Descartes' Meditationen (Klostermann Rotereihe) (German Edition) 3465041275, 9783465041276

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Descartes' Meditationen (Klostermann Rotereihe) (German Edition)
 3465041275, 9783465041276

Table of contents :
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Impressum
Inhalt
Vorwort
Zur Zitierweise
Hinführung
Einleitung
§ 1 Titel und methodische Auszeichung der "Meditationen"
§ 2 Philosophie als System aller Wissenschaften
Kap. 1: Der Weg des methodischen Zweifels für die Grundlegung der Metaphysik
§ 3 Veranlassung und Abzielung der Meditationen
§ 4 Der Weg des methodischen Zweifels
§ 5 Das Phänomen der Sinnestäuschung
§ 6 Das Phänomen des Traumes
§ 7 Die fiktiv angesetzte Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache
Kap. 2: Das Selbstbewusstsein
§ 8 Die ontologische Frage nach der absolut gewissen Seinsweise des Wirklichseins des Selbstbewusstseins
§ 9 Die Frage nach dem Wer des Ich
§ 10 Die geistige Selbsterfassung der je eigenen ichlichen Bewusstseinssphäre
Kap. 3: Wahrheit und Methode
§ 11 Die absolut unbezweifelbare Gewissheit des ego-cogito-cogitatum
§ 12 Der Methodengedanke Descartes' und die Hauptregeln der Methode
Kap. 4: Der bewusstseinsanalytische Gottesaufweis
§ 13 Methodische Erwägungen im Rückblick und Vorblick
§ 14 Bewusstseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis
§ 15 Bewusstseinsanalytischer Gottesaufweis
Kap. 5: Descartes' Lehre vom wahren und unwahren Urteil
§ 16 Analyse des Urteils
§ 17 Analyse des wahren und falschen Urteils
Kap. 6: Die wahre Erkenntnis vom Wesen und den Wesensbestimmungen der Körperdinge
§ 18 Die unbezweifelbare Erkenntnis vom Wesen und den Wesensbestimmungen der Körper
§ 19 Der überlieferte (ontologische) Gottesbeweis
§ 20 Descartes' Ontologie der Substanzen im Aufriss
Kap. 7: Die zwei Beweise für die existentia der materiellen Körperdinge
§ 21 Der Beweis vom wahrscheinlichen Wirklichsein der Körper
§ 22 Der Beweis für die Gewissheit über das Wirklichsein der materiellen Körper
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister

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RoteReihe Klostermann

F.-W. v. Herrmann Descartes’ Meditationen

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F.-W. v. Herrmann · Descartes’ Meditationen

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F.-W. v. Herrmann Descartes’ Meditationen

KlostermannRoteReihe https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage 2011 © Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2011 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier ISO 9706 Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1865-7095 ISBN 978-3-465-04127-6

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JEAN-LUC MARION

dem großen französischen Descartes-Forscher Mitglied der Académie française Chevalier de la Légion d’honneur Officier des Palmes académiques Directeur du Centre d’Etudes cartésiennes Paris-Sorbonne in dankbarer Erinnerung an die ›Journée d’Etudes Cartésiennes‹ an der Universität Paris-Sorbonne gewidmet

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I N H A LT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Zur Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

E I N L E I T U NG

§ 1 Titel und methodische Auszeichnung der »Meditationen über die Erste Philosophie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 a) Hegel als Sprecher der neuzeitlichen Philosophie . . . . . . . 25 b) Der Titel des cartesischen Hauptwerkes . . . . . . . . . . . . . 26 c) Methodische Auszeichnung der »Meditationen« . . . . . . . 30 § 2 Philosophie als System aller Wissenschaften . . . . . . . . . 32

E R S T E S K A PI T E L

Der Weg des methodischen Zweifels für die Grundlegung der Metaphysik. Die methodische Funktion des Zweifels und die Zweifelsgründe § 3 Veranlassung und Abzielung der Meditationen. Die faktisch-individuelle Situation des meditierenden Ich. Zwei methodische Anweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 a) Veranlassung und Abzielung der Meditationen . . . . . . . . 36 b) Die faktisch-individuelle Situation des meditierenden Ich . 39 c) Der methodische Zweifel – zwei Anweisungen . . . . . . . . . 42 § 4 Zum Weg des methodischen Zweifels . . . . . . . . . . . . . . 45 https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

8

Inhalt

§ 5 Das Phänomen der Sinnestäuschung als Grund des Zweifels an der unumstößlichen Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 a) Sinnliche Wahrnehmung – empirisches Sosein und Wirklichsein (existentia) der Dinge (Körper) . . . . . . . . . . . . . 47 b) Sinnestäuschung und Halluzination. Räumlich-partielle Täuschungsphänomene und genereller Zweifelsgrund . . . . 51

§ 6 Das Phänomen des Traumes als zweiter Grund für den Zweifel an der Wahrheit der sinnlichen Erfahrung . . . . . 58 a) Wachen und Träumen – das geträumte Wachsein . . . . . . 58 b) Natürlicher und generalisierter Traum . . . . . . . . . . . . . 60 c) particularia, generalia, universalia. Die Wesensstrukturen der Körper (Dinge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 d) Tatsachenwissenschaft en und Wesenswissenschaft en . . . . . 68

§ 7 Die fi ktiv angesetzte Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache meines Verstandesdenkens als dritter Zweifelsgrund für die Wahrheit der Verstandeserkenntnis . . . 73 a) Die vetus opinio des allmächtigen und vollkommensten Schöpfergottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Der hypothetisch umgestaltete Gottesbegriff als Zweifelsgrund für die apodiktische Wahrheit der reinen Verstandeserkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 c) Der methodische Zweifel als willentlich ausgebildete methodische Grundhaltung: die cartesianische Epoché . . . . . . . 80

Z W E I T E S K A PI T E L

Das Selbstbewußtsein als das gesuchte absolut unbezweifelbare erste Prinzip der Ersten Philosophie und aller in ihr gründenden Wissenschaften § 8 Die ontologische Frage nach der absolut gewissen Seinsweise des Wirklichseins (existentia) des Selbstbewußtseins 85 a) Wiederaufnahme der generellen methodischen Zweifelshaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Blickwendung des methodisch zweifelnden Ich. Drei

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85

Inhalt

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Schritte der Einsicht in das absolut unbezweifelbare Ich-bin (ego existo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 c) Der intuitive Erkenntnischarakter des ego cogito ergo sum . 94 d) Das Ich-bin als der erste unbezweifelbare Erkenntnisboden 98

§ 9 Die Frage nach dem Wer des Ich als ontologische Frage nach der absolut unbezweifelbaren Wesensverfassung des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) cogitatio als essentia – res cogitans . . . . . . . . . . . . . . . . 101 b) Die cogitationes (modi cogitandi) des ego cogito . . . . . . . . 108 c) Die cogitata des jeweiligen cogito . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 d) ego cogito me cogitare cogitatum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 e) Descartes und die Intentionalität des Bewußtseins . . . . . . 121 § 10 Die geistige Selbsterfassung der je eigenen ichlichen Bewußtseinssphäre in ihrer höchsten Gewißheit als notwendige Voraussetzung in der verstandesmäßigen Erkenntnis von der Körperwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

DR I T T E S K A PI T E L

Wahrheit und Methode § 11 Die absolut unbezweifelbare Gewißheit des ego-cogitocogitatum als Quelle und Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 § 12 Der Methodengedanke Descartes’ und die Hauptregeln der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

V I E RT E S K A PI T E L

Der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis als Lösungsweg für die Frage nach der transzendenten Geltung der bewußtseinsimmanenten Vorstellungen (cogitata) von der materiellen Körperwelt § 13 Methodische Erwägungen im Rückblick und Vorblick . . 166 § 14 Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis . . . . . . 168 https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

10

Inhalt a) Klassifi zierung der cogitationes in drei Gattungen: ideae, voluntates-aff ectus, iudicia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Klassifi zierung der ideae in drei Arten: ideae innatae, ideae adventiciae, ideae a me ipso factae . . . . . . . . . . . . . . . . 185 c) Vormeditative Motive für die Setzung des Wirklichseins einer Körperwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

§ 15 Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis am Leitfaden des ontologischen Begriffspaares realitas obiectiva – realitas formalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Die zweifache Betrachtungsweise der ideae . . . . . . . . . . . 195 b) realitas obiectiva – realitas formalis . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) Die realitas obiectiva in den ideae und ihr unterschiedlicher Realitätsgrad. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 d) Die idea Dei und ihre realitas obiectiva. Ihre realitas for malis als notwendige Existenz der göttlichen Substanz . . . . . 220

F Ü N F T E S K A PI T E L

Descartes’ Lehre vom wahren und unwahren Urteil § 16 Analyse des Urteils – reiner Verstand und freier Wille . . 231 § 17 Analyse des wahren und falschen Urteils . . . . . . . . . . . 241

S E CH S T E S K A PI T E L

Die wahre Erkenntnis vom Wesen (essentia) und den Wesensbestimmungen der Körperdinge. Der zweite als der überlieferte Gottesbeweis. Descartes’ Ontologie der Substanzen im Aufr iß § 18 Die unbezweifelbare Erkenntnis vom Wesen (essentia) und den Wesensbestimmungen der Körper . . . . . . . . . . 249 § 19 Der überlieferte (ontologische) Gottesbeweis auf dem Boden der vergewisserten ichlichen Bewußseinssphäre . . 260 § 20 Descartes’ Ontologie der Substanzen im Aufriß . . . . . . . 270 https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Inhalt

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S I E BE N T E S K A PI T E L

Die zwei Beweise für die existentia der materiellen Körperdinge § 21 Der Beweis vom wahrscheinlichen Wirklichsein der Körper aus der Analyse der Einbildungskraft . . . . . . . . . . . 284 § 22 Der Beweis für die Gewißheit über das Wirklichsein der materiellen Körper auf dem Wege der Wahrnehmungsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

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VORWORT Nachdem der Verfasser der hier vorgelegten Descartes-Monographie zum Wintersemester 1957/58 seinen Studienplatz von der Freien Universität in Westberlin an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verlegt hatte, besuchte er als Student im 6. Semester als erste philosophische Lehrveranstaltung das von Eugen Fink angekündigte Hauptseminar zu Descartes’ ›Meditationen über die Erste Philosophie‹ in einem Hörsaal des heutigen Kollegiengebäudes I, in dessen viertem Stockwerk Finks Seminar für Philosophie und Erziehungswissenschaft lag. In der ersten Seminarsitzung Anfang November begegnete ihm erstmals Eugen Fink, der einstige langjährige Privatassistent Edmund Husserls, durch den der Verfasser 1961 promoviert wurde, dessen wissenschaftlicher Assistent er von 1961 bis 1970 war und unter dessen Leitung und Förderung er sich 1970 habilitiert hat. Schon die erste Seminarsitzung wurde für den Verfasser zu einer staunenden Erfahrung und Bestätigung seiner getroffenen Entscheidung, von Berlin nach Freiburg zu wechseln. Eugen Fink hatte die Eigentümlichkeit, seine Seminare im Stile einer ganz von ihm selbst ausgehenden Interpretation des zugrundegelegten Textes zu gestalten. Seine flüssige, in druckreifen Sätzen und in einem bedächtigen Tempo daherfließende Rede ließ den Hörer in den auch didaktisch wohl durchdachten Gedankengang einschwingen. Die auslegende Zuwendung zum Text setzte hier wie in allen späteren Seminarveranstaltungen mit einer Besinnung auf den Titel des Textes ein, wodurch es ihm gelang, einen ersten hermeneutischen Horizont für die gesamte folgende Interpretationsaufgabe auszuspannen. Nicht nur der Begriff ›Meditationen‹ gab Anlaß für eine erste Erläuterung des denkerischen Stils dieses Hauptwerkes Descartes’, sondern auch der Terminus ›Erste Philosophie‹ forderte ihn auf, den philosophiegeschichtlichen Bezug zur πρώτη φιλοσοφία des Aristoteles herzustellen. Die von Eugen Fink ausgehende Textauslegung, der jeweils das laute Lesen der Textpassagen vorausging, wurde immer wieder durch Wissens- und Verständnis-Fragen, die er an die https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Vorwort

Teilnehmer richtete, unterbrochen. Selbstverständlich hatten auch die Studenten die Möglichkeit, sich jederzeit mit eigenen Fragen zu Wort zu melden. Schon nach den ersten von Eugen Fink gesprochenen Sätzen und dann im weiteren Verlauf dieser ersten Seminarveranstaltung trat dem Verfasser ein ganz neu gesehener ›Descartes‹ entgegen im Vergleich zu jenem ›Descartes‹, den er erstmals an der Berliner Universität kennengelernt hatte. Es war der ihm bis dahin noch nicht vertraute methodische Zugang, die durch das phänomenologische Sehen geführte Textanalyse, die ihn in ein anschauendes und insofern höchst lebendiges Philosophieren mit dem cartesischen Text und – durch diesen hindurch – mit den zu denkenden Sachen hineinzog. Der Hintergrund, von dem her Eugen Fink auf Descartes’ »Meditationen« zuging, war das phänomenologische Descartes-Studium im Umkreis der Husserlschen Phänomenologie, insbesondere der »Cartesianischen Meditationen« Husserls von 1929 und den folgenden Jahren, an deren literarischer Abfassung und Überarbeitung Eugen Fink in seiner Eigenschaft als Privatassistent Husserls produktiv mitgearbeitet hatte. Diese Tatsache, daß der gerade promovierte 24-jährige Assistent von Husserl selbst in die tägliche philosophische Arbeit eingebunden wurde, löste in uns Studenten große Bewunderung aus. Aus dem Geist dieses phänomenologischen Umgangs mit Descartes’ »Meditationen« im Umkreis der Husserlschen Phänomenologie führte Eugen Fink sein Descartes-Seminar durch, jedoch ohne dadurch Descartes auf Husserls Grundstellung der Transzendentalen Phänomenologie zurückzuführen. In seiner Descartes-Auslegung blieb Descartes der, der er historisch war, also auch ohne Husserls Kritik an Descartes, aber Finks Interpretation war methodisch von der phänomenologischen Forschungsmaxime Husserls ›Auf die Sachen selbst zurückgehen‹ durchdrungen. Den phänomenologischen Umgang mit den überlieferten Texten der Philosophie hatte Eugen Fink vor allem in den Seminaren und Vorlesungen Martin Heideggers kennengelernt und sich zu eigen gemacht. Bereits diese erste Seminarsitzung Eugen Finks über Descartes’ Hauptwerk ließ den Verfasser ahnen, welch große Bedeutung Descartes für die Phänomenologie Husserls hat. 1957 waren es gehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Vorwort

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rade erst sieben Jahre her, daß Husserls »Cartesianische Meditationen« und deren Vorläufer, die »Pariser Vorträge« von 1929, als Band I der Gesammelten Werke Husserls (Husserliana) erstmals erschienen waren. Daher umwehte dieses Buch noch der Hauch einer hochbedeutsamen Neuerscheinung aus dem Nachlaß Husserls, über die unter den damaligen Studenten aus dem In- und Ausland an den drei Freiburger Philosophischen Seminaren lebhaft diskutiert wurde. Für den Verfasser begann die Zeit, sich in die Schriften Husserls einzuarbeiten und in die phänomenologische Sehweise einzuüben. Für seine Antrittsvorlesung als Privatdozent der Freiburger Philosophischen Fakultät am 12. Juni 1970 wählte der Verfasser das Thema »Husserl und die Meditationen Descartes’«1. Zu den Hörern dieser Antrittsvorlesung gehörte auch Pater Prof. Dr. Herman Leo van Breda, Gründer und erster Direktor des berühmten Löwener Husserl-Archivs und persönlicher Freund Eugen Finks. Am 8. Juni 1985 veranstaltete das ›Centre d’Etudes Cartésiennes‹ an der Universität Paris-Sorbonne eine eintägige Tagung unter dem Rahmenthema »Descartes en phénoménologie« mit vier Vorträgen: F.-W. v. Herrmann, Husserl et Descartes; Jean-Luc Marion, L’ego et le Dasein, Heidegger et la ›destruction‹ de Descartes dans ›Sein und Zeit‹; Nicolas Grimaldi, Sartre et la liberté cartésienne. Der vierte Vortrag sollte über Descartes im Denken von Emmanuel Lévinas handeln. Lévinas selbst war es, der diese Aufgabe übernommen hatte und in freier Rede über sein Verhältnis zu Descartes, insbesondere zu dessen Idee des Unend lichen, sprach. In der Publikation der Vorträge innerhalb der ›Revue de Métaphysique et de Morale‹2 erschien jedoch anstelle der von Lévinas frei gehaltenen Rede ein Text von Jean-François Lavigne ›L’idée de l’infini: Descartes dans la pensée d’Emmanuel Lévinas‹. Jean-Luc Marion in seiner Eigenschaft als Secrétaire du ›Centre d’Etudes Cartésiennes‹ war es gewesen, der den Verfasser – veranlaßt durch seine Lektüre der Freiburger Antrittsvorlesung – zur Teilnahme an der Pariser Tagung eingeladen hatte. 1 2

v. Herrmann 1971. Marion 1987.

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16

Vorwort

Während seiner dreißigjährigen Lehrtätigkeit an der Freiburger Universität hat der Verfasser wiederholt Vorlesungen und Seminare zu Descartes gehalten. In diesen Lehrveranstaltungen ging es ihm um die Erarbeitung des ›historischen‹ Descartes, aber Behandlungsart und Zugangsweise waren phänomenologisch ausgerichtet. Husserls transzendental-phänomenologische Descartes-Würdigung und Descartes-Kritik sowie Heideggers fundamentalontologische und seinsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Descartes sind eigene Themen, die vom Verfasser sowohl in besonderen Lehrveranstaltungen wie in Veröffentlichungen3 untersucht worden sind. Etwas anderes aber ist, Descartes aus seiner eigenen Grundstellung interpretatorisch in den Grundzügen und in phänomenologischer Blickstellung zu folgen, diese Grundzüge denkerisch vorurteilslos zum Tragen kommen zu lassen und sie so stark wie möglich zu machen und zu würdigen. Ein solcher interpretatorischer Umgang mit Descartes bleibt auch eine unabdingbare Voraussetzung für ein Sicheinlassen auf Husserls und Heideggers Zugang zu Descartes, der – wie gar nicht anders möglich – aus ihren eigenen Grundstellungen und Grundfragen bestimmt ist. Eine ernsthafte interpretatorische Bemühung um die Descartes-eigene denkerische Grundstellung ist ebenfalls erforderlich, um in dieser den Einsatz der neuzeitlichen Philosophie aus dem Selbstbewußtsein für das neuzeitliche Denken bis hin zu Hegel zu begreifen. In dieser Blickstellung hat der Verfasser seine wiederholten Descartes-Vorlesungen und Descartes-Seminare angelegt und durchgeführt. Auf diese zahlreichen DescartesLehrveranstaltungen geht die hier vorgelegte Descartes-Monographie zurück. * 1929 hat Edmund Husserl im ›Amphitheatre Descartes‹ der Universität Paris-Sorbonne seine berühmten »Pariser Vorträge« gehalten, aus denen die »Cartesianischen Meditationen« hervorgegangen sind. Meine 1971 veröffentlichte Freiburger Antrittsvorlesung 3 v. Herrmann 1987, 227–231, 247–256; v. Herrmann 2005, 192–230; v. Herrmann 2008, 219–224; v. Herrmann 1970.

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Vorwort

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»Husserl und die Meditationen Descartes’« und die darin vorgetragene Interpretation des bewußtseinsanalytischen Gottesaufweises der III . Meditation waren es, die Jean-Luc Marion 1985 veranlaßten, mich zu der Tagung ›Descartes en phénoménologie‹ an die Sorbonne nach Paris einzuladen. Mit der Widmung dieser DescartesMonographie an Jean-Luc Marion danke ich nicht nur für diese ehrenvolle Einladung, sondern auch für Marions Forschung über den größten Denker der französischen Philosophie. * Frau Univ.-Prof. Dr. Paola-L. Coriando (Universität Innsbruck) danke ich sehr herzlich für ihre aufmerksame Gesamtdurchsicht von Satzvorlage und Druckfahnen. Für seine tatkräftige und kundige Unterstützung bei den Korrekturarbeiten sage ich Herrn Dr. Till Platte (Freiburg) sehr herzlich Dank. Freiburg i. Br., im Frühjahr 2011

F.-W. v. Herrmann

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Zur Zitierweise Die Werke Descartes’ werden nach den Ausgaben der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlags zitiert in Anbetracht dessen, daß unsere Descartes-Monographie als Studienbuch gedacht ist und die Werkausgaben der Philosophischen Bibliothek für jeden Studierenden erreichbar sind. Die lateinischen und französischen Texte Descartes’ können über die in den deutschen Ausgaben angegebenen Seitenzahlen der französischen Standardausgabe der Werke Descartes’ von Ch. Adam und P. Tannery oder auch über die am äußeren Seitenrand stehenden Seitenzahlen der Originalausgaben, die am äußeren Seitenrand der Bände der französischen Standardausgabe abgedruckt sind, in dieser Ausgabe aufgesucht werden: Œuvres de Descartes. Edition C. Adam et P. Tannery, 11 Volumes, Paris 1897–1913, nouvelle présentation Paris 1982 ff. (fortan zitiert unter AT mit entsprechender Bandnummer in römischen Ziffern und Seitenzahl). Die fortlaufenden Textstellen aus den »Meditationen« werden durch Angabe der arabisch gezählten Absätze (Abschnitte) zitiert. Die zitierten bzw. wiedergegebenen deutschen Übersetzungen sind vom Verfasser hier und da zugunsten einer wörtlicheren Übertragung modifiziert. Die von uns zugrundegelegte zweisprachige Ausgabe der »Meditationen« von Artur Buchenau, Lüder Gäbe und Hans Günter Zekl gibt die Seitenzahlen des Bandes VII der französischen Standardausgabe am Kopf der linken Seite mit dem lateinischen Text rechtsstehend an. Die am linken Rand des lateinischen Textes stehenden Ziffern sind die Seitenzahlen der Originalausgabe. Andere klassische Autoren werden mit Kurztitel, Herausgebernamen, Erscheinungsjahr der Edition und Stellenangabe zitiert. Die Verweise auf Forschungsliteratur erfolgen durch Angabe des Autorennamens, des Erscheinungsjahrs und der Seitenzahl. Die vollständigen bibliographischen Angaben der zitierten Werke Descartes’, der zitierten Werke anderer klassischer Autoren und der zitierten Sekundärliteratur können jeweils dem Literaturverzeichnis entnommen werden.

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H I N F Ü H RU NG In methodischer Hinsicht beabsichtigen wir eine durchgehend phänomenologisch ausgerichtete Interpretation von Descartes’ »Meditationen über die Erste Philosophie«. In unserer thematischen Interpretation jedoch bleiben sowohl Husserls transzendental-phänomenologische wie auch Heideggers fundamentalontologische und seinsgeschichtliche Sichtweise auf Descartes ausgeklammert. Das Phänomenologische unseres Umgangs mit den cartesianischen Texten versteht sich zuerst als die Behandlungsart, die sich für Husserl und für Heidegger in der Untersuchungsmaxime ›Auf die Sachen selbst zurückgehen‹ bzw. ›Zu den Sachen selbst‹ ausspricht.1 Die ›Sachen selbst‹ sind hier die von Descartes gesehenen ›Sachen‹, die in der Weise, wie Descartes sie sieht, entfaltet werden sollen. In thematischer Hinsicht werden Descartes’ »Meditationen« als eine Grundlegung der Metaphysik des Selbstbewußtseins und aus dem Selbstbewußtsein gelesen, wobei die Grundlegung selbst metaphysischen Charakter hat. Durch die so verstandene Metaphysik des Selbstbewußtseins wird Descartes zum Wegbereiter der großen Metaphysiken der Neuzeit von Spinoza über Leibniz, Kant, Fichte Schelling bis zu Hegel. Descartes’ »Meditationen« werden von uns mit derselben Eindringlichkeit gedanklich durchdrungen wie es sonst für die Hauptwerke der auf Descartes folgenden und sich dessen Metaphysik des Selbstbewußtseins verdankenden neuzeitlichen Denker geschieht. Auch dann, wenn jeder der nachcartesianischen Denker für die Bestimmung der je eigenen Grundstellung auch ein kritisches Verhältnis zu Descartes unterhält, bleibt dennoch seine Grundstellung durch das cartesianische Grundmotiv ermöglicht und bestimmt. Eingedenk dessen, daß es ohne Descartes’ »Meditationen über die Erste Philosophie« keine »Kritik der reinen Vernunft«, keine »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, kein »System des transzendentalen Idealismus« und keine 1

v. Herrmann 1988.

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»Phänomenologie des Geistes« gäbe, sind die »Meditationen« Descartes’ für uns ein philosophisches Grundwerk, das den gleichen denkerischen Rang einnimmt wie die genannten, auf Descartes folgenden großen Werke. Descartes’ »Meditationen« sind kein Werk für den ›philosophischen Kindergarten‹, obwohl sie als Text in einem Proseminar für eine Einführung in die Philosophie gut geeignet sind. Doch ihre Eignung für diesen Zweck liegt nicht etwa in ihrer vermeintlichen ›Einfachheit‹ oder gar in einem unterstellten ›Anfängerhaften‹, sondern in dem Tatbestand, daß mit den »Meditationen« Descartes’ eine neue Epoche der Geschichte der Philosophie einsetzt, deren geistige Aneignung zunächst nicht allzu viele Voraussetzungen, die es am Beginn eines Philosophie-Studiums noch nicht gibt, einschließt. In vergleichbarer Weise eignet sich auch Kants »Kritik der reinen Vernunft« für ein einführendes Proseminar in das Philosophieren, weil mit Kant innerhalb der neuzeitlichen Philosophie wieder ein Neues, der transzendentale Idealismus, einsetzt. Dagegen ist z. B. Fichtes »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« für einen ersten Einstieg in die Philosophie deshalb ungeeignet, weil dieses Werk in einer betonten Weise eine Kenntnis der »Kritik der reinen Vernunft« oder zumindest der »Meditationen über die Erste Philosophie« voraussetzt. Während Heideggers fundamentalontologische und seinsgeschichtliche Auseinandersetzung mit Descartes grundsätzlich und umfassend eine philosophische Kritik an Ansatz und Grundlagen des cartesianischen Denkens ist, setzt Husserls Zuwendung zu Descartes zunächst mit einer hohen Würdigung und Rezeption Descartes’ ein, um erst anschließend zu einer Kritik überzugehen. Der Grund für dieses ganz anders geartete Verhältnis Husserls zu Descartes liegt darin, daß das gemeinsame philosophische Forschungsfeld beider Denker die cogitatio und das Bewußtsein sind, während Heidegger in seiner hermeneutischen Phänomenologie dieses sachliche Untersuchungsfeld von vornherein verläßt und an dessen Stelle das Sachfeld des faktischen Lebens und seinsverstehenden Daseins aufsucht. Husserl eröffnet seine »Pariser Vorträge« mit den Worten: »An dieser ehrwürdigen Stätte französischer Wissenschaft https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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über die neue Phänomenologie sprechen zu dürfen, erfüllt mich aus besonderen Gründen mit Freudigkeit. Denn kein Philosoph der Vergangenheit hat auf den Sinn der Phänomenologie so entscheidend gewirkt wie Frankreichs größter Denker René Descartes. Ihn muß sie als ihren eigentlichen Erzvater verehren. Ganz direkt, ausdrücklich sei es gesagt, hat das Studium der Cartesianischen Meditationen in die Neugestaltung der werdenden Phänomenologie eingegriffen und ihr diejenige Sinnesform gegeben, die sie jetzt hat und die es fast gestattet, sie einen neuen Cartesianismus zu nennen, einen Cartesianismus vom 20. Jahrhundert.«2 Husserls philosophierende Zuwendung zu Descartes vollzieht sich in zwei deutlich voneinander abgehobenen Schritten, deren erster in der Heraushebung jener Motive besteht, denen er eine »Ewigkeitsbedeutung« zuerkennt, und deren zweiter in einer Kritik besteht. Fast ausschließlich sind es Descartes’ »Meditationen«, denen sich Husserls Interesse zukehrt, und innerhalb dieser sind es die I. und die II. Meditation. Denn diese beiden »Meditationen« enthalten die Zweifelsmethode (I) und die Entdeckung des absolut sicheren ego-cogito-me-cogitare-cogitatum (II) als einer Vorgestalt der absoluten transzendentalen Subjektivität. Die cartesianische Zweifelsmethode nennt Husserl deshalb auch die »Cartesianische Epoché«,3 weil er zu Recht in dieser den Vorläufer seiner eigenen transzendental-phänomenologischen Epoché erkennt. In der Art und Weise, wie Husserl die cartesianische Zweifelsmethode als »Cartesianische Epoché« zur Auslegung bringt, hat er einen bedeutenden Schritt für das Verständnis der eigentümlichen methodischen Grundhaltung nicht nur der ersten beiden, sondern aller Meditationen Descartes’ vollzogen. Die »Cartesianische Epoché«, das schrittweise universelle Außer-Geltung-setzen aller urteilsmäßigen Wahrheits- und Seinssetzungen, zur Gewinnung der absolut sicheren Seinssphäre des ego-cogito-me-cogitare-cogitatum, können wir im Unterschied zur phänomenologischen Methode der Behandlungsart als die phänomenologische Zugangsmethode 4 fassen, 2 3 4

Husserl, Cartesianische Meditationen, Hua I (Strasser) 1950, 3. Husserl, Cartesianische Meditationen, a. a. O., 77. Siehe Anmerkung 1.

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die den Zugang zum Sachfeld der philosophischen Untersuchung bildet. Husserls Ausdeutung der »Cartesianischen Epoché« führt zur Descartes-immanenten Erkenntnis, daß diese Epoché, diese Zugangsmethode, nicht nur die Methode der I. und II. Meditation ist, sondern daß Descartes diese methodische Grundhaltung der Epoché durch das ganze Werk der »Meditationen« durchhält. Denn die Evidenz in das jeweils Unbezweifelbare auf dem Wege der »Meditationen« wird nur innerhalb der aufrechterhaltenen Zweifelsmethode gewonnen. Diese methodische Einsicht Husserls in die die »Meditationen« im ganzen tragende methodische Grundhaltung ist es, die wir uns für unsere phänomenologische Interpretation des cartesianischen Hauptwerkes zu eigen machen. Husserls Descartes-Kritik betrifft die, wie er sagt, »Vorurteile« Descartes’, die er dreifach gliedert: 1. die psychologistische Mißdeutung des reinen Ego, 2. das selbstverständliche Festhalten am Objektivismus trotz des Rückganges in die subjektive Sphäre des ego-cogito-me-cogitare-cogitatum, 3. die Verfehlung der wahren Intentionalität der Bewußtseinsweisen (cogitationes).5 Diese »Vorurteile« sind Husserl zufolge der Grund für die weiteren fehlgehenden Gedankenführungen Descartes’, zu denen für Husserl allem voran der cogitatio-analytische Gottesaufweis der III. Meditation und der zweite Gottesbeweis aus der V. Meditation gehören. Husserls Descartes-Kritik wird stets dann am heftigsten, wenn sie sich gegen den »ersten Schluß« auf die Transzendenz Gottes richtet. Hier spricht er von den »paradoxen und grundverkehrten Gottesbeweise(n)« der III. und V. Meditation.6 Für unsere eigene, nach Behandlungsart und Zugangsmethode phänomenologische Auslegung der »Meditationen« steht jedoch der sog. Gottesbeweis der III. Meditation im Zentrum, weil wir – inhaltlich gesehen – nicht dem transzendentalen, und das heißt absoluten Idealismus Husserls, sondern dem endlichen Idealismus Descartes’ und dessen denkerischer Tendenz folgen. Obwohl wir also in Husserls Würdigung der cartesianischen Zweifelsmethode 5 6

Husserl, Krisis, Hua VI (W. Biemel) 1962, 74–85. Husserl, Krisis, a. a. O., 76.

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als Cartesianische Epoché einen bedeutenden Hinweis auf die generelle methodische Grundhaltung der »Meditationen« sehen, halten wir aus guten Gründen an unserer Entscheidung fest, das Phänomenologische unserer Descartes-Interpretation auf das Methodische der Behandlungsart und Zugangsmethode zu beschränken und in unserer thematischen Interpretation Descartes’ von Husserls transzendental-phänomenologischer Sichtweise abzusehen. Innerhalb der Grundstellung der Transzendentalen Phänomenologie ist Husserls thematische Descartes-Interpretation und Descartes-Kritik vollkommen stimmig und folgerichtig, aber sie kann nicht unser Vorhaben, Descartes aus seinen eigenen Möglichkeiten zu verstehen und ungeschmälert auszulegen, leiten. Das gleiche gilt auch für Heideggers fundamentalontologische und seinsgeschichtliche Descartes-Kritik, die in sich aus Heideggers Grundstellung heraus sachlich völlig zutreffend ist, deren Nachvollzug jedoch zunächst einmal eine unverkürzte Aneignung der cartesianischen Metaphysik des endlichen Selbstbewußtseins voraussetzt. Unsere interpretatorische Durchdringung der »Meditationen« Descartes’ steht unter dem Leitgedanken Endlichkeit des Selbstbewußtseins und das Problem der Transzendenz. Die Bedeutung des bewußtseinsanalytischen Gottesaufweises sehen wir in dessen Einsicht, daß das ego cogito an ihm selbst wesensverfaßt ist als transzendierender Bezug zur Herkunft seines Seins, daß somit das Selbstbewußtsein nicht in sich selbst gründet, sondern in Jenem, das das Selbstbewußtsein in sein Sein hervorgebracht hat und darin erhält. (Fundamentalontologisch hieße das: Das sich entwerfende Sein ist für sein Entwerfen schon ein geworfenes Sein – geworfen aus einem herkünftigen Wurf.) Das Selbstbewußtsein trägt seine Endlichkeit in sich selbst als seine seinsmäßige Herkunft, der es sich als Selbstbewußtsein verdankt. Weil der transzendierende Wesensbezug des Selbstbewußtseins ein Bezug zum Seinsursprung ist, nennen wir ihn die Urtranszendenz. Diese gehörte aber schon zur vollen Wesensverfassung des ego cogito, als dieses erstmals in der II. Meditation enthüllt wurde, nur mit dem Unterschied, daß dort die Urtranszendenz des ego cogito noch verhüllt blieb. Der bewußtseinsanalytische Aufweis des göttlichen Seinsursprungs in der III. Meditation hat somit https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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keinen schließenden oder ableitenden, sondern einen enthüllenden Charakter. So gesehen vollendet der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis die analytische Freilegung der Wesensverfassung des egocogito-me-cogitare-cogitatum. In diesem als Urtranszendenz verfaßten Selbstbewußtsein gründet sodann die bewußtseinsimmanente Transzendenz der idealen Wesensverhalte (V. Meditation) sowie die Bewußtseinstranszendenz der existierenden materiellen Körperwelt (VI. Meditation). Wie sich zeigen wird, vollzieht sich das endliche Selbstbewußtsein als das Gefüge eines dreifachen Transzendierens. Schließlich ist sich die hier vorgelegte Lesart der cartesianischen »Meditationen« dessen bewußt, daß auch sie aufgrund ihrer Fragestellung und Zugangsweise – durch die jede Interpretation bestimmt wird – nur eine von mehreren möglichen Sichtweisen auf das Werk ist, dessen gedankliche Größe sich in der Vielfalt perspektivischer Auslegungsmöglichkeiten bekundet.

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E I N L E I T U NG

§1 Titel und methodische Auszeichnung der »Meditationen über die Erste Philosophie« a) Hegel als Sprecher der neuzeitlichen Philosophie Wir beabsichtigen, Descartes’ »Meditationen über die Erste Philosophie« als eine metaphysische Grundlegung der Metaphysik des Selbstbewußtseins aus dem Selbstbewußtsein zur Auslegung zu bringen. Die wegweisende Bedeutung der Einsicht Descartes’, daß die Philosophie fortan aus dem Selbstbewußtsein zu entfalten sei, würdigt Hegel im Dritten Teil seiner »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie«: »Mit Cartesius treten wir, seit der Neuplatonischen Schule, und dem, was damit zusammenhängt, erst eigentlich in eine selbstständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbstständig aus der Vernunft kommt, und daß das Selbstbewußtseyn wesentliches Moment des Wahren ist. Die Philosophie auf eigenem, eigenthümlichem Boden verläßt gänzlich die philosophirende Theologie, dem Principe nach, und stellt sie auf die andere Seite. Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause, und können, wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See, ›Land‹ rufen; mit Cartesius hebt in der That die Bildung der neuern Zeit, das Denken der modernen Philosophie wahrhaft an, nachdem lange auf dem vorigen Wege fortgegangen worden.«1 An späterer Stelle heißt es: »René Descartes ist ein Heros, der die Sache wieder einmal ganz von vorne angefangen, und den Boden der Philosophie von Neuem constituirt hat, auf den sie nun erst nach dem Verlauf von tausend Jahren zurückgekehrt ist. Die Wirkung 1 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ed. E. L. Michelet; WW 15, 18442, 298.

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dieses Menschen auf sein Zeitalter und die Bildung der Philosophie überhaupt kann nicht ausgebreitet genug vorgestellt werden.«2 Und ferner: »In der Philosophie hat Cartesius eine ganz neue Wendung genommen: mit ihm beginnt die neue Epoche der Philosophie, wodurch der Bildung das Princip ihres höhern Geistes in Gedanken, in der Form der Allgemeinheit zu fassen vergönnt war […]. Cartesius ging davon aus, der Gedanke müsse von sich selbst anfangen; alles bisherige Philosophiren, besonders das von der Autorität der Kirche ausging, wurde seitdem hintangestellt.«3 Und schließlich: »Cartesius fängt, wie später auch Fichte, mit dem Ich als dem schlechthin Gewissen an; ich weiß, daß sich etwas in mir darstellt. Hiermit ist auf einmal die Philosophie in ein ganz anderes Feld und auf einen ganz anderen Standpunkt versetzt, nämlich in die Sphäre der Subjectivität.«4 Hegel ließen wir als Sprecher der neuzeitlichen Philosophie zu Wort kommen, die mit Descartes einsetzt und in Hegels Philosophie ihren Höhepunkt erreicht. Wenn Hegel im Rückblick auf Descartes betont, daß mit Descartes die Philosophie zur Gewißheit gelange, daß das Selbstbewußtsein ein wesentliches Moment des Wahren sei, dann denkt er daran, wie das ego cogito durch Kant zur transzendentalen Apperzeption, durch Fichte zum absoluten Ich der Tathandlung und durch ihn selbst zum absoluten Geist entfaltet wurde.

b) Der Titel des cartesischen Hauptwerkes Meditationes de prima philosophia – Meditationen über die Erste Philosophie 5 ist der Obertitel der beiden kurz aufeinander folgenden Auflagen von 1641 und 1642, während der Untertitel in beiden 2

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 301. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 304. 4 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 308. 5 Descartes, Meditationen; ed. Buchenau, Gäbe, Zekl 1977 – Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen; ed. Buchenau 1954 – Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen; ed. Wohlers 2009 – Meditationes; ed. Adam-Tannery VII 1904: S. 1–90 Meditationes, S. 91–561 Objectiones et Responsiones. 3

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§ 1. Titel und methodische Auszeichnung

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Auflagen voneinander abweicht. In der ersten Auflage heißt es »in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur«. Das relativische ›in qua‹ bezieht sich auf die prima philosophia, ›in welcher die Wirklichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bewiesen wird‹. In der zweiten Auflage ist dieser Untertitel abgewandelt: »in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstrantur«. Jetzt bezieht sich das relativische ›in quibus‹ auf die Meditationen, ›in denen das Dasein Gottes und die Unterschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper bewiesen werden‹. Die Abweichung im Untertitel der zweiten Auflage entspricht dem tatsächlichen Inhalt der »Meditationen«. Diese geben zwar in der Tat zwei Beweise von der Existenz Gottes, nicht aber – wie die erste Auflage angibt – einen Beweis für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Was die Meditationen tatsächlich enthalten, ist der Beweis von der substanziellen, der wesenhaften Unterschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper. Dieser Beweis ist dann allerdings eine Voraussetzung für einen möglichen Beweis von der Unvergänglichkeit der Seele und des Geistes im Tod. Sind Körper und Seele wesenhaft verschieden, dann vergeht im Tod mit dem Körper nicht auch die Seele. Den Haupttitel »Meditationes de prima philosophia« werden wir nun nach seinen drei Bestandteilen erläutern. meditatio Lexikalisch gesehen heißt meditatio das Nachsinnen, die Besinnung oder Betrachtung. Doch die Angabe der lexikalischen Bedeutung bleibt hier unzureichend. Die Bedeutung von meditatio bestimmt sich bei Descartes ganz aus der Sache, auf die sich die Besinnung richtet. Wir werden meditatio als ›Selbstbesinnung‹ deuten müssen. ›Selbstbesinnung‹ wird hier aber einen zweifachen Sinn haben: erstens die Besinnung, in der das Selbst ihr Vollzieher ist; zweitens die Besinnung, in der das meditierende Selbst sich auf sich selbst besinnt, so, daß das Selbst und das Ich als Selbstbewußtsein der vorrangige thematische Gegenstand dieser Besinnung ist. Meditation als Selbstbesinnung ist die Besinnung des Selbst auf sich selbst als Selbstbehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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wußtsein, in welchem das Selbst oder das Ich den absolut sicheren und gewissen Grund und Boden für die darauf neu zu gründende Philosophie im ganzen findet. Die Meditation als Selbstbesinnung vollzieht sich als eine Analytik des Ich und des Selbst als des Selbstbewußtseins. Meditation hat für Descartes die Bedeutung, die sich aus dem Ansatz seines Philosophierens im Selbstbewußtsein ergibt. prima philosophia Mit dem Wort prima philosophia im Titel seines Hauptwerkes macht Descartes deutlich, mit welchem Anspruch dieses Werk auftritt. Prima philosophia ist die lateinische und scholastische Übersetzung des von Aristoteles geprägten Titels πρώτη φιλοσοφία, der Ersten Philosophie. Wir unterscheiden zwischen der Philosophie und den Einzelwissenschaften, den positiven Wissenschaften. Weder die Mathematik noch die Physik bezeichnen wir als eine Philosophie, sondern die Mathematik als eine Wesenswissenschaft, die Physik als eine Tatsachenwissenschaft, um hier Husserls Unterscheidung aufzugreifen. Aristoteles aber verwendet den Ausdruck φιλοσοφία gleichbedeutend mit dem Wort ἐπιστήμη, Wissenschaft , und nennt z. Β. die mathematische Wissenschaft (ἐπιστήμη μαθεματική) und die physikalische Wissenschaft (ἐπιστήμη φυσική) jeweils eine φιλοσοφία. Im VI. Buch (E) der »Metaphysik«6 1026 a 30–32 sagt Aristoteles von der πρώτη φιλοσοφία: Die Erste Philosophie ist die allgemeine (καθόλου) Philosophie, sofern sie die erste ist, und als erste Philosophie betrachtet sie das Seiende als das Seiende (ὂν ᾗ ὄν). Das verdeutlicht sich aus dem Beginn des IV. Buches (Γ) der »Metaphysik« 1003 a 21 : Es gibt eine Wissenschaft (ἐπιστήμη), welche das Seiende als das Seiende (τὸ ὂν ᾗ ὄν) betrachtet und dasjenige, was dem Seienden an ihm selbst (καθ’αὑτό) zukommt. Diese Wissenschaft, die die Erste Philosophie ist, ist mit keiner der anderen Wissenschaften gleichzusetzen. Denn alle übrigen Wissenschaften grenzen aus dem Seienden im Ganzen einen Teil des Seienden aus und untersuchen nur das, was diesem Teilbereich zukommt. Wenn 6

Aristoteles, Metaphysik; ed. Bonitz, Christ, Seidl 1978.

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§ 1. Titel und methodische Auszeichnung

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Descartes im Titel seines Hauptwerkes Meditationen über die Erste Philosophie ankündigt, dann geht auch diese letztlich auf das zurück, was Aristoteles als πρώτη φιλοσοφία bestimmt hat. Die Erste Philosophie ist aber gleichbedeutend mit dem, was später als Metaphysik bezeichnet wurde. Die Erste Philosophie als Metaphysik betrachtet die ersten Prinzipien und Ursachen des Seienden, die noch ›über‹ die Prinzipien und Ursachen des naturhaft Seienden hinausliegen. In diesem Sinne übersteigt das Denken der Ersten Philosophie oder Metaphysik (μετά, trans) alles Seiende auf dessen erste Prinzipien und Ursachen des Seins hin. Die Metaphysik als Erste Philosophie übersteigt, transzendiert das Seiende im Ganzen auf dessen Sein hin. Die ›Meditationen über die Erste Philosophie‹ Descartes’ sind Meditationen über die Metaphysik. Sie sind primär eine metaphysische (nicht aber eine erkenntnistheoretische) Schrift. Das ›de‹ Die Meditationes ›de‹ prima philosophia wollen Besinnungen sein ›über‹ die Erste Philosophie, ›über‹ die Metaphysik. Das ›de‹ ließe sich zweifach deuten. Besinnungen ›über‹ die Erste Philosophie wären auch so möglich, daß sie ›auf‹ den überkommenen Grundlagen und Prinzipien der Metaphysik durchgeführt werden. Jedoch nach allem, was wir vom Neuanfang des cartesischen Philosophierens bereits wissen, müssen wir das ›über‹ in anderer Weise verstehen. Es handelt sich bei Descartes um Besinnungen nicht ›auf‹ dem überlieferten Boden und Grund der Philosophie, sondern um solche Besinnungen, in denen der überlieferte Boden und Grund verlassen und ein neuer Grund der Ersten Philosophie und Metaphysik gelegt wird. Im »Vorwort« an den Leser kündigt Descartes an, er wolle in den »Meditationen über die Erste Philosophie« die Anfänge, d. h. die Prinzipien der ganzen Ersten Philosophie behandeln (totius primae Philosophiae initia tractare)7 dergestalt, daß er in diesen Meditationen nach einem neuen und tragfähigen Grund für die Erste Philosophie als Metaphysik Ausschau hält. Die »Meditationen über 7

Descartes, Meditationes (Buchenau), a. a. O., 18; AT VII, 9.

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Einleitung

die Erste Philosophie« sind das philosophische Unternehmen einer neuen Grundlegung der Metaphysik. Neue Grundlegung heißt, die initia, die ἀρχαί und αἴτια, also die ersten Prinzipien der Metaphysik neu zu bestimmen.

c) Methodische Auszeichnung der »Meditationen« Die »Meditationes de prima philosophia« sind das eigentliche Grundwerk Descartes’. Sie enthalten Descartes’ grundlegende Besinnungen über die Erste Philosophie, über die Metaphysik und metaphysischen Grundfragen in ihrem sachlichen Gefüge. Aber auch die »Principia Philosophiae« enthalten in ihrem Ersten Teil »De principiis cognitionis humanae« eine Darstellung der Metaphysik Descartes’. Mancher Sachverhalt ist hier sogar ausführlicher dargelegt als in den »Meditationen«. Allein, das Auszeichnende der »Meditationen« besteht in ihrem Wegcharakter, d. h. im Besonderen jenes Weges, auf dem Descartes den Grund der neuzeitlichen Philosophie legt und den Bau seiner aus dem ersten Prinzip des Selbstbewußtseins gefügten Metaphysik errichtet. Das Auszeichnende dieses Weges zeigt sich in der eigentümlichen ›Beweisart‹ der »Meditationen«. In Descartes‹ »Erwiderungen« auf die Zweiten Einwände, die der Cartesianer Mersenne gegen die »Meditationen« erhoben hat, nimmt Descartes zu der eigentümlichen ›Beweisart‹ in den »Meditationen« aufschlußreich Stellung. Hier in den genannten »Erwiderungen« unterscheidet Descartes zwei Beweisarten: die Analysis und die Synthesis.8 Spricht Descartes von der synthetischen Beweisart, dann blickt er auf die Geometrie. Die synthetische Methode der Geometrie geht aus von Definitionen, Postulaten und Axiomen, um von diesen aus einen geometrischen Satz schlüssig zu beweisen. Diese Beweisart legt ihr Schwergewicht auf die logische Folgerung und Stringenz. Die synthetische Beweisart verfährt logisch-deduktiv. Zu dieser sagt Descartes: Wenn jemand 8 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 140 f.; AT VII, 155 f.

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§ 1. Titel und methodische Auszeichnung

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einem synthetisch geführten Beweis innerhalb des logischen Folgerns eine logische Konsequenz bestreitet, vermag man dem Zweifler sogleich zu zeigen, daß das logisch Gefolgerte im vorhergehenden Axiom oder Satz, der seinerseits letztlich auf das Axiom zurückgeht, enthalten ist. Dadurch werde dem widerstrebenden und hartnäckigen Gegner die Zustimmung zu der logischen Folgerung entrissen. Indessen ist der so geführte Beweis für Descartes nicht die einzige und nicht die erste Beweisart, der man sich im Denken der Philosophie und gar der Metaphysik zu bedienen habe. Ihr Mangel beruhe darin, daß sie nicht imstande ist, die Art und Weise zu lehren, in der die Sache, um die es geht, erstmals gefunden werden kann. Zu zeigen und zu lehren, wie ein Sachverhalt gefunden, d. h. aufgedeckt und aufgeschlossen, also enthüllt wird, ist das Eigentümliche dessen, was Descartes die Analysis oder die analytische Beweisart nennt. Diese kennzeichnet er so: Die Analysis zeige den wahren Weg, auf dem eine Sache methodisch und apriori gefunden werde, so, daß, wenn der Leser ihr folgen und sein Augenmerk darauf richten wolle, er die Sache genau so vollkommen einsehen und sie ebenso sich zu eigen machen werde, wie wenn er selbst sie gefunden hätte (Analysis veram viam ostendit per quam res methodice et tanquam apriori inventa est, adeo ut, si lector illam sequi velit atque ad omnia satis attendere, rem non minus perfecte intelliget suamque reddet, quam si ipsemet illam invenisset).9 Somit wird deutlich, wie sich für Descartes Analysis und Synthesis zueinander verhalten. Die synthetische Beweisart ist nur möglich, nachdem die Sache zuvor auf analytischem Wege zum Aufweis gebracht worden ist. Wir sagen jetzt statt ›bewiesen‹ zutreffender ›aufgewiesen‹, ›zum Aufweis gebracht‹. Denn Descartes meint, wenn er vom Weg des Findens einer zu denkenden Sache spricht, nichts anderes als den Weg des Aufweisens. Die analytische Beweisart ist die Art des Aufweisens im Unterschied zur synthetischen Beweisart des logisch folgernden Beweisens. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Arten des Vorgehens besteht darin, daß in 9 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 140; AT VII, 155.

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Einleitung

der analytischen Methode die Sache allererst aufgewiesen wird, während die synthetische Methode angewiesen bleibt auf den vorangehenden methodisch geleiteten Sachaufweis, um im nachhinein für die logisch-systematische Darstellung des zuerst analytisch Aufgewiesenen Sorge zu tragen. Nachdem Descartes diese beiden Beweisarten gegenübergestellt hat, sagt er: »Ich meinerseits bin in meinen Meditationen ausschließlich den Weg der Analysis gegangen, der zur Belehrung der wahre und beste Weg ist, während die Synthesis […] doch für diese metaphysischen Gegenstände nicht so recht passen würde« (Ego vero solam Analysim, quae vera et optima via est ad docendum, in Meditationibus meis sum sequutus; sed quantum ad Synthesim […] non tamen ad has Metaphysicas tam commode potest applicari).10 Mit diesen Ausführungen Descartes’ zu den beiden methodischen Vorgehensweisen haben wir zwar noch keinen Einblick in deren Unterschied. Das Eigentümliche des analytischen Aufweisens lernen wir aber kennen, wenn wir uns dem methodischen Vorgehen in den »Meditationen« zuwenden. Die Methode des analytischen Aufweises gibt den »Meditationes« und deren Entfaltung der Grundlagen der cartesischen Metaphysik einen Vorzug vor der Darstellung desselben Gehaltes in den »Prinzipien der Philosophie«. Dennoch ziehen wir für die Durchsprache einer jeden sachlichen und methodischen Frage alle parallelen und ergänzenden Textstellen aus den anderen metaphysischen und methodischen Schriften Descartes’ heran.

§2 Philosophie als System aller Wissenschaften Mit der Suche nach dem neuen Grund und Boden für die Metaphysik behält Descartes zugleich das auf Aristoteles letztlich zurückgehende Gründungsverhältnis von Erster Philosophie und den 10 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 141; AT VII, 156. Vgl. Schmidt 1971, 9 ff.; Perler 2006, 62 ff.; Schäfer 2006, 25 ff.

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§ 2. Philosophie als System aller Wissenschaft en

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Wissenschaften bei. Durch den neuen Grund, den er im Selbstbewußtsein finden wird, erhält nicht nur die Erste Philosophie selbst, sondern durch sie hindurch erhalten auch alle Wissenschaften ihre neue Begründung. Über dieses Gründungsverhältnis äußert sich Descartes in dem berühmten philosophischen Brief an seinen engen Freund und Übersetzer seiner lateinisch verfaßten »Prinzipien der Philosophie« ins Französische, Abbé Picot. Diesen Brief bestimmte Descartes hernach als Vorwort für die französische Ausgabe der »Prinzipien der Philosophie«.1 In diesem Brief (S. XLI) spricht Descartes von der wahren Philosophie. Die wahre Philosophie ist für ihn nicht nur die Philosophie im engeren Sinne. Descartes gebraucht den Ausdruck ›Philosophie‹ ähnlich wie Aristoteles in der weiten Bedeutung von Wissenschaft überhaupt. Philosophie ist für ihn in einem weiten Sinne das System aller Wissenschaften, d. h. alles wissenschaft lich begründeten Wissens, jenes Umschließende, das die Philosophie im engeren Sinne und alle Wissenschaften einschließt. Diese umfassende Philosophie ist für Descartes dann die wahre Philosophie, wenn sich die Wahrheit der in ihr zusammengeschlossenen Wissenschaften aus dem neu gelegten Grund der universalen Philosophie bestimmt. Die neue Grundlegung soll in einem Teil der umfassenden Philosophie erfolgen. Weil es innerhalb der umfassenden Philosophie der für alle anderen Teile grundlegende Teil ist, heißt er Erste Philosophie. Daher sagt Descartes in seinem Brief an Picot: Der Erste Teil der wahren Philosophie ist die Metaphysik. Sie enthält die Prinzipien der Erkenntnis. Der Zweite Teil der universellen Philosophie ist die Physik. Descartes umschreibt die Thematik der Physik so: Weil die Physik es mit der materiellen Natur zu tun hat, müssen in ihr zunächst die wahren Prinzipien der materiellen Dinge aufgewiesen werden. Die zentrale Aufgabe der »Meditationen über die Erste Philosophie« wird es aber sein, das Selbstbewußtsein in der Gestalt 1 Descartes, Schreiben des Verfassers an Abbé Picot, in: Die Prinzipien der Philosophie; ed. Buchenau 1955, XXXI–XLVII; AT IX (Zweiter Teil): Les principes de la philosophie, 1–20.

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Einleitung

des ego-cogito als die denkende Substanz (res cogitans) in einer absolut gesicherten Weise zu erkennen und diese gegen das körperlichmaterielle Seiende, gegen die räumlich ausgedehnte Substanz (res extensa) abzuheben. Die sichere Erkenntnis der allgemeinen Natur der ausgedehnten Substanz ist somit das, was die Erste Philosophie als Metaphysik für die Physik zu leisten hat. In der aus dem ego-cogito als dem Selbstbewußtsein gesicherten Wesenserkenntnis der ausgedehnten Substanz besteht die Grundlegung der Physik durch die Metaphysik des Selbstbewußtseins. Die allgemeine Seinsstruktur, in der die ausgedehnte Substanz gedacht wird, läßt sich die Physik von der Metaphysik vorgeben, um ihrerseits die weniger allgemeinen Prinzipien der materiellen Substanzen (Körper) zu bestimmen. Der Physik als dem Zweiten Teil der Universalphilosophie entspringen weitere Wissenschaften, z. Β. die Medizin, die über die Vermittlung der Physik ihre letzte Begründung auch aus der Metaphysik erhält. Descartes veranschaulicht (S. XLII) sein System der wahren Philosophie, der Universalphilosophie, in dem Bilde eines Baumes, an dem wir Wurzel, Stamm und Zweige unterscheiden. »Die gesamte Philosophie ist also einem Baume vergleichbar, dessen Wurzel die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften sind«.2 Die Wurzel ernährt den Baum im ganzen, seinen Stamm und durch diesen hindurch die Zweige. Wie es keinen Baum mit Stamm und Zweigen ohne die Wurzel gibt, so gibt es kein gegründetes menschliches Wissen in den Wissenschaften ohne die Erste Philosophie, ohne die Metaphysik. Alles, was wir über die Erste Philosophie und deren Verhältnis zu den anderen Philosophien oder Wissenschaften bei Aristoteles ausgeführt sehen, ferner was wir über die Funktion der Ersten Philosophie als Wurzel des Baumes der universellen Philosophie bei Descartes ausgeführt haben, müssen wir im Blick behalten, wenn wir den Titel von Descartes’ metaphysischem Hauptwerk »Meditationen über die Erste Philosophie« in zureichender Weise verstehen wollen. 2 Descartes, Schreiben des Verfassers an Abbé Picot, a. a. O., XLII; AT IX (Zweiter Teil), p. 14.

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E R S T E S K A PI T E L DE R W E G DE S M ET HODI S CH E N Z W E I F E L S F Ü R DI E G RU N DL E GU NG DE R M ETA PH Y S I K . DI E M ET HODI S CH E F U N K T ION DE S Z W E I F E L S U N D DI E Z W E I F E L S G RÜ N DE Die erste von sechs Meditationen trägt die Überschrift: De iis quae in dubium revocari possunt – Über alles das, was in den Zweifel zurückgerufen werden kann. Hier ist es wichtig, revocari wörtlich zu übersetzen, weil dieses Wort genau das nennt, was im dubitare geschieht. Aus welchem sachlichen Grund setzt das Philosophieren Descartes’ mit dem ›in dubium revocare‹ ein? Nicht etwa deshalb, weil nun einmal der Zweifel zum Geschäft der Philosophie gehört, sondern allein deshalb, weil Descartes’ Ausgang vom Zweifel bereits geleitet ist aus seinem Vorblick auf dasjenige, was er als das neue Fundament der Philosophie setzen wird. Die »Meditationen« sind als Text so angelegt, daß ihr Autor auf das erste Prinzip der Metaphysik in Gestalt des sich seiner selbst vergewissernden Ichs oder Selbstbewußtseins als des absolut unbezweifelbaren Fundamentes zubewegt, das nur gefunden werden kann auf dem Wege des zur Methode erhobenen Zweifels. Der Inhalt der ersten Meditation ließe sich kurz berichten. Vieles auf den nur wenigen Druckseiten scheint bloß literarisches Beiwerk zu sein. Auch die Sprache, in der Descartes seinen Zweifelsweg durchläuft, scheint vielfach in die Nähe eines Erzähltons zu geraten. Überdies scheinen die rationes dubitandi, die Zweifelsgründe, die ihn dazu veranlassen, die Wahrheit seines gesamten bisherigen wissenschaftlich-philosophischen, aber auch vorwissenschaft lichen Erkenntniswissens außer Geltung zu setzen, an den Haaren herbeigezogen. Die wenigen Druckseiten – so scheint es – geben nicht den Eindruck einer strengen Gedankenarbeit. Daher scheint sich eine allzu ausführliche Beschäftigung mit diesen nicht recht zu lohnen. Doch diesem Anschein zum Trotz sagt Descartes in seinen »Erwihttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

derungen« auf die »Einwände« von Mersenne: »Da also nichts eher dazu führt, eine sichere Erkenntnis der Dinge zu erlangen, als wenn man sich zuvor daran gewöhnt, an allen Dingen, vorzüglich an den körperlichen, zu zweifeln, so konnte ich […] nicht umhin, diesem Gegenstande eine ganze Meditation (integram Meditationem) zu widmen; und ich wünschte, die Leser widmeten der Betrachtung ihres Inhalts nicht bloß die kurze Zeit, die zu ihrer Lektüre erforderlich ist, sondern einige Monate oder wenigstens einige Wochen, ehe sie an das übrige gingen: denn so würden sie aus ihnen zweifellos einen größeren Gewinn ziehen können«.1 Dieser Aufforderung Descartes’ werden wir Folge leisten und den Gehalt der ersten Meditation, in der die philosophische Blickbahn der Meditationen überhaupt (und nicht nur für die erste Meditation) eröffnet wird, auf das gründlichste durchdenken.

§3 Veranlassung und Abzielung der Meditationen. Die faktisch-individuelle Situation des meditierenden Ich. Zwei methodische Anweisungen a) Veranlassung und Abzielung der Meditationen Descartes eröffnet die I. Meditation mit einer Mitteilung über die Abzielung seines Werkes. Diese Mitteilung ist so gehalten, daß uns Descartes zugleich wissen läßt, aus welcher konkreten Situation heraus er sich zu seinem Philosophieren in der Weise von Meditationen veranlaßt sieht. Schon vor einer Reihe von Jahren habe er bemerkt, wieviel Falsches (falsa) er in seiner Jugend als wahr habe gelten lassen (pro veris admiserim) und wie zweifelhaft (dubia) alles sei, was er hernach darauf aufgebaut habe (1. Abschnitt). Daher habe er sich entschlossen, einmal im Leben alles von Grund aus umzustoßen (funditus omnia 1 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 118 f.; AT VII, 130.

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§ 3. Veranlassung, Abzielung der Meditationen

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esse evertenda) und von den ersten Grundlagen an neu zu beginnen (a primis fundamentis denuo inchoandum). Denn nur auf diese Weise könne er Sicheres und Dauerhaftes (firmum et mansurum) in den Wissenschaften herstellen. Als Veranlassung für sein meditatives Philosophieren in der Weise einer Selbstbesinnung nennt Descartes seine Erfahrung mit dem Irrtum. Wenn ich mich irre, ohne schon darum zu wissen, setze ich einen Sachverhalt, den ich erst im nachhinein als falsch durchschaue, als etwas Wahres (pro veris admittere). Später erst gelange ich zu der Einsicht, daß sich die Sache auf eine andere Weise verhält. Das Falsche, das Descartes schon in seiner Jugend zunächst als ein Wahres zugelassen hat, sind nicht irgendwelche Irrtümer, denen jeder Mensch in seinem Leben dann und wann erliegt. Die von Descartes erwähnten Irrtümer sind vielmehr solche grundsätzlicher Art, die die ersten Grundlagen unseres Wissens überhaupt betreffen. In seinen »Erwiderungen auf die sechsten Einwände« benennt Descartes einen solchen die Wissensgrundlagen betreffenden Irrtum: »Dagegen habe ich von meiner frühesten Jugend an Geist und Körper – aus denen ich mich nämlich, wie ich verworren bemerkte, zusammensetze – als eine Art Einheit gedacht; auch ist das der Fehler bei fast jeder unvollkommenen Erkenntnis, daß dabei vieles miteinander als eine Art Einheit aufgefaßt wird, was später dann durch eine genauere Untersuchung unterschieden werden muß«.2 Der in die früheste Jugend zurückreichende fundamentale Irrtum ist die ungenügende sachliche und begriff liche Unterscheidung zwischen dem denkenden Geist und dem materiellen Körper. Diese denkend zu vollziehende Unterscheidung ist aber die erste, alles Weitere bestimmende Aufgabe der Philosophie Descartes’, die zur Erfassung des Ich-denke (ego cogito) als des Selbstbewußtseins führt in der wesensmäßigen Abgrenzung gegen den ausgedehnten Körper. Der in die früheste Jugend zurückreichende, das Fundament der menschlichen Erkenntnis betreffende Irrtum Descartes’ hat einen doppelten Ursprung: einen durch das Lebensalter der Kindheit und 2 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 385 f.; AT VII, 445.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

Jugend bestimmten und einen in der Überlieferung des Denkens liegenden Ursprung. Kindheit und Jugend sind für Descartes überwiegend durch die sinnliche Erkenntnis geleitet. Erst in den reiferen Jahren gelangen wir zum selbsteigenen Verstandesgebrauch und damit in das durch die Verstandeserkenntnis geleitete Weltverhältnis. Die lange Gewohnheit, in der wir der sinnlichen Erkenntnis vertraut haben, läßt uns dann späterhin nicht zur vollen Einsicht in den Wesensunterschied zwischen sinnlicher Erkenntnis und reiner Verstandeserkenntnis und mit dieser zur Selbsterkenntnis des Geistes als Selbstbewußtsein gelangen. Darin sieht Descartes den Grund dafür, daß die überlieferte Metaphysik, obwohl sie von ihrem Beginn zwischen Sinnlichkeit und Vernunft unterschieden hat, nicht zum wahren Begriff des Geistes, der Vernunft und des Verstandes als dem Selbstbewußtsein vorgestoßen ist. Der fundamentale Irrtum Descartes’ betrifft somit die Grundlage, das Fundament der menschlichen Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis, das Fundament des wissenschaft lichen und metaphysischen Wissens. Die Mitteilung Descartes’ von seiner Erfahrung mit den grundlegenden Irrtümern gründet bereits in einer schon vorausgegangenen philosophischen Grunderfahrung, in der sich ihm der Grundgedanke seines Philosophierens erschlossen hat. Es ist der Einblick in die dem menschlichen Geist mögliche Selbsterfassung als Selbstbewußtsein, um aus der vergewisserten Immanenz des Selbstbewußtseins heraus den neuen Weg der Philosophie zu bahnen. Indessen erschließt sich ihm dieser Grundgedanke nicht nur als eine intuitive Einsicht, sondern auf einem Weg von methodisch gelenkten Schritten. Dennoch kann Descartes am Beginn dieses Weges nur aus der schon gemachten geistig-intuitiven Grunderfahrung mit dem Selbstbewußtsein von seinen Grundirrtümern sprechen. Um frühere Wahrheitssetzungen nunmehr als Falsches, als Irrtum durchschauen zu können, bedarf es schon des Vorblickes auf das Kriterium für die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Erkenntnis. Weil die denkerische Grunderfahrung Descartes’ die überlieferten ersten Prinzipien unserer Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis betrifft , faßt er den Entschluß, denkend »alles von Grund aus umzustoßen«. Alles (omnia) heißt: die Gesamtheit seines, meines Erhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3. Veranlassung, Abzielung der Meditationen

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kenntniswissens, alle Weisen unseres erkennenden Verhaltens zu allen erkannten Gegenständen. Die Gesamtheit unserer bisherigen Erkenntnis »von Grund aus« (funditus) umstoßen heißt, sie von ihren Grundlagen her und somit diese Grundlagen selbst umstoßen. Dieses denkend sich vollziehende Umstoßen wird sich als ein methodisches Zweifeln vollziehen. Nachdem die Gesamtheit meiner bisherigen Selbst-, Welt- und Gotteserkenntnis von ihren Grundlagen her durch den denkenden Zweifel umgestürzt ist, soll die Gesamtheit meiner mir möglichen Erkenntnis von neu zu legenden Grundlagen her neu aufgebaut werden. Durch diese neue Grundlegung soll ein Sicheres und Dauerhaftes in den Wissenschaften bewirkt werden. Diese Wissenschaften sind nicht nur die Einzelwissenschaften, sondern alle Wissenschaften in der umfassenden wahren Philosophie und darin zuerst die Erste Philosophie als Metaphysik. Was Descartes einleitend als das Sichere (firmum) und Dauerhafte (mansurum) in den Wissenschaften nennt, zielt auf seinen neuen Wahrheitsbegriff ab. Diesem gemäß wird die Wahrheit in ihrem Wesen als Gewißheit erfahren und bestimmt. Die Wahrheit als Gewißheit hat jedoch ihre Quelle in der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins. Der in der Ersten Philosophie und für diese neu zu legende Grund (die Wurzel am Baume der Universalphilosophie) wird sich als das Fundament der Wahrheit qua Gewißheit erweisen. Denn nur so kann die grundlegende Gewißheit, die Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins, allen von der Ersten Philosophie begründeten Wissenschaften den neuen Wahrheitscharakter, die Gewißheit, mitteilen.

b) Die faktisch-individuelle Situation des meditierenden Ich Was Descartes außer der Mitteilung über Veranlassung und Abzielung der »Meditationen« zu Beginn äußert, scheint bloßes literarisches Beiwerk ohne philosophischen Aussagegehalt zu sein. Doch dieser Schein trügt. Was den Anschein einer literarischen Ausschmückung hat, ist bei genauerem Hinsehen von nicht unbedeutender philosophischer Relevanz. Descartes berichtet von sich selbst: https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

Die Gesamtheit seiner bisherigen Erkenntnisse von ihrem Grunde her denkend umstoßen und neue Grundlagen legen, um auf diesen die Erkenntnis in gesicherter und unbezweifelbarer Weise zu stellen, das erschien ihm als eine so gewaltige Unternehmung, daß sie zu ihrer Durchführung dreier Voraussetzungen bedurfte. Erstens bedurfte es des reiferen Lebensalters, das aufgrund seiner höchsten Reife am geeignetsten für das beschlossene philosophische Unternehmen ist. Die höchste Reife ist für Descartes der Zeitpunkt des vollkommenen selbsteigenen Verstandesgebrauchs. Dieser ist die Voraussetzung dafür, daß sich der Verstand in seinem Wesen als Selbstbewußtsein erfassen kann. Als zweite Voraussetzung nennt Descartes das Sichablösen des philosophierenden Geistes von den ihn sonst gefangennehmenden Sorgen des Alltags. Wir müssen das Sichherauslösen des philosophierenden Geistes aus den Alltagssorgen grundsätzlich fassen als das Heraustreten aus der vorphilosophisch-natürlichen Weltverhaltung. Descartes spricht damit eine Grundvoraussetzung für jedes Philosophieren aus: der Übergang aus dem vorphilosophischen Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis in das philosophierende Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis. Dies ist nur möglich, wenn ich mich aus dem alltäglichen Ausgegebensein an die Dinge der alltäglichen Geschäfte zurückhole, um mich in grundsätzlicher Weise auf mein Selbst-, Welt- und Gottesverhältnis zu besinnen. Und schließlich nennt Descartes als dritte Voraussetzung für seine metaphysischen Meditationen das »solus secedo«, das Sichallein-abgesonderthaben, das Sich-zurückgezogen-haben aus dem Miteinandersein mit den Anderen. Das Sichherausnehmen aus der vorphilosophischen Selbst- und Weltverhaltung schließt für Descartes das Sichzurückziehen aus den mitmenschlichen Bezügen in die Einsamkeit des Philosophierenden mit ein. Diese dritte Voraussetzung für das meditierende Philosophieren ergibt sich aus dem besonderen Charakter dieser Meditationen, daß sie Selbstbesinnungen im zweifachen Sinne sind. Das Sichzurückholen aus den zwischenmenschlichen Bezügen und Sichvereinzeln auf das eigene Ich ist keine Eigentümlichkeit eines jeden, sondern nur des meditativen Philosophierens in der Weise einer Besinnung des Selbst auf sein eihttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3. Veranlassung, Abzielung der Meditationen

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genes Selbst. Die cartesischen Meditationen sind im Unterschied zu einem dialogischen ein monologisches Philosophieren. Descartes setzt seine Meditationen ein in der Ich-Form und behält diese durch alle Meditationen hindurch bei. Diese Ich-Form ist nicht nur ein besonderes Stilmittel, sondern der sprachliche Ausdruck für jenes meditierende Philosophieren, das sich als eine refl ektierende Selbstversenkung vollzieht. Diese besagt: ein reflektierendes Erfassen des eigenen Selbst (Ich), um dieses und seine Bezüge zu den Dingen der Welt und den Mitmenschen aus der eigenen Immanenz zu thematisieren. Von hier aus können wir den eigentümlichen Besinnungscharakter der »Meditationen« weiter klären. Sie sind Besinnungen von der Art reflektierender Selbstversenkung und Selbstauslegung des eigenen Ich und seines Welt- und Gottesbezuges. Meditation im cartesischen Sinne ist eine Selbstbesinnung, in der das Selbst (Ich) nicht nur der Vollzieher, sondern auch der thematische Gegenstand dieser Besinnung ist. Weil es das eigene individuelle Ich ist, das meditierend sich selbst und seinen Welt- und Gottesbezug auslegt, nimmt Descartes seine eigene konkrete Situation in die Meditation hinein und macht sie selbst zum Thema seiner Besinnung. Das meditierende Ich Descartes’ tritt uns nicht als allgemeines Ich entgegen, sondern als das konkret-individuelle Ich in seiner konkreten Lebenswelt. Es spricht aus seiner konkreten lebensweltlichen Gegenwart, sicherinnernd spricht es seine konkrete lebensweltliche Vergangenheit aus und vorblickend auf Bevorstehendes äußert es sich zu seiner lebensweltlichen Zukunft. Dennoch legt sich das individuelle Ich nicht nur als individuelles aus, sondern hinsichtlich allgemeiner und formaler Strukturen, von denen vorausgesetzt wird, daß es sich bei diesen um die Wesensstrukturen eines jeden individuellen Ich handelt. Wenn Descartes für sein meditatives Philosophieren die Muße in der einsamen Zurückgezogenheit sucht und sich damit aus den zwischenmenschlichen Bezügen zurückzieht, begeht er jedoch nicht die Konstruktion, sein Ich so zu vereinzeln, als gäbe es nicht das andere Ich. Sonst wären die »Meditationen« nur für ihn selbst und nicht auch für den Leser verfaßt. Die meditativ-reflektierende Selbstverhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

senkung ist vielmehr von Descartes so konzipiert, daß der Leser an diesen Meditationen teilnehmen soll, und zwar dergestalt, daß jeder Leser sich an die Stelle des meditierenden Ich versetzt, d. h. daß er die Situation des meditierenden Ichs Descartes’ auf seine eigene ichliche Situation abwandelt.

c) Der methodische Zweifel – zwei Anweisungen Noch im letzten Satz des 1. Abschnittes der I. Meditation äußert sich Descartes dahingehend, daß er sich nunmehr dem allgemeinen Umsturz seiner Meinungen zuwenden werde (generali huic mearum opinionum eversioni). Descartes spricht jetzt die Gesamtheit seines bisherigen Erkenntniswissens als »Meinungen« an. Eine Meinung ist ein in sich noch ungesichertes Wissen im Unterschied zu solchem, dessen Wahrheit nicht nur behauptet, sondern begründet und gesichert ist. Daß Descartes nunmehr im Ausgang seines Vorhabens sein bisheriges Wissen als ›Meinung‹ ausgibt, ist die Folge seiner zuvor ausgesprochenen Einsicht in die völlige Ungesichertheit seines bisherigen Erkenntniswissens und dessen Grundlagen. Zwar war dieses metaphysische und wissenschaftliche Wissen nicht ohne jede Begründung und nicht ohne gesetzte Wahrheit. Aber die bisherige Weise der Begründung und das bisherige Wahrheitsverständnis haben sich für Descartes als unzureichend erwiesen und zwar aus seiner schon gemachten Grunderfahrung mit dem Selbstbewußtsein und dessen Wahrheit qua Selbstgewißheit. Die bisherige Erkenntnisbegründung und das dabei leitende Wahrheitsverständnis haben sich für Descartes als unzureichend erwiesen, sofern diese Wahrheit noch nicht als Gewißheit bestimmt war, deren Quelle die Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins ist. Für die Ausführung des allgemeinen Umsturzes seiner bloßen »Meinungen« nennt Descartes im 2. Abschnitt zwei methodische Anweisungen. Es sind die beiden methodischen Anweisungen für den denkend zu vollziehenden Umsturz seines schon als bloße Meinung gekennzeichneten Erkenntniswissens. Der bloße Entschluß zum allgemeinen Umsturz ist noch nicht die Ausführung dieses https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3. Veranlassung, Abzielung der Meditationen

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Umsturzes. Die erste methodische Anweisung geht dahin, daß das denkende Umstürzen sich in der Weise des Zweifels vollziehen soll. Die erste methodische Anweisung ist somit die Einführung des Zweifels als Methode, die Einführung des methodischen Zweifels. Die zweite methodische Anweisung für den allgemeinen Umsturz (eversio generalis) besteht in einer Darlegung dessen, wie der methodische Zweifel angesetzt werden soll. Um den allgemeinen Umsturz meines bisherigen Erkenntniswissens vollziehen zu können, ist es nicht erforderlich, schon seine Falschheit oder Unwahrheit eigens nachzuweisen. Um Wahrheit von Unwahrheit zu scheiden, bedarf es schon der Kenntnis des Kriteriums für diese Scheidung. Dieses Kriterium soll jedoch erst entdeckt werden und zwar als ein absolut sicheres. Der Umsturz meines bisherigen Erkenntniswissens kann aber auch so erfolgen, daß ich dieses vermeinte Wissen nur als zweifelhaft aufzeige. Etwas nur als zweifelhaft erweisen heißt, zu erkennen, daß seine Wahrheit noch keine absolut sichere ist, dergestalt, daß sie auf keine Weise in Unwahrheit umschlagen kann. Um aber etwas als zweifelhaft dartun zu können, bedarf es eines Grundes für den Zweifel, einer ratio dubitandi. Ein Zweifelsgrund ist ein durch die ratio, durch die Vernunft aufgespürter Grund (ratio), der mich veranlaßt, meine urteilsmäßige Zustimmung zurückzuhalten (assensionem cohibere). Im Zweifeln verhalte ich mich indiff erent gegenüber dem Bezweifelten. Ich gebe einen oder mehrere wohlerwogene Gründe dafür an, daß sich die Sache möglicherweise nicht so verhält, wie ich es bisher vermeint habe. Derartige Zweifelsgründe unterscheiden sich von solchen Gründen, mit denen ich das Unwahrsein einer bisher in Geltung stehenden Erkenntnis aufzeige. Mittels der Zweifelsgründe zeige ich nur an, daß mein bisheriges Für-wahr-halten noch kein absolut sicheres und gesichertes war, daß es vielmehr einen oder mehrere Gründe dafür gibt, daß sich die Sache möglicherweise anders verhält. Der Umsturz meines bisherigen Erkenntniswissens heißt weder, dieses Wissen gänzlich zu verwerfen, noch, es als unwahr darzutun. Es besagt nur, mein bisheriges Erkenntniswissen durch Anführung von Zweifelsgründen als ein in sich noch ungesichertes, noch nicht vergewissertes Wissen darzulegen. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

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Mit dem Anhalten meiner setzenden Zustimmung (cohibere assensionem), dessen Gegenbegriff das Für-wahr-halten (pro veris admittere) ist, durch den Hinweis auf Zweifelsgründe erhält der Zweifel den Charakter eines methodisch geleiteten Zweifels. Vom methodischen, beabsichtigten und eigens ausgebildeten Zweifel können wir den uns geläufigen Zweifel unterscheiden, der uns im Leben immer wieder begegnet. Dieser natürliche Zweifel in unserem natürlichen Leben ist ein unbeabsichtigter, unerwartet sich einstellender Zweifel. Die zweite methodische Anweisung ergibt sich aus dem, was schon vom allgemeinen Umsturz gesagt wurde, daß er »von Grund aus« erfolgen solle. Die zweite methodische Anweisung greift dieses »von Grund aus« (funditus) auf. Mittels der aufgesuchten Zweifelsgründe soll die Gesamtheit meines bisher für wahr gehaltenen Erkenntniswissens nicht etwa einzeln auf seine Bezweifelbarkeit oder Unbezweifelbarkeit geprüft werden. Vielmehr sollen die Zweifelsgründe gegen die Grundlagen (fundamentis) meiner Erkenntnis gerichtet werden. Lassen sich Gründe anführen, die Zweifel an der Wahrheit der Prinzipien meiner bisherigen Erkenntnisse erregen, dann wird auch alles, was auf diesen Prinzipien gegründet war, mit in den Zweifel gezogen. Für die Beschreibung des Verhältnisses der Ersten Philosophie, der Metaphysik, zu den übrigen Wissenschaften verwendet Descartes zwei unterschiedliche Bilder. Das eine Bild ist das des Baumes, an dem die Wurzeln die Erste Philosophie veranschaulichen. Das andere Bild, das Descartes in den »Meditationen« verwendet, ist das Bild von einem Gebäude. In diesem Bilde gleicht die Erste Philosophie dem Fundament, das alle anderen Teile des Gebäudes, die übrigen Wissenschaften, trägt. Weil der methodische Zweifel gegen die ersten Prinzipien gerichtet ist, nennt Descartes ihn auch den metaphysischen Zweifel. ›Metaphysisch‹ ist hier in dem Sinne gemeint, in dem wir die Erste Philosophie und ihre Fragestellung erläutert haben.3

3

Vgl. zum methodischen Zweifel: Röd 1982, 46–63; Perler 2006, 68–83.

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§ 4. Zum Weg des methodischen Zweifels

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§4 Zum Weg des methodischen Zweifels Die ersten Prinzipien, auf denen das gesamte Erkenntniswissen beruht, sind für Descartes ›Prinzipien der Erkenntnis‹. Deshalb überschreibt er den Ersten Teil seiner »Prinzipien der Philosophie«, der die Darstellung seiner Ersten Philosophie oder Metaphysik enthält, »De principiis cognitionis humanae« – Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis. In diesem so überschriebenen Ersten Teil stellt Descartes den Inhalt der »Meditationen« dar, jedoch nicht wie in diesen selbst auf dem Wege des analytischen Aufweisens, sondern in Form einer Abhandlung, die ihrerseits den analytischen Weg des Sachaufweisens zur Voraussetzung hat. Warum aber Prinzipien der ›Erkenntnis‹ und nicht wie Aristoteles oder Thomas von Aquin Prinzipien ›des Seins‹? Die Frage drängt sich auf: Ist Descartes’ Rede von den ersten Prinzipien der Erkenntnis nicht doch ein deutlicher Hinweis darauf, daß es sich bei seinen »Meditationen« um eine Erkenntnistheorie handelt und nicht um eine Metaphysik? Sind die »Meditationen« zwar eine Grundlegung der Metaphysik, aber eine solche, die selbst Erkenntnistheorie ist? So berechtigt diese Frage ist, wir werden einsehen, daß sie doch zugunsten der Ersten Philosophie als Metaphysik beantwortet werden muß. Denn nicht nur das, was grundgelegt wird, auch die Grundlegung selbst versteht sich bei Descartes als Erste Philosophie qua Metaphysik, wenn auch als Metaphysik neuen Stils: als Metaphysik des Selbstbewußtseins. Bevor wir uns diese Einsicht im Durchgang durch die »Meditationen« erarbeiten, können wir folgendes vorwegnehmen. Die Prinzipien der Erkenntnis sind für Descartes die prinzipiellen Erkenntniszugänge zu dem, was und wie das zu erkennende Seiende ist. Die Prinzipien der Erkenntnis sind die erkenntnismäßigen Zugangswege zum Seienden in seinem Sein. Das Sein dieses Seienden gliedert sich in das Was-sein und in das Wie-sein. Das Was-sein nennt das Wesen des Seienden, das Wiesein dessen Wirklichsein in der modalen Abwandlung von Möglichsein und Notwendigsein. Die Prinzipien der Erkenntnis sind die Zugangswege zu den Prinzipien des Seins, zum https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

Was-sein und zum Wirklich-sein des Seienden. Descartes thematisiert in seiner Ersten Philosophie die Prinzipien des Seins im Ausgang von den Erkenntniswegen des Ich. Diese neue Vorgehensweise ist bestimmt durch den Vorblick auf das, was als Grundprinzip der Metaphysik Descartes’ aufgewiesen werden soll: durch den Vorblick auf das Selbstbewußtsein. Die Gewinnung dieses Grundprinzips erfolgt selbst in der metaphysisch-ontologischen Blickbahn, sofern das Selbstbewußtsein hinsichtlich seines unbezweifelbaren Wirklichseins (existentia) und seines ebenso unbezweifelbaren Wasseins (essentia) bestimmt wird. An diesem Selbstbewußtsein aber haben alle drei Erkenntniszugänge teil, der reine Verstand, die Einbildungskraft und die sinnliche Wahrnehmung. Nachdem Descartes das Selbstbewußtsein nach seinem Wirklichsein und Wassein bestimmt hat, geht er dazu über, aus der als unbezweifelbar vergewisserten Immanenz des Selbstbewußtseins zuerst das unbezweifelbare Wassein und Wirklichsein Gottes und dann das unbezweifelbare Wassein und Wirklichsein der räumlich ausgedehnten Körper als sichere Erkenntnisse zu gewinnen. Immer geht es ihm um die metaphysischontologische Erkenntnis und deren Gewißheit, um die gewisse ontologische Erkenntnis von der Seinsverfassung des eigenen Ich, des Schöpfergottes und der geschaffenen Körperwelt. Die Gewißheit (certitudo) dieser metaphysischen Erkenntnisse ergibt sich aus der ersten Gewißheit, der Selbstgewißheit des ego-cogito als des Selbstbewußtseins.

§5 Das Phänomen der Sinnestäuschung als Grund des Zweifels an der unumstößlichen Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung Der erste Zweifelsgrund, den Descartes aufsucht, richtet sich gegen das Erkenntnisprinzip der sinnlichen Wahrnehmung, weiter gefaßt gegen das Erkenntnisprinzip der sinnlichen Erfahrung überhaupt. Wie für die metaphysische Überlieferung seit der Antike gibt es auch für Descartes drei Erkenntniszugänge zum Seienden: die https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Sinnestäuschung als Grund des Zweifels

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sinnliche Wahrnehmung, sensus, die ihr verwandte Einbildungskraft, imaginatio, und das Verstandesdenken, intellctus, bzw. das Vernunftdenken, ratio. Sofern Descartes die Prinzipien des Seins im Ausgang von den erkenntnismäßigen Zugangswegen zum Seienden in seinem Sein thematisiert, richten sich die aufgesuchten Zweifelsgründe zunächst gegen die sinnliche Wahrnehmung und gegen die Einbildungskraft und anschließend gegen das Verstandesund Vernunftdenken.

a) Sinnliche Wahrnehmung – empirisches Sosein und Wirklichsein (existentia) der Dinge (Körper) Bevor Descartes das Phänomen der Sinnestäuschung als Zweifelsgrund gegen die Wahrnehmung und sinnliche Erfahrung überhaupt einführt, gibt er im 3. Abschnitt in einem einzigen Satz eine Kennzeichnung der sinnlichen Erkenntnis und dessen, wozu das sinnliche Erkennen den Zugang verschafft . »Alles, was ich bisher am meisten für wahr gehalten habe (ut maxime verum admisi), habe ich von den Sinnen selbst oder aber durch die Sinne vermittelt empfangen«. Dieser knappe Satz bedarf einer breiteren Entfaltung. Zum einen müssen wir den Bereich des sinnlich Wahrgenommenen und Erfahrenen in seiner mehrfachen Gliederung klären. Zum anderen kommt es darauf an, den Leistungssinn der sinnlichen Wahrnehmung, das, was sie zu geben beansprucht, uns vor Augen zu führen. Nur so begreifen wir die Abzielung Descartes’, wenn er das Phänomen der Sinnestäuschung als einen Grund dafür benennt, daß das gesamte Wahrnehmungs- und Erfahrungswissen in den methodischen Zweifel gezogen werden muß. Der natürlichen und vorphilosophischen Welterkenntnis gilt die Sinneserkenntnis als jener Erkenntnisweg, auf dem wir zur sichersten Erkenntnis gelangen. Alles, was sich mir in meinem näheren oder weiteren Wahrnehmungsfeld an Wahrnehmbarem zeigt, hält die natürliche Welterkenntnis für das, was am meisten wahr ist. Was aber heißt hier ›wahr‹? Daß das Seiende so, wie es sich in der sinnlichen Wahrnehmung zeigt, ist und nicht anders. Zugleich https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

heißt ›wahr‹, daß das Seiende so, wie es von mir wahrgenommen wird, auch wirklich ist und nicht nur in Gedanken vorgestellt. Damit haben wir an dem, was die sinnliche Wahrnehmung für uns begegnen läßt, ein Zweifaches herausgehoben: zum einen die jeweilige empirische Sachhaltigkeit, sein Sobeschaff ensein (das grün oder rot Gefärbtsein, das Glatt- oder Rauhsein der Oberfläche) und zum anderen das Wirklichsein des so oder so beschaffenen Dinges. Die sinnliche Wahrnehmung auf den Wegen der fünf Sinne ist der aufschließende Zugang zum wahrnehmbaren Beschaffensein der raumzeitlich-materiellen Dinge in ihrem Wirklichsein (existentia). Zum Leistungssinn der sinnlichen Wahrnehmung gehört nicht nur das Vorstellen des wahrnehmbaren Dinges in seinen sinnlichen Qualitäten, sondern zugleich das Verstehen dessen, daß das so in seinen sinnlichen Qualitäten Wahrgenommene auch wirklich ist. Das Verstehen des Wirklichseins des wahrgenommenen Seienden gehört mit zum Vollzugsverständnis der Wahrnehmung. Das besagt aber nicht, daß das Wirklichsein des wahrgenommenen Dinges selbst eine sinnliche Beschaffenheit wäre. Es besagt nur, daß sich das Wahrnehmen der sinnlichen Beschaffenheit zugleich in einem Verstehen des Wirklichseins des so beschaffenen Dinges hält. Das Wahrsein, von dem Descartes spricht, wenn er sagt, das sinnlich Wahrgenommene sei gewöhnlich das, was man am meisten für wahr halte, ist die Wahrheit bezüglich des Dinges in seinem sinnlichen Sobeschaffensein und in seinem Wirklichsein. Das admisi (ich habe zugelassen, gehalten für) besagt: Etwas so, wie es sich in der Wahrnehmung gemäß ihrem Vollzugssinn zeigt, hinnehmen und setzen, das sinnlich Wahrgenommene in seinem Sobeschaffensein und in seinem Wirklichsein hinnehmen und setzen. Die Erkenntnis aus den Sinnen halten wir am meisten für wahr, weil das sinnlich Wahrnehmbare uns als das unüberbietbare Maß des wirklich Seienden gilt. Bislang haben wir die sinnliche Erkenntnis mit der sinnlichen Wahrnehmung gleichgesetzt. Diese ist die sinnliche Erkenntnis von dem, was in seiner leibhaften Gegenwart erfaßt wird. Aber die Welt des sinnlich Erkennbaren erstreckt sich zeitlich nicht nur in die Gegenwart. Unsere sinnliche Erkenntnis ist zeitlich in die drei Zeithttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Sinnestäuschung als Grund des Zweifels

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horizonte der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft ausgespannt. Das aus der sinnlichen Wahrnehmung geschöpfte Wissen besteht nicht nur in dem, was ich in der Gegenwart meines Lebensvollzuges erwerbe. Zu ihm gehört auch das, was ich in der Erinnerung als das Wahrgenommen-gewesene und in der Erwartung als erst noch Wahrzunehmendes vergegenwärtige. Das für am meisten wahr Gehaltene ist nicht nur das in der Gegenwart leibhaftig Wahrgenommene, sondern auch das erinnerte Vergangene und erwartete Künftige. Auch hinsichtlich des erinnerten Vergangenen als des Wahrgenommen-gewesenen müssen wir unterscheiden zwischen seinem washaltigen Sobeschaffensein und dem mitverstandenen Wirklichgewesensein. Denn es gehört zum Vollzugssinn des Erinnerns, daß ich das Erinnerte als etwas verstehe, das nicht nur in Gedanken ohne ein Wirklichsein vorgestellt war. Entsprechendes gilt für den Vollzugssinn des Erwartens, worin ich das vorvergegenwärtige, was ich späterhin wahrnehmen werde. Auch hinsichtlich des Erwarteten müssen wir zwischen seinem sachhaltigen Was und dem Wirklichsein des erwarteten Wahrzunehmenden unterscheiden. Die Wirklichkeitssetzung geht durch alle drei Zeithorizonte unseres sinnlichen Erfahrungsbezuges zur sinnlich erfahrbaren Welt hindurch. Das alles zu beachten ist wichtig, um später die volle Reichweite des ersten Zweifelsgrundes ermessen zu können. Descartes spricht aber nicht nur von solchem, was ich von den Sinnen empfangen habe, sondern auch von dem, was ich durch die Sinne vermittelt empfange (per sensus). Die hier vorgenommene Differenzierung betrifft den Unterschied zwischen dem, was ich selbst mittels meiner Sinne in seiner leibhaftigen Gegebenheit wahrnehme, und jenem anderen, dessen leibhaftiges Gegebensein mir durch Andere, für die es leibhaftig gegeben war, mitgeteilt wird. Hierzu gehört mein Erfahrungswissen von allen wirklichen Dingen, das nicht auf eigener, sondern auf fremder Wahrnehmung beruht. Mein Wissen von anderen Städten, Ländern, Erdteilen, Meeren, die ich selbst nie gesehen habe, stammt entweder aus mündlicher Mitteilung, die ich über das Gehör empfangen habe, oder aus schriftlicher Mitteilung, an deren Aufnahme mein Sehen beteiligt ist, oder aus bildlicher Mitteilung, an der auch das Sehen teilhat. Alles sinnhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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lich Wahrnehmbare, das ich als so und so beschaffen und als wirklichseiend weiß, das ich aber nicht selbst wahrgenommen habe, ist von mir in meinem Erfahrungswissen in der Weise einer besonderen Vergegenwärtigung vorgestellt. Diese heißt im Unterschied zur Wiedererinnerung, die Vergangenes rückvergegenwärtigt, und im Unterschied zur Erwartung, die Künftiges vorvergegenwärtigt, die Gegenwarts-Vergegenwärtigung. Denn in dieser richte ich mein vergegenwärtigendes Vorstellen in den Zeithorizont der Gegenwart, der sich jenseits meines überschaubaren Wahrnehmungsfeldes erstreckt. In der Gegenwartsvergegenwärtigung vergegenwärtige ich solches, was jetzt während meines Vergegenwärtigens gegenwärtig ist, aber so, daß ich es nicht in seiner leibhaftigen Gegenwart wahrnehmen kann, weil es sich außerhalb meines gegenwärtigen Wahrnehmungsfeldes befindet. Zum Vollzugsverständnis aller meiner unterschiedlichen Erfahrungsweisen, der verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungsweisen und deren Vergegenwärtigungsmodi, gehört erstens, daß das Wahrgenommene oder das Vergegenwärtigte so beschaffen ist, wie es sich mir im Wahrnehmen oder im Vergegenwärtigen zeigt. Zweitens gehört zu diesem Vollzugsverständnis, daß das so Wahrgenommene oder Vergegenwärtigte auch wirklich ist, wirklich gewesen ist und wirklich sein wird. Das Sobeschaffensein des Seienden, zu dem das Wahrnehmen oder die Vergegenwärtigung den Zugang bilden, ist die empirische Was- oder Sachhaltigkeit – empirisch, weil sie in der Empirie, in der Sinnlichkeit zugänglich wird. Davon müssen wir unterscheiden das Wirklichsein des so und so empirisch beschaffenen Seienden. Der Gegenbegriff zum Wirklichsein des wahrgenommenen Seienden ist das bloße Vorgestelltsein eines Seienden in Gedanken, in der Phantasie oder im Traume. Eine in der Phantasie vorgestellte Märchenwelt wird auch als so und so beschaffen vorgestellt. Aber zum Vollzugsverständnis der Phantasievorstellung gehört nicht die Existenz-Setzung der vorgestellten Märchenwelt. Was wir unterschieden haben als den zweifachen Leistungssinn der Wahrnehmung: das Zugänglichmachen des empirischen Sobeschaffenseins (Sosein) und das Zugänglichmachen des Wirklichseins (Daßsein) des so und so beschaffenen Wahrgenommenen, müssen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Sinnestäuschung als Grund des Zweifels

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wir in allen sinnlichen Erfahrungsweisen unterscheiden, nicht nur in den fünf verschiedenen Wahrnehmungsweisen, sondern auch in deren Vergegenwärtigungsweisen, wenn auch so, daß das Wirklichsein den Zeithorizonten entsprechend sich zeitlich abwandelt. Als erstes prüft Descartes die Unumstößlichkeit und Unbezweifelbarkeit der Wahrheit dieser zeitlich und räumlich gegliederten Erfahrungserkenntnis. Nicht unbezweifelbar wäre sie, wenn es in ihr das eine oder andere Phänomen geben sollte, das die Möglichkeit des Umschlags von Wahrheit in Unwahrheit sehen ließe. Zeigt sich ein solches Phänomen innerhalb der sinnlichen Erfahrungserkenntnis, kann dieses zu einem methodischen Zweifelsgrund erhoben werden. Wenn Descartes seinen ersten Zweifelsgrund gegen das Erkenntnisprinzip der Sinnlichkeit richtet, dann nicht nur gegen die Wahrnehmung, sondern mit ihr auch gegen die Weisen der Vergegenwärtigung, die auf die Wahrnehmung rückbezogen sind. Sollte sich ein solcher Zweifelsgrund ergeben, dann richtet sich dieser gegen die sinnliche Erfahrung im ganzen in ihrer inneren Gliederung nach den drei Zeithorizonten, nach ihrer räumlichen Ausbreitung und nach dem Unterschied von Selbsterfahrung und Fremderfahrung.

b) Sinnestäuschung und Halluzination. Räumlich-partielle Täuschungsphänomene und genereller Zweifelsgrund Blicken wir nun auf das zeitlich-räumlich und nach Selbst- und Fremderfahrung gegliederte sinnliche Erfahrungswissen von der sinnlichen Erfahrungswelt und fragen wir uns, ob wir von diesem universellen Erfahrungswissen sagen können, es sei in sich unumstößlich, so, daß seine von uns gesetzte Wahrheit wesenhaft niemals in Unwahrheit umschlagen kann. Auf diese Frage lautet die Antwort in den »Meditationen«: Inzwischen habe ich erkannt, daß die Sinne bisweilen täuschen; es sei aber Sache der Klugheit, »denen niemals ganz zu vertrauen, die uns auch nur einmal getäuscht haben« (ac prudentiae est numquam illis plane confidere, qui nos vel semel deceperunt) (3. Abschnitt). Parallel hierzu heißt es im »Discours de https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

la Méthode«: Weil unsere Sinne uns manchmal täuschen, wollte ich voraussetzen, daß es nichts Derartiges gäbe, wie die Sinne es uns glauben machen.1 Die Parallelstelle in den »Prinzipien der Philosophie« lautet: Wir werden zuerst daran zweifeln, ob überhaupt irgendwelche sinnlich wahrnehmbaren oder sinnlich vorstellbaren Dinge existieren (existant).2 Innerhalb der sinnlichen Wahrnehmung zeigt sich somit ein zu ihr gehörendes Täuschungsphänomen, die Sinnestäuschung.3 Daß die sinnliche Wahrnehmung überhaupt in sich selbst ein solches Täuschungsphänomen als ein Binnenphänomen birgt, genügt bereits, um sagen zu müssen, daß das Prinzip der Sinnlichkeit nicht grundsätzlich von Täuschbarkeit frei ist. Aufgrund der ersten methodischen Anweisung, daß schon bei dem nicht ganz und gar Gewissen das Für-wahr-halten (pro veris admittere) zurückgehalten werden solle (assensionem cohibere), erweist sich jetzt die Sinnestäuschung als ein Grund, der sinnlichen Erkenntnis im ganzen in methodischer Absicht die sonst selbstverständliche Wahrheitssetzung zu entziehen. Das zur Sinnlichkeit selbst gehörende Binnenphänomen der Sinnestäuschung wird zu einem ersten methodischen Zweifelsgrund (ratio dubitandi), der sich gegen die sinnliche Erfahrungserkenntnis im ganzen, gegen ihre Wahrheitssetzung, richtet. Was ist eine Sinnestäuschung ? Ein von Descartes öfter angeführtes Beispiel lautet: Ein aus großer Entfernung betrachteter Turm erscheint mir als rund; doch beim Näherkommen erkenne ich, daß ich mich getäuscht habe: der Turm zeigt sich mir jetzt als viereckig. In meiner ersten Wahrnehmung habe ich den Turm als rundbeschaffen vermeint, in meiner zweiten Wahrnehmung erkenne ich, daß ich mich in meiner ersten Wahrnehmung getäuscht habe. Dieses einfache Beispiel läßt sehen, daß die sinnliche Wahrnehmung nicht etwa wesenhaft frei von Täuschung ist, daß also ihre Wahrheit in Unwahrheit umschlagen kann. Die Prüfung der möglichen 1 Descartes, Discours de la Méthode – Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaft lichen Forschung; ed. Gäbe 1960, 32/33; AT VI, 31 f. 2 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., Erster Teil, 4. Abschnitt, 1; AT VIII, 5 f. 3 Zur Sinnestäuschung als ratio dubitandi s. v. Herrmann 2004, 117–132.

https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Unumstößlichkeit der Wahrheit einer sinnlichen Wahrnehmung trifft auf das Phänomen der Sinnestäuschung, als welche sich jede Wahrnehmung prinzipiell erweisen kann. Das jetzt erwogene Beispiel einer Sinnestäuschung betraf die Täuschung in bezug auf das empirische Sobeschaffensein eines wahrgenommenen Seienden. Es gibt aber auch Fälle von Sinnentrug, in denen ich mich hinsichtlich des Wirklichseins eines Wahrgenommenen täuschen kann; die Trugwahrnehmung oder Halluzination. In dieser meine ich, einen wirklichen Gegenstand zu gewahren, ohne daß dieser wahrhaft im Raume existiert. Beide zur Sinnlichkeit gehörenden Täuschungsphänomene zeigen: Das wahrgenommene Seiende kann sich sowohl hinsichtlich seiner sachhaltigen Bestimmungen wie auch hinsichtlich seines Wirklichseins als Täuschung erweisen. Das Wahrgenommene der sich täuschenden Wahrnehmung ist entweder bloß vorgestellt als so und so beschaffen, ohne es in Wahrheit zu sein, oder es ist bloß vorgestellt als wirklichseiend, ohne in Wahrheit zu existieren. Diese Täuschungsphänomene werden nun zum methodischen Zweifelsgrund erhoben. Sie werden grundsätzlich gegen den Leistungssinn der sinnlichen Erfahrung im ganzen in deren Wahrheit gerichtet. Die Sinnestäuschung ist ein Phänomen, das zur natürlichen sinnlichen Erfahrung gehört. Als mögliche Beirrung ist sie uns innerhalb der natürlichen Welterfahrung vertraut. Innerhalb dieser kämen wir niemals auf den Gedanken, aufgrund der Tatsache gelegentlicher Täuschung unseren sinnlichen Erfahrungsbezug zur sinnlich erfahrenen Welt im ganzen zu bezweifeln und die Wahrheit der Erkenntnisleistung sinnlicher Erfahrung in Frage zu stellen. Haben wir uns bei einer Sinnestäuschung ertappt, meinen wir, dasselbe Seiende, das wir zuerst falsch wahrgenommen haben, nunmehr so wahrzunehmen, wie es wahrhaft beschaffen und als so beschaffen auch wirklich ist. Anders verhält es sich in Descartes’ philosophischem Unternehmen, in dem er kritisch prüfend auf der Suche nach einem ersten Prinzip des Erkennens ist, das keinerlei Täuschungsmöglichkeit und somit keinen Zweifelsgrund einschließt. Denn nur ein solches erstes Prinzip wäre geeignet, das absolut sichere Fundament für die https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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darauf zu erbauende Erste Philosophie und die durch sie begründeten Wissenschaften zu bilden. Auch wenn durch die Einsicht in die Unwahrheit einer vorangegangenen Wahrnehmung eine neue Wahrnehmung an die Stelle der vorangegangenen tritt mit dem Anspruch, sich des jetzt Wahrgenommenen versichert zu haben, kann sich auch diese Wahrnehmungsgewißheit nicht als absolut unbezweifelbar ausgeben. Die Wahrheit des Wahrgenommenen kann sich grundsätzlich nicht als absolute Gewißheit ausgeben, die prinzipiell nicht in Unwahrheit umschlagen kann. In seiner ersten methodischen Anweisung hatte Descartes gesagt: Wenn ich nur irgendeinen Zweifelsgrund aufspüren kann, der mir zeigt, daß ein Erkenntnisprinzip die Möglichkeit der Täuschung, also des Umschlags der Wahrheit in Unwahrheit zuläßt, werde ich auch in bezug auf das nicht ganz Gewisse, nicht völlig Unzweifelhafte in der gleichen Weise meine Zustimmung zurückhalten wie gegenüber dem offenbar Falschen und Unwahren. Damit wird nicht etwa gesagt, die sinnliche Erfahrung sei grundsätzlich falsch. Gesagt wird nur, daß die Wahrheit der Wahrnehmung und Erfahrung im ganzen keine solche ist, die wesensmäßig absolut unbezweifelbar wäre. Das innerhalb der sinnlichen Erfahrung aufgespürte Phänomen der Sinnestäuschung wird für Descartes zu einem methodischen Zweifelsgrund, der ihn veranlaßt, vorübergehend die sonst selbstverständliche Wahrheitssetzung in der universellen sinnlichen Erfahrung zurückzuhalten. In der natürlichen sinnlichen Erfahrung ist die Sinnestäuschung, wenn sie als solche durchschaut wird, nur auf dieses oder jenes Wahrgenommene beschränkt. Dasjenige, worin ich mich getäuscht habe, ist nur ein Teil aus einem Ganzen. An die Stelle dessen, was als bloß Vorgestelltes, in Wahrheit entweder nicht so Beschaffenes oder überhaupt nicht Existierendes eingesehen ist, tritt nun dasjenige, was ich in der korrigierenden Wahrnehmung als so und so beschaffen und als wirklich seiend wahrnehme. Wenn aber Descartes in seiner meditativen Reflexion seinen Blick auf die Möglichkeit der Sinnestäuschung in der sinnlichen Erfahrung richtet, verwandelt er das sonst nur partielle Phänomen in einen generellen Zweifelsgrund. Dieser ist generell, weil durch ihn aus methodischen Gründen der Suche nach https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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einem absolut Unzweifelhaften am Leistungssinn nicht nur dieser oder jener Erfahrung, sondern der sinnlichen Erfahrung im ganzen gezweifelt wird. Weil jede sinnliche Erfahrung grundsätzlich der Möglichkeit einer Täuschung ausgesetzt ist und weil dadurch die sinnliche Erfahrung sich nicht als wesenhaft unbezweifelbar erweist, will Descartes solange den Leistungssinn der sinnlichen Erfahrung im ganzen außer Vollzug setzen, bis er jenes Wahrheitskriterium gefunden hat, mit dem er den Wahrheitscharakter der sinnlichen Erfahrungserkenntnis bestimmen kann. Jenes gesuchte Wahrheitskriterium zeigt sich aber mit jenem ersten unerschütterlichen Prinzip, dessen Wahrheit nicht in Unwahrheit umschlagen kann: die Wahrheit als absolute Gewißheit, die Descartes auf dem Weg des methodischen Zweifels in der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins finden wird. Methodisch zweifeln am Leistungssinn der sinnlichen Erfahrung heißt: in der gesamten sinnlichen Erfahrung die sonst selbstverständliche Zustimmung zurückhalten zu dem, daß das Erfahrene in Wahrheit so beschaffen ist, wie es vermeint wird, und daß es als so Beschaffenes in Wahrheit existiert. Für Descartes ist eine solche setzende Zustimmung (pro veris admittere), wie sie zur natürlichen Erfahrung gehört, die Leistung eines bejahenden Urteils, eine Urteilssetzung. Dagegen ist für Husserl die zur natürlichen sinnlichen Erfahrung gehörende Existenz-Setzung des Erfahrenen eine unausdrückliche, nicht urteilsmäßige Setzung, die die Gesamtheit der sinnlichen Erfahrung bestimmt. Sie ist für Husserl eine die Erfahrungswelt generell bestimmende Setzung: eine General-thesis. Was Husserl die methodische Ausschaltung der vom Bewußtsein unausdrücklich vollzogenen und daher vorprädikativen Generalthesis in bezug auf die Erfahrungswelt nennt, beabsichtigt Descartes zunächst durch eine Verwandlung des partiellen Phänomens der Sinnestäuschung in einen generellen methodisch beabsichtigten Zweifelsgrund. Weil die Möglichkeit der Täuschung ein unabweisliches Binnenphänomen der sinnlichen Erfahrung ist, nehmen wir dieses Phänomen als den Grund für unseren generellen Zweifel an dem, was die sinnliche Erfahrung im ganzen an Wahrem zugänglich zu mahttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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chen beansprucht. Aus rein methodischen Gründen tue ich so, als ob ich eingesehen hätte, daß die sinnliche Erfahrung im ganzen trüge. Wenn ich so tue als ob, dann heißt das, daß ich die durch meine gesamte sinnliche Erfahrung hindurchgehende Wahrheits- und Seinssetzung nicht als Setzen vollziehe, sondern diese anhalte. In diesem willentlichen Anhalten der Wahrheits- und Seinssetzung lösen sich aber nicht meine sinnlichen Erfahrungsweisen und das darin gemeinte Erfahrene in nichts auf. Meine Erfahrungsweisen bleiben vielmehr in ihrem Sichrichten auf ihr Worauf erhalten, nur daß das Erfahrene nach dem Entzug der Wahrheits- und Wirklichkeitssetzung den Charakter eines bloß im Vorstellen Vorgestellten hat. Gegen diesen eingeführten ersten Zweifelsgrund auf dem Wege der Suche nach einem absolut Unbezweifelbaren macht sich Descartes im 4. Abschnitt einen Selbsteinwand. In diesem versucht er, die auf den Bereich der sinnlichen Erfahrung als Zweifelsgrund bezogene Sinnestäuschung lediglich auf einen begrenzten Ausschnitt zu beschränken. Die Sinne mögen uns bisweilen in bezug auf zu kleine und entfernte Dinge täuschen, so gibt es doch vieles, woran man überhaupt nicht zweifeln kann, weil es, wie es scheint, nicht von der Sinnestäuschung betroffen wird, obwohl es auch aus den Sinnen geschöpft ist. Descartes versucht, die Möglichkeit der Sinnestäuschung einzugrenzen auf den Fernbereich und den des zu Kleinen. Alles sinnlich Erfahrbare, das nicht in diese Bereiche gehört, scheint unbezweifelbar zu sein. Dasjenige, woran scheinbar überhaupt nicht gezweifelt werden kann, d. h. dessen Wahrheit nicht in Unwahrheit umschlagen kann, beschreibt Descartes so: daß ich jetzt hier bin, am Kamin sitze, mit meinem Winterrock bekleidet bin, mit meinen Händen das Papier berühre, auf dem ich die »Meditationen« niederschreibe, ferner, daß nicht nur die mir nahen umweltlichen Gegenstände wie Zimmer, Kamin, Tisch, Stuhl und Kleidung, sondern auch der mir nächste Körper, mein eigener Leib, so beschaffen ist, wie ich ihn jetzt wahrnehme, und als so beschaffener auch wirklich ist. In bezug auf diesen Nahbereich meines Wahrnehmungsfeldes (meines Seh- und Tastfeldes) ist scheinbar eine Täuschung hinsichtlich des Sobeschaffenseins und seines Wirklichseins völlig ausgeschlossen. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Hier beachten wir, wie Descartes meditierend in der Ich-Form spricht und zugleich seine eigene konkrete lebensweltliche Situation zum Thema seiner Meditation macht. Er thematisiert seinen eigenen sinnlichen Erfahrungsbezug zu seiner Umwelt. Um der scheinbaren Unbezweifelbarkeit seines eigenen Wahrnehmungsbereiches Nachdruck zu verleihen, sagt Descartes weiter: Wollte ich die Möglichkeit einer Täuschung auch noch in diesem Wahrnehmungsnahbereich zulassen, müßte ich mich mit solchen Geisteskranken vergleichen, die etwa behaupten, Könige zu sein, während sie bettelarm sind; oder sich selbst in Purpur gekleidet wahrnehmen, während sie in Wahrheit entkleidet in ihrer Zelle stehen; die sich ferner auch hinsichtlich ihres eigenen Leibes täuschen, wenn sie wähnen, sie hätten einer tönernen Kopf usf. Dieser Hinweis Descartes’ auf die Wahnvorstellungen von Geisteskranken nimmt sich wie eine bloße literarische Ausschmückung aus, der auf dem Gang des meditativen Philosophierens keine sachliche Bedeutung zukommt. Solche Bemerkungen Descartes’ führen beim Leser immer wieder zu dem Eindruck des Primitiven und Abwegigen der I. Meditation. Diesem Eindruck zum Trotz müssen wir in dem jetzt von Descartes ausgeführten Vergleich ein bedeutsames gedankliches Stilmittel erkennen, das zu einer Erweiterung der Täuschbarkeit der sinnlichen Erfahrungswelt führen soll. Insofern ist der Text Descartes’ nicht einfach und primitiv, sondern höchst kunstvoll gestaltet. Descartes möchte mit seinem Vergleich dies sagen: Auch wenn die Wahnvorstellungen Ausdruck eines kranken Geistes sind, lassen sie eine bedeutsame sachliche Struktur sehen. Der Wahnsinnige täuscht sich in dem, was er wahrzunehmen wähnt, nicht nur hinsichtlich des Fernbereichs oder des zu Kleinen, sondern gerade hinsichtlich seines Wahrnehmungsnahbereiches und sogar in bezug auf seinen eigenen Leib. Hier zeigt sich ein, wenn auch krankheitsbedingtes Beispiel dafür, daß Täuschung auch in der Nahzone des Wahrnehmungsfeldes möglich ist. Aus der Sicht des Gesunden ist auch die Nahzone des lebensweltlich Erfahrbaren eine, wenn auch in kranker Phantasie bloß vorgestellte Welt. Doch Descartes versucht nun nicht etwa, das Phänomen der kranken Wahnvorstellungen zu einem Zweifelsgrund gegen die Wahrheit des sinnlich erfahrbaren Nahbereiches auszubilden. Der Hinweis https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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auf die krankheitsbedingten Wahnvorstellungen hat vielmehr eine bedeutsame methodische Funktion auf dem Weg des methodischen Zweifels. Die krankheitsbedingten Wahnvorstellungen dienen Descartes als Überleitung zu einem zweiten methodischen Zweifelsgrund, der nun auch gegen die scheinbare Täuschungsfreiheit des Wahrnehmungsnahbereiches gerichtet ist.

§6 Das Phänomen des Traumes als zweiter Grund für den Zweifel an der Wahrheit der sinnlichen Erfahrung a) Wachen und Träumen – das geträumte Wachsein Auch wenn die Wahnvorstellungen des Geisteskranken in den Bereich des Abnormen gehören, so gibt es doch auch für den gesunden sinnlich erfahrenden Geist ein vergleichbares Phänomen, das den erfahrenen Wahrnehmungsnahbereich zu einem bloß vorgestellten werden läßt. Ähnlich wie vom Kranken in dessen Wachzustand die nächste Umwelt nicht als die erfahren wird, die sie für den Gesunden ist, wird vom Gesunden im Schlafzustand die nächste Umwelt träumend nicht als die erfahren, die sie im Wachzustand seines Erfahrungslebens ist. Bin ich nicht ein Mensch – fragt sich Descartes –, der im Schlafe zu träumen pflegt und dem im Traume dieselben oder gar noch weniger wahrscheinlichen Dinge begegnen als den Wahnsinnigen im Wachen (5. Abschnitt)? Wie oft träume ich diese lebensweltliche Situation, in der ich jetzt im Wachzustand lebe: daß ich hier mit einem Rocke bekleidet am Kamin sitze, während ich in Wahrheit entkleidet im Bett liege. Im Träumen gleichen wir in einer Hinsicht den Wahnsinnigen. Sie sowohl wie wir leben in bloßen imaginativen Vorstellungen, ohne daß die Wahnsinnigen darum wissen und ohne daß die Träumenden während ihres Träumens darum wissen. Träumend vermeine ich mich sitzend am Kamin und die lebensweltlichen Dinge wahrnehmend. Doch zunächst gilt es, sich zu fragen, wie die Sinnestäuschung und der Traum sich zueinander verhalten. Beide Phänomene komhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Traum als Grund des Zweifels

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men so, wie sie zu unserem natürlichen Erfahrungsleben gehören, darin überein, daß das Seiende des sich täuschenden Wahrnehmens und des geträumten Wahrnehmens jeweils ein bloß vorgestelltes ist. Die Sinnestäuschung erstreckt sich aber nur auf einen Ausschnitt meines Wahrnehmungsfeldes räumlich partiell. Anders beim Traum. In ihm ist nicht nur Einzelnes ein bloß Vorgestelltes, sondern die geträumte Erfahrungswelt im ganzen hat den Charakter des bloßen Vorgestelltseins. Wie aber kann der Traum zu einem vernünftigen methodischen Zweifelsgrund erhoben und gegen die sinnliche Erfahrung im ganzen gerichtet werden, wenn das Träumen auf die Schlafphase meines Erfahrungslebens zeitlich begrenzt ist? In diesem Sinne macht sich Descartes einen Selbsteinwand gegen den Versuch, aus dem Faktum des nächtlichen Träumens einen methodischen Zweifelsgrund auszubilden. Träumen ist doch – so meinen wir – vom Wachen sicher zu unterscheiden. Wenn wir wachen, träumen wir nicht. Der Unterschied zwischen dem Traumzustand und meinem wachen Erfahrungsleben scheint leicht einsehbar zu sein. Dieser scheinbar sicheren Unterscheidung vergewissert sich Descartes so: Jetzt, da ich hier am Kamin sitze, träume ich nicht, sondern wache ich. Mit wachen Augen schaue ich jetzt auf das Papier, wissentlich bewege ich meinen Kopf, strecke wissentlich meine Hand aus und vergewissere mich darin meines Wachseins. So klar und so deutlich wie jetzt, da ich mich meines wachen Erfahrungslebens versichere, erscheint es mir im Traume nicht. Doch jetzt greift Descartes auf ein weiteres Phänomen zurück, auf ein Binnenphänomen des Traumes, das geeignet ist, seinen soeben ausgesprochenen Selbsteinwand gegen den Traum als generellen Zweifelsgrund wieder zu entkräften. Ich entsinne mich – sagt Descartes –, daß ich von ähnlichen Gedankengängen der Selbstvergewisserung meines Wachens auch schon im Traume getäuscht worden bin. Zuweilen träume ich dieselbe Situation, in der ich mich meines Wachzustandes versichere. Gelegentlich frage ich mich träumend, ob ich jetzt wachend wahrnehme oder nur träume, und oft komme ich träumend dazu, mich meines ›Wachens‹ zu versichern. Die Selbstvergewisserung meines Wachens in Abgrenzung gegen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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das Träumen taucht also gelegentlich auch im Traume auf. Dann ist auch das vergewisserte Wachen nur ein geträumtes. Damit wird aber deutlich: Der Unterschied zwischen wachem Erfahren und geträumtem Erfahren ist doch kein absolut klarer und deutlicher Unterschied, so, daß er eine Täuschung prizipiell ausschließt. Es gibt somit kein absolut eindeutiges Kennzeichen dafür, daß ich meinen jetzigen Zustand, den ich als Wachzustand vermeine, gegen den Traumzustand abgrenzen kann. Es besteht vielmehr grundsätzlich die Möglichkeit, daß der Wachzustand, dessen ich mich jetzt vergewissere, sich nachträglich als nur geträumter erweist. Weil somit Wachen und Träumen niemals durch absolut sichere Kennzeichen unterschieden werden können, tritt erneut die erste methodische Anweisung in Kraft, dem nicht absolut Gewissen, nicht absolut Unbezweifelbaren gegenüber in derselben Weise die setzende Zustimmung zu entziehen wie bei dem von uns als falsch Eingesehenen. Weil der Wachzustand unseres sinnlichen Erkenntnislebens durch kein absolut unbezweifelbares Kennzeichen vom Traumzustand unterschieden werden kann, ist es aus methodischen Gründen (umwillen des gesuchten absolut Unbezweifelbaren) erforderlich, die sonst selbstverständliche Zustimmung, die unser gesamtes waches Erfahrungsleben durchzieht, anzuhalten.

b) Natürlicher und generalisierter Traum In der natürlichen Welterfahrung ist der Traum ein begrenztes Phänomen. Wie die Sinnestäuschung ein räumlich-begrenztes Phänomen ist, so zeigt sich der Traum als ein zeitlich-begrenztes Phänomen. Für die natürliche Welterfahrung erstreckt sich der Traum nur auf die Schlafphase meines Erfahrungslebens. So wie Descartes das räumlich begrenzte Phänomen der Sinnestäuschung zu einem generellen Zweifelsgrund erhoben hat, unternimmt er jetzt das gleiche mit dem zeitlich begrenzten Traum. Das natürliche Phänomen des Traumes wird zu einem methodischen Zweifelsgrund, indem es ausgeweitet wird auf den vom Schlafzustand nicht absolut sicher abgrenzbaren Wachzustand. Im »Discours« heißt es, es handele sich https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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hierbei nur um eine Fiktion, zwar nicht um eine willkürliche, wohl aber um eine methodische Fiktion.1 Descartes will nicht behaupten, unser gesamtes sinnliches Erfahrungsleben sei tatsächlich oder vermutlich nur ein geträumtes. Er möchte nur dies sagen: Weil ich noch kein absolut sicheres Kennzeichen für die Unterscheidung von Wachen und Träumen habe, ist meine wache sinnliche Erkenntnis in sich nicht völlig unbezweifelbar. Das bedeutet aber: Die sinnliche Erkenntnis ist nicht geeignet für das gesuchte absolut unbezweifelbare erste Prinzip, das sich nur auf dem Wege des methodischen Zweifels zeigen kann. Die methodische Fiktion, in der das sonst zeitlich begrenzte Phänomen des Traumes generalisiert wird, besagt: Weil der Wachzustand meines sinnlichen Erfahrungslebens nicht in absolut gesicherter Weise vom bloß geträumten Erfahrungsleben unterschieden werden kann, tue ich willentlich so, als ob mein sonst als wach vermeintes Erfahrungsleben auch nur ein geträumtes sei. Ich tue willentlich so, als ob ich eingesehen hätte, daß mein waches sinnliches Erfahren nur ein geträumtes sei. In diesem So-tun-als-ob entschließe ich mich, meine setzende Zustimmung in bezug auf das empirische Sosein und auf das Wirklichsein der Erfahrungswelt im ganzen anzuhalten. Wie ich beim Erwachen aus einem Traum durch die Einsicht in den Traum als Traum meine setzende Zustimmung zum Geträumten (der geträumten Umwelt) zurücknehme und die geträumte Welt als bloß in der Traumvorstellung, nicht aber als an ihr selbst existierende vorstelle, ebenso nehme ich jetzt, nachdem ich die Ungewißheit in der Unterscheidung von Wachen und Träumen eingesehen habe, meine setzende Zustimmung aus meinem gesamten wachen Erfahrungsleben zurück. Nicht nur das, was ich während des Träumens wahrzunehmen meine, ist weder an ihm selbst so beschaffen noch an ihm selbst wirklich, sondern das während des Wachens Erfahrene hat jetzt aus methodischen Gründen den begründeten fi ktiven Charakter eines bloß Vorgestellten. Innerhalb der meditativen Haltung ist der Unterschied zwischen wahrer und 1 Descartes, Discours de la Méthode – Von der Methode (Gäbe) 1960, Vierter Teil, 52 /53; AT VI, 32.

https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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wirklicher Wachwelt einerseits und bloß vorgestellter Traumwelt andererseits nur noch ein untergeordneter innerhalb des generellen, das Erfahrungsleben in seiner Wach- und Schlafphase umfassenden ›Traumes‹.2 Die beiden Zweifelsgründe (rationes dubitandi), Sinnestäuschung und Traum, dienen Descartes zur methodischen Bezweiflung der Wahrheit des Leistungssinnes sinnlicher Erfahrung im ganzen. Was das Binnenphänomen der Sinnestäuschung als Zweifelsgrund noch nicht vermochte, die Infragestellung der sinnlichen Erkenntnis im ganzen, vermag der Traum als methodischer Zweifelsgrund. Dieser stellt vor das Ergebnis, daß die sinnlich erfahrbare Welt im ganzen in ihrer endlosen räumlichen und zeitlichen Erstreckung hinsichtlich des empirisch Sachhaltigen und des Wirklichseins bloß vorgestellt ist, so, wie sonst die erfahrene Welt im Traume eine bloß geträumte und somit nur vorgestellte ist.

c) particularia, generalia, universalia. Die Wesensstrukturen der Körper (Dinge) Doch mit der Aufzeigung, daß an der sinnlichen Erfahrungswelt die empirisch sachhaltigen Bestimmungen und ihr Wirklichsein nicht absolut unbezweifelbar und somit methodisch bezweifelbar sind, ist nicht schon das Seiende hinsichtlich aller ihm möglichen Bestimmungen in den methodischen Zweifel gezogen. Denn die sinnliche Erfahrung im eigentlichen Sinne bringt uns nur vor die empirischen Beschaffenheiten des Seienden. Diese empirischen Qualitäten sind das je Einzelne (particularia) (6. Abschnitt) an einem Erfahrungsgegenstand: dieser einzelne Erfahrungsgegenstand mit seiner bestimmten Gestalt, Färbung, Oberflächenbeschaffenheit usf. Das empirisch Einzelne ist das am Sinnending unverwechselbare Dieses und kein anderes. Wir erfahren aber die Dinge nicht nur im Hinnehmen ihres jeweiligen Dies und Dies, sondern erkennen das empirisch Einzelne im Lichte von Allgemeinvorstellungen. Daher 2

Zum Traum als ratio dubitandi siehe v. Herrmann 2004, 133–136.

https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ist zu prüfen, ob und inwieweit das am sinnlich erfahrbaren Seienden vorgestellte Allgemeine auch aus den Sinnen geschöpft ist oder nicht. Nur soweit es auch aus der Sinnlichkeit stammt, ist es durch den zweiten Zweifelsgrund (Traum) mit in den methodischen Zweifel gezogen. Soweit es aber nicht aus der sinnlichen Zugangsweise stammt, bezieht es sich auf ein anderes Erkenntnisprinzip, auf den Verstand. Descartes unterscheidet zwischen dem empirisch Einzelnen (particularia) und den Allgemeinvorstellungen (generalia) und prüft, inwieweit das in den Allgemeinvorstellungen Vorgestellte vielleicht gänzlich unbezweifelbar ist. Er prüft, ob durch den generalisierten Traum vielleicht nur die particularia, nicht aber die generalia betroffen werden (6. Abschnitt). Im methodisch generalisierten Traum verhalten wir uns so, als ob wir in unserem gesamten wachen Erfahrungsleben auch nur träumen. In dieser methodischen Einstellung gilt – wie im natürlichen Traum – alles empirisch Einzelne als nicht an ihm selbst wahr, sondern als ein bloß Vorgestelltes. Zu diesem empirisch Einzelnen gehört auch, daß ich jetzt meine Augen öffne, meinen Kopf bewege, diese so und so beschaffenen Hände habe usf. Das alles mag ein bloß Vorgestelltes sein, was nicht unabhängig von meiner Vorstellung existiert. Nun aber fragt sich Descartes, wie es sich mit dem bloß Vorgestellten im natürlichen Traum verhält. Ist es darin nicht so, daß das, was wir im Traume träumen, gemalten Bildern (quasdam pictas imagines) gleicht, die ihrerseits nur nach dem Muster wahrer und wirklicher Dinge gemalt werden können? Als erstes charakterisiert Descartes ein gemaltes Bild als solches. Dieses kann als das Abbild von einem Urbild, einem Muster, aufgefaßt werden. Ein im Bild gemalter Baum ist so gesehen ein Abbild von einem wirklichen Baum im Medium des Nichtwirklichen. Der wirkliche Baum ist ein in seiner leibhaften Gegenwart wahrgenommener – der im Bild gemalte Baum dagegen ein bloß bildhaft vorgestellter Baum. Der gemalte Baum ist nicht in derselben Weise wirklich wie der leibhaft gegebene Baum. Mit Hilfe dieses Verhältnisses von Abbild und Vorbild wird das Verhältnis zwischen dem träumend bloß vorgestellten Baum und dem im Wachzustand wahrgenommenen wirklichen Baum ausgelegt. Damit ist aber nur https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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das Verhältnis von geträumtem Baum und wirklichem Baum innerhalb der natürlichen Welterfahrung gekennzeichnet. Für die natürliche Erfahrung besteht der Unterschied zwischen Traumwelt und Wachwelt. Die von uns im natürlichen Traum geträumten und bloß vorgestellten lebensweltlichen Dinge sind keine puren Hervorbringungen der träumenden Phantasie. Denn das träumende Bilden der Traumwelt bleibt angewiesen auf Muster, die der wahrgenommenen Wachwelt angehören. Dieses Verhältnis von geträumtem und wirklichem Baum wird von Descartes herangezogen, um mit seiner Hilfe ein Verhältnis zwischen den im generalisierten Traum bloß geträumten empirischen Einzelheiten und den vielleicht nicht geträumten, sondern wahren generalia zu kennzeichnen. Diese Kennzeichnung vollzieht sich in der Weise einer Analogie, einer Entsprechung. Wie im natürlichen Traum die geträumten Dinge Abbilder von wirklichen Mustern sind, so ist die im generalisierten Traum bloß vorgestellte Welt des empirisch Einzelnen das Abbild von wahren Vorbildern, die nun aber die generalia sind, deren Wahrheit vielleicht unbezweifelbar ist. Was bezeichnet Descartes als generalia ? Die particularia sind diese so und nicht anders beschaffenen Hände, die sich von allen anderen Händen in ihrer gerade so und nicht anders bestimmten Beschaffenheit unterscheiden. Die particularia sind das im sinnlichen Vorstellen jeweils vorgestellte Einzelne. Die generalia sind dagegen das allgemein Vorgestellte der Erfahrungsdinge. Das allgemein vorgestellte Auge ist das, was das Allgemeine an jedem unterschiedlichen Auge ausmacht. Wenn an meinem Körper alles empirisch Einzelne bloß vorgestellt ist, dann vielleicht nur deshalb, weil es die generalia wie Auge-im-allgemeinen usf. gibt, die als generalia vielleicht unbezweifelbar sind, sofern wir die generalia als wahrhaft existierend vorstellen. Auge-im-allgemeinen usf. stellen wir als generalia vor im Begriff vom Auge usf. Descartes macht auf seinem methodischen Zweifelsweg den Versuch, das in den Art- und Gattungsbegriff en vorgestellte Allgemeine der Erfahrungsdinge aus dem methodisch generalisierten Traum, dem methodischen Zweifel, auszuklammern. Um das Verhältnis zwischen dem im methodisch generalisierten Traum bloß vorgestellten empirisch Einzelnen und den möghttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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licherweise wahren generalia der Art- und Gattungsbegriffe zu verdeutlichen, greift Descartes noch einmal zurück auf das Verhältnis von gemaltem Bild und wirklichen Dingen. Jetzt analysiert er aber nicht nur allgemein das Verhältnis von gemaltem Bild als Abbild und dem wirklichen Vorbild, sondern jetzt wählt er eine bestimmte Art von Bildern, in denen mythologische Wesen gemalt sind. Für diese gibt es so, wie sie gemalt sind, keine wirklichen Vorbilder wie für einen gemalten Baum. Als Beispiele für gemalte mythologische Wesen nennt Descartes Sirenen und Satyre. Wenn wir einen gemalten Baum anschauen, schauen wir im Bilde etwas an, für das es so, wie es gemalt ist, ein voll entsprechendes wirkliches Vorbild in der Wahrnehmung geben kann. Schaue ich dagegen einen gemalten Satyr an, so stelle ich etwas bildlich vor, für das es kein dem Abbild voll entsprechendes wirkliches Vorbild gibt. Den gemalten Satyr bildlich vorstellend, lebe ich in einer Vorstellung, deren vorgestellter Gegenstand ein bloß Vorgestelltes ist. Dennoch ist ein Maler, der derartige mythologische Wesen malt, nicht imstande, diesen in jeder Hinsicht neue Eigenschaften zu geben. Vielmehr sind sie darauf angewiesen, die ihnen aus der sinnlichen Erfahrung bekannten Glieder und Teile zu mischen und zu verbinden. Wenn wir in der Bildwahrnehmung eines mythologischen Wesens leben, stellen wir ein bloß Vorgestelltes nur insoweit vor, als es für die besondere Zusammensetzung der Glieder des mythologischen Wesens kein wirkliches Vorbild gibt. Was aber die einzelnen Teile als solche anbetrifft , gibt es für sie in der Tat wirkliche Vorbilder. Wie sieht nun die von Descartes beabsichtigte Analogie aus zwischen den bildlich vorgestellten mythologischen Wesen und der im methodisch generalisierten Traum bloß vorgestellten Welt der Sinnendinge? Die nur bildlich vorgestellte spezielle Zusammensetzung der Glieder jener gemalten Wesen entspricht dem nur vorgestellten empirisch Einzelnen im methodisch generalisierten Traum. Die Glieder als solche aber, die ihr wahres Vorbild in den wahrgenommenen Gliedern von wirklichen Lebewesen haben, entsprechen den in den Art- und Gattungsbegriffen vorgestellten generalia, die ihrerseits versuchsweise vom methodisch generalisierten Traum ausgeschlossen werden. Indessen zeigt sich kein absolut gewisser Grund https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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dafür, daß das in den Art- und Gattungsbegriffen vorgestellte Allgemeine der Sinnendinge nicht auch wie das empirisch Einzelne unbezweifelbar ist. Denn auch das in den Begriffen allgemein Vorgestellte stammt, wenn auch nicht der Form der Allgemeinheit nach, so doch dem Inhalte nach ebenfalls aus den Sinnen. Nur die Form der Allgemeinheit ist durch den Verstand gebildet. Daher hält Descartes nunmehr seine setzende Zustimmung auch gegenüber dem in den generalia vorgestellten Allgemeinen zurück und bezieht es mit in den methodisch generalisierten Traum, also in die methodische Zweifelshaltung ein. Ausgehend von den im Bilde gemalten mythologischen Wesen zeigt nun Descartes anschließend, daß in bezug auf die Sinnendinge noch einfachere und allgemeinere Strukturen (magis simplicia et universalia) verbleiben, die vom methodisch generalisierten Traum nicht miterfaßt sind. Diese im Vergleich zu den generalia noch allgemeineren Strukturen, das vorgestellte noch Allgemeinere, sind die nichtempirischen sachhaltigen Bestimmungen, die essentiellen, die Wesensbestimmungen des Seienden. Diese werden nicht auf dem Wege der Sinne, sondern mittels des Verstandes vorgestellt. Vom Bilde gemalter mythologischer Wesen ausgehend, sagt Descartes (6. Abschnitt): Selbst wenn der Maler solche mythologischen Wesen sich ausdenken sollte, für die nicht nur die Zusammensetzung der Glieder, sondern auch die Glieder und Teile selbst frei erfunden sind ohne Vorbilder aus der wirklichen Erfahrungswelt, müssen doch zumindest die Farben, mit denen der Maler malt, wirkliche Farben sein und nicht auch bloß vorgestellte Farben. Wenn alles, was wir im Bilde gemalt sehen, eine freie Phantasieschöpfung ist, dann heißt das: Wir leben in einer Bildwahrnehmung, deren vorgestellte Gegenstände weder hinsichtlich des Einzelnen der Zusammensetzung noch hinsichtlich der zusammengesetzten Glieder eine Entsprechung in einem wirklichen Vorbild haben. Allein, wir können nur in einer solchen Bildwahrnehmung leben, weil die völlig frei erfundenen mythologischen Wesen mit Hilfe von wirklichen Farben (coloribus veris) gemalt sind. Die wirklichen Farben gehören zu dem, was die Phänomenologie den Bildweltträger nennt. Dieser wird im Anschauen eines Bildes selbst leibhaftig mit wahrgenomhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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men, und zwar dergestalt, daß sich auf dieser Wahrnehmung die Auffassung der selbst nicht wirklichen Bildwelt aufbaut. Aus demselben Grunde müsse man – so Descartes –, wenn die in den Art- und Gattungsbegriffen vorgestellten generalia auch nur vorgestellt sein sollten, zugestehen, daß es noch einfachere und allgemeinere Strukturen (magis simplicia et universalia) des Seienden gibt. Diese gleichen den wirklichen Farben, mit denen die frei erfundenen Wesen einer nicht wirklichen Bildwelt gemalt werden. Wie ich zumindest der wirklichen Farben bedarf, um Dinge oder Lebewesen zu malen, für die es keine wirklichen Vorbilder gibt, ebenso bedarf es wahrer allgemeinster Strukturen des Seienden, mit denen die Bilder des Seienden (rerum imagines), die in unserem Bewußtsein sind (quae in cogitatione nostra sunt), gleichsam gemalt werden (effinguntur). Diese allgemeinsten Strukturen wären das einzig Wahre an den von uns innerhalb des generalisierten Traumes bloß vorgestellten Dingen. Die nur vorgestellten Dinge sind nur in der Weise von Vorstellungsbildern. Diese Vorstellungsbilder sind für Descartes in cogitatione, im Bewußtsein, also bewußtseinsimmanent wie das Vorstellen selbst als die ichlichen Bewußtseinsweisen. Die setzende Zustimmung aufgrund der beiden methodischen Zweifelsgründe anhalten heißt für Descartes nunmehr: die gesamte sinnliche Erfahrungswelt nur als eine in den bewußtseinsimmanenten Vorstellungsbildern vorgestellte gelten lassen und nicht, wie in der natürlichen Bewußtseinseinstellung, meinen, daß den inneren Vorstellungsbildern eine wahre und wirkliche Erfahrungswelt außerhalb meines Bewußtseins und außerhalb der Vorstellungsbilder entspricht. Wenn die sinnliche Erfahrungswelt, soweit sie auf dem Prinzip der Sinnlichkeit beruht, hinsichtlich des empirisch Einzelnen und des in den generalia vorgestellten empirisch Allgemeinen und auch hinsichtlich des vorstellungsunabhängigen Wirklichseins (existentia) methodisch in den Zweifel gezogen wird, gibt es aber immer noch die allgemeinsten nichtempirischen Wesensstrukturen des Seienden als den Rest an Wahrem der sonst bloß vorgestellten Dinge. Descartes zählt nun im 7. Abschnitt diese allgemeinsten Strukturen des raum-zeitlich-materiellen Seienden auf. Als erstes nennt er die natura corporea. Natur bedeutet hier ›Wesen‹ im Sinne von https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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essentia; das nichtempirische Wesen einer res, eines Seienden, das auch substantia genannt wird. Substantia, substare, substans meint dasjenige an einem Seienden, das dem Wechsel seiner Eigenschaften standhält, das beständige Wesen und Anwesen. Das ist die allgemeine Bedeutung von substantia. Das beständige Wesen der Körperdinge ist aber qualifiziert durch ein ausgezeichnetes Wesensattribut, das die körperliche Substanz von einer nichtkörperlichen Substanz (der denkenden Substanz) unterscheidet. Das substanzielle Wesen der körperlichen Substanz ist die extensio, die räumliche Ausdehnung der natura corporea. In der II. Meditation wird sich zeigen, wie Descartes die Wesensstruktur der räumlichen Ausdehnung als etwas bestimmt, was wir nicht primär im sinnlichen Anschauen, sondern im reinen Verstandesdenken vorstellen. Für Descartes ist die extensio ein vom reinen Verstand gedachter reiner Verstandesbegriff. Weitere allgemeinste Strukturen des körperlich Seienden werden aufgeführt: figura rerum extensarum, die Raumgestalt des räumlich extendierten Seienden; quantitas, die gegliedert wird in magnitudo und numerus, in Größe und Zahl. Jeder ausgedehnte Körper ist in Teile teilbar, und diesen Teilen eignet eine Raumgröße, magnitudo, ferner eine Raumgestalt, figura. Die Teile aber können in ihrer Raumgröße gemessen und mittels der Zahl, numerus, bestimmt werden. Schließlich werden genannt: locus, der Ortsraum, an dem der extendierte Körper sich jeweils befindet, und tempus, die Zeit, während welcher der Körper dauert oder sich von Ort zu Ort fortbewegt. Weil wir die aufgezählten Wesensstrukturen der Körper nicht auf dem Wege der Sinnlichkeit vorstellen, sondern im Verstandesdenken, sind sie nicht von den Zweifelsgründen der Sinnestäuschung und des Traumes betroffen.

d) Tatsachenwissenschaften und Wesenswissenschaften Bevor dieser Gedankengang weitergeführt wird, versichert sich das meditativ philosophierende Ich jener Wissenschaften, die durch die beiden ersten Zweifelsgründe mit der sinnlichen Erfahrungswelt in https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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den methodischen Zweifel gezogen sind (8. Abschnitt). Wenn wir bisher vom methodischen Zurückhalten unserer setzenden Zustimmung sprachen, dann geschah das in bezug auf unser vorwissenschaftliches Erfahrungswissen. Dieselbe setzende Zustimmung, die in unserem vorwissenschaft lichen Erfahrungsleben vollzogen wird, vollziehen wir aber auch in der wissenschaftlich-theoretischen Grundhaltung aller positiven Wissenschaften von der sinnlichen Erfahrungswelt und deren verschiedenen Bereichen. Als Beispiele für diese Wissenschaften nennt Descartes Physik, Astronomie und Medizin. Der Physiker, Astronom und Mediziner thematisieren je einen Bereich aus der sinnlichen Erfahrungswelt und erheben diesen zu einem wissenschaftlichen Forschungsgebiet. Die Naturgesetze der Galileischen Physik sind zwar selbst nicht sinnlich wahrnehmbar, aber sie sind Gesetze für die sinnlich erfahrbare Körperwelt. Die Keplerschen Bewegungsgesetze für die Planetenbewegungen sind auch nicht sinnlich wahrnehmbar, aber sie sind Gesetze für die Bewegungen der sinnlich erfahrbaren Himmelskörper. Die medizinischen Erkenntnisse der Physiologie setzen ebenfalls voraus, daß der menschliche Körper mit seinen Funktionen an ihm selbst wirklich ist. Wenn ich aufgrund der beiden methodischen Zweifelsgründe meine sonst selbstverständliche Zustimmung in bezug auf das vorstellungsunabhängige Wirklichsein der Körperwelt zurückhalte, habe ich damit nicht nur meine vorwissenschaftliche Erfahrungserkenntnis, sondern auch die Wahrheit der wissenschaftlichen Erkenntnis von der Körperwelt außer Geltung gesetzt. Von diesem Anhalten und Zurücknehmen meiner setzenden Zustimmung waren jedoch die allgemeinsten Wesensstrukturen der Körper nicht betroffen. Soweit es solche Wissenschaften gibt, die von diesen allgemeinsten Strukturen handeln, stehen auch sie und mit ihnen die Wahrheit ihrer Erkenntnissätze weiterhin in Geltung. Als Beispiele nennt Descartes die Mathematik mit ihren beiden Grunddisziplinen der Arithmetik und Geometrie. Diese hat die extensio, die Ausdehnung nach Länge, Breite, Tiefe, also den dreidimensionalen Raum zum Thema. Sie thematisiert die reinen Raumgestalten und Raumverhältnisse, unabhängig davon, ob sich die geometrischen Raumverhältnisse auch an wirklich vorhandehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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nen materiellen Körpern antreffen lassen. Die Arithmetik hat Zahl und Zahlverhältnisse zum Thema, unabhängig davon, ob es wirklich sinnlich erfahrbare Körper gibt, auf die die Zahlverhältnisse anwendbar sind. Daß diese allgemeinsten Wesensstrukturen: extensio, Figur, Zahl, und die sie thematisierenden Wissenschaften in ihrer Wahrheit nicht berührt werden durch den methodisch generalisierten Traum und die Zurücknahme der Wahrheit-setzenden Zustimmung, zeigt Descartes mit Blick auf den natürlichen Traum. Ob ich wache oder träume, stets hat das Quadrat vier Seiten, stets sind 2 + 3 = 5. Dem natürlichen Traum entnimmt Descartes den Anhalt dafür, daß vom bloß träumenden Vorstellen die essentiellen Bestimmungen nicht betroff en werden. Erwache ich aus einem natürlichen Traum, so erkenne ich, daß die im Traum wahrgenommenen Dinge bloß vorgestellte Dinge waren. Was ich im Traume als wirklich vorhandenes und so und so beschaffenes Seiende meinte wirklich wahrzunehmen, war in Wahrheit gar kein so beschaffenes wirklich vorhandenes Seiende, sondern ein bloßes Traumbild. Dennoch zeigen diese Traumbilder gewisse allgemeinste Strukturen, die sie mit den im Wachen wahrgenommenen wirklichen Dingen teilen. Selbst in den Fällen eines wirren Traumes sind die bloß geträumten Dinge räumlich extendiert wie die wirklichen Körper. Als räumlich extendiert sind die geträumten Dinge auch figuriert wie die wirklichen Dinge. Die im Traum bloß vorgestellten Dinge sind darüberhinaus wie die wirklichen Körper durch eine Größe im Raume bestimmt. Sie sind wie die wahrgenommenen wirklichen Dinge mittels der Zahl abzählbar und ausmeßbar. Sie befinden sich wie diese im Raumfeld an einem Ort und dauern in der Zeit und bewegen sich von Ort zu Ort in der Zeit. Diese allgemeinsten Strukturen sind die von Descartes benannten Wesensbestimmungen der Körper. Diese essentiellen Bestimmungen sind unempfindlich gegenüber dem Unterschied von bloß geträumter und wachend erfahrener Welt. Sie sind somit unempfindlich gegenüber dem Unterschied des Wirklichseins und des bloßen Vorgestelltseins der Körper. Denn sie sind nichtempirische sachhaltige Bestimmungen, die in ihrer Wahrheit von der Wirklichkeit des empirisch Sachhaltigen unabhängig sind. Diese https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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allgemeinsten Strukturen werden vom reinen Verstand in dessen reinen Begriff en gedacht. Es hatte sich gezeigt, wie durch den generalisierten Traum mit dem vorwissenschaft lichen Erfahrungswissen auch das wissenschaft liche Wissen jener Wissenschaften außer Geltung gesetzt wurde, die die sinnliche Erfahrungswelt in deren vorstellungsunabhängigem Wirklichsein zur Grundlage haben. Diese rationalisierten, weil mathematisierten empirischen Wissenschaften nennt Husserl die Tatsachenwissenschaften. Unberührt aber durch den methodisch generalisierten Traum bleiben die allgemeinsten Wesensstrukturen der Körper, weil sie vom Wirklichsein der Körperwelt unabhängig sind. Zugleich aber bleiben auch die mathematischen Wissenschaften von den allgemeinsten Wesensstrukturen der Körperwelt unberührt vom methodisch generalisierten Traum. Es sind die Wesenswissenschaften, wie Husserl sie nennt. Die Wahrheit ihrer Erkenntnisse steht weiterhin in voller Geltung. Aber auch die Erste Philosophie (Metaphysik) befaßt sich mit den allgemeinsten Wesensstrukturen der Körper, jedoch in anderer Weise als die mathematischen Wissenschaften. Die Geometrie thematisiert die extensio, den dreidimensionalen Raum. Doch ist es nicht ihre Aufgabe zu fragen, was die extensio und was die figura ist und wie sie erkannt werden. Die Frage nach dem Wesen des Raumes ist keine mathematische, sondern eine philosophische, eine metaphysische Frage. Die Geometrie setzt die extensio und deren Erkennbarkeit als gegeben voraus und thematisiert nur die reinen Raumverhältnisse. Die Arithmetik thematisiert die reine Zahlenreihe und die reinen Zahlenverhältnisse, ohne nach dem Wesen der Zahl zu fragen, was Aufgabe der Philosophie ist. Weil der Begriff der extensio und der Begriff der Zahl reine Begriffe sind, unabhängig in ihrer Wahrheit von Existenz oder Nichtexistenz der Körperwelt, haben diese Begriffe und die in ihnen gedachten reinen Wesensverhalte Gültigkeit sowohl für die im natürlichen Traum bloß geträumten Dinge wie auch für die wachend erfahrenen wirklichen Dinge. Das gleiche gilt nun auch für die mathematischen Wissenschaften und deren Erkenntnissätze. Die mathematischen Wesensverhalte wie die Vierseitigkeit des Quadrats oder die Summe von 2 + 3 = 5 https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

sind unempfindlich gegenüber dem Unterschied von Wach- und Traumwelt. Was für den natürlichen Traum gilt, gilt auch für den methodisch generalisierten Traum. Damit, daß ich in ihm die setzende Zustimmung anhalte in bezug auf das empirisch Einzelne und empirisch Allgemeine, bleiben die nichtempirischen Wesensbestimmungen, das in den reinen Begriffen Gedachte, und die auf sie bezogenen Wesenswissenschaften in Geltung. Im jetzigen Stadium des methodischen Zweifelsganges ist in den methodischen Zweifel gezogen: 1. das empirisch Sachhaltige in seiner Wahrheit (particularia und generalia); 2. das wirkliche Vorhandensein (existentia) des empirisch Sachhaltigen der Körper; 3. das wissenschaftliche Wissen der Tatsachenwissenschaften, die in der sinnlichen Erfahrungswelt ihren Boden haben. Ausgeschlossen aus dem methodischen Zweifel sind bisher noch: 1. die allgemeinsten Wesensbestimmungen (magis simplicia et universalia); 2. jene Wesenswissenschaften, die ihre Grundlage in diesen allgemeinsten Wesensbestimmungen haben. Descartes weist darauf hin, daß die mathematischen Erkenntnisse von der apodiktischen, d. h. der höchsten Gewißheit begleitet sind. Daher erscheint es als unmöglich, daß so augenscheinliche Wahrheiten (tam perspicuae veritates) wie die mathematischen in den Verdacht des möglichen Umschlags in Unwahrheit geraten können. Bei der methodischen Bezweiflung des Leistungssinnes der Sinnlichkeit wurde gesagt, daß das sinnliche Erkennen mit dem Unterschied zwischen wahrer Sinneswahrnehmung und Sinnestäuschung keine völlige Gewißheit hat und daß der Unterschied zwischen wacher Wahrnehmungswelt und Traumwelt keine strenge Gewißheit mit sich führt. Was nicht völlig gewiß ist, läßt sich grundsätzlich bezweifeln. Was bezweifelbar ist, kann nicht als das gesuchte absolut gewisse, weil absolut unbezweifelbare Fundament für die neu zu gründende Erste Philosophie und durch sie hindurch für die Wissenschaften dienen. Jetzt sieht es daher so aus, als ob das gesuchte Fundament schon gefunden sei. Das mathematische Wissen von den Raum- und Zahlverhältnissen scheint ein absolut unbezweifelbares Fundament abhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Fiktion: Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache

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zugeben. Denn es ist vom vorwissenschaftlichen Erfahrungswissen und dem wissenschaftlichen Wissen der Tatsachenwissenschaften durch seine ausgezeichnete, eben die apodiktische Gewißheit unterschieden.

§7 Die fi ktiv angesetzte Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache meines Verstandesdenkens als dritter Zweifelsgrund für die Wahrheit der Verstandeserkenntnis a) Die vetus opinio des allmächtigen und vollkommensten Schöpfergottes Auch für die essentiellen Bestimmungen der raum-zeitlich-materiellen Körper sowie für die apodiktisch gewisse Erkenntnis der Mathematik hält Descartes Ausschau nach einem möglichen Zweifelsgrund. Läßt sich auch für die kategorialen Wesensbestimmungen der Erfahrungsgegenstände, vor allem aber für die apodiktische Gewißheit der mathematischen Wissenschaften eine Möglichkeit aufzeigen, ihnen gegenüber die sonst als unantastbar erscheinende Wahrheit-setzende Zustimmung zurückzuhalten? Wenn Descartes auf seinem methodischen Zweifelsweg nach der Möglichkeit eines Zweifelsgrundes für die sonst gewisseste Wahrheit Ausschau hält, dann nicht aus einer blinden Zweifelssucht, sondern nur deshalb, weil mit der apodiktischen Gewißheit der Mathematik für ihn noch nicht die absolut unbezweifelbare Wahrheit, die absolute Gewißheit, gefunden ist, die auch noch die apodiktische Gewißheit der mathematischen Sätze zu gründen vermag. In der überlieferten, auf Descartes überkommenen scholastischen Metaphysik ist der Mensch im ganzen hinsichtlich seines leiblichanimalischen und seines geistigen Seins als animal rationale ein ens creatum, ein geschaffenes Seiendes. Die Endlichkeit des Menschen besteht in seinem Sein als Geschaff ensein, geschaffen durch das ungeschaffene Seiende, das ens increatum. Dieses ist das höchste Seiende, das summum ens, das vollkommenste Seiende, ens perfectishttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

simum, das allmächtige Seiende, ens omnipotens. Die Frage nach dem höchsten Seienden in seinem ontologischen Bezug zu allem anderen Seienden knüpft geschichtlich gesehen an den Aufriß der ontologischen Fragestellung des Aristoteles an. Diesem Aufriß gemäß fragt die Erste Philosophie des Aristoteles nach dem Seienden als dem Seienden, d. h. hinsichtlich seines Seins. Aber sie fragt nach dem Seienden als dem Seienden in zweifacher Weise: zum einen nach dem Seienden hinsichtlich seiner allgemeinsten Seinsstrukturen, nach dem ὂν καθόλου als dem ὂν κοινόν; zum anderen fragt sie nach dem vorzüglichsten als dem göttlichen Seienden, nach dem ὂν καθόλου als dem ὂν τιμιώτατον und dem θεῖον (Met. IV, 1003 a 21 ff.; VI, 1026 a 15 ff.; XI, 1064 a 33 ff.). Descartes führt in den Gang seines methodischen Zweifelns den Begriff vom allmächtigen Schöpfergott ein (Deus, qui potest omnia) (9. Abschnitt). Der erzählerische Stil und dessen Tonlage dürfen uns nicht dazu verleiten, über das Grundsätzliche dieses bedeutsamen Gedankenschrittes auf dem methodischen Zweifelsweg hinwegzusehen und hinwegzugehen. Denn in diesem Gedankenschritt wendet er sich dem Gipfel der überkommenen Metaphysik, der Metaphysik vom höchsten Seienden zu, die nun, da sie noch der höchsten Gewißheit entbehrt, ebenfalls dem methodischen Zweifel unterworfen wird. Denn es soll – wie es im 1. Abschnitt als Programm hieß – die Gesamtheit des bisherigen Wissens und somit auch das höchste metaphysische Wissen vom höchsten Seienden auf seine Unbezweifelbarkeit geprüft und deshalb zunächst von Grund aus umgestoßen werden (funditus omnia esse evertenda), um von den ersten Fundamenten neu zu beginnen (a primis fundamentis denuo inchoandum). Descartes beginnt so: Meinem Geist (meae menti) ist eine vetus opinio, eine altehrwürdige Meinung, eingeprägt, daß es einen Gott gebe (Deum esse), der alles vermag (potest omnia) und von dem ich so geschaffen bin, wie ich existiere (a quo talis, qualis existo, sum creatus). Descartes greift damit den Schöpfergott so auf, wie er Thema der patristisch-scholastischen Metaphysik ist. Für uns ist die Tatsache von Bedeutung, daß Descartes den reinen Vernunftbegriff von Gott als dem creator nicht als einen schon gesicherten Begriff https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Fiktion: Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache

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anspricht, sondern ihn kennzeichnet als eine überkommene Meinung (opinio). Am Schluß des 1. Abschnitts sagt Descartes, er wolle zu dem allgemeinen Umsturz seiner Meinungen schreiten (generali huic mearum opinionum eversioni vacabo). Aus der Einsicht in die vorläufige Ungesichertheit seines gesamten philosophischen und wissenschaftlichen Wissens charakterisiert er dieses Wissen vorerst als ein bloß meinendes, also noch nicht aus dem gesuchten neuen Prinzip der absoluten Unbezweifelbarkeit vergewissertes Wissen. Auch das höchste metaphysische Wissen vom höchsten Seienden soll aus dem gesuchten unbezweifelbaren Fundament her vergewissert werden. Solange diese Vergewisserung aus der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins noch aussteht, ist auch das metaphysische Wissen vom höchsten, dem göttlichen Seienden nur ein meinendes Wissen, eine vetus opinio. Das metaphysische Wissen von Gott bildet in der vorcartesischen Metaphysik das Fundament für alles andere metaphysische und wissenschaftliche Wissen. Dieses so angesetzte Wissensfundament entspricht jedoch nicht der Forderung Descartes’ nach absoluter Unbezweifelbarkeit. In den allgemeinen Umsturz des methodischen Zweifels muß daher auch das überlieferte höchste Wissen vom höchsten Seienden einbezogen werden mit dem Ziele, dieses Wissen allererst als ein unbezweifelbares einsichtig werden zu lassen. Deshalb muß vorerst dieses höchste Wissen als ein bislang nur meinendes Wissen gekennzeichnet werden. Denn das im Begriff Gottes Gedachte ist hinsichtlich seiner Wahrheit noch nicht aus einer absoluten Gewißheit, die es erst aufzufinden gilt, vergewissert. Zum Begriffsinhalt des überlieferten Gottesbegriffes gehört, daß das höchste Seiende nicht nur alles Seiende außer mir, sondern auch mich selbst ins Sein gebracht hat. Weil aber der Begriffsinhalt dieses Begriffes noch kein in seiner Wahrheit unbezweifelbar vergewissertes Wissen ist, hat Descartes die Möglichkeit, diesen Begriffsinhalt aus methodischen Gründen umzugestalten. Schließlich ergibt sich auch die Möglichkeit, die zum Begriffsinhalt des höchsten Seienden gehörende existentia Dei bezweifelnd in Frage zu stellen umwillen der gesuchten absolut unbezweifelbaren Gewißheit. Denn der gedanklich umgestaltete Gehalt des Gottesbegriffes hat zunächst diehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

selbe ungesicherte Gültigkeit wie der überlieferte Begriffsgehalt. Deshalb kann Descartes zuerst den begrenzten Zweifel gegen die überlieferte Wahrheit des Gottesbegriffes richten, um von hier aus, eben mittels des hypothetisch abgeänderten Gottesbegriffs, einen methodischen Zweifelsgrund gegen die apodiktische Gewißheit der reinen Verstandeserkenntnis und der mathematischen Erkenntnis zu gewinnen.

b) Der hypothetisch umgestaltete Gottesbegriff als Zweifelsgrund für die apodiktische Wahrheit der reinen Verstandeserkenntnis Angesichts der meinem Geist fest eingeprägten vetus opinio vom Schöpfergott, der auch mich so, wie ich existiere, geschaffen hat, fragt sich Descartes in seiner Selbstbesinnung: Woher weiß ich aber in gesicherter Weise, daß der allmächtige Schöpfergott nicht bewirkt hat, daß es außerhalb meines Bewußtseins überhaupt keine Erde, keinen Himmel und kein ausgedehntes Seiendes (res extensa) gibt, obwohl ich in der Meinung lebe, Erde und Himmel und räumlich extendierte Körper wahrzunehmen (9. Abschnitt)? Diese Frage müssen wir in ihrer philosophisch grundsätzlichen Abzielung verstehen. Es könnte sein, daß die Allmacht Gottes als das eine der Wesensprädikate des vollkommensten Seienden meine Täuschung in bezug auf das empirische Sosein und das Wirklichsein (existentia) der Körperwelt bewirke. Die Allmacht des summum ens könnte, weil sie die schaffende erste Ursache meines sinnlichen Erkenntnisvermögens ist, der Grund für ein ständiges Michtäuschen in bezug auf das vermeintlich sinnlich erfahrene Seiende in meinem Wachzustand sein. Durch diesen dritten Zweifelsgrund, die möglicherweise mich täuschende göttliche Seinsursache meiner selbst, hat Descartes den methodischen Zweifel zunächst am Erkenntnisprinzip der Sinnlichkeit verschärft. In seinem Zweifel an der Gewißheit des Gottesbegriffes und mittels dieses angezweifelten Gottesbegriffes setzt Descartes seinen Weg des methodischen Zweifels fort. Woher weiß ich denn in https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Fiktion: Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache

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der von mir geforderten Unbezweifelbarkeit, daß der allmächtige Schöpfergott nicht etwa bewirkt hat, daß es auch keine räumliche Ausdehnung in ihrer Dreidimensionalität (extensio), keine Raumgestalt (figura), keine Raumgröße (magnitudo) und keinen Ortsraum (locus) gibt, und daß dennoch alles dies für mich zu geben scheint als die wahren Wesensbestimmungen? Es könnte doch sein, daß die Allmacht des ens omnipotens, weil sie die schaff ende Ursache auch meines Verstandesvermögens ist, der Grund sei für ein ständiges Michtäuschen auch in bezug auf das, was mein Verstand mit größter Gewißheit zu erkennen und einzusehen meint. Diesen methodisch angesetzten Zweifel am Leistungssinn des Verstandesdenkens treibt Descartes so weit, daß er nun sogar an der apodiktischen Gewißheit der mathematischen Wesensverhalte zweifelt. Wie kann ich mich dessen vergewissern, daß mein Verstandesvermögen von seinem es hervorbringenden Grund nicht etwa dergestalt ins Seins gebracht ist, daß ich mich selbst dort täusche, wo ich meine, mit apodiktischer Gewißheit zu erkennen? Um diesen methodischen Zweifel noch zu verstärken, weist er auf das Faktum hin, daß wir uns gelegentlich auch dann täuschen, wenn wir überzeugt sind, mit apodiktischer Gewißheit zu erkennen. Gegen diese methodische Umgestaltung des summum ens, wonach dieses mein Erkenntnisvermögen im ganzen so ins Sein gebracht hat, daß ich mich in allem täusche, was ich sinnlich und verstandesmäßig zu erkennen meine, führt Descartes im Sinne eines Selbsteinwandes zunächst ein weiteres Wesensprädikat aus dem Gottesbegriff an: die Allgüte (bonitas) (Gott als summe bonus). Die Allgüte des Schöpfergottes scheint die soeben ausgesprochene Annahme, dieser Gott könnte den menschlichen Geist als einen sich stets täuschenden geschaffen haben, nicht zuzulassen. Allein, auch dieses Wesensprädikat ist wie alle anderen hinsichtlich seiner Wahrheit noch nicht als unbezweifelbar erwiesen. Man muß sogar fragen, wie sich die Allgüte mit dem unleugbaren Faktum des gelegentlichen Irrtums verträgt. Zu Beginn des 10. Abschnitts gibt Descartes zunächst einmal zu: Was er jetzt über die göttliche Schöpfungsursache gesagt habe, daß diese das menschliche Erkenntnisvermögen möglicherweise als ein stets sich täuschendes hervorgebracht habe, sei im Sinne des methohttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

dischen Zweifels eine bloße Fiktion. Doch diese methodische Fiktion ist kein willkürliches Sichausdenken, sondern eine aus dem methodischen Zweifel begründete gedankliche Umbildung des überlieferten Gottesbegriffes. Descartes geht nun aber in seinem methodischen Zweifel am Inhalt dieses Gottesbegriffes noch einen Schritt weiter. Jetzt probiert er den Gedanken aus, daß gar kein Gott existiert, daß auch die göttliche Schöpfungsursache mit ihren Wesensprädikaten ein bloß bewußtseinsimmanent Vorgestelltes ist, ein bloßes Gedankending, dem außerhalb des Bewußtseins kein existierender Gott entspricht. Denn es ließe sich auch annehmen, daß ich durch Schicksal (fato), Zufall (casu), Verkettung der Umstände (continuata rerum serie) zu dem geworden bin, was ich als vermeintlich Erkennender von an ihm selbst Wahrem und Wirklichem bin. Bezweifle ich das Wirklichsein (existentia) des Schöpfergottes, dann ist es sogar noch eher möglich, daß mein Erkenntnisvermögen im ganzen sich täuscht in bezug auf das, was es zu erkennen vorgibt. Diese Möglichkeit ist deshalb größer, weil eine nichtgöttliche Seinsursache seinsschwächer ist als eine göttliche Seinsursache, die ihrer Definition nach als das vollkommenste Seiende (ens perfectissimum) seinsstärker ist. Worin auch immer die Seinsursache meines Geistes (mens), meines Verstandes (intellectus) beruhen mag, das gelegentliche Sichtäuschen im Bereich der sinnlichen Erkenntnis und der reinen Verstandeserkenntnis sei immerhin Ausdruck einer Unvollkommenheit (imperfectio) meiner sinnlichen und verstandesmäßigen Erkenntnis. Diese Unvollkommenheit meines Erkenntnisvermögens, der gemäß ich mich auch im Bereich der apodiktisch gewissen Erkenntnis zu täuschen vermag, weist für Descartes zunächst auf eine geringere Macht der göttlichen oder nichtgöttlichen Seinsursache hin. Das Faktum des gelegentlichen Michtäuschens und Michirrens in der sinnlichen und verstandesmäßigen Erkenntnis deutet für Descartes darauf hin, daß auch das reine Verstandesdenken in seinem Leistungssinn nicht absolut unbezweifelbar ist. Die Tatsache der Unvollkommenheit meines Erkenntnisvermögens motiviert Descartes zum methodischen Zweifel an der Wahrheit des Verstandesdenkens. Nach der methodischen Anweisung für den zweifelnden Umsturz der Gesamtheit des bisher als gesichert vermeinten Erkenntniswissens genügt es, nur einen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Fiktion: Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache

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einzigen Zweifelsgrund ausfindig zu machen, um vorläufig meine setzende Zustimmung (pro veris admittere) auch dem gegenüber zurückzuhalten, was ich verstandesmäßig mit Sicherheit und apodiktischer Gewißheit zu erkennen meine. Weil mir die Seinsursache meines Erkenntnisvermögens vorläufig nur bekannt ist in Gestalt des noch ungewissen Begriffes vom Schöpfergott, und weil zugleich das Faktum meines gelegentlichen Michtäuschens und Michirrens die Unvollkommenheit auch meines Verstandesdenkens zeigt, hat Descartes, hat das methodisch zweifelnde Ich die Möglichkeit, hieraus einen generellen Zweifelsgrund zu bilden. Dieser generelle Zweifelsgrund, jetzt gerichtet vor allem gegen die Wahrheit des Verstandesdenkens, besagt: Die im überlieferten Gottesbegriff mitgedachte Allmacht, verbunden mit der Allgüte, ist keineswegs schon in der geforderten Weise absolut vergewissert. Weil ich mich gelegentlich auch in dem, was ich apodiktisch zu erkennen meinte, täusche, ist von der Unvollkommenheit meines Verstandesvermögens her sogar eher auf eine Unvollkommenheit meiner ersten Seinsursache zu schließen. Diese Unvollkommenheit wäre zwar nicht meiner eigenen Unvollkommenheit gleich, aber sie würde besagen, daß meiner Seinsursache nicht die vollkommene Allmacht eignet, sondern nur eine große Macht, die mein Erkenntnisvermögen so verursacht hat, daß ich mich in meinem von mir vermeinten Erkennen in Wahrheit stets täusche. Damit ist der Gang des methodischen Zweifels zu seinem Abschluß gekommen. Descartes faßt gegen Ende des 10. Abschnittes zusammen: Ich muß zugestehen, daß an allem, was ich einst für wahr hielt (quae olim vera putabam), zu zweifeln möglich ist, d. h. daß der Umschlag von Wahrheit in Unwahrheit, von Sein in Nichtsein denkbar sei, nicht aus Willkür, sondern aus starken und überlegten Gründen (propter validas et meditatas rationes). Ich muß – so Descartes – in der schrittweise eingenommenen Zweifelseinstellung von der Gesamtheit meines Erkenntniswissens die setzende Zustimmung zurückhalten (assensionem esse cohibendam), so, wie ich es in der natürlichen Erkenntnis gegenüber dem als unwahr Eingesehenen getan habe. Diese Zurückhaltung meiner setzenden Zustimmung betrifft die Gesamtheit meiner Erkenntnisgegenstände: 1. das in allen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

Weisen des sinnlichen Erfahrens Erfahrene, 2. die durch den Verstand gedachten kategorialen Wesensbestimmungen des körperlich Seienden, 3. das im Begriff von Gott gedachte unendliche Seiende, 4. die Tatsachen- und die Wesenswissenschaften. Die willentlich bestimmte Zurückhaltung meiner setzenden Zustimmung ist eine generelle. Der methodische Zweifel ist zu einem generellen Zweifel geworden. Das methodische Zweifeln ist ein generelles Außer-Geltung-setzen der Wirklichkeits- und Wahrheitssetzung meines gesamten vorwissenschaftlich-natürlichen Wissens, meines wissenschaftlichen Wissens und meines metaphysischen Wissens, dessen höchstes Wissen das vom höchsten Seienden ist. Auch die Metaphysik in ihrem überlieferten Grundbestand ist von Descartes in den methodischen Zweifel gezogen: die ontologischen Erkenntnisse in bezug auf existentia und essentia des geschaffenen materiellen Seienden und die höchste metaphysische Erkenntnis vom höchsten Seienden. Für das Ganze des menschlich Wißbaren, d. h. für das außerwissenschaft liche Wissen der alltäglichen Welterfahrung, für das wissenschaft liche Wissen der Tatsachenwissenschaften und der Wesenswissenschaften und für das ontologisch-metaphysische Wissen vom endlichen und vom unendlichen Seienden soll ein erstes und absolut gewisses, absolut unbezweifelbares Prinzip und Fundament aufgesucht werden, das sich bisher dem meditierenden Ich noch nicht gezeigt hat.

c) Der methodische Zweifel als willentlich ausgebildete methodische Grundhaltung: die cartesianische Epoché Descartes beendet die I. Meditation damit, daß er die schrittweise vollzogene Zurückhaltung der setzenden Zustimmung in bezug auf das sinnlich und verstandesmäßig Erkannte nunmehr zu einer willentlichen-methodischen Grundhaltung des philosophierenden Ich ausbildet. Es ist die philosophisch-meditative Grundhaltung. In ihr enthalte ich mich vorläufig der Wirklichkeitssetzung und der Wahrheitssetzung in bezug auf das Ganze des von mir gegenständlich Erkannten und Erkennbaren. Diese willentlich ausgebildete methodihttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Fiktion: Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache

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sche Grundhaltung der cartesianischen Meditationen können wir nun im Anschluß an Edmund Husserl als die Cartesianische Epoché bezeichnen. Der Sinn des cartesianischen methodischen Zweifels liegt in dieser Epoché, in diesem generellen Außer-Vollzug-setzen der Seins- und Wahrheitssetzung in bezug auf das Ganze meiner gegenständlich gerichteten Erkenntnis.1 Es genüge nicht – so Descartes –, auf dem methodischen Zweifelsgang einmal bemerkt zu haben, daß man an allem sinnlich und verstandesmäßig erkennbaren Seienden zweifeln könne (11. Abschnitt). Man müsse vielmehr die Einsicht in die Bezweifelbarkeit (in den möglichen Umschlag von Sein in Nichtsein und von Wahrheit in Falschheit) stets wachhalten gegen die Gefahr des Zurückgleitens in die gewohnten Meinungen der vormeditativen, vorphilosophischen Haltung. Das zur vormeditativen Verhaltung gehörende Vertrauen in den Leistungssinn der Sinnlichkeit und des Verstandes ist so groß, daß die meditative Einstellung, die Zurückhaltung der Seins- und Wahrheitssetzung, gegen das natürliche Seins- und Wahrheitsvertrauen errungen werden muß. Nur die einmalige Einsicht in die Bezweifelbarkeit meines bisherigen sinnlichen und verstandesmäßigen Erkenntniswissens genügt noch nicht, um meine setzende Zustimmung im ganzen anzuhalten. Denn mein bisheriges Erkenntniswissen mag zwar hinsichtlich seiner Wahrheit einigermaßen zweifelhaft sein, dennoch gibt es sich als sehr wahrscheinlich aus, so, daß es vernünftiger erscheint, dem sinnlich Erfahrenen und verstandesmäßig Erkannten die setzende Zustimmung zu belassen als sie ihm zu entziehen. Die Macht der zustimmenden Setzung in der vormeditativen Weltverhaltung ist so groß, daß sie auch nicht durch den Nachweis von Zweifelsgründen erschüttert wird. Deshalb muß mit Hilfe der gefundenen Zweifelsgründe die methodische Zweifelshaltung eigens als methodische Grundhaltung des meditativ Philosophierenden ausgebildet werden. Dies geschieht dadurch, daß sie ausdrücklich gegen die Zugrichtung der setzenden Zustimmung in der vormeditativen Erkenntnishaltung eingenommen und willentlich wachgehalten wird. Wenn ich in der methodi1

Vgl. Cassirer 1995, 28.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

schen Zweifelshaltung die der natürlichen Zugrichtung entgegengesetzte Richtung einschlage, dann – so Descartes – täusche ich mich gewissermaßen selbst wissentlich. Ich täusche mich wissentlich insofern, als ich gegen die natürliche Zugrichtung der zustimmenden Setzung so tue, als ob mein gesamtes bisheriges Erkenntniswissen in sich unwahr sei und nur den Charakter von bloß in mir Vorgestelltem, Eingebildetem habe. Dieses So-tun-als-ob ist die methodisch begründete Fiktion. Ich nehme mein gesamtes gegenständlich gerichtetes Erkenntniswissen so, wie ich sonst ein als falsch eingesehenes Wissen nehme: als eine Täuschung. Eine Fiktion ist es, weil ich die Gesamtheit meines Wissens nicht etwa wirklich als ein in sich Unwahres eingesehen hätte. Ich tue nur so, als ob, aber ich kann und darf so tun, weil die Gesamtheit meiner Erkenntnisse sich noch nicht als unbezweifelbar erwiesen hat. Nur wenn ich diese generelle Aussetzung meiner setzenden Zustimmung vollziehe, wird es mir möglich, auf das gesuchte erste Prinzip des Seins, der Wahrheit und der Erkenntnis zu stoßen, dem gegenüber der generelle Zweifel versagt, d. h. ein Prinzip, dem ich nicht die Seins- und Wahrheitssetzung entziehen kann. Im letzten, dem 12. Abschnitt der I. Meditation gibt Descartes eine zusammenfassende Überschau über das methodisch Bezweifelte: So will ich denn in der jetzt willentlich eingenommenen und für mich selbst wachgehaltenen Zweifelshaltung annehmen (supponam), daß nicht der allgütige Gott (non optimum Deum) die Quelle der Wahrheit sei (fontem veritatis), sondern daß es irgendeinen boshaften Geist (genium aliquem malignum) gibt, d. h. ein solches summum ens, zu dessen Wesensprädikaten nicht die Allgüte (bonitas) gehört. Ich will in meiner generellen Zweifelshaltung annehmen, daß dieser genius malignus höchst mächtig und verschlagen sei (summe potentem et callidum) und meinen Geist im ganzen so hervorgebracht hat, daß ich mich nicht nur gelegentlich, sondern stets täusche. In dieser methodisch ausgebildeten Zweifelshaltung will ich annehmen, daß alles äußere raum-zeitlich-materielle Seiende nicht das ist, als was ich es sinnlich und verstandesmäßig zu erkennen meine, daß dieses somit keinen anderen Bestand habe als den von bloßen Traumbildern. Descartes zählt auf: Himmel, Luft https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Fiktion: Unvollkommenheit der göttlichen Seinsursache

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und Erde und alle Dinge zwischen Himmel und Erde und auf der Erde, ferner alles, was wir an den Dingen vernehmen wie ihre Farbe, ihre empirische Gestalt usf. Zu diesen äußeren Dingen (cuncta externa) gehört auch mein eigener Körper. In dieser zusammenfassenden Überschau über das methodisch außer Geltung Gesetzte sieht es so aus, als beachte Descartes jetzt nur das, auf das die sinnliche Erkenntnis bezogen ist. Doch er spricht hier in einer Verkürzung. Zählt er die Dinge auf, die in den methodischen Zweifel gezogen sind, dann meint er die Dinge im ganzen dessen, was ich an ihnen zu erkennen meine: was einerseits der Sinnlichkeit zugänglich ist (empirisches Sosein und existentia) und andererseits dem Verstande (die essentiellen Bestimmungen). Hartnäckig werde ich – so Descartes – in dieser methodischen Besinnung verbleiben (manebo obstinate in hac meditatione) und darauf achten, daß ich keinem Wissensgehalt meine setzende Zustimmung gebe, solange dieser für mich bezweifelbar ist, d. h. in der Zwiefalt von Wahr oder Unwahr steht. Auf diese Weise werde ich mich von dem freilich nur fi ktiv, aber methodisch angesetzten Betrüger (deceptor) nicht mehr hintergehen lassen und meinen, ich hätte bereits gesicherte Erkenntnis vom sinnlich wirklichen und geistig idealen Seienden. Die jetzt von mir methodisch eingenommene Zweifelshaltung ist Resultat meiner fi ktiv angesetzten Einsicht, daß ich in meinem gesamten gegenständlich gerichteten Erkennen ständig getäuscht werde. Solange ich mich in der vormeditativen Einstellung befinde, erliege ich gewissermaßen ständig diesem täuschenden Spiel, zu meinen, das Seiende in seinem empirischen Sosein und in seinem Wirklichsein sowie in seinem nichtempirischen Wassein wahrhaft zu erkennen. Descartes beschließt die I. Meditation mit der philosophisch bedeutsamen Bemerkung, daß das Durchhalten dieser wachsamen Zweifelshaltung ein mühevolles Vorhaben sei (laboriosum institutum) und daß eine gewisse Trägheit (desidia quaedam) den meditativ Philosophierenden zur Gewohnheit des Lebens (ad consuetudinem vitae), zur vormeditativen Lebenseinstellung, zurückführe. Damit spricht Descartes die für jeden Philosophierenden notwendige Rückkehr in die vorphilosophische Einstellung des alltäglichen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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1. Kapitel: Der Weg des methodischen Zweifels

Lebensvollzuges aus. Er weist aber auch darauf vor, daß es beim Wiederaufnehmen des meditativen Philosophierens als erstes erneut des Übergangs aus der natürlichen Lebenseinstellung in die meditative Einstellung des generellen methodischen Zweifels bedarf.

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Z W E I T E S K A PI T E L DA S SE L B S T BE W US S TSE I N A L S DA S G E SUCH T E A B SOLU T U N BE Z W E I F E L BA R E E R S T E PR I N Z I P DE R E R S T E N PH I L O S O PH I E U N D A L L E R I N I H R G RÜ N DE N DE N W I S S E NS CH A F T E N Descartes gibt der II. Meditation die Überschrift: De natura mentis humanae: Quod ipsa sit notior quam corpus – Über die Natur (das Wesen) des menschlichen Geistes, daß er sich selbst bekannter ist als ihm der Körper bekannt ist.

§8 Die ontologische Frage nach der absolut gewissen Seinsweise des Wirklichseins (existentia) des Selbstbewußtseins a) Wiederaufnahme der generellen methodischen Zweifelshaltung Das Bild, in dem Descartes im 1. Abschnitt der II. Meditation seine eigene Situation nach der I. Meditation veranschaulicht, ist keine überflüssige literarische Ausschmückung, sondern ist von sachaufschließender Relevanz. Denn er vergleicht die von ihm aufgesuchten Zweifelsgründe und die daraus entfaltete methodische Zweifelshaltung mit jener Situation, in die ich gerate, wenn ich, im Wasser schwimmend, plötzlich in einen tiefen Strudel gerissen werde. So wie ich in diesem Strudel zwischen dem Grund und der Wasseroberfläche schwebe, ohne auf dem Grund festen Fuß fassen oder an die Oberfläche schwimmen zu können, ebenso vermag ich jetzt nach vollzogenem Zweifelsgang weder schon auf einem gefundenen absolut unbezweifelbaren Fundament festen Fuß zu fassen noch unter Mißachtung der methodischen Zweifelsgründe in die vertraute vorhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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2. Kapitel: Selbstbewußtsein als erstes Prinzip

meditative Selbst- und Weltverhaltung zurückzukehren. Am Ende der I. Meditation war Descartes in die vormeditative, natürliche Selbst- und Weltverhaltung zurückgekehrt, und zwar für die Zeit der Aussetzung des meditativen Philosophierens. Jetzt gilt es aber, dieses Philosophieren wieder aufzunehmen, was erfordert, sich erneut dem Wirbel des Strudels auszusetzen und aus der vormeditativen in die meditative Zweifelseinstellung zurückzukehren. Innerhalb dieser habe ich vorerst noch keinen festen Stand, noch keine absolut unbezweifelbare Erkenntnis gewonnen. Diese vorläufige Situation darf mich aber nicht dazu veranlassen, die methodischen Zweifelsgründe in den Wind zu schlagen und ohne das methodische Anhalten der Wahrheits- und Wirklichseinssetzung in direkter Zuwendung zu den Erkenntnisgegenständen zu philosophieren. Darin spricht sich der Wille aus, fortan nur noch aus der methodischen Zweifelshaltung heraus zu philosophieren, um innerhalb dieser das erste Prinzip absoluter Gewißheit zu entdecken. Denn die Wahrheit der philosophischen Erkenntnis soll fortan nur noch die absolute Gewißheit sein – eine Gewißheit, die absolut unbezweifelbar ist. Die absolute Unbezweifelbarkeit läßt sich jedoch nur innerhalb der durchgehaltenen methodischen Zweifelshaltung gegenüber allem Bezweifelbaren auffinden. Er wolle – so Descartes – von neuem den in der I. Meditation beschrittenen Weg versuchen und alles von sich entfernen, was auch nur den geringsten Zweifel zuläßt (removendo illud omne, quod vel minimum dubitationis admittit), und solange weiter vordringen, bis er irgendetwas Gewisses (aliquid certi) erkenne. Falls sich dieses nicht zeigen sollte, würde er wenigstens zu der negativ gewissen Erkenntnis gelangen, daß es nichts Gewisses (nihil certi), d. h. kein absolut Unbezweifelbares gibt. Descartes vergleicht seine Suche mit derjenigen des Archimedes. So wie dieser einen Punkt erstrebte, der fest und unbeweglich ist (firmum et immobile), um von ihm aus die ganze Erde von ihrem Ort zu bewegen, so kann auch ich Großes hoffen, wenn ich nur das geringste finde, das sicher und unerschütterlich ist (certum et inconcussum). Die ganze Erde von ihrem Ort bewegen heißt in der Analogie für Descartes, das ganze Gebäude der Wissenschaften, also die Ganzheit von Erster Philosophie und allen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 8. Wirklichsein des Selbstbewußtseins

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positiven Wissenschaften von dieser gefundenen ersten unbezweifelbaren Gewißheit her in ihrer Wahrheit zu begründen. Zu Beginn des methodischen Zweifelsweges sagten wir, Descartes beginne nicht blindlings mit dem Zweifel zu philosophieren, vielmehr sei der Zweifelsweg aus der antizipierenden Einsicht in das absolut unbezweifelbare Selbstbewußtsein entworfen. Dieses Selbstbewußtsein kann sich als ein einzigartig Gewisses nur zeigen, wenn zuerst alles andere dem Zweifel, der Zwiefalt des ›wahr oder unwahr‹, verfallen ist.

b) Die Blickwendung des methodisch zweifelnden Ich. Drei Schritte der Einsicht in das absolut unbezweifelbare Ich-bin (ego existo) Im 2. Abschnitt vergegenwärtigt sich Descartes aufs neue die Gesamtheit dessen, was er in der I. Meditation in den methodischen Zweifel zurückgerufen hat. Durch diese Vergegenwärtigung bringt er sich erneut in die methodische Zweifelseinstellung. Wenn Descartes eigens betont, er glaube in der methodischen Zweifelshaltung, daß nichts jemals von dem, was das trügerische Gedächtnis repraesentiert, existiert hat (nihil umquam exstitisse eorum, quae mendax memoria repraesentat), dann haben wir hier ein Beispiel dafür, wie er nicht nur dem gegenwärtig Wahrgenommenen, sondern auch dem im Gedächtnis bewahrten Wahrgenommengewesenen die sonst selbstverständliche Seinssetzung entzieht. Wenn ich an der Gesamtheit des von mir sinnlich und verstandesmäßig Erkannten zweifeln kann, wenn sich nicht einmal das höchste Seiende als absolut unbezweifelbar erweist, ist dann nicht das methodisch zweifelnde Ich bereits zu dem Ergebnis gekommen, daß es überhaupt kein Seiendes gibt, von dessen Sein sich sagen ließe, es sei unbezweifelbar? Das in der methodischen Zweifelseinstellung sich haltende Ich scheint weit von seinem Ziele entfernt zu sein, nämlich ein absolut Gewisses zu entdecken, dessen Gewißheit noch höher ist als die apodiktische Gewißheit der Mathematik. Und dennoch ist dieses Ich dem von ihm gesuchten absolut Gewissen so nahe wie nur möghttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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2. Kapitel: Selbstbewußtsein als erstes Prinzip

lich. Denn es bedarf nur einer Umkehrung und Zurückbeugung seines methodisch zweifelnden und die setzende Zustimmung in gegenständlicher Richtung anhaltenden Blickes. Bisher war der methodisch zweifelnde Blick stets gerichtet auf das gegenständlich Gewußte und Erkannte des sinnlichen Erfahrens wie des verstandesmäßigen Denkens und Erkennens. Die Gesamtheit des sinnlich Erfahrenen und verstandesmäßig Gedachten und Erkannten wurde auf mögliche Unbezweifelbarkeit hin geprüft. Doch in dieser gegenständlichen Erkenntnisrichtung zeigt sich mir als dem methodisch zweifelnden Ich nichts, was nicht in irgendeiner Weise hinsichtlich seiner Wahrheit bezweifelbar wäre. Hier aber bedarf es nur noch der Umkehrung des gegenständlich gerichteten Blickes, der Blickwendung des methodisch zweifelnden Ich auf sich selbst als dieses zweifelnde Ich, um das gesuchte absolut Unbezweifelbare zu entdecken. Diese alles entscheidende Blickwendung vollzieht Descartes im 3. Abschnitt der II. Meditation. Hier erblickt er das eigene methodisch zweifelnde Ich als das gesuchte absolut unbezweifelbare erste Prinzip für alles Wissen und Erkennen und für alles gegenständlich Gewußte und Erkannte. Die entscheidende Entdeckung vollzieht sich in drei Schritten. Jeder dieser Schritte ist eine eigenständige unmittelbare Einsicht in die absolut unbezweifelbare Selbstgegebenheit des eigenen methodisch zweifelnden Ich. Indem sich im methodisch zweifelnden Ich plötzlich die für alles Folgende entscheidende Einsicht ankündigt, fragt es sich selbst: Woher weiß ich denn in gesicherter Weise, daß es nichts von dem in Gedanken schon Durchgegangenen Verschiedenes gibt, für das es nicht den geringsten Anlaß des Zweifelns gibt? In dieser an sich selbst gerichteten Frage spricht sich schon die plötzliche Einsicht in das wahrhaft Unbezweifelbare aus. In den nun folgenden Sätzen des 3. Abschnittes wird diese revolutionäre Entdeckung in der Weise von drei selbständigen Einsichten entfaltet. Erster Schritt. In der I. Meditation wurde schon einmal der methodische Zweifel an der Existenz des Schöpfergottes ausgesprochen. Denn ich könnte auch durch eine nichtgöttliche Seinsursache zu dem geworden sein, der ich als erkennendes Wesen bin. Im Anhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 8. Wirklichsein des Selbstbewußtseins

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schluß daran wurde als dritter Zweifelsgrund (ratio dubitandi) das summum ens als genius malignus umgedacht. Dieser könnte mein Erkenntnisvermögen so hervorgebracht haben, daß ich zwar vermeine, Wirkliches und an ihm selbst Wahres zu erkennen, während ich aber in Wahrheit stets getäuscht werde. Diesen dritten Zweifelsgrund greift Descartes jetzt wieder auf, wenn er fragt: Existiert etwa irgend ein Gott (aliquis Deus) oder mit welchem Namen auch immer ich jenen nennen soll, der mir diese sinnlichen und verstandesmäßigen Vorstellungen einflößt (qui mihi has ipsas cogitationes immittit) und mich meinen läßt, Wahres und Wirkliches zu erkennen? Doch der Existenz dieses genius malignus bedarf es gar nicht, um in meiner gegenständlich gerichteten Erkenntnis insgesamt getäuscht zu werden. Denn es ließe sich ebensogut annehmen, Ich selber sei der Urheber jener mich in ihrer gegenständlichen Richtung täuschenden Vorstellungen (cum forsan ipsemet illarum auctor esse possim). Denn auch im natürlichen Traum bin ich selbst der Urheber meiner Traumwelt. Wenn ich selber aber als das mich möglicherweise in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell täuschende Ich der Urheber meiner gegenständlichen Täuschung sein sollte, dann muß also wenigstens Ich selber (als dieses sich selbst unwissentlich täuschende Ich) Irgendetwas sein (ergo saltem ego aliquid sum). Das ist die erste Einsicht in das absolut unbezweifelbare Sein meines eigenen methodisch zweifelnden Ich. Wenn Ich mich selbst hinsichtlich des von mir gegenständlich Gewußten täuschen sollte, kann Ich mich nicht auch noch hinsichtlich des Wirklichseins (existentia) meines Ich täuschen. Ich muß für mich selbst notwendig existieren, wenn ich mich hinsichtlich alles gegenständlich Vorgestellten selbst täuschen sollte. Ich muß für mich selbst notwendig existieren als das sich selbst in gegenständlicher Hinsicht möglicherweise selbst täuschende Ich. Zweiter Schritt. Gegen diese erste Einsicht formuliert das meditierende Ich einen Selbsteinwand, der die Funktion einer Überleitung zur zweiten Einsicht in denselben Sachverhalt hat. Wie soll Ich notwendig, also unbezweifelbar existieren, da Ich doch bei Wiederaufnahme meiner methodischen Einstellung ausdrücklich meine setzende Zustimmung auch gegenüber meinem eigenen Leib zurückhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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genommen habe? Wenn Ich mir indessen dieses Vorgehen vergegenwärtige, halte ich inne und frage mich: Was soll daraus folgen, daß sich auch mein Leib in seinem Wirklichsein als bezweifelbar erwies? Heißt das, daß Ich als Ich so an meinen Leib gebunden bin, daß Ich als Ich ohne diesen nicht existieren kann? Ich habe während meines methodischen Zweifelns mir mit Hilfe der methodischen Zweifelsgründe eingeredet (mihi persuasi), daß durchaus nichts in der Welt, kein Himmel, keine Erde, keine bewußtseinsäußeren Körper, mithin auch keine im Körper existierenden Geister (mentes) wahrhaft existieren. (Hier ist von Bedeutung, daß Descartes die methodische Bezweiflung der wahren Existenz der anderen ichlichen Wesen, die ich selbst nicht bin, jetzt eigens nachholt. Der Andere war insofern durch den methodischen Zweifelsgang schon mit in den Zweifel gezogen, als der Körper des Anderen mit allen anderen ausgedehnten Körpern zum bloß Vorgestellten geworden war. Wie aber verhält es sich mit dem Ich des Anderen, dem alter ego, wenn Descartes jetzt zeigen will, daß mit der Bezweiflung meines eigenen Körpers mein Ich als Ich nicht auch bezweifelbar ist? Nur das eigene Ich ist sich selbst unmittelbar gegeben, d. h. nicht vermittelt über die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Deshalb kann sich nur das eigene Ich hinsichtlich seines Ichseins so vergewissern, daß es sich darin als absolut unbezweifelbar zeigt. Demgegenüber ist das andere Ich für mich zuerst nur über meine unmittelbare Wahrnehmung des fremden Körpers mittelbar gegeben. Das alter ego meldet sich für mich aus dem für mich fremden Körper als diesem einwohnend, ohne daß ich das alter ego für mich zur unmittelbaren Selbstgegebenheit bringen könnte. Deshalb ist mit dem fremden Körper auch das fremde Ich in den methodischen Zweifel gezogen, obwohl es selbst als Ich nicht körperlich ist.) Descartes hatte sich soeben gefragt: Wenn Ich mir auf dem methodischen Zweifelsweg eingeredet habe, es gäbe keine wirkliche materielle Welt, keinen wirklichen materiellen Körper und auch keine wirklichen anderen verleiblichten Iche, dann existiere Ich wohl auch nicht unbezweifelbar, sondern gehöre selber zum grundsätzlich Bezweifelbaren? Doch diese Folgerung ist ganz und gar unzutreffend. Das methodisch zweifelnde Ich antwortet sich selbst: Ich war gewiß https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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(certe ego eram), Ich existierte und existiere auch jetzt, wenn Ich mir etwas in methodischer Absicht eingeredet habe. Das Mir-etwas-einreden ist nichts anderes als das methodische Zweifeln und Anhalten meiner setzenden Zustimmung in bezug auf das an ihm selbst Wirklichsein und Wahrsein alles von mir gegenständlich Vorgestellten. Wir müssen die absolut unbezweifelbare Existenz meines Ich als Ergebnis der Selbstvergewisserung begreifen. Um diese Selbstvergewisserung vollziehen zu können, darf ich als philosophierendes Ich die Selbstgewißheit nicht etwa als einen Sachverhalt im gegenständlichen Gegenüber suchen. Für die Einsicht in das sich selbst vergewissernde Ich, das sich als absolut unbezweifelbar erfährt, darf Ich mich selbst nicht verlassen, um meine Selbstgewißheit im Gegenüber zu suchen, so, wie wir alle gegenständlichen Sachverhalte des realen und idealen Seienden im gegenständlichen Gegenüber vorstellen. Während Ich für Mich durch den methodischen Zweifel alles von mir gegenständlich Vorgestellte zu einem bloß Vorgestellten verwandle, wozu auch der eigene Körper gehört, kann Ich nicht auch Mich selbst zu einem bloß vorgestellten, für mich selbst nicht existierenden Ich verwandeln. Versuche ich es, auch noch mich selbst als dieses in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell zweifelnde Ich in diesen Zweifel miteinzubeziehen, dann ist es doch wieder mein zweifelndes Ich, das diesen Versuch unternimmt und für diesen Versuch gerade notwendig existieren muß. Das methodisch zweifelnde Ich entzieht sich selbst notwendig dem Versuch, das eigene Wirklichsein in ein bloß Vorgestelltsein zu verwandeln. Dritter Schritt. In einem dritten und letzten Schritt der Entdekkung der absoluten Unbezweifelbarkeit des eigenen zweifelnden Ich greift Descartes wieder auf den genius malignus aus der I. Meditation zurück. Dieser war das Ergebnis der methodisch begründeten Umbildung des Deus optimus und bildete den dritten Zweifelsgrund. Der dritte Schritt in der unmittelbaren Einsicht in die absolute Unbezweifelbarkeit des eigenen, in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell zweifeln könnenden Ich besteht darin, diesen dritten Zweifelsgrund versuchsweise auch gegen das Wirklichsein meines zweifelnden Ich zu richten. Wenn nicht Ich selbst der Urheber meiner Täuschung sein sollte, sondern jener genius malignus https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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als Deus deceptor, vermag dann dieser auch mich selbst hinsichtlich des Wirklichseins meines Ich zu täuschen? Wenn dieser deceptor mich in meiner gegenständlich gerichteten Erkenntnis generell täuschen sollte, so, wie in der I. Meditation fi ktiv angesetzt, hat er nicht dann auch die Macht, mich selbst bezüglich meines Wirklichseins zu täuschen? Ist es überhaupt möglich, daß Ich während meines in gegenständlicher Erkenntnisrichtung Getäuschtwerdens auch hinsichtlich des Wirklichseins meines getäuscht werdenden Ichs getäuscht werde? Descartes’ Antwort lautet: Sollte mich der deceptor in bezug auf alles von mir gegenständlich Vorgestellte täuschen, dann ist es doch unzweifelhaft (haud dubie), daß Ich bin (ego sum). Der deceptor täusche mich soviel, wie er kann, niemals wird er bewirken, daß Ich selbst, der zwar in gegenständlicher Erkenntnisrichtung von ihm getäuscht werden möge, nichts bin (nihil sim), solange Ich denke, daß Ich Etwas sei (quamdiu me aliquid esse cogitabo). Zumeist wird das ›cogitare‹ durch ›denken‹ übersetzt. Diese Übersetzung ist lexikalisch richtig, trifft aber nur zum Teil das von Descartes Gemeinte. »Solange ich denken werde, daß Ich Etwas bin« will sagen: Solange ich mir bewußt bin als das Ich, das in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell getäuscht werden kann, bin Ich als dieses Ich absolut unbezweifelbar. Das Zwingende, das in dieser Selbstvergewisserung der existentia meines Ich liegt, zeigt sich nur dann, wenn jeder Einzelne diese Gedankenbewegung für sich selbst vollzieht. Die Einsicht in das absolut unbezweifelbare Wirklichsein des Ich ist an das eigene Ich gebunden. Die Einsicht in das absolut unbezweifelbare Wirklichsein meines Ich besagt, daß dieses Wirklichsein nicht in ein bloßes Vorgestelltsein umschlagen kann. Der deceptor täusche mich, soviel er kann, niemals wird er es bewirken, daß Ich für Mich selbst kein Etwas, also nichts bin, »solange ich denken werde, daß Ich Etwas bin«: In diesem Satz, in dem sich das auf dem methodischen Zweifelsweg gesuchte erste und absolut unbezweifelbare Prinzip ausspricht, sind vor allem zwei Worte besonders zu beachten: das cogitabo und das quamdiu. In der Wendung »solange ich denken werde, daß Ich Etwas bin« formuliert Descartes erstmals die Struktur des refl exiv sich erfassenden Selbsthttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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bewußtseins. Das ›cogitare‹ meint das Denken im weiten Sinne als ›Bewußtseinhaben-von‹. ›Solange Ich Bewußtsein habe davon, daß Ich Etwas bin‹ heißt: Solange Ich Mir meiner selbst bewußt bin als selbst Etwas seiend. In der Wendung ›aliquid esse‹ liegt die Betonung zunächst auf dem ›esse‹, auf dem Sein in der Bedeutung von ›existieren‹, Wirklichsein. Das ›aliquid‹ aber zielt auf jenes Etwas, das Ich als Ich in meiner Ichheit bin. Vorerst aber bleibt dieses Etwas noch unbestimmt und insofern ein aliquid. Weil Ich in diesem Stadium meiner Selbstvergewisserung noch nicht weiß, was Ich als Ich bin, spricht Descartes vom aliquid, von einem Seienden, das hinsichtlich seines quid, seines Was und Wasseins, noch nicht bestimmt ist. Das ›quamdiu‹, ›solange‹, ist eine Zeitbestimmung, die eigens zu beachten ist. Der deceptor möge Mich täuschen, soviel er wolle, niemals wird er es bewirken, daß Ich als das in gegenständlicher Erkenntnisrichtung sich täuschen lassende Ich selbst nicht wirklich bin, so daß Ich also notwendig bin. Damit ist jedoch nicht gesagt, Ich als dieses Ich müsse notwendig stets existieren. Die hier erfahrene Notwendigkeit meines Existierens ist nicht dieselbe, die dem Gotte als dem unendlichen Seienden zugesprochen wird, der als das vollkommenste Wesen (ens perfectissimum) nicht zufällig, sondern notwendig und ohne jede Zeitbestimmung existiert. Die Notwendigkeit der Existenz meines eigenen Ich ist dagegen zeitlich bedingt. Das reflexiv zu gewinnende Bewußtsein meiner selbst ist zeitlich verfaßt. Nur solange, nur für die Zeit, in der Ich Mir meiner selbst in der Selbstvergewisserung bewußt bin als das Ich, das in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell getäuscht werden kann, existiere Ich für Mich notwendig, also unbezweifelbar. Die sich hier aussprechende unbezweifelbare Existenz, derer Ich Mich ausdrücklich vergewissern kann, sagt nichts über ein mögliches Weiterleben nach dem Tode aus. Hier geht es nur um die Selbstvergewisserung des absolut unbezweifelbaren Wirklichseins meines eigenen Ich zwischen Geburt und Tod. Descartes faßt die erste absolut gewisse Erkenntnis in dem Satz zusammen: ›ego sum, ego existo‹ – Ich bin, Ich existiere. ›Sooft dieser Satz von mir ausgesprochen und in meinem Geist erfaßt wird, ist er notwendig wahr‹ (necessario esse verum). Aber nicht nur dieser Satz, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sondern der darin ausgesprochene Sachverhalt selbst ist notwendig wahr: das unbezweifelbare Wirklichsein meines Ich für sich selbst, aber nur solange, wie Ich Mir meiner selbst reflexiv bewußt werden kann als das in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell zweifelnde Ich. Dieser Sachverhalt als Ichverhalt ist notwendig, ist absolut unbezweifelbar wahr, weil sich mein Wirklichsein in höchster Evidenz bekundet. Die höchste Evidenz zeigt sich darin, daß das selbstvergewisserte Wirklichsein meines methodisch zweifelnden Ich nicht in ein bloßes Vorgestelltsein umschlagen kann wie das Wirklichsein alles für mich gegenständlich Seienden.

c) Der intuitive Erkenntnischarakter des ego cogito ergo sum In den »Meditationen« lautet der erste Grundsatz (pronuntiatum): ›Ich bin, Ich existiere‹. Bekannter ist jedoch die andere Formulierung: ›Ich denke, also bin Ich‹, ego cogito, ergo sum. Diese Formulierung findet sich in den »Prinzipien der Philosophie« und im »Discours de la Méthode«. Im »Discours« lautet im 1. Abschnitt des Vierten Teiles der Grundsatz: je pense, donc je suis.1 Im 7. Abschnitt des Ersten Teiles der »Prinzipien« heißt es: ego cogito, ergo sum.2 Die Fassung des Grundsatzes in den »Meditationen« ist eine verkürzende Formulierung, die aber denselben Sachverhalt wie in der bekannteren Fassung meint. Ego cogito, ergo sum ist in dem Satz aus den »Meditationen« ›solange ich denke, daß ich etwas bin‹ enthalten. Die Einsicht in das zeitlich bedingte unbezweifelbare Wirklichsein meines Ich ist mit dem cogitare verbunden: Solange Ich Mir meiner selbst bewußt bin als das methodisch zweifelnde Bewußtseinhaben von allem methodisch Bezweifelten, bin Ich Mir selbst in meinem unbezweifelbaren Wirklichsein gegeben. Ich bin Mir so in meinem unbezweifelbaren Wirklichsein gegeben, daß Ich 1 Descartes, Discours de la Méthode – Von der Methode (Gäbe), Vierter Teil, 52 /53; AT VI, 32. 2 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., Erster Teil, 2; AT VIII, 7.

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dieses Wirklichsein unmittelbar geistig erfassen kann. Aus dieser reflexiv gewonnenen Einsicht formuliert Descartes den Satz: Ich denke, also bin Ich. Welchen Charakter hat diese erste absolut gewisse Erkenntnis von der unbezweifelbaren Existenz meines Ich? Man könnte meinen und hat auch gemeint, hier handele es sich um eine schließende Erkenntnis, um einen Vernunftschluß, einen Syllogismus. Es ist das ›ergo‹, das zu dieser Meinung verleitet. Denn mit dem ›also‹ beginnt der Schlußsatz des Syllogismus. Descartes geht in seinen »Erwiderungen« auf die »zweiten Einwände«3 von Mersenne ausdrücklich auf diese Frage ein, ob es sich bei jenem ersten Grundsatz um einen Vernunftschluß handele, also um die Einsicht, die ich nur auf dem Wege des vernünftigen Schließens gewinne. Er weist jedoch die Kennzeichnung des Grundsatzes als Schlußsatz (conclusio) eines Vernunftschlusses mit Entschiedenheit zurück. In dem Grundsatz ›Ich denke, also bin ich‹ werde – so Descartes – die Existenz meines Ich nicht durch einen Syllogismus aus dem Denken (cogitare) abgeleitet. Vielmehr werde in diesem Grundsatz ›eine gleichsam durch sich selbst bekannte Sache durch einen einfachen Einblick des Geistes anerkannt‹ (sed tanquam rem per se notam simplici mentis intuitu agnoscit). Die absolut gewisse Erkenntnis des absolut unbezweifelbaren Wirklichseins des eigenen Ich ist keine deduktive, sondern eine intuitive Erkenntnis. Vom Unterschied zwischen intuitiver und deduktiver Erkenntnis handelt Descartes in der III. Regel der »Regulae ad directionem ingenii«. Nicht nur die Deduktion, auch die Intuition ist für Descartes eine rein geistige, verstandesmäßige Erkenntnis. Das zu betonen ist wichtig, weil ›Intuition‹ soviel wie ›Anschauung‹ heißt. Man könnte bei der Rede von der intuitiven Erkenntnis an die sinnlich anschauende Erkenntnis im Unterschied zur verstandesmäßigen Erkenntnis denken. Von Descartes’ Gebrauch des Wortes ›Intuition‹ müssen wir aber sowohl die Bedeutung der sinnlichen Anschauung wie auch die gewöhnliche Bedeutung von ›Eingebung‹, 3 Descartes, Meditationen mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 127/128 ; AT VII, 140.

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›ahnendem Erfassen von etwas‹ fernhalten. In der III. Regel der »Regulae« (5. Abschnitt) sagt Descartes: Intuition ist ein so einfaches und distinktes Begreifen des reinen und aufmerkenden Geistes, daß über das, was wir einsehen, weiterhin kein Zweifel übrigbleibt (mentis purae et attentae tam facilem distinctumque conceptum, ut de eo, quod intelligimus, nulla prorsus dubitatio relinquatur).4 Das intuitive Erkennen durch den Verstand ist ein geistiges Schauen, das den Sachverhalt für ein rein geistiges Schauen sichtbar macht. Eine solche intuitive Erkenntnis ist diejenige, die sich im ersten Grundsatz ausspricht: ego cogito, ergo sum. Das eigene Ich ist in der sich selbst vergewissernden Zuwendung zu ihm selbst ein ›durch sich selbst Bekanntes‹. Diese vergewissernde Zuwendung meines Ich zu ihm selbst geschieht als intuitus mentis, in einem einfachen unmittelbar erfassenden Einblick des Geistes. In diesem sich selbst erfassenden intuitiven Einblick erfaßt sich das Ich unmittelbar in seinem nicht bezweifelbaren Wirklichsein. Das Wirklichsein meines Ich ist nicht abgeleitet aus dem Bewußtsein, das Ich reflexiv von meinem Ich haben kann, sondern wird aus diesem Selbstbewußtsein unmittelbar erfaßt.5 Die Wendung ›also bin ich‹ ist keine syllogistisch gewonnene Erkenntnis. Ein Syllogismus müßte schon die intuitive Selbsterkenntnis des eigenen ichlichen Wirklichseins voraussetzen. Folgende Gestalt müßte dieser Syllogismus haben: Obersatz: Alles, was denkt, existiert; Untersatz: Ich bin ein solches denkendes Wesen; Schlußsatz: Also existiere ich. Woher aber nehme ich die Erkenntnis, die im Obersatz in der Form eines allgemeinen Urteils ausgesprochen ist? Dieser Obersatz ist schon die Verallgemeinerung jener zuerst intuitiv gewonnenen Erkenntnis, daß Ich, solange Ich denke, d. h. solange Ich von mir selbst Bewußtsein habe, notwendig existiere. Wir werfen noch einen Blick auf die Behandlung dieser ersten absolut unbezweifelbaren Erkenntnis im »Discours« und in den »Prinzipien«. Der aus sechs Teilen bestehende »Discours« ent4 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes – Die Erforschung der Wahrheit durch das natürliche Licht; ed. Buchenau, unveränderter Nachdruck 1959, 12. – Descartes, Regulae ad directionem ingenii; ed. Springmeyer †, Zekl 1973, 9 f.; AT X, 362. 5 Vgl. zur Intuition des Ich: Cassirer 1995, 14 f.; Schäfer 2006, 101 ff .

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hält in seinem vierten Teil die Fundamente der neu grundgelegten Metaphysik in Gestalt einer Kurzfassung der Gedankenführung aus den »Meditationen«. Im »Discours« spricht Descartes in der Vergangenheitsform, weil dieser den Charakter eines Berichtes über die zeitlich vorausgegangenen Erkenntnisse hat: »Es fiel mir auf, daß, während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles von mir bisher Erkannte sei falsch, d. h. während ich am Wirklichsein und Wahrsein alles sonst gegenständlich Erkannten zweifelte, doch notwendig Ich, der dieses dachte, etwas sei« (1. Abschnitt).6 Diese Gedankenführung steht ganz im Einklang mit der aus der II. Meditation, nur daß sie dort ausführlicher entfaltet wird. In den »Prinzipien«, deren erster von vier Teilen dem Inhalt der »Meditationen« und dem vierten Teil des »Discours« entspricht, heißt es im 7. Abschnitt: »Indem wir alles nur irgendwie Zweifelhafte zurückweisen und es in der Zweifelseinstellung nicht anders gelten lassen als das sonst als unwahr Eingesehene, können wir leicht annehmen, daß es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt, daß wir selbst weder Hände noch Füße und überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, daß wir, während wir solches denken, nichts sind. Denn es ist ein Widerspruch, daß das, was denkt, zu dem Zeitpunkt, in welchem es denkt, nicht existiert«.7 Hier spricht Descartes nicht wie in den »Meditationen« in der IchForm, sondern in der Wir-Form. Außerdem spricht er in der dritten Person, wenn er den Widerspruch formuliert. Ein Widerspruch ist es aber nur deshalb, weil das Denken, sofern das Ich sich darin seiner selbst als das denkende Ich bewußt ist, das Wirklichsein des denkenden Ich notwendig einschließt. Dieser Gedankengang hat aber nur dann seine uneingeschränkte Evidenz, wenn er zuerst in der Weise der »Meditationen« vollzogen wird, eben als Selbsterkenntnis des eigenen Ich. Erst von hier aus kann auch die erste Person Plural oder die dritte Person Singular eingesetzt werden.8 6 Descartes, Discours de la Méthode – Von der Methode (Gäbe), a. a. O., Vierter Teil 52/53; AT VI, 32. 7 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., 2; AT VIII, 7. 8 Vgl. zum ego cogito, ergo sum: Röd 1982, 76–95; Perler 2006, 139–149; Messinese 2004, 201–204.

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d) Das Ich-bin als der erste unbezweifelbare Erkenntnisboden Das meditative Denken Descartes’ hat den Charakter einer denkenden Selbstversenkung, Selbsterfassung und Selbstauslegung des Ich und seines Gegenstandsbezuges. Das schrittweise In-den-Zweifel-ziehen der einzelnen und allgemeinen empirischen Beschaffenheiten, des Wirklichseins des körperlich Seienden, der kategorialen Wesensbestimmungen, der mathematischen Wesenheiten und des Was- und Wirklichseins des höchsten Seienden – dieses schrittweise Anhalten der Seins- und Wahrheitssetzung (assensionem cohibere) geschah aus der Immanenz des Ich, das für sich selbst die Wirklichseins- und Wahrheitssetzung in bezug auf alles gegenständlich Erkannte zurücknimmt. Aus dieser methodisch zweifelnden Inneneinstellung heraus erfolgte die Selbsterkenntnis des eigenen unbezweifelbaren Wirklichseins. Indem Ich für Mich an allem zu zweifeln vermag, was Ich nicht selbst bin, was mir aber als Gegenstand meines sinnlichen und verstandesmäßigen Erkennens gegeben ist, erkenne Ich mit höchster unbezweifelbarer Evidenz, daß Ich nicht auch am Wirklichsein meines Ich zu zweifeln vermag. Das Wirklichsein meines meditativ philosophierenden Ich gibt sich mir unmittelbar in unüberbietbarer Gewißheit zu verstehen. Das bedeutet: Das methodisch zweifelnde Ich, das in der Ausführung des schrittweisen Zweifels in einen Strudel der Haltlosigkeit geraten war, hat jetzt den gesuchten Halt gefunden. Worin aber? Nicht in irgendeiner gegenständlichen Erkenntnis, sondern in sich selbst. Das gesuchte fundamentum inconcussum, das durch den Zweifel nicht mehr zu erschütternde Fundament für die neu zu gründende Erste Philosophie, findet das methodisch zweifelnde Ich in sich selbst. Es entdeckt sich selbst als den ersten unbezweifelbaren Seinsboden, der sich erweisen wird als der erste unbezweifelbare Erkenntnisboden und Wahrheitsboden für alle weiteren Erkenntnisse der Ersten Philosophie und der anderen Wissenschaften. Diese erste, absolut gewisse Erkenntnis, die zum tragenden Boden für alle gegenständlich gerichtete Erkenntnis ausgebaut werden soll, besteht nicht nur darin, daß sich das Ich als Selbstbewußtsein erkennt. Daß das Ich im Ich-sagen sich selbst eröffnet ist, daß ich ein Bewußtsein von https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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mir selbst habe, ist auch vor Descartes ausgesprochen worden. Die neuartige Erkenntnis Descartes’ liegt darin, daß er die Unbezweifelbarkeit des Seins des Selbstbewußtseins erkennt und diese absolute Unbezweifelbarkeit des Selbstbewußtseins mit der darin gewonnenen Wahrheit als der absoluten Gewißheit zum tragenden und begründenden Boden für die Metaphysik und die in ihr gegründeten Wissenschaften macht. Das ist es, was Hegel vor Augen hat, wenn er von Descartes sagt, daß bei ihm erstmals die Philosophie selbständig aus der Vernunft komme, daß das Selbstbewußtsein erstmals wesentliches Moment des Wahren werde. Als wir den Gang des methodischen Zweifels in seiner Schrittfolge untersuchten, sahen wir, daß Descartes zuerst das Wirklichsein, die existentia, und anschließend das Wassein, die essentia, des raum-zeitlich-materiellen Seienden (Körper) in den methodischen Zweifel zog. In gleicher Weise setzte er den methodischen Zweifel am überkommenen metaphysischen Gottesbegriff an. Der gegen das summum ens gerichtete methodische Zweifel orientierte sich am Wesen und den Wesensprädikaten Gottes und an dessen Wirklichsein. Der methodische Zweifel bewegte sich somit von vornherein in der ontologischen Blickbahn von existentia und essentia. Diese bilden aber einen Unterschied in der Seinsverfassung des Seienden. Formal gesprochen bestimmt das Sein das Seiende als ein Seiendes. Die Seinsverfassung des Seienden legt sich aber auseinander in das Wassein und in das Daßsein (Wiesein), in die essentia und in die existentia. Mit dem Wassein eines Seienden ist dessen Sachhaltigkeit, die sachhaltigen Bestimmungen, gemeint. Zur essentia des körperlich Seienden gehören für Descartes die räumliche Ausdehnung, die Raumgestalt, die Raumgröße und anderes mehr. Wenn wir jetzt diese von Descartes aufgezählten Wesensbestimmungen der Körper denken, ist freilich noch nicht entschieden, ob ein hinsichtlich der Ausdehnung und der Raumgestalt gedachtes Ding auch wirklich und nicht nur in Gedanken möglich ist. Der Unterschied zwischen dem bloß gedachten Wesen des Körpers und seinem Wirklichsein ist der Unterschied zwischen dem gedachten Wesensbegriff (essentia) und dem vorstellungsunabhängigen Wirklichsein des Dinges (existentia). https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Der methodische Zweifel Descartes’ ist ein ontologischer oder metaphysischer Zweifel. Denn er vollzieht sich in der ontologischen Fragebahn von existentia und essentia. Diese Fragebahn wird auch dann nicht verlassen, wenn sich der methodische Zweifel versuchsweise gegen das methodisch zweifelnde Ich richtet. Denn in diesem äußersten Zweifelsversuch prüft Descartes, ob das Sein, das sich im Ich-bin ausspricht, auch ein bloßes Vorgestelltsein sein kann. Indem dieses Sein als ein Wirklichsein erfaßt wird, das wesenhaft nicht in ein bloßes Vorgestelltsein umschlagen kann, wird es als ein absolut unbezweifelbares Wirklichsein (existentia) erkannt. Als absolut unbezweifelbar erweist es sich aber nur für die Zeit, in der das Ich sich seiner selbst reflexiv bewußt werden kann als das Ich, das, während es in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell zweifeln kann, nicht auch am eigenen Wirklichsein zweifeln kann. Damit hat aber Descartes zunächst nur die existentia, nur das Wirklichsein des eigenen methodisch zweifelnden Ich mit der höchsten Evidenz erkannt. Wenn sich die Seinsverfassung eines Seienden in Wiesein und Wassein gliedert, steht zu erwarten, daß Descartes nunmehr eine zweite ontologische Frage an das eigene methodisch zweifelnde Ich richtet: die Frage nach dessen Wassein (essentia). Was auch immer sich als das Wesen meines methodisch zweifelnden Ich erweisen sollte, soviel steht fest, auch dieses Wesen muß sich wie die existentia als absolut unbezweifelbar erweisen. Wenn Descartes die beiden ontologischen Fragen nach dem unbezweifelbaren Wirklichsein und Wassein an das eigene meditierende Ich richtet, und wenn die Fragen nach Wirklichsein und Wassein die leitenden Fragen der Metaphysik als Ontologie bilden, dann ist für Descartes die Erste Philosophie, die Metaphysik, eine Ontologie des Selbstbewußtseins aus dem Selbstbewußtsein.9

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Siehe zur Ontologie Descartes’ grundsätzlich Marion 19812 und Marion 1986.

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§ 9. Wesensverfassung des Ich

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§9 Die Frage nach dem Wer des Ich als ontologische Frage nach der absolut unbezweifelbaren Wesensverfassung des Ich Nachdem Descartes die existentia des eigenen methodisch zweifelnden Ich im existo und sum als unbezweifelbar erfaßt hat (3. Abschnitt), stellt er sogleich im 4. Abschnitt die Frage nach der unbezweifelbaren essentia des Ich: Noch aber sehe ich nicht hinreichend ein (nondum intelligo), wer ich denn bin (quisnam sim ego), der ich nunmehr notwendig bin (necessario sum). Hier stellt Descartes die Frage nach dem Was-sein des Ich zunächst als Frage nach dem Wer. Wenn er hier nach dem Wer fragt, dann nicht nach der individuellen Person, die er selbst ist, sondern nach dem Wer seines Ich als Ich. Weil das Ich keine Sache, kein Körper ist, sondern eine Person im Unterschied zur Sache, ist die Frage nach dem Wassein jenes Seienden, das Person ist, die Frage nach dem Wer-sein. Aber mit der Frage nach dem Wer fragt Descartes nach dem Wesen des Ich als Ich, nach dem, was die Ichheit des Ich ist.

a) cogitatio als essentia – res cogitans Wenn Ich Mich hinsichtlich meines eigenen Seins so vergewissert habe, daß Ich mein Wirklichsein als ein unbezweifelbares und daher notwendiges erfasse, dann ist mit der Erfassung meines ichlichen Wirklichseins noch nicht eingesehen, was denn dieses Ich als Ich ist. Jetzt wird nach der Ichheit meines Ich gefragt. Die hier erfragte Ichheit ist nicht mein individuelles Ichsein, sondern die Ichheit eines jeden Ich, sofern jedes Ich für sich selbst die meditative Selbstreflexion und Selbstauslegung vollziehen muß. Als erstes gibt Descartes den Weg an, auf dem nach der Antwort gesucht werden soll. Bei der Beantwortung der Wer- als Wesensfrage müsse er weiterhin darauf achten, nichts anderes für sich selbst anzusehen als nur solches, was absolut unbezweifelbar ist (ne forte quid aliud imprudenter assumam in locum mei) (4. Abschnitt). Auch die jetzt erfragte Wesensverfassung des Ich muß sich ebenso unbezweifelbar wie das schon erkannte https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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2. Kapitel: Selbstbewußtsein als erstes Prinzip

Wirklichsein zu verstehen geben. Er müsse darauf achtgeben, im Fragen der Wer-Frage nicht von jener Erkenntnis abzuirren, von der er eingesehen habe, daß sie die gewisseste und evidenteste von allen sonst möglichen Erkenntnissen sei (aberrem etiam in ea cognitione, quam omnium certissimam evidentissimamque esse contendo). Mit der ersten Erkenntnis, daß die existentia des eigenen zweifelnden Ich absolut unbezweifelbar ist, solange Ich Mir meiner selbst als das zweifelnde Ich bewußt werden kann, ist zugleich der Maßstab für die gewisseste und evidenteste Erkenntnis überhaupt aufgestellt. An diesem Maßstab der Wahrheit als der absolut unbezweifelbaren Selbstgewißheit sind alle weiteren Erkenntnisse auf ihre Gewißheit hin zu prüfen. Hier zeigt sich, wie das in seinem unbezweifelbaren Wirklichsein vergewisserte Ich als Selbstbewußtsein zum ersten Prinzip der Ersten Philosophie wird. Die absolute Gewißheit, in der sich dem methodisch zweifelnden Ich sein unbezweifelbares Wirklichsein gezeigt hat, ist das neu bestimmte Wesen der Wahrheit : Wahrheit als absolute Gewißheit, die sich in der reflexiven Selbsterfassung des Ich hinsichtlich seines unbezweifelbaren Wirklichseins erweist. Die absolute Gewißheit als certitudo ist das neu festgesetzte Wesen der Wahrheit. Die erste absolut gewisse Erkenntnis des methodisch zweifelnden Ich ist fortan nicht nur der absolute Seinsund Erkenntnisboden, sondern auch der absolute Wahrheitsboden für die Wahrheit aller gegenständlichen Erkenntnis. Mit der Unbezweifelbarkeit des Wirklichseins des eigenen methodisch zweifelnden Ich ist ein nicht zu überbietender Maßstab gewonnen, an dem von nun ab die unterschiedlichen Gewißheitsgrade gemessen werden können. Solange die fortschreitende philosophische Erkenntnis allein auf das eigene methodisch zweifelnde Ich bezogen ist, wie jetzt in der Frage nach der Wesensverfassung des Ich, muß die Erkenntnis dieser Wesensverfassung denselben höchsten Gewißheitsgrad haben wie die erste Erkenntnis vom eigenen Wirklichsein. Für den Gang der II. Meditation bedeutet dies: Die Antwort auf die Wer- als Wesensfrage nach der Ichheit des Ich muß in der aufrechterhaltenen methodischen Zweifelseinstellung (cartesianische Epoché) gesucht werden. Denn diese ist die meditative Grundeinstellung, die fortan überhaupt nicht mehr aufgegeben werden darf. In dieser methodihttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 9. Wesensverfassung des Ich

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schen Grundeinstellung darf nur das als wahre Erkenntnis zugelassen werden, was sich als unbezweifelbar gewiß erweist. Er wolle – so Descartes – für sein Fragen der Wesensfrage bezüglich seines Ich so vorgehen, daß er innerhalb der methodischen Zweifelshaltung (meditabor) das, was er früher zu sein geglaubt habe (quidnam me olim esse crediderim), vergegenwärtige und von diesem alles das abziehe (ex quo subducam quidquid), was durch die angeführten Zweifelsgründe auch nur im geringsten erschüttert werden konnte (allatis rationibus vel minimum potuit infirmari), so daß schließlich genau nur das übrig bleibt, was gewiß und unerschütterlich ist (ut ita tandem praecise remaneat illud tantum, quod certum est et inconcussum). Dies schlechthin in der methodischen Zweifelseinstellung als absolut unbezweifelbar Sicherweisende ist dann die absolut gewisse, weil vergewisserte Wesensverfassung bzw. Ichheit meines methodisch zweifelnden Ich. Um nun innerhalb der methodischen Zweifelseinstellung, der cartesianischen Epoché, ausdrücklich alles abziehen zu können, was aus der vormeditativen Selbsterfassung durch die Zweifelsgründe in seiner Ungewißheit dargetan ist, gibt Descartes als erstes eine Beschreibung dessen, was er fr üher als das Wesen seines Ich angesetzt hatte (5. Abschnitt). Hierfür bieten sich ihm zwei Wege an. Der erste Weg, den er beschreiten könnte, bestünde im Aufgreifen der überlieferten Wesensbestimmung des Menschen: homo est animal rationale, der Mensch ist das vernünftige Lebewesen. Um die vormeditative Selbstauffassung des eigenen Wesens zu vergegenwärtigen und auf ihre Gewißheit oder Ungewißheit zu prüfen, könnte Descartes den Weg durch diese überlieferte Wesensbestimmung des Menschen wählen. Jedoch erscheint ihm dieser Weg für seinen Zweck als ungeeignet. Es müßte dieser Wesensbegriff ›vernünftiges Lebewesen‹ zerlegt werden in seine begriff lichen Bestandteile, in den Gattungsbegriff ›Lebewesen‹ und in den Artbegriff ›Vernünftigkeit‹. Es müßte gefragt werden, was ein Lebewesen sei und worin die Vernünftigkeit bestehe. Diesen Weg der logischen Begriffsanalyse weist Descartes auf seinem Weg des meditativen Philosophierens als ungangbar zurück, weil er sich nicht in die methodische Zweifelseinstellung einfügt. Die logische Begriff szergliederung https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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2. Kapitel: Selbstbewußtsein als erstes Prinzip

führt nicht zu der geforderten intuitiven Selbsterkenntnis der ichlichen Wesensverfaßtheit. Descartes wählt für sein meditatives Vorhaben den zweiten Weg außerhalb der logischen Begriffsanalyse. Es ist der Weg innerhalb der methodischen Zweifelseinstellung, in der er das vergegenwärtigt, was sich in der vormeditativen Selbstbetrachtung seinem Bewußtsein (cogitationi meae) von selbst und naturgemäß darbot. Descartes zählt auf, was ich gemeinhin als zu meinem Ich gehörig vermeine: 1. meinen eigenen Körper, in dem ich schalte und walte; 2. das, was in meinem Leibe waltet und was ich als Seele bezeichne; 3. die unterschiedlichen Verhaltungen meiner Seele a) die Tätigkeiten des Michernährens, b) die Tätigkeit der Fortbewegung, c) das sinnliche Empfinden, das an die Sinnesorgane gebunden ist, d) das cogitare als Bewußtseinhaben-von, d. h. das Denken im weiten Sinne. Descartes erwähnt auch, daß zu seiner vormeditativen Selbstauffassung eine gewisse verdinglichende Auffassung der Seele gehört habe: wenn er sich die Seele imaginativ vorstellt als eine Art Wind, Feuer, Äther, der meinem Körper eingeflößt ist und ihn beseele. Zu seiner vormeditativen Selbstauffassung habe ferner die feste Meinung gehört, das Wesen seines Körpers deutlich als Etwas zu erkennen, was durch eine räumliche Gestalt begrenzt sei, einen Ort einnehme und einen Eigenraum so ausfülle, daß aus diesem jeder andere Körper ausgeschlossen ist. Ferner sei der Körper etwas, was über die Sinne wahrgenommen und was auf verschiedene Art bewegt werden könne. Nach dieser Vergegenwärtigung seiner vormeditativen Selbstauffassung entzieht Descartes dem summarisch Aufgezählten alles das, was durch den Zweifelsweg der I. Meditation in den methodischen Zweifel gezogen ist. Dieser Abzug ist nichts anderes als das Wirksamwerdenlassen der methodischen Zweifelshaltung gegenüber der vormeditativen Selbstauffassung. Das von der vormeditativen Selbstauffassung in den methodischen Zweifel Zurückgerufene verschwindet nicht, sondern bleibt als ein nunmehr bloß Vorgestelltes erhalten wie das nur vorgestellte körperlich Seiende meiner gegenständlich gerichteten Erkenntnis. Die kritische Prüfung, was von der neu vergegenwärtigten vormeditativen Selbstauffassung unter das Bezweifelbare fällt, geschieht https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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in der Weise, daß jetzt nur der dritte Zweifelsgrund, der deceptor, herangezogen wird (6. Abschnitt). Zwar hatte Descartes schon einmal den eigenen Körper ausdrücklich als bezweifelbar erkannt. Das geschah im Zusammenhang der Vergewisserung des eigenen Wirklichseins. Jetzt aber muß der eigene Körper wiederholt ausdrücklich als zum Bezweifelbaren gehörig angesprochen werden, weil es jetzt um die Vergewisserung der eigenen ichlichen Wesensverfassung geht. Die Verleiblichung meines Ich legt sich als zumindest eine Komponente meiner ichlichen Wesensverfassung nahe. Was nun meine Seele im Unterschied zu meinem Körper anbetrifft , so fällt auch sie insoweit unter das grundsätzlich Bezweifelbare, als ich sie quasi dinglich auffasse, so, daß ich mir von ihr ein unbestimmtes Vorstellungsbild mache. Wie verhält es sich aber mit den mannigfaltigen Verhaltungen oder Tätigkeiten meiner Seele? Das Sichernähren und Sichfortbewegen gehören ebenfalls zum Bezweifelbaren, weil sie mit meinem Körper (Leib) zusammenhängen. Aber auch das sinnliche Empfinden (sentire) auf den Wegen der fünf Sinne ist eine Tätigkeit der Seele, die zumindest in einer Hinsicht an die Sinnesorgane des Körpers geknüpft ist. Auch im Traume meine ich, Dinge sinnlich zu empfinden, während es doch nur ein geträumtes Empfinden war. So bleibt aus meiner vormeditativen Selbstauffassung nur noch das cogitare übrig. Ist das cogitare auch eine Tätigkeit meines Ich, die von den drei Zweifelsgründen antastbar ist? Läßt sich das cogitare von meinem Ich ebenso trennen wie das Sichernähren, Sichfortbewegen und das organgebundene sinnliche Empfinden? Was ist dieses cogitare selbst? Als Descartes am Ende seines Zweifelsweges auch noch das Wirklichsein seines Ich zu bezweifeln versuchte, stieß er auf die erste absolut gewisse Erkenntnis, daß Ich, solange Ich Mir meiner selbst bewußt bin, irgendetwas zu sein, notwendig existiere (quamdiu me aliquid esse cogitabo) (3. Abschnitt). Das cogitare, das wir bisher erläutert haben als Bewußtseinhaben-von, können wir auch als Vorstellen-von fassen: solange Ich vorstellen werde, daß Ich etwas bin. Das Bewußtseinhaben-von ist ein vorstellendes. So wie das Bewußtseinhaben-von ein Ich-habe-Bewußtsein-von ist, so ist auch das Vorstellen ein Ich-stelle-vor. Die erste https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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unbezweifelbare Erkenntnis vom eigenen Wirklichsein hatten wir in die Form gebracht: Ich bin Mir meiner selbst bewußt, daß Ich als ›etwas seiend‹ existiere. Diese Erkenntnis können wir auch in die Form bringen: Ich stelle vor, daß Ich als etwas seiend unbezweifelbar existiere. In beiden Formulierungen kommt die Struktur des Selbstbewußtseins zum Ausdruck: Ich bin Mir bewußt, daß Ich …, und: Ich stelle vor, daß Ich … . Das cogitare, das aus der vormeditativen Selbstauffassung übrig bleibt als das, was jetzt auf seine Bezweifelbarkeit geprüft wird, tauchte bereits innerhalb der Selbstvergewisserung des eigenen Wirklichseins auf, war also darin schon mitenthalten. Doch in jener Selbstvergewisserung des eigenen Wirklichseins blieb die essentia meines Ich noch unthematisch und daher unbestimmt. Deshalb die Rede von einem ali-quid esse, von einem irgend-etwas sein. Dennoch kam in der Selbstvergewisserung der existentia auch das cogitare schon mit ins Spiel. Solange Ich vorstellen werde (cogitabo), daß Ich irgend etwas bin; solange Ich Bewußtsein davon habe (cogitabo), daß Ich irgend etwas bin, existiere ich notwendig für mich selbst. Ich kann mich meines eigenen Wirklichseins (existentia) nicht vergewissern, ohne daß ich mir nicht in dieser Vergewisserung zugleich auch in meinem Wassein (essentia) als meiner Ichheit gegeben bin. Meine Ichheit, das, was Ich in meinem Ich für mich selbst bin, ist dieses cogitare, das Bewußtseinhaben-von, das Vorstellen-von in der Struktur des Selbstbewußtseins. Das aliquid esse, das Irgend-etwas-sein meines Ich ist nicht etwas anderes als das cogitare, sondern dieses cogitare selbst. ›Solange Ich vorstelle, daß Ich irgend etwas bin‹, heißt nunmehr expliziert: Solange Ich vorstelle, daß Ich ein vorstellendes Ich bin; oder: Solange Ich bewußt bin als ein Ich, das Bewußtsein hat von. In der Selbstvergewisserung des eigenen Ich hinsichtlich seiner essentia erfaßt sich das Ich in einem intuitiven Vorstellen seiner selbst als ein vorstellendes, als ein Bewußtsein habendes Ich. Deshalb antwortet Descartes auf die Frage, ob auch das cogitare als bezweifelbar von seinem Ich getrennt werden könne: hic invenio: cogitatio est, haec sola a me divelli nequit : Das Denken allein (in der Bedeutung des Bewußtsein-habens-von oder Vorstellens-von) ist das, was von mir, meinem Ich, nicht getrennt werden kann (6. Abschnitt). https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Ich bin, Ich existiere für mich selbst, das ist gewiß (ego sum, ego existo, certum est) (6. Abschnitt). Diese erste absolut gewisse Erkenntnis konnte sich nur artikulieren, sofern sie das cogitare schon mit ins Spiel brachte. Jetzt, da Descartes die essentia des eigenen Ich erkennt, fragt er sich noch einmal: Wielange existiere Ich in Gewißheit für mich selbst? (quamdiu autem?) Nur solange, wie Ich denke, wie Ich vorstelle, daß Ich ein vorstellendes, ein Bewußtsein habendes Ich bin (nempe quamdiu cogito). Und nun wird das ›solange‹ erläutert . Denn es könnte geschehen, daß Ich, wenn ich von meinem gesamten Bewußtsein zurückträte (si cessarem ab omni cogitatione), sofort auch ganz aufhörte zu sein (ut illico totus esse desinerem). Damit, daß dem Ich die cogitatio genommen würde, würde das Ich in seiner Ichheit hinfällig. Denn mit der cogitatio würde dem Ich seine Ichheit genommen. Von meinem Ich bliebe nichts mehr, das als Ich existieren könnte. Damit ist die essentia des eigenen meditierenden Ich mit derselben Unbezweifelbarkeit erfaßt wie zuvor die existentia. Der Charakter auch dieses Erfassens ist die intuitive Selbsterfassung. In dieser ist das intuitive Selbsterfassen von derselben Seinsart wie das darin Erfaßte. Sowohl das intuitive Selbsterfassen wie das darin Erfaßte ist von der Seinsart der cogitatio, des Bewußtseins und bewußtseinsmäßigen Vorstellens. Damit, daß mein methodisch zweifelndes Ich sich selbst hinsichtlich seiner existentia und essentia mit absoluter Gewißheit erkannt hat, hat es sich selbst als ein Seiendes in seiner Seinsverfassung bestimmt. Descartes bezeichnet terminologisch das selbständige Seiende (ens) als res. Res heißt Sache im weitesten Sinne und nicht nur im engeren Sinne einer dinglich-körperlichen Sache. Deshalb kann jetzt das in seiner unbezweifelbaren existentia und essentia erkannte Ich als eine res bezeichnet werden. Was das Ich als res bestimmt, die realitas der ichlichen res, ist die cogitatio. Descartes kann deshalb sagen: Ich also bin genau nur eine res cogitans (6. Abschnitt). Nur das und nichts anderes macht meine ichliche Wesensverfassung aus: ein Bewußtseinhabendes Ich, das darin seiend ist, daß es seiner selbst bewußt ist als ein Bewußtseinhaben von. Denn das methodische Zweifeln selbst ist nichts anderes als ein zweifelndes Bewußtsein von dem, was es methodisch bezweifelt. Ich in meinem methodischen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Zweifeln kann mich, solange Ich vorstelle, daß Ich ein methodisch zweifelndes Ich bin, weder hinsichtlich meines Wirklichseins noch hinsichtlich meines zweifelnden Bewußtseins (essentia) bezweifeln. Vorerst zeigt sich die unbezweifelbare cogitatio nur als mein methodisch zweifelndes Bewußtsein von der darin in den Zweifel zurückgerufenen realen und idealen Welt. Descartes erläutert die res cogitans als das, was wir sonst Geist (mens), Seele (animus), Verstand (intellectus) und Vernunft (ratio) bezeichnen. Von diesen Bezeichnungen sagt Descartes: Worte, deren Bedeutung (significatio) mir früher, vor meiner meditativen Selbsterkenntnis, unbekannt geblieben waren. Denn erst jetzt habe Ich, das meditativ philosophierende, das methodisch zweifelnde Ich die wahre Wesensverfassung meines Geistes, meines Verstandes und meiner Vernunft erkannt. Das Wesen meines Geistes ist die cogitatio in ihrer vollen Struktur: das Bewußtsein haben davon, daß Ich in der Weise des Bewußtsein-habens-von bin. Was für Descartes vor der meditativen Selbsterkenntnis an der Bedeutung von Geist, Verstand und Vernunft unbekannt war, ist die erst jetzt gewonnene Einsicht, daß das Wesen des menschlichen Geistes, Verstandes und der Vernunft im Selbstbewußtsein beruht, das die Struktur eines jeden Bewußtsein-habens-von ist.

b) Die cogitationes (modi cogitandi) des ego cogito Damit, daß mein meditierendes Ich seine eigene essentia in der cogitatio mit höchster Gewißheit erkannt hat, ist vorerst nur die allgemeine Wesensverfassung erfaßt und diese bisher nur am methodisch zweifelnden Bewußtsein spezifiziert. Nun ist aber zu fragen, in welche Bestimmungen die allgemeine Wesensverfassung sich auseinanderlegt. Nur so erhalten wir einen deutlicheren Begriff von der Ichheit des Ich, von dessen cogitatio. Die Auseinanderlegung dessen, was die cogitatio an einzelnen Bestimmungen enthält, erfolgt im 8. und 9. Abschnitt der II. Meditation. Im 7. Abschnitt klärt Descartes zunächst den Charakter der Erkenntnis der cogitatio und deren Bestimmungen. Diese Klärung gehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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schieht dadurch, daß er jetzt erstmals ausführlicher auf die imaginatio eingeht. Er zeigt, wie die Einbildungskraft ein Vermögen ist, das zur Erkenntnis des körperlich Seienden gehört und deshalb innerhalb der Selbsterkenntnis des nichtkörperlichen Ich und dessen Ichheit keine Funktion auszuüben vermag. Wir verfolgen diesen Gedankengang in geraffter Form. Nachdem Descartes die beiden bislang gewonnenen absolut unbezweifelbaren Erkenntnisse in bezug auf das eigene Ich noch einmal zusammengefaßt hat, stellt er die Frage: Quid praeterea? (7. Abschnitt) Was bin ich außerdem? Diese Frage drängt nicht etwa von der erfaßten cogitatio weg zu etwas anderem, was ich auch noch sein könnte. Das Wesen meines Ich besteht in nichts anderem als nur in der cogitatio. Die Frage fragt daher nicht über die cogitatio hinaus, sondern in sie hinein, um deren innere Bestimmungen auseinanderlegen und erfassen zu können. Das Hineinfragen in die mit der existentia unbezweifelbare cogitatio ist eine Analytik der cogitatio, eine Analytik des als Selbstbewußtsein verfaßten Bewußtseins, eine Bewußtseins-Analytik. Descartes scheint für die anstehende Analytik der cogitatio den Weg über die Einbildungskraft einschlagen zu wollen. Imaginabor – ich werde jetzt meine Einbildungskraft aktualisieren, um mir meine cogitatio und ihre inneren Bestimmungen imaginativ zu vergegenwärtigen. Doch sogleich stellt sich die Einsicht ein, daß imaginativ Vergegenwärtigtes allein mein Körper ist und alles, was zu ihm gehört. Sofern mein Körper zu dem gehört, was dem methodischen Zweifel unterworfen ist, hat er für mich in meiner methodischen Zweifelseinstellung nur als Vorstellungsbild Bestand. Dieses Vorstellungsbild ist mit meinem Vorstellen in der cogitatio. Die Vorstellungsbilder, die ich von allen Körpern habe und haben kann, sind für Descartes ein Gebilde meiner Einbildungskraft. Das gilt sowohl für den noch nicht ausgemachten Fall, daß die Körper auch außerhalb der Vorstellungsbilder, also bewußtseinstranszendent, existieren wie auch für den im methodischen Zweifel angesetzten Fall, daß die Körper nichts anderes als bloße Vorstellungsbilder meines Vorstellens sind. Das meditierende Ich stellt sich selbst die Frage: Auch wenn ich jetzt in meiner methodischen Zweifelseinstellung so tue, als ob mein Körper nur im inneren Vorstellungsbild Bestand habe, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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könnte es nicht doch sein, daß der in seinem Wirklichsein noch nicht unbezweifelbar erkannte Körper seiner Seinsart nach von meinem Ich und dessen Ichheit als cogitatio nicht unterschieden ist? Diese Frage wird dann erst in der VI. Meditation abschließend beantwortet. Descartes zieht sich deshalb auf die Vorfrage zurück: Ist wenigstens die Erkenntnis meiner Ichheit unabhängig und abgelöst von der Erkenntnis meines Körpers? Diese Vorfrage kann im jetzigen Stadium der Meditationen bejahend beantwortet werden. Frage Ich, wer Ich bzw. was Ich als Ich bin, von dem Ich mit völliger Gewißheit weiß, daß es wahrhaft existiert, und gelange ich zu der ersten Wesenseinsicht, daß die Ichheit meines Ich in der cogitatio beruht, dann ist auch absolut gewiß, daß meine Erkenntnis von meiner cogitatio nicht von der Kenntnis und Erkenntnis meines Körpers abhängt. Während ich meine cogitatio mit höchster Gewißheit als meine Ichheit erkannt habe, weiß ich noch nichts von einem nicht bezweifelbaren Wassein und Wirklichsein der Körper. Denn alles körperlich Seiende, zu dem auch mein eigener Körper gehört, stelle ich vorerst in der methodischen Zweifelseinstellung nur in meinen imaginativen Vorstellungsbildern vor. Damit wird deutlich, daß Ich meine cogitatio ohne Zuhilfenahme der imaginatio erfasse. Im imaginari bin ich vorstellend bezogen auf Vorstellungsbilder vom körperlich Seienden, das eine Figur und ein Aussehen hat, ohne daß Ich als meditierendes Ich jetzt schon mit Sicherheit sagen könnte, ob solche Körper auch außerhalb meiner inneren Vorstellungsbilder existieren. Die imaginatio ist in ihrem Vollzugsverständnis nur auf solches Seiende bezogen, das seiner Seinsart nach im Bilde abbildbar und vorstellbar ist. Die Selbsterfassung meiner cogitatio ist daher unabhängig sowohl vom möglicherweise wahrhaft existierenden Körper wie auch vom Erkenntnisweg der Einbildungskraft. Die cogitatio läßt sich weder im sinnlichen Wahrnehmen noch im imaginativen Vorstellen erkennen. Die cogitatio läßt sich nur durch die geistige Selbsterfassung erkennen. Das rein geistige Vorstellen ohne Mitfungieren der imaginatio ist der intellectus, der reine Verstand. Die jetzt anstehende diff erenzierende Erkenntnis der eigenen cogitatio, die Analytik des als Selbstbewußtsein strukturierten Bewußtseins-von, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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kann nur auf dem Wege der verstandesmäßigen Selbsterfassung und Selbstauslegung erfolgen. Im 8. Abschnitt wiederholt Descartes seine Frage: Sed quid igitur sum? Was aber bin ich folglich? Worin beruht das quid, die quidditas, die essentia, das Wesen meines Ich? Die damals schon gegebene Antwort wird wiederholt: res cogitans, eine res, ein Seiendes, das in seiner essentia als cogitatio verfaßt ist, die soviel besagt wie: Ich bin mir meiner selbst bewußt als Bewußtsein haben von etwas. Die sich unmittelbar an diese Vergegenwärtigung des schon Erkannten anschließende Frage: quid est hoc? – was ist dies?, eine res cogitans zu sein, ist jetzt die weiterführende Frage, die in die cogitatio hineinfragt, um diese zu einer inneren Auslegung zu bringen. Was ist dies – eine res cogitans? Wie bin Ich Mir meiner selbst bewußt als ein Bewußtsein haben von? Etwa nur in dieser allgemeinen Weise? Ist mein Bewußtsein-haben-von-etwas nur ein allgemeiner Charakter, oder gibt es das Bewußtsein-haben-von-etwas nur in einer Mannig faltigkeit von konkreten unterschiedlichen Bewußtseinsweisen? In der Tat, mein als Selbstbewußtsein verfaßtes Bewußtsein-haben-von-etwas hat sich immer schon konkret auseinandergelegt in eine Vielfalt von unterschiedlich gearteten Bewußtseinsweisen, modi cogitandi. Descartes zählt einige von diesen auf: Ich, der Ich mich zuerst nur allgemein als res cogitans erfaßt habe, bin als diese res cogitans eine res dubitans, eine res intelligens, eine res affirmans, eine res negans, eine res volens et nolens, eine res imaginans und eine res sentiens. Die cogitatio, das cogitare in der Weise des cogito, hat sich jetzt gezeigt in mehreren modi cogitandi, in den Bewußtseinsweisen des Zweifelns, verstandesmäßigen Einsehens, Bejahens, Verneinens, Wollens, Nichtwollens, imaginativen Vorstellens und sinnlichen Empfindens bzw. Wahrnehmens. Nach allem, was wir über die Einbildungskraft, das imaginative Vorstellen, und über die sinnliche Empfindung gesagt haben, muß es verwundern, daß Descartes unter die modi cogitandi auch das imaginari und das sentire zählt. Vom sinnlichen Empfinden und Wahrnehmen hieß es doch, es sei an die leiblichen Sinnesorgane gebunden, die mit meinem Körper nicht zur unbezweifelten cogitatio gehören. Vom imaginari hieß es, daß ich im imaginativen Vorstellen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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2. Kapitel: Selbstbewußtsein als erstes Prinzip

der Einbildungskraft nur auf körperlich Seiendes bezogen bin, weil ich nur von Körpern Vorstellungsbilder haben kann. Daraus folgte, daß wir für die Selbsterfassung der eigenen cogitatio den Weg über die Einbildungskraft meiden müssen, um die cogitatio nicht zu verdinglichen. Was sich wie ein Widerspruch ausnimmt, daß das imaginari und sentire nun doch zu den modi cogitandi gezählt werden, findet im 9. Abschnitt seine Aufklärung. Die im 8. Abschnitt zunächst nur aufgereihten modi cogitandi wurden aber von Descartes nicht etwa wahllos aufgegriffen. Er benennt nicht irgendwelche Bewußtseinsweisen, sondern vorerst nur diejenigen, in denen sein meditierendes Ich während der zwei Meditationen sich gehalten hat. Um sehen zu lassen, daß die aufgezählten ichlichen Verhaltungen nicht von seinem ego cogito abtrennbar sind, daß sie vielmehr die konkreten Weisen seines ego cogito sind, geht Descartes sie im 9. Abschnitt der Reihe nach durch. Ich selbst bin es, der während des meditativen Philosophierens fast an allem zweifelt. Ego ipse sum: das ipse weist darauf hin, daß das Zweifeln eine Weise ist, in der Ich als Ich mir selbst gegeben bin. Das Ich-zweifle ist eine besondere Weise, wie Ich mir bewußt bin als Bewußtsein haben von. Es ist jene Weise meines Bewußtseins, in der ich in bezug auf die Körperwelt methodisch zweifelnd die Wirklichkeits- und Wahrheitssetzung anhalte (assensionem cohibere), so, daß ich die Körperwelt nur als in Vorstellungsbildern bestehend gelten lasse. Während ich meditierend im cogito des Zweifelns lebe, lebe ich zugleich im cogito des intellegere, des rein geistigen Einsehens und Erfassens. Denn als ich versuchte, in mein Zweifeln auch noch mein zweifelndes Ich einzubeziehen, sah ich mit höchster Gewißheit ein, daß mein Ich solange, wie es zweifelt, als zweifelndes Ich für sich selbst notwendig existiert. Ich, der Ich mir selbst als methodisch zweifelndes und verstandesmäßig einsehendes Ich bewußt bin, bin mir auch bewußt als ein bejahendes Ich. Die Bewußtseinsweise des Bejahens ist für Descartes das urteilsmäßige Stellungnehmen zu einem Sachverhalt. Das affirmare ist das Bejahen im bejahenden Urteil. Auch hier läßt sich die Doppelstruktur der urteilenden Bewußtseinsweise aufzeigen: Ich https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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bin mir bewußt, daß Ich ein bejahendes Bewußtsein von einem bejahend Geurteilten habe. Ich, der Ich mir meiner selbst bewußt bin als zweifelndes, einsehendes, bejahend-urteilendes Bewußtsein-von, bin mir meiner selbst auch bewußt als verneinendes Bewußtsein von einem verneinend Geurteilten. Wenn ich in der methodischen Zweifelseinstellung verneine, daß die Leiblichkeit zur Wesensverfassung meines Ich gehört, fälle ich ein negatives Urteil. Dies ist ein urteilendes Bewußtsein von dem darin verneinend Geurteilten. Zu meinen ichlichen Bewußtseinsweisen gehören auch das Wollen und das Nichtwollen. Ich bin mir meiner selbst bewußt als ein wollendes oder nichtwollendes Bewußtsein-von, wenn ich – wie in meiner methodischen Zweifelseinstellung – weitere unbezweifelbare Erkenntnisse in bezug auf meine Wesensverfassung gewinnen will und wenn ich mich dabei nicht täuschen lassen will. Ich bin mir aber auch meiner selbst bewußt als ein imaginativ vorstellendes Bewußtseinhaben-von nicht nur von solchem, was ich phantasierend vorstelle, sondern auch von solchem, was ich erinnernd oder erwartend imaginativ vorstelle. In meiner meditativen Einstellung habe ich die Vorhandenheitssetzung der Körperwelt angehalten, so, daß die reale Welt nur noch in meinen Vorstellungsbildern besteht. Mein imaginatives Vorstellen in seinem Bezogensein auf die bewußtseinsimmanenten Vorstellungsbilder ist aber dasjenige, dessen Descartes sich jetzt als modus cogitandi, als eine besondere unbezweifelbare Bewußtseinsweise, vergewissert. Schließlich aber bin ich mir meiner selbst bewußt auch als ein sinnlich empfindendes, wahrnehmendes Bewußtsein-von. Dasjenige, dessen sich Descartes in bezug auf Empfindung und Wahrnehmung als reine Bewußtseinsweisen vergewissert, ist dasjenige an der Empfindung und Wahrnehmung, das selbst bewußtseinsimmanent und bewußtseinszugehörig ist. Bevor Descartes näher ausführt, inwiefern das imaginative Vorstellen und das Empfinden/Wahrnehmen auch ichliche Bewußtseinsweisen sind, betont er, daß alle jetzt genannten konkreten Bewußtseinsweisen mit dem Wirklichsein des Ich absolut unbezweifelbar seien. Sie alle sind ebenso notwendig wahr wie mein Wirklichsein. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Sollte mein Wachzustand, wie ich ihn in der natürlichen Selbstund Weltverhaltung vom Zustand des Träumens unterscheide, auch nur ein Träumen sein, d. h. sollte ich mich in meinem vermeintlichen Wachzustand hinsichtlich des wahren Soseins, Wasseins und Wirklichseins der Körperwelt täuschen, so könnte ich mich niemals auch darin täuschen, daß Ich mir meiner selbst bewußt bin als ein wahrhaft existierendes Ich, das jetzt wahrhaft zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will und nicht will, imaginativ vorstellt und wahrnimmt. Möge ein deceptor mich hinsichtlich des Wirklichseins und Wahrseins der realen Körperwelt und der idealen Wesensverhalte täuschen, niemals vermag er mich auch darin zu täuschen, daß Ich mir meiner selbst bewußt bin als ein wahrhaft existierendes Ich in meinen wirklichen und wahren, zweifelnden, einsehenden, imaginativ vorstellenden und wahrnehmenden Bewußtseinsweisen-von (Quid est horum, quamvis semper dormiam, quamvis etiam is, qui me creavit, quantum in se est, me deludat, quod non aeque verum sit ac me esse?). Keine von diesen ichlichen Bewußtseinsweisen ist von meiner cogitatio trenn- und unterscheidbar (quid est, quod a mea cogitatione distinguatur? quid est, quod a me ipso separatum dici possit?). Denn alle diese Bewußtseinsweisen sind die verschiedenen Weisen, in denen ich mir meiner selbst als Bewußtseinhaben-von bewußt bin. Als Descartes sich der existentia seines methodisch zweifelnden Ich vergewisserte, war schon in dem Vergewisserten die cogitatio als essentia meines Ich mit eingehüllt. Die cogitatio war aber in jenem zuerst Vergewisserten nicht nur als allgemeine Wesensverfassung eingehüllt, sondern in der Vielfältigkeit ihrer konkreten cogitationes oder ichlichen Bewußtseinsweisen. Auch der jetzt durchgeführte Schritt der Bewußtseins-Analytik, die Freilegung der verschiedenen Bewußtseinsweisen, hat wie der vorangegangene analytische Schritt – die Selbstvergewisserung der essentia qua cogitatio – den Charakter einer Enthüllung dessen, was im zuvor Vergewisserten schon eingehüllt war. Sich der existentia seines eigenen Ich vergewissern heißt, sich des Wirklichseins des eigenen Ich in dessen essentia vergewissern. Sich der eigenen cogitatio als der Wesensverfassung des eigenen Ich vergewissern heißt zugleich, sich der zur cogitatio gehöhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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renden Bewußtseinsweisen vergewissern. Deshalb eignet den jetzt analytisch freigelegten vielfältigen modi cogitandi dieselbe unbezweifelbare Evidenz wie der zuerst vergewisserten existentia.

c) Die cogitata des jeweiligen cogito Descartes muß nun eigens erläutern, inwiefern das Sicheinbildenvon-etwas und das empfindende Wahrnehmen-von-etwas modi cogitandi sind, die als solche von meiner cogitatio unabtrennbar sind (9.  Abschnitt). Ebenso, wie Ich es bin, der sich im verstandesmäßig-einsehenden Bewußtseinhaben-von dessen bewußt ist, daß Ich als dieses einsehende Bewußtseinshaben-von unbezweifelbar bin, ebenso bin Ich es auch, der sich im einbildenden, also imaginativ vorstellenden Bewußtseinhaben-von-etwas dessen bewußt ist, daß Ich selbst als dieses imaginativ vorstellende Bewußtsein-von unbezweifelbar bin (Sed vero etiam ego idem sum, qui imaginor, nam quamvis forte, ut supposui, nulla prorsus res imaginata vera sit, vis tamen ipsa imaginandi revera existit et cogitationis meae partem facit). Die ichliche Weise des imaginativen Vorstellens ist auch eine Weise, wie Ich als Ich für mich selbst gegeben bin. Sie ist somit rein cogitativen, bewußtseinsmäßigen Wesens. Etwas anderes ist es, daß Ich in dieser Bewußtseinsweise nicht mich selbst, sondern körperlich Seiendes imaginativ vorstellen kann. Aber nicht nur die ichliche Vollzugsweise des imaginativen Vorstellens, sondern auch das darin unmittelbar Vorgestellte, das immanente Vorstellungsbild, gehört mit zum unbezweifelbaren Bestand meiner cogitatio. Gleiches gilt auch für das empfindende Wahrnehmen. Ich bin mir meiner selbst bewußt als das Ich, daß ein empfindend-wahrnehmendes Bewußtsein-von-etwas hat (Idem denique ego sum, qui sentio, sive qui res corporeas tamquam per sensus animadverto). Nicht nur die ichliche Bewußtseinsweise des Empfi ndens und Wahrnehmens, sondern auch das darin unmittelbar empfindend-wahrnehmend Vorgestellte ist rein cogitativen Wesens (certe videre videor, audire, calescere. Hoc falsum esse non potest, hoc est proprie, quod in me sentire appellatur; atque hoc praecise sic sumptum nihil aliud https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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est quam cogitare). Das bewußtseinsimmanent empfindungs- und wahrnehmungsmäßig Vorgestellte ist das Wahrnehmungsbild im Unterschied zu den imaginativen Vorstellungsbildern der unterschiedlichen Vergegenwärtigungsweisen. In jedem modus cogitandi bin ich wesenhaft gerichtet auf etwas, von dem ich Bewußtsein habe. Wenn jeder modus cogitandi ein cogito ist, dann gehört zu jedem konkreten cogito ein konkretes cogitatum als Strukturmoment. Das cogitatum des imaginativen Vorstellens ist das bewußtseinsimmanente Vorstellungsbild. Das cogitatum des empfindenden Wahrnehmens ist das bewußtseinsimmanente Wahrnehmungsbild. So wie das imaginative Vorstellungsbild von der ichlichen Bewußtseinsweise des imaginativen Vorstellens unterschieden werden muß, so auch das Wahrnehmungsbild von der ichlichen Bewußtseinsweise des Wahrnehmens. Doch auch alle anderen ichlichen Bewußtseinsweisen – das Einsehen, Wollen, bejahende Urteilen – sind von Hause aus, also wesensmäßg auf das ihnen korrelierende cogitatum gerichtet: auf das Eingesehene, Gewollte, Geurteilte. Damit gelangt die Bewußtseins-Analytik Descartes’ zu der entscheidenden Einsicht, daß das in seinem Wirklichsein und Wassein vergewisserte Ich eine dreigliedrige Wesensstruktur hat. Das Ich ist nicht nur ein Selbstpunkt oder Selbstpol. Mein Ich ist auch nicht nur ein ichliches Bewußtsein-von. Mein Ich ist in seinen cogitationes, in seinem jeweiligen ego cogito, ein Bewußtseinhaben-von Etwas. Dieses Etwas ist das, worauf das Ich in seinen Bewußtseinsweisen unmittelbar bezogen ist. Es ist das jeweils cogitatio-immanent Vorgestellte seines Vorstellens. Es ist das cogitatum seines jeweiligen cogito: ego-cogito-cogitatum.

d) ego cogito me cogitare cogitatum Wollen wir in der Formel für das Bewußtsein ego-cogito-cogitatum die Struktur des Selbstbewußtseins eigens zum Ausdruck bringen, dann muß die Formel lauten: ego cogito me cogitare cogitatum – Ich bin mir meiner selbst bewußt (ego cogito), daß Ich Bewußtsein habe https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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(me cogitare) von etwas (cogitatum). Ein wiederholt vorgetragener Einwand gegen diese Formel lautet, Descartes selbst gebe diese Formel gar nicht, die mit dem A. c. I. gebildete Formel finde sich bei Descartes selbst nicht. Dieser Einwand geht jedoch fehl. Gegen Ende der II. Meditation, im 15. Abschnitt, sagt Descartes: Fieri enim potest, ut hoc quod video non vere sit cera, fieri potest, ut ne quidem oculos habeam, quibus quidquam videatur: ›Denn es kann sehr wohl sein, daß das, was ich sehe, nicht wahrhaft Wachs ist, es kann sogar sein, daß ich überhaupt keine Augen habe, um mit ihnen etwas zu sehen‹; sed fieri plane non potest, cum videam, sive (quod iam non distinguo) cum cogitem me videre, ut ego ipse cogitans non aliquid sim: ›aber es ist ganz unmöglich, daß, während ich sehe oder (was ich für jetzt nicht unterscheide) während ich das Bewußtsein habe zu sehen, Ich selbst nicht irgendetwas bin‹. Hier expliziert Descartes selber das ›cum videam‹ durch das ›cum cogitem me videre‹: ›während ich sehe‹ heißt also bewußtseinsmäßig: während ich denke, daß ich sehe, oder: während ich das Bewußtsein habe zu sehen. Das videre ist eine konkrete Weise des cogitare. Für videre können wir cogitare einsetzen. Dann lautet das Zitat Descartes’: cum cogitem me cogitare, oder: ego cogito me cogitare. Der A. c. I., den nicht nur der Interpret, sondern Descartes selber einführt, bringt die Selbstbewußtseinsstruktur sprachlich zum Ausdruck. Daß das cogitare, das Vorstellen, z. B. das Sehen, in sich auf ein cogitatum gerichtet ist, wurde von Descartes schon im ersten Teil der II. Meditation ausgeführt. Damit ist eindeutig erwiesen, daß Descartes die cogitatio, das Bewußtsein, als Selbstbewußtsein in der von ihm selbst gewählten sprachlichen Form denkt: ego cogito me cogitare cogitatum. Wenn die cogitatio in ihrer Mannigfaltigkeit der ichlichen Bewußtseinsweisen mit der existentia unbezweifelbar gewiß ist, und wenn jede der Bewußtseinsweisen in sich wesenhaft gerichtet ist auf ein Etwas, das für mich entsprechend der jeweiligen Art der Bewußtseinsweise bewußt ist, dann ist auch dieses cogitatum mit dem ego und seinem cogito unbezweifelbar gewiß. In der Selbstvergewisserung des Ich ist mit dem ego-cogito auch das cogitatum in seinem Wirklichsein und Wassein unbezweifelbar gewiß. Auch wenn kein in meinem Bewußtsein als cogitatum imahttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ginativ vorgestellter Körper außerhalb meines Bewußtseins wirklich existieren sollte, existiert dennoch in unbezweifelbarer Weise mein einbildendes Vorstellen und das Vorstellungsbild als Strukturmoment meiner cogitatio. Solange Ich mir meiner selbst bewußt bin als imaginativ vorstellendes Bewußtsein von einem imaginativ Vorgestellten, ist zwar ungewiß, ob meinen inneren Vorstellungsbildern äußere Körper entsprechen, absolut gewiß ist aber, daß Ich wahrhaft existiere als dieses imaginativ vorstellende Bewußtsein-von-einemVorgestellten. Mein cogito in der Weise des einbildenden Bewußtseins-von ist als Vorstellungsweise so, daß ich in ihr nur körperlich Seiendes vorstellig machen kann. Ich kann aber dieses Seiende nur deshalb im cogito des imaginari vorstellig machen, weil das imaginative Vorstellen selbst eine ichliche Bewußtseinsweise ist. Ähnlich verhält es sich mit der Empfindung und Wahrnehmung. An einer früheren Station auf dem Meditationsweg (6. Abschnitt) wurde die ichliche Tätigkeit des sentire als nicht zur Ichheit des Ich gehörig dargetan. Denn damals wurde das sinnliche Empfinden nur als physisches Phänomen der leiblichen Sinnesorgane in den Blick genommen. Dagegen wird jetzt das sentire in einer anderen Hinsicht thematisiert, in der es sich auch als ein Bewußtseinsphänomen erweist. Ich bin mir meiner selbst bewußt als das Ich, das ein empfindend-wahrnehmendes Bewußtsein hat von einem Empfundenen und Wahrgenommenen, auch dann, wenn dem bewußtseinsimmanenten Empfindungsinhalt und Wahrnehmungsbild kein Wirkliches außerhalb des Bewußtseins entsprechen sollte. Meine ichliche Bewußtseinsweise, in der ich mir selbst als ein Wahrnehmen-vonetwas gegeben bin, ist mit meinem Existieren unbezweifelbar gewiß. Nunmehr hat Descartes die Bewußtseinssphäre im ganzen in ihrer dreigliedrigen Struktur als unbezweifelbar erwiesen. Die Bewußtseinssphäre im ganzen – das ist nicht nur ein isolierter Ich-Pol, sondern mein Ich, dessen Ichheit darin besteht, in mannigfaltigen cogitationes, Bewußtseinsweisen-von, auf ein je bewußtes Etwas oder vorgestelltes Etwas bezogen zu sein. Die Bewußtseinssphäre im ganzen ist das ego-cogito-me-cogitare-cogitatum. Ich bin mir meiner selbst bewußt, daß Ich Bewußtsein habe von Etwas, oder: Ich stelle vor, daß Ich Etwas vorstelle. Hieß es zu Beginn der II. Meditation, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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das methodisch zweifelnde Ich existiere selbst in unbezweifelbarer Weise, so sollte damit nicht gesagt werden, daß sich ein bloßer Ichpunkt seines Wirklichseins vergewissere. Das Ich als Selbstbewußtsein ist wesenhaft Bewußtseinhaben-von-etwas, ein Selbstbewußtsein, das in seinen gegenständlich gerichteten Bewußtseinsweisen je auf ein entsprechendes cogitatum bezogen ist. Das seit Beginn der I. Meditation gesuchte, durch keinen Zweifel in seinem Wirklichsein und Wassein zu erschütternde Fundament für die neu zu errichtende Erste Philosophie hat sich nunmehr in seiner vollen, d. h. dreigliedrigen Wesensstruktur gezeigt. Früher wurde von uns des öfteren vogreifend gesagt, das vom Zweifel nicht zu erschütternde Fundament, das von Descartes gesucht und gefunden werde, sei das Selbstbewußtsein. Damals konnte eine solche Formulierung noch mißverstanden werden, als handele es sich beim Selbstbewußtsein nur um ein Selbst oder Ich, das sich seiner selbst bewußt ist. Inzwischen hat sich jedoch gezeigt, daß das Selbstbewußtsein eine dreigliedrige Wesensstruktur hat: ego cogito me cogitare cogitatum. Das Selbstbewußtsein durchgreift die ganze Bewußtseinssphäre, nicht nur das ego oder ego cogito, sondern auch das cogitatum. Denn das Selbstbewußtsein vergewissert sich seiner selbst: 1. hinsichtlich des ego, 2. hinsichtlich der mannigfaltigen Weisen des ego cogito, 3. hinsichtlich der zu diesen Weisen des cogito gehörenden cogitata. Exkurs: Augustinus In mindestens drei verschiedenen Textstellen entfaltet auch Augustinus den Gedanken, daß ich mich zwar über vieles täuschen kann, nicht aber darüber, daß ich wirklich existiere. Hierfür wählen wir die Textstelle aus dem zweiten Buch des Dialogs »De libero arbitrio«, Über den freien Willen, in dem es heißt: Quare prius abs te quaero, ut de manifestissimis capiamus exordium, utrum tu ipse sis. An fortasse tu metuis ne in hac interrogatione fallaris? cum utique si non esses falli omnino non posses«1: ›Deshalb frage ich dich denn 1

Augustinus, De libero arbitrio; ed. J. Brachtendorf 2006, 134.

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zunächst, um vom Einleuchtendsten den Anfang zu nehmen, ob du selbst bist (existierst). Oder fürchtest du vielleicht, daß du in dieser Frage dich täuschst? Freilich, wenn du nicht wärest (existiertest), könntest du dich überhaupt nicht täuschen.‹ In der Tat, Augustinus hat deutlich den Gedanken gefaßt, daß ich mich zwar in bezug auf anderes, das ich selbst nicht bin, täuschen kann. Um mich aber zu täuschen oder getäuscht zu werden, muß ich selber existieren. Wenn auch für Augustinus diese Einsicht die gewisseste ist, so dient sie ihm nicht als das erste Seins-, Wahrheits- und Erkenntnisprinzip, wie es für Descartes der Fall ist. Augustinus begründet nicht – wie Descartes – die Erste Philosophie und das menschliche Wissen im ganzen aus dem unbezweifelbaren Selbstbewußtsein. Augustinus faßt nicht im Selbstbewußtsein, nicht in der Immanenz der Bewußtseinssphäre Fuß, um innerhalb dieser Bewußtseinsimmanenz Wege zur Vergewisserung der Urtranszendenz zu Gott und der darin gründenden Transzendenz zur Körperwelt zu suchen. Das aber ist der Weg Descartes’ und der an ihn anschließenden neuzeitlichen Philosophie des Selbstbewußtseins. Augustinus begründet nicht – wie Descartes – die philosophische Gotteserkenntnis aus der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins. Trotz seiner Einsicht in die Unbezweifelbarkeit (Nichttäuschbarkeit) des eigenen Wirklichseins verbleibt Augustinus in der vorneuzeitlichen Überlieferung, für die das Wissen vom höchsten Seienden und dieses höchste Seiende selbst ohne Vermittlung der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins das erste und höchste Prinzip für die Seins-, Wahrheits- und Erkenntnisbegründung ist. Trotz der von Augustinus ähnlich wie bei Descartes ausgesprochenen Einsicht in die Nichttäuschbarkeit der eigenen Existenz ist er kein neuzeitlicher Denker, kein Denker aus der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins.2

2 Vgl. zum Verhältnis Descartes’ zu Augustinus: Cassirer 1995, 28; Schäfer 2006, 74 ff.; Schäfer 2009, 25–44.

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e) Descartes und die Intentionalität des Bewußtseins Mit dem Beginn der II. Meditation wurden bisher drei wesentliche Gedankenschritte in der geistig-intuitiven Selbsterkenntnis des je eigenen philosophierenden Ich vollzogen. Es sind jene drei Schritte, in denen dieses Ich als der absolute Seins-, Wahrheits- und Erkenntnisboden erkannt wurde. Der erste entscheidende Schritt bestand in der Selbstvergewisserung des eigenen philosophierenden, methodisch generell zweifelnden Ich hinsichtlich seines absolut unbezweifelbaren Wirklichseins (existentia). Diese Selbstvergewisserung brachte schon mein methodisch zweifelndes Ich als ein ›Bewußtsein seiner selbst‹, als Selbstbewußtsein zum Vorschein und zur Sprache. Es war die sprachliche Wendung: Solange Ich davon Bewußtsein habe, daß Ich irgendetwas bin. Für die sprachliche Wendung ›daß Ich irgendetwas bin‹ können wir auch einsetzen ›daß Ich ein in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell zweifelndes Ich bin‹. In diesem ersten Schritt meiner unbezweifelbaren Selbsterkenntnis kommt mein Ich schon als Selbstbewußtsein in den Blick, wenn auch so, daß das ichliche Bewußtsein, das cogito und die cogitatio, noch nicht als die essentielle Verfassung meines Ich erkannt wird. Die Einsicht in die cogitatio als essentielle Verfassung meines Ich ist der zweite Schritt auf dem Gesamtweg der meditativen Bewußtseins-Analytik. Es ist der Schritt der Selbstvergewisserung des eigenen Ich hinsichtlich dessen essentia, dessen Wesensverfassung. Es ist die analytische Einsicht, daß das, was das Ich als Ich in seiner Ichheit ist, das cogito, die cogitatio ist. Doch mit der Selbsterfassung hinsichtlich der cogitatio als der eigenen Wesensverfassung war nur die allgemeinste Wesensstruktur meiner Ichheit enthüllt: das gegenständlich gerichtete Bewußtseinhaben-von in der Verfaßtheit des Selbstbewußtseins. Der dritte Schritt in der meditativen Selbsterkenntnis ist die analytische Ausfaltung meiner zunächst nur formal-allgemein erfaßten cogitatio in die vielfältigen ichlichen Bewußtseinsweisen-von. In der Ausführung dieses dritten Schrittes ergab sich, daß die ichlichen Bewußtseinsweisen-von in sich wesenhaft gerichtet sind auf ein behttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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wußtseinsimmanent Vorgestelltes. Mein methodisch zweifelndes, die setzende Zustimmung anhaltendes Bewußtsein ist ein solches von einem Bezweifelten. Das, worauf ich in meiner Bewußtseinsweise, in meinem jeweiligen cogito, bezogen bin, ist für mich bewußt und darin gegeben gemäß der Weise, in der ich in meinem cogito auf es bezogen bin. Ist das cogito ein dubito, so ist das cogitatum ein dubitatum. Die Welt der Körper ist, wenn ich auf sie in der Bewußtseinsweise des dubito bezogen bin, bewußtseinsmäßig als ein dubitatum gegeben. Und so entsprechend für jedes andere cogito. Mein imaginativ vorstellendes Bewußtsein-von, mein cogito als imaginor, ist wesenhaft auf ein cogitatum von der Art des imaginativ Vorgestellten gerichtet. Das im Selbstbewußtsein zentrierte Vorstellen-von, Bewußtseinhaben-von, das cogito, ist unablösbar bezogen auf das im Bewußtsein Vorgestellte, auf sein spezifi sches cogitatum. Zur Wesensverfassung meines Ich gehören nicht nur die vielfältigen ichlichen Bewußtseinsweisen, sondern mit diesen auch das, worauf eine jede spezifische Bewußtseinsweise, ein jedes konkretes cogito, unmittelbar im Bewußtsein bezogen ist: das bewußtseinsimmanente cogitatum. Sichbeziehen-auf, Sichrichten-auf, Abzielen-auf ist das intendere, die intentio. Dasjenige aber, worauf ich abziele, worauf ich mich richte, ist das intentum. Jedes konkrete cogito, jedes Ich-habe-Bewußtsein-von in der Struktur des Selbstbewußtseins, hat den Wesenscharakter einer intentio. Die intentio ist aber nur, was sie ist, in ihrem unabreißbaren Zusammenhang mit einem intentum. Der Wesenszusammenhang von cogito-cogitatum ist die wesenhaft e Zusammengehörigkeit von intentio-intentum. So wie jedes cogito eine intentio ist, so ist jedes cogitatum ein intentum der intentio. Cogito und cogitatum, intentio und intentum fallen nicht zusammen, sondern müssen in ihrer wesenhaften Unterschiedenheit gesehen und festgehalten werden. Zugleich aber sind die so Unterschiedenen unabreißbar zusammengehörig – eine Unterschiedenheit in der Zusammengehörigkeit. Die Unterschiedenheit von intentio und intentum läßt sich terminologisch als intentionale Diff erenz fassen. Die cogitatio, das Bewußtsein als Selbstbewußtsein, ist intentional verfaßt. Zur Intentionalität des Bewußtseins gehört nicht nur ein https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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intentionales Sichrichten-auf als Wesenscharakter der Bewußtseinsweisen, sondern auch das korrelative Worauf, das intentum. Exkurs Franz Brentano – Edmund Husserl Franz Brentano, Edmund Husserls philosophischer Lehrer in Wien in der Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, war es, der in seinem Hauptwerk von 1874 »Psychologie vom empirischen Standpunkt« die cartesische Einsicht in den intentionalen Charakter der Bewußtseinsphänomene aufgriff. Was wir mit Descartes die Bewußtseinsphänomene (die cogitativen Phänomene) nennen, bezeichnet Brentano als die psychischen Phänomene. In seiner »Psychologie vom empirischen Standpunkt« geht es ihm um eine wesensmäßige Abgrenzung der psychischen Phänomene von den physischen Phänomenen. Das entscheidende Wesensmerkmal der psychischen Phänomene sieht Brentano in deren intentionaler Verfaßtheit. Jedes psychische Phänomen ist für ihn durch die intentionale Beziehung auf etwas wesenhaft charakterisiert. Für die Wesensbeziehung aller psychischen Phänomene wählt Brentano verschiedene sprachliche Wendungen, die alle auf denselben Wesensverhalt in den psychischen Phänomen hinweisen sollen. Jedes psychische Phänomen ist wesensmäßig charakterisiert durch »die Beziehung auf einen Inhalt«, »durch die Richtung auf ein Objekt«, »durch die immanente Gegenständlichkeit«, »durch die intentionale oder mentale Inexistenz eines Gegenstandes«.3 Diese Wesenseinsicht in die psychischen Phänomene bzw. Bewußtseinsphänomene greift Husserl auf und entfaltet sie so, daß er darin über Brentano und dessen Einsicht hinausgeht. Husserl entfaltet die Brentanosche Einsicht zu einer phänomenologischen Wesenslehre von der Intentionalitat des Bewußtseins. Dieses bedeutsame phänomenologische Lehrstück wurde von Husserl erstmals in den »Logischen Untersuchungen« von 1900/01 durchgeführt und dort 3 Brentano, Psychologie; hrsg. O. Kraus 1955, I. Band: 124. Siehe hierzu: Coriando 2002, 65–74.

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vor allem in der V. der insgesamt Sechs Logischen Untersuchungen. Die V. Logische Untersuchung trägt die Überschrift »Über intentionale Erlebnisse und ihre Inhalte«.4 Auch wenn Husserl in der V. Logischen Untersuchung seine phänomenologische Lehre von der Intentionalität in einer kritischen Auseinandersetzung mit Brentano (und mittelbar mit Descartes) entfaltet, ist diese Kritik eine phänomenologische Läuterung dessen, was zuerst Descartes in seiner Bewußtseins-Analytik durchgeführt hat und was von Brentano aufgegriffen und auf seine Weise entfaltet wurde. Husserls phänomenologische Läuterung dessen, was er als positive sachaufweisende Einsicht von Brentano und Descartes übernimmt, gilt vor allem der Lehre von der ›intentionalen Inexistenz‹ des ›immanenten‹ Gegenstandes. Seine läuternde Kritik gilt der Brentanoschen Rede von der intentionalen Inexistenz des immanenten Gegenstandes, sofern diese Rede in der Nähe dessen verbleibt, was für Descartes das immanent Vorgestellte vom Charakter eines inneren Vorstellungsbildes oder eines inneren Zeichens ist, das auf den bewußtseinsäußeren Gegenstand abbildend oder hinzeigend verweist. Diese erkenntnistheoretische Abbild- oder Bildertheorie und Zeichentheorie ist es vor allem, der Husserls Kritik gilt. Auch wenn Brentano nicht von inneren Bildern spricht, hält sich seine Rede von der mentalen Inexistenz des Gegenstandes in einer verdächtigen Nähe zu einer Position, die – wie Descartes – den unmittelbaren Erkenntnisgegenstand in der Bewußtseinsimmanenz ansetzt. In seiner phänomenologischen Kritik der Rede von der intentionalen oder mentalen Inexistenz des Gegenstandes zeigt Husserl, daß der wahre intentionale Gegenstand der intentionalen Bewußtseinsweisen nicht ein inneres Bild vom äußeren Gegenstand, und nicht ein inneres Zeichen für einen außerhalb des Bewußtseins angesetzten Gegenstand ist, sondern der äußere Gegenstand selbst ohne Vermittlung innerer Erkenntnisbilder. Als äußerer intentionaler Gegenstand ist dieser für Husserl nicht außerhalb des Bewußtseins, so, daß 4 Husserl, V. Logische Untersuchung; hrsg. Panzer 1984, 352 ff . Siehe hierzu: Coriando 2002, 75 ff.

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eine Überbrückung der Kluft zwischen Bewußtsein und materiellem Ding gesucht werden müsse. Der raum-zeitlich-materielle Gegenstand ist für Husserl vom Bewußtsein und dessen Akten unmittelbar gemeint und erfaßt. Dennoch sind die Gegenstände nicht in derselben Weise im Bewußtsein wie die zum Bewußtsein selbst gehörenden Bewußtseinsakte. Die eigene Art, wie reale Gegenstände vom intentionalen Bewußtseinsakt als intentionale Gegenstände erfaßt sind, nennt Husserl die »intentionale Immanenz«. Der Gegenbegriff zur intentionalen Immanenz ist die »reelle Immanenz«. ›Reell‹, nicht zu verwechseln mit ›real‹, ist alles bewußtseinsimmanent, was selbst zum Bewußtsein gehört und an der Seinsart des Bewußtseins teilhat. Die Rede von der intentionalen Immanenz ist bestimmt durch ein Wissen darum, daß der intentional-immanente Gegenstand in seiner Seinsweise der Realität gegenüber der Seinsweise des Bewußtseins transzendent ist. Aber als transzendent wird er von den intentionalen Bewußtseinsakten unmittelbar erfaßt. Der analytische Aufweis der eigenen, in sich dreifach strukturierten ichlichen Bewußtseinssphäre ist das erste Thema der II. Meditation, das in der Überschrift angezeigt wird: »Über das Wesen des menschlichen Geistes«. Der menschliche Geist (mens humana) ist die ichliche Bewußtseinssphäre, die jetzt in ihrer existentia und essentia mit absoluter Gewißheit erkannt ist. Das sich daran unmittelbar anschließende zweite Thema der II. Meditation wird in der zweiten Hälfte des Titels angezeigt: »Quod ipsa sit notior quam corpus«. Es soll gezeigt werden, daß die Selbsterkenntnis meines Geistes, meiner ichlichen Bewußtseinssphäre in ihrer Struktur egocogito-cogitatum, ursprünglicher ist als meine verstandesmäßige Erkenntnis vom körperlichen Seienden – falls sich meine auf die Körperwelt bezogene Erkenntnis, die vorerst noch in den methodischen Zweifel gezogen ist, als eine wahre Erkenntnis herausstellen sollte, deren Wahrheit aber aus der absoluten Gewißheit des Selbstbewußtseins begründet werden muß.

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§ 10 Die geistige Selbsterfassung der je eigenen ichlichen Bewußtseinssphäre in ihrer höchsten Gewißheit als notwendige Voraussetzung in der verstandesmäßigen Erkenntnis von der Körperwelt Descartes resümiert (10. Abschnitt): Aus dem, was ich in der ersten Hälfte der II. Meditation entfaltet habe, fange ich an, sehr viel besser zu erkennen, wer ich bin (quisnam sim), d. h. was ich als das methodisch zweifelnde Ich in meiner Ichheit bin: das absolut gewisse ego-cogito-me-cogitare-cogitatum, also die in sich dreifach strukturierte Bewußtseinssphäre. Obwohl sich Descartes in der methodischen Zweifelshaltung, in der Haltung des generellen Aussetzens der setzenden Zustimmung (assensionem cohibere) befindet, läßt er noch einmal die vormeditative Selbst- und Weltverhaltung zu Wort kommen. Trotz der Unbezweifelbarkeit der eigenen Bewußtseinssphäre scheint es immer noch so, als ob das körperlich Seiende (res corporea), dessen Vorstellungsbilder sich durch meine Einbildungskraft bewußtseinsimmanent bilden (quarum imagines cogitatione formantur), viel deutlicher erkannt werden als dasjenige von meinem Ich, das nicht Gegenstand der Einbildung ist (quid mei, quod sub imaginationem non venit), das ich vielmehr unmittelbar geistig erfasse. Diesem Schein geht Descartes zunächst nach, um dann aber zu der Erkenntnis zu gelangen, daß dasjenige, was wir als deutliche Erkenntnis des körperlich Seienden vermeinen, nicht unsere sinnliche und imaginative Vorstellung von ihm ist, sondern unser rein geistiges Erkennen der substanziellen Wesensverfassung der Körperdinge. Ob dann aber eine solche Wesenserkenntnis der res corporea im Unterschied zur res cogitans in sich auch unbezweifelbar wahr ist – zu dieser Vergewisserung bedarf es erst noch des sicheren Nachweises, daß mein Verstandesdenken überhaupt zu unbezweifelbaren gegenständlich gerichteten Erkenntnissen zu gelangen vermag. Dies wird der Nachweis sein, daß die Seinsursache meiner selbst und damit meines Verstandesdenkens kein deceptor sein kann, sondern der unbezweifelbar notwendig existierende Schöpfergott ist. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 10. Selbsterfassung der ichlichen Bewußtseinssphäre

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Zunächst aber untersucht Descartes, was eigentlich in unserer vermeintlichen Erkenntnis vom körperlich Seienden deutlich erkannt wird (11. Abschnitt). Dazu greift er eine Erkenntnis von einem Körper auf so, wie wir sie in der vormeditativen Erkenntnishaltung, also ohne methodischen Zweifel, vollziehen. Zu meiner natürlichen Erkenntnishaltung gehört die Meinung, daß das, was wir sinnlich erkennen, das Deutlichste und Sicherste an unserer Erkenntnis des Körpers sei. Descartes greift zu einem Beispiel eines Körpers und dessen Erkenntnis, den er in seinem näheren lebensweltlichen Wahrnehmungsfeld antrifft: ein auf seinem Arbeitstisch liegendes Stück Wachs (cera). Meine sinnliche Wahrnehmung von diesem Wachs wird dadurch gekennzeichnet, daß Descartes fünf verschiedene sinnliche Beschaffenheiten an diesem Wachs benennt, von denen ich auf dem Wege der fünf Sinne Kenntnis erhalte: Das Bienenwachs hat, wenn ich es schmecke, die Beschaffenheit des Honiggeschmackes (sapor). Der Wahrnehmungssinn des Riechens vermittelt mir eine bestimmte Duftbeschaffenheit (odor). Auf dem Zugangsweg des optischen Sehens nehme ich eine bestimmte farbliche Beschaffenheit (color) und eine bestimmte Gestalt (figura) und Größe (magnitudo) wahr. Mein Tastsinn (tangere) vermittelt mir die Beschaffenheit der Härte und der Kälte. Klopfe ich gegen das Wachsstück, so höre ich einen von ihm ausgehenden Ton (sonus). In meiner natürlichen Erfahrungshaltung bin ich der festen Meinung, daß es diese fünffach verschiedenen sinnlichen Beschaffenheiten seien, die mir eine deutliche, ja sogar die deutlichste Erkenntnis von diesem Körper verschaffen. Um nun aber darzutun, daß es gerade nicht diese empirischen (sinnlichen) Beschaffenheiten des Körpers sind, in denen ich das Körpersein erkenne, sondern etwas ganz anderes, nähert Descartes das Wachsstück dem offenen Kaminfeuer. Durch dessen Wärme schmilzt das Wachs und verliert bzw. verändert alle bisherigen sinnlichen Beschaffenheiten. Angesichts dieses so veränderten Wachses stellt sich die Frage: Bleibt es auch jetzt noch dasselbe Wachs (Remanetne adhuc eadem cera?)? Habe ich es jetzt noch mit demselben Körper zu tun? Offenbar ja! Es bleibt im Wandel seiner sinnlich erfahrbaren Beschaffenheiten derselbe Körper. Aber seine Selbigkeit https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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2. Kapitel: Selbstbewußtsein als erstes Prinzip

beruht nicht in den sinnlich wahrnehmbaren Beschaffenheiten, die entweder verloren gegangen sind oder sich verändert haben. Wenn das Selbe in seiner Selbigkeit nicht das Korrelat meiner sinnlichen Erfahrung ist, welches Korrelat welcher Erkenntnisweise ist dann die Selbigkeit desselben Körpers? Descartes unterscheidet mit der Tradition drei Erkenntniswege: den sinnlich empfindenden, den imaginativ vorstellenden und den rein verstandesmäßigen Weg. Nachdem er im Abschnitt 11 gezeigt hat, daß es nicht die sinnliche Empfindung und Wahrnehmung sein könne, in der ich die im Wandel der sinnlichen Beschaffenheiten identisch bleibende Wesensverfassung des Körpers erkenne, untersucht er im Abschnitt 12, ob es vielleicht die imaginatio, die Einbildungskraft, sei. Zunächst scheint es so. Anschließend stellt sich aber heraus, daß auch sie es nicht sein kann, sondern nur das reine Verstandesdenken, worin ich die bleibende Wesensverfassung der res corporea denke. Vielleicht war das, was ich am Wachs als das eigentliche Körperhafte deutlich zu erkennen meinte, dasjenige, was ich jetzt in meiner Einbildungskraft vorstelle. Ich kann mir nämlich das Wachs selbst so vorstellen, daß es ein Körper ist, dessen Körpersein darin besteht, zuvor mit jenen, jetzt mit diesen, später mit wieder anderen Eigenschaften versehen zu sein. Was aber ist genau das, was ich auf diese Weise imaginativ vorstelle (imaginor)? Was ist das, was ich in der Einbildungskraft vorstelle, wenn ich versuche, mir den Körper als dasjenige vorzustellen, was dem Wandel seiner sinnlichen Eigenschaften als Bleibendes zugrundeliegt? Reicht, was ich mittels der Einbildungskraft als das Körperhafte des Körpers vorstelle, an den Begriff des Körpers und der in diesem Begriff gedachten Wesensverfassung heran? Wenn ich von allen sinnlichen Beschaffenheiten des Wachses absehe und nur auf das achte, was dem Wachs als Körper unwandelbar zugehört und was die Selbigkeit des Wachses als Körper im Wandel seiner sinnlichen Eigenschaften ausmacht, dann verstehe ich das gleichbleibend Zugrundeliegende als etwas Ausgedehntes (extensum), Biegsames ( flexibile), Veränderliches (mutabile). Ich verstehe das Wachs als Körper in seinem Körpersein, wenn ich dieses als ein räumlich Ausgedehntes verstehe, das in seinem Aushttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 10. Selbsterfassung der ichlichen Bewußtseinssphäre

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gedehntsein hinsichtlich seiner Gestalt ( figura) und Größe (magnitudo) verformbar und veränderbar ist. Die entscheidende Frage lautet aber: Wie verstehe ich an diesem Ausgedehnten, Verform- und Veränderbaren die Allgemeinheit aller möglichen Gestalten und Größen? Was ist das von mir allgemein verstandene Verformbare und Veränderbare, das als das Körperhafte allem Wandel der sinnlichen Eigenschaften zugrundeliegt? Ist das flexibile und mutabile ein Korrelat meines imaginativen Vorstellens in der Weise der Einbildungskraft? Mittels dieser jedoch vermag ich mir nur vorzustellen, wie das Wachs aus einer bestimmten in eine andere bestimmte Gestalt übergehen kann. In der Einbildungskraft vermag ich also nur verschiedene mögliche Gestaltungen des Wachses zu durchlaufen. Was die Einbildungskraft vorstellig machen kann, ist nur eine jeweils besondere Gestalt. Zwar hat sie der sinnlichen Wahrnehmung voraus, nicht nur an die eine jeweils vorgegebene Gestalt gebunden zu sein. Sie kann vielmehr eine Reihe möglicher Gestaltungen durchlaufen. Aber auf diesem Wege erreicht sie niemals jene Allgemeinheit, die ich verstehe, wenn ich begreife, daß das Wachs als ausgedehnter, verform- und veränderbarer Körper unzähliger Veränderungen fähig ist. Die unzähligen Veränderungen in der allumfassenden Allgemeinheit kann ich nicht imaginativ durchlaufen. Dem imaginativen Durchlaufen möglicher Gestalten liegt schon die Allgemeinheit aller möglichen Veränderungen voraus. Ebenso verhält es sich mit der Ausdehnung. Verstehe ich diese als das gleichbleibende Körperhafte des Wachses, dann verstehe ich, daß das Wachs als Körper unzählig viele Verschiedenheiten seiner Ausdehnung nach zuläßt, ohne daß ich für dieses Verständnis eine Vielfalt von einzelnen Ausdehnungsgrößen durchlaufen müßte. Ich denke im Begriff der Ausdehnung als der Wesensbestimmung des Körpers eine Allgemeinheit, die allen möglichen besonderen Gestaltungen vorausgeht und die ich im imaginativen Vorstellen niemals durchlaufen kann (nec possum tamen innumerabiles imaginando percurrere). Damit stößt Descartes zu der Einsicht vor, daß die Begriff e des Ausgedehnten, Verformbaren und Veränderbaren, in denen ich das identisch bleibende Körpersein des Wachses denke, nicht durch die https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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2. Kapitel: Selbstbewußtsein als erstes Prinzip

Einbildungskraft gebildet werden (ut concedam me nequidem imaginari, quid sit haec cera). Die in den Begriffen des Ausgedehnten, Verformbaren und Veränderbaren liegende Allgemeinheit ist Korrelat nur meines verstandesmäßigen Denkens (sed sola mente percipere). Was ich mir als das Körperhafte des Körpers unter Absehung seiner empirischen Beschaffenheiten mittels der imaginatio vorstellig machen kann, sind immer nur diese und jene und einige mögliche Ausdehnungen und Gestalten, nicht aber die im Begriff des Ausgedehnten liegende Allgemeinheit. Ausdehnung als allgemeine Wesensverfassung des Körpers wird nur im reinen Verstand (intellectus) gedacht. Damit ist für Descartes erwiesen, daß die Erkenntnis des Wachses als Körper nicht, wie die vormeditative Erkenntnishaltung meint, die sinnliche, aber auch nicht die imaginative, sondern allein die verstandesmäßige Einsicht ist. Das Erfassen (percipere) des Wachses als Körper, der in seinem Körpersein während des Wechsels der sinnlichen Beschaffenheiten derselbe bleibt, ist eine Einsicht einzig und allein des Verstandes (solius mentis inspectio). Diese Einsicht hat aber im gegenwärtigen Standort des meditativen Gedankenweges nur eine dienende Funktion. Denn die Frage, ob und inwieweit wir unbezweifelbare Erkenntnisse in bezug auf eine bewußtseinstranszendente reale Körperwelt gewinnen können, wird erst aus einem späteren Standort des meditativen Denkweges gestellt werden. Mit der Einsicht, daß es allein der Verstand ist, der die Selbigkeit des im Wechsel seiner sinnlichen Eigenschaften beharrenden Körpers erkennt, möchte Descartes in der II. Meditation zunächst nur deutlich werden lassen, daß die Selbsterkenntnis des eigenen Ich die sicherste und gewisseste Erkenntnis ist – sicherer und gewisser als eine mögliche Verstandeserkenntnis von der Körperwelt. Descartes möchte zeigen, daß meine deutliche Verstandeserkenntnis in bezug auf das extensum des Körpers bereits die Erkenntnis meines Geistes durch sich selbst einschließt. Die Selbsterkenntnis meiner ichlichen Bewußtseinssphäre ist in einer möglichen Verstandeserkenntnis von der Wesensverfassung des Körpers bereits eingeschlossen. Inwiefern? Hierauf antwortet der Abschnitt 15. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 10. Selbsterfassung der ichlichen Bewußtseinssphäre

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Ich, der Ich dieses Wachs als Körper deutlich mittels des Verstandes zu erfassen scheine, erkenne mich selbst nicht nur viel wahrer und gewisser, sondern auch deutlicher und einleuchtender (ego, qui hanc ceram videor tam distincte percipere, numquid me ipsum non tantum multo verius, multo certius, sed etiam multo distinctius evidentiusque cognosco). Denn wenn ich der Meinung bin, die Wesensverfassung des Wachses deutlich als Ausdehnung, Verform- und Veränderbares zu erkennen, dann kann ich in dieser auf das Wesen der res corporea gerichteten Erkenntnis mich selbst in meinem Ichsein noch gewisser als absolut unbezweifelbar erkennen. Ich brauche meinen Erkenntnisblick nur darauf zu richten, daß mein verstandesmäßiges Erfassen der Wesensverfassung des Körpers schon einschließt, daß ich als dieses ichliche geistige Erfassen-von-etwas absolut unbezweifelbar existiere (si iudico ceram existere ex eo, quod hanc videam, certe multo evidentius efficitur me ipsum etiam existere ex eo ipso, quod hanc videam). Wenn ich geistig erfassend gerichtet bin auf die geistig erfaßte Wesensverfassung des Körpers, ein ausgedehntes Beharrendes zu sein, dann kann es im jetzigen Standort der Meditation immer noch sein, daß die geistig erfaßte Wesensverfassung des Körpers in sich unwahr ist, sofern mein in gegenständlicher Erkenntnisrichtung erfassender Geist sich stets täuschen könnte oder stets getäuscht wird. Aber es ist absolut unmöglich, daß Ich als das geistige Erfassen-von-etwas für mich selbst als dieses ichliche Erfassen-vonetwas nicht wahrhaft existiere. In jeder auf die Körper gerichteten rein geistigen Wesenserkenntnis bin ich mir selbst je schon in absolut unbezweifelbarer Gewißheit gegeben als ein mir bewußtes geistiges Erfassen-von-etwas. Ich bin mir selbst in unbezweifelbarer Gewißheit gegeben als in diesem meinem ichlichen Wassein (Bewußtsein) wahrhaft existierend. Hier im 15. Abschnitt der II. Meditation findet sich auch jene Textstelle, in der Descartes die Selbstbewußtseinsstruktur der cogitatio, des Bewußtseins, durch den A. c. I. formuliert. Descartes sagt: Wenn ich urteile, daß das Wachs existiert, weil ich es sehe, so folgt daraus, daß ich es sehe, weit evidenter, daß ich selbst existiere. Denn es kann wohl sein, daß das, was ich sehe, das Wachs, gar nicht wahrhaft existiert. Aber es ist völlig unmöglich, daß ich selbst, wenn ich https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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2. Kapitel: Selbstbewußtsein als erstes Prinzip

das Wachs sehe oder wenn ich das Bewußtsein habe, es zu sehen, als dieses Bewußtsein-habende Ich nicht irgendetwas bin (sed fieri plane non potest, cum videam, sive […] cum cogitem me videre, ut ego ipse cogitans non aliquid sim). Während ich das Bewußtsein habe (denke) zu sehen, heißt: cum cogitem me videre. Das videre ist selbst eine Weise des cogitare. Daher können wir für videre das cogitare einsetzen. Dann lautet die Wendung: cum cogitem me cogitare. Das cogitare als videre hat sein eigenes cogitatum: das Gesehene, also: cum cogitem me cogitare cogitatum. Wenn wir nun noch den vom cum abhängigen Konjunktiv in den Indikativ verwandeln, dann gewinnen wir die Formel: cogito me cogitare cogitatum – ich habe Bewußtsein, daß ich von etwas Bewußtsein habe. Diese Selbstbewußtseins-Struktur gehört zu jedem ego-cogito-cogitatum, so, daß dieses hinsichtlich seiner Selbstbewußtseins-Struktur ein egocogito-me-cogitare-cogitatum ist. Dieses zu jedem cogito gehörende Selbstbewußtsein hat aber in jedem cogito zunächst einen vorrefl exiven Charakter. Erst in der ausdrücklichen Vergewisserung wird das vorreflexive Selbstbewußtsein refl exiv thematisch. In der Wendung ego-cogito-cogitatum steht das cogito für jede konkrete Bewußtseinsweise, z. B. auch für das geistige Erfassen des Verstandes oder für das sinnliche Sehen. Wenn wir aber diese Formel so umwandeln, daß das in jedem cogito eingeschlossene Selbstbewußtsein sprachlich zum Ausdruck kommt: ego-cogito-me-cogitare-cogitatum, dann steht das ego-cogito jetzt für das Selbstbewußtsein (ich habe Bewußtsein davon, daß) und das infinitivische me cogitare für die konkreten Bewußtseinsweisen. Das ego-cogito nennt in dieser abgewandelten Formel das für jede unterschiedliche konkrete Bewußtseinsweise gleichbleibende ›ich habe Bewußtsein davon, daß‹, während das me cogitare sich je nach den konkreten Bewußtseinsweisen abwandelt. Die konkreten Bewußtseinsweisen vollziehe ich so, daß ich jeweils von ihnen ein Bewußtsein habe: ich habe Bewußtsein davon, daß ich etwas geistig erfasse, oder daß ich etwas sinnlich sehe. Die Einsicht, daß ich in jeder auf die Körper gerichteten verstandesmäßigen Wesenserkenntnis mir selbst in absolut unbezweifelbarer Gewißheit gegeben bin, und zwar gegeben als das Bewußtseinhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 10. Selbsterfassung der ichlichen Bewußtseinssphäre

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haben vom geistigen Erfassen von etwas, erfüllt die Bedeutung der zweiten Hälfte des Titels der II. Meditation: der als Selbstbewußtsein verfaßte Geist ist sich selbst bekannter (notior), d. h. erkennt sich selbst früher und sicherer als er den Körper erkennt. Ich bin mir selbst als Geist, als ichliche Bewußtseinssphäre, bekannter, weil ich von mir selbst die erste gewisseste Erkenntnis habe, die den absoluten Erkenntnisboden für die darauf zu begründende Universalphilosophie bildet.

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DR I T T E S K A PI T E L WA H R H E I T U N D M ET HODE

§ 11 Die absolut unbezweifelbare Gewißheit des ego-cogito-cogitatum als Quelle und Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel Descartes eröffnet die III. Meditation »De Deo, quod existat« mit einer erneuten Vergegenwärtigung dessen, was das meditierend-philosophierende Ich innerhalb seiner methodischen Zweifelshaltung, innerhalb der methodischen Einstellung des assensionem cohibere, bisher in höchster, absoluter Gewißheit erkannt hat: die eigene Bewußtseinssphäre, die als Selbstbewußtsein verfaßt und dreigliedrig strukturiert ist. Diese Vergegenwärtigung erfolgt so, daß Descartes zuerst die Wirklichseinssetzung in der sinnlichen Wahrnehmung und im imaginativen Vorstellen erneut und ausdrücklich zurückhält. Daß aber auch das bewußtseinsimmanent Vorgestellte, das jeweilige cogitatum, mit zum gesicherten Bestand der eigenen Bewußtseinssphäre gehört, wird gerade hier ganz deutlich. Denn Descartes sagt im 1. Abschnitt : er werde auch die Vorstellungsbilder von den Körpern aus seinem Bewußtsein tilgen (imagines etiam rerum corporalium omnes vel ex cogitatione mea delebo). Sogleich wendet er sich aber selbst ein, daß solches gar nicht möglich sei, daß es in der methodischen Zweifelshaltung nur darauf ankomme, bezüglich der bewußtseinsimmanenten Vorstellungsbilder zu zweifeln, daß diese mir außerhalb des Bewußtseins existierende Körper vorstellig machen. In diesem methodischen Zweifeln nehme ich die Vorstellungsbilder so, als ob sie eitel und falsch seien, ich erachte sie für nichts (vel certe, quia hoc fieri vix potest, illas ut inanes et falsas nihili pendam). Die innere Bewußtseinssphäre ist nicht nur mein Ich mit seinen Bewußtseinsweisen-von, sondern auch das, worauf ich in diesen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 11. Quelle, Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel

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Bewußtseinsweisen bewußtseinsimmanent gerichtet bin: die cogitata qua imagines. Er wolle, fährt Descartes fort, nach erneutem Anhalten aller Wirklichseinssetzung in bezug auf das Außerhalb seines Bewußtseins nur mit sich allein sprechen (meque solum alloquendo), um in diesem meditativen Selbstgespräch sich selbst, die eigene Bewußtseinsimmanenz, zu befragen, d. h. tiefer in sie hineinzufragen, um diese mir noch bekannter und vertrauter zu machen, als sie durch die bisherige Analytik schon ausgelegt wurde (et penitius inspiciendo meipsum paulatim mihi magis notum et familiarem reddere conabor). Noch einmal vergewissert sich Descartes, was es denn heiße, eine res cogitans zu sein, indem er verschiedene Bewußtseinsweisen mit ihren cogitata benennt. Bezüglich der modi cogitandi des sinnlichen Wahrnehmens und imaginativen Vorstellens wiederholt er: Wenn auch das, was ich sinnlich empfinde, also wahrnehme, und bildlich vorstelle, außer mir nichts sein sollte, wie in der methodischen Haltung des assensionem cohibere angesetzt, so bin ich doch dessen gewiß, daß die modi cogitandi der sinnlichen Wahrnehmung und imaginativen Vorstellung und deren cogitata in mir sind (quamvis illa, quae sentio vel imaginor, extra me fortasse nihil sint, illos tamen cogitandi modos […] quatenus cogitandi quidam modi tantum sunt, in me esse sum certus). Das in me esse besagt: wirklich in mir sein, ebenso wirklich, wie ich für mich selbst wahrhaft wirklich existiere – solange nämlich, wie ich mir meiner selbst bewußt bin als das Ich, das Bewußtsein hat von Etwas. Zu Beginn des 2. Abschnitts der III. Meditation faßt Descartes zusammen: Mit diesem wenigen habe ich aufgezählt, wovon ich bisher eingesehen habe, daß ich es wahrhaft weiß (vere scio). Nun aber wolle er seine Bewußtseinsimmanenz noch sorgfältiger untersuchen, ob nicht noch etwas anderes in ihr anzutreff en sei (Nunc circumspiciam diligentius, an forte adhuc apud me alia sint). Diese hier angekündigte weiter vordringende Bewußtseinsanalytik führt dann bald zu einer Klassifi kation aller cogitationes in drei unterschiedliche Klassen oder Gattungen und anschließend zu einer Untergliederung der ersten Klasse der cogitationes in drei Arten. Zu einer dieser drei https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

Arten gehört aber die bewußtseinsimmanente Vorstellung (Begriff ) vom höchsten Seienden. In bezug auf diesen Begriff vom höchsten Seienden und im Ausgang von ihm erfolgt der bewußtseinsanalytische Nachweis von der absoluten Gewißheit bezüglich der existentia dieses höchsten Seienden unter dem Namen des Schöpfergottes. Doch bevor Descartes zu den weiteren Schritten der Bewußtseinsanalytik übergeht, refl ektiert er auf den Wahrheitscharakter der soeben erneut vergewisserten intuitiven Erkenntnis von der ichlichen Bewußtseinssphäre. Sum certus me esse rem cogitantem: Ich bin gewiß, daß Ich ein Bewußtsein-habendes Seiendes bin, das heißt: Ich bin gewiß, daß Ich mir meiner selbst bewußt bin als das Ich meiner intentional gerichteten Bewußtseinsweisen von einem bewußtseinsimmanenten intentum (cogitatum). Wenn ich diese Erkenntnis als eine höchst gewisse nenne, weiß ich dann schon – fragt Descartes –, was dazu erforderlich ist, sich einer Sache und eines Sachverhaltes in unbezweifelbarer Weise gewiß zu sein (numquid ergo etiam scio, quid requiratur, ut de aliqua re sim certus?). Mit dieser bedeutsamen Frage hält Descartes nach dem Ausschau, was die Gewißheit einer Erkenntnis als Gewißheit ist. Wissen wir aber nicht längst, was diese Gewißheit besagt? Hat nicht Descartes selbst in der I. Meditation gesagt, wann eine Erkenntnis als eine im höchsten Grade gewisse zu bezeichnen sei? Wir selbst haben doch immer wieder von der absoluten Unbezweifelbarkeit als dem Kennzeichen für die höchste Gewißheit gesprochen. In der Tat! Dennoch ist mit diesem Hinweis auf die absolute Unbezweifelbarkeit noch keine Antwort auf die Frage gegeben, die Descartes jetzt stellt. Schon im folgenden Satz sagt er, was erforderlich sei, um eine Erkenntnis als eine völlig gewisse bezeichnen zu können. Zunächst können wir uns von uns aus fragen, was das Wort ›Gewißheit‹ überhaupt bedeutet. ›Gewißheit‹ hat etwas zu tun mit ›Wissen‹. ›Gewißheit‹ benennt einen ausgezeichneten Charakter des Wissens. Nicht jedes Wissen ist ein gewisses Wissen. Die ›Gewißheit‹ meint jene ausgezeichnete Weise, wie ich etwas weiß und wie in diesem Wissen das Gewußte als das Gewußte für mich gegeben ist. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 11. Quelle, Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel

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Descartes gibt sich selbst die Antwort auf seine Frage, ob er schon wisse, was erforderlich sei, um eine Erkenntnis in ihrem Wahrheitscharakter als gewiß ausgeben zu können. In der ersten als absolut gewiß bezeichneten Erkenntnis von meiner ichlichen Bewußtseinssphäre ist nichts anderes enthalten als eine clara et distincta perceptio, eine klare und distincte (deutliche) Einsicht in mein als Selbstbewußtsein verfaßtes Bewußtsein (in hac prima cognitione nihil aliud est quam clara quaedam et distincta perceptio eius quod affirmo). Was erforderlich ist, um einer Sache gewiß zu sein, ist somit die klare und deutliche Einsicht in die zu erkennende Sache. Ohne hier in der III. Meditation zu erläutern, was denn eine clara et distincta perceptio sei, geht Descartes sogleich dazu über, die allgemeine Wahrheitsregel aufzustellen: Alles das ist wahr, was ich sehr klar und deutlich einsehe (ac proinde iam videor pro regula generali posse statuere illud: omne esse verum, quod valde clare et distincte percipio). Diese regula generalis veritatis ist die allgemeine Wahrheitsregel, in der die Voraussetzung formuliert wird, die gegeben sein muß, damit eine erkannte Sache als wahr erkannt ausgegeben werden kann. Eine Sache ist dann wahr erkannt, wenn die Wahrheit meiner Erkenntnis den Charakter völliger Gewißheit hat. Eine Erkenntnis ist aber als wahre eine gewisse Erkenntnis, wenn die zu erkennende Sache nicht nur überhaupt gewußt wird, sondern als klar und deutlich eingesehene gewußt wird. Die Gewißheit als Wahrheitscharakter einer wahren Erkenntnis wird als das klare und distinkte Eingesehensein der als wahr erkannten Sache erläutert. Was aber ist mit dieser Erläuterung der Gewißheit gewonnen? Eine klare und deutliche Einsicht – kann das überhaupt die Auszeichnung einer Erkenntnis sein? In der Alltagssprache verwenden wir die Redewendung, daß wir etwas ›klar und deutlich‹ sehen und verstehen. Wenn aber Descartes die klare und deutliche Einsicht als das allgemeine Kriterium für Wahrheit als Gewißheit einer Erkenntnis bezeichnet, meint er nicht das, was wir in der Alltagssprache darunter verstehen. Was für Descartes eine klare Einsicht und darüberhinaus eine deutliche Einsicht ist, was also für ihn clarus und distinctus bedeuten, erfahren wir nicht direkt aus den »Medihttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

tationen« selbst, wohl aber aus den »Prinzipien der Philosophie« und dort aus den Abschnitten 45 bis 47 des Ersten Teiles. Im Abschnitt 45 heißt es: Sehr viele Menschen sehen in ihrem ganzen Leben überhaupt nichts hinreichend richtig ein (nihil plane in tota vita percipiunt satis recte), um darüber ein sicheres Urteil fällen zu können (ad certum de eo iudicium ferendum).1 Hier unterscheidet Descartes zwischen dem percipere bzw. der perceptio einerseits und dem iudicium andererseits. Ein Erkenntnisurteil ist für ihn das bejahende oder das verneinende Stellungnehmen zu einer im percipere verstandesmäßig eingesehenen und erfaßten Sache. Der hier von Descartes gemachte Unterschied zwischen dem percipere und dem iudicare, zwischen dem verstandesmäßigen Einsehen und dem Urteilen, erklärt sich aus seiner Urteilslehre, die er in der IV. Meditation ausführlich behandelt. Das percipere übersetzen wir durch Einsehen und Erfassen, die perceptio durch Einsicht. Das hier gemeinte Einsehen und Erfassen ist ein Akt des Denkens. In der IV. Meditation wird Descartes zeigen, wie für ihn ein Erkenntnisurteil aufgebaut ist. Ein Erkenntnisurteil wird aus dem Zusammengehen zweier Vermögen und zweier cogitationes gebildet: zuunterst aus dem Vermögen des einsehenden, erfassenden Verstandes und darauf aufbauend aus dem Vermögen des frei wählenden und entscheidenden Bejahens oder Verneinens. Das urteilende Bewußtsein von einem darin geurteilten Sachverhalt ist somit ein fundierter Bewußtseinsakt. Der fundierende Bewußtseinsakt ist das verstandesmäßige Erfassen, das die zu erkennende Sache sich zur Einsicht bringt. Der darauf fundierte Bewußtseinsakt ist das frei wählende Stellungnehmen zu dem verstandesmäßig Eingesehenen und Erfaßten. Weil sowohl das verstandesmäßige Einsehen und Erfassen wie auch das bejahende oder verneinende Stellungnehmen zum Eingesehenen und Erfaßten je ein cogito ist, gehört zu beiden Weisen des cogito je ein cogitatum. Das cogitatum des verstandesmäßigen Einsehens und Erfassens ist das Eingesehene und Erfaßte; das cogitatum des Bejahens oder Verneinens ist das Eingesehene, Erfaßte als ein Bejahtes oder als ein Verneintes. 1 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., Erster Teil,15; AT VIII, 21 f.

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§ 11. Quelle, Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel

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Damit ein Erkenntnisurteil, ein bejahendes oder verneinendes, ein wahres Urteil sein kann, muß ich die Sache bzw. den Sachverhalt, der erkannt werden soll, in genügender Angemessenheit an das, was und wie er ist, erfassen (percipere). Nur dann kann ich in bezug auf die so eingesehene, erfaßte Sache ein certum iudicium fällen. Ein Urteil ist ein gewisses, wenn ich darin der erkannten Sache gewiß bin, d. h. wenn ich mich der erkannten Sache vergewissert habe. Hier bezieht Descartes das certum, die certitudo, auf das Urteil. Aber ein Urteil ist nur insofern ein höchst gewisses, wenn sich ein bejahendes oder verneinendes Stellungnehmen auf das in höchster Gewißheit Eingesehene und Erfaßte bezieht. Ein in höchster Gewißheit Eingesehenes ist ein höchst klar und deutlich Eingesehenes. Zu einer höchst gewissen Einsicht gehört nicht nur, daß die perceptio klar ist, sondern auch, daß sie deutlich ist (Etenim ad perceptionem, cui certum et indubitatum iudicium possit inniti, non modo requiritur ut sit clara, sed etiam ut sit distincta).2 Wie aber bestimmt Descartes, was Klarheit und was Deutlichkeit besagen?

claritas: praesens et aperta Klar nenne ich, so Descartes, eine solche perceptio, die für den aufmerkenden Geist gegenwärtig und off enbar ist (Claram voco illam, quae menti attendenti praesens et aperta est).3 Die beiden hier entscheidenden Worte für die Erläuterung der Klarheit einer perceptio lauten: praesens und aperta. Praesens heißt: gegenwärtig, anwesend. Apertus bedeutet: unverdeckt, unverhüllt, off enbar. Eine klare Verstandeseinsicht (clara perceptio) ist eine solche, die für den aufmerkenden Geist gegenwärtig und unverdeckt ist. Wichtig ist dabei zu beachten, daß Descartes sagt, die gegenwärtige und unverdeckte perceptio sei für den aufmerkenden Geist gegenwärtig und unverdeckt. 2 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., Erster Teil, 15; AT VIII, 22. 3 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., Erster Teil, 15; AT VIII, 22.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

Damit wird betont, daß das clare percipere, das klare Einsehen, ein Akt des Verstandes ist. Im Akt des verstandesmäßigen Aufmerkens ist der Verstand wach für seinen Vollzug des Einsehens und Erfassens. Was aber heißt, eine clara perceptio sei nur insofern klar, als sie für meinen aufmerkenden Geist gegenwärtig und unverdeckt ist? Wie alle modi cogitandi, so muß auch die perceptio als ein modus cogitandi, als eine cogitatio, auf die intentionale Diff erenz hin auseinandergelegt werden. Die perceptio ist sowohl percipio (ich sehe ein) wie auch das perceptum (das Eingesehene). Das percipio (cogito) ist in sich gerichtet auf sein perceptum (cogitatum). Das verstandesmäßige Einsehen und Erfassen ist in sich auf sein Eingesehenes und Erfaßtes bezogen. Wenn die perceptio ein ichliches Erfassen von einem darin Erfaßten ist, dann müssen wir auch die Begriffe ›gegenwärtig‹ und ›unverdeckt‹ als Erläuterungen der Klarheit der perceptio in ihrer intentionalen Diff erenz kennzeichnen. Eine clara perceptio ist dem aufmerkenden Geist ›gegenwärtig‹ heißt dann: dem aufmerkenden Geist ist sein einsehendes Erfassen und das darin Erfaßte ›gegenwärtig‹. Wie aber? Um dies zu sehen, müssen wir auf die volle Selbstbewußtseinsstruktur zurückgreifen: Ich bin mir meiner selbst bewußt, daß Ich ein gegenwärtiges Einsehen von einem gegenwärtigen Eingesehenen vollziehe. Es gehört zum Vollzugssinn meines verstandesmäßigen Einsehens, daß das darin Eingesehene als ein für mich Gegenwärtiges (Anwesendes) gewußt wird. In meinem geistigen Erfassen einer zu erfassenden Sache muß ich mich eigens dessen vergewissern, daß das Zuerfassende durch mein geistiges Erfassen und für dieses gegenwärtig ist. Das Unverdecktsein (aperta esse) ist die zweite erläuternde Bestimmung der Klarheit meiner perceptio. Auch das Unverdecktsein für meinen aufmerkenden Geist müssen wir auf die in der perceptio liegende intentionale Diff erenz hin interpretieren: Ich bin mir meiner selbst bewußt, daß ich ein unverdecktes Einsehen von einem darin unverdeckten Eingesehenen vollziehe. Das perceptum meines percipio, das Erfaßte meines Erfassens, ist ein Gegenwärtiges (Anwesendes) und Unverdecktes. Das Zuerfassende ist aber nicht von vornherein ein Gegenwärtiges und Unverdecktes, sondern es wird erst zu einem für mich Gegenwärtigen und https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 11. Quelle, Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel

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Unverdeckten durch das geistige Erfassen. Das percipere hat also die Funktion, die einzusehende Sache durch seinen Vollzug für mich zur Gegenwart zu bringen und unverdeckt sein zu lassen. Mein verstandesmäßiges Einsehen bringt sich den Sachverhalt dergestalt zur Anwesenheit, daß es ihn für mich zur Gegebenheit bringt, damit der Sachverhalt als so gegebener hinsichtlich dessen, was und wie er ist, vernommen werden kann. Das percipere hat als verstandesmäßiges Einsehen und Erfassen den Sinn eines Vernehmens. Nur dann, wenn das Zuerfassende durch das verstandesmäßige Erfassen eigens präsentiert ist, kann das so Präsentierte auch unverdeckt sein. Das Unverdecktsein ist wie das Zur-Gegenwart-bringen eine Leistung des percipere. Im Sichpräsentieren der zu ihrer Gegenwart gebrachten Sache zeigt sich diese in ihrer Unverdecktheit. Das verstandesmäßige Erfassen ist ein präsentierendes Aufdecken der zu erkennenden Sache. Das jetzt Ausgeführte können wir so zusammenfassen: Ich bin mir meiner selbst bewußt als ein präsentierendes-aufdeckendes Einsehen von einem darin zur Präsenz und Aufgedecktheit gekommenen Eingesehenen. Im Vollzuge meines präsentierenden und aufdeckenden Einsehens muß ich mir dessen bewußt werden, daß das Einzusehende und somit Zuerfassende auch wirklich ein zur vollen Gegenwart und Aufgedecktheit gekommenes perceptum ist. Im Vollzuge dieser Selbstvergewisserung bildet sich die Präsenz und Unverdecktheit und mit diesen die Gewißheit des perceptum meines percipere. distinctio: sejuncta esse et praecisa esse Mit der claritas haben wir nur das erste Wesensmerkmal der perceptio erläutert. Eine bloß klare perceptio gewährt für Descartes noch kein in sich gewisses Urteil. Über ihre Klarheit hinaus muß die perceptio auch Distinctheit, Deutlichkeit, an sich haben. Hier ließe sich einwenden, ob denn Deutlichkeit nicht dasselbe bedeute wie Klarheit. In der Alltagssprache verwenden wir das Wort ›Deutlichkeit‹ fast gleichbedeutend mit dem Wort ›Klarheit‹. Aber Descartes verwendet die Begriffe ›Klarheit‹ und ›Deutlichkeit‹ nicht https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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in der umgangssprachlichen Weise und schon gar nicht in der Verschwommenheit, wonach ›Deutlichkeit‹ nur ein anderes Wort für Klarheit zu sein scheint. Descartes definiert das distincte esse, das Deutlichsein einer perceptio, so: Distinct ist jene perceptio, die, während sie klar ist, von allem anderen so getrennt und abgehoben ist, daß sie überhaupt nichts anderes als das in sich enthält, was klar ist (Distinctam autem illam, quae, cum clara sit, ab omnibus aliis ita sejuncta est et praecisa, ut nihil plane aliud, quam quod clarum est, in se contineat).4 In dieser Erläuterung der Distinctheit ist ein Zweifaches zu beachten. 1. Descartes bringt hier ein Fundierungsverhältnis zur Sprache. Eine perceptio ist nur unter der Voraussetzung ihrer Klarheit auch distinct. 2. Auch die Deutlichkeit wird durch zwei Begriffe erläutert: durch das sejuncta esse (Getrenntsein) und durch das praecisa esse, das Abgehobensein. Auch diese beiden Erläuterungsbegriffe müssen im Blick auf die in der perceptio liegende intentionale Diff erenz verdeutlicht werden. Das Getrennt- und Abgehobensein betrifft das perceptum eines percipere, das Erfaßte eines Erfassens. Wenn das Zuerfassende für mein Erfassen vorgestellt ist als ein zur Gegenwart und zur Unverdecktheit Gelangtes, dann ist damit nur die Voraussetzung dafür geschaffen, daß die gegenwärtige und unverdeckte Sache nunmehr hinsichtlich dessen, was sie selbst ist, distinct erfaßt wird. Das distincte Erfassen im Unterschied zum klaren Erfassen stützt sich auf das klare Einsehen, indem es die im klar Eingesehenen noch nicht abgehobenen Bestimmungen eigens heraushebt. Dadurch tritt die zu erfassende Sache in die Getrenntheit und Abgehobenheit ihrer sachlichen Bestimmungen ein. Dadurch, daß ich die zu erfassende Sache als das so und so Bestimmte erfasse, trenne ich es von allem ab, was diese Sache vielleicht auch sein könnte, aber nicht ist. Dasjenige, wovon ich im distincten Erfassen die erfaßte Sache abhebe, ist solches, als was sie mir vor meinem distincten Erfassen zu sein schien. Oder aber es ist solches, womit sie bei einem nicht distincten Erfassen verwechselt werden kann. 4 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., Erster Teil, 15; AT VIII, 22.

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Im folgenden Abschnitt 46 äußert sich Descartes zum Fundierungsverhältnis von klarem und distinctem Erfassen.5 Eine perceptio kann klar sein, ohne schon distinct sein zu müssen. Aber die Distinctheit ist die Voraussetzung für ein wahres als gewisses Urteil. Es ist möglich, daß ich es in einem geistigen Erfassen lediglich beim klaren Erfassen bewenden lasse, ohne zum distincten Erfassen überzugehen. Doch das Umgekehrte ist nicht möglich. Distinct kann ich etwas nur erfassen, wenn es dafür schon klar erfaßt ist, d. h. wenn ich es für das distincte Erfassen schon zur Anwesenheit und Unverdecktheit gebracht habe. Das klare Erfassen stellt im Präsentieren und Aufdecken des Zuerfassenden dasjenige bereit, was hinsichtlich seiner Bestimmungen durch das distincte Erfassen in die Getrenntheit und Abgehobenheit und damit in die Unterschiedenheit zu anderem gebracht wird. Auch das distincte, das trennende und abhebende Erfassen vollzieht sich als cogitatio in der intentionalen Diff erenz und in der Selbstbewußtseinsstruktur : Ich bin mir meiner selbst bewußt als ein trennendes und abhebendes, unterscheidendes Erfassen von einem darin getrennt und abgehoben Erfaßten. Im Vollzuge meines trennenden und abhebenden Erfassens muß ich mich dessen vergewissern, daß das intentionale Korrelat meines distincte percipere ein zur vollen Getrenntheit und Abgehobenheit gelangtes perceptum ist. Das Adjektiv ›distinctus‹ und das Adverb ›distincte‹ werden gewöhnlich als ›deutlich‹ übertragen. Diese Übersetzung trifft aber nur dann das von Descartes Gemeinte, wenn wir beachten, daß ›distinctus‹ bedeutet: getrennt, unterschieden. Distinctus meint somit das, als was Descartes es erläutert: sejunctus und praecisus. Unser deutsches Wort ›deutlich‹ läßt uns nicht ohne weiteres an das Unterschiedensein im Sinne von Getrennt- und Abgehobensein denken. Wir fassen zusammen: Damit ein in sich gewisses Erkenntnisurteil in bezug auf einen zu erkennenden Sachverhalt gefällt werden kann, bedarf es einer klaren und distincten perceptio von diesem Sachverhalt, über den bejahend oder verneinend geurteilt werden 5 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., 15 f.; AT VIII, 22. Vgl. Perler 2006, 147 f.

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soll. Der zu erkennende Sachverhalt muß in meinem und für mein geistiges Erfassen vorgestellt sein als ein gegenwärtiger und an ihm selbst unverdeckter. Als in dieser Weise klar erfaßter Sachverhalt muß er zugleich durch mein distinctes Erfassen in dem, was er ist, getrennt und abgehoben sein von allem, was er nicht ist. Die allgemeine Wahrheitsregel, nach der wahr ist, was von mir sehr klar und distinct verstandesmäßig eingesehen und erfaßt ist, gewinnt Descartes und gewinne ich aus der vollzogenen ersten absolut gewissen Erkenntnis meiner selbst als der absolut gewiß existierenden Bewußtseinssphäre: ego cogito me cogitare cogitatum. Diese in mehreren Teilschritten gewonnene Selbsterkenntnis meines eigenen methodisch zweifelnden Ich war nichts anderes als eine höchst klare und distincte Einsicht in jenen Sachverhalt, daß Ich selbst als res cogitans bin. Inwiefern? In dem Versuch, den methodischen Zweifel (das assensionem cohibere) auch noch gegen mein methodisch zweifelndes Ich zu richten und das eigene Wirklichsein außer Geltung zu setzen, richtete sich mein geistiges Einsehen auf sich selbst. Durch den Zweifelsversuch erfaßte ich mein Ich als für sich selbst in höchster Weise gegenwärtig (praesens) und in höchster Weise unverdeckt (apertus). Als für sich selbst gegenwärtig und aufgedeckt gegeben (als perceptum meines percipio) konnte ich mich in meinem unbezweifelbaren Existieren distinct erfassen. In diesem distincten Michselbst-erfassen konnte ich mich selbst in die höchste Abgehobenheit meines eigenen unbezweifelbaren Existierens bringen. Dadurch, daß ich mich selbst in die Abgehobenheit (praecisus) brachte, erfaßte ich mich in meinem eigenen notwendigen Existieren als getrennt (sejunctus) vom nicht notwendigen Existieren des Körpers. Das war die erste absolut gewisse Erkenntnis von der existentia meiner selbst, die sich jetzt in der Besinnung auf ihren höchsten Gewißheitscharakter als eine höchst klare und distincte Erkenntnis erwiesen hat. Der entscheidende zweite Schritt in der ontologischen Selbsterkenntnis galt der essentia des eigenen Ich. Im Bemühen, mich selbst hinsichtlich meines ichlichen Wasseins, meiner Ichheit, zu erfassen, brachte ich mein Ich erneut zur gegenwärtigen und unverhüllten Selbstgegebenheit. Nur sofern ich für mich selbst gegenwärtig und unverdeckt war und in diesem Sinne mich selbst klar erfaßt https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 11. Quelle, Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel

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hatte, konnte ich mich hinsichtlich meines Wasseins auch distinct erfassen. Ich erfaßte mich selbst distinct, indem Ich mich selbst in die Abgehobenheit (praecisa) meiner cogitatio brachte und meine cogitatio hinsichtlich ihrer inneren Bestimmungen, der modi cogitandi, in einem dritten Schritt auseinanderlegte. Indem Ich mich selbst als cogitatio einsah, erfaßte Ich mich selbst als getrennt (sejuncta) von dem, was Ich als Ich essentiell nicht bin, getrennt also von meiner Leiblichkeit (Körperlichkeit), die anderen Wesens ist. Das ego cogito, ergo sum – die erste absolut gewisse ontologische Erkenntnis meiner selbst hinsichtlich meiner existentia ist durch das clare percipere ein clarum perceptum, ein klar Erfaßtes, d. h. aber ein gegenwärtig Gegebenes und Unverdecktes. Das ego cogito, ergo sum ist durch das distincte percipere ein distinctum perceptum, ein Getrenntes und Abgehobenes und als solches Erfaßtes. Gleiches gilt für die absolut gewisse ontologische Erkenntnis meines Ich hinsichtlich seiner essentia, meines Ich als ego cogitans. In der Selbsterfassung meiner ichlichen Wesenheit ist die cogitatio, ist mein ego cogitans, ein clarum et distinctum perceptum, d. h. ein gegenwärtig Gegebenes und Unverdecktes sowie ein Getrenntes und Abgehobenes. Die allgemeine Wahrheitsregel ist die allgemeine Gewißheitsregel. Diese gewinnt Descartes aus der Besinnung auf die erste absolut gewisse ontologische Erkenntnis von der existentia und essentia des eigenen Ich. In dieser ersten absolut gewissen Erkenntnis von dem ersten absolut gewiß erkannten Seienden, das Ich selbst bin, wird nicht etwa die Wahrheitsregel nur angewandt. Vielmehr wird die Wahrheitsregel aus meiner vollzogenen ontologischen Selbsterkenntnis geschöpft. In der Art und Weise, wie das meditierende Ich Einsicht in sich selbst gewinnt, in sein Wirklichsein und in seine Ichheit, gibt es sich selbst aus sich selbst das Kriterium vor für eine wahre und absolut gewisse Erkenntnis.6 Diese höchste Gewißheit, die das Ich aus sich selbst hinsichtlich seines Wirklich- und seines Wasseins gewinnt, wird zum Maßstab für das, was als Wahrheit, als Gewißheit, zu gelten habe. Den Maßstab für die Wahrheit einer Erkenntnis läßt sich das meditierende 6

Siehe hierzu: Schäfer 2007, 19–50, hier 22–26; Perler 2006, 157–163.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

Ich nicht etwa von irgendwoher vorgeben, sondern diesen Maßstab gibt es sich selbst aus sich selbst vor. Das Ich gibt sich den Maßstab für die Wahrheit als Gewißheit nicht willkürlich vor. Es setzt nicht willkürlich, was als Wahrheit zu gelten habe. Das sich hinsichtlich seines Wirklichseins und seines Wasseins selbst vergewissernde Ich entnimmt den Maßstab für die Wahrheit aus sich selbst. Es kann ihn nur aus sich selbst nehmen, sofern das Ich den Maßstab seiner Selbsterkenntnis entnimmt. Die höchste Gewißheit meiner selbst, die noch höher ist als die apodiktische Gewißheit der Mathematik, die höchste Gewißheit qua Selbstgewißheit, qua Gewißheit meines ego cogito me cogitare cogitatum, wird zur Quelle und zum Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel. Die Selbsterkenntnis des meditativ-philosophierenden Ich ist das fundamentum inconcussum, das unerschütterliche Fundament, nicht nur für alle weiteren ontologischen Erkenntnisse der neu zu errichtenden Ersten Philosophie. Die Selbsterkenntnis ist das unerschütterliche Fundament vor allem für die Wahrheit als Gewißheit jener ontologischen Erkenntnisse. Die in der ontologischen Selbsterkenntnis höchst klar und distinct eingesehene ichliche Bewußtseinssphäre ist somit der unbezweifelbare Seinsboden, der unbezweifelbare Erkenntnisboden und der unbezweifelbare Wahrheitsboden. Als erstes unbezweifelbares Sein in dessen innerer Gliederung nach Wirklichsein und Wassein ist die Seinsverfassung des Ich der Boden für das zu sichernde Sein des anderen Seienden, für die zu sichernde Seinsverfassung der Körperwelt. Als erste unbezweifelbare Erkenntnis ist die absolut gewisse Selbsterkenntnis der Boden für meine Erkenntnis von allem anderen Seienden, sogar für meine Erkenntnis vom höchsten Seienden. Als erste absolut unbezweifelbare Wahrheit qua Gewißheit ist meine absolute Selbstgewißheit der Boden für die zu suchende Wahrheit aller anderen Erkenntnisse. Die Immanenz des Selbstbewußtseins in seiner dreigliedrigen Struktur der Bewußtseinssphäre ist dasjenige, was Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie meint, wenn er sagt: »Mit Cartesius treten wir […] erst eigentlich in eine selbstständige Philosophie ein, welche weiß, daß sie selbstständig aus der Vernunft kommt, und daß das Selbstbewußtseyn wesentliches Moment https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 11. Quelle, Fundament für die allgemeine Wahrheitsregel

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des Wahren ist. […] Hier, können wir sagen, sind wir zu Hause, und können, wie der Schiffer nach langer Umherfahrt auf der ungestümen See, ›Land‹ rufen«.7 Das ›zu Hause‹ der mit Descartes beginnenden neuzeitlichen Philosophie ist das für sich selbst absolut gewisse Selbstbewußtsein des ego cogito cogitatum. Das feste Land der Philosophie ist die unerschütterliche Immanenz des Selbstbewußtseins. Mit Descartes beginnt der Lauf der neuzeitlichen Philosophie als der Philosophie des Selbstbewußtseins bis hin zum absoluten Selbstbewußtsein als dem absoluten Geist in der Philosophie Hegels. Die allgemeine Wahrheitsregel, geschöpft aus der absoluten Selbsterkenntnis, formuliert in allgemeiner Weise, was Wahrheit einer erkannten Sache ist. Die Regel gibt an, was die verstandesmäßige Einsicht, das percipere und die perceptio, leisten muß, damit das zu Erkennende als ein wahres, in Gewißheit Erfaßtes gegeben ist. Was die Verstandeseinsicht leisten muß, ist das klare und distincte Erfassen, und das besagt: das zu Erfassende zur Selbstgegenwart und Unverdecktheit bringen, sowie in die Abgehobenheit und Unterschiedenheit seiner Eigenbestimmtheit bringen. Von jener Frage, was Wahrheit als Gewißheit ist und was der Verstand leisten muß, um Etwas so zu erkennen, daß die Erkenntnis eine gewisse ist, unterscheidet Descartes die andere Frage, wie der Verstand vorgehen und verfahren muß, um zu wahren als gewissen Erkenntnissen zu gelangen. Diese Frage können wir die Wie-Frage nennen, jene bisher behandelte aber die Was-Frage. Im Folgenden wenden wir uns der Wiefrage zu, nachdem wir die Was-Frage erörtert und beantwortet haben. Die Wie-Frage ist die Frage nach dem Weg, den der Verstand einschlagen muß, um sich vor das zu Erkennende so zu bringen, daß er es klar und distinkt einsehen kann. Die Frage, wie ich einer Sache nachgehen muß, wie ich dabei verfahren muß, ist die Frage nach der Methode. Damit der erkennenwollende Verstand zu solchen wahren Erkenntnissen gelangen kann, deren Wahrheit er gewiß ist, bedarf es zur rechten Leitung des Verstandes der Methode. Die Methode besteht aber in einer Reihe von Regeln, denen gemäß der Verstand verfahren muß. 7

Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a. a. O., 298.

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§ 12 Der Methodengedanke Descartes’ und die Hauptregeln der Methode Von der Methode und den methodischen Regeln handelt Descartes vor allem in zwei Schrift en: in der frühen, Fragment gebliebenen Schrift »Regulae ad directionem ingenii« und in der zehn Jahre späteren Schrift »Discours de la Méthode«. Der »Discours« erschien 1637 als erste von Descartes veröffentlichte Schrift, vier Jahre vor dem Erscheinen der »Meditationen«. Der »Discours« ist von Descartes verfaßt als ein Vorbericht zu drei wissenschaftlichen Abhandlungen: die Dioptrik, die Meteorologie und die Geometrie. Er besteht insgesamt aus sechs Teilen und behandelt im zweiten Teil die Hauptregeln der Methode. Aus diesem zweiten Teil interessieren uns die vier Hauptregeln der Methode. Doch zuerst wenden wir uns der Jugendschrift »Regulae ad directionem ingenii« zu. Hier werden insgesamt 21 Regeln aufgestellt. Descartes formuliert jeweils zuerst die Regel und gibt im Anschluß daran bis zur 18. Regel jeweils eine kürzere oder auch ausführlichere Erläuterung. Die 21 Regeln lassen sich in drei Gruppen gliedern. 1. Gruppe : Regel 1–3; 2. Gruppe: Regel 4–7; 3. Gruppe: Regel 8–21. In der Durchsprache beschränken wir uns auf die beiden ersten Gruppen, also auf die Regeln 1–7. Descartes sagt selbst am Ende des Erläuterungstextes zur 7. Regel, daß die übrige Abhandlung (die folgenden Regeln) fast nur darin bestehe, das in den Regeln 1–7 allgemein Gesagte differenzierter zu entfalten.

Zur ersten Gruppe Die drei ersten Regeln sind noch nicht methodische Regeln im engeren Sinne, also im Sinne der von uns von der Was-Frage unterschiedenen Wie-Frage, somit noch nicht Regeln, die das Wie des Vorgehens leiten. Erst mit der Regel 4 führt Descartes eigens den Methodenbegriff ein, um in den Regeln 5 bis 7 die drei methodischen Hauptregeln aufzustellen. Wir werden sehen, daß die Regeln 5 bis 7 https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 12. Methodengedanke, Hauptregeln der Methode

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inhaltlich sich decken mit drei der vier Hauptregeln aus dem »Discours«, auch wenn hier und dort eine andere Reihenfolge vorliegt. Die 1. Hauptregel des »Discours« ist wie die drei ersten Regeln der »Regulae« ebenfalls keine methodische Regel in dem engeren Sinne der Wie-Frage. Die Was-Frage ist die Frage, was der Verstand leisten muß, um eine wahre Erkenntnis zu gewinnen. Er muß das Zuerkennende klar und distinct erfassen. Das aber ist der Gehalt der allgemeinen Wahrheitsregel, zugleich auch der Gehalt der ersten der vier Hauptregeln im »Discours«. Was Descartes im »Discours« in der 1. Hauptregel und was er in den »Meditationen« als allgemeine Wahrheitsregel formuliert, finden wir auch in den »Regulae« in den Regeln 1 bis 3. Nach dieser allgemeinen Übersicht wenden wir uns der 1. Regel der »Regulae« zu. Diese 1. Regel lautet: »Es muß das Ziel (finis) der wissenschaftlichen Bestrebungen sein, den Geist so zu leiten, daß er über alle sich ihm darbietenden Erkenntnisgegenstände gefestigte und wahre Urteile fällt« (ingenii directio ad solida et vera, de iis omnibus quae occurrunt, proferenda judicia).1 Man könnte meinen, die Betonung dieser ersten Regel liege auf der Rede von den gefestigten und wahren Urteilen. Dagegen heißt es in der Erläuterung, daß die erste Regel ihr Augenmerk auf die Gesamtheit aller Erkenntnisgegenstände richtet. Mit gutem Grund stelle er, Descartes, diese Regel an die Spitze aller Regeln. Denn bei der wissenschaftlichen Erforschung der Wahrheit komme es darauf an, von vornherein die Einheit aller wissenschaftlichen Erkenntnisse aller Wissenschaften als das allgemeine Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnissuche vor Augen zu haben. Zwar hat eine jede Wissenschaft ihr besonderes Sach-, d. h. Gegenstandsgebiet. Eine durch ihr ausgegrenztes Sachgebiet charakterisierte Einzelwissenschaft darf jedoch nicht in der Isolierung von den anderen Wissenschaften betrieben werden. Die Erkenntnis einer Wahrheit fördert die Auffindung einer anderen. Die wechselseitige Förderung in der Gewinnung der Erkenntnisse hat ihren rationa1 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes; ed. Buchenau 1959, 3; Regulae ad directionem ingenii; ed. Springmeyer †, Zekl 1973, 2; AT X, 359. Vgl. hierzu grundsätzlich Marion 19812.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

len Grund in der Einheit der einen und sich selbst gleichbleibenden Vernunft (Nam cum scientiae omnes nihil aliud sint quam humana scientia, quae semper una et eadem manet …).2 Die Vielheit der Wissenschaften gründet in der Einheit der menschlichen Vernunft. Sie ist es, die von vornherein der Vielheit der Erkenntnisse die rationale Einheit und den rationalen Zusammenhang verschafft . Weil jede einzelne Erkenntnis mit anderen Erkenntnissen in einem rationalen Zusammenhang steht und alle der menschlichen Vernunft möglichen Erkenntnisse einen universalen Zusammenhang bilden, der sich aus der einigenden Einheit der Vernunft ergibt, hängt die Wahrheit einer einzelnen Erkenntnis davon ab, ob sie in ihrem rationalen Zusammenhang mit den übrigen Wahrheiten erfaßt wird. Daß alle Wissenschaften untereinander verknüpft sind und eine universelle Einheit bilden, entnahmen wir bereits dem Briefe Descartes’ an Picot. Dort entwarf Descartes die Einheit der Wissenschaften am Bilde vom Baume der Philosophie. Das Wort ›Philosophie‹ verwendet Descartes in jenem Bilde in einem weiten Sinne, demgemäß eine jede Wissenschaft eine ›Philosophie‹ ist, die alle letztlich in der Ersten Philosophie gründen. Zusammengefaßt besagt die erste Regel : Eine jede wissenschaftliche Untersuchung, in der ich auf eine wahre Erkenntnis aus bin, ist unter Beachtung ihres Zusammenhanges mit anderen Erkenntnissen innerhalb der universalen Einheit aller wahren Erkenntnisse durchzuführen. Die 2. Regel lautet: Man soll sich nur jenen Gegenständen zuwenden, zu deren gewisser und unbezweifelbarer Erkenntnis unser menschlicher Geist zuzureichen scheint (Circa illa tantum obiecta oportet versari, ad quorum certam et indubitatam cognitionem nostra ingenia videntur sufficere).3 Während die 1. Regel die Beachtung des rationalen Zusammenhanges aller wissenschaft lichen Erkenntnisse vorschrieb, lenkt die 2. Regel den Blick auf die Art, wie eine wissenschaft liche Erkenntnis 2 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 3; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 2; AT X, 360. 3 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 6; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 4; AT X, 362.

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§ 12. Methodengedanke, Hauptregeln der Methode

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und ihre Wahrheit beschaff en sein müssen. Eine wissenschaft liche Erkenntnis ist nur dann eine wissenschaftliche und wahre, wenn ihre Wahrheit den Charakter der Gewißheit und Unbezweifelbarkeit hat. Die 2. Regel setzt den Akzent auf die Gewißheit als den geforderten Wahrheitscharakter einer als wahr ausgegebenen wissenschaftlichen Erkenntnis. Damit bestätigt sich, was wir über die Bedeutung der Regeln 1 bis 3 gesagt haben. Die 2. Regel sagt, als was Wahrheit einer Erkenntnis gelten soll. Sie bewegt sich im Umkreis der allgemeinen Wahrheitsregel. Nicht betrifft sie schon die Frage, welche besonderen methodischen Regeln zu befolgen seien, um zu wahren als gewissen Erkenntnissen zu gelangen. In der Erläuterung der 2. Regel beginnt Descartes mit der Betonung, daß alles wissenschaft liche Wissen eine gewisse und einsichtige Erkenntnis sei (cognitio certa et evidens).4 Als gewiß und einsichtig erweist sich eine Erkenntnis, wenn sie sich als unbezweifelbar gibt. Der Gegenbegriff zu einer gewissen, einer sicheren und unbezweifelbaren Erkenntnis ist eine nur wahrscheinliche Erkenntnis (tantum probabilis cognitio).5 Nur wahrscheinliche Erkenntnisse sind solche, gegen die Zweifelsgründe angeführt werden können, Erkenntnisse also, zu deren Wahrheitscharakter nicht die Unbezweifelbarkeit gehört. Bezweifelbarkeit heißt nicht Falschheit, sondern besagt: es könnte sich auch anders verhalten. Demgegenüber lassen solche Erkenntnisse, zu deren Wahrheitscharakter die Unbezweifelbarkeit gehört, die Möglichkeit überhaupt nicht zu, daß sich die Sache auch anders verhalten könnte. Erkenntnisse mit dem Charakter der Wahrscheinlichkeit müssen daher zurückgewiesen werden. Sie können nicht als gewisse Erkenntnisse zugelassen werden. Wenn Descartes diese Regeln zur Leitung des Geistes auf dem Wege zu wissenschaftlichen Erkenntnissen aufstellt, müssen wir uns folgendes vor Augen halten: Descartes ist gewillt, die Wissenschaft im ganzen, die Universalphilosophie, neu zu gründen und zu begründen. Das entscheidende Moment in dieser Neugründung und 4 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 6; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 4; AT X, 362. 5 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 6; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †; Zekl), a. a. O., 4; AT X, 362.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

Neubegründung ist die Neubestimmung des Wesens der Wahrheit. Wahrheit im strengen Sinne ist nur die Gewißheit in der Bedeutung der Unbezweifelbarkeit. Durch diese Neubestimmung des Wesens der Wahrheit als Gewißheit möchte Descartes nicht nur die bestehenden Wissenschaften und ihre Erkenntnisse neu bestimmen. Mit Hilfe des neuen Wahrheitsbegriffes möchte er die bestehenden Wissenschaften verändern und neu schaffen. Dazu gehört aber, die bestehenden Wissenschaften zu durchmustern nach solchen Erkenntnissen, die den Wahrheitscharakter der Gewißheit bereits in sich tragen. In dieser Durchmusterung kommt er zum Ergebnis: Dem von ihm aufgestellten Wahrheitskriterium genügen überhaupt nur zwei wesensverwandte Wissenschaften: die Arithmetik und die Geometrie.6 In der Erläuterung zur 2. Regel gibt Descartes auch eine Begründung für die Auszeichnung der mathematischen Wissenschaften. Ihre Auszeichnung ergibt sich aus ihrem Weg, auf dem sie zu ihren Erkenntnissen gelangen. Bisher haben die Wissenschaften zwei unterschiedliche Wege befolgt, um zur Erkenntnis zu gelangen: erstens den Weg der sinnlich bestimmten Erfahrung (experientia), zweitens den Weg der erfahrungsfreien Deduktion (deductio).7 Der Erkenntnisweg der sinnlich bestimmten Erfahrung ist ständig bedroht von der Gefahr des Sichtäuschens. Der Erkenntnisweg der Deduktion aber, der Weg des rein gedanklichen Ableitens von einem aus einem anderen, hat nicht diese Quelle der aus den Sinnen kommenden Täuschung. Descartes betont in aller Schärfe: Alle Täuschung (deceptio),8 die dem Menschen zustoßen kann, entsteht nicht aus einer mangelhaft angestellten Deduktion, sondern nur daraus, daß man für die Erkenntnis einer Sache entweder eine ungenügend durchschaute sinnliche Erfahrung von dieser Sache zugrundelegt oder ein unbesonnenes und unbegründetes Urteil über eine in der Erfahrung gegebene Sache fällt. Ein solches Urteil ist unbesonnen und unbe6 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 7; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 5; AT X, 363. 7 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 8; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 6; AT X, 365. 8 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 8; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 6. AT X, 365.

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§ 12. Methodengedanke, Hauptregeln der Methode

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gründet, wenn die in der Erfahrung gegebene Sache ungenügend geistig erfaßt ist. Der Erkenntnisweg der mathematischen Wissenschaften ist aber nicht der der Erfahrung, sondern der Weg der reinen Deduktion, der als solcher von aller Täuschung frei ist. Die mathematischen Wissenschaften befassen sich mit den erfahrungsfreien, reinen und einfachen Gegenständen. Sie setzen für sich nichts von dem voraus, was die Erfahrungserkenntnis ungewiß macht. Sie bestehen nur aus rational abzuleitenden Folgerungen, die keinen Irrtum zulassen, abgesehen von subjektiver Unaufmerksamkeit. Die Mathematik ist für Descartes die einzige vorgegebene Wissenschaft, deren Erkenntnisgegenstand der unbezweifelbaren Gewißheit entspricht. Descartes schließt seine Erläuterung der 2. Regel ab mit der Forderung, daß diejenigen, die den rechten Weg zur Wahrheit suchen (rectum veritatis iter quaerentes), nur solche Gegenstände als wahr erkannt gelten lassen dürfen, die eine den arithmetischen und geometrischen Beweisen gleichwertige Gewißheit haben (certitudinem Arithmeticis et Geometricis demonstrationibus aequalem).9 Hier haben wir einen deutlichen Beleg dafür, daß für Descartes und seine Bestimmung dessen, was fortan als Wahrheit und als wahre Erkenntnis zugelassen wird, die Mathematik und ihre Gewißheit die Funktion eines Leitbildes übernimmt. Die maßgebliche Funktion der reinen Mathematik für das neuzeitliche Verständnis der Wissenschaft schließt andererseits nicht aus, daß Descartes – wie in den »Meditationen« – eigens noch ein Fundament sucht, um in diesem auch noch die apodiktische Gewißheit der Mathematik zu gründen. Die Suche nach diesem Fundament hält nach einer Gewißheit Ausschau, die nicht selbst mathematischer Natur ist, sondern die apodiktische Gewißheit der Mathematik übersteigt. Das gesuchte Fundament, in welchem alle Erkenntnis aller Wissenschaften gründet, muß an ihm selbst den Charakter einer absolut unbezweifelbaren Gewißheit haben. Dieses Fundament ist das ego cogito me cogitare cogitatum. Das je eigene Selbstbewußtsein und seine dreigliedrige Sphäre ist im Vergleich zur apodiktischen Ge9 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 9; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 7; AT X, 366.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

wißheit der Mathematik deshalb absolut unbezweifelbar, weil seine Erkenntnis eine Selbsterkenntnis und nicht eine gegenständlich gerichtete Erkenntnis ist. Während es denkbar ist, daß die mathematischen Sachverhalte in sich unwahr sind (in gehaltlicher Hinsicht), weil mich ein Deus deceptor täuschen könnte, bleibt die Unwahrheit meiner Selbsterkenntnis undenkbar. Zur 3. Regel : Ihren bedeutsamen Gehalt haben wir schon einmal gestreift, als wir einen Blick auf den Unterschied zwischen intuitiver und deduktiver Erkenntnis warfen. Die Regel selbst hat folgenden Wortlaut: »Bei den von uns (in einer Wissenschaft) vorgenommenen Gegenständen dürfen wir nicht das, was andere darüber gemeint haben, noch was wir selbst (nur) mutmaßen, untersuchen, sondern nur das, was wir durch klare und evidente Intuition oder durch sichere Deduktion erkennen können. Auf keinem anderen Wege kann die Wissenschaft erworben werden« (Circa objecta proposita non quid alii senserint, vel quid ipsi suspicemur, sed quid clare et evidenter possimus intueri vel certo deducere quaerendum est; non aliter enim scientia acquiritur).10 Die 3. Regel enthält am meisten von dem, was Descartes in den »Meditationen« als allgemeine Wahrheitsregel aufgestellt hat. Die 1. Regel sprach von den festen und wahren Urteilen (solida et vera judicia). Die 2. Regel sagte schon, wann ein Urteil, eine Erkenntnis in sich fest und wahr ist: wenn sie gewiß und unbezweifelbar ist (certa et indubitata cognitio). Die 3. Regel geht noch einen Schritt weiter in der Bestimmung des Wahrheitscharakters. Das wahr Erkannte muß als das mit Gewißheit Erkannte ein klar und einleuchtend intuitiv Erfaßtes oder ein sicher deduktiv Abgeleitetes sein. Hier taucht der Begriff ›Klarheit‹ wieder auf, den wir aus der allgemeinen Wahrheitsregel kennen. Über diese weitergehende Bestimmung dessen, als was Wahrheit zu gelten habe, hinaus nennt die 3. Regel die beiden Erkenntniswege, auf denen sich die Wissenschaften bewegen müssen, wenn ihre Erkenntnisse den Wahrheitscharakter der Ge10 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 10; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 8; AT X, 366. Vgl. Perler 2006, 52–62.

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§ 12. Methodengedanke, Hauptregeln der Methode

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wißheit erlangen sollen: den Weg der intuitiven und den Weg der deduktiven Erkenntnis. Die klare und einleuchtende Intuition und die sichere Deduktion, die beiden Erkenntniswege, die zu gewissen und unbezweifelbaren Erkenntnissen führen, werden in der 3. Regel scharf von den ›Meinungen der anderen‹ und von den ›eigenen Mutmaßungen‹ abgehoben. Die Meinungen der anderen – das sind die überlieferten philosophischen oder wissenschaftlichen Erkenntnisse, die nicht durch klare und evidente Intuition und sichere Deduktion gewonnen wurden. Die eigenen Mutmaßungen sind ein bloß meinendes Wissen, das kein gewisses Wissen ist, weil es nicht aus der klaren und evidenten Intuition oder der sicheren Deduktion gewonnen ist. Wir sagten, in der Was-Frage frage Descartes nach dem, als was Wahrheit einer Erkenntnis zu bestimmen sei. Diese Frage, die sich mit der allgemeinen Wahrheitsregel deckt, beantwortet Descartes innerhalb der »Regulae« in den ersten drei Regeln und insbesondere in der 3. Regel. Die Regeln 4–7, aber auch die Regeln 8–21 behandeln nicht mehr die Was-Frage, sondern die Wie-Frage. Die zur Wie-Frage gehörenden Regeln sind die methodischen Regeln im engeren Sinne. Es sind die Regeln, die angeben, wie wir verfahren müssen, um zu intuitiv erfaßten und deduktiv abgeleiteten klaren und distincten Erkenntnissen zu gelangen. Es sind die Verfahrensregeln. Wie erläutert Descartes das klare und evidente intuitive Erfassen und das sichere Deduzieren ? Es gibt nur zwei Tätigkeiten unseres Verstandes, durch die wir ohne Furcht vor Täuschung zur Erkenntnis der Sachen gelangen können: der intuitus und die deductio. intuitus Descartes legt auseinander, was er unter intuitus versteht. Weil intuitus ›Anschauung‹ und intueri ›anschauen‹ heißt und weil wir unter ›Anschauung‹ zuerst an das sinnliche Anschauen denken, wehrt Descartes zuerst einmal ab. Unter ›Intuition‹ verstehe er nicht das mannigfach wechselnde Zeugnis der Sinne, nicht die sinnliche Anschauung und auch nicht das trügerische Urteil aufgrund der imaginativen Vorstellungsbilder vom sinnlich wahrnehmbaren Seienden. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

Die im intuitus gemeinte Anschauung betrifft weder die Anschauung der sinnlichen Wahrnehmung noch die Anschauung der Einbildungskraft. Unter Intuition verstehe er allein ›das einfache und distincte Erfassen durch den reinen und aufmerkenden Verstand‹ (mentis purae et attentae tam facilem distinctumque conceptum) (5. Abschnitt).11 Das rein verstandesmäßige Erfassen hat selbst den Charakter eines Anschauens, aber eines rein geistigen Anschauens. Dieses ist so einfach und distinct, daß in bezug auf das, was wir verstandesmäßig erfassen, weiterhin kein Zweifel übrigbleibt. Das so vom Verstand anschauend Eingesehene und Erfaßte ist ein Gewisses und Unbezweifelbares. Dieses intuitive Erfassen durch den Verstand entspringt allein dem Lichte der Vernunft (a sola rationis luce nascitur)12 (5. Abschnitt). Licht ist solches, was erhellt. Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge sehe ich im Licht. Das Licht ermöglicht mein Sehen und die Sichtbarkeit der gesehenen Dinge. Descartes spricht aber nicht vom sinnlich vernehmbaren Licht, sondern vom Licht der nichtsinnlichen Vernunft. Doch die Funktion des Lichtes, Sehen und die Sichtbarkeit des Gesehenen zu ermöglichen, ist das, was Descartes für seine Rede vom ›Licht der Vernunft‹ in Anspruch nimmt. Die Vernunft (ratio) ist an ihr selbst das Lichte, das Helle und das Durchsichtige. Das Licht der Vernunft ist die Bewußtheit, in der das Selbst für sich selbst erhellt ist. Das Licht der Vernunft ist die Bewußtheit des Selbstbewußtseins. Das intuitive Einsehen des Verstandes ist ein vom Selbstbewußtsein erhelltes Einsehen, wodurch das Einsehen und Erfassen selbst erhellend sind. Das einsehende Erfassen erhellt das, was es intuitiv erfaßt. Das erhellende Licht, das im intuitiven Erfassen auf das Erfaßte (perceptum) fällt, entstammt dem erhellenden intuitiven Erfassen und entspringt der als Selbstbewußtsein verfaßten Vernunft. Descartes gibt (im 5. Abschnitt) zwei Beispiele für solches, das intuitiv erfaßt wird. Ein jeder kann mit dem Geiste anschauend er11 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 12; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 9; AT X, 368. 12 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 12; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 9; AT X, 368.

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fassen (animo intueri), daß er existiert (se existere), daß er als existierendes ego Bewußtsein hat (se cogitare).13 Hier ist von großer Bedeutung, daß Descartes bereits in dieser frühen Schrift die Grundlage seiner Philosophie gewonnen hat: die absolut gewisse Erkenntnis des eigenen in gegenständlicher Erkenntnisrichtung generell zweifeln könnenden Ich, und die ebenso höchst gewisse Erkenntnis von der unbezweifelbaren cogitatio als Wesensverfassung meines Ich. Diese beiden ersten absolut gewissen Erkenntnisse aus den »Meditationen« werden schon in den »Regulae« als geistig intuitiv gewonnene Erkenntnisse angesprochen. Das zweite Beispiel für intuitiv, klar und distinkt Erfaßtes stammt aus der Mathematik: die Einsicht, daß ein Dreieck wesenhaft nur durch drei Seiten eingeschlossen ist. Beachtenswert ist auch hier, daß Descartes bei seinen zwei Beispielen als erstes die Selbsterkenntnis des eigenen Ich hinsichtlich seiner existentia und essentia benennt und anschließend erst das Beispiel aus der Mathematik. Zwar haben beide Erkenntnisse den höchsten Gewißheitsgrad, aber die in der Selbsterkenntnis liegende Gewißheit ist innerhalb des Aufbaus der gewissen Erkenntnisse die erste, weil grundlegende. Inwiefern ist in beiden Beispielen für eine intuitiv gewonnene Erkenntnis keine Täuschung möglich? Was die je eigene existentia und essentia anbetrifft , so geht der intuitiv erfassende Verstand nicht aus sich selbst heraus zu einem anderen, das er selbst nicht ist, sondern er verbleibt bei sich selbst und in sich selbst. Ähnlich, aber doch nicht völlig gleich, verhält es sich bei den mathematischen Begriffen und Erkenntnissen. Die arithmetischen Zahlbegriffe und geometrischen Raumbegriffe sind für Descartes zwar dem menschlichen Verstande einheimische Begriffe. Wenn der reine Verstand seine eigenen Begriffe denkt, bezieht er sich vorstellend auf geistimmanente Begriffe, die den Charakter eines geistimmanenten cogitatum haben. Dieses cogitatum gehört mit dem ego cogito zur apodiktisch gewissen ichlichen Bewußtseinssphäre. Dennoch – so hatten wir in der I. Meditation gesehen – besteht die Denkmöglichkeit, daß 13 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 12; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 10; AT X, 368.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

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die geistimmanenten vorgestellten, d. h. gedachten mathematischen Wesensverhalte in sich unwahr sind, daß ich bezüglich ihrer von einem Deus deceptor getäuscht werden könnte. Diese Täuschbarkeit besteht bezüglich meiner selbst nicht. Wenn auch die mathematischen Begriffe bewußtseinsimmanente cogitata sind, gehören sie als ideale Sachverhalte nicht in derselben Weise zu mir wie das egocogito-cogitatum. Insofern besteht ein Unterschied zwischen der absoluten Selbstgewißheit und der apodiktischen Gewißheit der mathematischen Sachverhalte. Descartes ist sich seines neuen Gebrauches des Wortes ›intuitus‹ durchaus bewußt. Er betont deshalb, daß er vielfach Termini aus der überlieferten Philosophie aufgreife, ihnen aber eine neue Bedeutung zulege, die sich aus dem von ihm neu Gedachten ergibt. deductio Im Anschluß an die Erläuterung des ›intuitus‹ klärt Descartes im 8. Abschnitt die Deduktion und hebt sie von der Intuition ab. Erst durch diese Abhebung tritt das Eigentümliche der Intuition im Unterschied zur Deduktion heraus. Nach der Darlegung der Intuition könnte man sich fragen – so Descartes –, weshalb er außer der Intuition noch eine andere Erkenntnisart, die Deduktion, hinzufüge. Die Deduktion bestimmt er als jenes Erkennen, das etwas aus einer anderen gewissen Erkenntnis mit Notwendigkeit folgert (deductionem, per quam intelligimus illud omne quod ex quibusdam aliis certo cognitis necessario concluditur).14 Descartes benennt auch den Grund dafür, weshalb es außer der Intuition auch die Deduktion als eine zweite rein geistige Erkenntnisart gibt. Die meisten zu erkennenden Sachen sind nicht evident. Sie können nicht wie einige andere durch eine klare und evidente Intuition geistig erfaßt werden. Dennoch haben wir auch von ihnen ein in sich gewisses Wissen. Dieses gewinnen wir dadurch, daß wir 14 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 13; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 10; AT X, 369. Vgl. Perler 2006, 52–62.

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es aus wahr, d. h. klar und evident erkannten Prinzipien ableiten. Das gedankliche Ableiten aber geschieht in einer kontinuierlichen, nirgendwo unterbrochenen Bewegung des Denkens. Das schrittweise ableitende Denken ist dabei so beschaffen, daß jeder Einzelschritt in der Ableitungskette in durchsichtiger Weise intuitiv erfaßt sein muß (Sed hoc ita faciendum fuit, quia plurimae res certo sciuntur, quamvis non ipsae sint evidentes, modo tantum a veris cognitisque principiis deducantur per continuum et nullibi interruptum cogitationis motum singula perspicue intuentis).15 Descartes veranschaulicht die deduktive Gedankenfolge mit einer aus vielen Einzelgliedern bestehenden Kette. Mit Blick auf eine solche Kette erkennen wir, daß ihr letztes Glied mit dem ersten Glied verknüpft ist, aber vermittelt durch viele Zwischenglieder. Um zu verstehen, daß das letzte Kettenglied mit dem ersten verbunden ist, müssen wir die Verbindung der Zwischenglieder im einzelnen durchgehen. Das aber heißt, wir können die Verbindung des letzten Gliedes mit dem ersten nicht in einem einzigen einfachen Blick erfassen. Auf die Deduktionskette übertragen, heißt das: Wir können die Gewißheit eines entfernteren Ableitungsschrittes nur so erfassen, daß wir diesen Ableitungsschritt sukzessiv durch seine ihm vorausliegenden Ableitungsschritte hindurch zurückverfolgen bis zu jenem ersten Prinzip, in welchem der entfernte Ableitungsschritt und alle ihm vorausgehenden Ableitungsschritte gründen. Descartes stellt den Unterschied zwischen der Deduktion und der Intuition heraus.16 In der Deduktion muß man eine bestimmte Bewegung oder Folge von Denkschritten erfassen. Dagegen ist die Intuition ein einfaches Erfassen von Etwas, was selbst nicht aus einem Anderen hergeleitet ist. Für die Intuition ist notwendig die gegenwärtige Evidenz dessen, was erfaßt wird. Die Intuition steht und fällt damit, ob das intuitiv Erfaßte als ein klar und einsichtig Erfaßtes dasteht, um auf diese Weise seine höchste Gewißheit zu bekunden. Für die Deduktion ist dagegen die gegenwärtige Evidenz nicht 15 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 13; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 10; AT X, 369. 16 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 13; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 11; AT X, 370.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

erforderlich. Die volle gegenwärtige Evidenz einer aus mehreren vorangegangenen Erkenntnisschritten hergeleiteten Erkenntnis besteht nämlich in der Summe der Evidenz aller vorangehenden Erkenntnisschritte bis hin zum ersten Prinzip. Angesichts einer abgeleiteten Erkenntnis die gegenwärtige Evidenz erfordern hieße, die Gedankenschritte erneut zurückverfolgen und die in der Kette ausgebreitete Evidenz mir vor Augen führen. Solches ist jedoch nicht unbedingt erforderlich, weil mir meine Erinnerung sagen kann, daß ich diese rückwärtsgehenden Gedankenschritte schon einmal vollzogen habe. Alle Deduktion ist ein Ableiten aus ersten Prinzipien. Nur die Prinzipien selbst werden auf dem Wege der Intuition erfaßt. Diejenigen Erkenntnisse aber, die als erste unmittelbar aus den intuitiv erfaßten Prinzipien hergeleitet sind, werden einerseits auch durch Intuition, andererseits aber durch Deduktion erkannt. Warum einerseits auch durch Intuition? Weil zu ihrer Ableitung gehört, das Prinzip, aus dem sie abgeleitet werden sollen, so zu erfassen, daß aus ihm abgeleitet werden kann. Die Erfassung des Prinzips ist stets intuitiver Art. Soweit der erste Erkenntnissatz aus dem Prinzip gefolgert wird, ist dieses Folgern ein deduzierendes Ableiten. Aber schon der nächstfolgende Erkenntnissatz, der aus dem unmittelbar aus dem Prinzip hergeleiteten Satz abgeleitet wird, kann nur noch deduktiv erkannt werden. Daher sagt Descartes, daß alle entfernteren Folgerungen (conclusiones) nur durch Deduktion erkannt werden. Damit hat Descartes in den drei ersten Regeln gesagt, als was Wahrheit zu bestimmen sei und auf welchen beiden Erkenntniswegen die so bestimmte Wahrheit zu gewinnen sei.

Zur zweiten Gruppe Wie nun der Wissenschaft treibende Verstand verfahren muß, um alle Wissenschaften zu solchen auszubilden, deren Erkenntnisse auf den beiden Erkenntniswegen als gewisse Erkenntnisse erworben werden, sagen ihm die Methode und deren Regeln im Sinne der Verfahrensregeln. Deshalb handelt die 4. Regel nur vom Methodegedanken als solchem. Sie schreibt dem wissenschaftlichen Geist vor, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 12. Methodengedanke, Hauptregeln der Methode

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sich auf seinem untersuchenden Weg der Methode zu bedienen, und legt dar, warum es der Methode bedarf. Mit der 5., 6. und 7. Regel folgen die drei Hauptregeln für das methodisch gelenkte Vorgehen. Die 4. Regel lautet: »Zur Erforschung der Wahrheit ist die Methode notwendig« (Necessaria est methodus ad veritatem investigandam).17 Die ›Methode‹ wird von Descartes so bestimmt (1. Abschnitt): Unter Methode verstehe ich sichere und einfache Regeln (Per methodum autem intelligo regulas certas et faciles).18 Wenn sich der Geist dieser Regeln bedient, wird er nach und nach sein wahres, d. h. gewisses Wissen mehren und so zur gewissen Erkenntnis alles dessen gelangen, wozu der Verstand fähig ist (gradatim semper augendo scientiam, perveniet ad veram cognitionem eorum omnium quorum erit capax).19 In seiner Erläuterung der 4. Regel betont Descartes noch einmal, was die 1. Regel zum Inhalt hatte: Die wissenschaftlichen Untersuchungen müssen von vornherein auf das allgemeine Ziel ausgerichtet sein, zur Erkenntnis aller Dinge zu gelangen, d. h. zu allem der Vernunft möglichen Erkennbaren vorzustoßen. Um dieses allgemeine Erkenntnisziel zu erreichen, bedarf es der Methode und ihrer Regeln, die zu allem Erkennbaren führen. Die Methode und ihre Regeln müssen so dargelegt werden, daß wir diesen Regeln entnehmen, wie wir uns der Intuition des Geistes bedienen müssen, um nicht Opfer der Unwahrheit zu werden. Diesen Regeln müssen wir ferner entnehmen, wie wir die Deduktion anlegen müssen, um zur Erkenntnis nicht nur dieser oder jener, sondern aller erkennbaren wissenschaftlichen Gegenstände zu gelangen. Die 5. Regel ist die erste von den drei methodischen Hauptregeln. Sie deckt sich inhaltlich mit der 3. Hauptregel aus dem »Discours« und lautet: »Die ganze Methode besteht in der Ordnung und Disposition dessen, worauf sich der Erkenntnisblick des Geistes richten muß, damit wir eine bestimmte Wahrheit finden. Wir werden 17 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 15; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 12; AT X, 371. 18 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 15; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 12; AT X, 371. 19 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 16; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 12; AT X, 372.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

aber die Methode der Ordnung und Disposition nur dann genau verfolgen, wenn wir die verwickelten und dunklen Sätze einer vorgegebenen und neu zu begründenden Wissenschaft stufenweise auf die einfacheren zurückführen, um dann von der Intuition der allereinfachsten Sätze aus auf den Stufen der deduktiven Ableitung zur gesicherten Erkenntnis aller anderen Sätze aufzusteigen« (Tota methodus consistit in ordine et dispositione eorum, ad quae mentis acies est convertenda, ut aliquam veritatem inveniamus. Atqui hanc exacte servabimus, si propositiones involutas et obscuras ad simpliciores gradatim reducamus, et deinde ex omnium simplicissimarum intuitu ad aliarum omnium cognitionem per eosdem gradus ascendere tentemus).20 Das Entscheidende in einem methodisch geregelten Verfahren liegt für Descartes in der Bedeutung der Ordnung und Gliederung des Erkenntnisgebietes. Wenn es darauf ankommt, eine Wissenschaft gemäß der Neubestimmung der Wahrheit im Ausgang von den vorgegebenen Erkenntnissen neu zu entwerfen, müssen zuerst die wahren Prinzipien aufgesucht werden, die einer Wissenschaft zugrundeliegen. Die Ordnung und Gliederung des Gebietes beachten heißt, sich von vornherein darüber im klaren zu sein, daß die wahren Prinzipien aufgesucht werden müssen, aus denen die Erkenntnisse schrittweise deduziert werden können. Die Ordnung und Gliederung besteht in der Unterscheidung zwischen ersten Prinzipien und ihren Folgerungen, die ihrerseits wieder einer Ordnung im Sinne einer Stufung zu unterwerfen sind. Die Prinzipien einer Wissenschaft liegen nicht offen am Tage, so daß es nur darauf ankäme, zuzugreifen. Sie müssen vielmehr eigens aufgesucht und intuitiv erfaßt werden. In der Neubegründung einer Wissenschaft bedarf es zuerst des Rückganges, der Reduktion, die uns zu dem Prinzip oder den Prinzipien führt. Erst wenn diese intuitiv erfaßt sind, ist ein Erkenntnisaufstieg möglich. In diesem Aufstieg wird die aus der intuitiven Erfassung ihrer Prinzipien neu zu begründende Wissenschaft entfaltet. 20 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 23; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 15; AT X, 379.

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§ 12. Methodengedanke, Hauptregeln der Methode

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Die der 5. Regel der »Regulae« korrespondierende 3. Hauptregel aus dem »Discours«21 besagt, daß der wissenschaftliche Verstand in der gehörigen Ordnung denken muß, indem er mit den einfachsten und am leichtesten zu durchschauenden Gegenständen beginnt, um stufenweise bis zur Erkenntnis der zusammengesetzten Gegenstände aufzusteigen. Die einfachsten und am leichtesten zu erkennenden Gegenstände sind die Prinzipien. Die zusammengesetzten Gegenstände sind die höherstufigen Erkenntnisse, die insofern zusammengesetzt sind, als sie aus anderen Erkenntnissen gefolgert werden. Wie nun die Ordnung in einem Erkenntnisgebiet herzustellen sei, sagt die 6. Regel : »Um die einfachsten Sachen (Prinzipien) von den verwickelten unterscheiden und sie der Ordnung nach verfolgen zu können, muß man bei jeder Reihe von Erkenntnisgegenständen, in der man einige Wahrheiten von anderen direkt abgeleitet hat, beachten, was in dieser Reihe das Einfachste ist und wie von diesem alles übrige mehr oder weniger oder auch gleich weit entfernt ist« (Ad res simplicissimas ab involutis distinguendas et ordine persequendas, oportet in unaquaque rerum serie, in qua aliquot veritates unas ex aliis directe deduximus, observare quid sit maxime simplex, et quomodo ab hoc caetera omnia magis, vel minus, vel aequaliter removeantur).22 Von einem Erkenntnisgebiet sind mir zunächst irgendwelche Erkenntnisse vorgegeben. Ich greife sie auf und sehe, daß sie nicht isolierte Erkenntnisse sind, daß ihnen vielmehr eine andere Erkenntnis schon zugrundeliegt, aus der sie gefolgert sind. So kann ich Reihen von Erkenntnissen aufstellen, in denen die eine aus der anderen folgt. Wenn ich für diese Reihe noch nicht das Prinzip kenne, aus dem sie sich herleitet, muß ich in dieser Reihe schrittweise zurückgehen, bis ich auf die einfachste und erste Erkenntnis stoße. Nun erst kann ich mit Sicherheit die Entfernung einer jeden Erkenntnis aus dieser Reihe von ihrem Prinzip ausmachen. 21 Descartes, Discours de la Méthode – Von der Methode (Gäbe), a. a. O., 30/31; AT VI, 18. 22 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 25; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 16; AT X, 381.

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3. Kapitel: Wahrheit und Methode

In seiner Erläuterung der 6. Regel sagt Descartes, sie enthalte das Grundgeheimnis der Methode (praecipuum tamen continet artis secretum),23 es gebe in der ganzen Abhandlung keine nützlichere Regel als gerade diese. Denn sie schreibt dem wissenschaft lichen Verstand vor, wie er in ein Erkenntnisgebiet eine Ordnung hineinzubringen habe – so nämlich, daß der Verstand die Gesamtheit der zu diesem Erkenntnisgebiet gehörenden Erkenntnisgegenstände in bestimmte Reihen ordnen muß. Diese Ordnung in den Reihen ist aber keine Ordnung des Seins, sondern eine Ordnung der Erkenntnis. Eine Ordnung des Seins ergibt sich daraus, daß sich die geordneten Dinge auf eine bestimmte Seinsart beziehen. Eine Ordnung der Erkenntnis besteht dagegen darin, daß eine Erkenntnis aus einer anderen gewonnen wird. Dem Gehalt dieser 6. Regel aus den »Regulae« korrespondiert die 2. Hauptregel aus dem »Discours«.24 Diese fordert, jedes wissenschaftlich zu untersuchende Problem in so viele Teile und Teilprobleme zu zerlegen, wie es möglich und nötig ist, um es leichter lösen zu können. Die Zerlegung eines Problems in seine Teilprobleme kommt dem gleich, das Problem in eine oder mehrere Reihen von einzelnen Erkenntnissen zu zerlegen, die untereinander in einem Folgezusammenhang stehen. Die 7. Regel ist eine methodische Anweisung für den wissenschaftlich denkenden Verstand, wie er sich bezüglich der deduktiv abgeleiteten Erkenntnisse innerhalb der Erkenntnisreihen zu verhalten hat, wenn er völlige Gewißheit erlangen möchte. Die 7. Regel lautet: »Zur Vervollständigung der Wissenschaft ist es nötig, alle Erkenntnisse und jede einzelne, die zu der von mir verfolgten Absicht gehören, in einer kontinuierlichen und nirgendwo unterbrochenen Bewegung des Denkens durchzugehen und sie dabei in einer zureichenden und geordneten Aufzählung zu umfassen« (Ad scientiae complementum oportet omnia et singula, quae ad institutum nostrum pertinent, continuo et nullibi interrupto cogitationis motu 23 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 25; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 16; AT X, 381. 24 Descartes, Discours de la Méthode – Von der Methode (Gäbe), a. a. O., 30/31; AT VI, 18.

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§ 12. Methodengedanke, Hauptregeln der Methode

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perlustrare, atque illa sufficienti et ordinata enumeratione complecti).25 Dieser 7. Regel entspricht in verkürzter Form die 4. und letzte methodische Hauptregel aus dem »Discours«.26 Diese 4. Hauptregel schreibt vor, bei der Verfolgung eines wissenschaft lichen Problems »so vollständige Aufzählungen und so allgemeine Übersichten aufzustellen«, daß ich dessen sicher bin, innerhalb einer Erkenntnisreihe kein Glied übersehen zu haben. Gleich zu Beginn der Erläuterung der 7. Regel heißt es, daß die Beachtung dieser Regel notwendig sei, um sich der Wahrheit jener Erkenntnisse vergewissern zu können, die weder die Prinzipien noch jene Sätze betreffen, die unmittelbar aus den intuitiv erfaßten Prinzipien abgeleitet werden. Diejenigen Erkenntnissätze, für deren Vergewisserung die 7. Regel eine methodische Anweisung gibt, sind die Folgesätze innerhalb einer Erkenntnisreihe. Wenn wir durch eine lange Kette von Folgesätzen hindurch zu einer bestimmten Erkenntnis gelangen, erinnern wir uns nicht mehr des ganzen Weges der deduktiven Ableitung. Um aber der Wahrheit dieser gefolgerten Erkenntnis gewiß zu sein, muß ich ihren Zusammenhang mit dem ersten Glied der Folgerungskette und die Folgerungskette im ganzen vor Augen haben. Dazu komme ich, wenn ich diese Ableitungskette auf dem Wege des kontinuierlichen Denkens wiederholt durcheile, solange, bis ich es gelernt habe, vom ersten bis zum letzten Glied der Ableitungskette so schnell überzugehen, daß ich die ganze Ableitungskette mit einem geistigen Blick überschaue. Dieses wiederholte denkende Durcheilen der Ableitungskette muß kontinuierlich sein, um darin kein Glied zu überspringen. Es gehört somit zur Aufgabe des wiederholten Durchdenkens der Ableitungskette, mich dessen zu vergewissern, daß ein jedes Glied dieser Reihe auch wirklich aufgefunden ist.

25 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 31; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 21; AT X, 387. 26 Descartes, Discours de la Méthode – Von der Methode (Gäbe), a. a. O., 32/33; AT VI, 19.

https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

V I E RT E S K A PI T E L DE R BE W US S T S E I NSA NA LY T I S CH E G OT T E SAU F W E I S A L S L Ö S U NG S W E G F Ü R DI E F R AG E NACH DE R T R A NS Z E N DE N T E N G E LT U NG DE R BE W US S TSE I NSI M M A N E N T E N VOR S T E L LU NG E N (CO G I TATA) VON DE R M AT E R I E L L E N KÖR PE RW E LT

§ 13 Methodische Erwägungen im Rückblick und Vorblick Auf den Themenbereich ›Wahrheit und Methode‹ stießen wir in unserer ersten Hinwendung zur III. Meditation, die ›De Deo, quod existat‹ handelt. Denn im 2. Abschnitt der III. Meditation formuliert Descartes die ›allgemeine Wahrheitsregel‹. Wir beließen es nicht bei ihrer Durchsprache, sondern sahen uns veranlaßt, den ganzen Problemkreis ›Wahrheit und Methode‹ mit Blick auf die beiden Methodenschriften Descartes’ in den Grundzügen abzustecken. Auch die »Regulae ad directionem ingenii« und der »Discours de la Méthode« enthalten unter ihren methodischen Regeln die ›allgemeine Wahrheitsregel‹. Die Einbeziehung beider Methodenschriften verfolgte den Zweck, die Frage zu beantworten, ob auch die übrigen methodischen Regeln außer der ›allgemeinen Wahrheitsregel‹ für die »Meditationen« von Bedeutung sind. Die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ schreibt vor, was Wahrheit als Gewißheit ist und was der Verstand zu leisten hat, um eine gewisse Erkenntnis zu gewinnen. Der Verstand muß sich um eine clara et distincta perceptio, um eine klare und deutliche Einsicht in das von ihm Behauptete bemühen. Dies geschieht, wenn er den als gewisse Erkenntnis auszugebenden Sachverhalt für sich zu einem ›gegenwärtigen‹ und ›unverdeckten‹ und darüber hinaus zu einem ›getrennten‹ und ›abgehobenen‹ Sachverhalt werden läßt. Was Wahrhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 13. Methodische Erwägungen: Rückblick, Vorblick

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heit als Gewißheit ist und was der Verstand für deren Gewinnung leisten muß, nannten wir die Was-Frage. Von dieser unterschieden wir die Wie-Frage, die Frage, wie der Verstand verfahren muß, um zu wahren als gewissen Erkenntnissen zu gelangen. Während die WasFrage von der ›allgemeinen Wahrheitsregel‹ abgedeckt wird, erhält die Wie-Frage ihre Antwort durch die zahlreichen Verfahrensregeln, von denen in den »Meditationen« bezeichnenderweise nicht die Rede ist. In den »Regulae« ist es die 3. Regel, die sich mit dem Gehalt der ›allgemeinen Wahrheitsregel‹ deckt: »was wir klar und evident geistig schauen oder sicher daraus ableiten können« (quid clare et evidenter possimus intueri vel certo deducere quaerendum est).1 Im »Discours« ist es die 1. der vier methodischen Hauptregeln, die mit der ›allgemeinen Wahrheitsregel‹ zur Deckung kommt: »über nichts zu urteilen, was sich meinem Geist nicht so klar und deutlich darstellte, daß ich keinen Anlaß hätte, daran zu zweifeln« (de ne comprendre rien de plus en mes jugements, que ce qui se présenterait si clairement et si distinctement à mon esprit, que je n’eusse aucune occasion de la mettre en doute).2 Für den Gang der »Meditationen über die Erste Philosophie« ist allein die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ von Bedeutung. Alle übrigen methodischen Verfahrensregeln aus den Methodenschriften Descartes’ leiten nur diejenigen Wissenschaft en, die nicht die Erste Wissenschaft, nicht die Erste Philosophie sind. Die durchgehende ›Beweisart‹ in den »Meditationen« wurde von Descartes als Analysis in der Abgrenzung von der Synthesis gekennzeichnet. Die Analysis zeigt den wahren Weg auf, auf dem die zu denkende Sache allererst intuitiv gefunden und aufgewiesen wird. Ihr Be-weisen ist somit ein Aufweisen im Sinne eines Enthüllens. Das analytische Enthüllen des zu Denkenden und zu Erkennenden wird durch die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ geleitet. Analysis und ›allgemeine Wahrheitsregel‹ bestimmen in ihrer Zusammengehörigkeit den Gang der »Meditationen«. Der Gang der I. Meditation, die in der sinnlichen Erfahrungserkenntnis einsetzte, erfolgte als schrittweise Einnahme 1 Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes (Buchenau), a. a. O., 10; Regulae ad directionem ingenii (Springmeyer †, Zekl), a. a. O., 8; AT X, 366. 2 Descartes, Discours de la Méthode (Gäbe), a. a. O., 30/31; AT VI, 18.

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4. Kapitel: Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis

der methodischen Zweifelshaltung und somit der Cartesianischen Epoché und führte zu Beginn der II. Meditation zur ersten ›klaren und deutlichen‹, somit unbezweifelbaren Einsicht in die unbezweifelbare existentia des ego dubito. Die daran anschließende Einsicht in die unbezweifelbare essentia des ego dubito, in die cogitatio, vollzog sich als eine analytische Enthüllung der cogitatio aus dem unbezweifelbar existierenden ego dubito. Auch die weiteren Einsichten der II. Meditation, die zur Freilegung der dreifachen Strukturiertheit der cogitatio führten, vollzogen sich als Schritte analytischer Enthüllung aus dem ego cogito im strengen Geleit der ›allgemeinen Wahrheitsregel‹. Und selbst die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ wurde durch eine Besinnung auf den Einsichtscharakter der schon gewonnenen Einsichten in die unbezweifelbare existentia und essentia des ego dubito geschöpft und somit analytisch enthüllt. Daher kommt für das Verständnis der »Meditationen« Descartes’ alles auf die Erkenntnis an, daß der Weg des meditativen Philosophierens durch alle sechs Meditationen hindurch ein Gang schrittweiser intuitiv analytischer Enthüllung dessen ist, was die ichliche Bewußtseinssphäre verhüllterweise je schon in sich schließt. Diese Einsicht in das methodische Vorgehen der »Meditationen« ist von großer Bedeutung für das Verständnis der Aufgabe der III. Meditation, für die Auslegung des bewußtseinsanalytischen Aufweises der existentia Gottes sowie des urtranszendierenden Bewußtseinsbezuges zu diesem Gott. Denn auch der Aufweis dieses Gottesbezuges versteht sich als analytische Enthüllung aus der ichlichen Bewußtseinssphäre, die den Gottesbezug verhüllterweise immer schon einschloß.

§ 14 Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis Noch bevor Descartes die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ aufstellte, hatte er die jetzt in Angriff zu nehmende Aufgabe schon benannt, die sich im Ausgang vom Ergebnis der II. Meditation stellt. Er wolle tiefer in sich hineinschauen (penitius inspiciendo meipsum), in die eigene absolut vergewisserte Bewußtseinssphäre, und versuchen, sich https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 14. Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis

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diese Bewußtseinssphäre schrittweise noch bekannter und vertrauter zu machen als das bisher geschehen ist (paulatim mihi magis notum et familiarem reddere conabor) (1. Abschnitt). Er wolle sich noch sorgfältiger in seiner Bewußtseinssphäre umsehen, ob nicht noch etwas anderes in ihr sei, das er bisher noch nicht beachtet habe (Nunc circumspiciam diligentius, an forte adhuc apud me alia sint, ad quae nondum respexi) (2. Abschnitt). Mit diesen Vorweisungen gibt Descartes den jetzt weiter zu beschreitenden Gedankenweg an. Es ist der Weg der diff erenzierenden Selbstauslegung der eigenen Bewußtseinssphäre. Auf diesem Weg wird er schließlich auf die bewußtseinsimmanente Vorstellung (Begriff ) von Gott stoßen, von der aus der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis ausgeführt wird, der als Aufweis aus der Selbstgewißheit des Bewußtseins ebenfalls höchste Gewißheit beansprucht. Im Anschluß an die im 2. Abschnitt erfolgende Formulierung der ›allgemeinen Wahrheitsregel‹ fragt sich im 3. Abschnitt das meditierende Ich, wie sich das vor dem methodischen Zweifelsweg auch als gewiß und evident Vermeinte nunmehr zu der jetzt aufgestellten und aus der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins geschöpften Wahrheitsregel verhalte. Was ich vor dem methodischen Zweifelsgang als gewiß und evident so und so seiend und als wirklich seiend habe gelten lassen, war die sinnlich wahrnehmbare Körperwelt. Diese vormeditative Wasseins-, Wirklichseins- und Wahrheitssetzung vollzog sich ohne Kenntnis der aus dem vergewisserten Selbstbewußtsein geschöpften allgemeinen Wahrheitsregel. Was erfaßte ich vormeditativ an dem von mir vermeintlich gewiß und evident Erkannten klar und distinct im strengen Sinne der Wahrheitsregel? Was ist an meinem vormeditativen Wissen allein ein klar und distinct Erfaßtes? Daß die Vorstellungen selbst der körperlichen Dinge (ipsas talium rerum ideas) oder das Bewußtsein von solchen Dingen (sive cogitationes) vor meinem Geiste sich zeigen (menti meae obversari). In dieser Antwort führt Descartes in den »Meditationen« erstmals den Begriff ›idea‹, ›ideae‹ ein. Das allein klar und distinct Erfaßte an meinem vormeditativen Weltwissen besteht nur darin, daß sich meinem Geist ideae von diesen körperlichen Dingen oder die cogitationes von ihnen zeigten. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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4. Kapitel: Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis

Idea heißt neuzeitlich ›Vorstellung‹, aber in der Bedeutung des ›Vorgestellten eines Vorstellens‹. Insoweit ist idea mit cogitatio gleichbedeutend. Denn auch cogitatio bedeutet: cogitare, das sich auf sein cogitatum bezieht. Während jedoch in ›cogitatio‹ die Betonung gleichgewichtig sowohl auf dem cogitare wie auf dem cogitatum liegt, liegt in der idea die Betonung auf dem Vorgestellten eines Vorstellens. Cogitatio haben wir in der II. Meditation übersetzt durch ›Vorstellung‹ im Sinne des Vorstellens eines Vorgestellten und durch ›Bewußtsein von einem gegenständlich Bewußten‹. Im 3. Abschnitt verwendet Descartes die Termini ideae und cogitationes noch gleichbedeutend. Doch schon im 5. Abschnitt nimmt er eine gewichtige Unterscheidung vor. Von jetzt ab hat cogitatio eine weitere Bedeutung und idea eine engere. Denn idea wird als eine besondere Gattung der cogitatio neben zwei weiteren Gattungen bezeichnet. Darum werden wir von jetzt ab idea und cogitatio bzw. ideae und cogitationes unterschiedlich übersetzen. Für idea sagen wir fortan ›Vorstellung‹ mit der Betonung des bewußtseinsimmanent Vorgestellten eines Vorstellens. Cogitatio aber fassen wir fortan nur noch als ›Bewußtsein‹ und meinen die Bewußtseinsweise-von und das in ihr gegenständlich Bewußte (cogitatum). Cogitatio wird sich somit als ein weiter gefaßter Begriff erweisen, weiter als idea, weil zwar alle ideae cogitationes sind, aber nicht alle cogitationes sind ideae. Gemessen an der Wahrheitsregel war das allein klar Erfaßte in meinem vormeditativen Wissen von der Körperwelt nur das bewußtseinsimmanent Vorgestellte, eben die ideae von den Körpern. Nur vermeintlich, nicht aber wahrhaft klar erfaßt war, daß es das körperlich Seiende auch außer mir gibt (res quasdam extra me esse), von dem – wie ich vormeditativ selbstverständlich meinte – die ideae in mir herrühren und dem meine ideae vollkommen ähnlich sind im Sinne abbildlicher Vorstellungsbilder (a quibus ideae istae procedebant et quibus omnino similes erant). Die zu meinem vormeditativen Wissen gehörende Meinung, daß es außerhalb der Immanenz wahrhaft existierende Raumkörper gibt und daß zwischen meinem immanenten Vorstellungswissen, den ideae, und den äußeren Körpern selbst ein vollkommenes Ähnlichkeitsverhältnis besteht, war https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 14. Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis

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entweder ein Irrtum oder noch keine klare und distincte Einsicht im Sinne der Wahrheitsregel. Im 4. Abschnitt setzt Descartes seine Vergegenwärtigung dessen, was er vor dem methodischen Zweifelsgang klar und distinct erfaßt zu haben meinte, fort, um auch dieses an der Wahrheitsregel zu messen. Bei dem jetzt zu prüfenden vormeditativen Wissen handelt es sich um mein mathematisches Wissen. Zwar hatte ich die mathematischen Gegenstände mit einem ganz anderen Gewißheitscharakter geistig erfaßt, als ich das Wirklichsein der Körperwelt meinte erfaßt zu haben. Um diese den mathematischen Gegenständen eigentümliche apodiktische Gewißheit auch in den methodischen Zweifel ziehen zu können, bedurfte es der Besinnung auf die Seinsursache meines Verstandes. Weil auch diese Seinsursache, der Deus qua Creator, noch in keiner Weise hinsichtlich seiner eigenen Wahrheit vergewissert war, wurde der Gedanke möglich, mein Verstand, also mein geistiges Sein, könnte von seiner göttlichen Seinsursache so hervorgebracht sein, daß ich mich sogar in bezug auf das täusche, was ich mit größter Gewißheit einzusehen meinte (quam quia veniebat in mentem forte aliquem Deum talem mihi naturam indere potuisse, ut etiam circa illa deciperer, quae manifestissima viderentur). Hierzu sagt Descartes: Sooft ich den Gedanken von der Allmacht Gottes denke (haec praeconcepta de summa Dei potentia), verbindet sich dieser für mich mit der denkbaren Möglichkeit, daß diese Allmacht es leicht hätte bewirken können, daß ich mich auch in dem irre, was ich höchst evident geistig anschaue (non possum non fateri, siquidem velit, facile ille esse efficere, ut errem, etiam in iis, quae me puto mentis oculis quam evidentissime intueri). Doch dieser Zweifelsüberlegung steht eine andere Überlegung gegenüber: Sooft ich mich aber den Sachen selbst zuwende (ad ipsas res), die ich ganz klar zu durchschauen glaube, lasse ich mich von ihnen und ihrer Wahrheit völlig überzeugen. Descartes nennt zwei solcher klar erfaßten Sachverhalte. Das erste Beispiel ist die erste höchst gewisse Erkenntnis: täusche mich, wer immer es mag, niemals wird er doch bewirken, daß Ich nichts bin, solange Ich mir bewußt bin, daß Ich etwas bin (ut nihil sim, quamdiu me aliquid esse cogitabo). Doch diese erste gewisseste Einsicht erweitert Descartes: https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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4. Kapitel: Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis

täusche mich, wer immer es mag, niemals wird er doch bewirken, »daß es zu irgendeiner Zeit wahr wird, daß Ich nie existiert habe, wenn es jetzt wahr ist, daß Ich existiere« (ut aliquando verum sit me numquam fuisse, cum iam verum sit me esse). Nicht nur in der Zeit, in der ich mir bewußt bin, etwas zu sein, ist mein ichliches Wirklichsein untäuschbar, sondern auch in jeder zukünftigen Zeit kann es nicht wahr werden, daß Ich niemals wirklich gewesen bin, wenn es jemals wahr gewesen ist, daß Ich existiert habe. Diese erste und jetzt erweiterte gewisse Erkenntnis von der Unbezweifelbarkeit der existentia meines eigenen Ich war in der Tat ein klar und distinkt Erfaßtes, so daß aus diesem die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ aufgestellt werden konnte. In bezug auf diese erste gewisseste Einsicht war und ist ein Getäuschtwerden durch einen möglichen Deceptor schlechthin unmöglich. Doch bezüglich des zweiten Beispiels für eine klare und distincte Einsicht des Verstandes verhält es sich anders. Es ist der mathematische Sachverhalt: 2 + 3 = 5. Dennoch sagt Descartes auch hier: täusche mich, wer immer es mag, niemals wird er doch bewirken, daß 2 + 3 mehr oder weniger als 5 sind, worin er einen offenbaren Widerspruch erkennt (in quibus scilicet repugnantiam agnosco). Dennoch ist dieser arithmetische Sachverhalt nicht genau in derselben Weise absolut gewiß wie meine Erkenntnis von der unbezweifelbaren existentia meines Ich. Denn letztere war es allein, die dem dritten methodischen Zweifelsgrund standhielt. Von den beiden Beispielen Descartes’ kann daher nur die mathematische Erkenntnis als ein echtes Beispiel für eine solche klar und distinct eingesehene Erkenntnis dienen, die der zweifachen, der antithetischen Betrachtungsweise unterworfen ist. Damit wird deutlich: Unter die antithetische Betrachtungsweise fallen nur solche klar und distinct eingesehenen Erkenntnisgehalte, die in gegenständlicher Richtung meines Bewußtseins liegen. Hierzu gehören auch die mathematischen Sachverhalte, nicht aber existentia und essentia meiner selbst. Diese Überlegung zeigt, daß die von Descartes aufgestellte ›allgemeine Wahrheitsregel‹ als solche noch nicht hinreicht, um klare und distincte Erkenntnisse meines Verstandes in gegenständlicher Erkenntnisrichtung zu verbürgen. Die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ist aus ihr selbst heraus nicht imstande, den dritten methodischen Zweifelsgrund, den denkmöglichen Deceptor, außer Kraft zu setzen. Descartes führt den bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis durch, um darzutun, daß der in meiner bewußtseinsimmanenten Gottesvorstellung vorgestellte Gott notwendig außer mir an ihm selbst existiert und daß dieser notwendig existierende Deus kein Deceptor sein kann, sondern allein der allgütige Gott. Die von mir klar und distinct eingesehene Allgüte dient als Beweis dafür, daß mein Verstand, mein geistiges Sein, vom allgütigen Gott nicht als ein stets sich täuschender geschaffen ist, sondern als ein solcher, der dann, wenn er etwas klar und deutlich eingesehen und erfaßt hat, wahrhaft erkennt. Weil die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ den dritten methodischen Zweifelsgrund nicht außer Kraft zu setzen vermag, gibt Descartes noch im 4. Abschnitt einen Hinweis auf die unumgängliche Aufgabe eines Gottesnachweises. Zwar scheint er jetzt die Bedeutung des dritten Zweifelsgrundes abzuschwächen, wenn er zunächst sagt: Da ich sicherlich keine Veranlassung habe zu glauben, daß es irgendeinen mich täuschenden Gott gibt (aliquem Deum esse deceptorem), und da ich bis jetzt noch nicht einmal genügend weiß, ob überhaupt irgendein Gott existiert (nec quidem adhuc satis sciam, utrum sit aliquis Deus), so ist der dritte Zweifelsgrund sehr schwach und metaphysisch. Doch genau besehen schwächt Descartes die Bedeutung des dritten Zweifelsgrundes nicht ab, denn was wie eine Abschwächung erscheint, ist aus der von ihm stillschweigend vorweggenommenen Einsicht in die notwendige Existenz des allgütigen Schöpfergottes gesprochen. Er, Descartes, habe sicherlich keine Veranlassung, an einen Deceptor zu glauben, weil sich in dem erst noch durchzuführenden Aufweis die existentia und die Allgüte dieses Gottes in höchster Gewißheit bekunden werden, eine Gewißheit, die in einem Wesenszusammenhang mit der absoluten Selbstgewißheit der ichlichen Bewußtseinssphäre steht. Daß Descartes trotz des gegenteiligen Anscheins den dritten Zweifelsgrund als einen rational legitimen versteht, geht aus der Betonung hervor, er habe bis jetzt noch gar kein gesichertes, d. h. klares und distinctes Wissen davon, ob überhaupt ein Gott existiert. Bei der Durchsprache des dritten Zweifelsgrundes in der I. Meditation wiesen wir ausdrücklich darhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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4. Kapitel: Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis

auf hin, daß der Gedanke von einem Deceptor in begründeter Weise dadurch möglich wird, daß meine Gottesvorstellung vorläufig nur ein Begriff sei, angesichts dessen noch völlig ungewiß sei, ob das darin Gedachte auch außerhalb meines Begriffes wahrhaft an ihm selbst existiert. Solange der von mir in meinem Gottesbegriff bloß gedachte Gott hinsichtlich seiner existentia und essentia noch nicht vergewissert ist, kann ich entweder annehmen, die göttliche Seinsursache meines erkennen wollenden Verstandes sei keine allgütige, sondern eine betrügerische, oder es gebe überhaupt keine göttliche Seinsursache. Die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ würde den dritten Zweifelsgrund in bezug auf jegliche gegenständlich gerichtete Erkenntnis dadurch beseitigen, daß sie allein die Gewißheit der klar und deutlich eingesehenen mathematischen Sachverhalte verbürgen könnte. In diesem Falle würden die mathematischen Erkenntnisse der genannten antithetischen Betrachtungsweise entzogen. Weil aber die ›allgemeine Wahrheitsregel‹ den dritten Zweifelsgrund aus sich selbst heraus nicht aufzuheben vermag, wird der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis notwendig, der dann seinerseits die Gültigkeit der ›allgemeinen Wahrheitsregel‹ für die gesamte gegenständlich gerichtete Erkenntnis, insbesondere für die Erkenntnis der bewußtseinstranszendenten Körperwelt, sichert. Daher heißt es gegen Ende des 4. Abschnittes : Um den dritten Zweifelsgrund zu heben, müsse untersucht werden, 1. ob es einen Gott gibt (an sit Deus), und 2. wenn er existiert (et si sit), ob dieser Gott ein täuschender sein kann (an possit esse deceptor). Es muß also jetzt untersucht werden, ob der Schöpfergott überhaupt außerhalb meines Begriffes von ihm existiert, und ob der existierende Schöpfergott seinem Wesen nach ein mich in gegenständlicher Erkenntnisrichtung täuschender Gott sein kann. Solange diese beiden Fragen nicht positiv beantwortet sind in der Weise eines zweifelsfrei gesicherten Aufweises, der selbst seine höchste Gewißheit aus der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins erhält, scheine ich in bezug auf irgendetwas anderes außer meiner ichlichen Bewußtseinssphäre niemals völlige Gewißheit erlangen zu können (hac enim re ignorata non videor de ulla alia plane certus esse umquam posse). Solange https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 14. Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis

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ich kein gewisses Wissen, keine höchst klare und distincte Einsicht in die existentia und essentia des Creators habe, werde ich niemals ein gewisses Wissen von idealen und realen Gegenständen haben. Dieses andere außer dem Seienden, das ich für mich selbst bin, sind die mathematischen Gegenstände und die Welt der Körper in ihrer bewußtseinstranszendenten existentia und essentia. Irgendetwas anderes außer mir selbst – damit ist auch gesagt, daß ich ein gewisses, unbezweifelbares Wissen vorerst nur von mir selbst habe. Nur die Erkenntnis meiner selbst und alles dessen, was zu meiner ichlichen Bewußtseinssphäre konstitutiv gehört, kann auf dem Wege des klaren und distincten Einsehens gewonnen werden, ohne daß meiner absolut gewissen Selbsterkenntnis die höchste gewisse Erkenntnis vom unendlichen Sein des Schöpfergottes vorangehen muß. Das heißt jedoch nicht, daß Ich als die zuerst absolut vergewisserte ichliche Bewußtseinssphäre seinsmäßig ohne die notwendige Existenz des Deus qua Creator existieren könnte. Diese Einsicht in die ontologische Endlichkeit meines ego-cogito-cogitatum, wonach mein esse sich als ein creatum esse erweisen wird, gehört in ganz wesentlicher Weise zum Gehalt des bewußtseinsanalytischen Gottesaufweises.

a) Klassifizierung der cogitationes in drei Gattungen: ideae, voluntates-affectus, iudicia Mit dem 5. Abschnitt setzt die im 1. und 2. Abschnitt angezeigte diff erenzierende Analytik des Bewußtseins (cogitatio) ein.1 Diese Analytik steht im Dienste des Vorhabens eines bewußtseinsanalytischen Gottesaufweises. Um einen solchen Gottesaufweis im Ausgang von meinem bewußtseinsimmanenten Gottesbegriff durchführen zu können, verlangt es die Ordnung (ordo), daß ich zuerst alle meine Bewußtseinsweisen in gewisse Gattungen einteile (prius omnes meas cogitationes in certa genera distribuam) und untersuche, in welchen von diesen Bewußtseinsweisen eigentlich Wahrheit oder Falschheit auftritt (veritas aut falsitas proprie consistat). Alle 1

Vgl. Perler 2006, 149–157; Kemmerling 1996.

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4. Kapitel: Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis

meine cogitationes, meine Bewußtseinsweisen von etwas, alle modi meines ego cogito cogitatum, werden dreifach gegliedert mit dem Ziele, zu untersuchen, ob in allen drei Gattungen oder nur in einigen oder gar nur in einer einzigen außer Wahrheit auch Unwahrheit auftreten kann. Einige von meinen cogitationes, meinen Bewußtseinsweisen von etwas, sind gleichsam ›Bilder von Seiendem‹ (tamquam rerum imagines). Diesen allein gibt Descartes die Bezeichnung ›ideae‹, Vorstellungen von vorgestelltem Seienden. Die erste Gattung meiner modi cogitandi, meiner Bewußtseinsweisen von etwas, sind die ideae.2 Als Beispiele nennt Descartes die idea von einem Menschen, von einer Chimäre, vom Himmel, von einem Engel oder von Gott. In diesen Beispielen bin ich vorstellend unmittelbar auf die ideae, die ich von diesen genannten Seienden habe, bezogen. Die idea von einem Menschen ist für Descartes die Weise, in der das, was ich im Begriff des Menschen vorstelle, für mich unmittelbar bewußt ist. Die idea, die ich von einem körperlich Seienden habe, ist das bewußtseinsimmanente cogitatum, auf das ich vorstellend bezogen bin, wenn ich das vorstelle, was dieser oder jener Körper ist. Der allgemeine Gattungscharakter der cogitationes qua ideae ist dadurch bestimmt, daß ich in diesen Bewußtseinsweisen-von das Seiende für mich vorstellig mache, auf das mein Bewußtsein sich immanent intentional bezieht. Aber nicht alle cogitationes haben diesen Charakter des bewußtseinsmäßigen Vorstelligmachens von Seiendem. Als zweite Gattung der cogitationes nennt Descartes die modi cogitandi, die Bewußtseinsweisen des Wollens und Wünschens (voluntates) sowie die modi cogitandi der Gemütsbewegungen (aff ectus) und als dritte Gattung die Urteile (iudicia). Zuerst faßt er die zweite und dritte Gattung zusammen, um sie von der Gattung der ideae abzuheben. Was ist das, was die zweite und die dritte Gattung gemeinsam von der ersten Gattung unterscheidet? Die voluntates und affectus sowie die iudicia haben im Vergleich mit den ideae »außerdem noch gewisse andere Wesenscharaktere« (alias quasdam praeterea formas). Als Beispiele 2

Vgl. Schäfer 2006, 122 ff.

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dienen das Wollen und das Fürchten sowie das Bejahen und Verneinen. Auch wenn sich das wollende Bewußtsein von einem Gewollten und das fürchtende Bewußtsein von einem Gefürchteten einerseits sowie das bejahende und verneinende Bewußtsein von einem bejahend und verneinend Geurteilten andererseits gattungsmäßig unterscheiden, zeigen sie dennoch eine übergreifende Gemeinsamkeit in ihrem Unterschied zur Gattung der ideae und auch in ihrer positiven Beziehung zur Gattung der ideae. Wenn ich will, fürchte, bejahend und verneinend urteile, erfasse ich zwar auch ein Seiendes und stelle es in der idea vor, die meinem wollenden, fürchtenden, bejahenden und verneinenden Bewußtsein zugrundeliegt (semper quidem aliquam rem ut subiectum meae cogitationis apprehendo). Aber mein wollendes, fürchtendes, bejahendes und verneinendes Bewußtsein erschöpft sich nicht im bloßen Vorstellen von Seiendem. In diesen cogitationes ist mir noch mehr bewußt als nur die Ähnlichkeit mit dem mitvorgestellten Seienden (aliquid etiam amplius quam istius rei similitudinem cogitatione complector). Die Ähnlichkeit besteht zwischen der bewußtseinsimmanenten idea von einem sachhaltigen Seienden und diesem Seienden selbst, falls es außerhalb der idea an ihm selbst wirklich ist. In meinem wollenden, fürchtenden, bejahenden und verneinenden Bewußtsein-von ist das sachhaltige Seiende nicht nur, wie in den bloßen bewußtseinsimmanenten ideae, vorstellig gemacht, sondern darüberhinaus bewußt als ein gewolltes, gefürchtetes, bejahtes oder verneintes Seiendes. Die Gattung der Willens- und Gefühlsakte hat mit der Gattung der Urteilsakte das Gemeinsame, daß sie keine einfachen (schlichten) Akte sind wie die bloßen ideae, sondern gestufte, fundierte Bewußtseinsakte, die in den ihnen zugrundeliegenden einfachen Bewußtseinsakten der ideae fundiert sind, der ideae, die ihrerseits für die Bewußtseinsakte der zweiten und dritten Gattung fundierend sind. Wie sich gezeigt hat, besteht der Gattungscharakter der ersten Gattung der cogitationes, der ideae, im bewußtseinsimmanenten Vorstelligmachen der res, des sachhaltigen Seienden. Diese res als das bewußtseinsimmanent in der Weise der ideae Vorstelliggemachte sind nicht nur körperlich Seiendes (res corporeae), sondern auch die mathematischen als die idealen Gegenstände. Die bewußtseinsimhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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manent in der Weise von ideae vorstellig gemachten res sind ferner die Wesensbestimmungen der Körper: die räumlich ausgedehnte Substanz und die übrigen Wesensbestimmungen. Schließlich gehört zu den als ideae bewußtseinsimmanent vorstellig gemachten res auch das unendliche Seiende, Gott. Weil die ideae den Charakter des bewußtseinsimmanenten Vorstelligmachens von washaltigem Seienden haben, heißen sie ›Vorstellungen‹ im eigentlichen Sinne. Die ideae sind jene mannigfaltigen Bewußtseinsweisen, in denen ich washaltiges Seiendes vorstellig mache, so, daß dieses für mich bewußtseinsimmanent eine idea, ein Vorgestelltes ist. Diese Gattung der vorstelligmachenden cogitationes umfaßt nun viele Arten von modi cogitandi: das wahrnehmende Vorstellen, das erinnernde, erwartende, phantasierende Vorstellen, das denkende Vorstellen der idealen Sachverhalte, das verstandesmäßig erfassende Vorstellen (percipere) von Substanz und Eigenschaften, das Vorstellen des unendlichen Seienden. Das wahrnehmende Vorstellen von einem wahrnehmungsmäßig Vorgestellten läßt sich in seinem Aktcharakter so beschreiben: das wahrnehmende Vorstellen macht ein wahrnehmbares Seiendes in der Weise vorstellig, daß das in der idea vorgestellte Seiende als leibhaftig gegenwärtig aufgefaßt wird. Von diesem Aktcharakter unterscheidet sich derjenige der erinnernden Vorstellung. Diese macht ein Seiendes in der Weise vorstellig, daß das in der idea vorgestellte Seiende vorgestellt wird als wahrgenommen-gewesen und daher als jetzt nicht mehr leibhaftig-gegenwärtig. Obwohl sich die wahrnehmende und die erinnernde Vorstellung durch die verschiedene Art, wie sie eine res vorstellig machen, unterscheiden, zeigen sie ihren gemeinsamen Gattungscharakter darin, daß sie überhaupt eine res vorstellig machen. Der Gattungscharakter der ideae wird aber erst dann in seiner Eigenheit deutlich, wenn man zum Vergleich die anderen Bewußtseinsweisen heranzieht, die zwar auch auf die vorstelligmachenden Bewußtseinsweisen bezogen sind, aber an ihnen selbst und ihrem Gattungscharakter nach nicht vorstelligmachende Bewußtseinsweisen sind. Die voluntates sive aff ectus bilden die zweite Gattung der cogitationes. Zu den wollenden Bewußtseinsweisen gehören das Wollen im engeren Sinne, das Nichtwollen, ferner Wünschen, Streben, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Nachhängen, Drängen. Zu den Gefühlsakten zählen das Fürchten, Trauern, Sichfreuen, Lieben, Hassen usf.3 Alle diese Bewußtseinsweisen zeigen ihr Gemeinsames darin, daß sie selbst kein Vorstelligmachen einer res sind, obwohl sie die vorstelligmachenden Bewußtseinsweisen (ideae) als ihre bewußtseinsmäßige Grundlage benötigen. Die Bewußtseinsweise des Sichfürchtens-vor ist gerichtet auf das, wovor ich mich fürchte, auf das Furchtbare. Zwar ist das Furchtbare auch eine res. Soweit ich im Fürchten-vor ein Seiendes vorstelle in der Weise der idea, handelt es sich nicht um die Bewußtseinsweise des Fürchtens, sondern um die der idea. Die das Fürchten fundierende idea ist die Erwartung, in der ich das erwartete Seiende als ein möglicherweise Eintreffendes (der Blitz) vorstellig mache. Daß aber das erwartete Seiende zugleich als ein von mir gefürchtetes bewußt ist, rührt von der Bewußtseinsweise eines anderen Gattungscharakters her. Diese Bewußtseinsweise macht das in der idea vorstellig gemachte Seiende als ein Furchtbares bewußt. Weil das Gefürchtete oder das Erfreuende je ein sachhaltig Seiendes ist, bedarf die Bewußtseinsweise des Fürchtens oder des Sichfreuens als fundierende Unterlage (subiectum) je einer idea, damit sie das Vorstelliggemachte als ein gefürchtetes oder als ein erfreuendes bewußt machen kann. Ähnlich verhält es sich bei der dritten Gattung, den Urteilen (iudicia). Für Descartes gliedern sich die Urteile in bejahende und verneinende Urteile. Urteile sind für ihn grundsätzlich stellungnehmende Bewußtseinsweisen in den Modi des Bejahens und Verneinens. Wozu ich urteilend Stellung nehme, ist auch ein Seiendes. In einem Urteil urteile ich über ein Seiendes nach dieser oder jener Hinsicht. Die Hinsicht bestimmt sich aus dem, was ich am jeweiligen Seienden zu erkennen trachte. Die Hinsicht ist die Erkenntnishinsicht, in der ich das Seiende klar und deutlich zu erfassen suche. In bezug auf das so Erfaßte am Seienden urteile ich, daß sich das Seiende so, wie ich es klar und deutlich erfaßt habe, auch verhält oder nicht verhält. Im urteilenden Bewußtsein ist das, worauf ich urteilend bezogen bin, das Geurteilte. Im Urteilen ist mir das Seiende als so und so geurteiltes 3

Coriando 2002, 37–64.

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und ausgesagtes bewußt. Damit es als geurteiltes bewußt sein kann, muß es als dieses Seiende überhaupt in der Bewußtseinsweise einer idea vorstellig gemacht sein. Die Bewußtseinsgattung der ideae ist somit auch für die dritte Gattung der iudicia fundierend. Die idea selbst aber macht das Seiende nicht schon als ein geurteiltes bewußt. Etwas als ein Geurteiltes bewußt machen ist das Eigenständige der urteilenden Bewußtseinsweise. Alle drei Gattungen sind ichliche Bewußtseinsweisen von etwas, bestimmt durch das Selbstbewußtsein und verfaßt in der bewußtseinsimmanenten Intentionalität. Im Anschluß an die ›Zweiten Erwiderungen‹, in den Rationes, gibt Descartes zuerst eine Definition der cogitatio und anschließend eine Definition der idea. Die Definition der cogitatio (des Bewußtseins) lautet: Cogitationis nomine complector illud omne quod sic in nobis est, ut ejus immediate conscii simus. Ita omnes voluntatis, intellectus, imaginationis et sensuum operationes sunt cogitationes. Sed addidi immediate, ad excludenda ea quae ex iis consequuntur, ut motus voluntarius cogitationem quidem pro principio habet, sed ipse tamen non est cogitatio:4 Unter dem Namen ›Bewußtsein‹ befasse ich alles jenes, was so in uns ist, daß wir uns seiner unmittelbar bewußt sind. So sind alle Vollzüge des Willens, des Verstandes, der Einbildungskraft und der Sinne Bewußtseinsweisen. Aber ich habe das Wort ›unmittelbar‹ hinzugefügt, um das auszuschließen, was aus diesen (Bewußtseinsweisen) folgt, wie die freiwillige Bewegung, die zwar eine Bewußtseinsweise als ihr erstes Woher hat, aber dennoch selbst nicht Bewußtsein ist.5 Cogitatio ist somit alles, was zur Immanenz meiner Bewußtseinssphäre, zum ego cogito me cogitare cogitatum, gehört. Das In-mir-sein der cogitatio (Bewußtseinsweise) wird erläutert als: so in mir, daß ich mir dieser cogitatio unmittelbar bewußt bin. Dasjenige, dessen ich mir unmittelbar bewußt bin, ist nicht etwas anderes als meine Bewußtseinssphäre, sondern ist eine ihrer Bewußt4

Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, AT VII, 160. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 145. 5

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seinsweisen. Für ›sich bewußt sein‹ wählt Descartes ein Wort, das das Phänomen angemessen zur Sprache bringt: conscius esse. Wörtlich übersetzt heißt es: mitwissend sein. In der Bewußtseinsweise ›etwas wollen‹ weiß ich nicht nur, was ich will, sondern ich weiß zugleich auch, daß Ich es bin, der etwas will. Im ›etwas wollen‹ lebe ich in der Mitwisserschaft meiner selbst, der ich mir selbst in diesem ›etwas wollen‹ gegeben bin. Deshalb verwendet Descartes für cogitatio gelegentlich auch das Wort ›conscientia‹, die Mitwisserschaft im Sinne des Selbstbewußtseins. An der cogitatio als conscientia haben alle drei Gattungen in gleicher Weise teil; denn alle cogitationes sind so in mir, in meinem Bewußtsein, daß ich unmittelbar mir ihrer selbst bewußt bin als der Weisen, in denen Ich als Ich lebe. Descartes’ Definition der idea als der ersten Gattung der cogitationes lautet: Ideae nomine intelligo cujuslibet cogitationis formam illam, per cujus immediatam perceptionem ipsius ejusdem cogitationis conscius sum; adeo ut nihil possim verbis exprimere, intelligendo id quod dico, quin ex hoc ipso certum sit, in me esse ideam ejus quod verbis illis significatur. Atque ita non solas imagines in phantasia depictas ideas voco; imo ipsas hic nullo modo voco ideas, quatenus sunt in phantasia corporea, hoc est in parte aliqua cerebri depictae, sed tantum quatenus mentem ipsam in illam cerebri partem conversam informant:6 »Unter dem Namen ›Idee‹ verstehe ich jene Form einer beliebigen Bewußtseinsweise, durch deren unmittelbare Erfassung ich dieser Bewußtseinsweise selbst bewußt bin; so sehr, daß ich nichts mit Worten ausdrücken könnte – wenn ich das, was ich sage, verstehe – ohne daß es dadurch sicher ist, daß die Idee von dem, was durch jene Worte bezeichnet wird, in mir ist. Und so nenne ich nicht die bloßen in der Phantasie abgemalten Bilder Ideen; fürwahr ich nenne sie hier keineswegs Ideen, soweit sie in der körperlichen Phantasie, d. h. in irgendeinem Teil des Gehirns abgemalt sind, sondern nur soweit sie den Geist selbst, der auf jenen Teil des Gehirns gerichtet ist, bilden.«7 6

Descartes, Meditationes de Prima Philosophia, AT VII, 160 f. Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 145 f. 7

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Damit ist gesagt: idea ist das Vorgestellte eines Vorstellens. Im Vorstellen ist das Vorgestellte unmittelbar erfaßt. Das unmittelbare Erfaßtsein des Vorgestellten ist die besondere Weise, in der ich mir dieser cogitatio, der idea, unmittelbar bewußt bin. Die idea als das Vorgestellte eines Vorstellens ist in jedem Fall ein bewußtseinsimmanent und daher unmittelbar gegenständlich Erfaßtes. Im unmittelbaren Erfassen der idea bin ich mir dieser so sehr bewußt, daß ich nichts mit Worten ausdrücken kann, wenn ich nicht die idea unmittelbar erfaßte. Daraus ist gewiß, daß in mir die idea dessen ist, was ich mit jenen Worten bezeichne. Schließlich betont Descartes, daß er die in der Phantasie bzw. Einbildungskraft gebildeten Bilder (imagines) nur hinsichtlich ihrer rein geistigen, also bewußtseinsmäßigen Seite unter Absehung ihrer körperlichen Seite ideae nenne. Im 5. Abschnitt hatte Descartes gesagt: einige meiner cogitationes sind als ideae gleichsam Bilder von Sachen (tamquam rerum imagines). Wie verhält sich idea zu imago? Was bedeutet das ›tamquam‹? In den ›Fünften Erwiderungen‹ gibt Descartes eine bedeutsame Erklärung ab: er beschränke den Namen ›Idee‹ nicht auf die in der Phantasie abgemalten Bilder allein (ad solas imagines in phantasia depictas restringis), sondern er dehne ihn auf all das aus, was überhaupt gegenständlich vorgestellt wird (ego vero ad id omne quod cogitatur extendo).8 Imagines im Sinne von imaginativen Vorstellungsbildern gibt es nur von den Körpern. Wenn ich aber den Gedanken der Substanz oder eine Zahl denke, handelt es sich um ein rein verstandesmäßiges Vorstellen eines Vorgestellten. Diejenige idea, in der ich die Substanz als solche vorstelle, ist der Begriff von der Substanz, der kein imaginatives Vorstellungsbild ist. Die Vorstellungsbilder der imaginatio gehören zu den ideae. Aber nicht alle ideae sind imagines im Sinne imaginativer Vorstellungsbilder. Diejenigen ideae, die nicht imaginative Vorstellungsbilder sind – wie mathematische Begriffe oder der Begriff von Gott – werden von Descartes dennoch im analogen Sinne als ›gleichsam‹ (tamquam) Bilder bezeichnet. Die 8 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., S. 337. AT VII, 366.

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meinem Bewußtsein immanente idea Dei ist nur insofern ein ›Bild‹, als der Begriff nicht das in ihm Gedachte selbst ist, sondern die Weise, wie das unendliche Seiende für mich Gegenstand meines Vorstellens ist. Sofern zwischen der idea eines Seienden und diesem Seienden selbst ein Entsprechungsverhältnis besteht wie zwischen einem Bild und dem, was es abbildet, bezeichnet Descartes die nichtimaginativen ideae in einem analogen Sinne als ›gleichsam‹ Bilder. Nach der gattungsmäßigen Dreigliederung der cogitationes untersucht Descartes – wie angekündigt – im 6. Abschnitt, in welcher von diesen drei Gattungen nicht nur Wahrheit, sondern Wahrheit und Unwahrheit auftreten. Er untersucht somit die Frage, ob in allen drei Gattungen oder nur in einigen oder gar nur in einer Gattung die Wahrheit auch in Unwahrheit umschlagen kann. Die Prüfung der 1. Gattung. Was die Gattung der ideae anbetrifft , so können die ideae solange, wie ich sie nur an ihnen selbst betrachte (si solae in se spectentur) und nicht auf das beziehe, was ich in ihnen als außerhalb ihrer vorstellend, setze (nec ad aliud quid illas referam), nicht falsch, nicht unwahr sein. Ob ich eine Ziege oder eine Chimäre imaginativ vorstelle (imaginer), so ist ebenso wahr, daß ich die eine, wie daß ich die andere vorstelle (imaginari). Das Vorstellungsbild, das ich von einer Ziege habe, unterscheidet sich vom Vorstellungsbild einer Chimäre zwar dadurch, daß ich in der natürlichen Bewußtseinsverhaltung meine idea von der Ziege auf ein Lebewesen beziehe, von dem ich sage, es sei außerhalb der idea wahrhaft existierend, während ich meine idea von der Chimäre als eine bloß in der Phantasie bestehende Vorstellung verstehe. Unbezweifelbar wahr an meiner Vorstellung von der Ziege ist aber nur die idea als solche, die als cogitatum eines cogito zur unbezweifelbaren Bewußtseinssphäre gehört. Nicht unbezweifelbar wahr ist mein natürliches Erkenntnisurteil, daß die in der idea vorgestellte Ziege ein wahrhaft außerhalb der idea existierendes Lebewesen ist. Solange ich mich aber dieses natürlichen Erkenntnisurteils enthalte – und das geschieht in der methodischen Zweifelshaltung als der cartesianischen Epoché –, kann die bewußtseinsimmanente Vorstellung von der Ziege bloß als diese idea nicht falsch sein. Nur als idea betrachtet ist sie ebenso wahr wie die idea, die ich von der Chimäre habe. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Das Ergebnis der Prüfung der 1. Gattung lautet somit: Die ideae als solche sind nicht der Ort, an dem es auch Unwahrheit geben könnte. Sie sind nicht der Ort für eine solche Wahrheit, die in Unwahrheit umschlagen kann, sich also als nur vermeintliche Wahrheit erweisen kann. Die Vorstellungen als ideae sind, an ihnen selbst betrachtet, nur wahr in dem Sinne, wie alles zur ichlichen Bewußtseinssphäre Gehörige in unbezweifelbarer Weise wahr ist. Die Prüfung der 2. Gattung. Was die zweite Gattung der cogitationes anbetrifft – die voluntates und aff ectus –, so ist auch bei ihr keine Unwahrheit zu befürchten. Was auch immer ich wünschen mag – und sollte es etwas sein, was gar nicht existiert –, so tangiert die Unwirklichkeit des Gewünschten niemals die Wahrheit meines wünschenden Bewußtseins, dessen ich mir unmittelbar bewußt werden kann. Auch die cogitatio des Wünschens hat dieselbe Wahrheit im Sinne der unbezweifelbaren Gewißheit an sich wie die idea, weil auch die cogitatio des Wünschens zur unbezweifelbaren Bewußtseinssphäre gehört. Wünsche ich mir etwas, was es nicht gibt, von dem ich aber meine, daß es dieses gibt, so beruht die hier auftretende Unwahrheit nicht auf meiner cogitatio des Wünschens, sondern auf einem setzenden Urteil, in dem ich das gewünschte und in einer idea vorgestellte Seiende als außerhalb der idea existierend setze. Die Prüfung, ob die erste und ob die zweite Gattung der cogitationes die Möglichkeit der Unwahrheit zulassen, führte beide Male auf die Urteile. Solange ich mich aber dieser Urteile enthalte und nur auf die idea und nur auf die Bewußtseinsweisen des Wollens und Fühlens achte, ist die Möglichkeit des Irrtums ausgeschlossen. Die Möglichkeit der Unwahrheit bleibt solange ausgeschlossen, wie ich innerhalb der absolut gewissen Bewußseinssphäre verbleibe und diese nicht übersteige in die Sphäre der Bewußtseinstranszendenz. Prüfung der 3. Gattung. Die Prüfung, in welchen cogitationes der drei Gattungen Unwahrheit auftreten kann, kommt zu dem Ergebnis, daß es allein die dritte Gattung der Urteile ist, die der Ort für das Auftreten von Unwahrheit ist (sola supersunt iudicia, in quibus mihi cavendum est ne fallar). Nur in den Urteilen gibt es die Alternative von Wahrheit oder Unwahrheit. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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In der zweiten Hälfte des 6. Absatzes erfahren wir, worauf die Prüfung der drei Bewußtseinsgattungen hinsichtlich der Möglichkeit von Unwahrheit letztlich abzielt: »Der vorzüglichste und häufigste Irrtum aber, den man in den Urteilen finden kann, besteht darin, daß ich urteile, die ideae, die in mir sind, seien gewissen außer mir befindlichen Dingen ähnlich oder gleichförmig (quod ideas, quae in me sunt, iudicem rebus quibusdam extra me positis similes esse sive conformes). Descartes will nicht abschließend sagen, alles, was wir als außerhalb unserer inneren Vorstellungen als existierend setzen, sei ein Irrtum und beruhe auf unwahren Urteilen. Vorerst möchte er nur feststellen: Ob überhaupt meinen inneren Vorstellungen ähnliche oder voll entsprechende Dinge und dingliche Eigenschaften außerhalb der Immanenz der ideae existieren, und wenn ja, ob eine solche Entsprechung für alle meine Vorstellungen in gleicher Weise gilt, ist bisher noch nie ernsthaft geprüft worden. Weil sich die bewußtseinstranszendente Existenz von Dingen, die ihrer Seinsart nach nicht zum Bewußtsein gehören, nicht mit derselben höchsten Evidenz erkennen läßt, wie das für alle zur cogitatio gehörenden Bestimmungen zutrifft , sind alle Erkenntnisurteile, die aufgrund der immanenten Vorstellungen über die vorstellungstranszendente Existenz der Dinge urteilen, grundsätzlich der Möglichkeit der Unwahrheit ausgesetzt. Solange ich aber nur die ideae, die Vorstellungen selbst als gewisse Modi meines Bewußtseins betrachte (ideas ipsas ut cogitationis meae quosdam modos considerarem) und sie nicht auf irgendetwas anderes beziehe, könnten sie mir kaum irgendeinen Stoff zum Irrtum geben.

b) Klassifizierung der ideae in drei Arten: ideae innatae, ideae adventiciae, ideae a me ipso factae Nach der Untersuchung der drei Bewußtseinsgattungen im 5. und 6. Abschnitt geht Descartes im 7. Abschnitt dazu über, die erste Gattung, die ideae, ihrerseits zu gliedern. Diese Gliederung orientiert sich am Kriterium ihres beanspruchten Ursprungs. Die unterschiedlichen ideae treten mit dem Anspruch eines dreifachen Ursprungs https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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auf. Die Einteilung aller möglichen ideae in drei Arten wird in einer Überschau über die ideae vorgenommen, indem Descartes den Ursprung der ideae nicht etwa schon mit Gewißheit einsieht und bestimmt. Er entnimmt ihren Ursprung lediglich ihrem Anspruch, mit dem sie in meinem Bewußtsein auftreten. Deshalb verwendet Descartes in der Aufzählung der drei Arten von ideae bewußt das ›videntur‹. Von den ideae scheinen mir (mihi videntur) die einen angeboren (innatae), andere erworben (adventiciae) und wieder andere von mir selbst gemacht (a me ipso factae). Es ›scheint‹ mir so, weil ihr Ursprung noch nicht sicher erwiesen ist. Die 1. Art sind die ideae innatae, die meinem Bewußtsein, meinem Verstand ›eingeborenen‹ Vorstellungen. Als Beispiele nennt Descartes: die Vorstellung, den Begriff, den ich von einer res als Substanz habe; die Vorstellung, den Begriff der Wahrheit (veritas); die Vorstellung, den Begriff, den ich vom Bewußtsein (cogitatio) habe. Mein Verständnis von diesen Begriffen scheine ich nur aus meiner eigenen Natur zu haben (haec non aliunde habere videor quam ab ipsamet mea natura). Die 2. Art der ideae sind die ideae adventiciae; ein Geräusch hören, die Sonne sehen, die Wärme des Feuers wahrnehmen. Wie ich bisher geurteilt habe, habe ich diese Vorstellungen von gewissen außer mir befindlichen Dingen empfangen (a rebus quibusdam extra me positis). Diese Vorstellungen scheinen nur deshalb in meinem Bewußtsein zu sein, weil sie in mir entstanden sind, so, als ob sie von Dingen außer mir durch sinnliche Affection herrühren. Die 3. Art sind die ideae a me ipso factae, Vorstellungen, von denen ich zu wissen meine, daß sie nicht wie die erworbenen Vorstellungen von wirklichen Dingen außer mir stammen, sondern meiner bildenden Phantasie entsprungen sind, wie z. B. die Vorstellungen von Fabelwesen. Diese vorläufige Gliederung der ideae abschließend hebt Descartes hervor: Weil ich den wahren Ursprung der verschiedenen ideae noch nicht klar und distinct im Sinne der ›allgemeinen Wahrheitsregel‹ erfaßt habe, ist vorläufig auch die Annahme möglich, daß alle Vorstellungen unter Einschluß der eingeborenen erworben oder alle ideae eingeboren oder alle ideae von mir selbst gebildet seien. So https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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gekünstelt diese Hypothesen auch erscheinen, so sind sie doch solange legitim, wie der beanspruchte dreifache Ursprung noch nicht aus der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins vergewissert ist. Auf die Sicherung dieses dreifachen Ursprungs zielt Descartes ab. Hinter der hypothetischen Frage, ob nicht vielleicht alle meine vermeintlich eingeborenen ideae nichts anderes als von meiner Phantasie gebildete Vorstellungen seien, steht die zu prüfende zentrale Frage, ob meine idea vom unendlichen Seienden (Deus qua creator), die zwar in mir mit dem Anspruch eines reinen Vernunftbegriffes auftritt, auch nur ein meiner Phantasie entsprungener Begriff sei. In den nun folgenden Abschnitten 8 bis 12 thematisiert Descartes die ideae adventiciae hinsichtlich ihres Anspruchs, daß ich sie von außen, von außer mir seienden wirklichen Dingen erworben habe. Es werden beide Motive geprüft, auf die der Anspruch sich beruft. Damit die Intention dieser Prüfung recht verstanden wird, soll das Ergebnis dieser Prüfung vorangestellt werden. Die philosophisch ernst zu nehmende Prüfung wird zu dem Resultat kommen, daß die beiden Motive, auf die sich der Anspruch der von außen erworbenen ideae beruft, diesen Ursprung der Vorstellungen von bewußtseinstranszendenten Dingen keineswegs zu sichern vermögen etwa im Sinne der Gewißheitsregel. Mit diesem Gedankengang möchte Descartes deutlich werden lassen, daß ein direkter Weg zur vergewisserten Erkenntnis des bewußtseinsäußeren Wirklichseins der Körperwelt nicht gangbar ist. Er möchte sehen lassen, daß es keinen direkten Weg zur gewissen Erkenntnis von der bewußtseinstranszendenten existentia der Körperwelt gibt, keinen unmittelbaren Weg durch eine einfache Auslegung der bewußtseinsimmanenten ideae adventiciae. Die Unmöglichkeit eines solchen direkten Weges soll erneut und drängender die Notwendigkeit des durchzuführenden bewußtseinsanalytischen Gottesaufweises dartun. Der transzendierende Bezug des erkennenden Ich zur bewußseinstranszendenten Körperwelt trägt sich nicht selbst, sondern dieser wird ermöglicht und getragen von einem ursprünglicheren Bezug des Transzendierens zum unendlichen Seienden, den wir die Urtranszendenz nennen wollen. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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c) Vormeditative Motive für die Setzung des Wirklichseins einer Körperwelt Nachdem Descartes am Ende des 7. Abschnitts betont hat, daß er den wahren Ursprung der ideae noch nicht im Sinne der geforderten klaren und distincten Einsicht durchschaut habe, äußert er nun zu Beginn des 8. Abschnitts, es gelte nunmehr, von jenen ideae, die ich als von außer mir existierenden Dingen empfangen ansehe, zu untersuchen, welcher Grund mich in meiner vormeditativen Einstellung zu der Annahme bewegt (quaenam me moveat ratio), meine Vorstellungen seien außer mir existierenden Dingen ähnlich (similes). Ähnlich sind bewußtseinsimmanente Vorstellungen den bewußtseinsäußeren Dingen, wenn sie diese so vorstellen, wie die Dinge an ihnen selbst sind. Descartes nennt zwei Motive, die ihn bis zur Aufnahme der methodischen Zweifelshaltung zu der Setzung bewegt haben, daß seinen Vorstellungen wirkliche Dinge außerhalb des Bewußtseins entsprechen, ferner, daß diese Vorstellungen die Dinge so für mich bewußt machen, wie diese an ihnen selbst sind. Das 1. Motiv, den ersten Beweggrund, umschreibt er so: ich scheine so von der Natur gelehrt zu sein (ita videor doctus a natura). Das 2. Motiv, den zweiten Beweggrund, kennzeichnet er so: außerdem erfahre ich, daß die Vorstellungen nicht von meinem Willen und daher nicht von mir selbst abhängen (praeterea experior illas non a mea voluntate nec proinde a me ipso pendere). Denn diese Vorstellungen treten häufig gegen meinen Willen in mir auf (saepe enim vel invito obversantur). Ob ich will oder nicht empfinde ich jetzt, am Kamin sitzend, Wärme und glaube (puto) daher, daß diese subjektive Empfindung, die ich von der Wärme habe, von etwas herkommt, was von mir selbst und meinem Willen verschieden ist (a re a me diversa). Kommt meine Vorstellung von der Wärme des Feuers her, dann liegt für mich nichts näher als das Urteil, daß dieser Körper mir in Gestalt der idea eher ein Gleichnis seiner selbst als etwas anderes einflößt (suam similitudinem potius quam aliud quid). Zwei Fragen werden also von Descartes unterschieden. Zum einen die Frage, ob meiner idea von einem Körper überhaupt etwas Wirkhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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liches außerhalb meiner Bewußtseinsimmanenz entspricht. Zum anderen die Frage, ob meine idea das außerhalb ihrer Wirkliche ganz ebenso vorstellig macht, wie dieses an ihm selbst beschaff en ist. Nur in letzterem Fall wäre die idea von einem Körper ein wahres Abbild im Sinne einer imago. Die Vorstellungen von den Körpern treten in mir oft gegen meinen Willen auf – im Unterschied zu den reinen Phantasievorstellungen, die meinem Willen unterworfen sind. Descartes sagt ›oft‹ (saepe) und nicht ›immer‹ (semper), weil er nicht nur an die aktuellen Wahrnehmungsbilder denkt, sondern auch an die von der aktuellen Wahrnehmung abgelösten Vorstellungen. Denn es unterliegt sehr wohl meinem Willen, ob ich jetzt an dieses oder jenes Ding denke, das ich nicht aktuell wahrnehme. Auch diese Vorstellungen gehen letztlich auf Wahrnehmungen zurück. In der Wahrnehmung werden – wie es scheint – die Vorstellungen von den wahrgenommenen Dingen erworben, und dieser Erwerb hängt nicht von meinem Willen ab. Im 9. Abschnitt weist Descartes den ersten Beweggrund, im 10. Abschnitt den zweiten Beweggrund für die vormeditative urteilsmäßige Setzung von wirklichen Dingen zurück, weil beide auf keiner klaren und distincten Einsicht beruhen und somit der Wahrheit als Gewißheit ermangeln. Descartes erläutert im 9. Abschnitt, was er mit dem ersten Beweggrund eigentlich meint: die Natur lehrt mich, daß meinen Vorstellungen von äußeren Dingen wirkliche Dinge und so, wie ich sie vorstelle, entsprechen. Die mich lehrende Natur ist ein mir eigentümlicher unwillkürlicher Zug, der mich zu meinem natürlichen Seinsglauben zieht (spontaneo quodam impetu me ferri ad hoc credendum). Dieser unwillkürliche Zug in mir ist aber keine durch das natürliche Licht bestimmte klare und distincte Einsicht meines Verstandes (non lumine aliquo naturali mihi ostendi esse verum). Das lumen naturale ist im Unterschied zum lumen supranaturale jene Helle des menschlichen Verstandes, in der dieser sich selbst findet, wenn er klar und deutlich erfaßt. Nur das, was sich mir durch das natürliche Licht zeigt, indem mein Verstand es klar und distinct erfaßt, kann in keiner Weise zweifelhaft sein. Auch hier weist Descartes auf https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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die erste klare und distincte Einsicht des Verstandes hin: das unbezweifelbare Wirklichsein meines zweifelnd-philosophierenden Ich. Dieser Hinweis ist hier kein beliebiges Beispiel für eine klare und deutliche Verstandeseinsicht, sondern der Maßstab für jede weitere klare und distincte Einsicht. Nur wenn der erste Beweggrund, der natürliche Zug des Seinsglaubens, für meine vormeditative Wirklichkeitssetzung von idea-transzendenten Dingen ein vom Verstand klar und distinct eingesehenes Motiv wäre, wäre meine bewußtseinstranszendente Wirklichkeitssetzung eine am Maßstab klarer und distincter Verstandeseinsicht gemessene sichere Erkenntnis. Weil das Wirklichsein von vorstellungstranszendenten Dingen ein Sachverhalt ist, der nicht zur Immanenz der ichlichen Bewußtseinssphäre gehört, und weil für Descartes bisher nur das mit Gewißheit erkannt ist, was zu dieser Bewußtseinssphäre gehört, scheitert der Versuch, aus der idea direkt in gesicherter Weise in die Bewußtseinstranszendenz der Körperwelt im Sinne eines erkenntnismäßigen transzendierenden Bezuges hinüberzusteigen. Im 10. Abschnitt weist Descartes den zweiten Beweggrund für die urteilsmäßige Setzung des bewußtseinstranszendenten Ursprungs der ideae adventiciae zurück. Die in jeder sinnlichen Wahrnehmung zu machende Erfahrung, daß die Vorstellungen von meinem Willen unabhängig sind, wird für die Zurückweisung dieses Motivs nicht etwa geleugnet. Doch weist Descartes darauf hin, daß mit dieser Erfahrung noch nicht gesichert sei, daß die ideae adventiciae notwendig von außer mir befindlichen Dingen herrühren. Die mit der Wahrnehmung gemachte Erfahrung der Willensunabhängigkeit meiner Wahrnehmungsvorstellungen ist an ihr selbst keine klare und distincte Verstandeseinsicht und daher keine gewisse, an der Selbstgewißheit teilhabende Erkenntnis vom vorstellungs-transzendenten Wirklichsein. Die in der Wahrnehmung gemachte Erfahrung von der Willensunabhängigkeit könnte auch einen anderen Grund haben als die wahrnehmungstranszendenten Dinge. Es wäre möglich, daß meine Wahrnehmungsvorstellungen zwar nicht meinem ausdrücklichen Willen entspringen wie die Phantasievorstellungen, wohl aber einem anderen, mir nur nicht genügend bekannten subjektiven Vermögen (forte etiam aliqua alia est in me faculhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 14. Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis

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tas, nondum mihi satis cognita, istarum idearum effectrix). Es wäre denkbar, daß die vermeintlichen Wahrnehmungsvorstellungen einer unausdrücklichen, mir selbst verborgen bleibenden Production eines ichlichen Vermögens entspringen. Die Verborgenheit, in der dieses Vermögen meine Wahrnehmungsvostellungen hervorbringen könnte, wäre jener verhüllte Grund für meine subjektive Erfahrung, daß die Wahrnehmungsvorstellungen von wahrnehmungstranszendenten wirklichen Dingen herrühren. Verhielte es sich so, dann entschleierten sich die nur scheinbar erworbenen Vorstellungen als von mir selbst verborgenerweise hervorgebrachte. Hierbei würde dann immer noch der Unterschied gewahrt zwischen solchen selbstgebildeten Vorstellungen, die von mir willentlich hervorgebracht werden, und solchen, die mit dem Anschein auftreten, von außen erworbene Vorstellungen zu sein. Daß eine solche Hypothese nicht an den Haaren herbeigezogen ist, zeigt Descartes mit seinem Hinweis auf die geträumten Wahrnehmungsvorstellungen (hactenus semper visum est illas, dum somnio, absque ulla rerum externarum ope in me formari). Solange ich träume, meine ich auch, daß meine geträumten Wahrnehmungen von wirklichen Dingen herrühren. Aus dem Wachzustand gesprochen muß ich freilich erkennen, daß es sich um bloß geträumte Wahrnehmungen handelt, um solche, die durch die träumende Einbildungskraft hervorgebracht sind. Die träumende Einbildungskraft ist ein Vermögen, das auch vom Willen unabhängig ist und für mich während des Träumens solche Vorstellungen hervorbringt, die im Traum beanspruchen, von außen erworbene Vorstellungen zu sein. Die Einsicht, daß die geträumten Wahrnehmungen in Wahrheit von meiner träumenden Einbildungskraft unwissentlich und willensunabhängig hervorgebracht sind, ist die Einsicht des Wachzustandes. Mit Blick darauf, daß es Wahrnehmungen gibt, die sich im nachhinein als zwar vom Willen unabhängige, aber nicht von äußeren Dingen unmittelbar herrührende zu erkennen geben, erwägt Descartes die Möglichkeit, daß auch die Wahrnehmungsvorstellungen meines Wachzustandes ähnlich wie die meines Traumzustandes aus einer verhüllten Hervorbringung meines Ich stammen. Das war aber der Gehalt des zweiten Zweifelsarguments (ratio dubitandi) in https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der I. Meditation. Damit hat Descartes erneut gezeigt, daß dieses zweite methodische Zweifelsargument bislang noch nicht entkräftet ist. Erneut hat er unterstrichen, daß auch im gegenwärtigen Stand von absolut gewissen Erkenntnissen in bezug auf die bewußtseinstranszendente Körperwelt noch nichts Gewisses ausgemacht ist. Der 11. Abschnitt gilt noch dem methodischen Zweifel an der Ähnlichkeit und wahrheitsgemäßen Abbildungsfunktion der bewußtseinsimmanenten Wahrnehmungsvorstellungen. Selbst wenn sich in begründeter Weise annehmen ließe, daß meine Wahrnehmungsvorstellungen von wahrnehmungstranszendenten Dingen ausgehen, folgt daraus noch nicht, daß die bewußtseinsimmanenten Wahrnehmungsvorstellungen den bewußtseinstranszendenten Dingen gleich, d. h. vollkommen ähnlich sind. Das Beispiel Descartes’ soll den Zweifel an der selbstverständlichen Wahrheit der sinnlichen Wahrnehmung verstärken. Ich habe zwei verschiedene Vorstellungen (ideae) von der Sonne. Eine von diesen habe ich gleichsam (tamquam) aus den Sinnen geschöpft. In dieser erscheint mir die Sonne sehr klein. Weil diese Vorstellung eine von der Sonne selbst durch sinnliche Wahrnehmung erworbene zu sein beansprucht, meine ich, daß gerade sie mir die Sonne so erscheinen läßt, wie diese in Wahrheit beschaffen ist. Daneben habe ich eine Vorstellung (idea) von der Sonne, die aus der mathematisch-astronomischen Berechnung stammt. Nach dieser ist die Sonne einige Male größer als die Erde. Diese idea von der Sonne gründet sich auf die reine Verstandeseinsicht. Beide Vorstellungen von der Sonne stehen in einem Widerstreit. Nicht beide, sondern nur eine von ihnen kann der Sonne selbst ähnlich sein, wenn diese wirklich außer mir ist. Das Paradoxon zeigt sich darin, daß mein denkender Verstand mich davon überzeugt, daß gerade die Vorstellung, die auf dem Wege der sinnlichen Wahrnehmung am unmittelbarsten von der Sonne selbst herrührt, ihr – was ihre Größe angeht – am unähnlichsten ist. Hier meldet sich der Gedanke Descartes’, daß, wenn es überhaupt bewußtseinstranszendente Körperdinge gibt, diese nur insoweit mit Gewißheit erkannt werden können, als sie durch den Verstand in den rationalisierten empirischen Wissenschaften erkennbar sind. Es ist der cartesische Gedanke, daß die sinnliche Erkenntnis eine verworrene https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 14. Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesaufweis

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Erkenntnis ist, daß allein die Verstandeserkenntnis klar und distinct und daher gewiß ist. Descartes faßt im 12. Abschnitt das Ergebnis seiner meditativen Besinnung aus den Abschnitten 8 bis 11 zusammen. Diese vorausgegangenen Überlegungen beweisen genügend, daß ich bisher niemals auf Grund eines in sich gewissen Urteils (non hactenus ex certo iudicio), sondern nur aus irgendeinem in sich blinden Impuls (sed tantum ex caeco aliquo impulsu) geglaubt habe, daß von meiner ichlichen Bewußtseinssphäre unterschiedene Dinge existieren, die mir ihre Vorstellungen oder Bilder (ideas sive imagines suas) auf dem Wege der sinnlichen Affektion einflößen. Hier ist ein Zweifaches bemerkenswert. Erstens spricht Descartes hier von ›ideae sive imagines‹, von Vorstellungen oder Abbildern. Die Vorstellungen von Körperdingen sind für ihn Bewußtseins- oder Vorstellungsbilder. Zweitens formuliert Descartes das Verhältnis von bewußtseinsimmanenten Vorstellungen und den äußeren Dingen als ein Verhältnis des Von-mir-verschiedenseins. In der Wiedergabe des zusammenfassenden Satzes Descartes’ haben wir das Von-mir-verschiedensein ausgelegt als ein Verschiedensein von mir als meinen bewußtseinsmäßigen Vorstellungen, die ich von den Körpern habe. Die von mir vermeinten äußeren Dinge sind nicht nur von mir als meinem Ich verschieden, sondern sie werden vermeint als verschieden von meinen bewußtseinsmäßigen ideae. Die ideae, die Vorstellungen, die ich von vermeinten äußeren Dingen habe, sind innerhalb meiner Bewußtseinssphäre in gewisser Hinsicht auch von mir verschieden. Sie sind von mir als meinem ego verschieden innerhalb der Sphäre des ego-cogito-me-cogitare-cogitatum. Wir haben es hier mit einem doppelten Ich-Begriff zu tun. Einmal meint Ich das Ich im weiten Sinne, der die Bewußtseinssphäre mit ihrer inneren dreifachen Gliederung umfaßt. Zum anderen meint das Ich ein besonderes Strukturmoment innerhalb meiner Bewußtseinssphäre, das Ich im engeren Sinn, das Ego aus dem ego-cogito-me-cogitare-cogitatum. Die von mir verschiedenen äußeren Dinge sind aber nicht nur von mir als dem Ego im engeren Sinne verschieden, sondern von mir als dem Ego im weiteren Sinne, verschieden also auch von den zu meiner Ichheit gehörenden bewußtseinsimmanenten ideae. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Hinter dem Gedanken von der Verschiedenheit der äußeren Dinge steht der cartesische Grundgedanke von der seinsmäßigen Geschiedenheit des Bewußtseins und der Realität im Sinne der realitas der materiellen Körper. Diese seinsmäßige Geschiedenheit hat für Descartes den Charakter eines seinsmäßigen Dualismus. Weil Descartes den seinsmäßigen Unterschied von Bewußtsein und körperlichem Sein von vornherein als einen Dualismus, als eine ontologische Geschiedenheit, ansetzt, dergemäß beide Seinsarten voneinander durch eine ontologische Kluft geschieden sind, stellt sich für ihn das Problem der Transzendenz in der Erkenntnis der materiellen Körper als ein Problem der transzendierenden Überbrükkung dieser seinsmäßigen Kluft. Die ontologische Erkenntnis vom Wirklichsein der äußeren Körper soll aber eine in sich vergewisserte Erkenntnis sein, die an der Gewißheit des Selbstbewußtseins teilhat. Um die bewußtseinstranszendente Wirklichkeit der Körper in gesicherter Weise ontologisch erkennen zu können, muß das erkennende Bewußtsein seine eigene Sphäre übersteigen. Diesen Überstieg vermag das Ich jedoch nicht aus sich selbst heraus, sondern nur auf dem Grunde eines ursprünglicheren Transzendierens, das wir die Urtranszendenz nennen möchten. In dieser Urtranszendenz ist das ego cogito me cogitare cogitatum seinsmäßig auf das – wie zu zeigen sein wird – notwendig existierende unendliche Sein Gottes bezogen. Mit dem 13. Abschnitt schlägt Descartes einen neuen und hochbedeutsamen Gedankenweg ein, der ihn dem Ziele einer absolut gewissen Einsicht in den urtranszendierenden Bezug des Selbstbewußtseins zum Deus qua Creator um ein wesentliches Stück näher bringt. Es ist der Weg der zweifachen Betrachtung der bewußtseinsimmanenten ideae am Leitfaden der Unterscheidung zwischen der realitas obiectiva und der realitas formalis sive actualis. Es ist somit der Weg der zweifachen Betrachtung der ideae am Leitfaden der Unterscheidung zwischen der in einer idea vorgestellten Realität und der Realität einer res, so, wie diese res an ihr selbst außerhalb der idea ist.

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§ 15 Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis am Leitfaden des ontologischen Begriff spaares realitas obiectiva – realitas formalis a) Die zweifache Betrachtungsweise der ideae Zu Beginn des 13. Abschnittes bietet sich Descartes ein anderer Weg (alia via), um die Frage zu prüfen, ob irgendwelche Dinge von denen, deren Vorstellungen in ihm sind, außerhalb seiner existieren (an res aliquae ex iis, quarum ideae in me sunt, extra me existant). Ergäbe sich in dieser Prüfung mit Gewißheit, daß irgendwelche von den in meinen ideae vorgestellten res außer mir existieren, wäre mit Gewißheit dargetan, daß diese ideae ihren Ursprung nicht nur ihrem Anspruch nach, sondern rechtens von außer mir Existierendem haben. Dieser neue Weg ist der einer zweifachen Betrachtung der ideae. Jede idea kann zum einen nur als modus cogitandi, als eine Weise des Bewußtseins, betrachtet werden: als bewußtseinsmäßige Vorgestelltheit eines Vorgestellten in meinem Vorstellen. In dieser Betrachtungsweise richte ich meinen reflektierenden Blick auf die bewußtseinsmäßige Vorgestelltheit als solche, auf das cogitatum als solches unter Absehung von dem, was ich jeweils in einer idea, in einem cogitatum vorstelle. Das ist die erste Betrachtungsweise. Die zweite Betrachtungsweise richtet sich auf das jeweilige Was in meiner idea, in meinem cogitatum. In der ersten Betrachtungsweise sind alle ideae untereinander gleich; ich erkenne unter ihnen keinerlei Ungleichheit und alle scheinen in gleicher Weise von mir, meiner ichlichen Bewußtseinssphäre, auszugehen (non agnosco ullam inter ipsas inaequalitatem, et omnes a me eodem modo procedere videntur). Denn alle ideae sind in gleicher Weise das cogitatum eines cogito, die bewußtseinsmäßige Vorgestelltheit eines Vorgestellten. In der zweiten Betrachtungsweise, die auf das jeweilige unterschiedliche Was im Modus seiner Vorgestelltheit geht, unterscheiden sich die ideae voneinander. Doch bevor wir diese zweifache Betrachtungsweise der ideae näher verfolgen, schicken wir zunächst für das rechte Verständnis diehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ses neuen Gedankenschrittes innerhalb der cartesischen Bewußtseinsanalytik eine Bemerkung voraus. Die jetzt anstehende Prüfung der ideae bezieht sich nicht nur auf die ideae adventiciae, sondern auch auf die ideae innatae. In den Abschnitten 8 bis 12 wurden zwar nur die durch die sinnliche Erfahrung dem Anspruch nach gewonnenen Vorstellungen auf ihre Herkunft von eventuell wahrhaft außer mir existierenden Körpern hin geprüft. Jetzt aber im Abschnitt 13 sollen nicht nur die ideae adventiciae, sondern auch die ideae innatae der zweifachen Betrachtungsweise unterworfen werden. Denn es sind nicht nur die von außen erworbenen Vorstellungen, die auf Seiendes außerhalb meiner Bewußtseinsimmanenz verweisen. Auch die ideae innatae verweisen – wenn auch nicht alle – auf solches, was außerhalb der Vorstellungen, außerhalb des apriorischen Begriffs, wirklich sein soll. Als Descartes die ideae innatae einführte, nannte er als Beispiel den Begriff der Substanz. In meinem eingeborenen Begriff der Substanz denke ich nicht nur die bewußtseinhabende Substanz, sondern auch die ausgedehnte Substanz der Körper. Letztere besagt, daß mein begriff liches Wissen von der Substanz nicht aus der erfahrenden Begegnung mit Körpern erworben ist, sondern meinem Bewußtsein vor der Erfahrung zugehört. Dieser subjektive Begriff von der körperlichen Substanz tritt aber in meinem Bewußtsein mit dem Anspruch auf, daß ich in ihm wirkliche körperliche Substanzen außerhalb meiner Bewußtseinsimmanenz denke und erkenne. Dieser Anspruch besteht aber nur dann zu Recht, wenn er sich als eine vergewisserte Erkenntnis erweist, deren Gewißheit ihren Maßstab in der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins hat. Unsere eingeschobene Bemerkung war wichtig, damit wir von vornherein vor Augen haben, daß Descartes auf diesem Wege der Prüfung auch auf die eingeborene Vorstellung von Gott stoßen wird. Auf dem Wege der zweifachen Betrachtung meines apriorischen Begriffes vom unendlichen Seienden soll aus der ichlichen Bewußtseinssphäre heraus der ursprünglichtranszendierende Bezug meines Bewußtseins zum absolut notwendig existierenden Deus qua Creator aufgewiesen werden. Die erste Betrachtungsweise nimmt die ideae nur als modi cogitandi, als Bewußtseinsweisen oder als Bestimmungen des Bewußtseins. Idea heißt: bewußtseinsimmanente Vorstellung in der Diffehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 15. realitas obiectiva – realitas formalis

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renz zwischen dem Vorgestellten (cogitatum) und dem Vorstellen (cogito). Für Descartes ist nicht nur das cogito, sondern auch das cogitatum bewußtseinsimmanent. Auch die idea als das Vorgestellte hat an der Seinsart des Bewußtseins teil. Nur das, worauf das bewußtseinsimmanent Vorgestellte verweist, das bewußtseinstranszendente Seiende, ist selbst nicht bewußtseinsmäßiger Art. Die erste reflexive Betrachtungsweise meiner ideae richtet sich nur darauf, daß die idea als cogitatum eines cogito hinsichtlich ihrer Seinsart nichts anderes ist als ein modus cogitandi. Wenn ich meine ideae so betrachte, entdecke ich unter ihnen keinen Unterschied. Denn alle kommen darin überein, nur Bestimmungen meines Bewußtseins zu sein. Alle meine ideae sind in dieser Betrachtungsweise in gleicher Weise die Vorgestelltheit des Vorgestellten eines Vorstellens. Unterschiede in der Vorgestelltheit als solcher ergeben sich nur aus den unterschiedlichen Weisen meines cogito. Ist das cogito ein Wahrnehmen, dann ist korrelativ die Vorgestelltheit eines wahrnehmungsmäßig Vorgestellten die Wahrgenommenheit. Andere Weisen der Vorgestelltheit sind das Erinnertsein, das Erwartetsein, das Vergegenwärtigtsein oder das reine Gedachtsein. Was die internen Unterschiede in der Vorgestelltheit eines Vorgestellten betrifft , so rühren die ideae nicht von außerhalb ihrer Existierendem her. Die verschiedenen Charaktere der Vorgestelltheit haben die ideae nicht von dem, auf das die ideae außerhalb ihrer verweisen, sondern allein aus meinem Bewußtsein (cogitatio). Die zweite refl exive Betrachtungsweise richtet sich auf die ideae, sofern die jeweilige Vorgestelltheit keine leere ist, sondern die eines bestimmten Was. Sofern mir die eine idea diese eine res, die andere idea eine andere res repraesentiert, d. h. vorstellig macht (quatenus una unam rem, alia aliam repraesentat), ist es offenbar, daß sie voneinander sehr verschieden sind (patet easdem esse ab invicem valde diversas). Hier ist zu beachten, daß Descartes für die Weise, wie in den ideae die jeweilige res bewußt ist und vorstellig gemacht wird, vom ›repraesentieren‹ spricht.1 Um welche Verschiedenheit handelt es sich in den ideae? Descartes nennt drei unterschiedliche ideae: 1

Vgl. dagegen Perler 1996.

https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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solche, die mir Substanzen darbieten (illae, quae substantias mihi exhibent); solche ideae, die nur Zustandsbestimmungen oder Akzidenzien von Substanzen vorstellig machen (illae, quae tantum modos sive accidentia repraesentant); und die idea, in der ich einen höchsten Gott denke, den ewigen, unendlichen, allwissenden, allmächtigen Schöpfer aller Dinge, die außer ihm sind (illa, per quam summum aliquem Deum, aeternum, infinitum, omniscium, omnipotentem rerumque omnium, quae praeter ipsum sunt, creatorem). In bezug auf diese unterschiedlichen ideae heißt es: die ideae, in denen ich Substanzen vorstelle, sind irgendetwas mehr (maius aliquid sunt) und enthalten in sich mehr vorgestellte Realität als die ideae, in denen ich nur Bestimmungen an den Substanzen vorstelle. Jene idea aber, die mir einen höchsten Gott vorstellig macht, hat wahrlich in sich noch mehr an vorgestellter Realität in sich als jene anderen ideae, durch welche endliche Substanzen dargeboten werden (plus profecto realitatis obiectivae in se habet quam illae, per quas finitae substantiae exhibentur). Der hier von Descartes verfolgte Unterschied in den ideae, im Vorgestellten des Vorstellens, ist ein solcher von Graden, der sich in einem ›mehr oder weniger‹ ausdrückt. Das ›mehr oder weniger‹ bezieht sich auf die in den ideae vorstellig gemachten res. Eine res, ein sachhaltig Seiendes, ist hinsichtlich dessen, was sie zu einer res macht, hinsichtlich ihres Was- bzw. Sachgehaltes, verschieden. Der Sachgehalt einer res ist ihre Realität – aber Realität nicht in der modernen, erkenntnistheoretischen Bedeutung von Wirklichsein (existentia), sondern im scholastischen Sinne von Wassein (essentia). Der Unterschied in der Realität der idea-immanent vorstellig gemachten res ist somit ein gradhafter Unterschied. Die Realität der res ist in sich gestuft. Es gibt res mit einem stärkeren und solche mit einem schwächeren Realitätsgrad. Substanzen sind realitätsstärker als ihre Akzidenzen, weil sie nach der Definition Descartes’ (Prinzipien I, § 51) Seiendes sind, das so existiert, daß es zu seiner Existenz keines anderen endlichen Seienden bedarf. Substanzen sind selbständig Seiendes. Dagegen sind Akzidenzen solche res, die der Substanzen bedürfen, um sein zu können. Das akzidentelle Seiende ist unselbständig Seiendes. Die Unbedürftigkeit im erläuterten Sinne ist somit https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 15. realitas obiectiva – realitas formalis

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der Maßstab für die Unterscheidung nach Realitätsgraden. Das zeigt sich auch im Blick auf die res in Gestalt des Deus, den ich in meinem Begriff von Gott vorstelle. Denn das, was ich als Gott denke, ist die einzige Substanz im strengen Sinne, die für ihr Substanzsein überhaupt keines anderen Seienden bedarf. Dagegen bedürfen die endlichen Substanzen nur in einem eingeschränkten Sinne keines anderen Seienden, keines anderen endlichen Seienden. Sie bedürfen aber der unendlichen Substanz, um endliche Substanzen sein zu können. Die unendliche Substanz ist es, die die endlichen Substanzen ins Sein gebracht hat und im Sein erhält. Deshalb stelle ich in meiner idea Dei den höchsten Grad an Realität vor: Gott als das allerrealste Seiende (ens realissimum). Alles, was wir über den unterschiedlichen Realitätsgrad der res gesagt haben, schließt jedoch nicht schon ein, daß diese res auch bewußtseinstranszendent existieren. Das über die Gradualität der Realität der res Erläuterte war nur aus der Immanenz der ideae und der in ihnen vorgestellten res gesagt. Die unterschiedlichen Realitätsgrade der res sind vorerst nur solche, die in den ideae vorgestellt werden. b) realitas obiectiva – realitas formalis In jeder idea wird eine res vorgestellt. Jede vorgestellte res hat einen vorgestellten Realitätsgrad. Dieser ist mir als ein in der idea vorgestellter gegeben. In jeder idea wird deshalb mit der res deren Realitätsgrad vorgestellt. Für das Vorgestelltsein der Realität einer res in der idea verwendet Descartes den Terminus realitas obiectiva. Im 13. Abschnitt heißt es: Die idea, die mir eine Substanz vorstellig macht, enthält in sich eine größere realitas obiectiva als jene idea, die mir eine bloße Bestimmung an einer Substanz bewußt macht. Realitas obiectiva wird in der Übersetzung von Artur Buchenau durch ›Bedeutungsgehalt‹ wiedergegeben. Diese Übersetzung ist sachlich richtig. Aber sie bedarf einer Erläuterung und schließlich einer Abänderung. Zuerst ist festzustellen: realitas obiectiva wird nicht durch ›objektive Realität‹ übersetzt. Denn für Descartes heißt im Anschluß an die scholastische Terminologie ›obiectivus‹ nicht https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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das, was man später und heute unter ›objektiv‹ versteht. Obiectivus meint bei Descartes und in der Scholastik sogar das Gegenteil von dem, was es später bei Kant und auch heute bedeutet. Es bedeutet dasjenige, was wir heute ›subjektiv‹ nennen. Descartes verwendet den Begriff ›obiectivus‹ und den Begriff ›subiectivus‹ noch nicht im neuzeitlichen Sinne, wie erstmals Leibniz und dann Kant, sondern im Sinne der Scholastik. Obiectivus ist das Adjektiv zum Substantiv obiectum. Dieses bedeutet scholastisch: das vorgestellte, gedachte, gemeinte Ding so, wie es als vorgestelltes, gedachtes und gemeintes im vorstellenden, denkenden, meinenden Bewußtsein ist. Obiectum meint die Sache so, wie sie in der Erkenntnis ist, wie sie in der idea vorgestellt wird. Obiectum bedeutet scholastisch gerade nicht die Sache selbst, wie sie außerhalb des erkennenden Bewußtseins ist. Für die Sache so, wie sie als wirklich außerhalb meiner Vorstellung ist, verwendet die Scholastik und gelegentlich auch Descartes den Terminus subiectum, gr. ὑποκείμενον. Dieser vom heutigen Sprachgebrauch abweichende, ja sogar entgegengesetzte terminologische Gebrauch der Worte obiectum und subiectum in der Scholastik und auch noch bei Descartes erklärt sich aus den Wortbedeutungen. Subiectum heißt wörtlich ›das Zugrundegelegte‹. Obiectum bedeutet: das durch ein Vorstellen im vorstellenden Bewußtsein für mich Entgegengeworfene, d. h. im Vorstellen und für den Vorstellenden Vorgestellte. Obiectum meint also ursprünglich gerade nicht das Objekt außer mir, sondern das Seiende, sofern es in mir vorgestellt wird und als vorgestelltes ein obiectum ist. Die Sache außer mir und an ihr selbst ist das subiectum, das meiner Vorstellung von ihr zugrundeliegt. Es liegt als das vorzustellende Seiende zugrunde. Wird das zugrundegelegte Seiende vorgestellt, dann ist es in mir selbst als obiectum vorgestellt. Obiectum heißt dann: das in mir Vorgestellte meines Vorstellens. Es ist gleichbedeutend mit der idea und dem cogitatum. Subiectum ist erst seit Leibniz der Terminus für das Ich und meint noch für Descartes das, was wir heute als Objekt und als den Gegenstand selbst bezeichnen. Jetzt wird deutlich, warum wir den cartesischen Ausdruck realitas obiectiva nicht durch ›objektive Realität‹ übersetzen dürfen. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 15. realitas obiectiva – realitas formalis

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Denn wir denken vor allem seit Kant unter der ›objektiven Realität‹ das, was die Objektverfassung der Erfahrungsgegenstände ausmacht. Was Kant die ›objektive Realität‹ nennt, die er in der transzendentalen Deduktion für die reinen Verstandesbegriffe nachzuweisen sucht, müßte man in der cartesischen Terminologie als realitas subiectiva bezeichnen, als jene Realität, die der res selbst eignet und meiner Vorstellung von ihr zugrundeliegt. Übersetzt man realitas obiectiva durch ›Bedeutungsgehalt‹, dann heißt das: in jeder idea, in der ich eine res vorstelle, liegt der gradhaft bestimmte Bedeutungsgehalt der vorgestellten res. Was eine Substanz ist, was sie bedeutet, denke ich in meiner Vorstellung, in meinem Begriff von ihr, als Bedeutungsgehalt. Indes ist die Rede vom Bedeutungsgehalt meines Begriffes von der Substanz semantisch und logisch-erkenntnistheoretisch orientiert. Das Problem der realitas obiectiva ist aber für Descartes vor allem ein ontologisches Problem der Ersten Philosophie. Deshalb ziehen wir als Übersetzung für realitas obiectiva den Ausdruck ›vorgestellte Realität‹ vor. Fortan sprechen wir bezüglich der realitas obiectiva von der ideaimmanent vorgestellten Realität. Richte ich meinen reflektierenden Blick innerhalb der methodischen Zweifelshaltung, also der cartesianischen Epoché, auf die verschiedenen ideae in meinem Bewußtsein, so sehe ich, daß der in ihnen vorgestellte Realitätsgehalt unterschiedliche Grade aufweist. Der bewußtseinsimmanent vorgestellte Realitätsgehalt eines Akzidenz ist geringer als der einer endlichen Substanz und dieser ist wieder geringer als der vorgestellte Realitätsgehalt der unendlichen Substanz. Die Aussage über die Stufung des in den ideae repräsentierten Realitätsgehaltes hält sich nur an das, was mit den ideae bewußtseinsimmanent gegeben und daher völlig gewiß ist. Damit ist noch nicht in gesicherter Weise erkannt, daß es wirkliche Akzidenzen, wirkliche körperliche Substanzen und eine wirkliche unendliche Substanz außerhalb der Bewußtseinsimmanenz gibt. Weil obiectivus ›bewußtseinsimmanent vorgestellt‹ heißt, kann Descartes für realitas obiectiva gelegentlich auch realitas repraesentativa sagen. Im Anschluß an die reflexive Erkenntnis, daß die ideae das sachhaltige Seiende jeweils mit einem bestimmten Realitätsgrad vorstelhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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len, fragt Descartes nach der Herkunft des vorgestellten unterschiedlichen Realitätsgrades. Daß in den ideae je ein vorgestellter Realitätsgrad der vorgestellten res liegt, hat einen Grund, eine Ursache. Es muß eine causa geben, die bewirkt, daß ich in meinen ideae unterschiedliche Realitätsgehalte und Realitätsgrade vorstelle. Diese Realitätsgehalte müssen als die vorgestellten Inhalte meiner ideae von der Vorgestelltheit als der Form meiner ideae unterschieden werden. Als Descartes zu Beginn des 13. Abschnitts bezüglich der ideae zwei Betrachtungsweisen unterschied, nannte er als erste die, wonach die ideae unterschiedslos Modi meines Bewußtseins sind und in gleicher Weise von mir ausgehen. Diese Betrachtungsweise lenkte den Reflexionsblick auf das, was an der idea rein bewußtseinsmäßiger Natur ist: die Vorgestelltheit in den unterschiedlichen Weisen der Wahrgenommenheit, des Erinnertseins usf. Es ist die bewußtseinsmäßige Vorgestelltheit im Unterschied zu dem, was jeweils für mich in den ideae bewußt ist in der Weise der Vorgestelltheit. Aber nicht für diese Vorgestelltheit, nicht für die Form der idea sucht Descartes nach einer Ursache, sondern für den Inhalt der Vorgestelltheit, für die in der idea bewußte Realität einer res mit ihrem Realitätsgrad. Die realitas obiectiva in der idea muß irgendeine Ursache haben. Diese Ursache braucht aber nicht in einer res außerhalb meines Bewußtseins zu liegen. Sie könnte auch in etwas anderem, ja sogar in mir selbst als res cogitans liegen. Diese Frage ist zu untersuchen. Indem Descartes nach der Ursache für die realitas obiectiva in der idea fragt, versteht er die ideaimmanente realitas obiectiva als die Wirkung (eff ectus) jener gesuchten Ursache. Er begreift somit das Verhältnis zwischen der realitas obiectiva und der gesuchten Herkunft als ein Kausalitätsverhältnis. Descartes subsumiert das Verhältnis zwischen der realitas obiectiva und demjenigen, dessen Realität vorgestellt wird, unter das Kausalitätsgesetz. Deshalb erläutert er zu Beginn des 14. Abschnitts zuerst dieses Gesetz von Grund und Folge, von Ursache und Wirkung. Er erläutert es als ein das Seiende im Ganzen bestimmendes Verhältnis von causa efficiens und eff ectus, so, wie es unter dem vermeinten wirklichen Seienden wirksam ist. Doch diese Erläuterung dürfen wir nicht so verstehen, als ob durch sie nun doch die existentia der bewußtseinstranszendenten https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Körper schon gesetzt werde. Auch diese Erläuterung hält sich in der methodischen Zweifelshaltung und deren Außer-Geltung-Setzen des bewußtseinstranszendenten Seienden. Die Erläuterung ist durchgeführt aus der Immanenz des in den ideae vorgestellten körperlich Seienden. Daß das körperlich Seiende untereinander im Verhältnis von Ursache und Wirkung steht, gehört mit zum Vorstellungsinhalt der bewußtseinsimmanenten ideae. Descartes nimmt das ontologische Kausalitätsverhältnis unter dem Gesichtspunkt des Realitätsgrades von Ursache und Wirkung in den Blick. Durch das natürliche Licht (lumine naturali) meiner Verstandeseinsicht ist offenkundig, daß mindestens ebenso viel Realität in der gesamten wirkenden Ursache sein muß wie in der Wirkung dieser Ursache (tantundem ad minimum esse debere in causa efficiente et totali, quantum in eiusdem causae effectu). Als Beispiel nennt Descartes das Verhältnis zwischen einer Wärmequelle und einem Gegenstand, der von ihr erwärmt wird. Die Erwärmung des Gegenstandes ist das Bewirkte, die Wärmequelle die wirkende Ursache. Die Wärme, die der Gegenstand aufgenommen hat, hat einen bestimmten Realitätsgrad. Die Realitätsstärke in der Wärmequelle muß mindestens ebenso groß sein wie die Realitätsstärke der vom Gegenstand aufgenommenen Wärme. Der Realitätsgrad der Wärmequelle kann auch größer sein als der Realitätsgrad der Wärme im Gegenstand. Er kann aber unmöglich geringer sein. Wäre er geringer, hätte die Realitätsgröße der Wirkung, insoweit sie größer ist als der Realitätsgrad in der Ursache, keine Realität, sondern ein Nichtsein zur Ursache. Daraus würde folgen: Aus Nichts (nicht Etwas) wird Etwas, ein sachhaltiges Seiendes. Dieser Satz verstößt nach Descartes und auch nach der Ontologie der Antike gegen die ewige Wahrheit (aeterna veritas): ex nihilo nihil fit, aus Nichts wird kein sachhaltiges Seiendes. Alles Seiende hat wieder Seiendes und nicht Nichts zu seinem Grunde. Diese ewige Wahrheit nennt Descartes eine communis notio oder ein Axiom (Prinzipien I § 49), das mit den angeborenen ideae seinen Sitz im Bewußtsein hat. Woher sonst sollte die Wirkung ihre Realität nehmen als allein aus ihrer Ursache (undenam posset assumere realitatem suam effectus, nisi a causa?). Die Wärmequelle als Ursache kann in ihrem Bewirken der Wirkung https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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die Realität nur geben, wenn sie diese selbst hat. Besäße die Wirkung mehr Realität als die Ursache, müßte die Ursache der Wirkung etwas mitgeteilt haben, was sie selbst nicht hat. ›Aus nichts entsteht nichts‹ lautet anders formuliert: Kein sachhaltiges Seiendes kann aus nichts entstehen. Dieser Satz schließt auch ein, daß nichts Vollkommeneres, das mehr Realität in sich enthält, aus dem entstehen kann, was weniger Realität in sich enthält. Unter dieses so erläuterte Verhältnis zwischen dem Realitätsgrad der Ursache und demjenigen der Wirkung subsumiert Descartes nun auch das Verhältnis zwischen einer Ursache und der in der idea vorgestellten Realität, die er als Wirkung einer Ursache begreift. Daß der Realitätsgrad einer Ursache mindestens ebenso groß sein muß wie der ihrer Wirkung, ist eine aus dem natürlichen Licht entspringende Verstandeseinsicht. Diese Einsicht ist nicht nur wahr für jene Wirkungen, deren Realitätsgrad außerhalb des bewußtseinsimmanenten Vorgestelltseins an ihm selbst seiend ist (non modo perspicue verum est de iis effectibus, quorum realitas est actualis sive formalis). Diese Einsicht ist vielmehr ebenso wahr in bezug auf die ideae als solche Wirkungen, in denen die Realität als vorgestellte betrachtet wird (sed etiam de ideis, in quibus consideratur tantum realitas obiectiva). Mit der terminologischen Wendung realitas actualis sive formalis kennzeichnet Descartes diejenige Realität einer res, die dieser res an ihr selbst, also außerhalb ihres Vorgestelltseins in einer idea, eigen ist. Die realitas actualis sive formalis eignet aber nicht nur den bewußtseinstranszendent vorgestellten bewirkten res (Wirkungen), sondern auch den bewirkenden res als den Ursachen. Somit eignet auch der für die realitas obiectiva in der idea gesuchten Ursache eine realitas actualis sive formalis. Diejenige Realität, die ich bewußtseinsimmanent in einer idea als realitas obiectiva vorstelle, muß in irgendeiner res außerhalb dieser idea sein. Sofern aber diese ursächliche res außerhalb der idea ist, eignet ihr die Realität als realitas actualis sive formalis. Zwischen der realitas obiectiva und der realitas actualis sive formalis besteht ein Entsprechungsverhältnis. Was in einer idea als realitas obiectiva enthalten ist, muß in der verursachenden res als realitas actualis sive formalis enthalten sein. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 15. realitas obiectiva – realitas formalis

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Die Begriffe realitas obiectiva und realitas formalis sive actualis sind als solche nicht von Descartes gebildet, sondern von ihm aus der scholastischen Terminologie, so aus der skotistischen Tradition, übernommen. Aber sie sind von Descartes in ihrem Inhalt und ihrer Verwendungsweise selbständig bestimmt und festgelegt.2 Wie müssen wir ›actualis‹ und ›formalis‹ übersetzen? So, wie wir bei der realitas obiectiva nicht von ›objektiver Realität‹ sprechen durften, so verbietet sich jetzt auch, in bezug auf die realitas formalis von der ›formalen Realität‹ zu sprechen. Wie Descartes realitas und obiectivus in ihrer scholastischen Bedeutung verwendet, so gebraucht er auch die Termini ›formalis‹ und ›actualis‹ im scholastischen Sinne. ›Formalis‹ heißt in der Scholastik nicht ›formal‹ im Unterschied zu ›inhaltlich‹ und ›konkret‹, sondern ›formalis‹ ist das Adjektiv zu forma. ›Forma‹ aber bedeutet das Wesen einer Sache, ihre essentia, das Wassein einer res. So bestimmt Francisco Suárez (1548–1617) die forma metaphysica als tota rei substantialis essentia, als das vollständige substanzielle Wesen einer Sache.3 Thomas v. Aquin (1225–1274) sagt: per modum formae signifi catur essentia, durch die Seinsweise der Form wird die Washeit bezeichnet.4 Lat. forma ist die Übersetzung der aristotelischen Termini εἶδος und μορφή, in denen Aristoteles die Wesensursache (causa formalis) eines Seienden denkt. Die realitas formalis ist diejenige Realität eines Seienden, die diesem aufgrund der das Seiende in seinem Sachgehalt bestimmenden Wesensform eignet. ›Actualis‹ ist das Adjektiv zu ›actus‹. Bei Thomas v. Aquin ist actus eine erläuternde Bezeichnung für ›forma‹ und deshalb gleichbedeutend mit ›forma‹. Thomas sagt: nomen actus fuit translatum ad formam, inquantum forma est principium operationis et finis 5 – der 2 Siehe hierzu den Artikel »Realität, formale/objektive« v. Brigitte Kible in »Historisches Wörterbuch der Philosophie« (Ritter †, Gründer), Bd. 8, Sp. 193–196. 3 Suárez, Franciscus, Disputationes Metaphysicae; ed. Berton 1866, Disputatio XV, Sectio XI, 3. 4 Thomas v. Aquin, Summa contra gentiles; ed. Albert u. Engelhardt 1974, Buch I, 21. Kapitel, 92. 5 Thomas v. Aquin, Quaestiones Disputatae de Potentia Dei; ed. R. P. Pauli M. Pession 1949, quaest. 1, art. I c, 9; Thomas v. Aquin, Über Gottes Vermögen; übersetzt u. hrsg. Grotz 2009, 7.

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Name actus wird übertragen auf forma, insoweit forma die Wirkursache und die Zweckursache eines Seienden ist (causa efficiens und causa finalis). Ferner heißt es bei Thomas : Forma autem, secundum id quod est, actus est: et per eam res actu existunt:6 Die Form ist aber, gemäß dem, was sie ist, Akt und durch sie existieren die res im Akt. Damit ist deutlich geworden, daß und inwiefern realitas actualis und realitas formalis für Descartes dasselbe bedeuten. Realitas formalis meint als realitas actualis diejenige Realität einer Sache, die dieser Sache an ihr selbst eignet, sofern die Sache in ihrem Sachgehalt durch ihre Wesensform bestimmt ist. Artur Buchenau übersetzt actualis durch ›wirklich‹ und formalis durch ›gegenständlich‹. Actualis bedeutet aber für Descartes nicht das Wirklichsein im Sinne der existentia, sondern die Wirklichkeit im Sinne der essentia. Denn actualis ist gleichbedeutend mit formalis, und formalis deutet auf die essentia. Wenn realitas obiectiva einerseits und realitas actualis sive formalis andererseits einen Gegensatz bilden, ist damit nicht der Gegensatz zwischen einem nichtwirklichen und einem wirklichen Sachgehalt gemeint. Vielmehr ist der Gegensatz zwischen dem Sachgehalt so, wie er einer res aufgrund ihrer Wesensform eignet, und demselben Sachgehalt so, wie dieser im Bewußtsein, in einer idea, vorgestellt wird, gemeint. Wir können daher das Gegensatzpaar realitas formalis sive actualis – realitas obiectiva so übersetzen: realitas formalis sive actualis als ›Sachgehalt eines Seienden in seinem An-ihm-selbst-sein‹ und realitas obiectiva als derselbe Sachgehalt desselben Seienden im Modus seines bewußtseinsmäßigen Vorgestelltseins. Der Sachgehalt eines Seienden in seinem An-ihm-selbst-sein meint die Realität dieses Seienden außerhalb der idea, außerhalb ihres bewußtseinsimmanenten Vorgestelltseins. Nur weil es Realität einer res an ihr selbst, d. h. in ihrem An-ihr-selbstsein gibt, kann dieselbe Realität auch innerhalb einer idea vorgestellt und zum Inhalt einer idea werden. 6 Thomas v. Aquin, Summa contra gentiles, a. a. O., Buch II, 30. Kapitel, 96. – Zur Frage nach dem Verhältnis der Metaphysik Descartes’ zum scholastischen Denken vgl. die beiden klassischen Werke: E. Gilson, Etudes sur le rôle de la pensée médiévale dans la formation du système cartésien, Paris 19845; A. Koyré, Descartes und die Scholastik; übersetzt v. E. Stein mit Hedwig Conrad-Martius 2005.

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In den ›Rationes‹ am Ende der ›Zweiten Erwiderungen‹ gibt Descartes je eine Definition von der realitas obiectiva und von der realitas formalis: Unter der realitas obiectiva einer idea verstehe ich die Entität der durch die idea repräsentierten Sache, insofern die Entität in der idea ist (per realitatem objectivam ideae intelligo entitatem rei repraesentatae per ideam, quatenus est in idea). Denn alles, was wir gleichsam im Vorgestellten der ideae erfassen, ist in den ideae selbst auf vorgestellte Weise (Nam quaecumque percipimus tanquam in idearum objectis, ea sunt in ipsis ideis objective).7 – Die Definition der realitas formalis lautet: Zugleich sagt man, daß die Realität (Entität) in den Gegenständen der ideae formaliter ist, wenn sie ebenso in den Gegenständen selbst beschaffen ist wie wir sie in der idea erfassen; und daß die Realität in den Gegenständen der ideae eminenter ist, wenn sie zwar nicht ebenso beschaffen ist, aber so groß ist, daß sie die Stelle der qualitativ ebenso bestimmten Realität vertreten kann (Eadem dicuntur esse formaliter in idearum objectis, quando talia sunt in ipsis qualia illa percipimus; et eminenter, quando non quidem talia sunt, sed tanta, ut talium vicem supplere possint).8 Die realitas formalis in den Gegenständen selbst braucht den Wasgehalt nicht in derselben Weise zu enthalten, wie ich ihn als realitas obiectiva in der idea vorstelle. Die res selbst kann eine vollkommenere Wesensform und Realität enthalten als ich in der idea vorstelle. Die realitas formalis in der res selbst darf nur nicht eine weniger vollkommene sein als die, die ich in der idea vorstelle. Ist die realitas formalis in der res selbst eine vollkommenere als die realitas obiectiva in der idea, dann spricht Descartes von ›eminenter‹ statt von ›formaliter‹. Handelt es sich um die in gleicher Weise beschaffene Realität, dann verwendet Descartes den Terminus ›formaliter‹. Das allgemeine Kausalgesetz besagt, daß die Realität in der wirkenden Ursache mindestens ebenso groß sein muß wie die Realität 7 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 146. AT VII, 161. 8 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 146. AT VII, 161.

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in der bewirkten Sache. Dieses Verhältnis gilt zunächst unter den res selbst. In diesem Falle ist die Realität der Ursache wie der Wirkung eine realitas formalis. Dasselbe Kausalitätsverhältnis gilt nun für Descartes auch für diejenige Beziehung, die zwischen einer res und ihrer idea, der Vorstellung von dieser res, besteht. Der Unterschied liegt jetzt nur darin, daß es sich hier nicht um ein Verhältnis zwischen der einen realitas formalis und einer anderen realitas formalis handelt, sondern um die Beziehung zwischen einer realitas formalis und einer realitas obiectiva. Ich habe die Vorstellung (idea) des erwärmten Steines in mir. Ich kann diese Vorstellung von einem erwärmten Stein nur dann in mir haben, wenn sie in mir von irgendeiner Ursache gesetzt ist, in der wenigstens ebenso viel Realität enthalten ist, wie ich in der idea vom erwärmten Stein bewußtseinsimmanent vorstelle. Dadurch aber, daß hier die realitas der Wirkung eine realitas obiectiva ist und nicht eine realitas formalis, besteht noch ein weiterer Unterschied zwischen diesem Kausalitätsverhältnis und jenem zwischen zwei res. Wenn die res in Gestalt einer Wärmequelle als Ursache einen Stein erwärmt, läßt sie von ihrer Realität etwas in die Wirkung, in den sich erwärmenden Stein, überfließen. Habe ich dagegen die Vorstellung von dem erwärmten Stein, dann läßt die ideatranszendente Ursache meiner Vorstellung nichts von ihrer realitas actualis sive formalis in meine Vorstellung, in die realitas obiectiva, überfließen (Nam quamvis ista causa nihil de sua realitate actuali, sive formali in meam ideam transfundat). Die realitas obiectiva, d. h. die in einer idea vorgestellte Realität einer res, ist nicht so etwas wie eine ins Bewußtsein eingetretene realitas formalis. Damit wird deutlich ausgesprochen, daß die in der idea vorgestellte Realität als bewußtseinsimmanentes cogitatum zur Seinsart des Bewußtseins und nicht zur Seinsart der bewußtseinstranszendenten Realität gehört. Realitas obiectiva ist die vorgestellte Realität in der Seinsweise des Vorgestelltseins (des Bewußtseins). Wenn nun die realitas obiectiva in der idea kein realer Ausfluß aus deren realer Ursache ist, dürfe man nicht meinen, daß deshalb die Ursache für die realitas obiectiva weniger sachhaltig sein könne, d. h. daß sie einen geringeren Realitätsgrad an ihr selbst haben könne (non ideo putandum est illam https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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minus realem esse debere). Diese Meinung ist aus folgender Überlegung zurückzuweisen, einer Überlegung, die sich auf die zweifache Betrachtungsart der idea stützt. Das Wesen der idea als solcher besteht darin, daß sie für sich keine andere realitas formalis fordert als diejenige, die ihr von meinem Bewußtsein gegeben wird, dessen modus die idea als Vorgestelltheit des Vorgestellten eines Vorstellens ist (sed talem esse naturam ipsius ideae, ut nullam aliam ex se realitatem formalem exigat, praeter illam quam mutuatur a cogitatione mea, cuius est modus). Hier blickt Descartes wieder in der ersten Betrachtungsart auf die idea als Vorgestelltheit. Diese Vorgestelltheit ist eine Bestimmung bzw. Weise meines ichlichen Bewußtseins-vonetwas. Dieser idea als einer Bewußtseinsweise eignet selbst eine realitas formalis. Denn auch meine cogitatio ist eine res, zwar keine körperliche, wohl aber eine bewußtseinhabende res. Die Realität dieser res ist die cogitatio. Mir als res cogitans eignet die realitas formalis in Gestalt des ichlichen Bewußtseins. An dieser realitas formalis sive actualis haben alle Bestimmungen oder Weisen meines Bewußtseins, alle ideae, teil. Daher müssen wir in bezug auf eine idea – gemäß ihrer zweifachen Betrachtungsweise – Zweierlei auseinanderhalten. Zum einen ist es die realitas formalis der idea als idea, unabhängig davon, was die idea vorstellig macht. Für ihre eigene realitas formalis bedarf sie keiner anderen Realität als derjenigen, die sie als Bestimmung des Bewußtseins aus dem Bewußtsein hat. Für die realitas formalis der idea als idea wird jetzt nicht nach einer Ursache außerhalb ihrer gesucht. Zum anderen müssen wir an der idea ihren Inhalt, ihre realitas obiectiva, unterscheiden, der in ihr vorgestellt wird. In der idea und der ihr eigenen realitas formalis wird diejenige realitas obiectiva vorgestellt, die als solche auf eine res und deren realitas formalis außerhalb der idea verweist. Daher sagt Descartes: Daß eine idea gerade diese oder jene realitas obiectiva mehr als jene andere enthält (quod autem haec idea realitatem obiectivam hanc vel illam contineat potius quam aliam), rührt nicht von ihrer eigenen realitas actualis her, sondern verdankt sie einer Ursache, in welcher mindestens ebensoviel realitas formalis liegt wie die idea an realitas obiectiva enthält (hoc profecto habere https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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debet ab aliqua causa, in qua tantundem sit ad minimum realitatis formalis, quantum ipsa continet obiectivae). Obwohl die realitas obiectiva in der idea nur in der Seinsweise (modus essendi) des bewußtseinsmäßigen Vorgestelltseins gegeben ist (atqui quantumvis imperfectus sit iste essendi modus, quo res est obiective in intellectu per ideam), ist sie nicht etwa aus der realitas formalis der idea als idea erklärbar. Vielmehr verweist sie als bloß in der idea vorgestellte Realität auf eine realitas formalis, die nicht mit der realitas formalis der idea als solcher identisch ist. Die realitas obiectiva in der idea repraesentiert eine realitas formalis. Das Vorstellen ist für Descartes ein repraesentare. In diesem Wort müssen wir die Bedeutung mithören, die wir in der nichtphilosophischen Sprache verwenden, wenn wir vom Repräsentieren als dem Stellvertreten sprechen. Das bewußtseinsimmanent in der idea Vorgestellte ist der bewußtseinsmäßige Stellvertreter dessen, worauf ich mittels der idea meinend bezogen bin. Gerade der in der realitas obiectiva liegende Sinn, Repräsentant von etwas außerhalb der Vorgestelltheit zu sein, zeigt, daß wir die in der idea enthaltene realitas obiectiva nicht aus der realitas formalis der idea als idea verstehen können. Descartes will somit sagen, daß wir in keiner idea eine realitas obiectiva antreffen, die nicht der bewußtseinsmäßige Repräsentant für eine ideatranszendente Realität ist. Keine in der Vorgestelltheit liegende realitas obiectiva hat ein Nichtseiendes zur Ursache. Ebenso hat keine realitas obiectiva eine realitas formalis geringeren Realitätsgrades zur Ursache. Descartes beschließt den zentralen 14. Abschnitt mit dem Hinweis, daß zwar die Seinsweise (essendi modus), durch die eine res als vorgestellte in einer idea ist, unvollkommen sei, daß diese Seinsweise aber dennoch nicht nichts sei. Bedeutsam ist hier, daß die realitas obiectiva eine mögliche Seinsweise einer res ist, die Seinsweise des Vorgestelltseins, daß also das ideaimmanente Vorgestelltsein einer res überhaupt als eine Seinsweise angesehen wird. Descartes kennzeichnet diese Seinsweise als esse obiective per ideam. Diese Seinsweise, dieser modus essendi, fordert aber von ihr selbst her eine zweite Seinsweise der res als Voraussetzung für sie selbst. Eine res kann nur in der Seinsweise des Vorgestelltseins gegeben sein, sofern die res an ihr selbst in ihrer realitas formalis oder actualis ist. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Im 15. Abschnitt weist Descartes einen möglichen Einwand zurück, der gegen das Ergebnis des 14. Abschnittes erhoben werden könnte. Es könnte eingewendet werden: Wenn die Realität, die ich in meinen ideae betrachte, nur eine vorgestellte (obiectiva) ist, eine Realität im Modus des Vorgestelltseins, dann sei es vielleicht gar nicht nötig, daß dieselbe Realität in den Ursachen an ihr selbst seiend (formaliter) ist, sondern es genüge, wenn sie in den Ursachen auch nur auf vorgestellte Weise (obiective) sei. Dieser Einwand stützt sich zunächst auf einen phänomenalen Sachverhalt. Es ist ein phänomenaler Befund, daß eine Vorstellung aus einer anderen entstehen kann. Das ist z. B. der Fall, wenn ich einem mündlichen Bericht zuhöre. Die unmittelbare Ursache für meine Vorstellungen von dem Berichteten sind die mündlich mitgeteilten Vorstellungen des Berichterstatters. Die realitas obiectiva meiner Vorstellungen hat in diesem Falle ihre unmittelbare Ursache in der realitas obiectiva der Vorstellungen des Berichterstatters. Möglich ist auch, daß der Berichterstatter das, was er mitteilt, von einem anderen Berichterstatter gehört hat. Das führt aber nicht dazu, daß die realitas obiectiva in einer idea stets nur aus einer anderen idea und deren realitas obiectiva entsteht. Die in den auseinander hervorgehenden ideae enthaltene realitas obiectiva weist letztlich auf eine res und deren realitas formalis zurück. Das Berichtete mag über noch so viele Zwischenstationen von Vorstellung zu Vorstellung weitergegeben sein, diese Kette hat ihren Anfang dort, wo die idea in einer aktuellen sinnlichen Erfahrung einer res und deren realitas formalis gründet. Descartes betont: Ebenso wie diese Seinsweise des Vorgestelltseins (iste modus essendi obiectivus) den ideae ihrer eigenen Natur nach zukommt (ex ipsarum natura), so kommt die Seinsweise des An-ihrselbst-seins einer res (modus essendi formalis) den Ursachen der ideae ihrer Natur nach zu (ex earum natura) – wenigstens den ersten und vorzüglichsten Ursachen. Den 15. Abschnitt abschließend betont Descartes erneut, daß er durch das natürliche Licht klar und distinct einsehe, daß die ideae in ihm gleichsam Bilder sind (esse veluti quasdam imagines) von den res, den Dingen, die außerhalb der ideae sind. Die ideae, das in ihnen Vorgestellte, sind ›gleichsam‹ Bilder, also nicht Bilder wie die von https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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der Einbildungskraft gebildeten Bilder, sondern Bilder im analogen Sinne, wonach sie im Bewußtsein das repräsentieren, was außerhalb des Bewußtseins, außerhalb der ideae, ist. Das ›gleichsam Abbilden‹ durch die ideae hat die Bedeutung des Repräsentierens. Die idea als Bild im erweiterten Sinne ist der bewußtseinsmäßige Repräsentant für das, was außerhalb der idea ist und in der idea eigentlich gemeint ist. Mein Vorstellungsinhalt als Gleichsam-Bild möge hinter der Vollkommenheit der res, auf die die ideae verweisen, zurückbleiben, aber die idea kann unmöglich irgendetwas Stärkeres und Vollkommeneres als die verursachende res enthalten. Denn sonst hätte der größere Grad der vorgestellten Realität in der idea seine Ursache in einem Nichtsein statt in einer realitas formalis. Descartes stellt den Unterschied der beiden Seinsweisen heraus: Die Seinsweise des Vorgestelltseins der Realität einer res ist im Vergleich mit der Seinsweise des An-ihr-selbst-seins der Realität weniger vollkommen. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß die in der idea enthaltene realitas obiectiva nur der bewußtseinsmäßige Repräsentant für das An-ihr-selbst-sein der res in ihrer Realität ist. Dennoch ist dieser Repräsentant nicht nichts, sondern etwas, das von sich weg auf das Repräsentierte verweist. Damit hat Descartes auf dem Wege einer ontologisch orientierten Bewußtseinsanalytik die Voraussetzungen für seinen angestrebten bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis erfüllt. Im 16. Abschnitt spricht er die Abzielung der vorangegangenen Erörterung des Entsprechungsverhältnisses von realitas obiectiva und realitas formalis sive actualis aus. Was soll ich aus diesen Überlegungen und Aufweisungen bezüglich jenes Entsprechungsverhältnisses folgern? Wenn die realitas obiectiva irgendeiner meiner ideae so groß ist, daß ich dessen gewiß bin, daß die sie verursachende Realität weder in gleicher (formaliter) noch in überragender Weise (eminenter) in mir selbst als res cogitans liegen kann, daß demgemäß ich selbst nicht die Ursache dieser idea sein kann, dann folgt daraus notwendig, daß ich nicht allein bin in der Welt (non me solum esse in mundo), sondern daß noch irgendeine andere Sache (aliquam aliam rem), die die Ursache dieser idea ist, auch existiert. Wenn sich aber keine solche idea in mir findet, werde ich offenbar keinen Beweisgrund haben (nullum https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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plane habebo argumentum), der mich der Existenz irgendeiner von mir verschiedenen Sache (res) versicherte. Damit gibt sich Descartes den Weg für den Fortgang der Untersuchung bis zum bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis vor. In den folgenden Abschnitten wird er unter seinen vielfältigen ideae Umschau halten, ob sich unter ihnen eine solche finden lasse, in der die realitas obiectiva mit einem so großen Realitätsgrad vorgestellt ist, daß nicht ich selbst als res cogitans mit meiner mir eigenen realitas formalis die Ursache für die in dieser idea liegende realitas obiectiva sein kann. Anders gesagt, die zu meiner Bewußtseinssphäre gehörenden ideae müssen darauf hin untersucht werden, ob die in ihnen liegende realitas obiectiva nur einen solchen Realitätsgrad vorstellt, der den Realitätsgrad meiner selbst als res cogitans nicht übersteigt. Wenn es sich so verhalten sollte, könnte ich selbst als res cogitans mit meiner realitas formalis die Ursache für die in meiner idea enthaltene realitas obiectiva sein. Das würde bedeuten: Zwar verweisen die ideae mit ihrer realitas obiectiva auf eine res und deren realitas formalis. Aber diese res wären nicht die von mir vermeinten unterschiedlichen Dinge selbst, sondern wäre die res cogitans, die ich selbst bin. Diese Denkmöglichkeit ist aber keine andere als diejenige, die Descartes in der I. Meditation in dem ›generellen Traum‹ als dem zweiten Zweifelsmotiv ins Auge gefaßt hatte. Ich selbst aber könnte als res cogitans Herkunft und Ursache nur für eine solche vorgestellte Realität sein, deren vorgestellter Realitätsgrad denjenigen meiner selbst als res cogitans nicht überstiege. Sollte sich aber in meinem Bewußtsein eine solche idea finden, deren vorgestellter Realitätsgrad den meiner selbst als res cogitans überragt, dann könnte nicht ich selbst deren Ursache sein. Die hier verursachende realitas formalis könnte dann nur in jener an ihr selbst seienden res liegen, die ich in der realitas obiectiva vorstelle. Dann aber wäre erwiesen, daß nicht nur ich selbst als res cogitans, als ichliche Bewußtseinssphäre, absolut unbezweifelbar existiere, sondern daß auch eine andere res in ihrer realitas formalis ebenso gewiß existiert. Bei dieser res handelte es sich um eine solche, die einen Realitätsgrad hat, der den meinigen unendlich überragt. Diese res wird sich im bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis als die allerrealste res, als das ens realissimum erweisen. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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4. Kapitel: Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis

c) Die realitas obiectiva in den ideae und ihr unterschiedlicher Realitätsgrad Der angekündigte und nun einsetzende Gedankenschritt Descartes’ besteht darin, daß er die ideae hinsichtlich ihrer realitas obiectiva gliedert und die gegliederten ideae auf den Realitätsgrad ihrer realitas objectiva untersucht (17. bis 21. Abschnitt). Als erstes (17. Abschnitt) benennt er sechs Gruppen von ideae unterschiedlichen Realitätsgehaltes: 1. die idea, die mich selbst, meine ichliche Bewußtseinssphäre, mir darbietet, also die Vorstellung von mir selbst; 2. die idea, die mir Gott vorstellig macht; 3. diejenigen ideae, die körperliche und unbeseelte Dinge repräsentieren; 4. ideae, in denen ich Engel vorstelle; 5. die ideae, die nichtmenschliche Lebewesen darstellen; 6. jene ideae, die mir andere, mir ähnliche Menschen (res cogitantes) vergegenwärtigen. Unter diesen sechs Gruppen ist es bisher nur die an erster Stelle genannte idea, in der ich mich selbst vorstelle, für deren realitas obiectiva die sie verursachende realitas formalis in absolut gewisser Weise erkannt ist. Denn in meiner Selbstvorstellung hat die realitas obiectiva ihre sie verursachende realitas formalis in mir selbst als res cogitans. Für die übrigen fünf Gruppen von ideae steht noch offen, ob die sie verursachende realitas formalis wirklich in denjenigen res liegt, die ich in diesen ideae zu erkennen meine, oder ob sie in einer mir undurchsichtigen Weise in der realitas formalis meiner res cogitans gelegen ist. Als nächstes nimmt Descartes eine Reduktion, eine Rückführung der ideae aus der 6., 5. und 4. Gruppe auf die ideae der 1., 2. und 3. Gruppe vor (18. Abschnitt). Was die in den ideae von anderen psycho-physischen Ichen (6.), von nichtmenschlichen Lebewesen (5.) und von übermenschlichen, aber untergöttlichen Wesen (4.) vorgestellte Realität anbetrifft , so ist es denkbar, daß diese ideae mit ihrer realitas obiectiva aus den drei erstgenannten Vorstellungsgruppen hervorgegangen sind. Die Vorstellung, die ich von anderen psychophysischen Ichen habe, könnte auf einer Vervielfachung jener Vorstellung beruhen, die ich von mir selbst habe. Denn die in diesen Vorstellungen vorgestellte Realitätsstärke übertrifft nicht die meiner selbst als res cogitans. Was aber diejenigen ideae anbetrifft , in denen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 15. realitas obiectiva – realitas formalis

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ich nichtmenschliche Lebewesen vorstelle, so wäre es denkbar, daß ich diese ideae mit ihrer realitas obiectiva aus meiner Vorstellung von mir selbst und meiner Vorstellung vom körperlich Seienden selbst gebildet habe. In der Vorstellung von einem nichtmenschlichen Lebewesen stelle ich dieses als einen beseelten Körper vor. Denn die Vorstellung von der Tierseele könnte aus meiner Selbstvorstellung dergestalt gebildet sein, daß ich der Tierseele einen niedrigeren Realitätsgrad gebe (eine Seele ohne cogitatio). Und die Vorstellung, die ich von einem Engel habe, also von einem übermenschlichen, aber untergöttlichen Seienden, könnte von mir aus meiner Vorstellung vom göttlich Seienden und aus meiner Selbstvorstellung hervorgebracht sein. Aus diesen beiden ideae und ihrer realitas obiectiva könnte ich eine solche idea gebildet haben, in der ich eine res vorstelle, deren Realitätsgrad zwischen dem des göttlich Seienden und dem meiner selbst liegt. Da von den drei ersten Vorstellungsgruppen meine Selbstvorstellung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen realitas obiectiva und realitas formalis keine Frage bietet, stellt sich die Frage nach diesem Verhältnis in bezug auf meine ideae von den körperlichen res und bezüglich meiner idea von Gott. Als erstes untersucht Descartes die ideae, in denen er die realitas obiectiva der körperlichen Dinge vorstellt (19.–21. Abschnitt). Es sind meine ideae, in denen ich die gesamte raum-zeitlich-materielle Körperwelt vorstelle. Descartes geht es vor allem um die Prüfung dessen, inwieweit wir von der Welt der Körperdinge ein in sich gewisses, zweifelsfreies Wissen gewinnen können, ein am Maßstab der Selbstgewißheit gemessenes sicheres Wissen von der essentia und der existentia der Körper. Er prüft die in den ideae liegende realitas obiectiva, ob deren Realitätsstärke diejenige meiner selbst als res cogitans mit deren realitas formalis übersteigt. Das Ergebnis dieser Prüfung (19. Abschnitt) vorwegnehmend sagt Descartes: Was meine Vorstellungen (ideae) von den in ihnen vermeinten bewußtseinsäußeren Körpern anbetrifft , so enthält die in diesen ideae liegende realitas obiectiva nichts so Großes, daß es nicht aus der realitas formalis meiner selbst als res cogitans hätte hervorgehen können. Dieser Satz hat nur hypothetischen Charakter. Im gehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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genwärtigen Stand meditativer Untersuchung ist es denkbar, daß die von mir mittels der bewußtseinsimmanenten Vorstellung vermeinten bewußtseinsäußeren Körper mit der von mir vermeinten realitas formalis nicht an ihnen selbst existieren. Herkunft und Ursache in der Weise der realitas formalis für die realitas obiectiva in meinen Vorstellungen von den Körpern könnten, was den Realitätsgrad betrifft , in mir selbst als res cogitans liegen. Vorerst gibt es noch keinen mit Gewißheit erkannten Grund für die Einsicht, daß meine Vorstellungen von bewußtseinstranszendenten Körpern ihre Herkunft in wahrhaft existierenden Dingen haben müssen. Eine eingehende Untersuchung und Prüfung der Teilvorstellungen dessen, was ich in den ganzheitlichen Vorstellungen als Körper vorstelle, zeigt, daß es nur sehr wenig ist, was ich in den ideae von den Körpern klar und distinct erfasse (perpauca tantum esse, quae in illis clare et distincte percipio). Um nun darzutun, daß alles, was ich in meinen ideae als realitas der Körperdinge vorstelle (realitas obiectiva), meinen eigenen Realitätsgrad nicht übersteigt, nimmt Descartes die realitas obiectiva der Körper nach zwei verschiedenen Hinsichten in den Blick. Die erste Hinsicht ist auf das gerichtet, was die primären Wesensbestimmungen sind. Die zweite Hinsicht gilt den sekundären Sinnesqualitäten eines Körpers. Die primären sachhaltigen Bestimmungen bilden das in den ideae innatae oder Kategorien gedachte Wesen der Körper. Die kategorialen Bestimmungen des körperlich Seienden werden – wie in der II. Meditation dargetan – im reinen Verstandesdenken erfaßt. Die sekundären Sinnesqualitäten sind die empirischen Sachgehalte, das empirische Sobeschaffensein, das wir auf dem Wege der sinnlichen Wahrnehmung vorstellen. Die primären Wesensbestimmungen der Körper sind allein das, was ich in meiner Vorstellung von den körperlichen Dingen klar und deutlich begreife. Hierzu gehören: die Größe (magnitudo), die dreidimensionale räumliche Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe; die Gestalt (figura), die sich aus der Begrenzung der dreidimensionalen Ausgedehntheit der in der idea vorgestellten res ergibt; die Lage (situs), die das Verschieden-Gestaltete untereinander einnimmt; die Bewegung (motus) oder die Veränderung (mutatio) diehttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ser Lage; die Substanz (substantia) in ihrem beständigen räumlichen Ausgedehntsein, an dem sich der Wechsel ihrer nichtbeständigen Eigenschaften vollzieht; die Dauer (duratio), also die Zeit, in der die res corporea sich von einem Ort zum anderen bewegt; schließlich die Zahl (numerus), mit der wir die räumliche Extension der Körper und deren Ortsbewegung bestimmen. Nur diese primären Bestimmungen der körperlichen Dinge erfasse ich mit meinem Verstand in der bewußtseinsimmanent vorgestellten Realität klar und distinct im Sinne der Allgemeinen Wahrheitsregel. Diese besagt, daß alles das wahr ist, was ich klar und distinct erfasse. Wenden wir nun diese regula generalis auf die klar und deutlich in der realitas obiectiva erfaßten primären Wesensbestimmungen der Körper an, dann heißt das vorerst nur dieses: Die in meiner Vorstellung von den primären Wesensbestimmungen liegende realitas obiectiva verweist in unbezweifelbarer Weise auf eine realitas formalis außerhalb der Vorgestelltheit in der idea. Doch dies besagt noch nicht, daß diese realitas formalis wahrhaft zu solchen Körperdingen gehört, wie sie ideaimmanent vermeint werden. Daß die Realität in eben der Weise, wie sie ideaimmanent vorgestellt wird, auch bewußtseinstranszendent in einem an ihm selbst seienden Körper enthalten ist, können wir nicht in unbezweifelbarer Weise der klaren und distincten Verstandeseinsicht in die realitas obiectiva entnehmen. Denn die geforderte realitas formalis könnte, was ihre Realitätsstärke anbetrifft , auch in meiner eigenen realitas formalis liegen. Während ich die primären Wesensbestimmungen der Körper in meinen ideae klar und distinct erfasse, stelle ich die sekundären Sinnesqualitäten sehr verworren und dunkel vor (valde confuse et obscure). Descartes zählt auf: Licht (lumen), Farben (calores), Töne (soni), Gerüche (odores), Geschmäcke (sapores), Wärme und Kälte (calor et frigus) und übrige Berührungsqualitäten (tactiles qualitates). Von all dem, das ich sehr verworren und dunkel vorstelle, weiß ich nicht, ob es wahr oder unwahr ist (an sint verae, vel falsae). Ich weiß nicht, ob die Vorstellungen (ideae), die ich von jenen Sinnesqualitäten habe, Vorstellungen von irgendwelchen Sachen (ideae rerum quarundam) sind oder Vorstellungen von keinen Sachen (non rerum), von nichts. Während die eigentliche oder formale Unhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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wahrheit (falsitatem proprie dictam sive formalem) sich nur in Urteilen findet, so gibt es in der Tat – wie Descartes betont – eine gewisse andere, eine materiale Unwahrheit in Vorstellungen (quaedam alia falsitas materialis in ideis). Eine solche materiale Unwahrheit ist dann gegeben, wenn Vorstellungen nichts wie eine Sache, wie etwas darstellen (cum non rem tamquam rem repraesentant). Als Beispiel dienen die Vorstellungen, die ich von Wärme und Kälte habe. Diese ideae sind nur so wenig klar und deutlich (tam parum clarae et distinctae sunt), daß ich ihnen nicht entnehmen kann, 1. ob Kälte nur Mangel an Wärme ist (an frigus sit tantum privatio caloris) oder 2. ob Wärme nur Mangel an Kälte ist (privatio frigoris) oder 3. ob beide eine sachhaltige Qualität sind (realis qualitas) oder 4. ob keine von beiden eine sachhaltige Qualität ist. Weil es aber keine ideae, keine Vorstellungen geben kann, die nicht wenigstens vorgeben, ideae von Sachen zu sein (ideae tamquam rerum), so wird, wenn es wahr sein sollte, daß Kälte nichts anderes als Mangel an Wärme ist, die idea, die mir die Kälte wie etwas Sachhaltiges und Positives darstellt (tamquam reale quid et positivum repraesentat), zu Recht als material unwahr (falsch) bezeichnet. Daher kann Descartes die Feststellung treffen (20. Abschnitt) daß er den Vorstellungen von den sekundären Sinnesqualitäten keine von ihm verschiedene Ursache zuzuweisen brauche. Denn wenn es sich so verhalten sollte, daß die sinnlichen Vorstellungen hinsichtlich ihres Inhalts unwahr sind und nichts Sachhaltiges repräsentieren, so weiß ich durch das natürliche Licht, daß sie aus nichts hervorgehen (a nihilo procedere), daß sie also keiner realitas formalis als Ursache bedürfen. Sollten aber die sinnlichen Vorstellungen hinsichtlich des in ihnen Vorgestellten wahr sein, so sehe ich nicht ein, warum sie nicht von mir selbst stammen könnten, weil sie mir nur so wenig an Realität darbieten, daß ich sie nicht einmal von einem Nichtrealen (a non re) unterscheiden kann. Aber auch die in meinen ideae von den primären Wesensbestimmungen der Körper enthaltene realitas obiectiva hat insgesamt keinen größeren Realitätsgrad als derjenige, der zu meiner eigenen realitas formalis gehört, so daß die in den ideae klar und deutlich vorgestellten Wesensbestimmungen der Körper ihre Ursache in meiner https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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eigenen realitas formalis haben könnten. Aufgezeigt wird dies von Descartes im 21. Abschnitt. Was ich in meinen Vorstellungen von den Körpern als deren Substanz, Dauer und Zahl sachhaltig als realitas obiectiva vorstelle, könnte aus der Vorstellung meiner selbst (ab idea mei ipsius) entlehnt sein. Stelle ich einen Stein in der sachhaltigen Bestimmung einer Substanz vor, so könnte die verursachende realitas formalis in mir selbst als res cogitans liegen. Denn ich stelle mich selbst als eine Substanz vor, wenn auch nicht als ausgedehnte, so doch als bewußtseinhabende Substanz. Was die Vorstellung von der zeitlichen Dauer der Körper anbetrifft , so könnte sie ihre korrespondierende realitas formalis in der Dauer meiner selbst haben. Denn ich bin mir meiner selbst bewußt als Jetzt und Jetzt existierend, so, daß zu meiner res cogitans das Dauern in der Zeit gehört. Zwar ist die vorgestellte Dauer der Körper die Raum-Zeit, während die Dauer, in der ich mir selbst als bewußtseinhabende Substanz gegeben bin, die Bewußtseinszeit ist, die in der II. Meditation mit der cogitatio vergewissert wurde. Was schließlich meine Vorstellung von der auf die Körper bezogenen Zahl angeht, so erkenne ich die Anzahl meiner Vorstellungen. Die idea von meiner Dauer und die idea meiner Anzahl von Bewußtseinsweisen könnte ich auf meine ideae von den Körpern und deren Dauer und Zahl übertragen haben. Daß meine Vorstellungen von der Substanz, der Dauer und der Zahlbestimmtheit der Körper ihre herkünftige realitas formalis in der realitas formalis meiner selbst als res cogitans haben könnten, ist freilich leichter einzusehen als für die übrigen sachhaltigen Wesensbestimmungen der Körper, die in besonderer Weise zum Raum gehören: Ausdehnung, Gestalt, Lage, Ortsbewegung. Von diesen raumbezogenen Bestimmungen die Denkmöglichkeit aufzuzeigen, daß auch ihre realitas obiectiva die verursachende realitas formalis in meiner eigenen realitas formalis haben könnten, ist deshalb schwieriger, weil meine realitas formalis als cogitatio verfaßt ist, die doch für Descartes streng von der extensio geschieden ist. Weil aber andererseits Descartes’ Fragestellung allein von der Perspektive der Realitätsgröße geleitet ist, kann er sagen: Zwar können die in der Weise der realitas obiectiva vorgestellten sachhaltigen Bestimmungen der Ausdehnung, Gestalt, Lage und Ortsbewegung ihre sie verhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ursachende realitas formalis in mir selbst nicht in gleicher Weise enthalten (formaliter non continentur). Denn meine realitas formalis ist das Bewußtsein und nicht die räumliche Ausdehnung. Weil aber die Raumbestimmungen nur gewisse Bestimmungen der räumlichen Substanz sind (die Vorstellung von der Substanz der Körper aber ihre realitas formalis in mir selbst als Substanz haben kann), so könnten die zur Räumlichkeit gehörenden vorgestellten Wesensbestimmungen ihre verursachende realitas formalis in einer vollkommeneren Weise (eminenter) in der realitas formalis meiner substantia cogitans haben. Die Realitätsstärke der res cogitans (als substantia cogitans) ist somit größer und vollkommener als die Realitätsstärke der substantia extensa.

d) Die idea Dei und ihre realitas obiectiva. Ihre realitas formalis als notwendige Existenz der göttlichen Substanz Daß die als realitas obiectiva vorgestellte raum-zeitlich-materielle Welt des körperlich Seienden ihrer vorgestellten Realitätsgröße nach eine bloße vorstellungsmäßige Hervorbringung meiner res cogitans und deren realitas formalis sein könnte, besagt: Für die Welt des körperlich Seienden, die nicht an der Seinsweise meiner vergewisserten ichlichen Bewußtseinssphäre Anteil hat, gibt es für Descartes keine unmittelbare gewisse Erkenntnis von deren bewußtseinsäußerer Existenz. Weder ist der erkennende Überstieg aus der Bewußtseinsimmanenz in die Bewußtseinstranszendenz noch ist die zu erkennende bewußtseinsäußere existentia und essentia des körperlich Seienden unmittelbar gewiß. Von der Transzendenz-Frage her gesprochen besagt das, daß der transzendierende Überstieg zur Körperwelt sich nicht aus sich allein vollziehen kann, daß somit ein transzendierender Erkenntnisbezug zur Körperwelt eines ihn selbst ermöglichenden und deshalb ursprünglicheren Transzendenzbezuges bedürfte, der die Transzendenz zur Körperwelt fundiert und trägt. Das ist die Ausgangssituation für den jetzt anstehenden entscheidenden Gedankenschritt. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Es ist die Prüfung der idea Dei und deren realitas obiectiva, ob diese etwas ist, das nicht von mir selbst und meiner realitas formalis hervorgebracht werden konnte (an aliquid sit, quod a me ipso non potuerit proficisci) (22. Abschnitt). Für diese Prüfung werden die in der Vorstellung Gottes vorgestellten Wesensprädikate Gottes vergegenwärtigt und in ihrer Realitätsstärke betrachtet. Schon im 13. Abschnitt hatte Descartes den Gehalt der realitas obiectiva in der idea Gottes auseinandergelegt: einen höchsten Gott (summum aliquem Deum) als den ewigen (aeternum), unendlichen (infinitum), allwissenden (omniscium), allmächtigen (omnipotentem) Schöpfer aller Dinge, die außer ihm selbst sind (rerum omnium, quae praeter ipsum sunt, creatorem). Jetzt im 22. Abschnitt zählt Descartes auf: eine unendliche (infinitam), unabhängige (independentem), allwissende (summe intelligentem), allmächtige (summe potentem) Substanz (substantiam), von der sowohl ich selbst geschaffen bin als auch alles andere, wenn etwas anderes vorhanden ist, was auch immer vorhanden ist, geschaffen ist. In meinem Begriff von Gott stelle ich eine Un-endliche Substanz vor. Diese Un-endlichkeit der göttlichen Substanz legt sich in die aufgezählten Wesensbestimmungen, die alle an der Un-endlichkeit teilhaben, auseinander. Die Unabhängigkeit nennt die Ungeschaffenheit der göttlichen Substanz, während die anderen Substanzen, die bewußtseinhabende und die ausgedehnte Substanz, von der unendlichen göttlichen Substanz abhängig sind. Diese in die göttlichen Wesensprädikate auseinandergelegte realitas obiectiva meiner idea Dei ist so beschaffen, daß sie, je sorgfältiger ich sie betrachte, desto weniger von mir allein (und meiner realitas formalis) herrühren kann. Die in der realitas obiectiva vorgestellten göttlichen Wesensbestimmungen überragen die Realitätsstärke meiner realitas formalis in unendlicher Weise. Descartes kommt zu dem Ergebnis, das er zunächst nur ausspricht, um es anschließend des näheren zu begründen, daß man aus allem Vorhergesagten folgern müsse, daß Gott notwendig existiert (Ideoque ex antedictis Deum necessario existere est concludendum). Die so ausgesprochene Einsicht in den notwendig existierenden Gott ist nicht das Ergebnis eines eigentlichen Vernunftschlusses mit Obersatz, Untersatz und Schlußhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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satz. Daher ist das concludere hier besser durch ›folgern‹ als durch ›schließen‹ zu übersetzen. Auch das ›Folgern‹ ist hier kein logisches Folgern, sondern ein ›einsehendes‹ Folgern. Das einsehende Folgern oder folgernde Einsehen hat intuitiven Charakter. Denn es ist eine unmittelbare geistige Schau dessen, wie die realitas obiectiva meiner idea Gottes die realitas formalis meiner res cogitans nicht nur überhaupt, sondern in unendlicher Weise überragt. Die unendlich größere Realitätsstärke dessen, was in der idea Gottes vorgestellt wird, drängt sich im geistigen Anschauen umso überragender auf, desto länger ich über die Unendlichkeit der Wesensbestimmungen nachdenke. Nun folgen in den sich anschließenden Abschnitten nähere Begründungsschritte für die intuitive Einsicht in die notwendige Existenz Gottes. Diese Begründungsschritte sind in der Mehrzahl Widerlegungen von Einwänden gegen diese für den sicheren Fortgang der Bewußtseinsanalytik entscheidende Einsicht. In der realitas obiectiva meiner idea von Gott stelle ich eine göttliche Substanz vor. Insofern ich aber selbst eine Substanz, und zwar eine bewußtseinhabende, bin, gehört zu meinen eingeborenen ideae auch die idea substantiae. Da ich aber in meiner idea Gottes die unendliche Substanz (substantia infinita) vorstelle, kann meine substantia cogitans als endliche Substanz (substantia finita) nicht die korrespondierende realitas formalis für die ideaimmanent vorgestellte unendliche Substanz Gottes sein (23. Abschnitt). Gegen die Vorstellung des Unendlichen könnte eingewendet werden, daß ich das Unendliche (infinitum) nicht durch eine wahre Vorstellung (non percipere infinitum per veram ideam) von der Unendlichkeit als solcher, sondern nur durch die Negation des Endlichen erfasse (per negationem finiti) (24. Abschnitt). In diesem Falle wäre die Vorstellung des Unendlichen eine ›unwahre‹, weil das Vorgestellte dieser Vorstellung nur das negierte Endliche, nicht aber das positive Unendliche wäre. Diesen Einwand gegen das Unendliche weist Descartes zurück: Ganz im Gegenteil sehe ich ein (intelligo), daß in der ideaimmanent vorgestellten unendlichen Substanz mehr Realität ist als in der vorgestellten endlichen Substanz und daß deshalb das Erfassen des Unendlichen in mir das frühere als das Erfashttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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sen des Endlichen ist, daß somit das Erfassen Gottes früher ist als das Erfassen meiner selbst (ac proinde priorem in me esse perceptionem infiniti quam finiti, hoc est Dei, quam mei ipsius). Zweierlei wird von Descartes betont: 1. daß ich das Unendliche selbst in seiner Positivität in der idea Gottes vorstelle; 2. daß zwar nicht der Erkenntnis, aber der Sache nach meine Vorstellung vom Unendlichen meiner Vorstellung vom Endlichen voraufgeht, so daß das Endliche meiner substantia cogitans eine Einschränkung des Unendlichen ist. Damit beginnt sich die entscheidende Einsicht herauszubilden, daß es nicht das unbezweifelbare ego-cogito-me-cogitare-cogitatum ist, in dessen Selbstgewißheit die Gewißheit von der notwendigen Existenz Gottes gründet, so, als ob sich meine Gewißheit von Gott der Selbstgewißheit verdankt. Vielmehr verhält es sich umgekehrt. Als die Selbstgewißheit des ego cogito hinsichtlich seiner existentia und essentia (II. Meditation) als erste absolut unbezweifelbare Erkenntnis gewonnen war, schloß sie bereits mit der Endlichkeit ihrer selbst die Unendlichkeit des göttlichen Seins als der seinsmäßigen Herkunft des endlichen Seins ein. Das ist der Sinn dessen, daß das Begreifen des unendlichen Gottes dem Begreifen meiner selbst als des endlichen Seins vorhergeht. Meine idea von einem vollkommeneren Wesen, als ich es bin (idea entis me perfectioris) kann nicht aus mir als dem weniger vollkommenen Wesen hervorgehen, sondern geht (gemäß dem, was über das Verhältnis von realitas obiectiva und realitas formalis ausgeführt worden ist) notwendig von einem Wesen aus, das in Wahrheit und an ihm selbst vollkommener ist (necessario ab ente aliquo procedat, quod sit revera perfectius) (28. Abschnitt). Hier kann nun die Frage gestellt werden, ob ich selbst, der ich diese idea vom vollkommensten Wesen habe, existieren könnte, wenn kein solches Wesen existierte (an ego ipse habens illam ideam esse possem, si tale ens nullum existeret). Hierauf ist zu antworten: Wenn kein solches Wesen, das ich in der idea Gottes vorstelle, existieren würde, dann hätte ich nicht nur nicht die idea vom vollkommensten Wesen, sondern dann würde auch ich selbst nicht als ego cogito existieren, weil mir mit der Existenz des vollkommensten Wesens die Herkunft des endlichen Seins meines ego cogito und dessen Selbstgewißheit entzogen wäre. Nur https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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weil aufgrund meiner idea vom vollkommensten Wesen dieses Wesen an ihm selbst notwendig existieren muß, existiere ich mit meiner idea von diesem Wesen und vermag ich mich als ego cogito meiner unbezweifelbaren existentia und essentia zu vergewissern. Hier zeigt sich klar und distinct, daß meine unbezweifelbare Selbstgewißheit nicht sich selbst verdankt, daß diese nicht in sich selbst ruht und nicht auf sich selbst beruht, sondern daß sie als endliche Gewißheit ihre seinsmäßige Herkunft aus dem unendlichen Sein Gottes in sich einschließt. In der II. Meditation (6. Abschnitt) wurde von Descartes eigens die Zeitlichkeit meines Wirklichseins und Bewußtseins hervorgehoben. Ich existiere unbezweifelbar. Aber wielange? (quamdiu?) Solange ich Bewußtsein habe (quamdiu cogito), d. h. solange ich mir dessen bewußt bin, daß ich Bewußtsein habe-von. In dem zweimaligen quamdiu spricht sich die Bewußtseinszeit aus. Im 31. Abschnitt der III. Meditation bedenkt Descartes das Verhältnis der Zeitlichkeit meines Bewußtseinslebens zum unendlichen Sein Gottes. Man könne die gesamte Zeit meines Bewußtseinslebens (omne tempus vitae) in unzählige Teile (Jetzte und Jetztphasen) zerteilen (in partes innumeras dividi potest), deren jeder einzelne von den übrigen in keiner Weise abhängt (quarum singulae a reliquis nullo modo dependent). Die aufeinander folgenden Jetzte der eigenen Bewußtseinszeit hängen nicht derart voneinander ab, daß aus dem vorangehenden Jetzt notwendig das nächste Jetzt meiner Bewußtseinsexistenz folgt. Daraus, daß ich kurz zuvor gewesen bin, folgt nicht notwendig, daß ich jetzt auch sein muß (ex eo, quod paulo ante fuerim, non sequitur me nunc debere esse). Daß ich dennoch nach meinem Soebengewesen auch in einem neuen Jetzt existiere, ist nur dadurch möglich, daß eine Seinsursache mich in diesem neuen Jetzt gleichsam wieder schaffend ins Sein bringt, d. h. mich in meinem Sein erhält (aliqua causa me quasi rursus creet ad hoc momentum, hoc est, me conservet). Daß ich in meiner Bewußtseinszeit von Jetzt zu Jetzt existiere, verdanke ich meiner seinsmäßigen Herkunft, die mich von Jetzt zu Jetzt im Sein meines Bewußtseins erhält. Das mich von Jetzt zu Jetzt im Sein meines Selbstbewußtseins Erhaltende ist das vollkommenste Wesen, das ich in meiner idea Gottes vorstelle. Daß ich https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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von Jetzt zu Jetzt in meinem Sein schaffend erhalten werde, verweist auf die notwendige Existenz dieses mich erhaltenden Seins. Eine weitere Begründung für die notwendige Existenz Gottes gibt Descartes im 36. Abschnitt. Allein daraus, daß ich existiere und eine Vorstellung vom vollkommensten Wesen, d. i. Gottes, in mir ist, wird in einleuchtendster Weise bewiesen, daß auch Gott existiert (ex hoc solo, quod existam quaedamque idea entis perfectissimi, hoc est Dei, in me sit, evidentissime demonstrari Deum etiam existere). Allein aus dem Tatbestand, daß ich in unbezweifelbarer Weise mit der eingeborenen Vorstellung vom vollkommensten göttlichen Wesen existiere, ist erwiesen, daß Gott in seiner realitas formalis als Herkunft meiner Vorstellung von ihm notwendig existiert. Unbezweifelbar ist, daß ich existiere, ferner, daß die Vorstellung von Gott als dem vollkommensten Wesen in meinem Bewußtsein ist, ferner, daß die realitas obiectiva meiner Gottesvorstellung notwendig auf die göttliche realitas formalis als Herkunft der realitas obiectiva meiner Gottesvorstellung verweist, so daß Gott als diese Herkunft meiner idea Dei an ihm selbst notwendig existiert. Deshalb faßt Descartes im 38. Abschnitt die Kraft des bewußtseinsanalytischen Aufweises der notwendigen Existenz Gottes zusammen. Die ganze Kraft des Beweisgrundes (tota vis argumenti) besteht darin zu erkennen, daß ich mit der mir eigenen Natur, eine idea Gottes in mir zu haben, nur existieren kann, wenn auch Gott wirklich existiert (revera Deus etiam existeret). Denn die Existenz Gottes ist die notwendige Voraussetzung für meine bewußtseinsimmanente Vorstellung von ihm. Nur weil Gott wirklich existiert, stelle ich ihn in der realitas obiectiva meiner Vorstellung von Gott vor als jenes allervollkommenste Wesen, dem ich das Wirklichsein meines ego cogito verdanke. Gott existiert nicht, weil ich existiere, sondern ich existiere nur, weil Gott existiert. Obwohl die »Meditationen« ihre erste unbezweifelbare Erkenntnis in der Selbstgewißheit des ego cogito hinsichtlich dessen existentia finden, gründet nicht etwa die unbezweifelbare Gotteserkenntnis in der Selbsterkenntnis des ego cogito, sondern gründet umgekehrt die Selbsterkenntnis des ego cogito in der Existenz Gottes. Der Sache nach geht die Existenz Gottes der selbstvergewisserten Existenz meines ego cogito vorher. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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In der realitas obiectiva meiner idea Dei stelle ich alle Vollkommenheiten Gottes vor, mit denen Gott als die vollkommenste realitas formalis und als Herkunft meiner Vorstellung von ihm notwendig an ihm selbst wahrhaft existiert. Das ist das Ergebnis des vorausgegangenen bewußtseinsanalytischen Aufweises der notwendigen Existenz Gottes. In meiner idea Gottes stelle ich in der Weise der realitas obiectiva alle Vollkommenheiten Gottes vor, zu denen auch die Allgüte gehört (I. Meditation, 9. Abschnitt: summe bonus, bonitas). Von den Vollkommenheiten Gottes hebt Descartes hervor, daß ich sie, wenn ich sie in der realitas obiectiva vorstelle, nicht eigentlich begreifen, aber doch mit meinem Bewußtsein gewissermaßen berühren kann (omnes illas perfectiones, quas ego non comprehendere, sed quocumque modo attingere cogitatione possum). Wenn nun zu diesen Vollkommenheiten, in denen Gott an ihm selbst notwendig existiert, nicht nur die Allmacht (omnipotentia), sondern auch die Allgüte (bonitas) gehört, dann ist er keinen Schwächen unterworfen (nullis plane defectibus obnoxius) und dann ist es off enbar, daß dieser Gott kein betrügerischer Gott ist (patet illum fallacem esse non posse), kein Deus mendax, kein Deceptor, kein genius malignus. Der in seiner Allmacht und Allgüte notwendig an ihm selbst existierende Gott hat als Creator mich selbst mit meinem Verstand ins Sein gebracht. Die Allgüte Gottes als Seinsherkunft meines Verstandes schließt nunmehr die bislang denkbare Möglichkeit des Getäuschtwerdens aus. Damit ist aber der dritte, am weitesten tragende Zweifelsgrund (ratio dubitandi) aus der I. Meditation mit Gewißheit außer Kraft gesetzt. Dieses Zweifelsmotiv besagte: Weil der Seinsgrund meiner selbst als eines erkennenden Bewußtseins noch nicht in gesicherter Weise erkannt ist, könnte es sich um eine solche göttliche Seinsursache handeln, die mein Erkenntnisvermögen in einer Weise geschaffen hat, daß ich mich wesenhaft und auch dann täusche, wenn ich mit apodiktischer Gewißheit – wie in der Mathematik – zu erkennen meine. In diesem dritten Zweifelsmotiv wurden die beiden ersten Zweifelsmotive noch einmal überhöht. Wenn der zweite Zweifelsgrund die Hypothese aufstellte, daß auch die im Wachzustand meines Bewußtseins scheinbar erkannte Körperwelt in Wahrheit https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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eine nur in der Immanenz des Bewußtseins vorgestellte Körperwelt sein könnte und keine andere Geltung habe als die von Traumbildern, dann gab das dritte Zweifelsmotiv einen hypothetisch angesetzten Grund an für eine wesenhaft auf Täuschung angelegte Erkenntnis. Ist jetzt aber der dritte Zweifelsgrund zurückgewiesen, d. h. ist mit der aus dem Selbstbewußtsein stammenden Gewißheit erwiesen, daß der Seinsgrund meines erkennenden Bewußtseins das vollkommenste Wesen ist, dann besteht kein Motiv mehr für ein grundsätzliches Mißtrauen in mein auf Erkennen ausgerichtetes Bewußtsein. Dann aber wird auch das, was ich bezüglich der Körperwelt in meinen ideae klar und distinct erfasse, so an ihm selbst verfaßt und gegeben sein, wie ich es vorstelle und erfasse. Die korrespondierende realitas formalis kann nicht mehr in meiner eigenen realitas formalis beschlossen sein, sondern sie wird sich dort befinden, wo ich sie gemäß meiner Erkenntnisbeziehung setze. Die bewußtseinstranszendente Setzung von Körpern ist – soweit sie der Wahrheitsregel verpflichtet bleibt – keine Täuschung, der mein erkennen wollendes Bewußtsein ausgesetzt ist. Damit aber, daß sich jetzt auf dem Grunde des aus dem Selbstbewußtsein geführten Gottesaufweises ein Weg zeigt, wahre, in sich vergewisserte Erkenntnis auch in bezug auf die Körperwelt zu gewinnen, ist nicht etwa alles, was ich zu erkennen vorgebe, auch wirklich mit Gewißheit erkannt. Denn durch den aus der Selbstgewißheit geführten Gottesaufweis wird die Möglichkeit des gelegentlichen Irrtums nicht ausgeschlossen. Ausgeschlossen ist von jetzt ab nur, daß mein erkennendes Bewußtsein als ein wesenhaft sich täuschendes verfaßt sei. Es ist aber nicht bewiesen worden und es sollte auch nicht bewiesen werden, daß es innerhalb der menschlichen Erkenntnis überhaupt keinen Irrtum gebe. Wenn durch den Gottesaufweis der hypothetische Gedanke des wesenhaften Michirrens zurückgewiesen ist, bleibt der gelegentliche Irrtum im Erkenntnisvorgang ein Faktum. Aber dieser gelegentliche Irrtum in meinen Erkenntnis-Urteilen kann – nach dem jetzt durchgeführten Gottesaufweis – nicht auf einer gelegentlich mich täuschenden Einwirkung des Schöpfergottes, meines Seinsgrundes, beruhen. Es muß einen anderen Grund haben. Deshalb muß Descartes, bevor er in der V. und VI. Meditahttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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4. Kapitel: Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis

tion nachweisen wird, was wir mit Gewißheit von der essentia und existentia der Körper erkennen können, von den wahren und unwahren Urteilen handeln. Er muß zeigen, wodurch ein wahres Urteil von einem falschen Urteil unterschieden werden kann. Er muß ferner zeigen, wie ein unwahres Urteil zustandekommt, und wie ich mich davor hüten kann, ein unwahres Urteil zu fällen. Allem voran aber muß Descartes dartun, was ein Urteil als cogito überhaupt ist und wie sich ein Urteil, ein wahres oder falsches, überhaupt bildet. Das aber ist die Aufgabe der nun folgenden IV. Meditation. An einem früheren Ort hoben wir hervor: Bei dem bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis handele es sich um den spezifi sch cartesischen Gottesbeweis. Für diesen gibt es in der vorangehenden Geschichte der theologisch-philosophischen Gottesbeweise keinen Vorgänger. Der Grund dafür ist darin zu sehen, daß Descartes der erste ist, der in und aus der vergewisserten ichlichen Bewußtseinssphäre und der zu ihr gehörenden cartesianischen Epoché sein Philosophieren in Gang setzt. Der auf dem Weg einer ontologisch orientierten Bewußtseinsanalytik geführte Gottesaufweis unterscheidet sich von dem bekanntesten Gottesbeweis des Anselm v. Canterbury (1033– 1109)9, den erst Kant in seiner Transzendentalen Dialektik den ontologischen Gottesbeweis10 genannt hat. Dieser Beweis besagt: Weil Gott das vollkommenste Wesen ist, dem aufgrund seiner höchsten Vollkommenheit kein Wesensprädikat fehlen kann, die existentia aber auch ein Wesensprädikat ist, muß dieser Gott notwendig existieren. Ihm als dem vollkommensten Wesen kann die existentia nicht fehlen, weil er sonst nicht das vollkommenste Wesen wäre. Seine unendliche Vollkommenheit schließt schon seine existentia ein. Diesen Anselmischen Gottesbeweis greift auch Descartes auf, aber erst in der V. Meditation. Weil der ontologische Gottesbeweis nicht aus der selbstvergewisserten Immanenz der ichlichen Bewußtseinssphäre hinauszuführen vermag, konnte er von Descartes nicht in der III. Meditation für die anstehende Aufgabe eingesetzt werden. 9 Anselm v. Canterbury, Proslogion; ed. F. S. Schmitt OSB 1962: 2. Kapitel: Quod vere sit Deus; 3. Kapitel: Quod non possit cogitari non esse, pp. 84–87. 10 Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft ; ed. Raymund Schmidt 1956, A 591 ff., Β 619 ff.

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§ 15. realitas obiectiva – realitas formalis

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Deshalb hat auch der Anselmische Gottesbeweis für das cartesische Philosophieren keine den Meditationsweg tragende Bedeutung. Descartes mußte deshalb einen ganz neuen Beweis entwerfen, der auf dem von ihm neu gelegten Grund möglich wurde. Dieser neu gelegte Grund ist die in absoluter Gewißheit erkannte ichliche Bewußtseinssphäre, unbezweifelbar erkannt in ihrer existentia und essentia. Diese als Selbstbewußtsein verfaßte Bewußtseinssphäre wurde in der II. Meditation erkannt, dort aber noch ohne einen mitvergewisserten, die Bewußtseinssphäre transzendierenden Erkenntnisbezug zu anderem Seienden. In der III. bis zur VI. Meditation geht es Descartes darum, eine teils unmittelbare, teils mittelbare vergewisserte Verstandeseinsicht in den zur Bewußtseinssphäre gehörenden mehrstufigen Transzendenz-Bezug zu gewinnen. Der Aufweis eines in sich gewissen transzendierenden Bezuges des Selbstbewußtseins zum nichtichlichen Seienden gelingt Descartes nur über seinen mit höchster Gewißheit geführten bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis.11 Dadurch, daß er die notwendige Existenz des göttlichen Seins aus der absolut gewissen Bewußtseinssphäre heraus mit Gewißheit dargetan hat, zeigt er mit der an der Selbstgewißheit teilhabenden Gewißheit, daß mein Bewußtsein, mein ego cogito me cogitare cogitatum, nicht ohne einen zu ihm selbst wesenhaft gehörenden transzendierenden Bezug verfaßt ist. Im transzendierenden Bezug der als Selbstbewußtsein verfaßten Bewußtseinssphäre übersteigt das Ich seine Immanenz-Sphäre. Das primäre Wohin seines Selbstüberstiegs ist der Schöpfergott. Der ursprüngliche, weil primäre übersteigende Bezug ist der ur-transzendierende Bezug zu Gott als dem Creator. Dieser urtranszendierende Bezug zum Schöpfergott gehört zur vollen Wesensverfassung meiner ichlichen Bewußtseinssphäre. Aufgrund der Apriorität (Eingeborenheit) meiner Gottesvorstellung ist meine Bewußtseinssphäre nicht nur als Selbstbezug verfaßt, sondern verfaßt als ein solcher Selbstbezug, der den urtranszendierenden Bezug zum Schöpfergott ein11 Siehe auch v. Herrmann 2004, 117–136. – Zur philosophischen Theologie Descartes’ siehe: Schmidt 1965, 128–145; Röd. 1982, 102–115 (kausaler Gottesbeweis); Marion 19912; Messinese 2007, 55–66; Perler 2006, 187 ff. (ideentheoretischer Gottesbeweis); Schäfer 2006, 224 ff. (egologischer Gottesbeweis).

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4. Kapitel: Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis

schließt. Dieser Gottesaufweis sagt nicht nur, daß der in der idea vorgestellte Gott notwendig als der Creator existiert, sondern er besagt zugleich auch, daß zur Wesensverfassung meiner cogitatio der urtranszendierende Bezug zum Schöpfergott gehört. Der Aufweis dieses urtranszendierenden Bezuges meines Bewußtseins zum Deus Creator dient nun seinerseits dem mit Gewißheit zu führenden Nachweis, daß ich in meinem Bewußtsein auch transzendierend-erkennend auf eine wahrhaft an ihr selbst existierende Körperwelt bezogen bin. Weil der urtranszendierende Bezug zum Schöpfergott das ursprüngliche Transzendieren ist, nennen wir ihn die Urtranszendenz der als Selbstbewußtsein verfaßten Bewußtseinssphäre. In der V. und VI. Meditation wird Descartes aufzeigen, wie in dieser Urtranszendenz meines Bewußtseins der transzendierende Erkenntnisbezug zur Körperwelt gründet.

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F Ü N F T E S K A PI T E L DE S C A RT E S ’ L E H R E VOM WA H R E N U N D U N WA H R E N U RT E I L

§ 16 Analyse des Urteils – reiner Verstand und freier Wille Im 5. Abschnitt der III. Meditation gab Descartes eine Klassifizierung der möglichen Bewußtseinsweisen (cogitationes) in drei Klassen oder Gattungen. Die dritte Gattung waren die iudicia, die Urteile. Diese Einteilung sollte auch der Klärung der Frage dienen, in welcher Gattung von cogitationes neben Wahrheit auch Unwahrheit im Sinne des Irrtums auftreten könne. Im 6. Abschnitt wurde als Ort für den möglichen Irrtum einzig die Klasse der Urteile benannt. Solange ich mich des bejahenden oder verneinenden Urteils enthalte und mich nur an das halte, was mir bewußtseinsimmanent in den ideae gegeben ist, d. h. was mir als das Gewollte oder Gefühlte oder nur Vorgestellte immanent bewußt ist, kann ich mich nicht irren. Als das Urteil als Ort für das mögliche Auftreten von Unwahrheit benannt wurde, mußte noch offen bleiben, ob und inwieweit das Urteilsvermögen, wenn es über das in den ideae Vorgestellte urteilend hinausgeht, wesenhaft falsch oder in ungesicherter Weise wahr urteilt. Es blieb offen, ob es auch wahre qua gewisse Urteile in bezug auf das bewußtseinstranszendente Seiende (die Körperwelt) geben könne. Vor allem blieb aber offen, was überhaupt ein Urteil als cogito ist. Erst in der IV. Meditation kommt es innerhalb der Bewußtseinsanalytik zur Analyse der Bewußtseinsweise des Urteilens.1 Es ließe sich die Frage stellen, ob diese Analyse nicht auch schon in der III. Meditation hätte durchgeführt werden können – im An1

Vgl. Perler 2006, 157 ff.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

schluß an die Feststellung, daß das Urteil der Ort für den möglichen Irrtum ist. Die Antwort auf diese Frage muß aber lauten: nein! Denn allem zuvor bedurfte es des Nachweises, daß die Seinsursache meines erkennenden Bewußtseins kein mich täuschender Gott ist, sondern das allervollkommenste Seiende. Dessen höchste Vollkommenheit schließt die Möglichkeit aus, daß ich als erkennendes Bewußtsein dergestalt ins Sein gebracht bin, daß ich auch dort, wo ich mit Gewißheit anderes als mich selbst zu erkennen meine, mich täusche. Erst nachdem der aus der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins erfolgte Gottesaufweis geführt ist, steht für Descartes fest, daß mein Urteilsvermögen nicht von Hause aus ein Vermögen des wesenhaften Sichirrens ist, sondern daß es unter der Voraussetzung seines rechten Gebrauches wahre als gesicherte Urteile auch in bezug auf die Bewußtseinstranszendenz ermöglicht. Die Vermeidung unwahrer Urteile hängt daher allein von mir und meinem rechten Gebrauch der Urteilsfähigkeit ab. Der gelegentlich auftauchende Irrtum in meinen Erkenntnisurteilen hat seinen Grund nicht im Urteilsvermögen als solchem und nicht in dessen Seinsgrund, sondern in der Weise, wie ich urteile. Das Urteilsvermögen in rechter Weise gebrauchen verlangt, daß ich Einsicht habe in den Unterschied zwischen dem rechten und dem unrechten Gebrauch. Wenn es an mir liegt, mein Urteilsvermögen in rechter oder unrechter Weise in Vollzug zu setzen, hat die mir mögliche Vermeidung des Irrtums vermutlich etwas mit meiner Freiheit zu tun. Um aber den rechten vom unrechten Gebrauch meines Urteilsvermögens unterscheiden zu können, bedarf es einer Analyse des Urteilsvermögens als solchen. Was ist ein Urteil? Wie vollziehe ich die urteilende Bewußtseinsweise? Die bewußtseinsanalytische Untersuchung des urteilenden cogito als iudico beginnt im 8. Abschnitt der IV. Meditation. Wir nennen die Analyse des Urteils eine bewußtseinsanalytische, weil auch diese Analyse innerhalb der Bewußtseinsimmanenz und der cartesianischen Epoché durchgeführt wird. Diese Bewußtseinsimmanenz wird in der methodischen Haltung des Zweifels, eben der cartesianischen Epoché, und in der darin durchgeführten absoluten Selbsterkenntnis gewonnen. Die meditative Haltung des methodischen Zweifels, der cartesianischen Epoché, ist aber jene Grundhaltung, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 16. Reiner Verstand – reiner Wille

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in der alle philosophierenden Schritte der Meditationen Descartes’ vollzogen werden. Im 8. Abschnitt heißt es: Trete ich mir näher und prüfe ich, wie meine Irrtümer eigentlich beschaffen sind, so merke ich, daß sie von zwei gleichzeitig zusammenwirkenden Ursachen (a duabus causis simul concurrentibus) abhängen: 1. von meiner Erkenntnisfähigkeit (facultas cognoscendi) und 2. von meiner Fähigkeit zu wählen (facultas eligendi), d. h. von meiner Freiheit der Entscheidung (libertas arbitrii). Die Erkenntnisfähigkeit ist der Verstand (intellectus), das Vermögen der freien Entscheidung der freie Wille (voluntas). Meine Irrtümer beruhen auf den gleichzeitig zusammenwirkenden Vermögen des Verstandes und des freien Willens. Meine Irrtümer – sagt Descartes und meint meine unwahren Urteile. Die Analyse des urteilenden Bewußtseins setzt also beim unwahren Urteil ein, nicht aber, um nur den Grund für die Unwahrheit dieses Urteils freizulegen, sondern um jene Momente aufzudecken, die ein Urteilen überhaupt konstituieren. Sagt Descartes, Verstand und freier Wille seien die beiden gleichzeitig zusammenwirkenden Vermögen für meine unwahren Urteile, dann deckt er damit die beiden Konstituentien nicht nur der unwahren Urteile auf, sondern eines jeden Urteils überhaupt. Der Unterschied zwischen einem unwahren und einem wahren Urteil wird sich herausstellen als ein Unterschied in der Art, wie diese beiden Konstituentien zusammenfungieren. Die Unterscheidung der beiden Vermögen, die am Aufbau eines Urteilsaktes teilhaben, müssen wir zusammendenken mit dem, was Descartes im 5. Abschnitt der III. Meditation über das Urteil gesagt hat: daß ich mir im urteilenden Bewußtsein zwar irgendeine Sache als die, über die geurteilt wird, vorstelle in der Weise der idea, daß ich aber in meinem urteilenden Bewußtsein noch mehr umfasse als nur die Vorstellung einer Sache. Das vorstellende Bewußtsein ist die idea als das Vorstellen eines Vorgestellten. Was in meinem urteilenden Bewußtsein über das bloße Vorstellen des zu Beurteilenden hinausgeht, der freie Wille, muß notwendig zu jenem Vorstellen hinzukommen, damit sich die Bewußtseinsweise des Urteilens vollziehen kann. Descartes nennt an erster Stelle mein Vermögen der Erkenntnis, das er als den Verstand erläutert. An zweiter Stelle nennt er das Verhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

mögen des frei entscheidenden Willens. Diese Folge ist nicht zufällig. Denn sie macht deutlich, daß es sich um eine Fundierung handelt. Zwar fungieren beide Vermögen, beide Bewußtseinsweisen, in einem Urteil in einem zumal (simul). Das aber schließt nicht aus, daß sie in einer bestimmten Ordnung zusammenwirken. Diese Ordnung ist eine Fundierung. Zuunterst fungiert der reine Verstand in seinem percipere und darauf gründend die freie Willensentscheidung. Dieses Fundierungsverhältnis besagt, daß die freie Willensentscheidung nur auf dem Grunde dessen fungieren kann, daß ihr durch das Erkenntnisvermögen etwas vorgegeben wird, in bezug worauf der freie Wille entscheiden kann. Welche Funktion hat der Verstand im konstitutiven Aufbau eines Urteils? Hierzu heißt es im 8. Abschnitt : Durch den Verstand allein erfasse ich (percipio) nur die ideae, in bezug auf welche ich ein Urteil fällen kann. Durch den Verstand in seiner ihm eigenen Funktion des Erfassens erfasse ich die idea. Die deutsche Übersetzung von Buchenau sagt für percipio ›ich nehme wahr‹. Diese lexikalisch richtige Übersetzung bleibt jedoch sachlich ungenau. Das percipio ist dasselbe, das uns in der allgemeinen Wahrheitsregel als das klare und distincte Erfassen oder Einsehen durch den Verstand begegnet war. Deshalb verwendet Descartes gelegentlich für percipio auch intelligo. Das intelligo und percipio des Verstandes sind dasselbe: die ausgezeichnete Art, wie sich der Verstand vorstellend auf sein bewußtseinsimmanent Vorgestelltes richtet. Das im Aufbau des Urteils fundierende Vorstellen eines Vorgestellten, die fundierende idea, ist also nicht ein einfaches Vorstellen wie das Wahrnehmen oder Vergegenwärtigen, sondern ein Vorstellen in der Weise des klaren und distincten Einsehens und Erfassens. Die im Aufbau des Urteils fundierende idea ist die perceptio als das percipio eines perceptum. Die perceptio bzw. das percipere ist selbst ein Modus der ideae, gehört also zur ersten Gattung der cogitationes. Der Verstand erfaßt die idea als perceptum. Er ist in der Weise des Erfassens auf die idea als das perceptum gerichtet. Das erfassende Sichrichten auf die idea als perceptum ist die Eigenleistung des Verstandes. Doch diese allein führt noch nicht zu einem Urteil. Wir sagten, mit dem, daß in einem Urteil eine idea als ein percephttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 16. Reiner Verstand – reiner Wille

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tum gegeben sein muß, greife Descartes auf das zurück, was er im 5. Abschnitt der III. Meditation angedeutet hatte: daß auch in einem Urteilsakt eine idea als fundierende Bewußtseinsweise konstitutiv ist. Galt dies aber nicht auch für die zweite Bewußtseinsklasse der willentlichen und gefühlsmäßigen Akte? Ist dann in beiden Klassen die idea in ein und derselben Weise fundierend? Beziehe ich mich in einem Wunschakt in derselben Weise auf ein bewußtseinsimmanent Vorgestelltes wie in einem Urteilsakt? Bin ich in einem Gefühlsakt in gleicher Weise auf eine bewußtseinsimmanente idea gerichtet wie im Urteilen? Offenbar nicht. Im Akt des Fürchtens bin ich auf die idea entweder in der Weise des Wahrnehmens oder in der des Vergegenwärtigens bezogen. Die idea als das Vorgestellte ist entweder das wahrnehmend oder das vergegenwärtigend Vorgestellte. Das im Akt des Fürchtens fundierende cogito-cogitatum ist entweder das wahrnehmende Vorstellen eines Wahrgenommenen oder das vergegenwärtigende Vorstellen eines Vergegenwärtigten. Auf dem vergegenwärtigenden Vorstellen eines Vergegenwärtigten als eines Erwarteten baut sich die Bewußtseinsweise des Fürchtens auf, so, daß das Erwartete für mich das Furchtbare ist. In einem willens- oder strebensmäßigen Akt und in einem Gefühlsakt bin ich, was die fundierende Bewußtseinsweise anbetrifft , in den Weisen des schlicht wahrnehmenden oder vergegenwärtigenden Vorstellens auf das Vorgestellte als das Wahrgenommene oder Vergegenwärtigte bezogen. Dagegen bin ich in einem Urteilsakt nicht in der Weise des erfahrenden Vorstellens, sondern in der Weise des verstandesmäßigen Erfassens (percipere) auf das Vorgestellte als ein Erfaßtes (perceptum) bezogen. Hier zeichnet sich ein gewichtiger Unterschied ab zwischen der fundierenden Vorstellung in den Willens- und Gefühlsakten einerseits und in den Urteilsakten andererseits. Jene Vorstellungen, die in den Willens- und Gefühlsakten die fundierende Schicht bilden, sind in der Regel schlichte Erfahrungsakte. Dagegen sind jene Vorstellungen, die in den Urteilen als fundierende Schicht fungieren, Akte des verstandesmäßigen Erfassens (percipere). Der Unterschied zwischen den sinnlich-erfahrenden Vorstellungen (ideae) und den verstandesmäßig erfassenden Vorstellungen (ideae) ist ein Unterschied https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

zwischen dem, wie die idea als das Vorgestellte in einem nichturteilenden Akt, und dem, wie sie in einem urteilenden Akt vorgestellt wird. Zwar gibt es ideae, die ausschließlich das Vorgestellte des verstandesmäßigen Vorstellens sind: die angeborenen, reinen Begriffe. Aber der Verstand kann sein rein denkendes Erfassen auch auf andere ideae richten: auf die von außen empfangenen und auf die selbstgebildeten ideae. Das verstandesmäßige Erfassen (percipere), das Erkennen (cognoscere), ist nicht nur überhaupt, sondern es ist eine ausgezeichnete Weise des verstandesmäßigen Vorstellens. Stelle ich den Begriff der Substanz vor, handelt es sich um ein verstandesmäßiges Vorstellen. Aber das Vorstellen der Substanz braucht selbst noch nicht ein solches zu sein, wie es in einem Urteilsakt als einem erkennend-erfassenden Akt fungiert. Erst wenn ich meinen Verstand eigens auf die vorgestellte Substanz richte, um diese als idea hinsichtlich dessen, was sie ist, zu erfassen, handelt es sich um das verstandesmäßige Erfassen der idea als perceptum, das im Urteil fundierend ist. Ähnlich verhält es sich auch, wenn ich das verstandesmäßig erfassende Vorstellen auf eine idea adventicia richte. Im sinnlichen Vorstellen beziehe ich mich auf ein sinnlich Vorgestelltes als idea adventicia. Richtet sich das Erfassen des Verstandes auf das sinnlich Vorgestellte, dann geschieht etwas mit dem sinnlich Vorgestellten. Es wird jetzt zum cogitatum des verstandesmäßig erfassenden cogito, zum perceptum des percipio. Dadurch ist die inhaltlich identische idea nicht mehr in der Weise Vorgestelltes wie im schlichten sinnlichen Vorstellen, sondern das Vorgestellte (perceptum) eines vorstellenden Erfassens (percipio). Das Erfassen des Verstandes ist ein klares und distinctes Erfassen (clare et distincte percipere). Das klare Erfassen erläuterte Descartes als dasjenige, das etwas praesentiert und im Praesentieren unverdeckt sein läßt (clara perceptio als praesens et aperta perceptio). Das praesens meint das Praesentieren als Zur-Gegebenheit-bringen. Das aperta bedeutet das ausdrückliche Offenbar- und Unverdeckt-seinlassen. Das ZurGegebenheit-bringen und Unverdecktseinlassen sind die Leistungen des verstandesmäßigen Einsehens, Erfassens, Erkennens. Das deutliche Erfassen kennzeichnete Descartes als ein solches, daß das https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 16. Reiner Verstand – reiner Wille

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Zur-Gegebenheit-gebrachte und Offenbar-gemachte in die Abgehobenheit seiner unterschiedenen Bestimmungen bringt. Distinctus hatte er deshalb erläutert als sejunctus (getrennt) und als praecisus (abgehoben). Wenn sich das Erfassen durch den Verstand auf die idea eines sinnlichen Vorstellens richtet, geschieht etwas mit dieser idea: das Zur-Gegebenheit-bringen, Unverdecktseinlassen und Indie-Abgehobenheit-bringen. Diese drei Weisen sind die Leistungen des percipere, die sich auf die bewußtseinsimmanente idea als das perceptum richten. Freilich ist nicht jedes verstandesmäßige Erfassen auch ein gelingendes klares und distinctes Erfassen. Nicht jedes Erfassen meines Verstandes ist eine clara et distincta perceptio. Aber jedes verstandesmäßige Erkennen intendiert ein klares und deutliches Erfassen. Ein Urteil ist jedoch erst dann gegeben, wenn zum verstandesmäßigen Erfassen die freie Willensentscheidung hinzukommt. Das könnte uns zunächst befremden. Was hat die freie Willensentscheidung mit einem Erkenntnisurteil zu tun? Man möchte einwenden, daß der freie Wille möglichst aus der Bildung von wahren Erkenntnisurteilen herauszuhalten sei. Ich kann doch nicht mit meinem Willen frei entscheiden, was wahr und was nicht wahr ist. Mein urteilender Verstand muß sich doch nach dem richten, was sich ihm aufgrund seines Erfassens in der erfaßten idea darbietet. Was soll hier die freie Willensentscheidung ausrichten? Hierzu sagt Descartes im 8. Abschnitt : Mit dem Verstand allein erfasse ich die ideae hinsichtlich dessen, was in ihnen beschlossen liegt. Über das so in den ideae Erfaßte fälle ich ein Urteil. Dieses Fällen ist aber Sache der freien Willensentscheidung. Ferner sagt Descartes: Wenn ich den Verstand genau nur so in seinem erfassenden Gerichtetsein auf die idea betrachte, findet sich keine Unwahrheit in ihm (nec ullus error proprie dictus in eo praecise sic spectato reperitur). Es findet sich im bloßen verstandesmäßigen Erfassen auch keine geurteilte Wahrheit. Denn Wahrheit oder Unwahrheit gibt es nur im Urteil. Um etwas als wahr oder als unwahr zu setzen, muß ich ein Urteil fällen. Nach Descartes fälle ich ein Urteil, wenn ich das, was mir der Verstand in seinem Erfassen als Erfaßtes vorlegt, bejahe oder verneine. Bejahen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

und Verneinen sind Vollzugsweisen meines freien Entscheidungsvermögens. Der Wille (voluntas) bzw. die Freiheit der Entscheidung2 (libertas arbitrii) besteht darin, daß wir etwas tun oder auch nicht tun können (vel facere, vel non facere), daß wir es befolgen oder meiden können (prosequi vel fugere), daß wir es bejahen oder verneinen können (affirmare vel negare). Daß das Tun- oder Nichttunkönnen und das Befolgen oder Meiden Weisen der freien Willensentscheidung sind, leuchtet ein. Daß aber das Bejahen oder Verneinen im Urteilen auch Formen der freien Willensentscheidung sein sollen, leuchtet zunächst nicht ohne weiteres ein. Denn gewöhnlich verbinden wir den freien Willen mit der moralischen Entscheidung und den Entscheidungen unseres praktisch-tätigen Handelns. Inwiefern kann Descartes das Bejahen und Verneinen, das nicht zur praktischen, sondern zur theoretischen Vernunft gehört, als ein freies Sichentscheiden ausgeben? Inwiefern ist das Bejahen in einem positiven Urteil ein freies Befolgen und das Verneinen im negativen Urteil ein freies Meiden? Der Verstand legt dem Entscheidungsvermögen sein Erfaßtes (perceptum) vor. Das Entscheidungsvermögen hat darüber zu befinden, ob das Erfaßte wahr oder nicht wahr ist. Im positiven Urteil sagt es: ja, so ist es. Im negativen Urteil sagt es: nein, so ist es nicht. Das verstandesmäßige Erfassen selbst vermag nicht als bloßes Erfassen zu sich selbst und seinem Erfaßten Stellung zu nehmen. Das Stellungnehmen ist ein Anerkennen (ja, S ist P) und ein Aberkennen (nein, S ist nicht P). Anerkennen und Aberkennen sind für Descartes Weisen der freien Willensentscheidung. Nur wenn diese zum verstandesmäßigen Erfassen hinzukommen, handelt es sich um ein Erkenntnisurteil. Hier drängt sich aber die Frage auf: Der freie Wille entscheidet mit Blick auf Maximen oder Kriterien. Welches Kriterium leitet den freien Willen, wenn er in bezug auf das verstandesmäßig Erfaßte (perceptum) bejahend oder verneinend entscheidet? Ferner ist zu fragen, inwiefern im Bejahen oder Verneinen der Wille frei ist. 2

Vgl. Messinese 2004, 197–201.

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§ 16. Reiner Verstand – reiner Wille

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Auf beide Fragen gibt Descartes im 8. Abschnitt unzweideutige Antworten. Denn er sagt: Wir werden zum Bejahen oder Verneinen, zum Befolgen oder Meiden dessen, was der Verstand uns als sein Erfaßtes vorlegt, dergestalt veranlaßt, daß wir uns von keiner äußeren Gewalt determiniert fühlen (a nulla vi externa nos ad id determinari sentiamus). Das Bejahen oder Verneinen erfahren sich insofern als frei, als sie sich durch keine äußere Macht zu der einen oder anderen Entscheidung getrieben wissen. ›Keine äußere Macht‹ heißt: kein Bestimmungsgrund, der außerhalb des Bezuges zwischen dem Willen und dem vom Verstand Erfaßten liegt. ›Durch keine äußere Macht bestimmt‹ heißt jedoch nicht, daß mein freies Entscheidungsvermögen ohne jede Leitung und ohne Kriterium, also willkürlich, die Entscheidung trifft . Das Kriterium für seine Entscheidung liegt aber innerhalb des Bezuges zwischen dem Entscheidungsvermögen und dem verstandesmäßig Erfaßten. Das Kriterium für die bejahende oder verneinende Entscheidung ist nichts anderes als die in der Wahrheitsregel geforderte Klarheit und Distinctheit des vom Verstand Erfaßten. Die Freiheit des Willens offenbart sich darin, daß ich den jeweiligen Grad der Klarheit und Distinctheit des Erfaßten prüfend erwägen kann. Dabei sieht sich mein Entscheidungsvermögen vor die Frage gestellt, ob im jeweils Erfaßten der höchst mögliche Grad an Klarheit und Distinctheit erreicht ist. Was mein Entscheidungsvermögen bei seiner Erwägung leitet, ist die Vernunft forderung, nur das als wahr und gewiß zu bejahen oder zu verneinen, was in höchster Weise klar und deutlich erfaßt ist. Diese Vernunftforderung ist daher der innere Bestimmungsgrund meines freien Willens. Dieser innere Bestimmungsgrund bestimmt meinen Willen nicht so, daß mein Wille überhaupt nicht anders kann als ihm zu folgen. Der innere Bestimmungsgrund hat nicht den Charakter der Determination. Die Indeterminiertheit meines Willens äußert sich darin, daß ich von der Vernunftforderung abzuweichen vermag. Hier liegt die Wurzel des Irrtums, des unwahren bejahenden oder verneinenden Urteils. Für Descartes steht der formal freie Wille unter der inhaltlich bestimmten Vernunftforderung. Diese Forderung anzuerkennen und ihr gemäß zu entscheiden, ist für Descartes die einzige Form, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

in der sich der freie Wille wesensgemäß verwirklicht. Der Wille verwirklicht seine Freiheit nicht in höchster Weise, wenn er von der Vernunftforderung abweicht, sondern nur dann, wenn er sich dieser Forderung unterwirft und bestrebt ist, ihr in höchster Weise zu entsprechen. Der Wille ist, wenn er sich dieser Vernunftforderung unterstellt und ihr gemäß seine theoretischen Entscheidungen in Form von bejahenden oder verneinenden Urteilen trifft , ein vernünftiger Wille. Nur als vernünftiger Wille ist er in höchster Weise freier Wille. Die Forderung der Vernunft bekundet sich in den theoretischen Entscheidungsfällen derart, daß Klarheit und Distinctheit eines Erfaßten mich dazu veranlassen, dieses so Erfaßte als wahr erkannt in Form eines bejahenden oder verneinenden Urteils zu setzen. Die ungenügende Klarheit und Distinctheit aber bewegen mich dazu, mich eines bejahenden oder verneinenden Erkenntnisurteils zu enthalten. Auch diese Enthaltung ist eine Weise, wie der Wille der Vernunftforderung entspricht und sich als freier Wille wesensgemäß verwirklicht. Ein bejahendes oder verneinendes Urteil wird also nur im Zusammenwirken des verstandesmäßigen Erfassens und des bejahenden oder verneinenden Entscheidens durch den freien Willen gebildet. Das bejahende und das verneinende Urteil nehmen die logischsprachliche Gestalt an: S ist P, S ist nicht P. Damit aber der geurteilte Sachverhalt diese sprachlich-logische Gestalt annehmen kann, muß er als solcher schon vorliegen. Ein geurteilter Sachverhalt liegt vor, wenn wir einen erkannten Sachverhalt in bejahender oder verneinender Weise als wahr erkannt setzen. In dem ›als wahr erkannt setzen‹ liegt das Moment des Fällens des Urteils – das Fällen als Leistung des freien Entscheidungsvermögens und als Zutat zu dem, was der Verstand leistet. Das Fällen eines Urteils muß nicht gleichbedeutend sein mit der logisch-sprachlichen Formulierung des gefällten Urteils. Die Urteilsformulierung ist etwas Nachträgliches. Ihr geht die willensmäßige Setzung des vom Verstand klar und distinct Erfaßten als eines wahr Erkannten voraus. Veranschaulichen wir uns Descartes’ Lehre vom wahren positiven und wahren negativen Urteil anhand von zwei philosophischen Erkenntnisurteilen der II. Meditation. Ein bejahendes Urteil lautet https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 17. Analyse des wahren und falschen Urteils

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dort: Ich als meditierendes Ich bin ein bewußtseinhabendes Seiendes. Dieser Satz ist ein bejahendes Urteil, weil meinem Ich (S) das Wesensprädikat des Bewußtseins (P) in bejahender Weise zugesprochen wird. Von meinem Ich (S) wird Etwas (P) bejahend ausgesagt. Zu diesem bejahenden Urteil gehört ein verneinendes: Ich bin nicht ein mit Hilfe der Einbildungskraft Imaginierbares. Hier wird meinem Ich (S) das Prädikat der Körperlichkeit (P) abgesprochen. Sowohl das bejahende wie das verneinende Urteil ist ein Erkenntnisurteil. Beide treten mit dem Anspruch auf Wahrheit qua Gewißheit auf. Dieser Anspruch ist das Resultat der freien Willensentscheidung, sofern diese Stellung genommen hat zu dem, was der Verstand ihr als sein Erfaßtes zur Entscheidung vorgelegt hat. Im bejahenden Urteil hat sich die Entscheidung niedergeschlagen: ja – so ist es. In dem verneinenden Urteil hat sich ebenfalls die Entscheidung niedergeschlagen: nein – so ist es nicht (Ich bin in meiner Ichheit kein imaginativ Vorstellbares). Dieses so sich aussprechende Urteil darf nicht mißverstanden werden. Die Entscheidung ›nein – so ist es nicht‹ ist nicht eine Stellungnahme zum vorliegenden negativen Urteil. Nicht soll gesagt werden: Nein, so wie im negativen Urteil verneinend ausgesagt wird, verhalte es sich nicht. Die im negativen Urteil liegende negative Entscheidung ›nein – so ist es nicht‹ will sagen: Es ist wahr, daß zur Ichheit meines Ich nicht die Körperlichkeit gehört, die ich imaginativ vorstellen und in ihrem Wirklichsein bezweifeln kann.

§ 17 Analyse des wahren und falschen Urteils Der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis führte zu dem Ergebnis, daß mein Urteilsvermögen nicht so ins Sein gebracht und beschaffen ist, daß es sich wesenhaft täuscht. Weil es seinen Seinsgrund im notwendig existierenden allervollkommensten Seienden hat, ist es so beschaffen, daß es unter der Voraussetzung seines rechten Gebrauches zu wahren qua gewissen Erkenntnisurteilen führt. Unter der Voraussetzung seines rechten Gebrauchs – das schließt die Möglichkeit des unrechten Gebrauchs ein. Ein unrechter Gebrauch ist der https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

Grund für ein unwahres Urteil. Durch den sicheren Nachweis, daß das vollkommenste Seiende der Seinsgrund meines geistigen Wesens ist, meiner cogitatio als intellectus, wird die Möglichkeit des Erkenntnisirrtums nicht ausgeschlossen. Die Entscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit ist mir nicht abgenommen. In jedem Fall eines zu fällenden Erkenntnisurteils bin ich vor die Entscheidung gestellt. In meinem Urteilsvermögen finde ich mich in die Möglichkeit gestellt, von diesem Vermögen einen unterschiedlichen Gebrauch zu machen. Es liegt an mir, ob ich die Urteilsfähigkeit in rechter oder unrechter Weise gebrauche. Die Möglichkeit eines unterschiedlichen Gebrauchs schließt zwei Grundmöglichkeiten ein, meine Urteilsfähigkeit zu aktivieren. Zwischen diesen Grundmöglichkeiten des rechten und unrechten Gebrauchs kann ich wählen. Wählen kann ich nur, wenn ich diesen beiden Möglichkeiten gegenüber frei bin. Damit wird offenkundig, daß das unwahre Urteil meiner Freiheit entspringt. Nicht nur das wahre Urteil, auch das unwahre Urteil, das selbst ein bejahendes oder verneinendes Urteil sein kann, entspringt meiner freien Entscheidung. Die freie Willensentscheidung ist das eine der zwei Vermögen, die in ihrem Zusammengehen den Urteilsakt bilden. So steht zu erwarten, daß das unwahre Urteil vor allem von meinem freien Entscheidungsvermögen abhängig ist. Der unrechte Gebrauch meines Urteilsvermögens besteht in einem unrechten Gebrauch meines freien Willens. Der 8. Abschnitt enthielt die allgemeine Analyse eines Urteils, in der die beiden konstituierenden Vermögen oder Fähigkeiten, Verstand und freier Wille, freigelegt wurden. Die Abschnitte 9–12 untersuchen den Ursprung der unwahren Urteile, den Unterschied also zwischen dem unrechten und dem rechten Gebrauch meiner Urteilsfähigkeit. Die Wurzel meiner unwahren Urteile liegt weder in der Wesensverfassung des einen noch in der Wesensverfassung des anderen Vermögens. Das Vermögen des frei entscheidenden Willens ist für sich betrachtet nicht der Grund für die Unwahrheit von Urteilen (nec vim volendi, quam a Deo habeo, per se spectatam causam esse errorum meorum) (9. Abschnitt). Denn das Willensvermögen ist sogar ein höchst umfassendes und in seiner Art vollkommenes Vermögen https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 17. Analyse des wahren und falschen Urteils

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(est enim amplissima atque in suo genere perfecta). Höchst umfassend ist es insofern, als es seinem Wesen nach uneingeschränkt ist. Seinem Wesen nach ist das Willensvermögen nicht auf einen begrenzten Bereich des Entscheidbaren eingeschränkt. Die Uneingeschränktheit des Willensvermögens wird deutlich, wenn wir es mit dem Verstandesvermögen vergleichen. Mein Verstandesvermögen ist im Vergleich mit dem Willensvermögen sehr klein und begrenzt. Was ich vermittels des Verstandes klar und distinct erfasse, ist – gemessen an dem, was sich einer klaren und distincten Erkenntnis entzieht – außerordentlich gering (Nam si […] facultatem intelligendi considero, statim agnosco perexiguam illam et valde finitam in me esse) (8. Abschnitt). Während mein Verstandesvermögen endlich ist, weil es nur einen Ausschnitt des Erkennbaren klar und distinct erfaßt, ist mein freies Willensvermögen an ihm selbst unendlich und unbegrenzt. Für Descartes ist der freie Wille seinem Begriffe und Wesen nach unbegrenzbar und unteilbar. Er besteht seinem begriff lichen Wesen nach im freien Zustimmen und im freien Aberkennen. Zu seinem Wesensbegriff gehört nicht das, was er bejaht und verneint. Für das Zustimmen und für das Ablehnen gibt es keine Grade des Mehr oder Weniger. Daher ist das Vermögen des freien Willens nicht einschränkbar. Diese Uneinschränkbarkeit des freien Willens ist der Grund dafür, daß Descartes sagen kann, der freie Wille sei in uns Menschen seinem Wesensbegriff nach derselbe wie in Gott. Allein den Willen oder die freie Entscheidung erfahre ich in mir so groß, daß ich die Vorstellung keiner größeren zu fassen vermag (Sola est voluntas sive arbitrii libertas, quam tantam in me experior, ut nullius maioris ideam apprehendam) (8. Abschnitt). Der Unterschied zwischen unserem und dem göttlichen Willen besteht nur darin, daß das Feld dessen, worauf wir unseren freien Willen erstrecken können, ein begrenztes ist, während das Feld für den göttlichen Willen unendlich ist. Mit Descartes müssen wir unterscheiden zwischen dem freien Willensvermögen in seinem Eigenwesen als dem freien Vermögen des Zustimmens und Ablehnens und dem Sachfeld, das ihm für seine zustimmenden und ablehnenden Entscheidungen vorgegeben https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

wird. Wenn das Sachfeld begrenzt ist, wie beim Menschen, wird dadurch das Vermögen des freien Willens nicht auch eingeschränkt. Begrenzt ist nur die Reichweite meines freien Willens. Das Vermögen meines freien Willens ist also für sich betrachtet nicht der Grund der unwahren Urteile. Aber auch das Vermögen der verstandesmäßigen Einsicht (vis intelligendi) ist für sich betrachtet nicht der Grund falscher Urteile. Man könnte zwar erwarten, daß der Verstand als ein nicht ebenso vollkommenes Vermögen wie der freie Wille der Grund für die falschen Urteile sei. Entgegen dieser Vermutung betont aber Descartes, alles, was ich verstandesmäßig einsehe, das sehe ich unzweifelhaft richtig ein, weil mein Verstandesvermögen gemäß dem Gottesaufweis so beschaffen ist, daß ich immer dann Wahres erkenne, wenn ich klar und distinct erfasse (neque etiam vim intelligendi, nam quidquid intelligo, cum a Deo habeam, ut intelligam, proculdubio recte intelligo) (9. Abschnitt). Wenn ich mittels des Verstandes etwas klar und distinct einsehe, kann ich mich in bezug auf das klar und distinct Eingesehene nicht täuschen. Dann ist es die Klarheit und Distinctheit meines Erfassens und Erfaßten, die mein freies Willensvermögen motivieren, das so Erfaßte auch als wahr qua gewiß anzuerkennen. In diesem Anerkennen vollziehe ich die Urteilsfällung eines positiven oder negativen wahren Urteils. Bis jetzt ist aber nur der Ursprung der wahren Urteile geklärt. Wenn beide Vermögen, die an der Bildung eines Urteils teilhaben, je für sich betrachtet nicht der Grund des falschen Urteils sind und wenn auch das Zusammenwirken beider Vermögen als solches nicht die Ursache für den Irrtum ist, wo liegt dann die Wurzel des unwahren Urteils? Descartes antwortet: Der Irrtum im Urteil entspringt einzig und allein daraus, daß ich meinen freien Willen, der sich seinem Wesen nach weiter erstrecken kann als der Verstand, nicht in die selben Grenzen einschließe, in denen sich der Verstand hält (nempe ex hoc uno, quod, cum latius pateat voluntas quam intellectus, illam non intra eosdem limites contineo, sed etiam ad illa, quae non intelligo, extendo) (9. Abschnitt). Der Irrtum entspringt daraus, daß ich den Willen in der Weise des Anerkennens und des Aberkennens auch auf solches ausdehne, was ich mit dem Verstand nicht klar und distinct eingesehen habe. Das bedarf der weiteren Erläuterung. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Daß sich der Wille in seinem Zustimmen und Ablehnen, Bejahen und Verneinen weiter erstreckt als der Verstand, besagt: Es ist dem Willen gegeben, auch solches bejahen und verneinen zu können, was vom Verstand entweder noch nicht genügend klar und distinct erkannt ist oder von ihm überhaupt nicht klar und distinct erfaßt werden kann. Der freie Wille ist seinem Wesensbegriff nach nicht in die Grenzen dessen eingeschlossen, was der Verstand klar und distinct erkennt. Wäre es so, daß der Wille in seinem Bejahen oder Verneinen nur auf das klar und distinct Erfaßte abgestimmt wäre, gäbe es keinen Irrtum. Dann aber wäre der Wille auch nicht mehr frei, er wäre durch die Grenzen des klar und distinct Erfaßten determiniert. Seinem Wesen nach verhält sich mein Wille gegenüber dem, was der Verstand nicht klar und distinct eingesehen hat, indifferent, so, daß er auch das bejahen und verneinen kann, was vom Verstand nicht klar und distinct erfaßt ist (ad quae cum sit indifferens, facile a vero et bono deflectit) (9. Abschnitt). Diese Möglichkeit ist Ausdruck des in formaler Hinsicht freien Willens. Inhaltlich gesehen ist der bejahende und verneinende Wille im Bereich der theoretischen Erkenntnis der Vernunft forderung unterstellt, nur dort zu bejahen und zu verneinen, wo das zu Bejahende und zu Verneinende ein vom Verstand klar und distinct Eingesehenes ist. Aber diese Vernunftforderung hat den Charakter eines Appells und nicht den eines determinierenden Zwanges. Ein solcher Zwang würde meinem Willen die Freiheit nehmen. Daher bleibt jedes Bejahen und Verneinen meines Willens in bezug auf ein klar und distinct Eingesehenes ein freies Sichentscheiden. Das gilt auch für den Fall, daß ich weder bejahe noch verneine, mich also des Urteils enthalte, weil das, in bezug worauf ich mich entscheiden soll, kein vom Verstand klar und distinct Erfaßtes ist. Wenn ich mich des bejahenden oder des verneinenden Urteils, also des Wahrheit setzenden Urteils, enthalte, bin ich der Forderung nachgekommen, meinen Willen bejahend oder verneinend nur dort zu betätigen, wo mir der Verstand ein klar und distinct Erfaßtes vorgelegt hat. Wie entsteht also das unwahre Urteil? Wenn ich in bezug auf ein perceptum bejahend oder verneinend entscheide, das kein clarum et distinctum perceptum, kein vom Verstand klar und distinct Erhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

faßtes ist. Solange ich zu dem nicht klar und distinct Erfaßten nicht bejahend oder verneinend Stellung nehme, handelt es sich nur um ein nicht klar und distinct Erfaßtes, nicht aber um ein Bejahtes oder Verneintes. Es handelt sich noch nicht um ein als wahr Gesetztes. Das nicht klar und distinct Erfaßte ist mir lediglich bewußt in der Weise einer idea. In dieser ist ein vom Verstand nicht klar und distinct Eingesehenes bewußt. Ich tue aber so, als ob es ein klar und distinct Erfaßtes sei, und stimme ihm bejahend oder verneinend zu. In einem solchen Fall kann ich zufällig das Wahre getroffen haben (casu quidem incidam in veritatem) (12. Abschnitt). Das ist dann der Fall, wenn sich eine Sache in der Tat so verhält, wie ich sie vorstelle, obwohl dieser Sachverhalt für mich nicht als klar und distinct erfaßter dasteht. Ebenso ist aber möglich, daß ich angesichts eines nicht klar und distinct Erfaßten ein falsches Urteil fälle, worin ich das als wahr setze, was mir in der nicht klaren und nicht distincten idea bewußt ist. Ich kann sogar der festen Meinung sein, ein wahres positives oder ein wahres negatives Urteil gefällt zu haben. Daß es ein unwahres Urteil war, erkenne ich nur durch nachträgliche Falsifi kation. Aber der Grund für mein zunächst gefälltes falsches Urteil liegt darin, nicht beachtet zu haben, daß das in der idea Vorgestellte, in bezug auf das ich Stellung genommen habe, nicht der allgemeinen Wahrheitsregel entsprochen hat. Um der Gefahr falscher Urteile zu entgehen, muß ich mich in meinem freien Entscheidungsvermögen unentschieden verhalten. Ich muß mich des bejahenden oder verneinenden Urteils enthalten (a iudicio ferendo abstineam) (12. Abschnitt). Ich muß mich setzender Urteile enthalten sowohl in bezug auf das, wovon der Verstand gar nichts versteht, wie auch in bezug auf das, was er zu der Zeit, in der der Wille das ihm Vorgelegte erwägt, noch nicht durchsichtig genug erkennt. Damit wird deutlich, daß das klare und distincte Erfassen des Verstandes ein Prozeß ist. Was der Verstand einsieht, braucht er nicht mit einem Schlage einzusehen. Er kann es schrittweise zur Einsicht bringen. Ist das klare und distincte Erfassen durch den Verstand ein Prozeß, dann gibt es auf dem Wege des Erfassens verschiedene Grade der Klarheit und Distinctheit. Aber Klarheit und Distinctheit eines Erfaßten ist nicht schon selbst die Urteilswahrheit, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 17. Analyse des wahren und falschen Urteils

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sondern nur die notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für die geurteilte Wahrheit. Denn um das klar und distinkt Erfaßte als ein wahr Erkanntes urteilend zu setzen, bedarf es des bejahenden oder verneinenden Entscheidens. Indem ich dieses in der Weise des Bejahens und Verneinens vollziehe, setze ich aufgrund der Klarheit und Distinctheit des Erfaßten, derer ich mich versichert habe, das als klar und distinct Vorgestellte als wahr in der Weises S ist P oder S ist nicht P. Erst in diesem Setzen fälle ich das Urteil. Erst der geurteilte Sachverhalt ist der als wahr gesetzte Sachverhalt. Solange eine idea als perceptum nicht ausreichend klar und distinct erfaßt ist, muß ich mich, um den Irrtum zu vermeiden, des als wahr setzenden bejahenden oder verneinenden Urteils enthalten. Nicht nur das in der Weise des Bejahens oder Verneinens sich vollziehende Stellungnehmen angesichts eines klar und distinct Erfaßten, sondern auch die Urteilsenthaltung in bezug auf ein nicht klar und nicht distinct Eingesehenes ist Ausdruck des rechten Gebrauches meiner Freiheit. Der rechte Gebrauch meiner Freiheit ist gleichbedeutend mit dem von Descartes genannten rechten Gebrauch meines Urteilsvermögens. Zwar schließt der rechte Gebrauch meines Urteilsvermögens eine klare und distincte Verstandeseinsicht ein. Aber ein Urteil fällen heißt, mittels des Willens bejahend oder verneinend das Erfaßte auch als wahr zu setzen. Erst durch die willentliche Entscheidung kommt es zu einem Urteil und möglicherweise zu einem unwahren Urteil, weil das Vorgestellte kein klar und distinct Erfaßtes ist. Der rechte Gebrauch meines Urteilsvermögens besteht deshalb vor allem im rechten Gebrauch meines Entscheidungsvermögens. Dieses gebrauche ich in rechter Weise, wenn ich es auf das höchst klar und distinct Erfaßte einschränke. Ich gebrauche es in unrechter Weise, wenn ich es über diese Schranke hinaus in Vollzug setze und etwas als wahr setze, was ich nicht in höchster Weise klar und distinct perzipiert habe. Descartes beschließt die IV. Meditation im 17. Abschnitt mit der Feststellung, daß ihm diese Meditation nicht nur negativ gezeigt habe, wovor er sich hüten müsse, um nicht zu irren, sondern auch positiv, was er zu tun habe, um zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Damit leitet er zur Thematik der V. und VI. Meditation über. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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5. Kapitel: Lehre vom wahren und unwahren Urteil

Gestützt auf den bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis einerseits und auf die Klärung des Ursprungs der unwahren und wahren Urteile andererseits kann er nunmehr untersuchen, was der Verstand in meinen ideae von den materiellen Körperdingen klar und distinct erfaßt. In bezug auf alles klar und distinct Erfaßte kann ich mittels des Willensvermögens Urteile fällen. In diesen Urteilen setze ich das klar und distinct Erfaßte als wahr. Das bedeutet bezüglich der materiellen Dinge, daß sie, soweit ich bezüglich ihrer ideae in mir wahre Urteile fällen kann, mit Wahrheit qua Gewißheit erkannt sind. Die jetzt anstehenden Untersuchungen, inwieweit wir die bewußtseinsäußeren Dinge in gesicherter Weise erkennen können, gliedern sich in die Frage nach dem Wesen (essentia) der Dinge und anschließend in die Frage nach dem Wirklichsein (existentia) der Körper. In der Blickbahn dieser ontologischen Gliederung innerhalb der Seinsverfassung des Seienden zwischen Wassein und Wirklichsein bewegte sich schon der meditative Zweifelsgang der I. Meditation.

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SECH S T E S K A PI T E L DI E WA H R E E R K E N N T N I S VOM W E S E N (E S S E N T I A) U N D DE N W E S E NS BE S T I M M U NG E N DE R KÖR PE R DI NG E . DE R Z W E I T E A L S DE R Ü BE R L I E F E RT E G OT T E S B E W E I S . DE S C A RT E S ’ O N TOL O G I E DE R S U B S TA N Z E N I M AU F R I S S

§ 18 Die unbezweifelbare Erkenntnis vom Wesen (essentia) und den Wesensbestimmungen der Körper Auf dem in absolut gesicherter Erkenntnis gewonnenen Seins- und Erkenntnisboden der ichlichen Bewußtseinssphäre hatte Descartes seinen Gottesaufweis durchgeführt. Dieser sollte den dritten Zweifelsgrund (ratio dubitandi) ausräumen: die hypothetisch angesetzte Möglichkeit einer solchen Seinsursache meines Erkenntnisvermögens, aufgrund deren ich mich in meinem Erkennen wesenhaft täusche. Der aus der vergewisserten Bewußtseinsimmanenz heraus geführte Gottesaufweis hatte gezeigt, daß die Seinsursache meines ego cogito me cogitare cogitatum das notwendig existierende vollkommenste göttliche Seiende ist. Damit wurde die Möglichkeit ausgeschlossen, daß mein nach gegenständlich gerichteter Erkenntnis strebender Verstand bloßen Täuschungen erlegen ist. Zugleich wurde auch die Allgemeine Wahrheitsregel in ihrer Anwendbarkeit auf das bewußseins-transzendente Seiende begründet. Jetzt erst kann ich ohne mögliche Zweifel die Wahrheitsregel zum alleinigen Kriterium für meine wahren Erkenntnisse erheben, die nicht nur mich selbst und meine ichliche Bewußtseinssphäre betreffen, sondern die die Immanenz dieser Seinssphäre übersteigen (transzendieren). Darin aber, daß es eine Wahrheitsregel gibt des Inhalts, daß alles das wahr ist, was der Verstand höchst klar und distinct erkennt, liegt https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

zugleich die Möglichkeit des Irrtums beschlossen. Denn die Wahrheitsregel sagt uns zugleich, was unwahr oder was zweifelhaft ist. Unwahr oder zweifelhaft ist alles das, was der Verstand nicht oder noch nicht oder überhaupt nicht klar und distinct erfaßt. Deshalb wurde eine grundsätzliche Besinnung nötig 1. auf das Wesen eines Urteils überhaupt, 2. auf die Voraussetzung für ein wahres Urteil und 3. auf den Grund eines unwahren Urteils. Zu Beginn des 1. Abschnitts der V. Meditation heißt es: Nachdem in der IV. Meditation erkannt wurde, wovor ich mich hüten muß, um kein falsches Urteil zu fällen, und was ich unternehmen muß, um ein wahres Urteil fällen zu können (quid cavendum atque agendum sit ad assequendam veritatem), muß ich nunmehr versuchen, mich aus den in der I. Meditation durchgeführten Zweifeln herauszuarbeiten (ex dubiis coner emergere). Diese methodischen Zweifelsgründe richteten sich auf das bewußtseinstranszendente Wirklichsein der Körper und deren empirisches Sobeschaffensein sowie auf die Wesensverfassung und die Wesensbestimmungen der materiellen Körper. Die Aufnahme der meditativ-methodischen Zweifelshaltung, also der cartesianischen Epoché, in der I. Meditation war – wie wir jetzt im Rückblick auf die IV. Meditation sagen können – der freie Entschluß, sich bejahender und verneinender und das heißt Wahrheit setzender Urteile bezüglich der Körperwelt zu enthalten. In diesem Entschluß machte das meditierende Ich von seinem freien Willen Gebrauch. Der Entschluß war bereits durch die Vernunftforderung motiviert, nichts in einem Urteil als wahr zu setzen (pro veris admittere), was nicht in unbezweifelbarer Weise, d. h. klar und deutlich, erfaßt und erkannt ist. Nachdem aber jetzt das meditierende Ich erkannt hat, wessen es bedarf, um in sich gewisse Erkenntnisurteile fällen zu können, muß es darauf sehen, inwieweit es bezüglich der materiellen Körper solche Erkenntnisurteile fällen kann (videamque, an aliquid certi de rebus materialibus haberi possit). Bevor das meditierende Ich die Frage nach der bewußtseinstranszendenten Existenz der Körper in der VI. Meditation erörtert, betrachtet es die ideae von den Körperdingen darauf hin, was in ihnen klar und distinct erfaßbar ist und was nicht (considerare debeo ilhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 18. Wesensbestimmungen der Körper

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larum ideas, quatenus sunt in mea cogitatione, et videre, quaenam ex iis sint distinctae, quaenam confusae) (2. Abschnitt). Die Untersuchung, in welchen ideae von den Körpern der Verstand etwas klar und distinct erfaßt, erfolgt in den Abschnitten 3 bis 6. Descartes zählt zunächst alles auf, was ich in den ideae von der Körpern ›distinct‹ erfassen kann. Daß er hier nur von dem ›distinct‹ Vorgestellten und nicht vom ›klar und distinct‹ Erfaßten spricht, braucht uns nicht zu irritieren. Denn wir wissen, daß Distinctheit notwendig die Klarheit voraussetzt. Spricht Descartes hier nur von der Distinctheit, dann handelt es sich lediglich um eine abkürzende Sprechweise. Distinct stelle ich mittels der Einbildungskraft vor (distincte imaginor, 3. Abschnitt) 1. die stetige Größe (quantitatem continuam) bzw. die Ausdehnung nach Länge, Breite und Tiefe dieser Größe (eius quantitatis extensionem in longum, latum et profundum) oder vielmehr der so und so großen Sache (rei quantae). Die continuierliche, in sich zusammenhängende räumliche Ausdehnung eines Körpers ist teilbar in kleine Teile, die ebenfalls räumlich ausgedehnt sind. An dieser distinct vorgestellten räumlichen Ausdehnung eines Körpers und seiner möglichen Teile stelle ich 2. klar und distinct vor die meßbaren Größen (magnitudines), 3. die räumlichen Gestalten (figuras), 4. die räumlichen Lagen (situs), 5. die Ortsbewegungen der Körper (motus locales) und 6. die zeitlichen Dauern (durationes), in denen sich die Körper und deren Teile von einem Ort zum anderen bewegen und die ebenfalls meßbar sind. Die im 3. Abschnitt aufgezählten sechs Bestimmungen kennen wir aus der I. Meditation. Dort wurde die räumliche Ausdehnung eines Körpers als seine natura, Wesensverfassung, bezeichnet. Die übrigen Bestimmungen wie Raumgröße, Gestalt, Lage usf., waren die Wesensbestimmungen (modi) des Körpers auf dem Grunde der Ausdehnung als seiner Wesensverfassung. Raumgröße, Gestalt, Lage und Ortsbewegung setzen den Raum als dreidimensionale Ausgedehntheit voraus. An der unumstößlichen Gewißheit dieser essentiellen Bestimmungen der Körper zu zweifeln (so, daß sie in ein Nichtsein umschlagen könnten) schien in der I. Meditation zuerst noch als unmöglich. Dann aber führte Descartes den noch ungewissen Seinsgrund meines Erkenntnisvermögens (meiner erkennenden https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

Geistnatur) in Gestalt eines mich möglicherweise täuschenden göttlichen Urhebers als ein nicht etwa willkürliches, sondern vernünftiges Zweifelsmotiv ein. Dieses dritte Zweifelsmotiv, das zunächst den möglichen Umschlag des Seins in ein Nichtsein einsichtig machte, ist jedoch inzwischen, nämlich in der III. Meditation, durch den bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus ist auch in gesicherter Weise die uneingeschränkte Geltung der Allgemeinen Wahrheitsregel erkannt, die zunächst noch auf die Bewußtseinsimmanenz eingeschränkt war. Daher muß Descartes in der V. Meditation zu dem sicheren Untersuchungsergebnis gelangen, daß das, was ich in meinen ideae von den Körpern als deren Wesensverfassung (essentia) und Wesensbestimmungen (modi essentiae) in der Weise der realitas objectiva vorstelle, weil ich es klar und distinct erfasse, auch an ihm selbst wahr ist. Was aber besagt diese in sich gewisse Erkenntnis in bezug auf die Wesensverfassung der Körper? Ist damit schon erwiesen, daß die Körper mit ihrer Wesensverfassung und ihren essentiellen Bestimmungen auch idea-transzendent wahrhaft existieren? Mit Descartes müssen wir auf diese Frage antworten: Nein. Denn die Frage, ob es idea-transzendente wirkliche Körper mit Gewißheit gibt, die als wirkliche räumlich ausgedehnt, so und so groß, so und so gestaltet sind usf., diese Frage wird erst in der VI. Meditation erwogen und schließlich positiv beantwortet. Die jetzt in der V. Meditation gesicherte Wahrheit der Wesensverfassung und Wesensbestimmungen von idea-immanent vorgestellten Körpern besagt nur dies: Was ich in meinen ideae als räumliche Ausdehnung, Größe, Gestalt usf. vorstelle, ist aufgrund der Klarheit und Distinctheit, in der ich alles dies erfassen kann, nicht das Produkt einer einbildenden Hervorbringung. Vielmehr handelt es sich um an ihnen selbst wahre Wesen und Wesensverhalte. Diese Wesenheiten werden von mir in Begriffen vorgestellt. Die Begriffe haben den Charakter des bewußtseinsimmanent Vorgestellten eines begriff lichen Vorstellens. Mein Begriff von der räumlichen Ausdehnung ist eine idea. Was ich in der idea als Ausdehnung vorstelle, bestimmt sich aus der Sachhaltigkeit der Ausdehnung, die die ursächliche realitas formalis ist. Die in der vorgestellten Ausdehnung https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 18. Wesensbestimmungen der Körper

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liegenden Bestimmungen sind es, an die sich mein Vorstellen anmißt. In dem in der idea vorgestellten Raum liegt die Eigengesetztlichkeit des Raumes und aller Raumverhältnisse, die ich vorstellend auseinanderlegen und erfassen kann. Diese Eigengesetzlichkeit ist eine Wesensgesetzlichkeit. Die Wesensgesetzlichkeit macht die Wahrheit des vorgestellten Raumes und seiner Verhältnisse aus, wie diese von der Geometrie thematisiert werden. Das gleiche gilt auch von den vorgestellten, den gedachten Zahlen und Zahlverhältnissen. Die an ihnen selbst bestehenden Wesensverhalte des vorgestellten Raumes und der vorgestellten Zahlen sind die idealen Wesensverhalte. Diese idealen Wesensverhalte sind aufgrund des cartesianischen Ansatzes bei der zunächst in sich geschlossenen ichlichen Bewußtseinssphäre vorerst nur bewußtseinsimmanent gedachte Verhalte. Ob es materielle Körper außerhalb der Bewußtseinssphäre mit Gewißheit gibt, die diesen räumlichen Wesensverhalten gemäß verfaßt sind, ist eine erst noch zu klärende Frage. Aber unabhängig von der Klärung dieser Frage ist in der V. Meditation in absolut gewisser Weise erkannt, daß alles das, was die Wesensverfassung von möglicherweise bewußtseins-transzendenten wirklichen Dingen bildet, in sich selbst unbezweifelbar wahr ist. Es ist in unbezweifelbarer Weise gewiß, daß es sich um Wesensverhalte handelt, die von den Vorstellungs- und Denkakten unabhängig sind. In dieser Unabhängigkeit beruht ihre Eigengesetzlichkeit. Die Eigengesetzlichkeit jener Wesensverhalte ist das, was jetzt in gesicherter Weise erkannt ist. Diese Sicherheit hat ihre Quelle in der Selbstgewißheit der ichlichen Bewußtseinssphäre. Descartes sagte im 3. Abschnitt : Ich stelle die extensio mittels der Einbildungskraft distinct vor. Ich stelle sie klar und distinct imaginativ vor. Sagten wir aber nicht im Zuge der Auslegung der IV. Meditation, daß ein wahres Erkenntnisurteil nur gefällt werden könne, wenn der Verstand das zu Beurteilende klar und distinct erfaßt hat? Also der Verstand und nicht die Einbildungskraft? Diese Schwierigkeit löst sich für uns auf, wenn wir uns daran erinnern, was wir schon früher betont haben: Zwar ist das verstandesmäßige Erfassen die Grundlage für ein zu fällendes Erkenntnisurteil. Aber nicht jedes verstandesmäßige Vorstellen muß den Charakter eines Erfashttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

sens haben. Das Erfassen zum Zwecke eines Erkenntnisurteils kann sich auch auf das zunächst nur verstandesmäßig Gedachte, z. B. auf die gedachte Substanz, richten, um das, was ich als Substanz denke, in einem Erfassen zur erforderlichen Klarheit und Distinctheit zu bringen. Die Wesensverfassung der Körper und deren Bestimmungen (Größe, Gestalt) sind für Descartes Begriffe, die der Verstand denkt. Somit müssen wir unterscheiden zwischen dem denkenden Vorstellen und dem erfassenden Vorstellen des Verstandes. Was der Verstand in Wesensallgemeinheit denkt (Raumgestalt, Dreieck, Kreis überhaupt), kann aber auch von der imaginatio in bewußtseinsimmanenten Bildern vorgestellt werden. Während ich mit dem Verstand den Begriff des Dreiecks in seiner Allgemeinheit denke, die alle möglichen Ausgestaltungen des Dreicks umfaßt, stelle ich in der Einbildungskraft je ein besonderes Dreieck vor. Ich habe ein inneres Bild, worin ich dieses oder jenes Dreieck imaginativ schaue. Der Verstand kann sich nun seinerseits nicht nur auf das von ihm denkend Vorgestellte (z. B. Substanz), sondern auch auf das von der Einbildungskraft gebildete Bild vom Dreieck richten in der Weise des Erfassens (percipere). Im Erfassen bringt er sich das imaginativ Geschaute zur unverdeckten Gegenwart (praesens et aperta), um die darin liegenden Wesensbestimmungen des Dreiecks in die Abgehobenheit (praecisa et sejuncta) zu bringen. Was zuerst nur idea und imago des einbildenden Vorstellens war, wird nunmehr zur idea als verstandesmäßig Erfaßtem. So erfüllt es die Forderung des in höchster Weise klar und distinct Erfaßtseins. Daher darf ich das Urteil fällen: Der klar und distinct erfaßte Wesensverhalt des Dreiecks ist etwas an ihm selbst Wahres und Gewisses. Aber dieses Erkenntnisurteil sagt noch nichts Gewisses darüber, ob es mit Gewißheit außerhalb des Bewußtseins materielle Körper gibt mit der Wesensbestimmung der räumlichen Gestaltetheit des Dreiecks. In den Abschnitten 4–6 entfaltet Descartes, was er im Abschnitt 3 über die klare und distincte Erfaßtheit der räumlichen Wesensverfassung und Wesensbestimmungen ausgeführt hat. Klar und distinct erfasse ich nicht nur die im 3. Abschnitt aufgezählten allgemeinsten Bestimmungen der Räumlichkeit und Zahlhaftigkeit und Bewegung im Raume. Ebenso klar und distinct erfasse ich auch alle https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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besonderen Bestimmungen, die sich aus den allgemeinsten herleiten lassen (Nec tantum illa sic in genere spectata mihi plane nota et perspecta sunt, sed praeterea etiam particularia innumera de figuris, de numero, de motu et similibus attendendo percipio, 4. Abschnitt). Ich erfasse klar und distinct nicht nur den Begriff von Raumgestalt überhaupt, sondern auch die Begriffe von Dreieck, Kreis, Quadrat, ferner die Begriffe vom gleichschenkligen oder stumpfwinkligen Dreieck. Das gleiche gilt für alle aus der Zahlenreihe sich ergebenden Zahlgesetze und Zahlverhältnisse. Den gesamten Inhalt der reinen Mathematik mit ihren Grunddisziplinen der Geometrie und Arithmetik erfasse ich mit höchster Klarheit und Distinctheit. Die Wahrheit (veritas) all dieser mathematischen Wesensverhalte ist so offenkundig (adeo aperta est) und entspricht so sehr meiner Geist-Natur (naturae meae consentanea, 4. Abschnitt), daß ich beim erstmaligen Lernen dieser Wesensverhalte nicht der Meinung war, irgendetwas völlig Neues aufzunehmen, sondern mich dessen zu erinnern, was ich zuvor schon wußte (eorum, quae iam ante sciebam, reminisci), d. h. zum ersten Mal auf das zu achten, was vorher schon in mir war (sive ad ea primum advertere, quae dudum quidem in me erant, 4. Abschnitt). Damit erweist sich für Descartes, daß das Wesenswissen ein eingeborenes, d. h. aber ein apriorisches Wissen ist. Damit sind jetzt die reinen mathematischen Wissenschaften, die in der I. Meditation mit Hilfe des dritten Zweifelmotivs in den methodischen Zweifel gezogen wurden, in unbezweifelbarer Weise vergewissert. Doch auch hier ist zu betonen: Vorläufig reicht die Gewißheit der idealen Sachverhalte der Mathematik nicht über die ideae von ihnen hinaus. Ob außerhalb der Bewußtseinssphäre eine materielle Körperwelt existiert, auf die die Mathematik anwendbar ist, ist noch nicht vergewissert. Vergewissert ist nur, daß jeder mathematische Satz der satzmäßige Ausdruck eines idealen Wesensverhaltes ist, dem sich mein Denken anmißt. Aufgrund des durchgeführten bewußtseinsanalytischen Gottesaufweises kann dieser ideale Wesensverhalt nicht mehr – wie in der I. Meditation – ein mir bloß vorgetäuschter sein. Im 5. Abschnitt geht Descartes ausdrücklich auf das unveränderliche Wesen der zur Räumlichkeit und zur Zahlhaftigkeit gehörenhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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den Bestimmungen ein. Ich habe in meinem Bewußtsein unzählige ideae von solchen res (Sachverhalten), die vielleicht nicht außerhalb meines Bewußtseins existieren, die aber dadurch nicht nichts sind (invenio apud me innumeras ideas quarundam rerum, quae, etiamsi extra me fortasse nullibi existant, non tamen dici possunt nihil esse). Gemeint sind hier alle möglichen geometrischen Figuren und arithmetischen Verhältnisse. Zwar liegt es in meinem Belieben, wann ich an welche geometrischen Figuren denke (et quamvis a me quodammodo ad arbitrium cogitentur). Dieses Belieben ist aber nicht zu verwechseln mit jenem anderen, wonach ich mir irgendwelche Phantasiegebilde ausdenke. Ein Dreieck kann ich nicht nur nicht mit dem Verstande willkürlich denken, ich kann es auch nicht mittels der Einbildungskraft willkürlich einbilden (non tamen a me finguntur). Beide Vermögen sind in ihrem Vorstellen, in ihrem Denken und Imaginieren, an die Wesensbestimmung des Dreiecks gebunden. In meinem Belieben steht nur, wann ich gemäß der Wesensbestimmung des Dreiecks ein solches denkend oder imaginierend vorstelle. Das Dreieck und alle anderen geometrischen Figuren haben ihre wahren und unveränderlichen Naturen (sed suas habent veras et immutabiles naturas). Diese Wesensnaturen sind es, die mein Denken und Imaginieren binden. Die Naturen der geometrischen Gegenstände sind für mein Denken und Imaginieren verbindlich. Ich stelle z. B. ein Dreick imaginativ vor (imaginor). Eine solche Figur mag vielleicht nirgend in der Welt, d. h. außer meinem Bewußtsein, existieren und je existiert haben (fortasse talis figura nullibi gentium extra cogitationem meam existat nec umquam exstiterit). Dennoch hat die Figur des Dreiecks eine bestimmte Natur, Wesenheit oder Form, die unveränderlich und ewig ist (est tamen profecto determinata quaedam eius natura, sive essentia, sive forma, immutabilis et aeterna). Hier haben wir eine Textstelle Descartes’, an der er unzweideutig sagt, daß er natura, forma und essentia gleichbedeutend für Wesen und Wesensverfassung im Unterschied zum Wirklichsein (existentia) verwendet. Dieses unveränderliche und ewige Wesen der geometrischen Figuren ist weder von mir ausgedacht noch hängt es von meinem Geiste ab (quae a me non efficta est nec a mente mea dependet). https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Wie aber beweist Descartes die Unabhängigkeit des im Begriff vom Dreieck gedachten Wesens des Dreiecks? Hierzu sagt er: Ich kann vom Dreieck verschiedene Wesenseigenschaften beweisen, etwa, daß seine drei Winkel stets zwei rechten Winkeln gleich sind oder daß seinem größten Winkel die größte Seite gegenüberliegt. Diese von mir demonstrierbaren Wesenseigenschaften – nachweisbar durch den Verstand und dessen klare und distincte Einsicht – erkenne ich klar und distinct, ob ich will oder nicht (quas velim nolim clare nunc agnosco). Dieses ›ob ich will oder nicht‹ ist Ausdruck dessen, daß ich in meinem verstandesmäßigen Erfassen mit dem geometrischen Sachverhalt auch die darin liegende Verbindlichkeit erfasse. Solange ich nur ein beliebiges Dreieck imaginativ vorstelle, vollziehe ich noch nicht die verstandesmäßige Erfassung von dessen Wesenseigenschaften. Zwar steht in meinem Belieben, welches besondere Dreieck ich mir jetzt imaginiere. Aber mit der Wahl eines besonderen Dreiecks fingiere ich weder das Dreieck als solches noch seine Wesenseigenschaften. Diese liegen im Begriff des Dreiecks beschlossen. Stelle ich mir mittels der Einbildungskraft ein Dreieck imaginativ vor, richtet sich mein Imaginieren nach dem, was der Verstandesbegriff des Dreiecks gleichsam vorschreibt. Was im Verstandesbegriff vom Dreieck an Wesenseigenschaften liegt, erkenne ich nur, wenn ich es mittels des Verstandes schrittweise in einem klaren und distincten Erfassen expliziere. Dieses Erfassen weiß ich in seinem Vollzug durch die in den mathematischen Sachverhalten liegende Verbindlichkeit gebunden. Diese miterfaßte Verbindlichkeit besagt, daß es sich um ideale Sachverhalte handelt, die in ihrer eigenen Wahrheit beruhen. Die miterfaßte absolut bindende Verbindlichkeit gibt mir auch zu verstehen, daß ein durchgängiges Michtäuschen oder Getäuschtwerden (drittes Zweifelsmotiv) ausgeschlossen ist. Alle verschiedenen Wesenseigenschaften (varias proprietates) von geometrischen Figuren, die ich demonstrieren kann, sind überaus wahr (sane omnes sunt verae), weil sie von mir klar erkannt werden (a me clare cognoscuntur) (6. Abschnitt). Ihre Wahrheit erweist sich in der klaren und distincten Erkenntnis. Weil die Wesenseigenschaften von mir klar erkannt werden können, sind sie wahr, und weil sie wahr sind, sind sie etwas und nicht etwa ein reines https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Nichts (aliquid sunt, non merum nihil, 6. Abschnitt). Hier formuliert Descartes einen ontologischen Wesenssatz : alles was wahr ist, ist auch etwas (patet enim illud omne, quod verum est, esse aliquid). Das Wahrsein von etwas, das im klaren und distincten Erkanntsein liegt, bedeutet zugleich ein Etwas-sein. Im Falle der mathematischen Sach- oder Wesensverhalte schließt deren Wahrsein ein ideales Sein jener Sachverhalte ein. Die Verbindlichkeit, die in meinen ideae von der Räumlichkeit, der Zahlhaftigkeit und allen mathematischen Sachverhalten liegt, können wir auch als eine Transzendenz besonderer Art fassen. Es handelt sich um eine Transzendenz innerhalb der ichlichen Bewußtseinssphäre. Das verstandesmäßig erfassende Vorstellen der idealen Sachverhalte in ihrem idealen Sein mit ihrer Verbindlichkeit vollzieht sich als ein Transzendieren innerhalb des Bewußtseins, sofern es im Erfassen sich selbst als Erfassen übersteigt und die idealen Sachverhalte erfaßt. Die so erfaßten idealen Sachverhalte sind gegenüber meinem vorstellenden Erfassen transzendent. Ein idealer Sachverhalt ist als transzendenter Sachverhalt dieser eine, identische Sachverhalt, der in vielen Erfassungsakten vorgestellt werden kann. Die durch den bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis gesicherte Wahrheit der Wesensverfassung und Wesensbestimmungen der möglicherweise bewußtseinstranszendent existierenden Körper besteht darin, daß ihre bewußtseinsimmanente Transzendenz unbezweifelbar vergewissert ist. Mit Blick auf die aufgewiesene bewußtseinstranszendente notwendige Existenz des vollkommensten Seienden sprachen wir von der Urtranszendenz. Der aus der Selbstgewißheit geführte Aufweis weist ein zum Selbstbewußtsein wesenhaft gehörendes Urtranszendieren nach. Urtranszendenz besagt zum einen ein Verhalten meiner selbst als ego cogito me cogitare cogitatum. Denn das in meinem apriorischen Gottesbegriff liegende Vorstellen Gottes als des alles nichtgöttliche Seiende ins Sein bringenden Seienden ist als dieses Vorstellen ein Verhalten. In diesem verhalte ich mich zu dem, was ›außerhalb‹ meines Bewußtseins als dessen Seinsursache absolut notwendig existiert. Somit benennt ›Urtranszendenz‹ zum anderen jene Seinsursache meines Bewußtseins, die im Verhältnis zu meinem https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Bewußtsein in ursprünglicher Weise transzendent ist. Diese Seinsursache ist für das Urtranszendieren das Urtranszendente. Welchen Seinssinn hat das ›außerhalb meines Bewußtseins‹, das ich auf die göttliche Seinsursache meines Bewußtseins (und der Welt der Körper, falls diese wahrhaft an ihr selbst existiert) beziehe? Dieses ›außerhalb‹ kann nicht gleichbedeutend sein mit jenem ›außerhalb meines Bewußtseins‹, das auf die materielle Körperwelt bezogen ist. Ob materielle Körper mit Gewißheit ›außerhalb‹ meines Bewußtseins existieren, ist noch nicht erwiesen. Jenes ›außerhalb‹ meines Bewußtseins, das wir mit erwiesener Gewißheit auf die Existenz Gottes beziehen, ist kein ›außerhalb‹ von der Art desjenigen, das die materielle Körperwelt in ihrem Verhältnis zur Bewußtseinsimmanenz kennzeichnet. Das notwendig existierende göttliche Seiende ist kein ausgezeichnetes Ding unter den außenweltlichen Dingen. Denn zum Wesensgehalt des göttlichen Seienden gehört, die hervorbringende Seinsursache für alles nichtgöttliche Seiende und Sein zu sein. Das nichtgöttliche Seiende bin zum einen Ich selbst als ichliche Bewußtseinssphäre und ist zum anderen die raum-zeitlichmaterielle Körperwelt (unter der Voraussetzung, daß ich eine in sich vergewisserte Erkenntnis von ihrer Existenz außerhalb meiner Bewußtseinsimmanenz gewinne). Das ›außerhalb‹ meines Gottesbegriffes notwendige Existieren dieses Gottes ist ein ›außerhalb‹, das sowohl meine ichliche Bewußtseinssphäre wie die bewußtseinsäußere Körperwelt als deren beider Seinsursprung übersteigt. Aus dem göttlichen Seienden als dem Seinsursprung für die ichliche Bewußtseinssphäre und die materielle Körperwelt ergibt sich der Seinssinn des ›außerhalb‹ des Bewußtseins, das auf den göttlichen Seinsursprung zielt. Das Übersteigen der Bewußtseinsimmanenz auf den Seinsursprung des eigenen Bewußtseins ist deshalb ein ursprüngliches Übersteigen (ursprünglicher als das Übersteigen in die materielle Körperwelt) und somit ein Urtranszendieren. Weil ich mich in meinem Urtranszendieren zu meinem göttlichen Seinsursprung verhalte, der mich selbst mit meinem bewußtseinsmäßigen Verhalten zu dem von ihm hervorgebrachten Seienden ins Sein gebracht hat, gründen in meinem Urtranszendieren die anderen Weisen meines vorstellenden Transzendierens, in denen ich https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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mich zu den bewußtseinsimmanent-transzendenten idealen Sachverhalten sowie zu den bewußtseinstranszendenten materiellen Körpern verhalte. Die beiden in der Urtranszendenz gründenden Weisen transzendierenden Vorstellens sind diejenigen, die Descartes in der V. und VI. Meditation thematisiert. Die erste Weise transzendierenden Vorstellens auf dem Grunde der Urtranszendenz ist das transzendierende Vorstellen der idealen Sachverhalte. Diese sind Gegenstand der mathematischen Wissenschaften. Das transzendierende Vorstellen der idealen Wesensverhalte ist ein in der Bewußtseinsimmanenz verbleibendes Transzendieren. Hier verhalte ich mich transzendierend zu den bewußtseinsimmanent-transzendenten Wesensverhalten. Die zweite Weise transzendierenden Vorstellens auf dem vergewisserten Grunde der Urtranszendenz ist jenes Transzendieren, worin ich – vermittelt durch die bewußtseinsimmanenten ideae – mich auf die bewußtseinstranszendenten Körper beziehe.

§ 19 Der überlieferte (ontologische) Gottesbeweis auf dem Boden der vergewisserten ichlichen Bewußseinssphäre Der Titel der V. Meditation nennt zwei zu behandelnde Themen. Das erste Thema meditativer Besinnung innerhalb der methodischen Grundhaltung des methodischen Zweifels, d. h. der cartesianischen Epoché, ist der Nachweis von der unbezweifelbaren Wahrheit des Wesens (essentia) der körperlichen Dinge, soweit dieses Wesen und dessen Wesensbestimmungen in klaren und distincten ideae bzw. Begriffen bewußtseinsimmanent vorgestellt werden (1. bis 6. Abschnitt). Als zweites Thema kündigt die V. Meditation in ihrem Titel an, daß ein zweites Mal (iterum) über das Dasein (existentia) Gottes (de Deo, quod existat) gehandelt werden solle. In den Abschnitten 7 bis 16 entfaltet Descartes seinen zweiten Beweis von der Existenz Gottes. Dieser Gedankengang hat eher den Charakter eines ›Beweises‹ als die Gedankenführung der dritten Meditation »De Deo, quod existat«, die wir als einen bewußtseinsanalytischen ›Aufweis‹ interpretiert hatten. Als erstes stellt sich jetzt die Frage, inwiefern in https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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einer Meditation wie der Fünften, die von der essentia, von der Wesensverfassung, der materiellen Dinge gehandelt hat, nunmehr auch die existentia, wenn auch nicht der materiellen Körper, sondern Gottes zum Thema gemacht wird. Hat etwa auch die Erörterung der existentia Dei etwas mit der essentia zu tun, dergestalt, daß auch diese Erörterung in den sachlichen Rahmen einer Wesensuntersuchung gehört? Ferner drängt sich die Frage auf, inwiefern denn erneut die Frage nach dem Wirklichsein Gottes gestellt werden soll. War das Ergebnis der dritten Meditation, des bewußtseinsanalytischen Aufweises von der unbezweifelbaren Existenz Gottes, durch einen weiteren Gottesbeweis ergänzungsbedürftig? Im gedanklichen Verfolg der Abschnitte 7 bis 16 müssen wir uns von der Frage begleiten lassen, in welchem Verhältnis der jetzt angekündigte zweite Gottesbeweis zum ersten bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis der dritten Meditation steht. Zu Beginn des 7. Abschnitts vergegenwärtigt sich Descartes den methodischen Leitfaden, an dem entlang er in den vorangehenden Abschnitten vom unbezweifelbaren Wesen der materiellen Dinge gehandelt hat. Derselbe methodische Leitfaden soll ihn nun auch in der Entfaltung eines zweiten sicheren Beweises für die unbezweifelbare Existenz Gottes leiten. Dieser methodische Leitfaden besagt: Allein daraus, daß ich die idea irgendeiner Sache aus meinem Bewußtsein hervorholen kann, folgt, daß alles das, was ich klar und distinct als zur Sache der idea gehörend erfasse, in Wahrheit auch zu ihr gehört (si ex eo solo, quod alicuius rei ideam possim ex cogitatione mea depromere, sequitur ea omnia, quae ad illam rem pertinere clare et distincte percipio, revera ad illam pertinere). Damit ist die Ausgangs- und Blickstellung der anstehenden Analyse benannt. Denn Descartes möchte diesem methodischen Ansatz einen Beweisgrund für das Dasein Gottes entnehmen (argumentum, quo Dei existentia probetur). Auch die idea Gottes findet er in seinem Bewußtsein, und zwar als die idea des höchst vollkommenen Seienden (entis summe perfecti). Diese idea Dei findet er in seinem Bewußtsein ebenso wie die idea einer beliebigen geometrischen Figur oder arithmetischen Zahl. Die Ausgangs- und Blickstellung für den zweiten Gottesbeweis erweist sich somit als die ichliche Bewußthttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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seinssphäre in ihrer Selbstvergewisserung. Auch der zweite Gottesbeweis erfolgt aus der vergewisserten sowie klar und distinct erfaßten bewußtseinsimmanenten idea Gottes. Die Ausgangsstellung dieses Beweises ist die vergewisserte ichliche Bewußtseinssphäre in der aufrechterhaltenen cartesianischen Epoché. Es folgt nun die Parallelisierung der vorangegangenen klaren und distincten Einsicht in den vorgestellten Inhalt der idea einer geometrischen Figur und der klaren und distincten Einsicht in den in der idea Gottes vorgestellten Gehalt. Die bewußtseinsimmanente idea Gottes wird in der gleichen Weise betrachtet wie die bewußtseinsimmanente idea z. B. des Dreiecks. Nicht weniger klar und distinct sehe ich in der reflexiven Erfassung der idea Gottes ein, daß zur Natur, d. h. zum Wesen Gottes gehört, immer zu existieren (nec minus clare et distincte intelligo ad eius naturam pertinere, ut semper existat), als ich in der reflexiven Erfassung der idea einer geometrischen Figur oder arithmetischen Zahl klar und deutlich einsehe, daß das, was ich von diesen beweise, auch zum Wesen der Figur und der Zahl gehört (quam id, quod de aliqua figura aut numero demonstro, ad eius figurae aut numeri naturam etiam pertinere). Aus dieser Parallelisierung geht hervor, daß das zum Wesensbegriff Gottes gehörende Dasein Gottes zum mindesten denselben Gewißheitsgrad hat, den bisher die mathematischen Wahrheiten hatten (in eodem ad minimum certitudinis gradu esse deberet apud me Dei existentia, in quo fuerunt hactenus Mathematicae veritates). Jetzt läßt sich unsere eingangs gestellte Frage, inwiefern eine Erörterung der Existenz Gottes innerhalb der Wesens-Untersuchung der V. Meditation ihren sachgemäßen Ort haben kann, beantworten. Der zweite Beweis für die notwendige Existenz Gottes wird durch eine reflexive Thematisierung des Wesens Gottes, so wie dieses im Begriff Gottes gedacht wird, durchgeführt. Die Frage nach dem Dasein Gottes soll durch eine reflexive Auslegung der idea, d. h. des Wesensbegriffes Gottes beantwortet werden. Die in den Abschnitten 1 bis 6 erfolgte Sicherung des mathematisch erfaßbaren Wesens der materiellen Dinge hat damit die Blickbahn eröffnet für die jetzt einsetzende reflexive Betrachtung des in der idea Gottes vorgestellten Wesens. Diese führt zu der Einsicht, daß zum Wesen Gottes als des höchst vollkommenen Seienden (entis summe perfecti) https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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seine Existenz, sein Dasein, gehört. Gott wäre nicht seinem Wesensbegriff nach das vollkommenste Seiende, wenn er nicht mit seinen Wesenseigenschaften der Allmacht, Allwissenheit und Allgüte auch wahrhaft existieren würde. Der hier in der V. Meditation durchgeführte zweite Gottesbeweis im Ausgang vom Wesensbegriff Gottes geht auf den überlieferten, von Anselm von Canterbury geführten Beweis zurück, den Kant in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ den ontologischen Gottesbeweis genannt hat. Im 7. Abschnitt wurde lediglich gesagt, daß ich in der reflexiven Betrachtung des in der idea Gottes gedachten Wesens Gottes klar und distinct einsehe, daß dieses Wesen auch die Existenz Gottes einschließe. Im 8. Abschnitt wird diese Wesenseinsicht erläutert, und zwar zunächst im Ausgang von einem Einwand. Ich bin gewohnt, bei allen anderen Dingen die existentia von der essentia zu unterscheiden, dergestalt, daß das Wesen der Dinge nicht schon besagt, daß diese Dinge auch notwendig existieren (assuetus sim in omnibus aliis rebus existentiam ab essentia distinguere). Von hier aus gesehen könnte ich meinen, daß auch vom Wesen Gottes dessen Wirklichsein getrennt und Gott auch als nicht existierend gedacht werden könne (Deum ut non existentem cogitari). So gesehen wäre ein Beweis für die notwendige Existenz Gottes allein aufgrund seines Wesens hinfällig. Dieser Einwand wurde aber nur möglich, weil er nicht von einer sorgfältigen Betrachtung des in der idea Gottes gedachten Wesens Gottes ausging. Betrachte ich dagegen den Gehalt des Wesensbegriffes von Gott, dann sehe ich klar und distinct ein, daß die Existenz vom Wesen Gottes ebensowenig getrennt werden kann, wie vom Wesen des Dreiecks der Wesensverhalt, daß die Größe der drei Winkel zwei rechte Winkel beträgt. Dieses Vergleichsbeispiel zeigt, daß das Dasein Gottes wie eine Wesensbestimmung Gottes aufgefaßt wird. Kants Argument innerhalb seiner transzendentalphilosophischen Kritik am ontologischen Gottesbeweis, daß das Dasein in keinem Falle ein reales, also sachhaltiges Prädikat sei, soll hier nicht gegen den ontologischen Beweis Descartes’ ins Feld geführt werden, weil es uns vorrangig darum geht, Descartes ganz und gar aus seinem Ansatz heraus zu verstehen. Der Kern des ontologischen Beweises besagt: auch das Dasein eines Seienden ist eine Vollkomhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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menheit, so daß das vollkommenste Seiende nur dann wahrhaft vollkommen ist, wenn sein Wesen auch das Dasein als eine Vollkommenheit einschließt. Daher widerspricht es sich, Gott als das höchst vollkommene Seiende zu denken, dem das Dasein als eine gewisse Vollkommenheit fehlt (repugnat cogitare Deum – hoc est ens summe perfectum –, cui desit existentia – hoc est cui desit aliqua perfectio). Wenn auch die existentia eine Vollkommenheit von Seiendem ist, dann kann ich nicht Gott als das vollkommenste Seiende ohne dessen existentia denken – ebensowenig, wie ich einen Berg ohne das zu ihm gehörende Tal denken kann.1 Nachdem im Abschnitt 8 der erste Einwand gegen die notwendige Zugehörigkeit des Daseins zum Wesen Gottes zurückgewiesen wurde, formuliert der 9. Abschnitt einen zweiten Einwand. Daraus, daß ich den Berg nur mit dem Tal denken kann, folgt aber nicht, daß es überhaupt einen Berg in der Welt gibt, d. h. daß ein solcher existiert. Ebensowenig scheint allein daraus, daß ich Gott als existierend denke, schon zu folgen, daß Gott auch wahrhaft existiert, da doch mein Denken den Dingen keine Notwendigkeit auferlegen kann. Es scheint daher, daß ich, wenn ich Gott als notwendig existierend denke, Gott das Dasein andichten kann, ohne daß Gott wahrhaft existiert. Dieser Einwand wird im 10. Abschnitt entkräftet. Zutreffend ist, daß daraus, daß ich den Berg nur mit dem Tal denken kann, nicht folgt, daß Berg und Tal auch existieren. Aber daraus, daß ich Gott nur als existierend denken kann, folgt in der Tat, daß das Dasein von Gott untrennbar ist und daß Gott wahrhaft existiert (sequitur existentiam a Deo esse inseparabilem ac proinde illum revera existere). Daß ich Gott nur als existierend denken kann, daß sein Dasein von ihm untrennbar ist, das folgt nicht aus meinem Denken, d. h. es wird nicht von meinem Denken bewirkt, sondern es ist die Notwendigkeit der Sache selbst, die Notwendigkeit der Existenz Gottes, die mich zu diesem Gedanken bestimmt (quia ipsius rei, nempe existentiae Dei, 1 Vgl. Röd 1982, 102 ff . (apriorischer Gottesbeweis); Cramer 1996, 123 ff. (ontologischer Gottesbeweis); Perler 2006, 187 ff. (ontologischer Gottesbeweis); Schäfer 2006, 260 ff. (ontologischer Gottesbeweis).

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necessitas me determinat ad hoc cogitandum). Diese Notwendigkeit besagt, daß mir nicht frei steht, Gott ohne sein Dasein zu denken (neque enim mihi liberum est Deum absque existentia cogitare). Denn es steht mir nicht frei (ohne daß ich mich in einen Widerspruch begebe), das vollkommenste Seiende ohne höchste Vollkommenheit, also unter Abzug des Wirklichseins als einer der Vollkommenheiten, zu denken (ens summe perfectum absque summa perfectione cogitare). Der 11. Abschnitt bringt einen dritten Einwand vor, der dann ebenfalls sogleich zurückgewiesen wird. Der Einwand lautet: Nur wenn gesetzt werde, daß Gott alle Vollkommenheiten (omnes perfectiones) habe, werde es notwendig, auch das Dasein Gottes zu setzen, sofern auch dieses eine der Vollkommenheiten ist. Aber die Setzung, daß Gott alle Vollkommenheiten in sich einschließe, sei nicht notwendig, so daß es dann auch nicht notwendig sei, das Dasein Gottes zu setzen. Nun folgt die Zurückweisung dieses Einwandes. Zuzugeben sei, daß es für mich nicht notwendig sei, jemals auf einen Gedanken an Gott zu verfallen. Sooft es mir aber beliebt, an ein erstes und höchstes Seiendes zu denken (de ente primo et summo libet cogitare), ist es notwendig, diesem ersten und höchsten Seienden alle Vollkommenheiten zuzuteilen (ut illi omnes perfectiones attribuam). Wenn nun auch das Dasein eine dieser Vollkommenheiten ist, dann schließe ich richtig, daß dieses erste und höchste Seiende existiert (cum animadverto existentiam esse perfectionem, recte concludam ens primum et summum existere). Auch diese Einsicht beruht weniger auf einem bloßen Vernunftschluß, als vielmehr auf einer Ausfaltung dessen, was in der idea Gottes als des ersten und höchsten und das heißt des allervollkommensten Seienden klar und distinct erfaßt wird. In diesem Sinne betont Descartes, er sei auch hier gewillt, nur das als wahr erkannt zuzulassen und zu setzen, was er klar und distinct einsieht (nihil volo admittere nisi quod clare et distincte intelligo). Zu dem klar und distinct Eingesehenen gehören die mir eingeborenen ideae, die deshalb auch wahr sind. Die erste und vorzüglichste eingeborene idea ist aber die idea Gottes (prima et praecipua est idea Dei). Von dieser eingeborenen idea Gottes sehe ich klar und distinct ein, daß sie nicht ein von mir bloß Eingebildetes https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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ist, das insofern von meinem einbildenden Denken abhinge, sondern daß sie das Abbild einer wahrhaften und unveränderlichen Wesenheit ist (imaginem verae et immutabilis naturae). Zu Beginn des 12. Abschnittes wiederholt Descartes erneut, daß ihn nur das völlig überzeuge, was er klar und distinct erfasse. Das klare und distincte Erfassen, hier der idea Gottes, vollzieht sich aber in der ständig aufrecht erhaltenen methodischen Grundhaltung der cartesianischen Epoché, in der alles nicht klar und distinct Erfaßbare außer Geltung gesetzt bleibt. Innerhalb dieser methodischen Grundhaltung kommt es zu der Aussage, es sei an sich das Offenkundigste, daß das höchste Seiende auch ›ist‹, d. h. existiert, oder daß Gott, weil bei ihm allein das Dasein zum Wesen gehört, wahrhaft existiert (nam quid ex se est apertius, quam summum ens esse, sive Deum, ad cuius solius essentiam existentia pertinet, existere). Im anschließenden 13. Abschnitt nimmt Descartes die Fundierung der Gewißheit aller übrigen Sachen und Sachverhalte in der zur Selbstgewißheit des ego cogito gehörenden höchsten Gewißheit vom Dasein Gottes in den Blick. Zur klaren und distincten Einsicht in das notwendige Dasein Gottes gehört auch, daß die Gewißheit alles Übrigen von der Gewißheit des Daseins Gottes dergestalt abhängt, daß ohne diese höchste Gewißheit niemals etwas in vollkommener Weise gewußt werden kann (ceterarum rerum certitudinem ab hoc ipso ita pendere, ut absque eo nihil umquam perfecte sciri possit). Zwar ist die alles fundierende Gewißheit vom Dasein Gottes schon in der III. Meditation im Ausgang von der unbezweifelbaren Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins gewonnen. Aber zur klaren und distincten Einsicht in das notwendige Dasein Gottes gehört wesentlich die weitergehende Einsicht, daß der notwendig existierende Gott die Seinsquelle des seiner selbst gewissen ›ego cogito ergo sum‹ ist. Das bedeutet, daß in der ersten Selbstvergewisserung des ego dubito in der II. Meditation die Seinsquelle für das ego dubito in diesem bereits beschlossen lag. Der Sinn der beiden cartesianischen ›Beweise‹ vom notwendigen Dasein Gottes ist darin zu sehen, daß die im ego dubito zunächst noch eingehüllte Urtranszendenz enthüllt wird. Diese aufweisende-beweisende Enthüllung geschieht in und mit der Selbstgewißheit des ego dubito, aber so, daß sich nunmehr zeigt, https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 19. Ontologischer Gottesbeweis

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inwiefern sich die Selbstgewißheit des ego dubito selbst dem erst nachträglich erkannten gewissen Dasein Gottes verdankt. Die Selbstgewißheit ist auf dem Erkenntnisweg zwar die erste Gewißheit, der Sache nach aber ist die Gewißheit vom Dasein Gottes als der Seinsquelle die erste Gewißheit, die ihrerseits die Selbstgewißheit ermöglicht. Diese Einsicht in die der Sache nach erste Gewißheit vom Dasein Gottes als der allgütigen Seinsquelle von allem, was ist, schützt mich vor einem Abgleiten in erneute Zweifel an der gesicherten Wahrheit von einmal sicher Eingesehenem (14. Abschnitt). In den Fällen nämlich, in denen ich den Beweisgang von Erkenntnissätzen nicht mehr klar vor Augen habe, könnte ich gegenüber der Wahrheit solcher Erkenntnissätze in Zweifel geraten. Ich könnte erneut auf den Gedanken verfallen, ich sei von der Natur so geschaffen, daß ich mich mitunter selbst in solchem täusche, von dem ich glaube, es am einleuchtendsten erfaßt zu haben. Vor diesem Rückfall in den fundamentalen Zweifel schützt mich mein sicheres Wissen vom notwendig existierenden Gott als dem allgütigen Schöpfer, d. h. jener Seinsquelle, die meinen Geist als einen solchen ins Sein gebracht hat, der grundsätzlich der Erkenntnis von Wahrheit fähig ist. Im 15. Abschnitt formuliert Descartes das Ergebnis seines zweiten Gottesbeweises. Mit der Erfassung dessen, daß Gott wahrhaft und notwendig existiert, habe ich auch eingesehen, daß alle übrigen wahren als gewissen Erkenntnisse, zu denen auch meine Selbsterfassung gehört, von dieser notwendig existierenden göttlichen Seinsquelle abhängen und daß diese Seinsquelle in sich nicht betrügerisch ist. Dieser Einsicht habe ich entnommen und entnehme ich immer wieder, daß alles, was ich klar und distinct erfasse, auch notwendig wahr ist (collegi illa omnia, quae clare et distincte percipio, necessario esse vera). Diesem Gedankenzusammenhang, der in der bewußtseinsimmanenten Ausfaltung des in der idea Gottes Gedachten gewonnen wird, läßt sich nunmehr – so schließt Descartes – kein Gegengrund mehr anführen (nulla ratio contraria afferri potest), der mich zu einem erneuten Zweifeln verleiten könnte. Denn von diesem gedanklichen Zusammenhang besitze ich ein wahres und sicheres Wissen, das sich nur aus klaren und distincten Gedankenschritten ergibt. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

Abschließend betont Descartes im 16. Abschnitt die Fundierung der Gewißheit jeder Wissenschaft in der Gewißheit der Gotteserkenntnis. Die Gewißheit und Wahrheit (certitudinem et veritatem), d. h. die Wahrheit als Gewißheit einer jeden Wissenschaft, hängt von der einen Erkenntnis des wahren Gottes ab (video omnis scientiae certitudinem et veritatem ab una veri Dei cognitione pendere). Die eine Erkenntnis des wahren Gottes gehört in die prima philosophia gemäß dem Titel: Meditationes de prima philosophia in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstrantur. In der Ersten Philosophie hängt von der unbezweifelbaren Wahrheit des existierenden Gottes die Wahrheit als Gewißheit einer jeden anderen Wissenschaft ab, einschließlich die Wahrheit der mathematischen Erkenntnis. Bevor ich den wahren Gott, d. h. Gott in der höchsten Gewißheit seiner Existenz so, wie er in den Meditationen zur klaren und distincten Einsicht gekommen ist, erkannte, konnte ich nichts über irgendeine andere Sache vollkommen wissen (perfecte scire), vollkommen in der Weise unbezweifelbarer Gewißheit. Denn erst durch die Einsicht in die unbezweifelbare Gewißheit vom Dasein Gottes habe ich die Einsicht in die Wahrheitsquelle für alle anderen Wahrheiten (Gewißheiten) gewonnen. Erst jetzt, nachdem ich die klare und distincte Einsicht in das Dasein Gottes als der Seins- und Wahrheitsquelle von allem anderen erlangt habe, kann mir Unzähliges (innumera) von Gott selbst (de ipso Deo), von den anderen Gegenständen des reinen Verstandes (aliisque rebus intellectualibus) und von jener gesamten körperlichen Natur (de omni illa natura corporea), die den Gegenstand der reinen Mathematik bildet (quae est purae Matheseos obiectum), d. h. auf die die reine Mathematik anwendbar ist, vollkommen bekannt und gewiß sein (plane nota et certa). Hier greifen wir die schon zu Beginn des § 19 aufgeworfene Frage wieder auf, inwiefern nach dem ersten bewußtseinsanalytischen Aufweis des Daseins Gottes in der III. Meditation in der V. Meditation ein zweiter Gottesbeweis durchgeführt wurde. In welchem Verhältnis steht dieser zweite zum ersten? Mußte etwa der erste Aufweis durch den zweiten Beweis ergänzt und gestützt werden? Hätte nicht auch der Aufweis der III. Meditation genügt, um aus der Immahttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 19. Ontologischer Gottesbeweis

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nenz der ichlichen Bewußtseinssphäre die in ihr zunächst noch verhüllte Urtranszendenz im doppelten Sinne des ursprünglichen Transzendierens und des Urtranszendenten zu enthüllen und zu entfalten? Und wenn der zweite Beweis die Aufnahme des überlieferten ontologischen Gottesbeweises ist, warum hat Descartes nicht diesen an die Stelle des dort von ihm neu entworfenen Aufweises gesetzt? Hätte der zweite Beweis innerhalb der Aufgabenstellung der III. Meditation dasselbe leisten können, das dort der bewußtseinsanalytische Aufweis tatsächlich geleistet hat ? Oder hat der Aufweis der III. Meditation einen Vorzug gegenüber dem zweiten Beweis der V. Meditation ? Der Vorzug könnte und müßte sich darin zeigen, daß der enthüllende Aufweis die Öffnung der Bewußtseinsimmanenz in die Urtranszendenz deutlicher und vernehmlicher vollzieht, als es der ontologische Gottesbeweis vermag. Der Aufweis der III. Meditation orientierte sich an dem Begriffspaar ›realitas objectiva – realitas formalis sive actualis‹, während dem Beweis der V. Meditation das Verhältnis des Wesens Gottes als des allervollkommensten Seienden zum Dasein Gottes zugrundeliegt. Die Einsicht, daß der in der realitas objectiva meiner idea Gottes vorgestellte unendliche Realitätsgrad seine Herkunft nicht aus der endlichen realitas formalis meines ego cogito haben kann, sondern nur aus einer ebenso unendlichen realitas formalis außerhalb meiner eigenen endlichen realitas formalis, führt in einer unmittelbareren und überzeugenderen Weise zur Einsicht in die Urtranszendenz – unmittelbarer und überzeugender, als es die Einsicht in die Untrennbarkeit des Daseins vom Wesen Gottes vermag. Der bewußtseinsanalytische Aufweis vom notwendigen Dasein Gottes ist von Descartes als Weg der Einsicht aus der Immanenz des Bewußtseins in die Urtranszendenz neu entworfen im Wissen darum, daß der überlieferte ontologische Gottesbeweis allein nicht die ausreichende Überzeugungskraft hat. Der Aufweis der III. Meditation entspricht dem Weg der Bewußtseinsanalyse mehr als der herkömmliche Beweis. Dennoch wollte Descartes diesen Beweis nicht übergehen, sondern auch ihn auf dem von ihm gelegten Boden der vergewisserten ichlichen Bewußtseinssphäre für seinen bewußtseinsanalytischen Zweck fruchtbar machen. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

Wenn vom Gottesbeweis Descartes’ die Rede ist, dann wendet man sich vielfach der V. Meditation zu und übergeht dabei den Tatbestand, daß auf dem Weg der Bewußtseinsanalytik bereits in der III. Meditation der erste Gottesaufweis erfolgt ist. Die einseitige Orientierung an Descartes’ Gottesbeweis aus der V. Meditation verrät, daß man den Leistungssinn des Gottesaufweises in der III. Meditation weithin unbeachtet läßt, und dies deshalb, weil man Aufbau und Gang der »Meditationen« nicht als den Weg einer schrittweisen Bewußtseinsanalyse erkennt und interpretiert. Nur wenn man zu dieser Erkenntnis vorstößt, stellt sich auch die Einsicht ein, daß der Gottesaufweis der III. Meditation der eigentliche und unverzichtbare cartesianische Gottesbeweis ist, während Descartes mit dem Beweis der V. Meditation zeigen will, daß dieses überlieferte Lehrstück auf dem von ihm neu entworfenen Weg einer Bewußtseinsanalytik auch angesiedelt werden kann. Dennoch ist der ontologische Beweis der V. Meditation innerhalb der cartesianischen Bewußtseinsanalytik kein notwendiger analytischer Schritt, weil das, was er leisten soll, schon durch den bewußtseinsanalytischen Aufweis der III. Meditation geleistet war.

§ 20 Descartes’ Ontologie der Substanzen im Aufr iß Im bisherigen Durchgang durch die »Meditationen« sind wir wiederholt auf das Substanz-Denken Descartes’ gestoßen. Bevor wir zur VI. und letzten Meditation über das Dasein der Welt der körperlichen Dinge übergehen, verschaffen wir uns einen zusammenfassenden Überblick über Descartes’ Ontologie der Substanz. In der II. Meditation wurde als erstes das eigene meditierende (methodisch zweifelnde) Ich als unbezweifelbare res und diese als substantia cogitans erkannt. Im zweiten Teil der II. Meditation wurde nach der Erkenntnisweise der res extensa als der substantia extensa gefragt. Dort hieß es: Wenn der reine Verstand das Wesen des Körpers als Substanz, als das im Wechsel der Eigenschaften sich durchhaltende ausgedehnte Etwas denkt, dann ist zwar noch nicht https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 20. Ontologie der Substanzen im Aufr iß

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mit Gewißheit erkannt, daß es auch bewußtseinstranszendent wahrhaft existierende Körper als ausgedehnte Substanzen gibt. Mit absoluter Gewißheit ist aber erkannt, daß Ich selbst, der Ich den Gedanken von der ausgedehnten Substanz denke, als ein denkendes Etwas, als substantia cogitans, existiere. In der III. Meditation war es die angeborene, die apriorische idea von Gott, in der ich Gott als eine substantia infinita et independens, als eine unendliche und unabhängige Substanz denke – im Unterschied zu den endlichen und abhängigen Substanzen : der substantia cogitans und der substantia extensa. Schließlich ging es in der V. Meditation um die Gewinnung der in sich gewissen Erkenntnisurteile in bezug auf die essentia, die Wesensverfassung, und die essentiellen Bestimmungen der Körper. Die Wesensverfassung der Körper zusammen mit den Wesensbestimmungen ist das substanzielle Wesen der ausgedehnten Substanz. In den Abschnitten 48 bis 58 des Ersten Teiles der »Prinzipien der Philosophie« gibt Descartes eine systematische Übersicht über seine Substanz-Ontologie. Im 48. Abschnitt1 beginnt er mit einer Gliederung alles dessen, was unter unsere perceptio fällt. perceptio bedeutet auch hier: das Erfaßte als das Vorgestellte eines vorstellenden Erfassens oder erfassenden Vorstellens. Dasjenige, worauf sich das erfassende Vorstellen des Verstandes zu richten vermag, betrachten wir 1. gleichsam als Sache bzw. als sachhaltiges Seiendes (tanquam res), 2. als gewisse Zustandsbestimmungen eines sachhaltigen Seienden (rerumve aff ectiones quasdam), 3. als ewige Wahrheiten (aeternas veritates), die keine Existenz außerhalb unseres Bewußtseins haben (nullam existentiam extra cogitationem nostram habentes). Es sind die ewigen Wahrheiten, die nur im Bewußtsein und dessen reinem Denken ihren Ort haben. Im 49. Abschnitt2 erläutert Descartes, was er unter diesen ewigen Wahrheiten versteht. Zu den von den res und deren affectiones unterschiedenen ewigen Wahrheiten gehören nicht etwa die mathematischen Wesensverhalte. Denn diese idealen Wesensverhalte haben selbst den Charakter der res. Diese sind ideale 1 2

Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a.a.O., 16; AT VIII, 22 f. Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., 17; AT VIII, 23.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

Sachverhalte, für die in der VI. Meditation untersucht werden muß, ob ihnen gemäß materielle Körper bewußtseinstranszendent mit Gewißheit existieren. Die erste Unterscheidung also zwischen den percepta ist die Scheidung zwischen den vorgestellten Sachen (res) und deren Zuständen (affectiones) einerseits und den ewigen Wahrheiten andererseits, solchen nämlich, die nicht den Charakter einer sachhaltigen res haben und daher nicht – wie die vorgestellten res – auch außerhalb meines Denkens existieren können. Im weiteren Verlauf des 48. Abschnittes3 wendet sich Descartes den res und ihren aff ectiones zu. Als erstes nennt er einige der allgemeinsten Begriff e (maxime generalia), in denen wir die allgemeinsten res denken. Hierher gehören der Begriff der Substanz (substantia), der Dauer (duratio), der Ordnung (ordo), der Zahl (numerus) – und Descartes fährt fort »und was dergleichen mehr sind, die sich auf alle Gattungen der res erstrecken (quae ad omnia genera rerum se extendunt)«. Wichtig ist die Wendung »alle Gattungen der res« Denn gleich im Anschluß daran heißt es: ich erkenne aber nur zwei höchste Gattungen von res an (duo summa genera rerum agnosco): 1. die Gattung der geistigen oder bewußtseinhabenden res (unum est rerum intellectualium, sive cogitativarum), d. h. derjenigen res, die sich auf den Geist bzw. auf die bewußtseinhabende Substanz erstrecken (ad mentem sive ad substantiam cogitantem pertinentium); 2. die Gattung der materiellen res oder derjenigen, die zur ausgedehnten Substanz gehören, d. h. zum Körper (aliud rerum materialium, sive quae pertinent ad substantiam extensam, hoc est, ad corpus). Jetzt wird deutlich, was Descartes meint, wenn er sagt: Die allgemeinsten Begriff e, in denen die allgemeinsten res gedacht werden, sind die Begriffe Substanz, Dauer, Ordnung und Zahl. Denn diese sind deshalb allgemeiner als die Begriffe von der bewußtseinhabenden und der ausgedehnten Substanz, weil sie auf beide Gattungen von res in gleicher Weise bezogen werden. Sie sind die allgemeinsten Begriffe von den allgemeinsten res. Denn was ich unter Substanz denke, ist allgemeiner als das, was ich als bewußtseinhabende Substanz im Unterschied zur ausgedehnten Substanz denke. 3

Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a.a.O., 16; AT VIII, 22 f.

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§ 20. Ontologie der Substanzen im Aufr iß

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Unter den Begriff der Substanz, der zu den allgemeinsten Begriffen gehört, fallen die zwei obersten Gattungen der Substanzen. Die erste Gattung ist diejenige, zu der alle bewußtseinhabenden, alle geistigen res gehören (res intellectuales sive cogitativae). Es ist die Gattung jener res, die sich auf den Geist (mens) bzw. auf die bewußtseinhabende Substanz erstrecken. Es ist die Gattung der bewußtseinhabenden Substanzen. Die zweite Gattung der Substanzen ist die der materiellen res (res materiales). Zu ihr gehören diejenigen res, die sich auf die ausgedehnte Substanz (substantia extensa) erstrecken. Es ist die Gattung der ausgedehnten Substanzen. Erst im 51. Abschnitt gibt Descartes seine Defi nition der Substanz, die wir im Durchgang der Meditationen schon erwähnt haben. Im 48. Abschnitt aber zählt Descartes nunmehr auf, was sich einerseits nur auf die bewußtseinhabende Substanz und andererseits nur auf die ausgedehnte Substanz bezieht.4 Auf die bewußtseinhabende Substanz beziehen sich das Vorstellen (perceptio), das Wollen (volitio) und alle Weisen (modi) sowohl des Vorstellens wie des Wollens. Vorstellen als percipere und perceptio bedeutet hier nicht nur das erfassende Vorstellen im engeren Sinne des reflexiven Erfassens (wie in einem Erkenntnisurteil), sondern gerade auch das rein geistige, verstandesmäßige Vorstellen von etwas, das noch nicht das reflexive Erfassen ist. Alle Weisen der perceptio: dazu gehören zunächst alle Weisen des Wahrnehmens und das imaginative Vorstellen, soweit diese allein auf dem Bewußtsein beruhen unter Absehung dessen, was an der Wahrnehmung und Imagination auf der Verbindung des Bewußtseins mit dem Körper beruht. Auf die ausgedehnte Substanz beziehen sich die Raumgröße eines Körpers, d. h. die Ausdehnung in Länge, Breite, Tiefe, ferner die Raumgestalt (figura), die Raumbewegung (motus), die Lage (situs) und die Teilbarkeit in einzelne Teile (partium ipsarum divisibilitas). Auf die modi der bewußtseinhabenden Substanz stießen wir in der II. Meditation: die modi der cogitatio als des Wesens (essentia) meines Ich. Den modi der ausgedehnten Substanz begegneten wir im zweiten 4

Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., 16; AT VIII,

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

Teile der II. Meditation sowie in der V. Meditation als den essentiellen Bestimmungen der körperlichen Substanz. Nach der Aufzählung der modi der bewußtseinhabenden und der ausgedehnten Substanz stellt Descartes alles das zusammen, was in mir weder allein auf den Geist, noch allein auf den Körper bezogen werden kann (quae nec ad solam mentem, nec etiam ad solum corpus referri debent), was vielmehr aus der engen und innigen Verbindung meines Geistes mit meinem Körper herrührt: die Triebe (appetitus) des Hungers und des Durstes, die körperlichen Begehrungen, die aber nicht nur körperlicher Natur sind, sondern zugleich vom Bewußtsein begleitet werden. Ferner die Erregungen (commotiones) bzw. die Leidenschaften der Seele (animi pathemata) wie: Zorn, Fröhlichkeit, Traurigkeit, Liebe. Diese seelischen Gefühle (im Unterschied zu den Körpergefühlen oder Körperempfindungen) beruhen für Descartes auch auf der Verbindung von Geist und Körper, bestehen also nicht nur im Bewußtsein (quae non in sola cogitatione consistunt). Schließlich nennt Descartes alle Sinnesempfindungen (sensus omnes)5 der fünf Sinnes des Schmerzes, des Kitzels, des Lichtes und der Farben, der Töne, der Gerüche, der Geschmäcke, der Wärme, der Härte und des Tastens. Die Sinnesempfindungen wären nicht, was sie sind, ohne die körperlichen Sinnesorgane. Andererseits beruhen auch sie nicht nur auf der körperlichen Natur, sondern zu ihnen gehört ein Grad von Bewußtsein. Bevor Descartes im 51. Abschnitt zu einer diff erenzierteren Erörterung der Substanzen und ihrer Eigenschaften übergeht, behandelt er in den Abschnitten 49 und 50 die im Abschnitt 48 genannten ewigen Wahrheiten.6 Von diesen heißt es, sie seien zwar auch percepta unserer perceptiones, aber sie unterscheiden sich von den res und deren affectiones (Bestimmungen). Wenn sie keine res sind, dann sind sie nichts Sachhaltiges, keine sachhaltigen res, keine Substanzen und keine Bestimmungen von Substanzen. Descartes nennt Beispiele: »Aus Nichts wird Nichts« (Ex nihilo nihil fit), »Es ist 5

Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., 16 f.; AT VIII,

23. 6 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., 17; AT VIII, 23/24.

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unmöglich, daß dasselbe zugleich ist und nicht ist« (Impossibile est idem simul esse et non esse), also der Satz vom Widerspruch; »Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen sein« (Quod factum est, infectum esse nequit). Bemerkenswert ist, daß Descartes in diesem Zusammenhang auch jenen Satz (als ewige Wahrheit) nennt, der in der II. Meditation die erste unbezweifelbare und daher absolut gewisse Erkenntnis bildete »Derjenige, der denkt (Bewußtsein hat), kann nicht, während (solange) er denkt (Bewußtsein hat), nicht existieren« (Is qui cogitat, non potest non existere dum cogitat). Alle diese Sätze stellen wir nicht wie existierende res und nicht wie Zustandsbestimmungen (modi) der res vor, sondern als ewige Wahrheiten (veritas quaedam aeterna), die ihren Sitz allein in unserer Geistnatur haben (quae in mente nostra sedem habet). Solche Sätze nennt Descartes communes notiones (allgemeine Begriffe) oder axiomae (Axiome). Zu diesen ewigen Wahrheiten gehören die Grundsätze des Denkens: der Satz vom Widerspruch, der Satz der Identität, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, der Satz vom Grund. Die axiomatischen Sätze haben ihren Sitz in unserem Geist bzw. Bewußtsein, sofern sie zur Wesensverfassung der cogitatio gehören. Im 51. Abschnitt 7 greift Descartes die im Abschnitt 48 begonnene Erörterung der bewußtseinhabenden und der ausgedehnten Substanz wieder auf. Jedoch als erstes gibt er seine Definition der Substanz : »Unter Substanz können wir nur eine res verstehen, die so existiert, daß sie keiner anderen res bedarf, um zu existieren« (Per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem quae ita existit, ut nulla alia re indigeat ad existendum). Substantia bedeutet ›das Darunterstehende‹, das dem griechischen ὑποκείμενον entspricht. Substantia als das Darunterstehende besagt ›das Selbständige‹, ›das Fürsichbestehende‹ – im Unterschied zum Unselbständigen, das nur an anderem bestehen kann. Eine Substanz ist ein sachhaltiges Etwas, das nicht eines anderen sachhaltigen Seienden bedarf, um zu sein, das aber für das Unselbständige dasjenige ist, an dem dieses allein sein kann. Das Unselbständige, das eines anderen, 7 Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., 17/18; AT VIII, 24.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

einer tragenden Substanz bedarf, um selbst sein zu können, sind die eigenschaftlichen Bestimmungen der Substanz. Die bewußtseinhabende und die ausgedehnte Substanz sind in dem soeben erläuterten Sinne selbständig, für sich bestehendes Seiendes. Doch sogleich fügt Descartes hinzu: »Eine Substanz, die durchaus keiner anderen res bedarf, kann nur als eine einzige eingesehen werden, nämlich Gott« (Et quidem substantia quae nulla plane re indigeat, unica tantum potest intelligi, nempe Deus). Die göttliche Substanz allein bedarf keines anderen Seienden deshalb, weil sie als diejenige gedacht wird, die alles nichtgöttliche Seiende ins Sein hervorgebracht hat. Als schaffende, d. h. ins Sein hervorgehen lassende Substanz kann sie selbst nicht von dem seinsmäßig abhängen, was sie selbst hervorgebracht hat. Wenn Descartes im Abschnitt 48 von den beiden höchsten Gattungen der res bzw. der Substanz gesprochen hatte, dann bezog sich diese Unterscheidung auf die endlichen, ins Sein gebrachten Substanzen. Die Gesamtheit des endlich geschaffenen Seienden gliedert sich in den Dualismus zweier Substanz-Gattungen. Diese sind im Verhältnis zu ihren eigenschaftlichen Bestimmungen selbständige res, die keiner anderen endlich-geschaffenen res bedürfen. Wohl aber bedürfen beide in gleicher Weise des Beistandes Gottes (ope concursus Dei), um existieren zu können. Zwischen der unendlichen Substanz Gottes und den endlichen Substanzen gähnt ein so großer Hiatus, daß der Name ›Substanz‹ dem höchsten Seienden einerseits und der bewußtseinhabenden wie der ausgedehnten res andererseits nicht im gleichen Sinne zukommt (nomen substantiae non convenit Deo et illis univoce). Es kann somit keine Bedeutung des Namens ›Substanz‹ deutlich eingesehen werden, die Gott und dem von ihm Geschaffenen gemeinsam ist (nulla ejus nominis significatio potest distincte intelligi, quae Deo et creaturis sit communis). Im 52. Abschnitt 8 hebt Descartes zunächst hervor, daß die ausgedehnte und die bewußtseinhabende res unter dem gemeinsamen Begriff der Substanz gedacht werden können; auch wenn sie ein unterschiedliches gattungsmäßiges Wesen haben, so kommen sie doch 8

Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a.a.O., 18; AT VIII, 24 f.

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darin überein, geschaffen zu sein, d. h. bloß Gottes Beistand zu ihrer Existenz zu bedürfen. (Possunt autem substantia corporea et mens, sive substantia cogitans creata, sub hoc communi conceptu intelligi, quod sint res, quae solo Dei concursu egent ad existendum). Anschließend wird die Frage erörtert, wie wir Substanzen als solche erkennen können. Dazu heißt es: »Die Substanz kann nicht gleich aus dem allein erkannt werden, daß sie eine existierende res ist, weil diese allein für sich uns nicht affiziert (angeht) (Verumtamen non potest substantia primum animadverti ex hoc solo, quod sit res existens, quia hoc solum per se nos non afficit); aber wir erkennen die Substanz leicht aus einem ihr eigenen beliebigen Attribut zufolge jenes Allgemeinbegriffs, daß das Nichts keine Attribute, keine Eigenschaften oder Qualitäten hat« (sed facile ipsam agnoscimus ex quolibet ejus attributo, per communem illam notionem, quod nihili nulla sint attributa, nullaeve proprietates aut qualitates). Eine Substanz erkennen wir nur als Substanz ans ihren eigenschaft lichen Bestimmungen, nicht aber auf dem Wege eines unmittelbaren Zugangs. Was ist damit gesagt? Erkennen wir nicht die bewußtseinhabende Substanz in uns unmittelbar, wenn wir uns des eigenen Bewußtseins vergewissern? Erkennen wir nicht die ausgedehnte Substanz unmittelbar, wenn wir unseren geistigen Blick auf die Ausgedehntheit der Körper richten? Auf diese Fragen ist zu antworten: Wenn wir eine Substanz über das Bewußtsein und eine andere Substanz über ihre Ausdehnung erkennen, dann haben wir beide Substanzen über ein Attribut, über ihr Wesensattribut erkannt. Denn Bewußtsein ist das ausgezeichnete Wesensattribut der einen Substanz-Gattung, die Ausdehnung das Wesensattribut der anderen Substanz-Gattung. Eine Substanz als ein selbständig existierendes Seiendes unmittelbar erkennen wollen, hieße, sie von allen ihren eigenschaftlichen Bestimmungen und auch von ihrem Wesensattribut des Bewußtseins oder der Ausdehnung abgelöst erkennen wollen, die Substanz nur als das tragende, bleibende, sich durchhaltende, zugrundeliegende Sein. In jener Aussage Descartes’, daß wir die Substanz nicht zuerst aus dem allein erkennen können, daß sie eine existierende res ist, nimmt Descartes die Substanz nur hinsichtlich ihres ontologischen Charakters, ein selbständig Zugrundeliegendes für alle Attribute https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

und Eigenschaften zu sein, in den Blick, unter Absehung von den Attributen und Eigenschaften. In der Tat, wenn wir angesichts der Substanzen auch noch von ihren Wesensattributen, der cogitatio und der extensio, absehen, bleibt nichts mehr, wodurch uns die aller Bestimmungen entkleideten Substanzen affizieren, d. h. unser Erkenntnisvermögen angehen können. Die reine Substanz ist eine Seinsstruktur, die wir nur denkend erschließen können. Aber das gedankliche Erschließen steht nicht in unserem Belieben, weil der Gedanke von der tragenden Substanz ein notwendiger Gedanke ist. Die Notwendigkeit dieses ontologischen Gedankens ergibt sich aus dem Axiom: daß das Nichts keine Attribute und keine eigenschaft lichen Bestimmungen hat. Wenn das Bewußtsein und die Ausdehnung Attribute sind, bedürfen sie aufgrund jenes Axioms eines Seinsträgers. Nicht ein Nichts bzw. Nichtsein, sondern nur ein zugrundeliegendes Sein kann der Träger von Bestimmungen sein. Descartes beschließt den 52. Abschnitt mit dem erläuternden Satz: »Denn daraus, daß wir erfassen, daß irgendein Attribut anwesend ist, schließen wir, daß irgendeine existierende res bzw. eine Substanz, der jenes Attribut zuerteilt werden kann, auch notwendig anwesend sein muß« (Ex hoc enim quod aliquod attributum adesse percipiamus, concludimus aliquam rem existentem, sive substantiam, cui illud tribui possit, necessario etiam adesse). Unmittelbar anwesend und unmittelbar für das Erkennen gegeben sind die Attribute bzw. die Bestimmungen. Nicht unmittelbar für das Erkennen gegeben und zugänglich ist das, was der seinsmäßige Träger der unmittelbar zugänglichen Attribute ist. Dieser substanzielle Träger der bewußtseinhabenden und der ausgedehnten Substanz wird aufgrund des Axioms, daß nur ein zugrundeliegendes Sein (und nicht ein Nichtsein) Attribute haben kann, denkend erschlossen. In Fortsetzung hiervon heißt es im 53. Abschnitt :9 »Zwar wird die Substanz aus jedem beliebigen Attribut erkannt, dennoch aber gibt es für eine jede Substanz eine ausgezeichnete Eigenschaft, die ihre Natur und ihr Wesen bildet und auf die sich alle anderen beziehen« (Et quidem ex quolibet attributo substantia cognoscitur; 9

Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a. a. O., 18; AT VIII, 25.

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§ 20. Ontologie der Substanzen im Aufr iß

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sed una tamen est cujusque substantiae praecipua proprietas, quae ipsius naturam essentiamque constituit, et ad quam aliae omnes referuntur). Die ausgezeichnete Eigenschaft zeichnet sich dadurch vor allen anderen aus, daß sie die Natur und das Wesen der Substanz konstituiert. Das Wesen einer Substanz ist aber ihr gattungsmäßiges Wesen, durch das sie eine Gattung bildet. Im Abschnitt 48 hatte Descartes gesagt, er unterscheide nur zwei höchste Gattungen von Substanzen: die bewußtseinhabende und die ausgedehnte Substanz. Diese beiden höchsten Gattungen werden durch das jeweilige gattungsmäßige Wesen gebildet. Die Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe bildet die Natur und das Wesen der körperlichen Substanz (extensio in longum, latum et profundum, substantiae corporeae naturam constituit). Die extensio ist das Wesensattribut der körperlichen Substanz. Alle übrigen eigenschaftlichen Bestimmungen an der körperlichen Substanz setzen das Wesensattribut der Ausdehnung voraus und sind nur gewisse modi der ausgedehnten res (omne aliud quod corpori tribui potest, extensionem praesupponit, estque tantum modus quidam rei extensae). Solche modi der ausgedehnten Substanz sind z. B. die Raumgestalt (figura), die Raumgröße (magnitudo), die Raumbewegung (motus), die Lage (situs). Daß die Gestalt eines Körpers nur ein modus im Unterschied zum Wesensattribut der extensio ist, zeigt sich, wenn man sich klar macht, daß ein Körper nur eine Raumgestalt haben kann, wenn er ausgedehnt ist. Die Raumgestalt setzt die Ausdehnung voraus. Die Gestalt eines Körpers ist wandelbar. Denken wir an das Stück Wachs aus der II. Meditation, das in der Nähe des Kaminfeuers seine Raumgestalt verändert. Ebenso verändert sich die Raumgröße. Während diese modi wechseln, bleibt das Wachs eine ausgedehnte Substanz. Der Vorrang der extensio vor ihren modi zeigt sich auch darin, daß wir die extensio für sich allein ohne die Raumgestalt denken können, daß wir aber nicht umgekehrt die Raumgestalt ohne die Ausdehnung zu denken vermögen. Das Bewußtsein konstituiert die Natur der bewußtseinhabenden Substanz und ist deren Wesensattribut (cogitatio constituit naturam substantiae cogitantis). Auch hier nennt Descartes alles das, was wir im Bewußtsein als zu unterscheidende Bestimmungen antrefhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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6. Kapitel: Wesen der Körper, ontologischer Gottesbeweis

fen, modi des Bewußtseins (omnia, quae in mente reperimus, sunt tantum diversi modi cogitandi). Die verschiedenen modi des Bewußtseins sind z. B. die Einbildungskraft (imaginatio), Sinnlichkeit (sensus), Wille (voluntas). Auch hier zeigt sich deutlich der Unterschied zwischen dem zugrundeliegenden Wesensattribut und den dazu gehörenden wandelbaren Weisen oder Bestimmungen. Das Wahrnehmen oder das imaginative Vorstellen geschieht in Akten, die anheben, dauern und enden und auf die wieder neue Akte folgen. Was aber während des Wandels der Akte (modi) bleibt, ist das Bewußtsein (nec imaginatio, vel sensus, vel voluntas, nisi in re cogitante). Keinen Bewußtseinsakt kann ich ohne das Bewußtsein denken, während ich umgekehrt mir einen Begriff vom Bewußtsein unter Absehung seiner modi machen kann (potest intelligi cogitatio sine imaginatione vel sensu). Für die eigenschaft lichen Bestimmungen im weitesten Sinne einer Substanz verwendet Descartes drei verschiedene Termini. Im 56. Abschnitt10 gibt er eine wichtige terminologische Klärung dieser drei Begriffe. Zunächst wird betont, daß er unter modi durchaus dasselbe verstehe wie anderwärts unter Attribute oder Qualitäten – eben als Bezeichnungen für eigenschaftliche Bestimmungen der Substanz. Sodann werden die drei Termini in ihren unterschiedlichen Verwendungsweisen umrissen. Wenn wir erwägen, daß die Substanz von ihren Bestimmungen erregt oder verändert wird, werden die Bestimmungen modi (Weisen) genannt (Sed cum consideramus substantiam ab illis affici, vel variari, vocamus modos). Eine Substanz wird trotz ihres Zugrundeliegens und Bleibens verändert, wenn ihre eigenschaftlichen Bestimmungen wechseln, wie die Gestalten an der ausgedehnten Substanz und wie die Bewußtseinsakte (Bewußtseinsweisen) an der bewußtseinhabenden Substanz. – Wenn wir erwägen, daß die Substanz von ihrer Veränderung her als so beschaff en benannt werden kann, werden die Bestimmungen Qualitäten genannt (cum ab ista variatione talem posse denominari, vocamus qualitates). Ich sage z. B.: Der Körper hat durch eine Einwirkung die Qualität der runden Gestalt angenommen. Modus und qualitas liegen in ih10

Descartes, Die Prinzipien der Philosophie (Buchenau), a.a.O., 19; AT VIII, 26.

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§ 20. Ontologie der Substanzen im Aufr iß

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rer Anwendungsweise nahe beieinander. – Anders verhält es sich mit dem Terminus attributum. Der eigentliche Unterschied, auf den es hier ankommt, ist der zwischen modus und attributum. Wenn wir nur im allgemeinen ins Auge fassen, daß die Bestimmungen der Substanz innewohnen, nennen wir sie Attribute (cum generalius spectamus tantum ea substantiae inesse, vocamus attributa). Die als Attribut bezeichnete Eigenschaft ist keine solche, durch welche die Substanz verändert wird. Sie ist keine wandelbare Eigenschaft, also kein modus, sondern die unwandelbare Eigenschaft. Deshalb bezeichnet Descartes die Wesenseigenschaften der beiden Substanzgattungen nicht als modi, sondern als attributa. Descartes erläutert das letztere: Von Gott sagen wir, daß in ihm nicht eigentlich modi oder Qualitäten sind, sondern nur Attribute, weil in ihm keine Veränderung gedacht wird. Und auch bei den geschaffenen res muß das, was sich an ihnen niemals auf verschiedene Weise verhält, wie die Existenz und die Dauer, vor allem aber wie die Ausdehnung und das Bewußtsein, nicht Modus oder Qualität, sondern Attribut genannt werden.

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S I E BE N T E S K A PI T E L DI E Z W E I BE W E I S E F Ü R DI E E X I S T E N T I A DE R M AT E R I E L L E N KÖR PE R DI NG E Auf dem zurückgelegten Weg durch die »Meditationen« haben wir zwei Weisen transzendierenden Vorstellens und Erkennens herausgestellt, die beide in der Urtranszendenz meines Bewußtseins gründen. Die erste Weise transzendierenden Erkennens auf dem zuvor gesicherten Grunde des als Urtranszendenz verfaßten Bewußtseins ist unser Erkennen der Wesensverfassung der Körper und der zu ihr gehörenden idealen Wesensverhalte, die zugleich der Gegenstand der mathematischen Wissenschaften sind. Das transzendierende Vorstellen und Erkennen, das die raumhaften und zahlhaften Wesensbestimmungen der Körper als ideale Wesensverhalte denkt, ist ein in der Bewußtseinsimmanenz verbleibendes Transzendieren: Thema der V. Meditation. Hier sprechen wir von der bewußtseinsimmanenten Transzendenz. Transzendent sind die idealen Wesensverhalte mit ihrer Wesensgesetzlichkeit gegenüber den Bewußtseinsakten des Vorstellens, Denkens, Erkennens. In diesen Akten transzendiere ich, d. h. übersteige ich meine subjektiven Akte auf ihre objektiven Aktgegenstände hin, sofern diese in sich eine Verbindlichkeit einschließen, die meine Akte des Denkens und Erkennens binden. Solange nicht die Seinsquelle bzw. der Seinsgrund meines denkend-erkennenden Verstandes in höchster Weise gewiß war, konnte auch die Wesensgesetzlichkeit der Wesensbestimmungen und idealen Wesensverhalte in den methodischen Zweifel gezogen werden (I. Meditation). Daher hieß es in der I. Meditation: Auch wenn ich mit höchster, mit apodiktischer Gewißheit zu erkennen meine, daß 2 + 3 = 5 ist oder daß die Winkelsumme eines Dreiecks stets 180° beträgt, könnte der Seinsgrund meines Verstandes diesen so ins Sein gebracht haben, daß ich mich stets täusche, daß somit die idealen Sachverhalte in Wahrheit keine an ihnen selbst bestehenden Wesenheiten sind. Nachdem aber in der III. Meditation aus meinem absohttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Kapitel 7: Zwei Beweise für die existentia der Körper

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lut vergewisserten Selbstbewußtsein heraus meine Urtranszendenz zum notwendig existierenden göttlichen Seinsgrund desgleichen mit höchster Gewißheit erwiesen wurde, ist der täuschungsfreie Seinsgrund meines Verstandes mit höchster Gewißheit erkannt. Zwar ist diese Gewißheit an die Selbstgewißheit meines Selbstbewußtseins geknüpft, aber dergestalt, daß sich der urtranszendente Seinsgrund als Seinsquelle der Selbstgewißheit des ego cogito erweist. Die so aus der Urtranszendens entspringende absolute Selbstgewißheit teilt ihre Gewißheit meiner bewußtseinsimmanent transzendierenden Erkenntnis von der Wesensverfassung der Körper und der idealen Wesensverhalte mit. Die apodiktische Gewißheit der mathematischen Sachverhalte ist demnach zweifach fundiert: primär in der höchsten Gewißheit meiner Gotteserkenntnis und sodann in der Selbstgewißheit meines Selbstbewußtseins, die nicht in sich selbst, sondern in der göttlichen Seinsquelle gründet. Die zweite Weise meines transzendierenden Vorstellens und Erkennens auf dem Grunde der Gewißheit der Urtranszendenz und der aus dieser ermöglichten Selbstgewißheit meines Selbstbewußtseins ist Thema der VI. Meditation. Diese ist überschrieben: De rerum materialium existentia et reali mentis a corpore distinctione, Über das Wirklichsein (Dasein, Existenz) der materiellen Dinge (Körper) und über den realen Unterschied des Geistes (Bewußtseins) vom Körper. Hier geht es um jenes Transzendieren, in dem ich – vermittelt durch die bewußtseinsimmanenten ideae – meine ichliche Bewußtseinssphäre auf die bewußtseinstranszendente Welt der materiellen Körper hin übersteige. Der Nachweis dieser zweiten Weise erkennenden Transzendierens kommt dem Nachweis der existentia der bewußtseinstranszendenten Körper gleich. Descartes gibt in der VI. Meditation zwei deutlich voneinander abgehobene Beweise. Der erste Beweis wird durch eine Analyse der imaginatio, der Einbildungskraft, durch eine Analyse des imaginierenden Bewußtseins ausgeführt (1. bis 3. Abschnitt). Der zweite Beweis wählt den Weg der Analyse des sinnlichen Wahrnehmungsbewußtseins. Die Vorüberlegungen zu diesem wichtigeren Beweis beginnen mit dem 4. Abschnitt, die eigentliche Durchführung des Beweises erfolgt im 10. Abschnitt. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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7. Kapitel: Zwei Beweise für die existentia der Körper

Beide Beweise für das bewußtseinstranszendente Wirklichsein der Körperwelt verlaufen als Analyse je eines Erkenntnisvermögens. Imaginierendes Vorstellen und sinnliches Wahrnehmen sind jene Vermögen, in denen wir uns auf die materielle Körperwelt vorstellend-erkennend beziehen. Auch die Analysen dieser beiden Erkenntniswege werden innerhalb der Immanenz der ichlichen Bewußtseinssphäre ausgeführt. Aus dieser Einstellung und Blickstellung heraus müssen sie auch von uns interpretierend nachvollzogen werden. Die Analysen des imaginierenden und des sinnlich empfindendenvorstellenden Bewußtseins müssen auch als Schritte der cartesianischen Bewußtseinsanalytik verstanden werden. Beide Analysen sind von der Absicht geleitet, Wege zu finden, die aus der vergewisserten Bewußtseinsimmanenz in eine vergewisserte Bewußtseinstranszendenz führen. Der Beweis der existentia der Körperwelt soll Gewißheit beanspruchen können, Gewißheit, die im Zusammenhang steht mit der Selbstgewißheit meines Bewußtseins, die ihrerseits in der Gewißheit des urtranszendenten göttlichen Seinsgrundes gründet.

§ 21 Der Beweis vom wahrscheinlichen Wirklichsein der Körper aus der Analyse der Einbildungskraft Descartes eröffnet die VI. Meditation mit der Feststellung, daß von allen beabsichtigten Untersuchungen jetzt noch die eine und entscheidende aussteht – die Beantwortung der Frage, ob das in der natürlichen Erkenntnis unausdrücklich-selbstverständlich gesetzte Wirklichsein der materiellen Dinge in einer philosophisch-reflexiven Erkenntnis mit Gewißheit dargetan werden könne, mit Gewißheit, die ihre Quelle in der Selbstgewißheit des als Urtranszendenz verfaßten Selbstbewußtseins hat (Reliquum est, ut examinem, an res materiales existant). Es ist die Frage, ob die materiellen Dinge so, wie ich sie bewußtseinsimmanent in meinen ideae und deren realitas objectiva vorstelle, auch ideatranszendent in der Seinsweise der realitas formalis sive actualis existieren. https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 21. Analyse der Einbildungskraft

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Oft bezeichnet man diese Frage als die nach der ›Realität der Außenwelt‹. Doch in dieser aus der Erkenntnistheorie stammenden Formulierung bedeutet ›Realität‹ nicht das, was Descartes als realitas bezeichnet: die Sachhaltigkeit in der Bedeutung von essentia. In der Rede von der ›Realität der Außenwelt‹ bedeutet ›Realität‹ aber Wirklichsein im Sinne von existentia. Im 1. Abschnitt der VI. Meditation heißt es: Aus den Erörterungen der V. Meditation wisse er (Descartes) so viel, daß die materiellen Körper insoweit bewußtseinstranszendent existieren könnten, als sie Gegenstand der Mathematik sind (scio illas, quatenus sunt purae Matheseos obiectum, posse existere, quandoquidem ipsas clare et distincte percipio). Die materiellen Dinge sind Gegenstand der Mathematik hinsichtlich dessen, was an ihnen ihre essentia und ihre essentiellen Bestimmungen ausmacht. Die essentia lernten wir kennen als die Wesensverfassung der räumlichen Ausdehnung (extensio) und deren modi wie Raumgröße, Figur usf. Die Wesensverfassung und deren modi werden in reinen Begriffen in der Weise von ideae vorgestellt, von ideae mit ihrer realitas objectiva und realitas formalis, die hier zusammenfallen, sofern die in den reinen Begriffen gedachten idealen Sachverhalte ihren Sitz im Bewußtsein haben. Was ich in diesen ideae vorstelle und denke, erfasse ich in höchst klarer und distincter Weise. Was in dieser Weise erfaßt werden kann, darf Wahrheit als Gewißheit beanspruchen, die ihre Quelle in der im göttlichen Seinsgrund gründenden Selbstgewißheit meines Selbstbewußtseins hat. Damit ist aber vorerst nur die bewußtseinsimmanente Transzendenz der idealen Sachverhalte gesichert. Noch nicht ist mit Gewißheit erwiesen, daß auch bewußtseinstranszendente res existieren, die als an ihnen selbst existierende Dinge durch die extensio und deren modi bestimmt sind. Dieser Nachweis soll im Durchgang durch eine Analyse der Funktionsweise der Einbildungskraft durchgeführt werden. Denn in meinem Vorstellen der materiellen Dinge bringe ich außer der Wahrnehmung auch die Einbildungskraft mit ins Spiel, das imaginativ gestützte Vorstellen. Aus meiner Einbildungsfähigkeit scheint nämlich hervorzugehen, daß materielle Dinge wahrhaft bewußtseinstranszendent existieren (ex imaginandi facultate, qua me uti https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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7. Kapitel: Zwei Beweise für die existentia der Körper

experior, dum circa res istas materiales versor, sequi videtur illas existere). Für das vorstellende Sichbeziehen auf materielle Dinge verwendet Descartes die Wendung ›circa res istas materiales versor‹. Versari bedeutet: sich aufhalten. Während ich mich vorstellend bei materiellen Dingen aufhalte, setze ich auch die Einbildungsfähigkeit ins Spiel und halte mich imaginativ vorstellend bei den materiellen Dingen auf. Bevor Descartes die Analyse der imaginatio ausführt, nimmt er ihre Defi nition vorweg, um den Mitmeditierenden sehen zu lassen, inwiefern eine Analyse der imaginatio in einen Nachweis der existentia der Körper einmündet. Die Definition lautet: Die imaginatio scheint nichts anderes zu sein als eine gewisse Anwendung der Erkenntnisfähigkeit auf jenen Körper, der mir als dem erkennenden Bewußtsein unmittelbar gegenwärtig ist, der demnach existieren muß (nam attentius consideranti, quidnam sit imaginatio, nihil aliud esse apparet quam quaedam applicatio facultatis cognoscitivae ad corpus ipsi intime praesens ac proinde existens). Dieser meinem vorstellend-erkennenden Bewußtsein unmittelbar gegenwärtige Körper ist nicht irgendein Körper meines Wahrnehmungsfeldes, sondern ist mein eigener Körper, mein Leib. Wenn sich zeigen läßt, daß die imaginatio von ihr selbst her auf meinen Leib-Körper verweist, dann existiert dieser mir nächste Körper. Wenn aber überhaupt ein bewußtseinstranszendenter Körper, eben mein eigener Körper, existieren sollte, spräche nichts mehr dagegen, daß auch die anderen materiellen Körper jenseits meines eigenen Körpers bewußtseinstranszendent existieren. Mit dem 2. Abschnitt setzt die Bewußtseinsanalyse der imaginatio ein. Sie beginnt mit der Herausstellung des Unterschieds zwischen dem bildlichen Vorstellen und dem reinen Verstehen durch den Verstand (differentiam, quae est inter imaginationem et puram intellectionem). Stelle ich mir ein Dreieck imaginativ vor, verstehe ich nicht nur verstandesmäßig (intelligo), daß es eine von drei Seiten eingeschlossene Figur ist, sondern ich schaue (intueor) zugleich auch diese drei Linien mit meinem geistigen Auge (acie mentis) gleichsam gegenwärtig in mir. Dieses Schauen ist das imaginative Vorstellen. Der Unterschied zwischen dem reinen Verstandesdenken ohne Einbildungskraft und dem einbildenden Vorstellen ist dieser: Wenn ich https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 21. Analyse der Einbildungskraft

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nur den reinen Begriff des Dreiecks denke, stelle ich in Allgemeinheit die Wesensbestimmungen dieser Figur vor ohne ein inneres Bild von ihr. Auf dem Grunde dieses reinen Denkens kann ich mir auch ein Dreieck imaginativ vorstellen, so, daß ich dann ein inneres Bild von einem so oder so gestalteten Dreieck habe. Ich schaue mit der Einbildungsfähigkeit ein Dreieck dergestalt an, als ob eine dreiekkige Figur in der sinnlichen Wahrnehmung außer mir gegenwärtig sei. Die weiteren Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Verstandesdenken und imaginativem Vorstellen sollen zeigen, daß die Einbildungsfähigkeit zwar auch ein Modus des Bewußtseins ist, daß sie aber zugleich auch auf etwas anderes verweist, das nicht nur mein Bewußtsein ist. Dieses andere stellt sich als mein mit meinem Bewußtsein verbundener Körper heraus. Stelle ich mir statt eines Dreiecks ein Tausendeck vor (cogito), so verstehe ich mittels des Verstandes (intelligo), daß es eine aus tausend Seiten bestehende Figur ist, ebenso gut, wie ich zuvor mittels des Verstandes begriffen habe, daß das Dreieck eine aus drei Seiten gebildete Figur ist. Zwischen dem verstandesmäßigen Vorstellen eines Tausendecks und dem eines Dreiecks besteht kein Unterschied. Anders verhält es sich zwischen dem imaginativen Vorstellen eines Dreiecks und dem eines Tausendecks. Wenn ich mühelos ein Dreieck dergestalt imaginativ vorstellen kann, daß ich in diesem Vorstellungsbild deutlich alle drei Seiten schaue, so ist das gleiche für das Tausendeck nicht mehr möglich. Was ich mir gerade noch einbilden kann, ist eine undeutliche verwaschene Figur (figuram forte aliquam confuse mihi repraesentem), ohne daß ich an ihr tausend Seiten schauen könnte. Die gleiche undeutlich verwaschene Figur bilde ich mir auch dann ein, wenn ich an ein Zehntausendeck denke. Was die Einbildungsfähigkeit hier leistet, unterscheidet sich in nichts von dem, was sie beim versuchten Einbilden eines Tausendecks vermag. Die Einbildungsfähigkeit kann nur in begrenzter Weise Vorstellungsbilder bilden, in denen ich dasselbe imaginativ schaue, was ich mittels des Verstandes denke. Aus dieser Erfahrung folgt für Descartes, daß es zum einbildenden Vorstellen einer besonderen Leistung des Bewußtseins bedarf, die ich für mein verstandesmäßiges Denken nicht benötige (manifeste hic animadverto mihi peculiari quadam animi https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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7. Kapitel: Zwei Beweise für die existentia der Körper

contentione opus esse ad imaginandum, qua non utor ad intelligendum). Dies bedeutet, daß die neue Anspannung meines erkennenden Bewußtseins auf einen Unterschied zwischen dem imaginativen Vorstellen und dem verstandesmäßigen Einsehen klar hinweist (quae nova animi contentio differentiam inter imaginationem et intellectionem puram clare ostendit). Aus dieser eingesehenen Unterscheidung zwischen dem imaginativen Vorstellen und dem verstandesmäßigen Verstehen entfaltet Descartes im 3. Abschnitt den eigentlichen Nachweis für die wahrscheinliche Existenz meines zu meinem Bewußtsein gehörenden Körpers und damit auch der übrigen Körper. Schon in der II. Meditation hatte Descartes gezeigt, daß ich mittels der Einbildungskraft (vis imaginandi) nicht mich selbst als ichliches Bewußtsein erfassen kann. Das besagt, daß die Einbildungskraft so, wie sie sich von meiner Verstandeskraft (vis intelligendi) unterscheidet, nicht zum unreduzierbaren Wesensbestand meines Geistes gehört (ad mei ipsius, hoc est ad mentis meae, essentiam non requiri). Das rein geistige Wesen meiner selbst ist für Descartes mein ichliches Bewußtsein und dieses als Einsehen, Erfassen, Vorstellen usf. Ich würde daher in meiner Ichheit auch dann derselbe bleiben, wenn mir das Vermögen der Einbildungskraft ermangelte. Daraus aber zieht Descartes eine bedeutsame Folgerung: Wenn die imaginatio, soweit sie nicht nur Bewußtsein ist, nicht zum Wesensbestand meiner Ichheit gehört, muß sie auch von etwas anderem abhängen, das von meiner rein bewußtseinsmäßigen Ichheit unterschieden ist (unde sequi videtur illam ab aliqua re a me diversa pendere). Descartes will nicht etwa sagen, die Einbildungskraft habe mit meiner geistigen Ichheit nichts zu tun. Vielmehr hat sie soviel mit ihr zu tun, wie sie selbst am Bewußtsein teilhat und selbst ein modus meiner cogitatio ist. Aber als Erkenntnisvermögen ist sie nicht nur geistiger Natur. Sie bedarf, um ihre cogitata als imagines (Vorstellungsbilder) bilden zu können, auch eines Körpers, jenes Körpers, mit dem meine geistige Ichheit auf das engste verbunden ist trotz ihrer substanziellen Unterschiedenheit. Auf welche Weise meine Einbildungsfähigkeit auch meines Körpers bedarf, um ihre cogitata als imagines bilden zu können, führt https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 21. Analyse der Einbildungskraft

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Descartes wie folgt aus: Wenn irgendein Körper existiert und als existierender mit meiner Geistnatur so verbunden ist, daß sich mein erkennender Geist nach Belieben auf ihn richten kann, um auf diesen Körper gleichsam hinzublicken, dann ist es möglich, daß ich durch diesen Körper hindurch (durch das Hinblicken auf meinen Körper) mir körperliche Dinge imaginativ vorstelle (si corpus aliquod existat, cui mens sit ita coniuncta, ut ad illud veluti inspiciendum pro arbitrio se applicet, fieri posse, ut per hoc ipsum res corporeas imaginer). Was möchte Descartes damit sagen? Für ihn sind die von der Einbildungsfähigkeit gebildeten cogitata oder ideae imagines, die jene in meinen Körper (Gehirn) einbildet. In den ›Definitionen‹ innerhalb des Anhanges zu den »Zweiten Erwiderungen« (Rationes) heißt es hierzu, daß die Vorstellungsbilder der Einbildungskraft »in irgendeinem Teile des Gehirns gemalt sind« (in parte aliqua cerebri depictae).1 Diese Deutung ist auch der Grund dafür, daß Descartes die imaginatio gelegentlich als phantasia corporea, als auf den Körper bezogene Einbildungskraft bezeichnet. Die Einbildungskraft ist körperliche Phantasie mit Blick auf das, was an ihr nicht zum reinen Bewußtsein, sondern zu meinem Körper gehört. Die Einbildungskraft ist aber für Descartes nicht durchweg phantasia corporea, sondern nur hinsichtlich dessen, was in ihrer Funktion auf meinen Körper verweist, dessen sie bedarf, um Vorstellungsbilder hervorbringen zu können. Soweit das imaginativ Vorgestellte eine idea ist, hat es an der cogitatio (substantia cogitans) teil. Das imaginativ Vorgestellte ist als idea ein modus meiner cogitatio. Soweit aber die idea den Charakter eines Bildes (imago) hat, hat das imaginativ Vorgestellte zugleich an meinem Körper teil (substantia extensa). Die Einbildungskraft erweist sich als ein Vermögen, das zwischen meiner cogitatio und meinem corpus vermittelt. Sie ist zwar selbst ein cogitatives Vermögen, ein modus meiner ichlichen Bewußtseinssphäre. Doch in ihrer Funktion, in der Bildung ihrer Vorstellungen, vermag sie nicht in der cogitatio allein zu verbleiben. Ihre Vorstellungsbilder sind nicht nur cogitativer Natur. Vielmehr 1 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie mit Einwänden und Erwiderungen (Buchenau), a. a. O., 145; AT VII, 160 f.

https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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7. Kapitel: Zwei Beweise für die existentia der Körper

bezieht sie sich in ihrer Bildung von Vorstellungsbildern auf den ihr nächsten Körper, der dadurch, daß er der Körper meiner cogitatio ist, den Charakter meines Leibes hat. Die Einbildungskraft als cogitatives Vermögen vermag ihre cogitativen imagines nur zu bilden, sofern sie die imagines in ein Körperliches einzubilden vermag. Die Zwischenstellung, die Deacartes der Einbildungskraft zuschreibt – ihre vermittelnde Stellung zwischen Bewußtsein und Leib – ist ein Thema, das zur Leib-Seele-Problematik gehört. Auf der Basis der Funktionsbestimmung der Einbildungskraft stellt Descartes noch einmal und in verschärfter Weise den Unterschied zwischen imaginatio und intellectio heraus. Der modus cogitandi des imaginativen Vorstellens unterscheidet sich von der reinen Verstandeserkenntnis darin, daß sich der Geist während seines verstandesmäßigen Einsehens nur auf sich selbst richtet und eine seiner ideae vorstellt (adeo ut hic modus cogitandi in eo tantum a pura intellectione differat, quod mens, dum intelligit, se ad seipsam quodammodo convertat respiciatque aliquam ex ideis, quae illi ipsi insunt). Dagegen richtet sich derselbe Geist während seines imaginativen Vorstellens auf den mit ihm verbundenen Körper und schaut in ihm etwas in der Weise eines Bildes an; das aber, was er in dem körperlich hineingebildeten Bild anschaut, ist entweder etwas, was der verstandesmäßig gedachten idea entspricht, oder etwas, was der sinnlich erfaßten idea korrespondiert (dum autem imaginatur, se convertat ad corpus et aliquid in eo ideae vel a se intellectae, vel sensu perceptae conforme intueatur). Die rein verstandesmäßig vorgestellte idea ist z. B. der Begriff vom Dreieck. Diesem Verstandesbegriff gemäß kann ich mittels der Einbildungsfähigkeit ein Bild von einem so und so gestalteten Dreieck einbilden. Dieses Bild ist dann eine imaginative Entsprechung zu dem, was ich in der idea vom Dreieck verstandesmäßig verstehe. Während die verstandesmäßige idea vom Dreieck ein reiner Begriff des Verstandes und als solcher rein cogitativer Natur ist, ist das imaginativ gebildete Bild nur teils cogitativer, teils körperlicher Natur. Die sinnlich erfaßte idea ist das, was ich in einer gegenwärtigenden Wahrnehmung vorstelle. Rückblickend auf seine Analyse der Funktionsweise der Einbildungskraft resümiert Descartes: Leicht sehe ich ein, daß das Bilden https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 21. Analyse der Einbildungskraft

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von Vorstellungsbildern in der beschriebenen Weise sich ereignen kann (Facile, inquam, intelligo imaginationem ita perfici posse), und er fährt fort: sofern mein Körper existiert (siquidem corpus existat). Zu beachten ist hier das von Descartes gebrauchte ›siquidem‹: sofern, falls. Dieses bringt nämlich zum Ausdruck, daß auf dem beschrittenen Weg der Analyse von der Funktionsweise der Einbildungskraft noch keine Gewißheit bezüglich der existentia meines Körpers und damit auch der anderen Körper gewonnen ist. Weil sich ihm keine andere gleich angemessene Weise zur Erklärung, zur Aufklärung der Funktionsweise der Einbildungskraft einstellt, entnimmt er daraus mit Wahrscheinlichkeit, daß mein Körper wahrhaft an ihm selbst existiert, bewußtseinstranszendent, aber aufs engste mit meinem Bewußtsein so verbunden, daß meine Bewußtseinsweise der Einbildungsfähigkeit ihre Vorstellungsbilder in den Körper (Gehirn) hineinbilden kann (et quia nullus alius modus aeque conveniens occurrit ad illam explicandam, probabiliter inde conicio corpus existere). Descartes wiederholt sogleich die Wendung: aber nur mit Wahrscheinlichkeit (sed probabiliter tantum). Warum aber handelt es sich um eine Folgerung nur mit Wahrscheinlichkeit und nicht mit Gewißheit? Darauf antwortet Descartes: Wie sorgfältig ich auch alles zu dem vollzogenen Gedankengang und Nachweis Gehörige prüfe, so sehe ich immer noch nicht, daß aus dieser distincten idea von der körperlichen Natur (die Descartes in der Funktionsweise des imaginativen Vorstellens gefunden hat) irgendein Beweisgrund entnommen werden könne, der es zuließe, mit Notwendigkeit zu schließen, daß irgendein Körper und zunächst der meinige mit Gewißheit existiert (nondum tamen video ex ea naturae corporeae idea distincta, quam in imaginatione mea invenio, ullum sumi posse argumentum, quod necessario concludat aliquod corpus existere). Der analytische Durchgang durch die Interpretation der Einbildungsfähigkeit, wonach wir im imaginativen Vorstellen nicht im reinen Bewußtsein verbleiben, sondern unter Mithilfe des eigenen Körpers die Vorstellungsbilder bilden, so, daß die Vorstellungsbilder über ihre cogitative Natur hinaus auch eine körperliche Grundlage haben, dieser Beweisgang hat für Descartes nur Wahrscheinlichkeitscharakter. Es https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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7. Kapitel: Zwei Beweise für die existentia der Körper

fehlt ihm der höhere Gewißheitsgrad, der als Unbezweifelbarkeit gekennzeichnet ist und an der Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins teilhat. Deshalb sinnt Descartes auf einen zweiten Beweis, der nicht nur Wahrscheinlichkeit, sondern Gewißheit mit sich führt.

§ 22 Der Beweis für die Gewißheit über das Wirklichsein der materiellen Körper auf dem Wege der Wahrnehmungsanalyse Descartes gibt sich im 4. Abschnitt die Richtung des neu einzuschlagenden Weges vor. Er wolle nunmehr von der Sinneswahrnehmung handeln und zusehen, ob er aus dem, was durch diesen Modus des Bewußtseins, den er Sinneswahrnehmung nenne, aufgefaßt wird, irgendeinen sicheren Beweisgrund für die Existenz der körperlichen Dinge besitzen könne (etiam de sensu est agendum videndumque, an ex iis, quae isto cogitandi modo, quem sensum appello, percipiuntur, certum aliquod argumentum pro rerum corporearum existentia habere possim). Die Analyse des Wahrnehmungsbewußtseins selbst wird im 10. Abschnitt durchgeführt. Hier im 10. Abschnitt sagt Descartes: In mir ist ein gewisses passives Vermögen des Wahrnehmens (Iam vero est quidem in me passiva quaedam facultas sentiendi). Die Passivität dieses Vermögens wird dahingehend erläutert, daß es ideae von Sinnendingen aufnimmt und in diesen das erkennt, was sie enthalten (sive ideas rerum sensibilium recipiendi et cognoscendi). Bedeutsam ist, daß Descartes seine Wahrnehmungsanalyse beginnen läßt mit einer Charakterisierung des Wahrnehmungsvermögens als eines solchen, worin wir uns empfangend-hinnehmend und insofern passiv bzw. rezeptiv verhalten. Doch mit der Heraushebung dieses Charakters wird nicht schon behauptet, daß wirkliche Dinge bewußtseinstranszendent so existieren, daß sie selbst unser Sinnesvermögen affizieren. Daß es sich wahrhaft so verhält, soll erst mit Gewißheit nachgewiesen werden. Die empfangenen sinnlichen ideae könnten auch eine andere Herkunft haben, was erst noch untersucht werden muß. Die Beschreibung des https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 22. Wahrnehmungsanalyse

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Wahrnehmens als eines rezeptiven Verhaltens geschieht aus der vergewisserten Immanenz des wahrnehmenden Bewußtseins. Auch die Wahrnehmungsanalyse wird also in der vergewisserten ichlichen Bewußtseinssphäre ausgeführt. Zum bewußtseinsimmanenten Vollzugssinn meines Wahrnehmens gehört ein Wissen darum, daß wir uns bezüglich des Wahrzunehmenden empfangend-hinnehmend verhalten. Dieses Vollzugswissen gehört mit zur vergewisserten Bewußtseinsimmanenz. Der Charakter der Rezeptivität meines Wahrnehmens fordert aber – wie Descartes seine Wahrnehmungsanalyse fortsetzt – von ihm selbst her ein gewisses aktiv wirkendes Vermögen, das meine sinnlichen ideae hervorruft (nisi quaedam activa facultas existeret). Dieses aktiv wirkende Vermögen liegt nun entweder in mir selbst oder in einem anderen (sive in me, sive in alio). In der III. Meditation hatte Descartes im Zusammenhang mit der Frage nach der Realitätsgröße der jeweiligen realitas obiectiva meiner ideae von den Körpern die Möglichkeit erwogen, daß die vorgestellte Realitätsgröße von vorgestellten Körpern ihre bewirkende realitas formalis in mir selbst als res cogitans haben könnte. Diese Möglichkeit schloß die Hypothese ein, daß meine von den Körpern, wie ich meine, empfangenen sinnlichen Vorstellungen ihre wahre bewirkende Ursache nicht in wahrhaft existierenden Körpern, sondern in einem Vermögen meiner selbst haben. An diesen Gedanken aus der III. Meditation knüpft Descartes jetzt im 10. Abschnitt der VI. Meditation an. Jetzt wird die damals aufgestellte Hypothese zurückgewiesen. Die meine sinnlichen Vorstellungen bewirkende Ursache kann nicht in mir selbst gelegen sein, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund : Das aktive Vermögen, das die von mir empfangenen sinnlichen Vorstellungen von Körpern bewirkt, setzt kein verstandesmäßiges Verstehen voraus (Atque haec sane in me ipso esse non potest, quia nullam plane intellectionem praesupponit). Was ich in den sinnlichen Vorstellungen (ideae) vorstelle, ist eine körperliche und keine cogitative res. Ich selber aber bin in meiner Ichheit reine intellectio. Läge in mir das aktive Vermögen einer Bewirkung sinnlicher Vorstellungen von materiellen ausgedehnten Körpern, dann wäre die bewirkende Ursache dieser Vorstellungen meine intellectio. Der zweite Grund : https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Zum Vollzugssinn meiner sinnlichen Wahrnehmungen gehört das Vollzugswissen, daß die sinnlichen Vorstellungen ohne mein aktives Zutun und häufig gegen meinen Willen in mir hervorgerufen werden (et me non cooperante, sed saepe etiam invito ideae istae pruducuntur). Es bleibt daher nur übrig, daß meine sinnlichen Vorstellungen von einer von mir selbst als bewußtseinhabender Substanz unterschiedenen Substanz herrühren (ergo superest, ut sit in aliqua substantia a me diversa). Diese von mir selbst unterschiedene Substanz müßte freilich nicht die wahrhaft existierende körperliche Substanz sein. Aus den früheren Überlegungen zum Verhältnis von realitas obiectiva und realitas formalis wissen wir, daß in der bewirkenden Ursache diejenige Realität, die in der idea als realitas objectiva vorgestellt wird, entweder in der gleichen oder in einer überragenden Weise enthalten sein muß (in qua, quoniam omnis realitas vel formaliter vel eminenter inesse debet, quae est obiective in ideis ab ista facultate productis). Diejenige Substanz außerhalb meiner subtantia cogitans, die meine sinnlichen Vorstellungen von Körpern bewirkt, ist für den Fall, daß sie die realitas formalis mit der gleichen Realitätsgröße enthält, die körperliche Substanz selbst, also der wahrhaft existierende Körper (vel haec substantia est corpus sive natura corporea, in qua nempe omnia formaliter continentur quae in ideis obiective). Falls aber die außerhalb meiner ichlichen Bewußtseinssphäre seiende und meine sinnlichen Vorstellungen hervorrufende Substanz die realitas formalis mit einer überragenden Realitätsgröße enthalten sollte, wäre sie nicht die körperliche Substanz selbst, sondern entweder die göttliche Substanz oder irgendein edleres Geschöpf als der Körper (vel certe Deus est, vel aliqua creatura corpore nobilior, in qua continentur eminenter). Um nun mit Sicherheit und Gewißheit – und nicht nur mit Wahrscheinlichkeit – entscheiden zu können zwischen diesen beiden Möglichkeiten, greift Descartes auf den bewußtseinsanalytischen Gottesaufweis der III. Meditation zurück. Dieser hatte ergeben, daß das göttliche und vollkommenste Seiende nicht nur der vorgestellte Gehalt meines Gottesbegriffes ist, sondern an ihm selbst notwendig existieren muß. Diese notwendig existierende höchste Vollkomhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 22. Wahrnehmungsanalyse

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menheit der schaffenden, d. h. ins Sein hervorbringenden göttlichen Substanz schließt aber die Denkmöglichkeit aus, daß die göttliche Seinsquelle in mir die sinnlichen Vorstellungen von nur vermeintlich existierenden Körpern hervorruft. Der Gottesaufweis schließt also die Möglichkeit aus, daß das wahrhaft existierende allervollkommenste und somit täuschungsfreie Seiende meine ideae von den Körpern unmittelbar in mir bewirkt (Atqui, cum Deus non sit fallax, omnino manifestum est illum nec per se immediate istas ideas mihi immittere nec etiam mediante aliqua creatura, in qua earum realitas obiectiva non formaliter, sed eminenter tantum contineatur). Ein unmittelbares in mich Hineinschicken von derartigen Vorstellungen hieße, daß es gar keine wirklichen Körper gäbe, daß es somit für mich nur den Anschein hat, daß bewußtseinstranszendente Körper an ihnen selbst existieren. Die Hervorrufung dieses Anscheins käme einem Getäuschtwerden gleich. Weil das allervollkommenste, also täuschungsfreie göttliche Seiende mir keine Fähigkeit gegeben hat zu erkennen, daß meine Vorstellungen von bewußtseinstranszendenten Dingen unmittelbar von ihm in mir hervorgerufen werden, weil die göttliche Seinsquelle mir vielmehr den großen Hang in meinem Bewußtsein verliehen hat, zu glauben und damit zu setzen, daß meine ideae von bewußtseinstranszendenten körperlichen Dingen herrühren, so ist diesem Hang und meinem Seinsglauben zu vertrauen (Cum enim nullam plane facultatem mihi dederit ad hoc agnoscendum, sed contra, magnam propensionem ad credendum illas a rebus corporeis emitti …). Aus dieser Überlegung folgt aber, daß die körperlichen Dinge bewußtseinstranszendent existieren (Ac proinde res corporeae existunt). Doch sogleich macht Descartes eine Einschränkung : Vielleicht existieren die Körper nicht alle genau so, wie ich sie sinnlich wahrnehme, da doch die sinnliche Wahrnehmung in vielem sehr dunkel und verworren ist (Non tamen forte omnes tales omnino existunt, quales illas sensu comprehendo, quoniam ista sensuum comprehensio in multis valde obscura est et confusa). Die Sinneswahrnehmung gibt uns nämlich von den Körpern zweierlei zu erkennen. Das eine ist das empirische Sobeschaffensein, das wir auf dem Wege der fünf Sinne erfahren. Was wir hier den materiellen Körpern entnehmen, sind die ›sekunhttps://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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dären Sinnesqualitäten‹. Sie bilden für Descartes den Bereich des Dunklen und Verworrenen. In bezug auf diese sekundären Sinnesqualitäten muß allerst noch untersucht werden, was von ihnen auf die wahrhaft existierenden Körper verweist. Aber Descartes sagte, daß die sinnliche Wahrnehmung ›in vielem‹ (in multis) recht dunkel und verworren sei, nicht aber in allem. Denn wir sehen mit den Augen und fühlen etwa mit den Händen, daß die Körper räumlich ausgedehnt und räumlich gestaltet sind. Was uns hier die Sinne vermitteln, gehört nicht zu den sekundären Sinnesqualitäten, sondern zu den primären Wesensqualitäten der Körper, die wir in dem, was sie sind, durch den Verstand (intellectus) verstehen. Deshalb heißt es: Wenn auch die sinnliche Wahrnehmung in vieler Hinsicht dunkel und verworren ist, so ist doch wenigstens alles das in den Körpern wahrhaft existierend, was ich in meinen ideae von ihnen klar und distinct einsehe (sed saltem illa omnia in iis sunt, quae clare et distincte intelligo). Dieses ist für Descartes allgemein betrachtet alles das, was im Gegenstand der reinen Mathematik begriffen wird (id est omnia generaliter spectata, quae in purae Matheseos obiecto comprehenduntur). Was ich klar und distinct von der Körpern in der Weise der realitas obiectiva vorstelle, ist gewiß und wahr im Sinne der Allgemeinen Wahrheitsregel. Daher darf ich es auch so, wie ich es in den ideae vorstelle, in den Körpern selbst setzen. Alles in diesem Sinne klar und distinct in der realitas obiectiva meiner ideae Erfaßte, alles, was zur Wesensverfassung und zu den Wesensbestimmungen der res extensa gehört, ist auch Gegenstand der Mathematik, aber auch der Physik und der sonstigen mathematischen Naturwissenschaften. Damit ist nun auch die Gewißheit der mathematischen Naturwissenschaften begründet. In der V. Meditation war zunächst nur die Gewißheit der reinen Mathematik und ihrer Disziplinen gesichert, die unabhängig von der existentia der Körperwelt sind. Denn sie sind reine Wesenswissenschaften. Demgegenüber schließen die mathematischen Naturwissenschaften die Wirklichkeitssetzung der Körperwelt ein. Da jetzt durch den Nachweis der existentia der Körperwelt im Durchgang durch die Wahrnehmungsanalyse deren bewußtseinstranszendentes Wirklichsein zur Gewißheit geworden ist, beziehen sich die mathematischen Naturwissenschaften zu Recht https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 22. Wahrnehmungsanalyse

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auf eine bewußtseinstranszendente Körperwelt. Deren existentia ist insoweit gesichert, wie die Körper Gegenstand der mathematischen Naturwissenschaften werden können. Beginnend mit dem 11. Abschnitt geht Descartes der Frage nach, was den sekundären Sinnesqualitäten in den Körpern selbst entspricht. Daraus, daß ich ganz unterschiedliche Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, Wärme, Härte empfinde, schließe ich in richtiger Weise (14. Abschnitt), daß gewisse Verschiedenheiten in den Körpern, von denen mir diese verschiedenartigen Wahrnehmungen entgegenkommen, vorhanden sind, die dem Wahrgenommenen entsprechen, aber nicht ähnlich sind (recte concludo aliquas esse in corporibus, a quibus variae istae sensuum perceptiones adveniunt, varietates iis respondentes, etiamsi forte iis non similes). Von dem also, was ich als sekundäre Sinnesqualitäten in meinen ideae von den Körpern vorstelle, ist aufgrund des Gottesaufweises nur zu sagen, daß ihnen zwar in den Körpern etwas Sachhaltiges entspricht. Aber dies Entsprechende ist nicht dem gleich, was ich subjektiv als Farbe, Härte oder Ton empfinde und wahrnehme. Der Unterschied zu den klar und distinct vorgestellten Bestimmungen der Körper zeigt sich darin, daß zwischen den in der realitas obiectiva dunkel und verworren vorgestellten Sinnesqualitäten und dem in den Körpern Entsprechenden kein Ähnlichkeitsverhältnis besteht. Das in den Körpern Entsprechende, aber Unähnliche ist das, was die Naturwissenschaften, was die Physik als Farbe, Härte und Ton bestimmt. Dieser durch die Analyse des Wahrnehmungsbewußtseins geführte Beweis von der existentia der materiellen Körper beansprucht – im Unterschied zu dem Ergebnis der Analyse der Einbildungskraft – Sicherheit und nicht nur Wahrscheinlichkeit. Dennoch handelt es sich hier um eine Sicherheit, die nicht mit der Gewißheit der bewußtseinsimmanenten Transzendenz der Wesensverhalte, nicht mit der Gewißheit des bewußtseinsurtranszendent existierenden allervollkommensten Seienden und nicht mit der Selbstgewißheit des ichlichen Bewußtseins gleichzusetzen ist. Der Gewißheitsgrad der bewußtseinstranszendenten Existenz der Körperwelt liegt qualitativ unter der höchsten Gewißheit der Selbst-, Gottes- und Wesenserkenntnis. Dennoch ist auch die auf dem Wege der Analyse des https://doi.org/10.5771/9783465141273 Generiert durch IP '207.241.231.108', am 19.01.2022, 00:13:50. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Wahrnehmungsbewußtseins gewonnene Einsicht in das bewußtseinstranszendente Wirklichsein der körperlichen Dinge fundiert in der höchsten Gewißheit der Gottes- und der Selbsterkenntnis. Wenn auch auf dem Weg der »Meditationen« die Selbstgewißheit der ichlichen Bewußtseinssphäre als erste Gewißheit gewonnen wurde, so ergab doch die Einsicht in die Gewißheit von der Existenz der göttlichen Seinsquelle, daß die Selbstgewißheit des ego cogito nicht in sich selbst, sondern in der Gottesgewißheit gründet. Der bewußtseinsanalytische Gottesaufweis hebt den anfänglichen Anschein, als gründe die Selbstgewißheit des ego cogito in sich selbst, auf und läßt sehen, daß die Selbstgewißheit, auf deren Boden die Gewißheit vom Dasein Gottes gewonnen wurde, bereits für diese Leistung von der göttlichen Seinsquelle ermöglicht ist.

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PE R S ON E N R E G I S T E R Die kursivierten Seitenzahlen verweisen auf die Fußnoten.

Abbé Picot 33, 150 Anselm von Canterbury 228, 263 Aristoteles 13, 28 f., 32 ff., 45, 74, 205 Augustinus, A. 119 f.

Kemmerling, A. 175 Kible, B. 205 Koyré, A. 206 Lavigne, J.-F. 15 Leibniz, G. W. 19, 200 Lévinas, E. 15

Brentano, F. 123–125 Cassirer, E. 81, 96, 120 Coriando, P.-L. 123 f., 179 Cramer, K. 264 Fichte, J. G. 19 f., 26 Fink, E. 13 f. Gilson, E. 206 Grimaldi, N. 15 Hegel, G. W. F. 16, 19, 25 f., 99, 146 f. Heidegger, M. 14, 16, 19 f., 23 v. Herrmann, F.-W. 15, 19, 52, 62, 229 Husserl, E. 13–17, 19–23, 28, 55, 71, 81, 123–125 Kant, I. 19 f., 26, 200 f., 228, 263

Marion, J-L. 15, 16 f. 100, 149, 229 Messinese, L. 97, 229, 238 Perler, D. 32, 44, 97, 143, 145, 154, 158, 175, 197, 229, 231, 264 Röd, W. 44, 97, 229, 264 Schäfer, R. 32, 96, 120, 145, 176, 229, 264 Schelling, F. W. J. 19 Schmidt, G. 32, 229 Spinoza, B. de 19 Suárez, F. 205 Thomas v. Aquin 45, 205 f. van Breda, H. L. 15

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SACH R E G I S T E R Das Sachregister enthält außer der cartesischen Begriff lichkeit auch die phänomenologischen Auslegungskategorien und die tragenden sprachlich-begriff lichen Wendungen der Gesamtinterpretation.

absolut gewisse existentia des Selbstbewußtseins 85–100 absolut unbezweifelbares erstes Prinzip 88 actualis 205 f. aeternus Creator 221 affectiones (Zustandsbestimmungen) 271 f. aktiv wirkendes Vermögen (activa facultas) 293 allgemeinste Begriffe (maxime generalia) 272 allgemeinste Sache (res) 272 Allgüte (bonitas, summe bonus) 77, 79, 82, 173, 226, 263 Allgüte Gottes als Seinsherkunft des Verstandes 226, 263 Allmacht (omnipotentia) 76 f., 79, 226, 263 Analyse der Einbildungskraft (imaginatio) 283, 284–292 Analyse des Wahrnehmungsbewußtseins (sentire) 283, 292–298 Analysis (Enthüllen, Aufweisen) 30 ff., 167

Analytik der cogitatio (des Bewußtseins) 109, 270, 284 animal rationale 73, 103 animus 108 a primis fundamentis denuo inchoandum (von den ersten Grundlagen von neuem beginnen) 37 assensionem cohibere (Zustimmung zurückhalten) 43 f. 79, 98, 112, 136, 134 f. Attribute 280 f. ›Auf die Sachen selbst zurückgehen‹ 14, 19 Axiome 275 Baum der Universalphilosophie 34, 44 Begriffszergliederung, logische 103 f. Behandlungsart 16, 19, 21 ff. Beweisgang mit Gewißheit (Wahrnehmungsanalyse) 292–298 Beweisgang mit Wahrscheinlichkeit (Analyse der imaginatio) 291

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Sachregister

Bewußtseinsanalyse als Weg zum Gottesbeweis 168, 175 Bewußtseinsanalytischer Gottesaufweis 195–230 bewußtseinsimmanente Transzendenz 24, 258, 260, 282, 285, 297 Bewußtseinstranszendenz 24, 250, 260, 283 f., 297 Bewußtseinsurtranszendenz 297 Bildertheorie 124 bildliches Vorstellen – Verstandesdenken 286–288, 290 Bildwahrnehmung 66 Bildweltträger 66 Blickwendung des methodisch zweifelnden Ich 87–94 Cartesianische Epoché 21 ff., 102 f., 168, 183, 201, 232, 250, 260, 262, 266 »Cartesianische Meditationen« 14 f. certitudo 102 certum iudicium 138 f. clara et distincta perceptio 136–144 claritas: praesens et aperta (gegenwärtig und offenbar) 139–141, 254 cogitare (cogitatio) (Bewußtsein) 92 f., 105–108, 170, 180 f. cogitata (qua imagines) 115 f., 135

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cogitatio als essentia 101–108 cogitationes (modi cogitandi) (Bewußtseinsweisen) 108– 115, 135 communes notiones 275 concludere (einsehendes Folgern) 222 deceptor 83, 92 f., 105, 114, 126, 172 ff., 226 deductio 152, 158–160 deduktive Erkenntnis 155 Definition der imaginatio 286 Definition der Substanz 275 f. Deus mendax 226 distinctio: sejuncta esse et praecisa esse (Getrenntsein und Abgehobensein) 141–146, 254 distinctio realis 283 divisibilitas 273, 279 dreigliedrige Wesensstruktur der Bewußtseinssphäre 118 f., 125 f. duratio 251, 272 ego cogito, ergo sum 94–97, 266 ego cogito me cogitare cogitatum 116–119, 131 f., 146, 153, 175, 223 f., 229, 249, 258 ego sum, ego existo 92 f. Eigengesetzlichkeit (der Raumund Zahlverhältnisse) 253 Einbildungskraft (imaginatio) 46 f., 109–113, 115 f., 117 f., 128, 251, 253 f., 280

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Sachregister

Einsicht des Verstandes (inspectio mentis) 130 Endlichkeit des Selbstbewußtseins 23 ens creatum 73 ens increatum 73 ens omnipotens 74 ens perfectissimum 73, 78, 271 f. ens realissimum 199 Enthüllung des schon Eingehüllten 114 ἐπιστήμη 28 Erfahrung, sinnliche 46 Erfahrungsleben, vorwissenschaftliches 69 Erinnerung (Rückvergegenwärtigung) 49 f. Erkenntnis der Substanzen 277–280 Erkenntnis von Wesen und Wesensbestimmungen der Körper 249–260 Erregungen (commotiones), Leidenschaften der Seele (animi pathemata) 274 erster unbezweifelbarer Erkenntnisboden 98 ff., 146 erster unbezweifelbarer Seinsboden 98, 146, erster unbezweifelbarer Wahrheitsboden 98, 102, 146 erstes absolut unbezweifelbares Prinzip 92 Erwartung (Vorvergegenwärtigung) 49–51

esse obiective per ideam 210 Evidenz 97, 115 ewige Wahrheiten (aeternae veritates) 271 f., 274 f. experientia 152 extensio 68, 251, 273, 279 extensum 128–131 ex nihilo nihil fit 203, 274 facultas cognoscendi 233 facultas eligendi 233 faktisch-individuelle Situation des meditierenden Ich 39– 42 figura 68, 251, 273, 279 firmum et mansurum 37 flexibile 128–131 formalis 205 formaliter – eminenter 207 frei entscheidendes Bejahen oder Verneinen 138 fundamentum inconcussum 98, 146 Fundierung der Gewißheit 266 f., 268, 297 f. funditus omnia esse evertenda 36 f. Gefüge dreifachen Transzendierens 24 Gegenwartsvergegenwärtigung 49 f. geistige Selbsterfassung der je eigenen ichlichen Bewußtseinssphäre 126–133 generalia 62–66, 72

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Sachregister

Generalthesis 55 genius malignus 82, 89, 91, 226 geträumtes Wachsein 59 f. Gewißheit (Wahrheit) 136, 145 ff., 152 Gewißheit, apodiktische 283 Gewißheit der mathematischen Naturwissenschaften 296 gewisses Wirklichsein der Körper 292–298 Gott, höchster, ewiger, unendlicher, allwissender, allmächtiger Schöpfer 198 Gottesaufweis, cogitatio-, bewußtseinsanalytischer 22 f., 187, 212 f., 220–230, 232, 241, 248 f., 252, 255, 260 f., 268– 270, 294 f., 298 Gottesbeweis, ontologischer 228 f., 260–270 »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« 19 Halluzination 53 Hauptregeln der Methode 148–165 Heraustreten aus der vorphilosophisch-natürlichen Weltverhaltung 40 hypothetisch umgestalteter Gottesbegriff 76–80 Ichheit des Ich 101, 106 ff., 126, 145 idea (Vorstellung) 169 f., 176, 181 ff., 185

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ideae adventiciae 186 f., 196 ideae a me ipso factae 186 ideae innatae 186, 196, idea innata Dei 196, 199, 220– 230, 271 ideae sive imagines 193, 211 idea in ihrer zweifachen Betrachtung 194 f., 197 ff. idea in ihrer ersten Betrachtungsweise 196 f. idea in ihrer zweiten Betrachtungsweise 197 ff. ideale Wesensverhalte (Wesensgesetzlichkeit) 253, 257 Idealismus, absoluter 22 Idealismus, endlicher 22 Immanenz des Ich (des Bewußtseins) 98, 135, 146 f. Im-Sein-erhalten 224 in dubium revocare (in den Zweifel zurückrufen) 35 infinitum 222 infinitus Creator 221 Ins-Sein-bringen 224 intellectus 108, 110 intentionale Differenz 122, 140, 142 f. intentionale Immanenz 125 Intentionalität des Bewußtseins (intentio – intentum) 122, 180 intentionale, mentale Inexistenz eines Gegenstandes 123 ff. intuitive Einsicht (in die notwendige Existenz Gottes) 222

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Sachregister

intuitive Erkenntnis 155 intuitiver Erkenntnischarakter des ego cogito, ergo sum 94–97 intuitive Selbsterfassung (Erkenntnis) 107, 136 intuitus 155–158 Irrtum, gelegentlicher 227 iudicia (bejahende und verneinende Urteile) 179 f., 184, 231

Leib-Körper 286, 288, 290 libertas arbitrii (Freiheit der Entscheidung) 233 f., 237– 240, 242, 250 locus 68 »V. Logische Untersuchung« 124 f. lumen naturale 189, 203 lumen supranaturale 189

Wissenschaften) 71 f., 73, 255, 268 meditatio (Selbstbesinnung) 27 f., 40 meditatives Selbstgespräch 135 mens 108 Metaphysik, patristisch-scholastische 73–76 Metaphysik des Selbstbewußtseins aus dem Selbstbewußtsein 19, 25, 45 Methode 147, 160 f. Meth0dengedanke 148–165 methodische Auszeichnung der »Meditationen« 30 ff. modi (Bestimmungsweisen) 280 modi der substantia cogitans 273 modi der substantia extensa 273, 279 modus essendi formalis (Seinsweise des An-ihr-selbst-seins einer res) 211 f. modus essendi obiectivus (Seinsweise des Vorgestelltseins einer res) 211 f. motus locales 251, 273, 279 mutabile 128–131

magis simplicia et universalia 66 ff., 72 magnitudo 68, 251, 273, 279 materiale Unwahrheit (falsitas materialis) 218 Mathematik (mathematische

natura (forma, essentia) 251, 256 natura corporea 67 f. Notwendige Existenz Gottes 221, 249 numerus 68

Kausalitätsverhältnis 202, 207–213 Klassifizierung der cogitationes 175–185 Klassifizierung der ideae 185 ff. »Kritik der reinen Vernunft« 19

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Sachregister

obiectivus (ideaimmanent vorgestellt) 200 f. ohne mein aktives Zutun, häufig gegen meinen Willen 294 omnipotens Creator 221 omnipotentia 76 f., 79, 226, 263 omniscius Creator 221 Ontologie des Selbstbewußtseins aus dem Selbstbewußtsein 100 Ontologie der Substanzen 270–281 ontologische Blickbahn (Fragebahn) 99 f. ontologischer Dualismus (Bewußtsein und Realität) 194 opiniones (Meinungen) 42, 75 Ordnung (ordo) 272 »Pariser Vorträge« 15, 20 particularia 62–66, 72 passives Vermögen des Wahrnehmens (passiva facultas sentiendi) 292 perceptio (Einsicht) 138, 273 percipere (Einsehen, Erfassen) 138, 234–237, 254 »Phänomenologie des Geistes« 20 φιλοσοφία 28 Philosophie als System der Wissenschaften 32 ff. positiv Unendliches 222

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prima philosophia (Metaphysik) 28–30, 39, 44 f., 71, 268 Prinzipien, erste 29 f. Prinzipien der Erkenntnis 45 Prinzipien des Seins 45 f., 47 πρώτη φιλοσοφία 13, 28 f. pro veris admittere (als wahr setzen) 36 f., 44, 79, 250 »Psychologie vom empirischen Standpunkt« 123 qualitates 280 quamdiu 92 f., 107, 224 quantitas continua 68, 251 ratio 108 ratio dubitandi 43, 52, 62, 89, 226, 249 realitas formalis sive actualis (Sachgehalt eines Seienden in seinem An-ihm-selbstsein) 194, 199–213, 252, 269, 284 f., 294 realitas obiectiva (idea-immanent vorgestellte Realität) 194, 199–213, 252, 269, 284 f., 294 realitas obiectiva der idea Dei 220–230 realitas obiectiva in ihren unterschiedlichen Realitätsgraden 214–220 realitas repraesentativa 201 Realitätsgrade (Gradualität der Realiät) 198 f. reelle Immanenz 125

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Sachregister

1. Regel zur Leitung des Geistes (Was-Frage) 149 f. 2. Regel (Was-Frage) 150–154 3. Regel (Was-Frage) 154–160 4. Regel (Wie-Frage) 161 5. Regel (Wie-Frage) 161 ff. 6. Regel (Wie-Frage) 163 f. 7. Regel (Wie-Frage) 164 f. regula generalis veritatis (allgemeine Wahrheitsregel) 137, 144–147, 154 f., 166 f. 169, 172 ff., 217, 239, 249 f., 252, 296 reiferes Lebensalter 40 repraesentare (repraesentieren) 197, 210, 212 res (ens) sachhaltiges Seiendes) 107, 271 f. res cogitans 107 f., 111, 135 f. res corporea 126, 131 res intellectuales sive cogitativae (geistige oder bewußtseinhabende res) 272 f. sekundäre Sinnesqualitäten 217, 295 ff. Selbstgewißheit (Selbstvergewisserung) 39, 42, 46, 55, 93, 102, 253, 258, 267, 283 ff., 298 sensus 200 sentire 111–113, 115 f., 118 Sichablösen von den Alltagssorgen 40 Sich-allein-abgesonderthaben 40

Sinnesempfindungen, alle (sensus communes) 274 Sinnestäuschung 46, 51–56, 62 situs 251, 273, 279 Sosein, empirisches (Sobeschaffensein) 47–51, 61 f. Struktur des Selbstbewußtseins 106, 143 substantia 68, 272 substantia cogitans (bewußtseinhabende) 223, 270 f., 272 f., 276, 289 substantia extensa 270 f., 272 f., 276, 289 substantia finita 222 substantia independens 221 substantia infinita et independens 221 f., 276 substantia intelligens 221 substantia summe potens 221 Substanzen, endliche 199 summum Deus 221 summum ens 73 Syllogismus 95 f. Synthesis 30 ff. »System des transzendentalen Idealismus« 19 tamquam rerum imagines 176, 182 f. Tatsachenwissenschaften 68 f., 71 f. tempus 68 Transzendenz-Bezug, mehrstufiger 229 Transzendenz-Frage 220

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Transzendenzproblem 23 transzendentalphänomenologische Epoché 21 Traum, generalisierter 60 ff., 71 f., 213 Traum, natürlicher 58 ff., 70 ff., 191 f. Triebe (appetitus) 274 Umschlag von Sein in Nichtsein 79, 252 Umschlag von Wahrheit in Unwahrheit 51–54, 79 unbezweifelbares Sein des methodisch zweifelnden Ich 89, 91 Uneingeschränktheit des Willensvermögens 243 Unendlichkeit des göttlichen Seins als seinsmäßige Herkunft des endlichen Seins 223–226 univoce 276 Urteil, bejahendes (positives, affirmare) 237–240 Urteil, verneinendes (negatives, negare) 237–240 Urteil, unwahres (Ursprung) 244 ff., 250 Urteil, wahres (Ursprung) 242 ff., 250 Urteil als Ort möglichen Irrtums 232 Urteilsanalyse 231–241 Urteilsenthaltung 247 Urteilsfähigkeit (rechter, un-

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rechter Gebrauch) 232, 241 f., 247 Urteilslehre 138 Urtranszendenz (Urtranszendieren, Urtranszendentes) 23 f., 187, 229 f., 258 f., 266, 269, 282 ff. Verbindlichkeit (absolut bindende) 256 ff., 282 Vernunftordnung (der Klarheit und Distinctheit) 239 Verstand, reiner (intellectus) 46 f., 71, 233 f., 249 f., 253 f. vetus opinio 73–76 volitio 273 voluntas 233, 238, 280 voluntates sive affectus 176– 179, 184, 235 ›von der Natur gelehrt‹ 188 ff. vormeditative (vorphilosophische) Einstellung 83 f. vormeditative Motive 188–194 Vorstellen, erfassendes 254 Vorstellen, denkendes 254 Wachen und Träumen 58 ff. Wahrheit als Gewißheit (certitudo) 39 Wachsstück (cera) 127–131 Wahrnehmung (sensus) 46–51 wahrscheinliches Wirklichsein der Körper 284–292 Was-Frage (was Wahrheit als Gewißheit ist) 147 ff., 155, 167

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Weg des methodischen Zweifels 45 f. Wersein als Wassein 101 Wesen (essentia) und Wesensstrukturen (-Bestimmungen) (modi) der Körper 69, 216 f., 249–260, 296 Wesensattribut 277, 279 Wesensprädikate Gottes 198, 221 f. Wesenswissen (eingeborenes, apriorisches) 255 Wesenswissenschaften 71 f. Wie-Frage (Wie des Verfahrens) 147 f., 155, 167 Willensunabhängigkeit 188– 192

Wirklichsein (existentia) der Körper 48–51, 61 f., 282–297 Zahl (numerus) 272 Zeitlichkeit des Bewußtseinslebens (Bewußtseinszeit) 224 ›Zu den Sachen selbst‹ 19 Zugangsweise (-methode) 16, 21 ff. zweifache Betrachtungsweise der ideae 195–199 Zweifel, methodischer (genereller) 39, 42 ff., 80–84 Zweifel, natürlicher 44 Zweifel, ontologischer (metaphysischer) 100

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