausgehen.21 Zwei Kolumnen schaffen bereits eine Vergleichbarkeit im Hinblick auf ein Drittes und Leerstellen werden adressierbar. Das Design findet hier Möglichkeitsräume, die Platz für Spekulationen und experimentelle Entwicklungen bieten. Auch das Raster sollte entsprechend gewürdigt werden: (…) das Raster als Kulturtechnik zu begreifen und damit als ein repräsentationales und zugleich operatives Medium, in dem ästhetische, topographische, semiotische und polizeiliche Aspekte miteinander interagieren. [Siegert 2003:96] Auf alten Weltkarten sind häufig neben den bereits vermessenen Landmassen weiße Flecken zu sehen, die für unbekannte Gebiete stehen und immerhin das bekannte Nichtwissen repräsentieren. Andere Gebiete, zu denen keine Daten vorliegen, werden dagegen durch Spekulationen gefüllt. Jenseits erschlossener Länder und Ozeane findet sich dann etwa der Hinweis: »Hic sunt dragones! – Hier sind Drachen!« (Abb. 83)

20 Beispiele hierfür sind etwa http://596acres.org und https://berlin-besetzt.de. Hier werden freie Grundstücke und Nachbarschaftsaktivitäten bzw. besetzte Häuser in interaktiven Karten gezeigt. 21 vgl. von Hilgers, Khaled 2004

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns



Abb. 83: Kartierung des Nichtwissens: Hier sind Drachen!«22

Deren visuelle Darstellung beruht naturgemäß nicht auf eigener Anschauung, sondern gibt Auskunft über die Concerns und die Fantasie ihrer Urheber: Welche Projektionen von Ängsten und Hoffnungen sind mit dem Ungewissen verbunden? In Bezug auf das Transformation Design gilt es, für die verschiedenen Fälle von Wissen und Nichtwissen angemessene Visualisierungen zu schaffen und gleichzeitig im Sinne von Counter Visualizations deren Bedingungen zu kommunizieren: •







Bekanntes Wissen/Daten/Fakten und Concerns Wie wird bekanntes Wissen kommuniziert? Wie kann über bekanntes Wissen kommuniziert werden? Wie kann bekanntes Wissen in neuen Formen dargestellt werden? Wie kann damit anders über bekanntes Wissen kommuniziert werden? Metaphern z.B. Geografie: fester Grund, Architektur: solide Fundamente, tragfähige Beweise, kühne Konstruktionen, Wert/Schatz: gesicherte Erkenntnis, hochkarätige Experten Aktuell bekanntes Unwissen Wie wird das bekannte Unwissen kommuniziert? Wie kann über das bekannte Unwissen kommuniziert werden? Wie kann bekanntes Unwissen in neuen Formen dargestellt werden? Wie kann damit anders über bekanntes Unwissen kommuniziert werden? Metaphern z.B. Geografie: neue Wissensgebiete erobern, bearbeiten, in die Tiefe gehen, Pioniere, neue Horizonte, Religion: digitale Roboterhand im »Handshake« mit der Zukunft (analog zu Michelangelos Bild »Die Erschaffung Adams«), Eisberg: nur die Spitze ist sichtbar, Freud: das Unbewusste im »Keller« des Ich

22 Quelle: https://www.faz.net/aktuell/reise/historische-karten-im-old-map-center-in-hamburg-17208 655/zeichnerische-fabulierkunst-17212648.html (Bild: Stefan Nink)

451

452

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns



Das unbekannte Unwissen Wie wird das unbekannte Unwissen kommuniziert? Wie kann über das unbekannte Unwissen kommuniziert werden? Wie kann das unbekannte Unwissen in neuen Formen dargestellt werden? Wie kann damit anders über das unbekannte Unwissen kommuniziert werden?



Metaphern Architektur: »verlassene Leere«23, Mythologie: das unbeherrschbare Meer, Neptun, Religion: auf hoher See sind wir in Gottes Hand, Kunst: Numinoses

7.3.2 Beispiele für Mapping und Unmapping Im Kontext sozial ambitionierten Designs wird versucht, den offiziellen Karten mit Counter Cartographies zu begegnen und so neue Sichtweisen zu ermöglichen. Deren Funktionen werden als vielfältig angegeben: Counter Cartography, … as a tool for action, … tie networks, … build political pressure, … is education, … create visibility, … show spatial subjectivity, … as self-reflection, … as critique.24 Häufig werden in den beschriebenen Projekten jedoch traditionelle Karten gezeigt, die lediglich alternative Daten zum Gegenstand haben. Aber auch traditionelle Karten können neue Einsichten produzieren, und sogar die Illustrationen aus einem Schulatlas können dazu beitragen (Abb. 84 links).25 Um einem weiter gehenden Anspruch zu entsprechen und neue Kartografien zu entwerfen, müssen zunächst tradierte Kategorien und Ordnungssysteme aufgelöst werden (unmapping), um sie danach in neue Bezüge wieder einsetzen zu können (remapping). Aus einem solchen Verfahren entstand Buckminster Fullers »Dymaxion Air-Ocean Map« (Abb. 84 rechts).

23 Daniel Libeskind konzipierte im Jüdischen Museum in Berlin Leerstellen als »voided voids«. 24 https://notanatlas.org/book (table of content) 25 Für die politische Forderung, globale Lieferketten zu verfolgen und dafür Qualitätsstandards zu definieren und durchzusetzen, wurde dagegen das Potenzial von Karten noch nicht erkannt, https:// lieferkettengesetz.de/fallbeispiele

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

Abb. 84: Handlungsketten und Weltkarten, links: »Globale Warenketten (am Beispiel Jeans)«26, rechts: Buckminster Fullers »Dymaxion Air-Ocean Map« (1927/1954)27 Bevor jedoch die Notwendigkeiten neuer Karten diskutiert werden, gilt es zunächst, die Defizite aktueller Karten zu benennen und berichtigen. So zeigt die Mercator-Projektion, die die europäische Weltsicht seit fast 500 Jahren bestimmt, falsche Größenverhältnisse zwischen den Landmassen (Abb. 85 links).28 In der Nähe des Äquators erscheinen die Flächen annähernd maßstabsgerecht, während sie zu den Polen stark verzerrt und zu groß dargestellt werden. Grönland erscheint als ebenso groß wie Afrika, während dieser Kontinent tatsächlich vierzehnmal größer ist. Die Animation von Neil Kaye zeigt, wie weit die tatsächlichen Landgrößen von den dargestellten abweichen.

Abb. 85: Projektionen und Schätzungen, links: Neil Kaye »World Mercator projection with true country size added«29, rechts: Kai Krause »The True Size of Africa30

26 https://diercke.westermann.de/content/globale-warenketten-am-beispiel-jeans-978-3-14100800-5-271-4-1 27 https://www.bfi.org/about-fuller/big-ideas/dymaxion-world/dymaxion-map, Foto: PFS 28 Google Maps stellte 2018 von der Mercator-Projektion auf ein Globus-Modell um. Auf Smartphones ist jedoch weiter die Mercator-Projektion zu sehen, https://tinyurl.com/yckrxsth 29 https://tinyurl.com/5797h4hy (Animation) 30 http://kai.sub.blue/images/True-Size-of-Africa-kk-v3.pdf

453

454

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Um dieses falsche Weltbild zu korrigieren und durch ein zutreffenderes zu ersetzen, sind visuelle Analogien sinnvoll, die die Größenverhältnisse anschaulich machen. Dies gelingt durch eine visuelle Montage (Abb. 85 rechts). Hier ist zu sehen, dass der Umriss von Afrika die Landmassen der USA, Chinas, Indiens, Japans und großer Teile Europas aufnehmen kann.31 Der Designer Kai Krause als Urheber dieser Darstellung erkennt in der Unfähigkeit, geografische Verhältnisse realistisch einzuschätzen eine ähnlich fundamentale Schwäche wie beim Analphabetismus und schlägt dafür den Begriff »immappancy« vor. In addition to the well-known social issues of illiteracy and innumeracy, there also should be such a concept as immappancy, meaning insufficient geographical knowledge.32 Dieses Beispiel belegt: Um das Potenzial des Designs zu nutzen, ist es nicht notwendig, neue Daten zu erheben oder originelle Darstellungstechniken zu entwickeln, im Gegenteil: Es ist schon viel erreicht, wenn das scheinbar Bekannte so gezeigt wird, dass neue Einsichten entstehen können.33 Diese Aussage entspricht Latours Feststellung: »Von nichts haben wir eine sehr gute Beschreibung« [NSoz:252, vgl. B 8.3].

7.3.3 Beispiel für Metaphern: Die »Carte de Tendre« Gefühle werden erst wahrnehmbar, wenn sie eine Bezeichnung haben, und erst differenzierte Bezeichnungen ermöglichen eine neue Differenzierung von Gefühlen.34 Die Darstellungen und Vorstellungen von Gefühlen fallen zusammen, so wie es auch für die Concerns behauptet wurde. Vor diesem Hintergrund ist die »Carte de Tendre« aus dem 18. Jahrhundert bemerkenswert, da sie Attraktoren im Bereich der Liebe zeigt (Abb. 86 links). Zu sehen ist eine Landschaft mit Bergen und Flüssen, einem See und dem Meer. Darin eingetragen sind Bezeichnungen wie »unbekannte Gefilde der Leidenschaft«, »See der Gleichgültigkeit« und »Flüsse der Wertschätzung, der Dankbarkeit und der Freundschaft«.

31 Es mag bezeichnend sein, dass diese Darstellung nicht durch einen Kartografen erstellt wurde, sondern durch einen Designer: »Die wahre Größe Afrikas hat Kai Krause, ein bekannter deutscher Computergrafiker, einmal sehr eindrücklich gezeigt. Schon auf den ersten Blick wird in seiner Darstellung deutlich: Afrika ist größer als die USA, China, Indien, Japan und Europa zusammen. Allein die Sahara ist so groß wie die Vereinigten Staaten von Amerika – und sie macht nur etwa ein Drittel Afrikas aus. Addiert man zur Fläche der USA die von China, Indien, Mexiko, Peru, Frankreich, Spanien, Papua, Neuguinea, Schweden, Japan, Deutschland, Norwegen, Italien, Neuseeland, Großbritannien, Nepal, Bangladesch und Griechenland, dann schließlich hat man die Größe Afrikas erreicht.« https://www.ntv.de/wissen/So-gross-ist-Afrika-wirklich-article13705111.html 32 https://invisiblechildren.com/blog/2013/02/25/kai-krause-the-true-size-of-africa 33 Einst wurde empfohlen: »Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge.« Arthur Schopenhauer 1851: Parerga und Paralipomena, Band 2, Kapitel 23. 34 So führt eine Enzyklopädie Dutzende bisher nur wenig bekannte Begriffe auf, mit denen Gefühle bezeichnet werden: »Abhiman, Acedia, Awumbuk, Baxorexie, Brandis, …« [Smith 2015: The Book of Human Emotions. An Encyclopedia of Feeling from Anger to Wanderlust].

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

Abb. 86: Karten der Gefühle, links: François Chauveau um 1754: La Carte du Pays de Tendre, kolorierter Kupferstich, rechts: Werbung Fa. Lexware, Beilage in Zeitschrif ten ca. 2018 Diese Karte wurde gewürdigt als eine Eröffnung neuer Möglichkeiten der differenzierten Wahrnehmung: Madeleine de Scudéry schrieb in dem umfangreichen Romanwerk Clélie eine über das damalige Verständnis hinausgehende, große Bandbreite von zärtlichen Empfindungen zwischen Frauen und Männern fest, die dann, nach Diskussion und Erprobung, real wurden. Dieses preziöse Bestreben hat seine Auswirkungen bis in unsere Zeit, nämlich das wahrnehmbar machen von differenzierten zwischenmenschlichen Gefühlen. Die galt es damals, nach den jahrzehntelangen Religionskriegen neu oder überhaupt erst zu entdecken. Gewöhnliche Worte schienen dafür zu grob oder nicht ausdrucksstark genug. [Eske 2010:o.S.] Die visuelle Metapher der Landschaft legt den Schluss nahe, dass weitere, versteckte und noch nicht bezeichnete Gefühle zu finden sein könnten. Die Begriffe erzeugen neue Konstellationen, wenn sie visuell in nachbarschaftliche Beziehungen gebracht werden. Die Karte eignete sich daher als Ausgangspunkt für Gesellschaftsspiele und wurde erst später in das Romanwerk der Autorin übernommen.35 Die »Fragmente einer Sprache der Liebe« [Barthes 1988] äußern sich nicht nur als Wort und Schriftsprache, sondern vor allem und zuerst in Handlungen und Zuständen wie Hoffen, Warten, Bangen, Freude, Erfüllung und Verzweif lung. Deren Formen unterliegen Übereinkünften und Abweichungen und sind abhängig von Leitbildern. So war das Repertoire einer »Sprache der Liebe« nach Goethes Werther nicht mehr

35 »The Carte de Tendre was ›conceived as a social game during the Winter of 1653-1654‹ by Madelaine de Scudéry, and a printed copy was ›later incorporated into the first volume of her coded novel, Clélie.‹ [Reitinger 1999:109]«, zitiert nach https://en.wikipedia.org/wiki/Madeleine_de_Scud%C3%A9ry, vgl. die »Kulturgeschichte literarischer Emotionen«: »Die vorliegende Af fektpoetik unternimmt den Versuch, diese Auf- und Umwertungsprozesse anhand literarischer Gattungen nachzuvollziehen. Sie beleuchtet die elegische Trauer, das idyllische Glück, den hymnischen Enthusiasmus, die satirische Aggression, den grotesken Ekel, die melodramatische Sehnsucht, die Angst des Märchens sowie weitere Gattungen als kulturelle Medien der Af fekte.« [Meyer-Sickendiek 2005]

455

456

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

dasselbe, ebenso wie es heute den Einf lüssen von Filmen und Medienplattformen unterliegt.36 Das Prinzip der »Carte de Tendre« wurde inzwischen vielfach kopiert, aber nicht immer mit überzeugenden Ergebnissen.37 So zeigt ein Werbemotiv eine Landkarte mit offensichtlich willkürlich verteilten Begriffen und kognitiven Dissonanzen (Abb. 86 rechts). Ein »Meer der Sicherheit« wird behauptet, obwohl ein Ozean immer schon für Ungewissheit stand. Dichter an den sprachlichen und visuellen Metaphern bleibt dagegen eine »Landkarte des Scheiterns« (Abb. 87): Hier gibt es unter anderem »die Flaute der Unfähigkeit, das Schmach-Gebirge, die Küste der Versandeten, Eitelkeitssirenen, das Labyrinth der Lethargie und den Strudel der Überforderung«.38

Abb. 87: Eine »Landkarte des Scheiterns (Terra defectans)« von Veronika Schumacher 39

7.3.4 Beispiel für Ironie: Saul Steinberg Eine weitere Möglichkeit, Concerns über Visualisierungen zugänglich zu machen, ist die Ironisierung. Hier wird die Kenntnis einer traditionellen geografischen Darstellung vorausgesetzt, um sich durch eine ungewöhnliche Verschiebung davon überraschend und erkenntnisbildend abzusetzen. So zeigt eine berühmte und vielfach kopierte Illustration Saul Steinbergs die kognitiv-emotionale Karte eines Bewohners von Manhattan (Abb. 88 links). Dieser kennt seine eigene Straßenecke am besten, doch schon jenseits des Hudson Rivers ist der Rest der USA nur noch als großes Weizenfeld zu sehen, das bis zum Pazifik reicht und an dessen Horizont bereits Japan, China und Russland erscheinen. 36 vgl. 3.2.1, 3.5.3. Untersuchungen zur »Liebessemantik« stellten die Abhängigkeit der erwarteten, zulässigen oder abzulehnenden Formen von der Gesellschaftsstruktur fest, vgl. Luhmann 1994, Sommerfeld-Lethen 2008, vgl. 2.3 37 Es gibt bereits Software für die spielerische Erzeugung metaphorischer Landkarten, https://azgaar. github.io/Fantasy-Map-Generator/ 38 www.kulturmassnahmen.de/terra.htm 39 w ww.veronika-schumacher.de

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

Abb. 88: Kognitiv-emotionale Karten, links: Illustration von Saul Steinberg, Cover von The New Yorker, 1976 40, rechts: von Steinberg inspiriertes Cover von The Economist – How China sees the world, 2009 Steinbergs Visualisierung führt das Nächstliegende detailliert und realistisch aus und springt dann plötzlich in eine irreale Ferne, die übertrieben undifferenziert wirkt. So wird eine ungewöhnliche Perspektive erzeugt, die erheitert, weil sie zum einen technisch unmöglich ist, aber als Zeichnung plausibel erscheint und zum anderen das Vorurteil bestätigt, dass jeder nur an seiner unmittelbaren Umgebung interessiert ist und entferntere Dinge allenfalls stereotyp wahrnimmt. Eine Visualisierung von Concerns widerspricht jedoch selbst einer solchen überdehnten universalistischen Perspektive, da sie erfordert, für jeden einzelnen Concern spezifische Maßstäbe anzulegen. Concerns wie »Sicherheit«, »Erfolg« oder »Gesundheit« erfordern jeweils eigene Karten, die nicht in Meta-Kartierungen aufgehen können.41 Dazwischen sind nur lose Verbindungen mit weniger Eintragungen möglich.

7.4 Beispiele für Concern Design Das Design von Concerns ist kein neues Phänomen, sondern eine neue Perspektive auf Aspekte, die aus anderen Kontexten bekannt sind. Daher können historische Arbeiten gezeigt werden, die dem Anspruch des Concern Designs entsprechen und originelle Visualisierungen gefunden haben. Vor allem in utopischen Architekturentwürfen wurden und werden Vorstellungen zu Sozialität und Umwelt entwickelt und artikuliert. Die Freiheit der Darstellung und der Verzicht auf unmittelbare Umsetzung eröffnen Vorstellungsräume, die eine Vielzahl von Assoziationen und Emotionen im Sinne 40 https://en.wikipedia.org/wiki/View_of_the_World_from_9th_Avenue 41 vgl. B 2.2.7, 2.2.8

457

458

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

von Concerns zulassen und nicht auf rationale Problembewältigung reduzierbar sind. Solche Entwürfe sind in vielen Stilepochen zu finden wie etwa dem Barock (Giovanni Battista Piranesi 1720-1778) oder der vom Expressionismus beeinf lussten Moderne (Bruno Taut 1880-1938). Die Bandbreite von Piranesis Aktivitäten könnte heute als die Tätigkeitsbeschreibung eines Designforschers gelten: »Archäologe, Künstler, Architekt, Sammler, Designer, Verleger und Autor«.42 Auch Bruno Taut deckte ein Spektrum ab, das einem aktuellen Designportfolio entsprechen könnte: Er engagierte sich für soziale Qualitäten beim Wohnungsbau, stand mit dem Garden City Movement einer frühen ökologischen Bewegung nahe und entwickelte futuristische Visionen einer alpinen Architektur.43 In diesen Arbeiten spiegeln sich gesellschaftliche und politische Ref lexionen, wie sie heute auch für das Transformation Design gegeben sind.

7.4.1 Concern Design »avant la lettre« Eine besondere Inspiration für ein Concern Design »avant la lettre« sind die Arbeiten von Superstudio und des italienischen Radical Design44 sowie der englischen Gruppe Archigram aus den 1960er und 70er Jahren.45 Deren Bildwelten wurden von zeitgenössischen Strömungen wie der Popkultur und den Hippies geprägt und umfassen Grafiken, Filme, Comics, Texte und Modelle. Sie erscheinen aber auch heute noch als relevant, weil sie von Concerns ausgehen. Die poetischen Collagen etwa zum Thema Wohnen stellen die mit diesem Concern verbundenen Hoffnungen und Ängste, Utopien und Dystopien dar. Diese Darstellungen sind keine einfachen Illustrationen von mehr oder weniger originellen Entwürfen, sondern sie eröffnen Möglichkeitsräume und werden damit zu Schauplätzen der Diskussion und Entwicklung. Die futuristischen Szenarien wirken auf die Gegenwart zurück und befreien die Einbildungskräfte aus der Enge gegebener Problemlagen. Damit sind die Entwürfe auch Beispiele für ein frühes fiktionales und narratives Design.46 Die Designer/Autoren zeigen und erzeugen Concerns, deren Wirkungsmacht bis heute andauert. So entwickelte Ettore Sottsass das poetische Motto: »Der Planet als Festival« (Abb. 89 links) und Superstudio antizipierte ein neues Verhältnis von Sozialität, Natur und Technik, indem eine künftige Infrastruktur als ikonografisches Raster vor- und dargestellt wurde (Abb. 89 rechts).47

42 vgl. https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/das-piranesi-prinzip 43 vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Bruno_Taut 44 Dazu gehören auch die Gruppen Strum, UFO, Global Tools und andere, vgl. Ambasz 1972, Stauffer 2007. 45  vgl. A 3.2, 5.4.1, B 4.5, 7.3 46 Das aktuelle »collective dreaming« [Sanders, Stappers 2014] verfolgt programmatisch einen ähnlichen Ansatz, ohne jedoch eine vergleichbar wirkungsmächtige Bildsprache gefunden zu haben. 47 vgl. Stephan 2017:53639

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

Abb. 89: Italienisches Concern-Design »avant la lettre«?, links: Ettore Sottsass jr. 1972: Il pianeta come festival 48, rechts: Superstudio 1972: Description of the Microevent/ Microenvironment 49 Bereits knapp zehn Jahre zuvor hatten die englischen Architekten der Gruppe Archigram Entwürfe gezeigt, die zur Diskussion gesellschaftlicher Zukunft anregten: In Projekten wie »A Walking City« und »Plug-In City« verdichteten sie Trends wie Mobilität, Megastrukturen und Hochhausbau zu einem technoiden Szenario. Die Bezüge zu Science-Fiction und Popkultur boten ein deutliches Gegengewicht zur damals auf kommenden ökologischen Bewegung und deren teilweise rückwärtsgewandtem Provinzialismus (Abb. 90).

Abb. 90: Entwürfe von Archigram, links: A Walking City, Ron Herron 1964 , rechts: Plug-InCity, Peter Cook 1964 (Ausschnitt)50 48 Zeitschrift Casabella 365, 1972, S.  41-48, http://indexgrafik.fr/ettore-sottsass/ettore-sottsass-il-planeta-come-festival-casabella-1973 49 in Ambasz 1972:251 50 https://www.archdaily.com/399329/ad-classics-the-plug-in-city-peter-cook-archigram

459

460

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Was ist aus diesen Arbeiten zu lernen? Sind heute ähnliche Ansätze denkbar, die in fünfzig Jahren noch als relevant erscheinen werden? Welche Concerns werden im Jahr 2070 bestimmend sein und welche Formen werden sie annehmen?

7.4.2 Generatives Design Darstellungen für Concerns nutzen heute selbstverständlich die aktuellen digitalen Möglichkeiten. So kann ein digitales Modell Daten empfangen und dadurch seine Erscheinungsform verändern. Ein frühes Beispiel dafür zeigt die Arbeit »Kontrollorgan« von Carsten Becker (Abb. 91).51

Abb. 91: Digitale Modellierung individueller Aktivitäten, Carsten Becker 1999: »Kontrollorgan – Unserem Datenschatten eine Gestalt« (Screenshots)52 Das Modell besteht aus drei Teilen, die als Organe eines »Datenschattens« modelliert werden: • Kopf: Schlagworte für Themen, mit denen sich eine Person beschäftigt, werden als Typografie gezeigt. Diese können etwa den Betreffzeilen von E‑Mails oder den Titeln aufgerufener Artikel entnommen werden • Herz: Die Häufigkeit und Dauer von sozialen Kontakten – etwa auf der Basis von Telefonverbindungen – werden registriert und in eine Modellierung übersetzt • Fuß: Bewegungsprofile, die aus GPS-Daten gewonnen werden, werden eingetragen

51 https://carstenbecker.net/text-datenschatten-de 52 https://www.khm.de/studentische_arbeiten/id.10156.kontrollorgan

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

Die Wirkung dieses Modells beeindruckt zum einen durch die Menge der aufgenommenen Einträge aus Spuren, die von den Nutzern digitaler Medien unbewusst hinterlassen werden. Zum anderen sind die Metaphern der modellierten Organe plausibel, auch wenn ihre Visualisierung bewusst keinerlei Ähnlichkeit mit biologischen Organen hat. Schließlich erzeugt vor allem eine Projektion des Modells in Körpergröße den Eindruck, vor einem digitalen Spiegel zu stehen, der mehr über einen weiß als man selbst. So wird ein »Datenschatten« anschaulich, der sonst verborgen bleibt. In dieser Arbeit werden die Daten noch den Aktivitäten einzelner Personen zugerechnet. Seit dem Auf kommen von social media jedoch sind es vor allem die Querverbindungen von Nachrichten und Kommentaren, die ad hoc Bezüge herstellen und als Aussagen über soziale Verhältnisse interpretiert werden können.53 Es ist diese »Quantifizierung des Sozialen« [Mau 2017], die Latour bei Gabriel Tarde schon vor über hundert Jahren beschrieben fand und in der er einen »digitalen Test« von dessen Ansatz erkannte [Latour 2012a]. Diskussionen über Plattformen wie Twitter, LinkedIn und Facebook konzentrieren sich bisher vor allem auf den Umgang mit Daten und das Verhältnis von Auswertung, Schutz und Transparenz. Weniger Aufmerksamkeit erfuhren jedoch bisher die gestalterischen Aspekte, sodass diese Plattformen meist nur traditionelle Zeichenwelten aus Schrift und Bildern liefern, statt den Reichtum von komprimierenden und orientierenden Diagrammen zu nutzen. Hier könnte sich eine Serviceindustrie etablieren, die über Schnittstellen persönliche Daten bezieht und diese in öffentliche oder private Visualisierungen übersetzt. Das Recht, souverän über die Verwendung eigener Daten zu bestimmen, sollte so ergänzt werden durch die praktische Möglichkeit, mit diesen Daten nach Maßgabe eigener Kriterien zu arbeiten und individuelle Visualisierungen zu erstellen.

7.4.3 Narrative Panoramen Designer haben prinzipiell keine besseren Möglichkeiten, um Fragen zur Zukunft zu beantworten als andere Berufsgruppen, trotz der gelegentlichen Selbstinszenierung als Innovatoren und Zukunftsgestalter. Als Projektemacher können Designer allerdings Impulse geben für neue Formate und Concerns. Ein wesentliches Mittel dazu sind Visualisierungen, Modellierungen und Prototypen. Hierbei begegnen sich Sehnsüchte und Träume, Fiktionen und Narrative sowie Artefakte und Material. Narrative Panoramen können eine solche Gemengenlage etwa als fiktive Landschaft kartieren. Deren Kennzeichen sind: • • • • •

Simultanität verschiedener Maßstäbe heterogenes Material (Foto, Zeichnung, Diagramm, Schrift, …) Gemisch von Stilen (naturalistisch, abstrakt, …) diverse Quellen (handwerklich, algorithmisch, …) unterschiedliche Zeichenregister (ikonisch, indexikalisch, symbolisch)

Narrative Panoramen (Abb. 92) sind geprägt durch unwahrscheinliche Kombinationen, überraschende Montagen und harte Schnitte, wie sie kunsthistorisch von Collagen 53 vgl. »Schritt für Schritt entsteht so eine Gesellschaft der Sternchen, Scores, Likes und Listen, in der alles und jeder ständig vermessen und bewertet wird.« [Mau 2017]

461

462

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

des DADA und des Surrealismus bekannt sind. Solche ausgearbeiteten Panoramen mit aktuellen Concerns und Medien sind bisher noch wenig verbreitet. Doch die Frage eines künftig möglichen »Metaversums« als integrative digitale Umgebung könnte genau hier entschieden werden: Wird es nur eine Verdoppelung von bereits bekannten Zeichenwelten geben oder wird das originäre Potenzial digitaler Darstellungen samt den Verfahren der künstlichen Intelligenz weiterentwickelt und genutzt? Dazu gehört auch die politische Frage nach dem Zugriff auf proprietäre Techniken.

Abb. 92: Narrative Panoramen von Michele Graphieti/Design Density Lab Mailand, oben: »Brainhouses« (Ausschnitt)54, unten: »The map of the future« (Ausschnitt)55

54 https://www.flickr.com/photos/densitydesign/sets/72157626169879590 55 http://densitydesign.org/research/map-of-the-future. Grundlage waren Szenarien des Institute for the Future aus Palo Alto, Projektleiter am Design Density Lab des Polytechnico in Mailand war Donato Ricci, der auch mit Latour an der Sciences Po in Paris arbeitete, vgl. https://densitydesign.org/ research/brain-houses-three-interieurs-stories

7 Visualisierung und Modellierung von Concerns

Eine rudimentäre Vorform narrativer Panoramen kann bereits in der Inszenierung von Erlebnissen in den Zeitleisten sozialer Medien gesehen werden. Dabei erscheinen die Einzelereignisse als immer gleiche Motive und komprimierte Oberf lächeneffekte (face values) bisher als trivial und redundant. Ihre Kombination jedoch zu überindividuellen Mustern und eine Kontextualisierung zum allgemeinen Zeitgeschehen hätte dagegen schon mehr Aussagekraft. Die Beurteilung dieser Möglichkeiten unterliegt der Zeit: Hätte es social media etwa schon in den 1950er Jahren gegeben, könnten einzelne Zeitleisten und deren Kombinationen für heutige Rezipienten von großem Interesse sein, um etwas über diese Zeit zu erfahren. Ein »zweiter Empirismus« wie von Latour gefordert, würde die banalen, aber konkreten Aspekte des individuellen Lebens verbinden mit den bekannten historischen Ereignissen, ja mehr noch: zeigen, wie diese überlieferten Ereignisse gemacht wurden aus einer Vielzahl kleiner Übertragungen, Verf lechtungen und Transformationen, wie es den Intentionen der ANT entspricht.56

7.4.4 Zukünftige Karten Mit einer weit verbreiteten Metapher wird die Zukunft häufig als unbekanntes Gebiet beschrieben. Die unvermeidliche Reise dorthin erfordere entsprechende Karten und Führer. Viele Karten schreiben jedoch lediglich die Kategorien von gestern fort und kaschieren das prinzipielle Unwissen über die Zukunft. Aus Sicht des Transformation Designs gilt es daher weniger, solche unzulänglichen Versuche zur Kartierung der Zukunft zu unternehmen, als vielmehr zukünftige Karten zu entwickeln, die andere Kategorien, Maßstäbe und Abbildungsregeln zulassen und damit Zukunft erst eröffnen. Eine neue »politische Ökologie« im Sinne Latours kann nur Concerns verhandeln, die zur Erscheinung gebracht werden. Es hängt daher vor allem von deren Darstellungen ab, wie diese zur öffentlichen Diskussion gebracht werden können. Schon heute bilden sich Concerns wesentlich durch den engen Bezug von Vorstellung und Darstellung in medial verteilten »Narrativen Panoramen«.57 Eine avancierte Ref lexion der längst gegebenen Verhältnisse durch eine Methode wie die der Akteur-Netzwerk-Theorie verlangt auch nach einer angemessenen Darstellung. Das Design, die Künste und die digitalen Medien können sich in der Aufgabe einer Modellierung von Aspekten privaten und öffentlichen Lebens treffen. Diese sollten zeigen: Wer sind 56 Ähnliches ist beim medienhistorischen Projekt »Echolot« von Walter Kempowski zu beobachten. Für begrenzte Zeiträume von wenigen Kriegswochen wurden private Briefe gesammelt und zu einer Gesamtschau kompiliert. Während der einzelne Brief jeweils ein privates Schicksal schildert, liefert eine Synopse der individuellen Äußerungen eine multiperspektivische Darstellung. So erscheinen die unterschiedlichen Concerns der Briefeschreiber und Adressaten im Hinblick auf gemeinsame Themen. Eine Kartografie der beteiligten Concerns wird sorgfältig zusammengesetzt aus den Äußerungen der Akteure selbst, im Gegensatz zur distanzierten Perspektive von Forschern oder Historikern. Die Aufgabe der Kompilation umfasst die Auswahl und Kombination des Materials. Der eigenständige Ausdruck der darin artikulierten Concerns ist jedoch die Leistung der Akteure selbst, den es zu bewahren und herauszustellen gilt durch Kontexte und Kontrastierungen. So wird ein narratives Panorama modelliert, sei dieses nun text- oder bildbasiert. Ein solches Verfahren entspricht genau Latours Forderung nach der Artikulation der Aktanten und der Zusammensetzung einer gemeinsamen Welt [»compositionist manifesto«, Latour 2010]. 57 Diese werden allerdings überwiegend in traditionellen Formen realisiert, sodass sie hinter der erlebten Komplexität der Lebensverhältnisse zurückbleiben.

463

464

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

die Anspruchsgruppen, welche Concerns und Interessen sind beteiligt, welche Übertragungen und Vermittlungen sind wirksam und wie kommen Handlungen und Entscheidungen zustande. Und schließlich: Wie können Transformationen ausgelöst und gestaltet werden?58 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass das Motto: »Design is a way of discussing life« [Sottsass 1983], heute umgeformt werden muss zu: »Design is a way of transforming life«.

58 vgl. Stephan, Godelnik 2021

8 Schlussbetrachtung

8.1 Rückblick Latours Frage war, ob eine »Revision der Moderne« nicht eine Aufgabe des Designs sei, und die hier formulierte Gegenfrage war, inwiefern das Design dafür Anregungen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) empfangen kann. Vor diesem Hintergrund wurde Latours Werk aus Texten, Ausstellungen, Performances, Lehre und Forschung befragt. Im Ergebnis zeigt sich, dass die ANT in der Fassung Latours viele Anregungen für die neuen Fragestellungen eines nicht-normativen Transformation Designs bietet. Verbindend ist dabei vor allem ein neues ontologisches Verständnis, das von Verf lechtungen und Morphismen ausgeht. Weitere Anregungen der Wunschökonomie und der Praxeologie lassen sich zum Ansatz des Concern Designs verbinden. Praktische Anwendungen wurden in der Concern Canvas, der Gestaltung kultureller Formate und im Hyperzyklus der Transformation gefunden.

8.2 Das Design als Mittler Das Design vermittelt zwischen Vitalität und Funktionalität, Bewusstsein und Welt. Dafür erzeugt es Formen, die es ermöglichen, zu handeln, zu verstehen und zu kommunizieren. Das Ziel des Designs ist die Herstellung von Kohärenz, also einer Passung von Welt und Handlung. Dabei gilt es einerseits, aus der Vielfalt möglicher Weltbedeutungen zu selektieren, die Zumutungen des Sozialen zu reduzieren und die Komplexität technischer Mittel auf handhabbare Formen zu bringen. Andererseits sind die Vorstellungen der Welt zu erweitern, neue Genüsse zu erproben und Gebräuche zu erfinden. Im Regekreis von Vorstellen und Herstellen entwickelt das Design kulturelle Formate. Diese öffnen und verschließen Handlungsräume, spekulieren über mögliche Zukünfte, ermöglichen ein pluralistisches Verständnis von Aufgaben, ziehen überraschende Querverbindungen, entwickeln im Zeichnen und Modellieren gemeinsame Sprachen und revitalisieren die Liebe zum Detail, zum Konkreten und zum Material. Das Design übernimmt damit Funktionen, die einst anders verteilt waren. Die Philosophie wollte die Welt erklären, die Kunst erkunden, die Wissenschaft erforschen und die Technik ermöglichen. Diese Handlungshorizonte wurden in der Moderne als beliebig erweiterbar angenommen, erwiesen sich jedoch als limitiert: Das Denkbare

466

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

wird auf das Sagbare reduziert, ästhetische Erfahrungen erscheinen als weitgehend ausgelotet, und das Wissen wird im Verhältnis zu den wachsenden Datenmengen immer kleiner, während sich die technische Entwicklung nach eigenen Gesetzen steigert. Mit diesem Befund stellte sich jedoch nicht – anders als vorausgesagt – das Ende der Geschichte ein. Es sind lediglich die Narrative von Philosophie, Kunst, Wissenschaft und Technik, die in ihren tradierten Formen ans Ende kommen. Vor diesem Hintergrund wird das Design neu wahrgenommen als ein integrativer Ansatz der Vorstellung und Herstellung, Denken und Machen, Fakten und Werte verbindet. Neue Wirkungsmöglichkeiten für das Design führen zur Notwendigkeit und Chance, dessen Selbstverständnis neu zu bestimmen.

8.3 Design und Diplomatie Das Design geht nicht auf in Philosophie, Kunst, Wissenschaft oder Technik. Design erklärt, erkundet, erforscht und ermöglicht auf eigene Weise. Dabei bleibt das Design auf das Verbundene situativ bezogen und entfaltet sich in Relationen. Das Design trainiert den Möglichkeitssinn, bereitet Handlungsoptionen vor und erzeugt Vorstellungen, epistemologisch wie performativ.1 Dabei bleibt das Design formell machtlos und kann gerade deshalb zwischen Mächten vermitteln. Als »Narr am Fürstenhofe von Wirtschaft und Industrie«2 unterhält und irritiert das Design mit Erzählungen, Experimenten und Interventionen. Zugleich bietet es jedoch Möglichkeiten der Normalisierung an durch neue Formate. Latours Kennzeichnung der Diplomaten passt daher perfekt auf die Designer:3 Gerissener als der Moralist, weniger verfahrensorientiert als der Administrator, weniger willensstark als der Politiker, krummer als der Wissenschaftler und teilnahmsloser als der Marktforscher (…). [PD:271] Das Geschäft von Designern und Diplomaten ist die Verbindung und Vermittlung als Voraussetzung für Veränderungen. Diese sind ergebnisoffen und fordern daher das Revidieren eigener Positionen. Daraus folgt: Die Tugend des Diplomaten (…) besteht darin, dass er seine eigenen Mandanten zu einem grundsätzlichen Zweifel hinsichtlich ihrer eigenen Anforderungen zwingt. [PD:270]

1 vgl. »Design is rehearsing the future« [Halse et al. 2010] 2 Nick Roericht 1980er Jahre in Berlin mündlich, vgl. »Design als Paradoxiemanagement, als Joker, jedermanns Partner, 12. Kamel, oder auch als nervender Parasit (Serres 1987)« [Jonas 2002:10] 3 vgl. Gutmannsbauer 2017:84

8 Schlussbetrachtung

8.4 Die Minimalmethoden einer Nichtdisziplin Designer sind stets wilde Rezipienten von Theorien und Methoden gewesen. Bezeichnungen wie Amateur, Bastler und Dilettant gelten diesen »Spezialisten in Generalisierung« (Bazon Brock) als Ehrentitel.4 In ihrem Werkzeugkasten findet sich eine bunte Mischung aus formalen und experimentellen Methoden, die überraschend kombiniert werden können. Auch selbstgemachte Versatzstücke werden genutzt, die von ehrenwerten Fachwissenschaften kaum als Methoden anerkannt würden. Doch pragmatisch erstellt und situativ angepasst, können gerade diese Werkzeuge universelle Türöffner sein. Entsprechend bleibt das Verhältnis des Designs zu den Wissenschaften prekär: Der Designtheorie kann es nicht darum gehen, bestehende Kriterien von Wissenschaft auf die Fragen des Designs anzuwenden, als vielmehr für die Fragestellungen des Designs angemessene Ref lexionsformen zu entwickeln, die designgemäß von spekulativen Elementen ausgehen und nur partiell wissenschaftliche Anteile enthalten werden.5 Das Design kann daher zum Modell für neue Wissenspraxen in gesellschaftlichen Transformationsprozessen werden: Weder sollen abstrakte Konzepte und Planungen für utopische Ziele erstellt werden, noch sollen ideologisch verkürzte politische und pädagogische Programme zur Herstellung eines »neuen Menschen« revitalisiert werden. Es geht vielmehr darum, individuelle und gemeinschaftliche Denk- und Handlungsfähigkeiten weiterzuentwickeln als Ausgangspunkt für zukunftsfähige soziale Organisationsformen.

8.5 Kritik des Designs Eine traditionelle Kritik des Designs ging von unterstellten Funktionen der Verführung und der Täuschung aus, mit denen falsche Bedürfnisse erzeugt würden. Das Design sollte verantwortlich gemacht werden für ökonomische Widersprüche, denen Künste und Architektur seltsamerweise entgehen. Doch eine Kritik, die eine triviale Oberf läche gegen innere Werte und Uneigentliches gegen Eigentliches ausspielen will, verfehlt die Tatsachen. Hinter den Oberf lächen erscheint kein Wesenskern, sondern es kommen nur weitere Oberf lächen zum Vorschein. Das vermeintlich Authentische stellt sich als immer schon manipuliert heraus. Das Design wird häufig wahrgenommen und kritisiert als Agent des ständig Neuen und als Steigerung des Besonderen in absurde Stilisierungen. Doch für eine Designtradition, die sich an Concerns orientiert, ist das Gegenteil der Fall. Das Concern Design propagiert nichts Neues, sondern erkennt das Neue im Alten und das Alte im Neuen.

4 vgl. das englische Sprichwort: »A Jack of all trades is a master of none, but oftentimes better than a master of one«, https://www.wikiwand.com/en/Jack_of_all_trades,_master_of_none 5 Der ANT folgend erscheint das Verhältnis des Designs zu den Wissenschaften als ein Paradox: Abstand, um deren Narrative zu erkennen und Nähe, um die Prozesse empirisch genau zu erfassen, vgl. »(…) I proposed a paradoxical strategy: if we take science seriously, we must both move toward and away from it.« [Latour 1981:210]

467

468

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Das Design kann gesellschaftliche Widersprüche nicht auf lösen, aber es kann dazu beitragen, sie aufzuzeigen, zu bearbeiten und produktiv zu machen. Im aktuellen Social Design zeigen sich jedoch auch Ansätze, die meinen, per se alle Widersprüche überwunden zu haben, indem normative Wertekanons von unabweisbaren sozialen und ökologischen Imperativen als gesetzt gelten. Das Transformation Design dagegen besteht auf pluralistischen Konzeptionen. Hier wird zunächst eine genaue Analyse dessen vorgenommen, was andernorts allzu schnell und unbedacht als »das Soziale« und »die Gesellschaft« vorausgesetzt wird. So wurde auf der Basis der Akteur-Netzwerk-Theorie und mit den Inspirationen der »Wunschökonomie« nach Deleuze/Guattari und Lyotard das Konzept der Concerns entwickelt. Dieses eröffnet eine neue Perspektive auf immer schon vorhandene Aufgaben und Anliegen des Designs und führt zur Entwicklung von Methoden und Werkzeugen, die in der Projektarbeit erprobt und weiterentwickelt werden.

8.6 Anthropos und neue Ontologien Das Design sorgt für den Normalfall und Souverän ist, wer über den Normalfall entscheidet und ihn überhaupt erst ermöglicht.6 Doch was soll als Maßstab gelten? Lassen sich Metriken für den sozialen Erfolg oder gar für »Happiness« entwickeln, analog zu jenen, die behaupten, Design als wirtschaftlichen Erfolgsfaktor berechnen zu können?7 »Human centredness« wird im Design immer noch als Ziel ausgegeben, während es doch gerade umgekehrt darum geht, den »Anthropos« neu zu bestimmen. Dessen »weltbildende Aktivitäten« [ibid.] zeigen zwar seine Bedingung als relationales Wesen, aber die Unterstellung einer souveränen Verfügung über prometheische Superkräfte wird zurückgestuft und symmetrisch ausgeglichen durch die Einsicht in die »menschbildenden« Aspekte von Maschinen, Systemen und eben auch Concerns. Slogans wie »make the world a better place« müssen daher längst als strategische Naivität gelten, die posthumanistische Perspektiven abwehren sollen. Aussichtsreicher erscheint es, menschliche Vermögen zu begreifen als eingebettet in natürliche und künstliche Kontexte, deren gegenseitige Bedingung und Durchdringung von der Akteur-NetzwerkTheorie beschrieben und im Design operativ werden. Die vor Jahrzehnten entwickelten Bestimmungen des Designs erscheinen daher heute als aktueller denn je: (…) the proper study of mankind is the science of design, not only as the professional component of a technical education but as a core discipline for every liberally educated person. [Simon 1969:138] Design is an art of thought directed to practical action through the persuasiveness of objects and, therefore, design involves the vivid expression of competing ideas about social life. [Buchanan 1985:7]

6 vgl. Bazon Brock »(…) souverän ist, wer den Normalfall garantiert«, https://bazonbrock.de/werke/ detail/?id=2876, unter Bezug auf Carl Schmitt vgl. B 7.1.3 7 vgl. den McKinsey Design Index: The business value of design, https://www.mckinsey.com/businessfunctions/mckinsey-design/our-insights

8 Schlussbetrachtung

Im Kontext »der konkurrierenden Ideen über das soziale Leben« hat die Idee der Transformation Konjunktur. Doch das Design ist weder ein exklusiver Agent der Transformation (es gibt dafür viele andere Kompetenzfelder), noch ist das Design besonders bevorzugt oder legitimiert, um Transformationen anzustoßen oder zu begleiten. Das Design erkennt sich vielmehr als ein Akteur im Sinne der ANT, also als Attraktor, der Energien und Vektoren aufnimmt, umformatiert und weitergibt. Wessen Energien und Vektoren? Latour schreibt sie »unsichtbaren Wesen«, »Entitäten« oder gar »Aliens« zu [Exw:287/292]. Das Concern Design versucht, dafür eine Differenzierung zu entwickeln und die Frage mit Concerns zu beantworten. Transformationen sind mehr als soziale, ökologische oder digitale Umstellungsprozesse. Sie empfangen ihre Gegenstände nicht aus zweiter Hand, sondern erzeugen diese selbst. Dies jedoch nicht im pathetischen Verständnis der Kunst als originäre Schöpfung durch individuelle Genies, sondern in einem gestalterischen Sinn, für den Formung immer schon Umformung ist.

8.7 Stabilisierte Netze Gestaltbildende Prozesse sind temporär stabilisierte Netze. Selbst das vordergründige bloße Erhalten braucht schon Energie, Material und Wissen sowie den Willen und die Fähigkeit, sich der Entropie der Natur entgegenzustellen und als Form zu behaupten. Gestaltung findet daher immer schon statt und ist kein freibleibender Akt, der auch unterlassen werden könnte. Wer nicht selbst gestaltet, wird gestaltet. Eine Einsicht in die Funktion von Concerns kann dabei helfen, die gestaltgebenden Prozesse besser zu erkennen und sie nach Maßgabe eigener Kriterien zu nutzen. Das Ziel bleibt ein Gewinn an individueller wie kollektiver Souveränität durch die Entwicklung von Designkompetenz. Um zu einer »Revision der Moderne« beitragen zu können, wie von Latour gefordert, muss das Design seine Wurzeln in der Moderne analysieren und zur Bildung neuer Grundlagen nutzen. Ähnlich wie bei Latours Programm des »Reassembling the Social« gilt es auch im Design, die Traditionen und Begriffe, Theorien und Methoden zu sichten, zu modifizieren und auf neue Weise operativ zu machen. Als Kennzeichen von Designprozessen wurden die De-Stabilisierung (Irritation) und Re-Stabilisierung (Normalisierung) beschrieben. Es gilt, diese Prozesse auch auf das Design selbst anzuwenden als ein »Reassembling« des Designs. Die Aufgaben sind drängend, die Transformationen finden bereits statt und niemand wartet auf die Designer. Künstliche Intelligenz, smarte Materialien, vernetzte Objekte und biochemische Stimulationen stellen Fragen, die weder von einem klassischen Design der Formgebung noch von einem moralisierenden Social Design beantwortet werden können. Das Concern Design dagegen will das individuelle und soziale Imaginäre ebenso ansprechen wie die realen und virtuellen Erfahrungen, die mit der Gestaltung von Produkten, Services, und Systemen verbunden sind. Damit soll ein Ref lexions- und Handlungsbereich eröffnet werden, in dem verschiedene Kompetenzfelder für die Gestaltung von Transformationen zusammenfinden. Die von der Moderne formulierte Aufgabe bleibt gerade in Krisen und disruptiven Innovationen bestehen: die freie Einrichtung des individuellen und sozialen Lebens. Allerdings erweitert sich dieses zu den Concerns einerseits und den »missing masses«

469

470

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

[WM] andererseits. Daher lässt sich Latours Designaufgabe des »Recall Modernity« und des »modernize modernization« auch verstehen als: Wir sind nie modern gewesen, wir müssen es erst noch werden. Das Design, einst Produkt und Agent der Moderne, kann dabei eine wesentliche Rolle spielen, wenn es die Gestaltung von Concerns als Handlungsfeld entwickelt und sich damit selbst transformiert: Reassembling Design.

»Sie hören auf, wenn Sie ihre 50.000 Wörter geschrieben haben (…).« [NSoz:255] 165.819 Wörter PFS

Quellen und verwendete Literatur

Primärquellen von Bruno Latour Verzeichnis der Siglen Reihenfolge nach Relevanz für den Text

Prom_eng. Latour, Bruno 2008: A Cautious Prometheus? A Few Steps Toward a Philosophy of Design (with Special Attention to Peter Sloterdijk), in Fiona Hackney, Jonathan Glynne, Viv Minton (Eds.) 2008: Networks of Design – Proceedings of the 2008 Annual International Conference of the Design History Society (UK), University College Falmouth: Dissertation.com

Prom_dt. Latour, Bruno 2009: Ein vorsichtiger Prometheus? – Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk, in Marc Jongen, Sjoerd van Tuinen, Koenraad Hemelsoet (Hg.): Die Vermessung des Ungeheuren – Philosophie nach Peter Sloterdijk, München: Fink, S. 357-374

RAS Latour, Bruno 2005: Reassembling the Social – An Introduction to Actor-NetworkTheory, Oxford University Press

NSoz Latour, Bruno 2010: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

HTP Latour, Bruno 2005a: From Realpolitik to Dingpolitik or How to Make Things Public, in Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.): Making Things Public – Atmospheres of Democracy, Cambridge: MIT Press, S. 14-41, Ausstellung am ZKM 20.03.2005-03.10.2005

RpDp Latour, Bruno: 2005b: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin: Merve

474

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

PoN Latour, Bruno 2004: Politics of Nature – How to Bring the Sciences into Democracy, Cambridge/London: Harvard University Press

PD Latour, Bruno 2018: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. 1999: Politiques de la nature)

Nmod Latour, Bruno 1998: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a.M.: Fischer (orig. 1991: Nous n’avons jamais été modernes)

ÖkW Latour, Bruno; Vincent Lépinay 2010: Die Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen: Eine Einführung in die ökonomische Anthropologie Gabriel Tardes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (orig. 2008: L’Économie, Science des Intérêts Passionnés. Introduction à l’anthropologie économique de Gabriel Tarde)

DrawT Latour, Bruno 2006/1986: Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: Transcript, S. 259-307 (orig. 1990: Drawing Things Together, in Michael Lynch, Steve Woolgar (Hg.): Representation in Scientific Practice, Cambridge: MIT Press, S.  19-68 (zuerst erschienen in anderer Fassung als ders. 1986: Visualization and Cognition, s.u.)

VisCog Latour, Bruno 1986: Visualization and Cognition: Drawing Things Together, in H. Kuklick (Hg.): Knowledge and Society Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Stamford: Jai Press Vol. 6, S. 1-40

RA Latour, Bruno 2006/1999: Über den Rückruf der ANT, in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk Theorie, Bielefeld: Transcript (orig. 1999: On Recalling ANT, in John Law, J. Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After, Oxford: Blackwell Publishers/The Sociological Review, S. 1-14)

WSMC Latour, Bruno 2008a: What is the Style of Matters of Concern? Spinoza Lecture at the University of Amsterdam: Van Gorcum (dt. 2012: Die Ästhetik der Dinge von Belang, in Anne von der Heiden, Nina Zschocke (Hg.): Autorität des Wissens, Berlin: Diaphanes, S. 27-46)

WCS Latour, Bruno 2004: Why Has Critique Run Out of Steam? – From Matters of concern to Matters of concern, Critical Inquiry Vol. 30 Nr. 2, S. 225-248

Quellen und verwendete Literatur

WM Latour, Bruno 1992: Where Are the Missing Masses? The Sociology of a Few Mundane Artifacts, in Wiebe E. Bijker, John Law (Hg.): Shaping Technology/Building Society: Studies in Sociotechnical Change, Cambridge: MIT Press, S. 225-258

Irred Latour, Bruno 1988: Irreductions, in The Pasteurization of France, Cambridge: Harvard University Press, S. 151-236 (orig. 1984: Les Microbes: guerre et paix suivi de irréductions)

MEDIEN MapCon Latour, Bruno 2010a: Mapping Controversies – The Demoscience Project, Allgemeine Vorstellung des Projekts demoscience.org, Video 3:48 min, https://vimeo.com/10037347

MACOSPOL Latour, Bruno 2010b: MACOSPOL Teaser – English Version, Video 7:11 min, https:// vimeo.com/10037075

MapConCase Latour, Bruno 2010c: Mapping Controversy. A Case, Video 9:15 min, https://vimeo. com/10036879

Hörspiel Latour Bruno 2011a: Kosmokoloss – Eine Tragikomödie über das Klima und den Erdball, www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/KOSMOK-ROSEN-DE.pdf, Hörspiel produziert vom Bayerischen Rundfunk und dem ZKM Karlsruhe 2013

Ausstellungskataloge Latour, Bruno; Weibel, Peter (Hg.) 2002: Iconoclash, Cambridge: MIT Press — 2005: Making Things Public – Atmospheres of Democracy, Cambridge: MIT Press, S. 14-41, Ausstellung am ZKM 20.03.2005-03.10.2005 Latour, Bruno (Hg.) 2016: Reset Modernity! Karlsruhe: ZKM; Cambridge: MIT Press Latour, Bruno; Weibel, Peter (Hg.) 2020: Critical Zones: The Science and Politics of Landing on Earth, Cambridge: MIT Press

Forschungsbericht Latour, Bruno o.J.: Learning to Navigate through Controversial Datascapes. The MACOSPOL Platform, Final report, Program »Science in Society«, call identifier: FP7-SIS-2007-1, Proposal No 217701 – MACOSPOL, https://cordis.europa.eu/docs/results/217/217701/116654541-6_en.pdf

Seminarunterlagen Latour, Bruno 2013c: MOOC Scientific Humanities, www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/Scientific%20Humanities%20MOOC.pdf

475

476

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Interviews Latour, Bruno 2000: Die Kühe haben das Wort, Interview in DIE ZEIT Nr. 49/2000 — 2014b: Die Apokalypse duldet keinen Sachzwang, Interview von Sabine Selchow mit Bruno Latour und Ulrich Beck, FAZ vom 14.05.2014, https://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/debatten/ulrich-beck-und-bruno-latour-zur-klimakatastrophe-12939499.html — 2016a: Die Natur muss ins Parlament, Interview in Philosophie Magazin Nr. 2/2016, S. 35-39 — 2018b: Wir sind alle wie Trump, Interview von Harald Staun mit dem französischen Soziologen Bruno Latour, FAZ vom 12.05.2018, https://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/buecher/autoren/interview-mit-dem-franzoesischen-soziologen-bruno-latour-15586851.html

Gespräche — 2013b: Den Kühen ihre Farbe zurückgeben – Von der ANT und der Soziologie der Übersetzung zum Projekt der Existenzweisen, Gespräch mit Michael Cuntz und Lorenz Engell in Zeitschrift für Kultur und Medienforschung Nr. 2/2013, S. 83-100 — 2013d: Existenzweisen der Moderne – Ein Gespräch mit John Tresch, in Zeitschrift für Ideengeschichte Heft VII/4 Winter 2013, S. 65-78 Aït-Touati, Frédérique; Latour, Bruno; Oberender, Thomas 2021: Wieso Gaia eine neue Ontologie mit sich bringt in: Thomas Oberender: Down to Earth – Entwürfe für eine Kultur der Nachhaltigkeit, Leipzig: Spector Books, S. 174-197

Literatur von Bruno Latour — 1979: mit Steve Woolgar: Laboratory Life – The Construction of Scientific Facts, Princeton: University Press — 1981: Insiders and Outsiders in the Sociology of Science; or, How Can We Foster Agnosticism? Knowledge and Society: Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Vol. 3, S. 19-216 — 1987: Science in Action, Cambridge: Harvard University Press — 1988: The Pasteurization of France, Cambridge: Harvard University Press, (orig. 1984: Les Microbes: guerre et paix suivi de irréductions), darin: Irreductions, S. 151-236 — 1989: The Moral Dilemmas of a Safety-Belt. Unpublished english translation by Lydia Davis of La Ceinture de Sécurité, in Alliage N°1, S. 21-27 — 1992a: A Note on Socio-Technical Graphs, in Social Studies of Science Vol.22, S. 33-58 and 91-94 (with Philippe Mauguin and Geneviève Teil), www.bruno-latour.fr/articles/article/47-GRAPHS-S. pdf — 1996b: Der Berliner Schlüssel – Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, Berlin: Akademie Verlag — 1996c: On the Partial Existence of Existing and Non-existing Objects, in Lorraine Daston (Hg.): Biographies of Scientific Objects, Chicago: University Press, S. 247-269 — 1997: Der Pedologenfaden von Boa Vista: eine photophilosophische Montage, in Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur, S. 213-263, Berlin: Akademie Verlag — 1999: On Recalling ANT, in John Law, J. Hassard (Hg.): Actor Network Theory and After, Oxford: Blackwell Publishers/The Sociological Review, S. 15-25 — 2001: Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen, in Soziale Welt, Nr. 3, S. 361-376

Quellen und verwendete Literatur

— 2001c: Eine Soziologie ohne Objekt? Anmerkungen zur Interobjektivität, in Berliner Journal für Soziologie Vol. 11, Nr. 2, S. 237-252 — 2002: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissensgesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2002a: Morality and Technology – The End of the Means, Theory, Culture & Society, London u.a.: SAGE Vol. 19(5/6), S. 247-260 — 2002/1993: Aramis or The Love of Technology, Cambridge u.a.: Harvard University Press (orig. 1993: Aramis, ou l’amour des techniques, Paris: Editions La Découverte) — 2004: Politics of Nature: How to Bring the Sciences into Democracy, Harvard: Harvard University Press — 2004b: Which protocol for the new collective experiments? als Von Tatsachen zu Sachverhalten: Wie sollen die neuen kollektiven Experimente protokolliert werden? in Hennig Schmidgen, Peter Geimer, Sven Dierig (Hg.): Kultur im Experiment, Berlin: Kadmos, S.  17-36, englische Version www.bruno-latour.fr/sites/default/files/P-95-METHODS-EXPERIMENTS.pdf — 2004c: Whose Cosmos – Which Cosmopolitics? A Commentary on Ulrich Beck’s Peace Proposal, in Common Knowledge, Vol. 10 Issue 3 Fall 2004, S 450-462 — 2006: Von der wissenschaftlichen Wahrheit zur Kartografie von Kontroversen, in Wolf-Andreas Liebert, Marc-Denis Weitze (Hg.): Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Bielefeld: Transcript, S. 195-202 — 2006/1986: Die Macht der Assoziation; in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): Anthology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: Transcript, S. 195-212 — (als Jim Johnson) 2006/1988: Die Vermischung von Menschen und Nicht-Menschen. Die Soziologie eines Türschließers, in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) 2006: ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: Transcript, S. 237-258 (orig. Jim Johnson (Pseudonym) 1988: Mixing Humans and Nonhumans together: The Sociology of a Door-Closer, in Social Problems 35/3, S. 298-310) — 2006/1991: Technik ist stabilisierte Gesellschaft, in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) 2006: ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: Transcript, S.  369-397 (orig. 1991: Technology is Society Made Durable, in John Law (Hg.): A Sociology of Monsters Essays on Power, Technology and Domination, Sociological Review Monograph N° 38, S. 103-132 — 2007: »It’s development, stupid!« or: How to Modernize Modernization, A chapter by Bruno Latour, Sciences Po, commenting upon T. Nordhaus, and M. Shellenberger: Break Through. From the Death of Environmentalism to the Politics of Possibility, New York, Houghton Miff lin Company. The text is unpublished, a version has been published as »Love your monsters« in Ted Nordhaus and Michael Shellenberger 2011: Postenvironmentalism and the Anthropocene, Breakthrough Institute, S. 17-25 — 2008: Selbstporträt als Philosoph, Rede anlässlich der Entgegennahme des Siegfried Unseld Preises, Frankfurt a.M., 28.09.2008, www.bruno-latour.fr/sites/default/ files/downloads/114-UNSELD-PREIS-DE.pdf — (with Albena Yaneva) 2008: Give Me a Gun and I will Make All Buildings Move: An ANT’s View of Architecture, in Reto Geiser (Hg.): Explorations in Architecture: Teaching, Design, Research, Basel: Birkhäuser, S. 80-89 — 2009a: Spheres and Networks: Two Ways to Reinterpret Globalisation, A Lecture at Harvard Graduate School of Design, in Harvard Design Magazine 30, S. 138-144

477

478

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

— 2010: An Attempt at a »Compositionist Manifesto«, New Literary History 41, S. 471490 — 2010a: On the Modern Cult of the Factish Gods, Durham/London: Duke University Press — 2010b: Coming out as a philosopher, Social Studies of Science 40(4), S. 599-608 — 2011: Jubilieren: Über religiöse Rede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2012: Critical Distance or Critical Proximity? www.bruno-latour.fr/sites/default/ files/P-113-HARAWAY.pdf (unpublished) — 2012a: The Whole is Always Smaller Than Its Parts – A Digital Test of Gabriel Tarde’s Monads application, in British Journal of Sociology Vol 63 No. 4, S. 591-615 — 2012b: Wie wird man ikonophil in Kunst, Wissenschaft und Religion? in Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 2012, Heft 57/1 — 2013: A propos de Gaia Global Circus (GGC) – Réponses à quelques questions fréquentes (FAQ), www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/FAQ%20GAIAGLOBALCIRCUS_0.pdf — 2013a: Biography of an inquiry: On a book about modes of existence, Social Studies of Science, Vol. 43, No. 2, S. 287-301 — 2016: Cogitamus, Berlin: Suhrkamp (orig. 2010) — 2016b: Die Rechtsfabrik – Eine Ethnografie des Conseil d’État, Konstanz: University Press — 2017: Facing Gaia – Eight Lectures on the New Climate Regime, Cambridge: Polity Press — 2018: Down to Earth – Politics in the New Climatic Regime, Cambridge: Polity — 2018a: Das terrestrische Manifest, Berlin: Suhrkamp — 2019: »We don’t seem to live on the same planet  …« – A fictional Planetarium, in Kathryn B. Hiesinger, Michelle Millar (Hg.): Designs for Different Futures, Philadelphia Museum of Art &The Art History of Chicago, S. 193-199 — 2021: Wo bin ich? Lektionen aus dem Lockdown, Berlin: Suhrkamp — 2021: mit Frédérique Aït-Touati und Thomas Oberender: Staging Gaia – Bühne, Klimawandel und Bewusstseinswandel, in: Thomas Oberender: Down to Earth – Entwürfe für eine Kultur der Nachhaltigkeit, Leipzig: Spector Books, S. 177-197 — 2021a: Politiche del design. Semiotica degli artefatti e forme della socialità, (Hg. Dario Mangano, Ilaria Ventura Bordenca), Sesto San Giovanni: Mimesis Edizioni — 2022: Latour, Bruno; Schultz, Nikolaj 2022: Mémo sur la nouvelle classe écologique – Comment faire émerger une classe écologique consciente et fière d’elle-même, Paris: La Découverte — 2022a: Pur une école des arts politiques – manifeste compositioniste, in Aït-Touati, Frédérique; Frodon, Jean-Michel; Latour, Bruno; Ricci, Donato 2022: Puissances de l’enquête: L’école des arts politiques, Paris: Les Liens Qui Liberent, S. 13-25

Quellen und verwendete Literatur

Weitere Literatur Die URLs wurden zuletzt im Oktober 2023 aufgesucht Abbott, Edwin A. (Pseudonym A. Square) 1990/1884: Flächenland, Bad Salzdetfurth: Franzbecker (orig. 1884 Flatland. A Romance of Many Dimensions) Adorno, Theodor 2001/1951: Asyl für Obdachlose, in ders. Minima Moralia, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 55-59 Aicher 1982: Die Küche zum Kochen – Das Ende einer Architekturdoktrin, München: Callwey — 1984: Kritik am Auto – Schwierige Verteidigung des Autos gegen seine Anbeter, eine Analyse von Otl Aicher, Berlin: Ernst & Sohn Aicher, Otl 1991: Kunst ist ein schlechter Ratgeber für Design, in ART AUREA 4/91, Ulm, S. 50 — 1991a: Analog und Digital, Berlin: Ernst & Sohn — 1991b: Die Welt als Entwurf, Berlin: Ernst & Sohn — 1991c: Der Denker am Objekt, Filmportrait von Angelika und Peter Schubert, Süddeutscher Rundfunk Stuttgart Aït-Touati, Frédérique 2020: Arts of Inhabiting: Ancient and New Theaters of the World, in Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.): Critical Zones: The Science and Politics of Landing on Earth, Cambridge: MIT Press, S. 432-438 Aït-Touati, Frédérique; Arènes, Alexandra; Grégoire, Axelle 2020: Terra Forma – Manuel de Cartographies Potentielles, Paris: Éditions B42 Aït-Touati, Frédérique 2021: Wenn Natur kein Dekor ist, in Thomas Oberender: Down to Earth – Entwürfe für eine Kultur der Nachhaltigkeit, Leipzig: Spector Books, S. 165-173 Aït-Touati, Frédérique; Frodon, Jean-Michel; Latour, Bruno; Ricci, Donato 2022: Puissances de l’enquête: L’école des arts politiques, Paris: Les Liens Qui Liberent Aït-Touati, Frédérique 2022a: Le theatre comme lieu d’experimentation politique, in Aït-Touati, Frédérique; Frodon, Jean-Michel; Latour, Bruno; Ricci, Donato 2022: Puissances de l’enquête: L’école des arts politiques, Paris: Les Liens Qui Liberent, S. 125-144 Akrich, Madeleine; Latour, Bruno 2006/1992: Zusammenfassung einer zweckmäßigen Terminologie für die Semiotik menschlicher und nicht-menschlicher Konstellationen, in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.): ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk Theorie, Bielefeld: Transcript, S. 399-405 Alexander, Christopher 1977: A pattern language – Towns, Buildings, Construction, Oxford: Oxford University Alexander, John; Crompton, Tom; Shrubsole, Guy 2011: Think of Me as Evil – Opening the Ethical Debates in Advertising, Public Interest Research Center (PIRC), https:// www.globalpolicy.org/images/pdfs/think_of_me_as_evil.pdf Ambasz, Emilio (Hg.) 1972: Italy – The New Domestic Landscape, Katalog zur Ausstellung im Museum of Modern Art, New York Amsterdamska, Olga 1990: Surely You Are Joking, Monsieur Latour! in Science, Technology & Human Values, Vol. 15 No.4, Fall 1990, S. 495-504 Andersen, Arne 1997: Der Traum vom guten Leben: Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt/New York: Campus Andritzki, Michael 2008 (Hg.): Von der guten Form zum guten Leben – 100 Jahre Werkbund, Frankfurt a.M.: Anabas

479

480

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Antonelli, Paola; Hunt, Jamer 2015: Design and Violence, New York: Museum of Modern Art Antonelli, Paola; Tannir, Ala (Hg.) 2019: Broken Nature, XXII. Triennale di Milano, Mailand: Electa Arnold, Florian 2016: Philosophie für Designer, Stuttgart: av edition Assmann, Jan 2010: Tod und Jenseits im alten Ägypten, München, C.H.Beck A. TELIER 2011 (Thomas Binder, Giorgio De Michelis, Pelle Ehn, Giulio Jacucci, Ina Wagner): Design Things, Cambridge: MIT Press Attiwilli, Suzie; Bird, Terri; Eckersley, Andrea; Pont, Antonia; Roffe, Jon; Rothfield, Philipa 2017: Practising with Deleuze – Design, Dance, Art, Writing, Philosophy, Edinburgh: Edinburgh University Press Baacke, Dieter 1968: Beat – die sprachlose Opposition, München: Juventa Baecker, Dirk 1990: Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen der Architektur, in Niklas Luhmann, Frederick D. Bunsen, Dirk Baecker: Unbeobachtbare Welt – Über Kunst und Architektur, Bielefeld: Haux, S. 67-104 — 1999: Das Handwerk des Unternehmers, in Organisation als System, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 349-376 — 1999: Die Form des Unternehmens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2003: Was wissen die Bilder? in ders. Und Alexander Kluge: Vom Nutzen ungelöster Probleme, Berlin: Merve, S. 135-143 — 2007: Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2007/2008: The Network Synthesis of Social Action Teil 1 (2007): Towards a Sociological Theory of Next Society, Cybernetics & Human Knowing, Vol. 14, Nr. 4, S. 9-42, Teil 2 (2008): Understanding Catjects, Cybernetics & Human Knowing, Vol. 15, Nr. 1, S. 45-66 — 2014: Kulturkalkül, Berlin: Merve — 2015: Designvertrauen, Merkur 69, Nr. 799, S. 89-97 Baier, Andrea; Hansing, Tom; Müller, Christa; Werner, Karin 2016: Die Welt reparieren – Open Source und Selbermachen als post-kapitalistische Praxis, Bielefeld: Transcript Balke, Friedrich 2009: Eine frühe Soziologie der Differenz: Gabriel Tarde, in Christian Borch, Urs Stäheli (Hg.): Soziologie der Nachahmung und des Begehrens: Materialien zu Gabriel Tarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 135 Banz, Claudia 2011a: Editorial, Kunstforum Band 207: Social Design — 2016: Social Design – Gestalten für die Transformation der Gesellschaft, Bielefeld: Transcript Banz, Claudia; Schulze, Sabine (Hg.) 2017: Food Revolution 5.0 – Gestaltung für die Welt von morgen, Dortmund: Kettler (Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg) Barad, Karen 2007: Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham, NC: Duke University Press. Google Scholar Baraldi, Claudio; Corsi, Giancarlo; Esposito, Elena 1997: GLU – Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Barla, Josef; Fabian Steinschaden 2012: Kapitalistische Quasi-Objekte: Zu einer Latour’schen Lesart Marx’ Ausführungen zur Maschine, in Alfred Dunshirn, Elisabeth Nemeth, Gerhard Unterthurner (Hg.): Crossing Borders: Thinking (across) Boundaries, Wien: Österreichische Gesellschaft für Philosophie, S. 361-370 Barthes, Roland 1964/1957: Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Quellen und verwendete Literatur

— 1988/1977: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2007, 1976/77: Wie zusammen leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Bässler, Andreas 2003: Sprichwortbild und Sprichwortschwank: zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500, Berlin/New York: De Gruyter Bateson, Gregory 1987/1979: Geist und Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Bauer, Susanne; Heinemann, Torsten; Lemke, Thomas (Hg.) 2017: Science and Technology Studies – Klassische Positionen und aktuelle Perspektiven, Berlin: Suhrkamp Beck, Stefan; Niewöhner, Jörg; Sørensen, Estrid 2012: Science and Technology Studies – Eine sozial-anthropologische Einführung, Bielefeld: Transcript Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Beck, Ulrich; Giddens, Anthony; Lash, Scott 1994: Ref lexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Beiser, Vince 2021: Sand – Wie uns eine wertvolle Ressource durch die Finger rinnt, München: Oekom-Verlag Belliger, Andréa; Krieger, David J. (Hg.) 2006: ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk Theorie, Bielefeld: Transcript Ben Ze’ev, Aaron 2009: Die Logik der Gefühle: Kritik der emotionalen Intelligenz, Frankfurt: Suhrkamp Benjamin, Walter 1991/1916: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in Gesammelte Schriften, Bd. 2/1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 140-157 Bense, Max 1949: Technische Existenz, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt Bergande, Wolfgang 2012: Der Exot der Immanenzebene – Eine Kritik der Akteur-Netzwerk-Theorie als Ideologie, in Klaus Bernsau, Thomas Friedrich, Klaus Schwarzfischer 2012: Management als Design? Design als Management? Intra-, interund transdisziplinäre Perspektiven auf die Gestaltung von ökonomischer, ästhetischer und moralischer Lebenswelt, Regensburg: Incodes, S. 195-212 Berger, Karl 2020: The Music Mind Experience, Woodstock: Creative Music Studio Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas 2013/1966: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Fischer Bergermann, Ulrike 2004: Schöner wissen. Selbsttechniken vom Panorama zum Science Center, in Rolf F. Nohr (Hg.): Evidenz … Das sieht man doch! Münster: Lit, S. 90124 Berman, Marshall 1982: All That Is Solid Melts into Air, New York City: Simon and Schuster Bexte, Peter 1999: Blinde Seher – Die Wahrnehmung von Wahrnehmung in der Kunst des 17. Jahrhunderts, Dresden: Verlag der Kunst Bill, Max 1949: Die gute Form, Ausstellungskatalog, Schweizerischer Werkbund Blackmore, Susan 1999: The Meme Machine, Oxford: Oxford University Press Blumenberg, Hans 2010: Theorie der Lebenswelt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2019/1989: Höhlenausgänge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Böhme, Gernot 2013: Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Berlin: Suhrkamp — 2016: Ästhetischer Kapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Bogner, Daniel; Schüßler, Michael; Bauer, Christian (Hg.) 2021: Gott, Gaia und eine neue Gesellschaft – Theologie anders denken mit Bruno Latour, Bielefeld: Transcript

481

482

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Bohnet, Iris 2017: What works: Wie Verhaltensdesign die Gleichstellung revolutionieren kann, München: C.H.Beck Bohrer, Karl Heinz 1978: Die ausverkauften Ideen – New Culture, Old Culture, Popular Culture, Merkur, Heft 365, S. 957-977 — 1999: Mythologie, nicht Philosophie – Das Phänomen Sloterdijk, Merkur November 1999, 53. Jahrgang, Heft 607, S. 1116-1121 Boldt, Hans 1972: Ausnahmezustand, neccessitas publica, Belagerungszustand, Kriegszustand, Staatsnotstand, Staatsnotrecht, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe – Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 1, Stuttgart: Klett Cotta, S. 343-376 Bolz, Norbert 2010: Niklas Luhmann und Jürgen Habermas. Eine Phantomdebatte, in Luhmann Lektüren, Berlin: Kadmos, S. 34-52 — 1993: Am Ende der Gutenberg-Galaxis – Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München: Fink — 1997: Die Sinngesellschaft, Köln: Econ — 2001: Die Funktion des Designs, in Design Report Heft 4/2001 — 2021: Keine Macht der Moral! Politik jenseits von Gut und Böse, Berlin: Matthes & Seitz Bonsiepe, Gui 1991: Interface Interpretationen, in Zeitschrift form+zweck Heft 2/3, Berlin, S. 73-77 — 1992: Die sieben Säulen des Design – Design braucht keine Manifeste, sondern Fundamente, in Zeitschrift form+zweck Heft 6, S. 6-9 — 1995: The Invisible Facets of the hfg ulm, in Design Issues, Volume 11, Number 2, Cambridge: MIT Press, S. 11-20 (Übersetzung PFS) — 1996: Interface – Design neu begreifen, Mannheim: Bollmann Borngräber, Christian (Hg.) 1987: Berliner Design Handbuch, Berlin: Merve Borries, Friedrich von 2016: Weltentwerfen. Eine politische Designtheorie, Berlin: Suhrkamp Bourdieu, Pierre 1998: Praktische Vernunft – Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2015/1966: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld, in Kunst und Kultur – Kunst und künstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie 4, Berlin: Suhrkamp Brand, Steward 1995: How Buildings Learn – What Happens After They’re Built, London: Penguin Books Branzi, Andrea 1984: The Hot House, London: Thames and Hudson Braun, Andreas Christian 2017: Latours Existenzweisen und Luhmann Funktionssysteme – Ein soziologischer Theorienvergleich, Wiesbaden: Springer Fachmedien Braungart, Georg 1995: Leibhafter Sinn: Der andere Diskurs der Moderne, Berlin: De Gruyter Bredekamp, Horst 1993: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin: Wagenbach Bredekamp, Horst; Werner, Gabriele (Hg.) 2003: Oberf lächen der Theorie, Band 1, 2; Bildwelten des Wissens – Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Berlin: Akademie Verlag Breuer, Gerda; Eisele, Petra 2018: Design – Texte zur Theorie und Geschichte, Stuttgart: Reclam

Quellen und verwendete Literatur

Brock, Bazon 1972: Umwelt und Sozio-Design, in Format – Zeitschrift für verbale und visuelle Kommunikation, 01.03.1972, S. 49, https://bazonbrock.de/werke/detail/?id=2684 — 1983: Modern ist’s, wenn man es trotzdem macht, in Kunstforum Bd. 66, S. 85 Brock, Bazon; Sloterdijk, Peter 2011: Der Profi-Bürger – Handreichungen für die Ausbildung von Diplom-Bürgern, Diplom-Patienten, Diplom-Konsumenten, DiplomRezipienten und Diplom-Gläubigen, München: Fink Broeckmann, Andreas; Hui, Yuk (Hg.) 2015: 30 Years after Les Immatériaux: Art, Science, and Theory, Lüneburg: meson press Brunschwig, Colette 2001: Visualisierung von Rechtsnormen – Legal Design. Dissertation an der Universität Zürich Buchanan, Richard 1985: Declaration by Design: Rhetoric, Argument, and Demonstration in Design Practice, in Design Issues, Vol. 2, Nr. 1, S.  4-22, Cambridge: The MIT Press — 1992: Wicked Problems in Design Thinking, Design Issues Vol. 8, Nr. 2, S. 5-21 — 2001: Design Research and the New Learning, Design Issues Vol. 17, Nr. 4, S. 3-23 Bude, Heinz 2015: Soziologie der Party, in Zeitschrift für Ideengeschichte 9 (2015), 4, S. 5-11 — 2016: Das Gefühl der Welt – Über die Macht der Stimmungen, München: Hanser Burkhardt, François 1981: Cibi e Riti – Essen und Ritual (mit Peter Kubelka, Hans Hollein, Jean-Charles de Castelbajac, Peter Cook, Ettore Sottsass, Richard Sapper, Stefan Wewerka, Berlin: IDZ/Alessi Burkhardt, Lucius 1970: Beitrag in IDZ (Hg.): Design? Umwelt wird in Frage gestellt, S. 29–32 Busch, Otto von 2022: Making Trouble – Design and Material Activism, London: Bloomsbury Cabanas, Edgar; Illouz, Eva (Hg.) 2019: Manufacturing Happy Citizens – How the Science and Industry of Happiness Control our Lives, Cambridge: Polity Press Callon, Michel 2006/1986: Die Soziologie eines Akteur-Netzwerkes: Der Fall des Elektrofahrzeugs, in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) 2006: ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: Transcript, S. 175-194 Callon, Michel; Latour, Bruno 1992: Don’t Throw the Baby out with the Bath School! A Reply to Collins and Yearly, in Andrew Pickering (Hg.): Science as practice and culture, Chicago u.a., S. 343-368 — 2006/1981: Die Demontage des großen Leviathans: Wie Akteure die Makrostruktur der Realität bestimmen und Soziologen ihnen dabei helfen, in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) 2006: ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk Theorie, Bielefeld: Transcript, S. 75-101 Capurro, Rafael 2001: Beiträge zu einer digitalen Ontologie, www.capurro.de/digont. htm Castoriadis, Cornelius 1997: Gesellschaft als imaginäre Institution – Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Chatwin, Bruce 1988: The Songlines, London: Penguin Chesterton, Gilbert Keith 2015/1908: Orthodoxie, Kißlegg: fe-Medienverlags GmbH Chodzinski, Armin 2007: Kunst und Wirtschaft. Peter Behrens, Emil Rathenau und der dm-drogerie markt, Berlin: Kadmos Churchman, C. West 1967: Management Science, Vol. 14, Nr. 4, S. B141–B142 — 1970: The Artificiality of Science, PsycCRITIQUES v. 15, n. 6, S. 385-386

483

484

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Clark, Andy 1997: Being there – Putting Brain, Body, and World Together Again, Cambridge: MIT Clarke, Alison J. (Hg.) 2018: Design Anthropology: Object Cultures in Transition, London/New York: Bloomsbury Academic Clarke, Alison J. 2013: Actions Speak Louder – Victor Papanek and the Legacy of Design Activism, in Design and Culture – The Journal of the Design Studies Forum, Volume 5, Issue 2, S. 151-168 Cleven, Esther 2016: Eigentlich sollten wir nicht mehr über Social Design sprechen, in Claudia Banz (Hg.): Social Design – Gestalten für die Transformation der Gesellschaft, Bielefeld: Transcript, S. 43-59 Collins, Harry; Pinch, Trevor 2000/1998: Start ins Verderben: Wer war schuld an der Explosion der Challenger? Der Golem der Technologie – Wie unsere Wissenschaft die Wirklichkeit konstruiert, Berlin: Berlin Verlag, S. 45-80 Colomina, Beatriz; Wigley, Mark 2016: Are We Human? Zürich: Lars Müller Publishers Conradi, Tobias; Muhle, Florian 2011: Verbinden oder Trennen? Das schwierige Verhältnis der Akteur-Netzwerk-Theorie zur Kritik, in Tobias Conradi, Heike Derwanz, Florian Muhle (Hg.): Strukturentstehung durch Verf lechtung – Akteur-NetzwerkTheorie(n) und Automatismen, Paderborn: Fink, S. 313-333 Cook, Peter (Hg.) 1999: Archigram: New York: Princeton Architectural Press Costanza-Chock, Sasha 2020: Design Justice – Community-Led Practices to Build the Worlds We Need, Cambridge: MIT Press Coy, Wolfgang 1989: Ein post-rationalistischer Entwurf, Nachwort in Terry Winograd, Carlos Fernando Flores 1989: Erkenntnis Maschinen Verstehen, Zur Neugestaltung von Computersystemen, Berlin: Rotbuch, S. 297-313 (orig. 1986 Understanding Computers and Cognition: A New Foundation for Design, Norwood: Ablex) Curdes, Gerhard 2006: Bauhaus und HfG – Parallelen, Unterschiede, Konf liktfelder, Vortrag bei der Jahrestagung des club off ulm am 29.09.2006 in Weil am Rhein, www.club-of f-ulm.de/output/Curdes-Bauhaus-und-HFG-Parallelen-Unterschiede-Konf liktfelder-Weil-2006.pdf Dalí, Salvador 1969: Meine Leidenschaften, Gütersloh: Bertelsmann Damler, Daniel 2012: Der Staat der klassischen Moderne, Berlin: Duncker & Humblot Daston, Lorraine 2018: Gegen die Natur, Berlin: Matthes & Seitz de Certeau, Michel 1988: Kunst des Handelns, Berlin: Merve Debray, Régis 2016: Lob der Grenzen: Hamburg Laika Deleuze, Gilles 1992/1968: Differenz und Wiederholung, München: Fink Deleuze, Gilles 1993/1969: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1993/1980: Tausend Plateaus, Berlin: Merve, Sigle MP — 1996: Was ist Philosophie? Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1997/1972: Anti-Ödipus – Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp), Sigle AÖ Depner, Hanno 2016: Zur Gestaltung von Philosophie – Eine diagrammatische Kritik, Bielefeld: Transcript Derrida, Jacques 1974/1967: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2001: Die unbedingte Universität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Desmet, Pieter M. A.; Pohlmeyer, Anna E. 2013: Positive Design – An Introduction to Design for Subjective Well-Being, in International Journal of Design, Vol. 7, Nr. 3, December 2013, S. 5-19

Quellen und verwendete Literatur

Dewey, John 1929: The Quest for Certainty: A Study of the Relation of Knowledge and Action, New York: Minton, Balch and Co. Dissel, Julia-Constance 2016: Design und Philosophie – Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, Bielefeld: Transcript Dölemeyer, Anne; Mathias Rodatz 2010: Diskurse und die Welt der Ameisen. Foucault mit Latour lesen (und umgekehrt), in Robert Feustel; Maximilian Schochow (Hg.): Zwischen Sprachspiel und Methode. Perspektiven der Diskursanalyse, Bielefeld: Transcript, S. 197-220 Döring, Sabine (Hg.) 2009: Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Douglas, Mary 1972: Deciphering a Meal, in Daedalus, Vol. 101, Nr. 1, Myth, Symbol, and Culture, Cambridge: MIT Press, S. 61-81 Downs, Roger M.; Stea, David 1982: Kognitive Karten – Die Welt in unseren Köpfen, Basel, München u.a.: UTB Düllo, Thomas 2011: Kultur als Transformation – Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, Bielefeld: Transcript Dugin, Alexander 2013: Die vierte politische Theorie, London: Arktos Dunne, Anthony; Raby, Fiona 2001: Design Noir: The Secret Life of Electronic Objects, Basel: August/Birkhäuser — 2009: A/B Manifesto, http://dunneandraby.co.uk/content/projects/476/0 Eames, Charles and Ray 1977: Powers of Ten (Film), www.powersof10.com/index.php?mod=ten_day Eames, Ray; Neuhart Marilyn; Neuhart, John 1989: Eames Design – The Work of the Office of Charles and Ray Eames, New York: Harry N. Abrams, Inc., www.eamesoffice.com Ehn, Pelle 2010: Design Things: Drawing Things Together and Making Things Public, Tecnoscienza, Italian Journal of Science & Technology Studies, Volume 2(1) S. 31-52 Eigen, Manfred, Winkler, Ruthild 1975: Das Spiel – Naturgesetze steuern den Zufall, München: Piper Eisele, Petra 2000: Deutsches Design als Experiment – Theoretische Neuansätze und ästhetische Manifestationen seit den sechziger Jahren, HdK Berlin: Dissertation Enzensberger, Hans Magnus 1960: Museum der modernen Poesie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Eriksen, Mette Agger 2012: Material Matters in Co-Designing – Formatting & Staging with Participating Materials in Co-Design Projects, Events & Situations, Malmö University: School of Arts and Communications Erlhoff, Michael 2004: Thesen zu Design zwischen Wissen und Wissenschaft. Unveröffentlichtes Manuskript zur Tagung der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung (DGFT), Hamburg 30./31.01.2004, www.dgtf.de/38.html — 2021: Zur dunklen Seite der Gestaltung, Basel: Birkhäuser Erlinger, Rainer 2009: Gute Form, böse Form, in Süddeutsche Zeitung Magazin Heft 16/2009, http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/26185 Escobar, Arturo 1995: Encountering Development – The Making and Unmaking of the Third World, Princeton: Princeton University Press — 2012: Notes on the Ontology of Design, University of North Carolina, Chapel Hill — 2017: Design for the Pluriverse – Radical Independence, Autonomy, and the Making of Worlds, Durham/London: Duke University Press

485

486

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

— 2021: Autonomous design and the emergent transnational critical design studies field, in Claudia Mareis, Nina Paim (Hg.): Design Struggles – Intersection Histories, Pedagogies, and Perspectives, Amsterdam: Valiz, S. 25-38 Eske, Antje 2010: Madeleine de Scudéry und die Carte de Tendre, http://konversationskunst.org/index.php/texte/21-eske-madeleine-de-scudery-und-die-carte-de-tendre Farzin, Sina 2016: [FIK] – Im Liechtenstein des Denkens, in Henning Laux (Hg.): Bruno Latours Soziologie der »Existenzweisen« – Einführung und Diskussion, Bielefeld: Transcript, S. 123-139 Faßler, Manfred 2002: Tiefe Oberf lächen – Virtualität, Visualisierung, Bildlichkeit, International Flusser Lectures, Kunsthochschule für Medien Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König Feige, Daniel Martin; Arnold, Florian; Rautzenberg, Markus 2019: Philosophie des Designs, Bielefeld: Transcript Feige, Daniel Martin 2019: Zur Dialektik des Social Designs, Hamburg: Adocs Verlag — 2018: Design – Ein philosophische Analyse, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Felsch, Philipp 2013: Das Unbehagen in der Suhrkamp-Kultur – Kommentar zu Ulrich Raulffs und Marie Luise Syrings Portrait der französischen Zeitschrift Traverses, in Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2/2013, S. 77-81 — 2014: Kritik der Bleiwüste – Theoriedesign nach dem Deutschen Herbst, in Merkur Heft 784, S. 780-792 Feyerabend, Paul 1975: Against Method, London/New York: Verso Feynman, Richard Phillips 1985: Surely You’re Joking, Mr. Feynman! – Adventures of a Curious Character, New York: W. W. Norton & Company Fineder, Martina; Geisler, Thomas 2011: Design Clinic: Can Design Heal the World? Scrutinising Victor Papanek’s Impact on Today’s Design Agenda, Lecture at the congress Design Activism and Social Change, University Barcelona, www.historiadeldisseny.org Fischer, Mark 2021: Postcapitalist Desire, London: Repeater Flood, Catherine; Grindon, Gavin 2014: Disobedient Objects, Victoria & Albert Museum London Flusser, Vilém 1985: Lob der Oberf lächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Bonn: Bollmann — 1988: Mitschrift des IfG Symposiums Gestaltung und neue Wirklichkeit. Bewusstseinswandel und neue Lebenswirklichkeit, in René Spitz 2012: HFG IUP IFG, Ulm: Internationales Forum für Gestaltung, S. 103 — 1989: Die Schrift – Hat Schreiben Zukunft? Göttingen: Immatrix Publications — 1993: Dinge und Undinge – Phänomenologische Skizzen: München: Hanser — 1998: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, Frankfurt a.M.: Fischer Forst, Rainer; Günther, Klaus (Hg.) 2021: Normative Ordnungen, Berlin: Suhrkamp Foucault, Michel 1977: Mikrophysik der Macht: Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin: Merve — 1984: Technologien des Selbst, München: Hanser — 1988/1963: Die Geburt der Klinik – Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt a.M.: Fischer — 1989: Sexualität und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Quellen und verwendete Literatur

Frankl, Viktor E. 1949: Der unbedingte Mensch – Metaklinische Vorlesungen, Wien: Franz Deuticke Verlag — 2017: Wer ein Warum zu leben hat – Lebenssinn und Resilienz, Weinheim: Beltz, darin: Der Mensch auf der Suche nach einem letzten Sinn (1985, S. 179-202) und Bemerkungen zur Pathologie des Zeitgeistes (1993, S. 209-222) Frayling, Christopher 1993/94: Research in Art and Design, in Research Papers, Royal College of Art, Vol. 1, Nr. 1, S. 5 Fromm, Erich 2000: Die Kunst des Liebens, Zürich: Manesse (zuerst 1956) Früchtl, Josef 2021: Demokratie der Gefühle – Ein ästhetisches Plädoyer, Hamburg: Meiner Frühwald, Wolfgang, Beyreuther, Konrad; Dichgans, Johannes; Grünbein, Durs; Lehmann, Karl Kardinal; Singer, Wolf (Hg.) 2004: Das Design des Menschen – Vom Wandel des Menschenbildes unter dem Einf luss der modernen Naturwissenschaft, Köln: DuMont Fry, Tony (Hg.) 1993: RUA TV? – Heidegger and the Televisual, Sydney: Power Publications Fry, Tony 2012: Becoming Human by design, London/New York: Berg — 2020: Defeaturing – A New Philosophy of Design, London/New York: Bloomsbury Fuller, Richard Buckminster 1927/1954: Dymaxion Map – One World One Ocean Map, interaktive Version 2001 von Susanne Schuricht, www.sushu.de/buckymap — 1956: Comprehensive Anticipatory Design Science, Kurs am MIT am Creative Engineering Laboratory, https://www.bfi.org/design-science/primer/eight-strategies-comprehensive-anticipatory-design-science — 1962: Education Automation, Southern Illinois University Press (dt. 1970: Erziehungsindustrie, Berlin: Edition Voltaire) — 1963: Inventory of World Resources, Human Trends and Needs, https://www.bfi.org/ sites/default/files/attachments/literature_source/wdsd_phase1_doc1_inventory.pdf — 1972: Playboy Interview: R. Buckminster Fuller, a Candid Conversation with the Visionary Architect/inventor/philosopher, Playboy February 1972:59-71 — 1973/1969: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde, Reinbek: Rowohlt — 2001: Emergent Humanity: Its Environment and Education, in T. T. K. Zung (Hg.): Buckminster Fuller – Anthology for the New Millennium, New York: St. Martin’s Press,S. 101-121) Gaiser, Anne Carolin 2003: Das Potential und Design von Universaltheorien, Dissertation LMU München 2003 Galison, Peter; Thompson, Emily (Hg.) 1999: The Architecture of Science, Cambridge: MIT Garz, Detlef; Raven, Uwe 2015: Theorie der Lebenspraxis: Einführung in das Werk Ulrich Oevermanns, Heidelberg: Springer Geertz, Clifford 2022/1987: Dichte Beschreibung – Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Gehlen, Arnold 2016/1956: Urmensch und Spätkultur – Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a.M.: Klostermann (7. Auf lage) Geiger, Annette 2016: Social Design – ein Paradox? in Claudia Banz (Hg.): Social Design – Gestalten für die Transformation der Gesellschaft, Bielefeld: Transcript, S. 61-68 Genette, Gérard 2010: Die Erzählung, Paderborn: Fink/UTB (orig. 1974)

487

488

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Gertenbach, Lars; Laux, Henning 2019: Zur Aktualität von Bruno Latour: Einführung in sein Werk, Heidelberg: Springer VS Gibbons, Michael; Limoges, Camille; Nowotny, Helga; Schwartzman, Simon; Scott, Peter; Trow, Martin 1994, The New Production of Knowledge, London: Sage Giessmann, Sebastian 2009: Debatte: Kulturwissenschaft und Akteur-NetzwerkTheorie, in Zeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 2/09, S. 111-112, www.culture. huberlin.de/sg/files/einleitung_ant_debatte.pdf Gilcher-Holtey, Ingrid 1998: Plädoyer für eine dynamische Mentalitätsgeschichte, Geschichte und Gesellschaft, 24. Jg., H. 3, Geschichtsbilder und Geschichtspolitik, S. 476-497 Ginsberg, Alexandra Daisy 2018: Better: Navigating Imaginaries in Design and Synthetic Biology to Question ›Better‹, London: Royal College of Art, PhD thesis Ginsberg, Alexandra Daisy; Calvert, Jane; Schyfter, Pablo; Elfick, Alistair; Endy, Drew (Hg.) 2014: Synthetic Aesthetics – Investigating Synthetic Biology´s Designs on Nature, Cambridge: MIT Press Giridharadas, Anand 2019: Winners Take All – The Elite Charade of Changing the World, London: Penguin Glanville, Ranulph 1988: In jeder White Box warten zwei Black Boxes, die herauswollen, in ders. Objekte, Berlin: Merve, S. 119-147 — 2010: A (Cybernetic) Musing: Architecture of Distinction and the Distinction of Architecture, Cybernetics and Human Knowing. Vol. 17, Nr. 3, S. 95-104 Glasgow, Janice; Narayanan, Hari; Chandrasekaran, B. (Hg.) 1997: Diagrammatic Reasoning – Cognitive and Computational Perspectives, Cambridge: MIT-Press Goffman, Erving 1980: Rahmen-Analyse – Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1983/1959: Wir alle spielen Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper Goodman, Nelson 1990/1978: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Gorb, Peter (Hg.) 1979: Living by Design, Surrey: Lund Humphries Grasskamp, Walter 1991: Das gescheiterte Gesamtkunstwerk. Design zwischen allen Stühlen, in Kursbuch 106, S. 67-84 Greenbaum, John; Kyng, Morten 1991: Design at Work – Cooperative Design of Computer Systems, Hillsdale NJ: Lawrence Erlbaum Greif, Hajo 2005: Wer spricht im Parlament der Dinge? Über die Idee einer nichtmenschlichen Handlungsfähigkeit, Paderborn: mentis 2005 — 2006: Vom Verschwinden der Theorie in der Akteur-Netzwerk-Theorie, in Martin Voss, Birgit Peuker (Hg.): Verschwindet die Natur? Die Akteur-Netzwerk-Theorie in der umweltsoziologischen Diskussion, Bielefeld: Transcript, S. 53-69 Groys, Boris 2011: The Obligation of Self-Design, in ders. Going Public, Berlin: Sternberg Press, S. 21-37 Guattari, Félix 1977: Mikro-Politik des Wunsches, Berlin: Merve (orig. 1974 Micro-politique du désir, Paris) — 2013/1989: Schizoanalytic Cartographies, London/New York: Bloomsbury — 2014/1992: Chaosmose, Wien: Turia + Kant Guattari, Felix; Rolnik, Suely 2008: Molecular Revolution in Brazil, Los Angeles: Semiotext(e) Günther, Gotthard 1991/1959: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik, Hamburg: Felix Meiner (3. Auf l.)

Quellen und verwendete Literatur

Günther, Sonja 1992: Design der Macht – Möbel für Repräsentanten des »Dritten Reiches«, Stuttgart DVA Gumbrecht, Hans Ulrich 1978: Modern, Modernität, Moderne, in Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe – Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart: Klett Cotta, S. 93131 — 2020: Baltasar Gracián – Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Ditzingen: Reclam Gunn, Wendy; Otto, Ton; Smith, Rachel (Hg.) 2013: Design Anthropology: Theory and Practice, London/New York: Bloomsbury Academic Gutmannsbauer, Bernd 2017: Bruno Latours »missing masses of morality« in technikphilosophischer Hinsicht, Dissertation Universität Wien, https://utheses.univie. ac.at/detail/44671# Haarmann, Anke 2016: Zu einer kritischen Theorie des Social Design, in Julia-Constance Dissel (Hg.): Design und Philosophie – Schnittstellen und Wahlverwandtschaften, Bielefeld: Transcript, S. 75-88 Habermas, Jürgen 1969: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt: Suhrkamp (3. Auf l.) — 1962: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Hackney, Fiona; Glynne, Jonathan; Minton, Viv (Hg.) 2008: Networks of Design – Proceedings of the 2008 Annual International Conference of the Design History Society (UK) University College Falmouth: Dissertation.com, p.xi Hagner, Michael 2006: Die Welt als Labor und Versammlungsort – Bruno Latours politische Ökologie aus dem Geiste der Wissenschaftsforschung, in GAIA 15/2, S. 127-134 Hahn, Hans Peter (Hg.) 2015: Vom Eigensinn der Dinge: Für eine neue Perspektive auf die Welt des Materiellen, Berlin: Neofelis Hajduk, Stefan 2016: Poetologie der Stimmung – Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit, Bielefeld: Transcript Halse, Joachim; Brandt, Eva; Clark, Brendon; Binder, Thomas 2010: Rehearsing the Future, Copenhagen, The Danish Design School Press Hampe, Michael; Lindén, Jan-Ivar 1993: Im Netz der Gewohnheit, Hamburg: Junius Han, Chol 2007: Ästhetik der Oberf läche – Die Medialitätskonzeption Goethes, Würzburg: Königshausen & Neumann Hanks, Kurt; Belliston, Larry; Edwards, Dave 1977: Design Yourself! Los Altos: Crisp Publications Haraway, Donna 1988: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, Feminist Studies, Vol. 14, No. 3, S. 575-599 Haraway, Donna 2016: Staying with the Trouble, Durham/London: Duke University Harman, Graham 2009: Prince of Networks – Bruno Latour and Metaphysics, Melbourne: re.press — 2015: Die Rache der Oberf läche: Heidegger, McLuhan, Greenberg, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König — 2018: Object-Oriented Ontology – A New Theory of Everything, London: Pelican Books Harrasser, Karin 2005: Computerhystorien – Erzählungen der digitalen Kulturen um 1984, Dissertation Universität Wien

489

490

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Hartmann, Peter 1999: Lebensstilforschung – Darstellung, Kritik und Weiterentwicklung, Opladen: Leske + Budrich Haug, Wolfgang Fritz 1971: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1986/1835-38: Vorlesung über die Ästhetik, Werke Bd. 13, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Heidegger, Martin 1950: Das Ding, Vorträge und Aufsätze (GA 7), S. 182 — 1956: Die Frage nach der Technik, in Die Künste im technischen Zeitalter, München: R. Oldenbourg — 1993/1927: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer (17. Auf l.) — 2000/1947: Über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann — 2013/1938: Die Zeit des Weltbildes, in Holzwege, Frankfurt a.M.: Klostermann, S. 69113 Heine, Heinrich 2021/1834: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Ditzingen: Reclam Heller, Martin; Scholl, Michael, Tholen, Georg Christoph 1993: Zeitreise. Bilder Maschinen Strategien Rätsel, Basel u.a.: Stroemfeld/Roter Stern Heubach, Friedrich 1996: Das bedingte Leben. Theorie der psychologischen Gegenständlichkeit der Dinge, München: Wilhelm Fink Hörning, Karl H. 2001: Experten des Alltags – Die Wiederentdeckung praktischen Wissens, Weilerswist: Velbrück Hogrebe, Wolfram 2019: Szenische Metaphysik, Frankfurt: Klostermann Holert, Tom 2002: Evidenz-Effekt. Überzeugungsarbeit in der visuellen Kultur der Gegenwart, in Matthias Bickenbach, Axel Fliethmann (Hg.): Korrespondenzen. Visuelle Kulturen zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, Köln: DuMont, S. 198-225 Holert, Tom 2004: Smoking Gun – Über den Forensic Turn der Weltpolitik, in Rolf F. Nohr (Hg.): Evidenz »… das sieht man doch!«, Hamburg: Lit0, S. 20-41 — 2005: Feindverstehen, in Juerg Huber, Kornelia Imesch, Karl Jost, Philipp Stoellger (Hg.): Kultur nicht verstehen, Wien/New York: Springer/Zürich: Edition Voldemeer, S. 213-223 — 2011: Distributed Agency, Design´s potentiality, London: Bedford Press Civic City Cahier 3 — Holert, Tom; HKW – Haus der Kulturen der Welt (Hg.) 2021: Bildungsschock – Lernen, Politik und Architektur in den 1960er und 1970er Jahren, Berlin: De Gruyter Holmes, Tim; Blackmore, Elena; Hawkins, Richard; Wakeford, Tom 2012: The Common Cause Handbook: A Guide to Values and Frames for Campaigners, Community Organisers, Civil Servants, Fundraisers, Educators, Social Entrepreneurs, Activists, Founders, Politicians, and Everyone in Between, Public Interest Research Centre (PIRC), https://commoncausefoundation.org/_resources/the-commoncause-handbook Honneth, Axel 2010: Kampf um Anerkennung: Zur moralischen Grammatik sozialer Konf likte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2015: Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Hornuff, Daniel 2014: Denken Designen – Zur Inszenierung von Theorie, München: Fink — 2017: Die politische Kraft des Designs, in Zeitschrift Form 273, S. 12-117

Quellen und verwendete Literatur

Howaldt, Jürgen; Kopp, Ralf; Schwarz, Michael 2014: Zur Theorie sozialer Innovationen: Tardes vernachlässigter Beitrag zur Entwicklung einer soziologischen Innovationstheorie, Weinheim/Basel: Beltz Juventa Hunt, Jamer 2020: Not to Scale: How the Small Becomes Large, the Large Becomes Unthinkable, and the Unthinkable Becomes Possible, New York: Grand Central Publishing Hunter, Leonie 2020: Lob der Oberf läche, Zeitschrift FORM, Nr. 286, www.form.de/ de/magazine/form286/files IDZ – Internationales Design Zentrum Berlin (Hg.) 1970: design? Umwelt wird in Frage gestellt, Berlin: IDZ IF Design Foundation (Hg.) 2021: Designing Design Education – Whitebook on the Future of Design Education, Weißbuch zur Zukunft der Designlehre, Stuttgart: av edition Illich, Ivan 2009/1973: Tools for Conviviality, London/New York: Marion Bowers — 2018/1970: Deschooling Society, London/New York: Marion Bowers — 2021/1975: Die Nemesis der Medizin – Die Kritik der Medikalisierung des Lebens, München: C.H.Beck (1975: Die Enteignung der Gesundheit – Medical Nemesis – Reinbek: Rowohlt) Illouz, Eva (Hg.) 2018: Wa(h)re Gefühle – Authentizität im Konsumkapitalismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Inayatullah, Sohail 1998: Causal Layered Analysis – Poststructuralism as Method, Futures, Vol. 30, No. 8, S. 815-829 Irwin, Terry 2018: The Emerging Transition Design Approach, Design Research Society Catalyst, https://www.researchgate net/publication/329155155_The_Emerging_ Transition_Design_Approach Irwin, Terry; Tonkinwise, Cameron; Kossoff, Gideon 2015: Transition Design: An Educational Framework for Advancing the Study and Design of Sustainable Transitions, School of Design, Carnegie Mellon University, https://files.stample.com/ browserUpload/e17c5ea9-7ccd-4b99-b936-941a7d064e19 Ishii, Hiroshi; Ullmer, Brygg 1997: Tangible Bits: Towards Seamless Interfaces between People, Bits and Atoms, Proceedings of CHI ›97, March 22-27, 1997 Jaque, Andrés/Office for Political Innovation 2016: Superpowers of Ten, in Bruno Latour (Hg.): Reset Modernity! Karlsruhe: ZKM/Cambridge: MIT Press, S. 56-60, 78-89 Jaeggi, Rahel 2014: Kritik von Lebensformen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Jahn, Hannes; Sinapius, Peter (Hg.) 2015: Transformation – Künstlerische Arbeit in Veränderungsprozessen, Grundlagen und Konzepte, Berlin/Hamburg: HPB University Press James, William 2005/1914: Das pluralistische Universum: Vorlesungen über die gegenwärtige Lage der Philosophie, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Janda, Valentin 2018: Die Praxis des Designs – Zur Soziologie arrangierter Ungewissheiten, Bielefeld: Transcript Janich, Peter 2015: Handwerk und Mundwerk – Über das Herstellen von Wissen, München: C.H.Beck Joas, Hans 2016: Kirche als Moralagentur? München: Kösel Johansson, Martin 2005: Participatory Inquiry – Collaborative Design, Blekinge Institute of Technology Dissertation Series No 2005:01, School of Arts and Communication Malmö University Sweden

491

492

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

John, Peter et al. 2011: Nudge, Nudge, Think, Think – Experimenting with Ways to Change Civic Behaviour, London/New York: Bloomsbury Jonas, Wolfgang 1994: Design – System – Theorie. Überlegungen zu einem systemtheoretischen Modell von Design-Theorie, Essen: Blaue Eule — 1994a: Design und Ethik – brauchen wir eine Sondermoral für das Design? 15. Designwissenschaftliches Kolloquium ›Design & Ethik‹, Halle: Burg Giebichenstein — 1995: De-Materialisierung durch Körperorientierung – ein Gedankenexperiment, 16. Designwissenschaftliches Kolloquium, Halle: Burg Giebichenstein, S. 73-85 — 1996: Design als systemische Intervention – für ein neues (altes) postheroisches Designverständnis, 17. Designwissenschaftliches Kolloquium (Objekt und Prozess) 28.–30.11.1996, Halle: Burg Giebichenstein — 1997: Viable Structures and Generative Tools – an approach towards »designing designing«, http://8149.website.snafu.de/wordpress/wp-content/uploads/2015/10/ 1997_Stockholm.pdf — 1997a: N-th order design? Systemic concepts for research in advanced methodology (submitted to Design Issues special issue on design research), Typoskript — 2000: The Paradox Endeavour to Design a Foundation for a Groundless Field. Re-Inventing Design Education in the University, International Conference 11.– 13.12.2000, Perth, Australia — 2001: Die Spezialisten des Dazwischen. Überlegungen zum Design als InterfaceDisziplin, in Siegfried Gronert (Hg.): Medium Design – Arbeitstagung der Fakultät Gestaltung, Bauhaus-Universität Weimar 13./14.12.2001, Weimar: Universitätsverlag, S. 85-103 — 2002: Vormodern, hochmodern, nachmodern? Nicht modern! – Ein Versuch über das Spezifische des Designs, Symposion Ankara 12./13.04.2002 — 2005: De-Materialisation through Body Orientation, Design Philosophy Papers, Volume 3, Issue 2, S. 55-72 — 2005a: Mind the gap! Über Wissen und Nicht-Wissen im Design, in Maximilian Eibl, Harald Reiterer, Peter Friedrich Stephan, Frank Thissen (Hg.): Knowledge Media Design – Theorie, Methoden, Praxis, München: Oldenbourg, S. 47-70 — 2007: Research through DESIGN through research – A cybernetic model of designing design foundations, Kybernetes Vol. 36 Nr. 9/10, 2007, S. 1362-1380 — 2010: Designwissenschaft als Netz von Theorie und Akteuren – 10 Anmerkungen, in Felicitas Romero-Tejedor, Wolfgang Jonas (Hg.): Positionen zur Designwissenschaft, Kassel: Kassel University Press, S. 79-85 — 2012: Design Thinking als General Problem Solver – der große Bluff? in Öffnungszeiten – Papiere zur Designwissenschaft 26, S. 68-77 — 2014: Design thinking – implications for the issue of designing for mass impact, Design for a billion, Gandhinagar, 07.–09.11.2014 — 2016: Social Transformation Design as a form of Research Through Design (RTD): Some historical, theoretical and methodological remarks, in Wolfgang Jonas, Sarah Zerwas, Kristof von Anshelm (Hg.): Transformation Design – Perspectives on a New Design Attitude, Basel: Birkhäuser, S. 114-133 — 2020: On Futures, Un/Certainties, Design Hubris and Morality: A Cautious Plea for Ref lection and Moral Disarmament in Transformation Design, Journal of Design Thinking, University of Tehran, Vol. 1, No. 1, S. 81-88

Quellen und verwendete Literatur

— 2020a: Prolog, in Marius Förster, Saskia Hebert, Mona Hofmann, Wolfgang Jonas (Hg.): Un/Certain Futures – Rollen des Designs in gesellschaftlichen Transformationsprozessen, Bielefeld: Transcript, S. 16-19 Karolewski, Janina; Miczek, Nadja 2012: Ritualdesign: Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse ›neuer‹ Rituale, Bielefeld: Transcript Kashiwagi-Wetzel, Kikuko; Meyer, Anne-Rose 2017: Theorien des Essens, Berlin: Suhrkamp Keil, Geert 2019: Über Tatsachen – An die Gebildeten unter ihren Verächtern, in Forschung und Lehre 10/2019, S. 896 Khurana, Thomas 2018: Die Kunst der zweiten Natur: Zu einem modernen Kulturbegriff nach Kant, Schiller und Hegel, Hippocampus Verlag, in Deutsche Zeitschrift für Philosophie 66(3), S. 339-361 Kim, Scott 1990: Interdisciplinary Cooperation, in Brenda Laurel (Hg.): The Art of Human Computer Interface Design, Reading u.a.: Addison-Wesley, S. 31-44 Kirsch, Thomas G. 2016: Wie Latour die Spur des Rechts verlor … und was uns das über verfahrensförmige Macht lehren kann, in Marcus Twellmann (Hg.): Wissen, wie Recht ist, Konstanz: Konstanz University, S. 129-143 Kirschner, Paul A.; Buckingham Shum, Simon J.; Carr, Chad S. (Hg.) 2003: Visualizing Argumentation – Software Tools for Collaborative and Educational Sense-Making, London: Springer Kittler, Friedrich 1985: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink Kleger, Heinz; Müller, Alois 2011: Religion des Bürgers. Zivilreligion in Amerika und Europa, Münster: LIT Klenner, Jost Philipp 2012: Suhrkamps Ikonoklasmus, Zeitschrift für Ideengeschichte Nr. 4, S. 82-91 Klotz, Heinrich 1996: Die zweite Moderne – Eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, München: C.H.Beck — 1999: Kunst im 20. Jahrhundert: Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne, München: C.H.Beck Kneer, Georg; Schroer, Markus; Schüttpelz, Erhard (Hg.) 2008: Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Knorr-Cetina, Karin 1984: Die Fabrikation von Erkenntnis – Zur Anthropologie der Naturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2002: Wissenskulturen – Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Kollektiv Orangotango+ (Hg.) 2018: This is Not an Atlas. A Global Collection of Counter-Cartographies, Bielefeld: Transcript Kollmorgen, Raj; Merkel, Wolfgang; Wagener, Hans-Jürgen 2014: Handbuch Transformationsforschung, Heidelberg: Springer Koschorke, Albrecht 2010: Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze und zu ihren disziplinären Folgen, in Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.): Identität und Unterschied: zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz, Bielefeld: Transcript, S. 169-183 Krämer, Sybille 2009a: Operative Bildlichkeit. Von der Grammatologie zu einer Diagrammatologie? Ref lexionen über erkennendes Sehen, in Martina Heßler, Dieter Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld: Transcript, S. 94-123

493

494

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

— 2009b: Das ›Auge des Denkens‹ – Visuelle Epistemologie am Beispiel der Diagrammatik, Zwölfte Vorlesung: Charles Sanders Peirce. Sichtbarkeit und Graphematik des Denkens, http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/media/downloads/Vorlesung_Au geDesDenkens/VL12%20-%20Peirce.pdf — 2016: Figuration, Anschauung, Erkenntnis – Grundlinien einer Diagrammatologie, Berlin: Suhrkamp Krämer, Sybille; Kogge, Werner; Grube Gernot (Hg.) 2007: Spur – Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Kraimer, Klaus; Garz, Detlef 1994: Die Welt als Text – Theorie, Kritik und Praxis der objektiven Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Krajewski, Markus (Hg.) 2004: Projektemacher, Berlin: Kadmos Krajewski, Markus 2010: Der Diener – Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt a.M.: Fischer Krausse, Joachim 1973: Fortschritt auf der Flucht, Design-Initiative und Jugendbewegung, in Richard Buckminster Fuller, 1973: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde, Reinbek: Rowohlt, S. 181-219 Kray, Thorn R. 2010: Metapher und sozialwissenschaftliche Terminologie – Anmerkungen zur räumlichen Metaphorik bei Bruno Latour, in Sociologia Internationalis, Internationale Zeitschrift für Soziologie, Kommunikations- und Kulturforschung, 48. Band, Heft 1, S. 113-142 Krippendorf, Klaus 1997: A Trajectory of Artificiality and New Principles of Design for the Information Age, in Daniel Boyarski et al. (Hg.): Design in the Age of Information: A Report to the National Science Foundation (NSF), S.  91-96, http://repository.upenn. edu/asc_papers/96 — 2013: Die semantische Wende – Eine neue Grundlage für Design, Basel: Birkhäuser Kritzmöller, Monika; Frankenberg, Hartwig 2002: Design your life! – Eine kulturkritische Analyse der Alltagsästhetik, Kempten: Flabelli Kroß, Matthias; Zill, Rüdiger (Hg.) 2001: Metapherngeschichten – Perspektiven einer Theorie der Unbegriff lichkeit, Berlin: Parerga Kyng, Morten; Bjerknes, Gro; Ehn, Pelle 1987: Computers and Democracy: A Scandinavian Challenge, Århus: Gower Lakoff, George; Johnson, Mark 2000/1980: Leben in Metaphern – Konstruktion von Gebrauch und Sprachbildern, Carl-Auer-Systeme Verlag (2. Auf l.) LaMotta, Frank 2013: Böses Deutschland – Gutes Deutschland. Skizzen einer Zivilreligion, Hamburg: Tredition Lash, Scott 1999: Objekte, die urteilen: Latours Parlament der Dinge, in ders. Another Modernity, a Different Rationality, Oxford: Blackwell, S. 312-338 Lasn, Kalle 2005: Culture Jamming, Das Manifest der Anti-Werbung, Freiburg: Orange Press Latour, siehe separates Verzeichnis Laux, Henning (Hg.) 2016: Bruno Latours Soziologie der ›Existenzweisen‹ – Einführung und Diskussion, Bielefeld: Transcript Law, John 1999: After ANT – Complexity, Naming and Topology, in John Law, J. Hassard (Hg.) 1999: Actor Network Theory and After, Oxford: Blackwell Publishers/The SociologicalReview, S. 1-14 — 2004: After Method– Mess in Social Science Research, London: Routledge

Quellen und verwendete Literatur

— 2011: What’s Wrong with A One World World, Center for the Humanities, Wesleyan University, Middletown, Connecticut 19.09.2011, www.heterogeneities.net/publications/Law2011WhatsWrongWithAOneWorldWorld.pdf Law, John; Callon, Michel 2006: Leben und Sterben eines Flugzeugs: Eine Netzwerkanalyse technischen Wandels, in Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) 2006: ANThology – Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld: Transcript, S. 447-482 Law, John; Hassard, J. (Hg.) 1999: Actor Network Theory and After, Oxford: Blackwell Publishers/The Sociological Review Leary, Timothy 1997: Design for Dying, New York: HarperCollins Lemke, Harald 2018: Szenarien der Ernährungswende – Gastrosophische Essays zur Transformation unserer Esskultur, Bielefeld: Transcript Leroi-Gourhan, André 1988: Hand und Wort – Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Lethen, Helmuth 2022/1994: Verhaltenslehren der Kälte – Lebensversuche zwischen den Kriegen, Berlin: Suhrkamp Levick-Parkin, Melanie 2017: The Values of Being in Design: Towards a Feminist Design Ontology. GENDER – Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft, 9(3), S. 11-25 Lidwell, William; Holden, Kristina; Butler, Jill 2003: Universal Principles of Design: A Cross-Disciplinary Reference: 100 Ways to Enhance Usability, Inf luence Perception, Increase Appeal, Make Better Design Decisions, and Teach Through Design, Beverly: Rockport Publishers Liessmann, Konrad Paul 2012: Lob der Grenze: Kritik der politischen Unterscheidungskraft, München: Zsolnay Linde, Per 2007: Metamorphing – The transformative power of digital media and tangible interaction, Blekinge Institute of Technology Doctoral Dissertation Series No. 2007:12, School of Engineering Lindinger, Herbert (Hg.) 1987: Hochschule für Gestaltung ulm… – Die Moral der Gegenstände, Marburg: Ernst & Sohn Lindström, Kristina; Ståhl, Åsa 2014: Patchworking – Publics in the Making – Design, Media and Public Engagement, Malmö University, School of Arts and Communications, Dissertation Lockton, Dan; Harrison, David; Stanton, Neville A. 2010: Design for Behaviour Change, in Advances in Psychology Research 67/69, Nova Science Publishers, o. S. Lovink, Geert; Gerritzen, Mieke 2019: Made in China, Designed in California, Criticised in Europe: Amsterdam Design Manifesto, https://networkcultures.org/ wp-content/uploads/2019/07/amsterdam_design_manifesto.pdf Lübbe, Hermann 2019: Politischer Moralismus: Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Münster: LIT Luhmann, Niklas 1977: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt/M: Suhrkamp (4. Auf lage) — 1991/1984: Soziale Systeme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (4. Auf l.) — 1992: Stellungnahme, in Werner Krawietz, Michael Welker: Kritik der Theorie sozialer Systeme – Auseinandersetzungen mit Luhmanns Hauptwerk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

495

496

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

— 1992a: Ökologie des Nichtwissens, in ders. Beobachtungen der Moderne, Opladen: Westdeutscher Verlag — 1994: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1995: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1997: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1999: Gesellschaftsstruktur und Semantik – Band 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2008: Ökologische Kommunikation – Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (5. Auf l., zuerst 1985), hintere Umschlagseite) — 2012/1975: Macht, Konstanz/München: UVK (4. Auf l.) — 2013: Macht im System, Berlin: Suhrkamp — 2020: Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp (5. Auf l.) Lutz, Wulf-Rüdiger 1979: Soft Systems Design, München: Minerva Publikation (Beiträge des Instituts für Zukunftsforschung, Band 8) Lydon, John 1986: Rise (Public Image Limited: Album) Lyotard, Jean-François 1984: Ökonomie des Wunsches, Bremen: Impuls (orig. 1974 Économie libidinale, Paris: Les Éditions de Minuit), Sigle ÖW — 1985: Immaterialität und Postmoderne, Berlin: Merve — 1988: Die Moderne redigieren, in Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: Akademie Verlag, S. 204-214 — 2011/1971: Discourse, Figure, Minneapolis: University of Minnesota Makropoulos, Michael 1989: Modernität als ontologischer Ausnahmezustand? Walter Benjamins Theorie der Moderne, München: Fink Maldonado, Tomás 1972: Umwelt und Revolte – Zur Dialektik des Entwerfens im Spätkapitalismus, Reinbek: Rowohlt (orig. 1970 La speranza progettuale. Ambiente e società) Malm, Andreas 2020: The Progress of this Storm – Nature and Society in a warming World, London: Vector Mandelbrot, Benoît 1967: How Long Is the Coast of Britain? Statistical Self-Similarity and Fractional Dimension, Science, New Series, Vol. 156, Nr. 3775, S. 636-638 Manzini, Ezio 1992: Prometheus of the Everyday: The Ecology of the Artificial and the Designer’s Responsibility, in Design Issues, Vol. 9, No. 1, S. 5-20 Mareis, Claudia; Paim, Nina (Hg.) 2021: Design Struggles – Intersecting Histories, Pedagogies and Perspectives, Amsterdam: Valiz Mareis, Claudia; Windgätter, Christoph 2012: Long lost friends, Berlin: Diaphanes Marenko, Betti; Brassett, Jamie (Hg.) 2015: Deleuze and Design, Edinburgh: Edinburgh University Press Margolin, Victor 2015: Purpose of design is creation of a good society, Design historian Victor Margolin calls upon designer to envision a new utopia, https://www.whatdesigncando.com/stories/purpose-of-design-is-creation-of-a-good-society/ Margolin, Victor; Bruinsma, Max (Hg.) 2015: Design for the Good Society: Utrecht Manifest 2005-2015, Rotterdam: nai010 publishers Marquard, Odo 1981: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie, in ders. Abschied vom Prinzipiellen – Philosophische Studien, Stuttgart: Reclam, S. 23-38

Quellen und verwendete Literatur

— 2004: Mut zur Bürgerlichkeit – Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet, in ders. Individuum und Gewaltenteilung – Philosophische Studien, Stuttgart: Reclam, S. 91-96 Marres, Noortje 2005: No issue, no public: democratic deficits after the displacement of politics, University of Amsterdam Dissertation http://dare.uva.nl/document/17061 — 2012: Material Participation: Technology, the Environment and Everyday Publics, Palgrave Martos, Alexander 2008: Das Paradies der Dinge. Zum Umgang mit epistemischer Materialität in Wissenschaft und Museum, Diplomarbeit Universität Wien Marx, Karl 1983/1858: Grundrisse der politischen Ökonomie, MEW 42:592 Massumi, Brian 2010: Ontomacht – Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin: Merve Matt, Hubert 2010: Design der Zukunft – Eine Sondierung der Lektüre Latours, Manuskript des Vortrags Design der Zukunft – Versuche nach der Lektüre Latours, 02.06.2012 Symposium Design der Zukunft an der DHBW Ravensburg, www.f luctuating-images.de/files/images/pdf/Zukunft_eine_Sondierung_der_Lektuere_Latours.pdf Mau, Bruce 2004: Massive Change, London: Phaidon (and the Institute Without Boundaries) Mau, Steffen 2017: Das metrische Wir – Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin: Suhrkamp Max-Neef, Manfred; Elizade, Antonio, Hopenhayn, Martín 1989: Human Scale Development – An Option for the Future, Dag Hammarskjöld Foundation, www. daghammarskjold.se/wp-content/uploads/1989/05/89_1.pdf May, Reinhard 2014: Heideggers verborgene Quellen: Sein Werk unter chinesischem und japanischem Einf luss, Leipzig: Harrassowitz Verlag Mendini, Alessandro 1981: Hypothese für ein Manifest der Post-Avantgarde, in Helmuth Gsöllpointner, Angela Hareiter, Laurids Ortner (Hg.): Design ist unsichtbar, Wien: Löcker Verlag, S. 373-354 Mersmann, Birgit 2019: Die Ausstellung als »Parlament der Dinge« – Theorie und Praxis der Gedankenausstellung bei Bruno Latour, Hamburg: Avinus Merz-Benz, Peter Michael 1995: Tiefsinn und Scharfsinn – Ferdinand Tönnies’ begriffliche Konstruktion der Sozialwelt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Meurer, Bernd; Vinçon, Hartmut (Hg.) 1979: Kritik der Alltagskultur, Berlin: Verlag Ästhetik und Kommunikation Meyer-Sickendiek, Burkhard 2005: Affektpoetik: Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg: Königshausen und Neumann Meyer, Morgan 2012: Representing science-in-the-making in exhibitions, in Massimiano Bucchi, Brian Trench (Hg.): Quality, Honesty and Beauty in Science and Technology Communication, Vicenza: Observa Science in Society, S. 39-42 Michel, Karl Markus 1982: Nun sprecht mal schön! Über Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, in Der Spiegel, Nr. 12, 22.03.1982, S. 210-215 Michl, Jan 2002: On Seeing Design as Redesign – An Exploration of a Neglected Problem in Design Education, in Scandinavian Journal of Design History 12, S. 7-23 Miller, Daniel (Hg.) 2009: Anthropology and the Individual. A Material Culture Perspective, Oxford, NY: Berg

497

498

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Mitcham, Carl 2001: Dasein Versus Design: The Problematics of turning Making into Thinking, International Journal of Technology and Design Education 11, 27-36, Dordrecht: Kluwer Academic Publishers Monteiro, Mike 2019: Ruined by Design: How Designers Destroyed the World, and What We Can Do to Fix It, San Francisco: Mule Design Moreno, Jacob Levy 1995/1953: Die Grundlagen der Soziometrie – Wege zur Neuordnung der Gesellschaft, Opladen: Leske + Budrich — 2008/1959: Gruppenpsychotherapie und Psychodrama: Einleitung in die Theorie und Praxis, Stuttgart: Thieme Morozov, Evgeny 2014: To Save Everything, Click Here: The Folly of Technological Solutionism, New York City: Public Affairs Mosebach, Martin 2012/2002: Häresie der Formlosigkeit – Die römische Liturgie und ihr Feind, München: dtv Moser, Jeannie; Vagt, Christina 2018: Verhaltensdesign – Technologische und ästhetische Programme der 1960er und 1970er Jahre, Bielefeld: Transcript Mühlmann, Heiner 2005: MSC – Die Antriebskraft der Kulturen, Wien/New York: Springer Müller, Alois Martin 1991: Gute Form und richtiges Leben – Das lange Ende einer Illusion, in Kursbuch Heft 106 – Alles Design, S. 87-94 Musil, Robert 2005/1930: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek: Rowohlt Nadin, Mihai 1989: Mind – Antizipation und Chaos, Stuttgart/Zürich: Belser — 1999: Jenseits der Schriftkultur – Das Zeitalter des Augenblicks, Dresden/München: Dresden University Press — 2003: Anticipation – The End is Where We Start From, Baden: Lars Müller Publishers Nate, Richard 2009: Wissenschaft, Rhetorik und Literatur: Historische Perspektiven, Würzburg: Königshausen und Neumann — 2014: Biologismus und Kulturkritik: Eugenische Diskurse der Moderne, Würzburg: Königshausen und Neumann Neidhardt, Anja; Ober, Maya 2019: depatriarchise design *!Lab!*: Whose »Real World?« Papanek and the Politics of Display, https://depatriarchisedesign.com/2019/03/17/ depatriarchise-design-lab-whose-real-world-papanek-and-the-politics-of-display Nelson, Harold G.; Stolterman Erik 2012: The Design Way – Intentional Change in an Unpredictable World, Cambridge: MIT Press Neuhäuser, Christian; Seidel, Christian (Hg.) 2020: Kritik des Moralismus, Berlin: Suhrkamp Neurath, Otto 1936: International Picture Language – The First Rules of Isotype, London: Kegan Paul, Trench, Trubner, https://monoskop.org/images/e/ec/Neurath_ Otto_International_Picture_Language.pdf Nevejan, Caroline Irma Maria 2007: Presence and the design of trust, Dissertation Universität Amsterdam, www.nevejan.org/presence Nicolescu, Basarab 2002: Manifesto of Transdisciplinarity, New York: SUNY Nietzsche, Friedrich 1999/1875: Nachlass 1875-1879, in Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.): Sämtliche Werke – Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA Bd. 8), München: dtv — 1999/1882: Die fröhliche Wissenschaft, in Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.): Sämtliche Werke – Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA Bd. 3), München: dtv — 1999/1886: Jenseits von Gut und Böse, in Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Hg.): Sämtliche Werke – Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA Bd. 5), München: dtv

Quellen und verwendete Literatur

Nohr, Rolf F. (Hg.) 2002: Karten im Fernsehen. Die Produktion von Positionierung, Münster: LIT Verlag — 2004: Evidenz … Das sieht man doch! Münster: LIT Verlag Norman, Donald A. 1993: Things that Make Us Smart – Defending Human Attributes in the Age of the Machine, Reading: Addison-Wesley — 2004: Emotional Design: Why We Love (or Hate) Everyday Things, New York: Basic Books Nowotny, Helga; Scott, Peter; Gibbons, Michael 2001: Re-Thinking Science. Knowledge and the Public in an Age of Uncertainty, Cambridge: Polity Obrist, Hans-Ulrich (Hg.) 2014: Mapping It Out: An Alternative Atlas of Contemporary Cartographies, London: Thames & Hudson Obrist, Hans-Ulrich; Vanderlinden, Barbara (Hg.) 2001: Laboratorium, Köln: DuMont Ochsner, Beate 2020: Affizierungs- und Teilhabeprozesse zwischen Organismen und Maschinen, Wiesbaden: Springer Fachmedien Oevermann, Ulrich 2002: Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven Hermeneutik – Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung, https://www.ihsk.de/publikationen/Ulrich_Oevermann-Manifest_der_objektiv_ hermeneutischen_Sozialforschung.pdf Oosterling, Henk 2009: Dasein as Design Or: Must Design Save the World? in Melintas – An International Journal of Philosophy and Religion, S. 1-22, Bandung: Parahyangan Catholic University Ott, Michaela 2014: Dunkelverhältnisse, Köln: Verlag der Kunsthochschule für Medien — 2018: Welches Außen des Denkens? Französische Theorien in (post)kolonialer Kritik, Wien: Turia + Kant — 2018a: A – Affizierung, Hamburg: Textem Verlag Papanek, Viktor 1971/1963: Design for the Real World, Human Ecology and Social Change: Chicago: Academy Chicago Publishers Papier, Hans-Jürgen; Meynhardt, Timo (Hg.) 2016: Freiheit und Gemeinwohl, Berlin: Tempus Corporate Parsons, Glenn 2016: The Philosophy of Design, Cambridge, Oxford: Polity Passoth, Jan-Hendrik; Peuker, Birgit; Schillmeier, Michael (Hg.) 2014: Agency without Actors? New Approaches to Collective Action, London/New York: Routledge Pastor, Elizabeth 2013: The OTHER design thinking, https://issuu.com/humantific/ docs/theotherdesignthinking Pavel, Laura 2017: The »Beings of Fiction«: Recomposing the life of figures with Bruno Latour, in Laura Marin, Anca Diaconu: Usages de la figure, régimes de figuration, Bukarest: editura universitatii din bukaresti, S. 149-160 Pfeffer, Florian 2014: To Do – Die neue Rolle der Gestaltung in einer veränderten Welt. Strategien, Werkzeuge, Geschäftsmodelle, Mainz: Hermann Schmidt Piaget, Jean 1973: Genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Pias, Claus; Coy, Wolfgang (Hg.) 2009: PowerPoint – Macht und Einf luss eines Präsentationsprogramms, Frankfurt a.M.: Fischer Pickering, Andrew 2007: Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin: Merve Pine, Joseph B.; Gilmore, James H. 2000: Erlebniskauf – Konsum als Ereignis, Business als Bühne, Arbeit als Theater, München: Econ Ullstein List Polanyi, Michael 1966: The Tacit Dimension, Chicago: University of Chicago Press

499

500

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Pollan, Michael 2019: Verändere Dein Bewusstsein – Was uns die neue PsychedelikForschung über Sucht, Depression, Todesfurcht und Transzendenz lehrt, München: Antje Kunstmann Poschardt, Ulf 2002: Cool, Reinbek: Rowohlt Potter, Norman 2002/1969: What is a designer? Things. Places. Messages, London: Hyphen Press Preciado, Paul B. 2016: Testo Junkie – Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornografie, Berlin: b_books Ranciere, Jacques 2008: Die Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik und Politik, Berlin: b_books Rammert, Werner 2007: Technik – Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften — 2008: Where the action is: Distributed agency between humans, machines, and programs, The Technical University Technology Studies Working Papers, TUTSWP-4-2008, https://www.ts.tu-berlin.de/fileadmin/fg226/TUTS/TUTS_WP_4_2008. pdf Rammler, Stephan 2015: Schubumkehr – Die Zukunft der Mobilität, Frankfurt a.M.: Fischer — 2016: Design als Weltdesign, in Arch+ Nr. 222, S. 54 Raulff, Ulrich; Syring, Marie Luise 2013: Sich quer durch die Kultur schlagen – Über die französische Zeitschrift Traverses, in Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, 1 (1979), S. 103-107, erneut in Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 2/2013, S. 1-76 Raunig, Gerald 2008: Tausend Maschinen: Eine kleine Philosophie der Maschine als sozialer Bewegung, Wien: Turia + Kant Reck, Hans Ulrich 2001: Von der geschmeidigen Regellosigkeit der Regeln, Einschnitte, Schwellen, Grundierungen, Maximen der neuzeitlich-modernen Künstlerausbildung von der Renaissance bis zur Gegenwart im Techno-Imaginären, Typoskript Reck, Hans Ulrich; Brock, Bazon (Hg.) 1986: Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode, Köln: DuMont Reckwitz, Andreas 2003: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken – Eine sozialtheoretische Perspektive, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, Heft 4, August 2003, S. 282-301 — 2012: Die Transformation der Kulturtheorien. Studienausgabe. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms. Mit Nachwort ›Aktuelle Tendenzen der Kulturtheorien‹, Weilerswist: Velbrück Redström, Johan 2017: Making Design Theory, Cambridge: MIT Press Reich, Wilhelm 2011/1933: Massenpsychologie des Faschismus, Frankfurt a.M.: Fischer Reichart, Sven 2015: Zeithistorisches zur praxeologischen Geschichtswissenschaft, in Arndt Brendecke (Hg.): Praktiken der Frühen Neuzeit: Akteure – Handlungen – Artefakte, Wien u.a.: Böhlau Resnick, Elizabeth (Hg.) 2019: The Social Design Reader, London/New York: Bloomsbury Rheinberger, Hans-Jörg 1992: Experiment – Differenz – Schrift, Marburg: BasiliskenPresse — 2016: Das Problem von Design in der Forschung, in Gerhard M. Buurmann, Marc Rölli (Hg.): Eigenlogik des Design, Zürich: Niggli, S. 133-138

Quellen und verwendete Literatur

Rittel, Horst 1992: Planen, Entwerfen, Design: Ausgewählte Schriften zu Theorie und Methodik, Stuttgart: Kohlhammer — 2013/1972: Zur Planungskrise: Systemanalyse »der ersten und zweiten Generation«, in Horst Rittel: Thinking Design – Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer (hg. von Wolf Reuter und Wolfgang Jonas), Basel: Birkhäuser, S. 39-57 (orig. On the Planning Crisis: Systems Analysis of the First and Second Generations, in Bedriftsøkonomen, Nr. 8, Oktober 1972, S. 390-396) Rittel, Horst W. J., Webber, Melvin M. 1973: Dilemmas in a General Theory of Planning, Policy Sciences, 4:2, S. 155-169, dt. Horst Rittel: Thinking Design – Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer (hg. von Wolf Reuter und Wolfgang Jonas 2013), Basel: Birkhäuser, S. 20-38 Roco, Mihail C.; Bainbridge, William S. (Hg.) 2002: Converging Technologies for Improving Human Performance: Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science, www.wtec.org/ConvergingTechnologies Rodatz, Christoph; Smolarski, Pierre (Hg.) 2018: Was ist Public Interest Design? Beiträge zur Gestaltung öffentlicher Interessen, Bielefeld: Transcript Roeck, Bernd 2013: Gelehrte Künstler: Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance über Kunst, Berlin: Wagenbach Rölli, Marc 2016: Design als soziales Phänomen – Wider das funktionalistische Paradigma, in Claudia Banz: Social Design – Gestalten für die Transformation der Gesellschaft, Bielefeld: Transcript, S. 27-34 Rössler, Otto E. 1992: Endophysik. Die Welt des inneren Beobachters, Berlin: Merve Rogers, Richard 2010: Mapping Public Web Space with the Issuecrawler, in Claire Brossard, Bernard Reber (Hg.): Digital Cognitive Technologies: Epistemology and Knowledge Society, London: Wiley, S. 115-126 Romero-Tejedor, Felicitas, Jonas, Wolfgang (Hg.) 2010: Positionen zur Designwissenschaft, Kassel: Kassel University Press Rosen, Robert 1985: Anticipatory Systems – Philosophical, Mathematical and Methodological Foundations, Oxford u.a.: Pergamon Press Rosling, Hans et al. 2018: Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, Berlin: Ullstein Roßler, Gustav 2007: Nachwort des Übersetzers in Andrew Pickering: Kybernetik und Neue Ontologien, Berlin: Merve, S. 177-184 — 2008: Kleine Galerie neuer Dingbegriffe: Hybriden, Quasi-Objekte, Grenzobjekte, epistemische Dinge, in Georg Kneer, Markus Schroer, Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 76-107 Rottenburg, Richard 2008: Übersetzung und ihre Dementierung, in Georg Kneer, Markus Schroer, Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 401-424 Rumpf huber, Andreas 2013: Architektur immaterieller Arbeit, Wien: Turia+Kant Runkel, Simon 2017: Monadologie und Sozialgeographie. Theoretische Perspektiven mit Gabriel Tarde, Geografische Zeitschrift 105, 2017/1, S. 52-75 Sachs, Angeli; Museum für Gestaltung Zürich (Hg.) 2018: Social Design: Participation and Empowerment, Baden: Lars Müller Sachs, Wolfgang (Hg.) 1992: The Development Dictionary. A Guide to Knowledge as Power, London: Zed Books

501

502

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Sanders, Elizabeth 2002: From User-Centered to Participatory Design Approaches, in Jorge Frascara (Hg.): Design and the Social Sciences – Making Connections, London/New York: Taylor & Francis, S. 1-8 (o. S. Abstract nur in Online-Version, www.b3b6b.it/disia0708/materiale_didattico_files/7FromUsercenteredtoParticipatory_Sanders.pdf) Sanders, Liz; Stappers, Pieter Jan 2014: From Designing to Co-Designing to Collective Dreaming, Interactions, 21(6), S. 24-33 Schäfer, Armin 2005: Lebendes Dispositiv: Hand beim Schreiben, in Cornelius Borck, Armin Schäfer (Hg.): Psychographien, Berlin: Diaphanes, S. 241-265 Schäfer, Hilmar 2013: Die Instabilität der Praxis – Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist: Velbrück — 2016: Praxistheorie – Ein soziologisches Forschungsprogramm, Bielefeld: Transcript Schmidgen, Henning 1997: Das Unbewusste der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan, München: Fink — 2011: Bruno Latour zur Einführung, Hamburg: Junius — 2012: The Materiality of Things? Bruno Latour, Charles Péguy and the History of Science, History of the Human Sciences 26(1) 3-28 Schmidt, Robert 2012: Soziologie der Praktiken – Konzeptionelle Studien und empirische Analysen, Berlin: Suhrkamp Schmidt, Siegfried J. (Hg.) 1987: Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Schmitt, Carl 1922: Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin: Duncker & Humblot Schmitt, Gerhard 1993: Architectura et machina. Computer Aided Architectural Design und Virtuelle Architektur, Braunschweig u.a.: Vieweg Schnaidt, Claude 1982: Victor Papanek: Design für eine reale Welt, in ders. Umweltbürger und Umweltmacher. Schriften 1964-1980, Dresden: VEB Verlag der Kunst, S. 19-25 Schneidewind, Uwe; Singer-Brodowski, Mandy 2013: Transformative Wissenschaft – Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem, Marburg: Metropolis-Verlag, S. 1-137 Schoen, Donald A. 1983: The Ref lective Practitioner – How Professionals Think in Action, o. O.: Basic Books Schönberger, Angela 1988: Architekturmodelle zwischen Illusion und Simulation, in Angela Schönberger, Internationales Designzentrum Berlin (Hg.): Simulation und Wirklichkeit, Köln: DuMont, S. 41-54 Schöttler, Peter 2015: Die »Annales«-Historiker und die deutsche Geschichtswissenschaft, Tübingen: Mohr Siebeck Schramke, Sandra 2010: Kybernetische Szenografie – Charles and Ray Eames Ausstellungsarchitektur 1959-1965, Bielefeld: Transcript Schranz, Christine (Hg.) 2021: Shifts in Mapping – Maps as a Tool of Knowledge, Bielefeld: Transcript Schürmann, Eva 2018: Vorstellen und Darstellen – Szenen einer medienanthropologischen Theorie des Geistes, München: Wilhelm Fink Schüttpelz, Erhard 2006: Die medienanthropologische Kehre der Kulturtechniken, in Lorenz Engell, Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hg.): Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?), Weimar: Universitätsverlag (Archiv für Mediengeschichte), S. 87-110

Quellen und verwendete Literatur

— 2008: Der Punkt des Archimedes – einige Schwierigkeiten des Denkens in Operationsketten, in Georg Kneer, Markus Schroer, Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 234-258 — 2013: Übung an Weltbildern. Bruno Latours Diagramm der Modernisierungstheorien, in Zeitschrift für Kulturwissenschaft: Reinigungsarbeit 1/2013, S. 145-186 Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas 2003: Strukturen der Lebenswelt, Konstanz: UVK Schultz, Tristan; Danah Abdulla, Ahmed Ansari, Ece Canli, Mahmoud Keshavarz, Matthew Kiem, Luiza Prado de O. Martins, Pedro J.S. Vieira de Oliveira 2018: What Is at Stake with Decolonizing Design? A Roundtable, Design and Culture, Vol. 10, No. 1, S. 81-101 Schulz-Schaeffer, Ingo 2012: Akteur-Netzwerk-Theorie. Zur Koevolution von Gesellschaft, Natur und Technik, in Johannes Weyer (Hg.): Soziale Netzwerke: Konzepte und Methoden der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung, München/Wien, S. 187-211 Schumpeter, Joseph A. 2005: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen: Narr Francke Schweppenhäuser, Gerhard 2016: Designtheorie, Wiesbaden: Springer Seebacher, Andreas; Alcántara, Sophia; Quint, Alexandra 2018: Akteure in Reallaboren – Reallabore als Akteure, in Antonietta Di Giulio, Rico Defila (Hg.) 2018: Transdisziplinär und transformativ forschen: Eine Methodensammlung, Heidelberg: Springer Selle, Gerd 1973: Ideologie und Utopie des Design – Zur gesellschaftlichen Theorie der industriellen Formgebung, Köln: DuMont Sen, Amartya 2020/1977: Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie, Ditzingen: Reclam Sennett, Richard 2008: Handwerk, Berlin: Berlin Verlag Serres, Michel 1992/1974: Hermes III. – Übersetzung, Berlin: Merve — 1994/1980: Hermes V. – Die Nordwest-Passage, Berlin: Merve Shove, Elizabeth; Pantzar, Mika; Watson, Mike 2012: The Dynamics of Social Practise – Everyday Life and How it Changes, London: SAGE Shove, Elizabeth; Watson, Matthew; Hand, Martin; Ingram, Jack 2007: The Design of Everyday Life, Oxford/New York: Berg Sieber, Peter (Hg.) 1994: Sprachfähigkeiten – Besser als ihr Ruf und nötiger denn je, Aarau u.a. Sauerländer Siegert, Bernhard 2003: (Nicht) Am Ort: zum Raster als Kulturtechnik, in Thesis – wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität Weimar, Weimar: BauhausUniversität, Bd. 49, 3.1, S. 93-104 — 2009: Weiße Flecken und finstre Herzen. Von der symbolischen Weltordnung zur Weltentwurfsordnung, in Daniel Gethmann, Susanne Hauser (Hg.): Kulturtechnik Entwerfen, Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld: Transcript, S. 19-47 — o.J.: Was sind Kulturtechniken? Beschreibung des Lehr- und Fachgebietes, www. uni-weimar.de/medien/kulturtechniken/kultek.html Siepmann, Eckard (Hg.) 1987: Alchimie des Alltags – Das Museum der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts, Gießen: anabas (Werkbund Archiv) Simmel, Georg 1908: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin: Duncker & Humblot, Exkurs: Wie ist Gesellschaft möglich? S. 22-30 Simon, Herbert A. 1969: The Sciences of the Artificial, Cambridge: MIT Press (dt. 1990: Die Wissenschaften vom Künstlichen, Berlin: Kammerer und Unverzagt

503

504

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Simon, Ralf 2002: Imagines agentes, Zeitschrift Rhetorik Jahrbuch, Band 20, S. 18-39 Sinek, Simon 2011: Start with Why: How Great Leaders Inspire Everyone to Take Action, New York: Portfolio Sloterdijk, Peter 1998-2004: Sphären I–III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1998: Der starke Grund zusammen zu sein – Erinnerung an die Erfindung des Volkes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1998a: Sphären I – Blasen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1999: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2001: Versuche nach Heidegger, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2004: Sphären III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2004a: Gute Theorie lamentiert nicht, Interview von Frank Hartmann und Klaus Taschwer, https://www.heise.de/tp/features/Gute-Theorie-lamentiertnicht-3434873.html — 2006: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2006a: Zorn und Zeit: Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2006b: Das Zeug zur Macht, in Gerhard Seltmann, Werner Lippert (Hrsg.): Entry Paradise. Neue Welten des Designs, Basel u.a.: Birkhäuser, S. 98–111, zuerst als Vortrag „Design als Kunst der Transformation“ am 22.09.2005 im Ulmer Stadthaus anlässlich des IFG-Hearings »Transformation«, erneut identisch vorgetragen an der HFG Karlsruhe bei der Konferenz CommunicationNext, Video unter https:// www.youtube.com/watch?v=zpgizaftqwI — 2008a: Durchbruch ins Oberf lächliche, in Von der guten Form – 100 Jahre Werkbund, Frankfurt a.M.: Anabas, S. 97-103 — 2008b: Kosmische Misfits – Selbstaufräumung als Emergency Design, in Yana Milev, Gerhard Blechinger (Hg.) 2008: Emergency Design, Wien: Springer, S. 47-59 — 2009: Wie groß ist groß? www.petersloterdijk.net/agenda/reden/wie-gross-ist%E2%80%9Egross%E2%80%9C — 2009a: Das elfte Gebot: die progressive Einkommenssteuer, in FAZ vom 27.09.2009 — 2019/2010: Das Zeug zur Macht: Bemerkungen zum Design als Modernisierung von Kompetenz, in Daniel Martin Feige, Florian Arnold, Markus Rautzenberg (Hg.): Philosophie des Designs, Bielefeld: Transcript, S. 75-91 — 2023: Die Reue des Prometheus, Berlin: Suhrkamp Sloterdijk, Peter; Mueller von der Haegen, Gesa 2005: Instant Democracy: The Pneumatic Parliament, in Bruno Latour, Peter Weibel (Hg.): Making Things Public – Atmospheres of Democracy, Cambridge: MIT Press, S. 952-955 Smith, Gary; Kroß, Mathias (Hg.) 1998: Die ungewisse Evidenz – Für eine Kulturgeschichte des Beweises, Akademie Verlag Smith, Tiffany Watt 2015: The Book of Human Emotions. An Encyclopedia of Feeling from Angst to Wanderlust, London: Profile Books Soentgen, Jens 2020: Die »Mobilmachung der Materie« – Stoffströme und Stoff kreisläufe aus Sicht der stoffgeschichtlichen Forschung, in Zeitschrift für Medienwissenschaft ZfM 23, 2/2020, S. 32-40 Sottsass, Ettore 1983: Interview in Kathryn B. Hiesinger, George H. Marcus 1983: Design and Theory: Two Points of View, Design Since 1945, Philadelphia Museum of Art, S. 2-4

Quellen und verwendete Literatur

— 1992: Ich bin ein höherer Dilettant: Ansichten und Einsichten von Ettore Sottsass, Rede anlässlich der Verleihung des 1. Design-Preises Schweiz in Solothurn am 28.06.1991, in Hochparterre – Zeitschrift für Kunst und Design, Bd. 5, 1992, S. 41-43 Spencer-Brown, George 1997: Laws of Form – Gesetze der Form, Lübeck: Bohmeier Verlag, (orig. London 1969) Spitz, René 2012: HFG IUP IFG, Ulm: Internationales Forum für Gestaltung Spivak, Gayatri Chakravorty 2007/1988: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant Starobinski, Jean 2001: Aktion und Reaktion – Leben und Abenteuer eines Begriffspaars, München/Wien: Hanser Stauffer, Marie Theres 2007: Figurationen des Utopischen: Theoretische Projekte von Archizoom und Superstudio, Berlin/München: Deutscher Kunstverlag Steinhauer, Fabian 2001: Regel und Fiktion – Zur normativen Kraft des Kontrafaktischen. Untersuchung über zwei Argumentationsformen kultureller Selbstdarstellung, Diss. Uni Wuppertal Stephan, Peter Friedrich 1999: Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe, Vortrag und Workshop auf dem 9. Internationalen Kongress »Maschinen und Geschichte« der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, Kassel 04.10.1999 (CD-ROM) Stephan, Peter Friedrich; Asmus, Stefan 2000: Wissensdesign – Mit neuen Medien Wissen gestalten, in Hans Peter Ohly, Gerhard Rahmstorf, Alexander Sigel (Hg.) 2000: Globalisierung und Wissensorganisation: Neue Aspekte für Wissen, Wissenschaft und Informationssysteme, Proceedings der 6. Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Wissensorganisation ISKO, Hamburg 23.– 25.09.1999, Würzburg: Ergon Stephan, Peter Friedrich 2001: Denken am Modell – Gestaltung im Kontext bildender Wissenschaft, in Bernhard E. Bürdek (Hg.): Der digitale Wahn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 109-129 — 2002: Luigi Colani: Der Designer als Marke, Visionär und Erzähler, in Museum für konkrete Kunst Ingolstadt (Hg.): Experiment 70 – Designvisionen von Luigi Colani und Günter Beltzig, Katalog zur Ausstellung, S. 39-51 — 2004: Dimensionen der Wissensvernetzung: Körper – Zeichen – Maschinen, in Winfried Nöth, Guido Ipsen (Hg.): Körper – Verkörperung – Entkörperung/Body – Embodiment – Disembodiment (10. Internationaler Kongress der Deutschen Gesellschaft für Semiotik), Kassel: University Press, S. 1299-1360 — 2005a: Theoriebildung als Gestaltungsaufgabe, in Maximilian Eibl, Harald Reiterer, Peter Friedrich Stephan, Frank Thissen (Hg.): Knowledge Media Design – Theorie, Methoden, Praxis, München: Oldenbourg (2. Auf lage 2006), S. 43-46 — 2005b: Knowledge Media Design – Konturen eines aufstrebenden Forschungs- und Praxisfeldes, in Maximilian Eibl, Harald Reiterer, Peter Friedrich Stephan, Frank Thissen, Hg.): Knowledge Media Design: Theorie – Methoden – Praxis, München: Oldenbourg (2. Auf l. 2006), S. 1-42 — 2006: Nicht-Wissen als Ressource sowie sieben Thesen zu künftiger Wissensarbeit, in Zeitschrift i-com Heft 2/2006, München: Oldenbourg, S. 4-10 Stephan, Peter Friedrich; Bleimann, Udo (Hg.) 2006: Themenheft Knowledge Media Design, Zeitschrift i-com Heft 2/2006, München: Oldenbourg Stephan, Peter Friedrich; Klein, Steffen; Petersen, Soehnke 2006: Knowledge – Design – Organization, The Design of Knowledge Communities based on Pattern

505

506

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Language, Poster Presentation, in John Gero (Hg.): Proceedings of Design, Computing and Cognition (DCC 06), Eindhoven Stephan, Peter Friedrich 2008: Wissensdesign – Gestalterische Aspekte künftiger Wissens(un)ordnungen, in Ulrike Lucke, Martin Kindsmüller, Stefan Christoph Fischer, Michael Herczeg, Silke Seehusen (Hg.): Workshop Proceedings der Tagungen Mensch & Computer 2008, DeLFI 2008 und Cognitive Design 2008, Berlin: Logos, S. 452-456 — 2009: Gestaltungsaufgaben für intelligente Objekte, in Otthein Herzog, Thomas Schildhauer (Hg.): Intelligente Objekte, Technische Gestaltung – Wirtschaftliche Verwertung – Gesellschaftliche Wirkung, Berlin/Heidelberg: Springer (Reihe Deutsche Akademie der Technikwissenschaften – acatech diskutiert), S. 63-75 — 2010: Wissen und Nicht-Wissen im Entwurf, in Claudia Mareis, Gesche Joost, Kora Kimpel (Hg.): Entwerfen – Wissen – Produzieren: Designforschung im Anwendungskontext, Bielefeld: Transcript, S. 81-99 — 2015: Schöner Wissen – Design für die Trading Zones of Knowledge, in Öffnungszeiten – Zeitschrift für Designwissenschaft Nr. 29, S. 29-40 — 2016: Designing Matters of concern (Latour): A Future Design Challenge? In Wolfgang Jonas, Sarah Zerwas, Kristof von Anshelm (Hg.): Transformation Design – Perspectives on a New Design Attitude, Basel: Birkhäuser, S. 202-226 — 2017: You say you want a revolution? Non-normative foundations of Transformation Design (Design for Next Conference Rome 2017, European Academy of Design), in The Design Journal, 20:sup1, S3630–S3642 Stephan, Peter Friedrich; Godelnik, Raz 2021: The transformation will not be televised, in Loredana Di Lucchio, Lorenzo Imbesi, Angela Giambattista, Viktor Malakuczi (Hg.): Design Cultures – Cumulus Conference Proceedings Roma 2020, Vol. 2#2, S. 43194332 Strauß, Botho 2009: Text zu Arbeiten von Thomas Demand »Nationalgalerie«, Katalog, Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin, Göttingen: Steidl — 2016: Herkunft, München: dtv Strauß, Simon 2019: Römische Tage, Tropen Verlag Stummerer, Sonja; Hablesreiter, Martin 2009: Food Design XL, Wien: Ambra Sturm, Hermann (Hg.) 1988: Der verzeichnete Prometheus. Kunst, Design, Technik. Zeichen verändern die Wirklichkeit, Berlin: Verlag Dirk Nishen Suchman, Lucy 1987: Plans and Situated Actions – The Problem of Human-Machine Communication, Cambridge: Cambridge University Press — 2019/2008: Feministische Science & Technology Studies (STS) und die Wissenschaften vom Künstlichen, GENDER Heft 3 | 2019, S. 56-83 Sunstein, Cass R. 2015: Why Nudge? New Haven/London: Yale University Press Superstudio 1972: Description of the Microevent/Microenvironment, in Emilio Ambasz (Hg.): Italy – The New Domestic Landscape, Museum of Modern Art, New York, S. 240-251 Tarde, Gabriel 1902: Psychologie Économique, Paris: Félix Alcan (Bd. 1/2), http://classiques.uqac.ca/classiques/tarde_gabriel/psycho_economique_t1/psycho_eco_ t1.html — 2009/1893: Monadologie und Soziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 2009/1898: Die sozialen Gesetze, Marburg: Metropolis (orig. 1898 Les lois sociales), http://classiques.uqac.ca/classiques/tarde_gabriel/les_lois_sociales/les_lois_sociales.html

Quellen und verwendete Literatur

Thaler, Richard H.; Sunstein, Cass R. 2010: Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin: Ullstein Thielmann, Tristan 2009: Wir schreiben Texte, wir schauen nicht durch eine Fensterscheibe – Wie maßvoll und maßlos die Akteur-Netzwerk-Theorie Medien f lach und tief hält, in Sprache und Literatur, Bd. 40/2, S. 91-108 Thielmann, Tristan; Schüttpelz, Erhard (Hg.) 2013: Akteur-Medien-Theorie, Bielefeld: Transcript Thies, Christian 1999: Die Sloterdijk-Debatte, Vortrag Universität Rostock, 14.12.1999, https://www.phil.uni-passau.de/fileadmin/dokumente/fakultaeten/phil/lehrstuehle/thies/onlinetext-Sloterdijk-Debatte.pdf Tönnies, Ferdinand 1925/1912: Soziologische Studien und Kritiken (Erste Sammlung), Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Vorrede zur zweiten Auf lage 1912, Jena: Gustav Fischer, S. 55 Tönnies, Ilse 1933: Kants Dialektik des Scheins, Würzburg: Triltsch Tonkinwise, Cameron 2015: Design for Transitions ‒ from and to what? Design Philosophy Papers 13:1, 85-92 Tromp, Nynke; Hekkert, Paul 2018: Designing for Society: Products and Services for a Better World, London/New York: Bloomsbury Tufte, Edward 2003: The Cognitive Style of PowerPoint, Cheshire: Graphics Press, additional material and discussion at www.edwardtufte.com/tufte/powerpoint — 2006: The Cognitive Style of PowerPoint: Pitching Out Corrupts Within, in ders. Beautiful Evidence, Cheshire: Graphics Press, S. 157-185 Ulrich, Werner 1979: Zur Metaphysik der Planung: Eine »Debatte« zwischen Herbert A. Simon und C. West Churchmann, in Die Unternehmung, Bd. 33, Nr. 3, S 201-211 van den Boom, Holger 1984: Ein designtheoretischer Versuch, Braunschweig: Hochschule für bildende Künste VanPatter, GK 2018: Storming Design Thinking, https://www.linkedin.com/pulse/ making-sense-what-matters-gk-vanpatter/ Velminski, Wladimir 2006: »Noch Fragen? Rechnen wir!« – Zur Leibnizschen Diagrammatik des Denkens, in Friedrich Kittler, Ana Ofak (Hg.): Medien vor den Medien, München: Fink, S. 239-263 Venturi, Robert; Scott Brown, Denise; Izenour, Steven 1972: Learning from Las Vegas, Cambridge: MIT Press Venturini, Tommaso; Munk, Anders Kristian 2021: Controversy Mapping: A Field Guide, Cambridge: Polity Verbeek, Peter-Paul 2005: What Things Do – Philosophical Ref lections on Technology, Agency, and Design, Penn State Press Vester, Frederic 1978: Unsere Welt – Ein vernetztes System, Stuttgart: Klett-Cotta — 1990: Ausfahrt Zukunft, Strategien für den Verkehr von morgen – eine Systemuntersuchung, München: Heyne Verlag — 1999: Crashtest Mobilität – Die Zukunft des Verkehrs. Fakten, Strategien Lösungen, München: dtv Virilio, Paul 1993: Verhaltensdesign: Vom Übermenschen zum überreizten Menschen – die technologische Ausrüstung des Körpers, in Arnica-Verena Langenmaier (Hg.): Das Verschwinden der Dinge – Neue Technologien und Design, München: Design Zentrum München, S. 73-97 Vismann, Cornelia 2019: Medien der Rechtsprechung, Frankfurt a.M.: S. Fischer

507

508

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

von Foerster, Heinz 1997: Wissen und Gewissen – Versuch einer Brücke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp von Hilgers, Philipp; Khaled, Sandrina 2004: Formationen in Zeilen und Spalten: Die Tabelle, in Pablo Schneider, Moritz Wedell: Grenzfälle – Transformationen von Bild, Schrift und Zahl, Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, S. 167-189 Ward, Matt; Wilkie, Alex 2008: Made in Criticalland: Designing Matters of Concern, in Fiona Hackney, Jonathan Glynne, Viv Minton (Hg.) 2008: Networks of Design – Proceedings of the 2008 Annual International Conference of the Design History Society (UK), University College Falmouth: Dissertation.com, S. 118-123 Wark, McKenzie 2016: Molecular Red – Theory for the Anthropocene, London/New York: Verso WBGU 2011: Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung – Globale Umweltveränderungen: Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation, www.wbgu.de Weber, Heike 2008: Das Versprechen mobiler Freiheit – Zur Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy, Bielefeld: Transcript Wellmer, Albrecht 2015/1985: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Welsch, Wolfgang (Hg.) 1993: Die Aktualität des Ästhetischen, München: Fink Wendler, Reinhard 2013: Das Modell zwischen Kunst und Wissenschaft, München: Wilhelm Fink Wiame, Aline 2015: Ecologizing Thought: Latour’s Theatre of Negotiations and Speculative (Pre)Enactments, Paper read at the Possibility Matters conference held at ICI Berlin in December 2015, https://www.academia.edu/22153053/Ecologizing_ Thought_ Latour_s_Theatre_of_Negotiations_and_Speculative_Pre_Enactments Wiesse, Basil 2017: Stimmungen und Atmosphären: Zur Affektivität des Sozialen, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wilde, Jessica 2021: Die Fabrikation der Stadt – Eine Neuausrichtung der Stadtsoziologie nach Bruno Latour, Bielefeld: Transcript Willis, Anne-Marie 2006: Ontological Designing, Design Philosophy Papers, June 2006, Vol. 4:2, S. 69-92 — 2015: Transition Design: the need to refuse discipline and transcend instrumentalism, Design Philosophy Papers Vol. 13 Nr. 1, S. 69-74 Wilson, Robert Anton 1987: Der neue Prometheus – Die Evolution unserer Intelligenz, Reinbek: Rowohlt Wingler, Hans M. 1962: Das Bauhaus – Weimar, Dessau, Berlin 1919-1933, Bramsche: Rasch/DuMont Winkels, Hubert 1999: Leselust und Bildermacht – Über Literatur, Fernsehen und Neue Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Winkler, Hartmut 1997: Songlines – Landschaft und Architektur als Modell für den Datenraum, in Norbert Bolz, Friedrich Kittler, Christoph Tholen (Hg.): Computer als Medium, München: Fink, S. 227-239 Winograd, Terry; Flores, Carlos Fernando 1989: Erkenntnis Maschinen Verstehen – Zur Neugestaltung von Computersystemen, Berlin: Rotbuch (orig. 1986 Understanding Computers and Cognition: A New Foundation for Design, Norwood: Ablex) Winter, F. G. 1977: Gestalten: Didaktik oder Urprinzip? Ergebnis und Kritik des Experiments Werkkunstschulen 1949-1971, Ravensburg: Otto Maier Verlag

Quellen und verwendete Literatur

Wittgenstein, Ludwig 1989: Vorlesungen 1930-35, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1991: Philosophische Untersuchungen, Teil II, Frankfurt a.M.: Suhrkamp — 1996: Privatsprache und private Erfahrung, in ders. Ein Reader, Stuttgart: Reclam, S. 168-209 Witzgall, Susanne; Kesting, Marietta (Hg.) 2021: Politik der Emotionen/Macht der Affekte, Berlin/Zürich: Diaphanes Wolfe, Thomas 1981: From Bauhaus to our House, New York: Farrar, Straus and Giroux Wood, Denis 2003: Cartography is Dead (Thank God!), in Cartographic Perspectives (45), S. 4-7 Wunderlich, Antonia 2008: Der Philosoph im Museum – Die Ausstellung »Les Immatériaux« von Jean-François Lyotard, Bielefeld: Transcript Yaneva, Albena; Heaphy, Liam 2012: Urban controversies and the making of the social, in Architectural Research Quarterly, Vol. 16, No. 1, S. 29-36 Yaneva, Albena 2005: Scaling Up and Down: Extraction Trials in Architectural Design, Social Studies of Science, 35/6, S. 868-894 — 2009: The Making of a Building – A Pragmatist Approach to Architecture, Bern: Peter Lang — 2012: Mapping Controversies in Architecture, Surrey: Ashgate — 2022: Latour for Architects, London/New York: Routledge (Thinkers for Architects 18) Zillner, Gerd; Bogner, Peter; Bogner, Dieter (Hg.) 2017: Friedrich Kiesler, Architekt – Künstler – Visionär, München: Prestel Žižek, Slavoj, 2005: Körperlose Organe – Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Frankfurt a.M.: Suhrkamp

509

Personen Index

A Adorno, Theodor W. 43 Aicher, Otl 35, 70, 82, 301, 315, 326, 329, 345, 358, 363 Aït-Touati, Frédérique XXIII, 21, 78, 123, 135, 237, 239, 244, 373 Antonelli, Paola 36, 146, 172, 198, 243 B Baecker, Dirk XVI, 30, 60, 65,66, 67, 68, 138, 160, 161, 162, 186, 232, 349 Banz, Claudia 36, 45, 46, 47, 49, 301 Barad, Karen 100, 154, 272 Barthes, Roland 15, 173, 314, 342, 379 Bateson, Gregory 125, 187, 372 Beck, Ulrich 24, 30, 217, 340 Benjamin, Walter 224, 225 Berger, Karl 357 Bill, Max 39, 146 Blumenberg, Hans 281, 317 Bolz, Norbert 11, 43, 53, 120, 148, 195, 321 Bonsiepe, Gui 22, 23, 41, 69, 82, 85, 86, 102, 200 Bourdieu, Pierre 4, 23, 83, 84, 251, 281 Bredekamp, Horst 121, 225, 246 Brock, Bazon 137, 152, 298, 299, 301, 313, 389, 390 Buchanan, Richard 54, 57, 58, 360, 391 C Chesterton, Gilbert Keith 44, 45, 166, 201 D de Certeau, Michel 4, 23, 81

Deleuze, Gilles XVIII, XXII, XXVI, XXVIII, 4, 12,25, 133, 204, 213, 223, 230, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 281, 283, 284, 285, 288, 289, 292, 293, 297, 298, 308, 309, 310, 317, 320, 321, 331, 334, 339, 343, 359, 369, 390 Derrida, Jacques 12, 114, 210, 223, 230, 249 Dewey, John IX, 103, 281, 353, 373 Dunne, Anthony/Raby, Fiona 34, 36, 55, 27, 329 E Eames, Charles and Ray XVII, 82, 231, 232, 233, 251, 288, 327, 340 Erlhoff, Michael 7, 81, 86, 102, 146, 271 Escobar, Arturo 68, 69, 74, 76, 77, 101, 253 Feige, Daniel Martin 39, 83 Felsch, Philipp 249, 250 Feyerabend, Paul 63 Flusser, Vilém 120, 148, 151, 189, 227, 230 Foucault, Michel 12, 111, 210, 223, 230, 275, 281, 284, 286, 288, 293, 373 Frankl, Viktor 2, 319, 320 Fry, Tony 74, 83, 151, 200 Fuller, Richard Buckminster XIV, 6, 31, 68, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 86, 145, 302 G Gehlen, Arnold 279 Gertenbach, Lars XXIII, 9, 16, 21 Glanville, Ranulph 129, 338, 395 Goffman, Erving 134, 312, 333 Goodman, Nelson 5, 69, 226, 372

512

Peter Friedrich Stephan: Designing Concerns

Guattari, Félix XVIII, XIX, XXII, XXVI, XXVIII, 4, 12, 25, 133, 177, 213, 223, 230, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 281, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 292, 293, 296, 297, 298, 299, 306, 308, 310, 318, 331, 339, 359, 369, 373, 390 Günther, Gotthard 34, 116, 146 H Habermas, Jürgen XVI, XVII, XXVI, 22, 53, 93, 184, 186, 194, 195, 197, 198, 199, 200, 273, 355 Haraway, Donna 33, 77, 100, 222, 226, 242 Harman, Graham 74, 189, 202, 203 Haug, Wolfgang Fritz 34, 362 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 83, 189, 373 Heidegger, Martin XVI, XVII, XXVI, 73, 76, 83, 93, 115, 144, 152, 184, 185, 195, 200, 201, 202, 203, 209, 223, 275, 281, 292, 371, 373 Hogrebe, Wolfram 199, 200, 225, 226 Holert, Tom 32, 42, 101, 146, 175 Honneth, Axel 191, 196, 224 Hornuff, Daniel 11, 47, 80 I Illich, Ivan 86, 87, 277 Illouz, Eva 315 Irwin, Terry 36, 58, 59 Jonas, Wolfgang XXI, 8, 9, 12, 29, 30, 33, 38, 43, 44, 54, 55, 56, 59, 61, 66, 72, 80, 81, 99, 100, 166, 181, 293, 297, 322, 324, 327, 345, 346, 352, 353, 358, 359, 360, 361, 388 K Kittler, Friedric 92 Knorr-Cetina, Karin 77, 121, 416 Krämer, Sybille 110, 121, 124, 230 L Law, John XIV, 8, 63, 76, 101, 164, 167, 252 Luhmann, Niklas 11, 24, 34, 37, 38, 39, 53, 67, 155, 209, 222, 232, 273, 277, 284, 314, 326, 354, 380

Lyotard, Jean-François XVIII, XX, XXII, XXVI, 4, 12, 30, 31, 110, 133, 210, 213, 248, 249, 250, 272, 275, 277, 280, 284, 286, 292, 331, 337, 339, 340, 341, 359, 390 M Maldonado, Tomás 52, 70 Marres, Noortje 58, 103, 333 Marx, Karl 31, 51, 276, 280, 299, 367 Mendini, Alexssandro 53, 86, 322, 323 Monteiro, Mike 38, 48, 49 Moreno, Jacob Levy 117, 208, 288 Nadin, Mihai 145, 225, 230, 373 Nate, Richard 236, 238, 239, 240 Neurath, Otto 108, 190 Nietzsche, Friedrich 13, 14, 15, 51, 83, 189, 190, 294, 297, 319, 361, 373 Nohr, Rolf 109, 175, 176 Norman, Donald A. 198, 298 Nowotny, Helga 121 O Obrist, Hans-Ulrich 115, 245, 248, 249, 253 Oevermann, Ulrich XIX, XXVI, 4, 106, 274, 279, 282, 290, 296, 319, 348 Ott, Michalea 119, 230, 289 P Preciado, Paul B. 292 R Reckwitz, Andreas XXII, XXVI, 4, 26, 272, 282 Rheinberger, Hans-Jörg 63, 77, 121, 130, 131, 146, 217, 230, 238 Rittel, Horst 35, 38, 54 S Schäfer, Hilmar XXII, XXVI, 4, 8, 24, 272, 281, 282 Schmidgen, Henning 9, 21, 101, 133, 143, 167, 201, 202, 213, 215, 218, 275, 284 Schüttpelz, Erhard 8, 101, 143, 162, 163, 228, 230 Serres, Michel 12, 125, 210, 275, 350, 388 Siegert, Bernhard 24, 101, 143, 149, 357, 375

Personen Index

Sloterdijk, Peter XVI, XVII, XXVI, 92, 93, 95, 137, 148, 153, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 197, 200, 201, 213, 235, 306, 311, 313, 317, 340, 394 Sottsass, Ettore 35, 322, 323, 382, 387 Spencer-Brown, George 113, 160, 161, 232, 279, 338 Stephan, Peter Friedrich 10, 67, 80, 82, 86, 121, 131, 132, 134, 148, 150, 156, 172, 177, 183, 212, 301, 324, 382, 387 Superstudio 35, 52, 82, 150, 340, 368, 382, 383 T Tarde, Gabriel XVI, XVII, XXVI, 3, 93, 99, 107, 114, 140, 141, 142, 184, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 227, 231, 245, 270, 271, 272, 275, 287, 289, 295, 296, 305, 307, 331, 359, 361, 370, 384 V Vester, Frederic 62, 181 Virilio, Paul 12, 249, 250, 292, 293, 298, 299 W Willis, Anne-Marie 36, 73, 74, 83 Wittgenstein, Ludwig 160, 209, 230, 281, 370 Y Yaneva, Albena 8, 103, 265, 346 Z Žižek, Slavoj 175, 278, 286

513