Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen und US-amerikanischen Strafprozessrecht [1 ed.] 9783428554874, 9783428154876

Das Hauptproblem des Zeugen vom Hörensagen ist die zweifelhafte Zuverlässigkeit dieses Beweismittels für die Wahrheitsfi

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Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen und US-amerikanischen Strafprozessrecht [1 ed.]
 9783428554874, 9783428154876

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 34

Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen und US-amerikanischen Strafprozessrecht

Von

André Winsel

Duncker & Humblot · Berlin

ANDRÉ WINSEL

Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen und US-amerikanischen Strafprozessrecht

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Richter am Kosovo Sondertribunal

Band / Volume 34

Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen und US-amerikanischen Strafprozessrecht

Von

André Winsel

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany

ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-15487-6 (Print) ISBN 978-3-428-55487-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-85487-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Allen, denen ich zu danken habe

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2017/2018 von der Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung wurden bis April 2018 berücksichtigt. Meinen Dank richte ich an alle, die mich bei der Anfertigung dieses Werkes auf vielfältige Art und Weise unterstützt haben – auch an diejenigen, die nachfol­ gend nicht ausdrücklich genannt werden. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Andreas Ran­ siek, LL.M. (Berkeley), der dieses Thema angeregt hat. Er war ein akademischer Lehrer im besten Sinn: Er ließ mir in meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitar­ beiter an seinem Lehrstuhl die Freiräume, die für die Erstellung einer solchen Arbeit erforderlich sind, und stand mir stets mit guten Ratschlägen zur Seite. Herrn Prof. Dr. Stephan Barton danke ich für die zügige Erstellung des Zweit­ gutachtens und dafür, dass er schon während des Studiums mein besonderes In­ teresse am Strafrecht geweckt hat. Dr. Tilman Reichling ist seit dem ersten Tag des Studiums Wegbegleiter und guter Freund. Er hat mich, nicht nur mit Blick auf meinen beruflichen Werde­ gang, stets inspiriert. Er und insbesondere Francis Barg haben mit Begeisterung für den wissenschaftlichen Diskurs und großem Sachverstand wichtige Impulse für diese Arbeit gesetzt. Darüber hinaus möchte ich meinen Freunden Friederike Ingenerf, Meike Koch, LL.M., Dr. Michael Rolfsen und Lisa Holzapfel für bereichernde Gesprä­ che und ihre Loyalität danken. Meine Eltern haben stets an mich geglaubt. Ihnen danke ich für die mehr als großzügige Unterstützung, die sie mir während meiner Ausbildung und weit dar­ über hinaus haben zukommen lassen. Bielefeld, im Mai 2018

André Winsel

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B.

Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 I. Die theoretischen Grundlagen: Was ist ein Zeuge vom Hörensagen?  . . . . . . 22 1. Weitergabe fremder Tatsachenwahrnehmung und inhaltliche Wahrheit der vom Dritten mitgeteilten Tatsache  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Der Beweiswert des Zeugen vom Hörensagen und seine Indizwirkung  28 II. Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers  . . . . . . . . . . 30 1. Aussagefähigkeit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Wahrnehmung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 b) Erinnerung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 c) Wiedergabe .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2. Bewusste Falschaussagen und Glaubwürdigkeit   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Kindliche Zeugen und Traumatisierungen bei Opfern sexueller Übergriffe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 a) Die Bedeutung des Alters für die Aussagefähigkeit  .. . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Die Auswirkungen von Traumatisierungen auf die Aussagefähigkeit  44 III. Der Beweiswert des Zeugen vom Hörensagen im Vergleich zu Protokollen  46 IV. Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagennach dem Beweisrecht der Strafprozessordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz, § 250 StPO   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 a) Die formelle Unmittelbarkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 b) Die materielle Unmittelbarkeit  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 c) Regelungsweite des § 250 StPO und deren Auswirkungen auf den Zeugen vom Hörensagen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 aa) „Absoluter Ausschluss“ der Reproduktion fremder Tatsachen­ wahrnehmungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 bb) Relativer Ausschluss gemäß dem Grundsatz des best­möglichen Beweismittels  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 cc) Keine Regelung des Zeugen vom Hörensagen in § 250 StPO  . 66 (1) Grammatische Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 (2) Genetische Auslegung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 (3) Teleologische Auslegung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 (4) Systematische Auslegung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 (5) Zwischenergebnis   .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Der Grundsatz der richterlichen Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

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Inhaltsverzeichnis 3. Die freie Beweiswürdigung nach § 261 StPO  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 V. Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetzund der Europäischen Menschenrechtskonvention  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG  . . . . . . . . . . . . 89 2. Das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG und dessen Konkre­ tisierungen durch das Prinzip des fair trial und das Verlangen nach Waffengleichheit   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3. Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 aa) Das Konfrontationsrecht im deutschen Strafverfahren  . . . . . . . 98 bb) Der Belastungszeuge  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 cc) Exkurs: Das französische Strafverfahren   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 dd) Kein Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen durch das Konfrontationsrecht  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Art. 6 Abs. 1 EMRK  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 VI. Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagenund damit verbundene rechtliche Probleme  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. Privatpersonen als Zeugen vom Hörensagen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Verhörspersonen als Zeugen vom Hörensagen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) § 252 StPO als Verlesungs- oder Verwertungsverbot?  . . . . . . . . . . . . . 114 b) Ausnahme für richterliche Verhörspersonen?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 c) In welchen Konstellationen ist die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen möglicherweise durch § 252 StPO gesperrt?  .. . . . . . . . . 123 aa) Einzelfälle im Fokus der vernehmungsähnlichen Situation  .. . 125 bb) Erstattung einer Anzeige  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 cc) Notrufe und das Eintreffen von Polizeibeamten  . . . . . . . . . . . . . . 126 dd) Sozialarbeiter  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 ee) Sachverständige und Jugendgerichtshilfe   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 ff) Informelle Befragungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 d) § 252 StPO und entlastende Äußerungen   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 e) § 252 StPO und das Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 f) Berufsgeheimnisträger gemäß §§ 53, 53a StPO  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 aa) Verwertbarkeit von Äußerungen, die unter Verstoß gegen die Schweigepflicht erfolgt sind  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 bb) Entbindung von der Schweigepflicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 cc) Situation in den USA  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 g) Vernehmungsverbot für nicht-richterliche Verhörspersonen aus § 254 StPO?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 h) Vorhalt durch nicht-verlesbare Verhörsprotokolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Internal Investigations  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Inhaltsverzeichnis C.

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Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I. Das US-amerikanische Strafverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Die Wurzeln des US-amerikanischen Rechtssystems  .. . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Der Verlauf des Strafverfahrens   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Investigative Phase  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) „Probable cause“ hearing und initial appearance  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 c) Der Staatsanwalt und die Anklageerhebung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 d) Die grand jury  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 e) Preliminary hearing  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 f) Plea bargain  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 g) Die Hauptverhandlung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 aa) Trial judge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Das Recht auf einen Geschworenenprozess  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 cc) Eröffnungserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 dd) Beweisaufnahme  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 ee) Jury deliberation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 h) Das Rechtsmittelverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 II. Die Definition von hearsay evidence  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 1. Was ist überhaupt eine assertion?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 a) Verbal conduct  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 aa) Spontane Ausrufe   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 bb) Höflichkeiten des Alltags   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 cc) Nicht willensgetragene Äußerungen   .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 dd) Anweisungen, Befehle und verbal acts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 ee) Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 b) Die Entwicklung von Fragen und implied assertions anhand aus­ gewählter Rechtsprechung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 aa) Wright v. Tatham  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 bb) Entscheidungen des U.S. Supreme Court   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 (1) Krulewitch v. United States  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 (2) Dutton v. Evans  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 cc) Implied assertions als hearsay evidence  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 (1) United States v. Pacelli  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 (2) United States v. Reynolds  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (3) Lyle v. Koehler  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (4) United States v. McGlory  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 dd) Implied assertions sind üblicherweise kein hearsay  . . . . . . . . . . 210 (1) United States v. Zenni  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (2) United States v. Long: „Hat Keith noch Stoff?“  . . . . . . . . . . 211 (3) United States v. Summers: „How did you guys find us so fast?“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

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Inhaltsverzeichnis ee) Ist eine weite Auslegung des Begriffs „assertion“ vorzugs­würdig?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (1) Der Begriff „assertion“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 (2) Gründe für eine weite Auslegung des Begriffs „assertion“ und deren Folgen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 ff) Mixed acts: performative und assertive Komponente   . . . . . . . . 221 gg) Hearsay dangers auch bei Fragen und implied assertions?  .. . . 223 hh) Bundesstaaten mit common law approach  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 (1) Maryland .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 (a) Stoddard v. State  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 (b) Bernadyn v. State: Arztrechnung als hearsay  . . . . . . . 234 (c) Fields v. State: Namen auf der Bowling Bahn sind kein hearsay  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (d) Garner v. State: „Can I get a 40?“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 (e) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (aa) Kritik an Garner v. State  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 (bb) Kritik an der Rechtsprechung des Staates Maryland – Vergleich der drei Urteile  . . . . . . . . . 243 (2) Weitere Bundesstaaten  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 c) Implied assertions im englischen Recht: Regina v. Kearley  . . . . . . . . 245 d) Nonverbales Verhalten (nonverbal conduct)  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 aa) Non-assertive nonverbal conduct  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 bb) Körperliche Reaktionen als non-assertive nonverbal conduct  . 250 cc) Assertive nonverbal conduct  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. An out-of-court assertion by a person  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a) Natürliche Person als declarant  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 b) Problem: machine statements  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3. Offered to prove the truth of the matter asserted  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 a) Inhalt des statements und Beweisziel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) „Statements offered to show linkage or association“  . . . . . . . . . . . . . . 259 aa) Adressbuch und ähnliche handschriftliche Notizen  . . . . . . . . . . 260 bb) Anschriften und Rechnungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 cc) Sonstige Dokumente und Gegenstände  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 c) Indirect assertions: Was wollte der Erklärende sagen und was sollen seine Äußerungen beweisen?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 d) Die Fehlentscheidung in United States v. Day  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 III. Statements that are not hearsay, Fed. R. Evid. 801(d)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 1. Prior inconsistent statement, Fed. R. Evid. 801(d)(1)(A)  . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Prior consistent statement, Fed. R. Evid. 801(d)(1)(B)  . . . . . . . . . . . . . . . . 275 3. Prior identification, Fed. R. Evid. 801(d)(1)(C)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

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IV. Ausnahmen zur hearsay rule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1. Ausnahmen nach Fed. R. Evid. 803  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 a) Present sense impression, Fed. R. Evid. 803(1)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 b) Excited utterance, Fed. R. Evid. 803(2)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 aa) Schockierendes Ereignis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 bb) Spontan – ohne nachzudenken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 cc) Unter dem Einfluss des Geschehens stehend und der Faktor der Zeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 c) Äußerungen für eine medizinische Diagnose oder Behandlung, Fed. R. Evid. 803(4)  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 aa) Zum Zweck einer medizinischen Behandlung  .. . . . . . . . . . . . . . . 289 bb) Sachdienlichkeit der Äußerung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 (1) Reichweite des Begriffs der Sachdienlichkeit  . . . . . . . . . . . . 291 (2) Angaben zur Identität des Täters als sachdienlich?  . . . . . . . 292 (3) Diskussion .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 2. Ausnahmen nach Fed. R. Evid. 804  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 a) Auskunfts- oder Zeugnisverweigerungsrecht (privilege), Fed. R. Evid. 804(a)(1)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 aa) Berufsgeheimnisträger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 bb) Ehegatten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 cc) Privilege against self-incrimination  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 b) Verweigerung der Aussage, Fed. R. Evid. 804(a)(2)  . . . . . . . . . . . . . . . 305 c) Fehlende Erinnerung, Fed. R. Evid. 804(a)(3)  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 d) Tod und Krankheit, Fed. R. Evid. 804(a)(4)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 e) Vorladung nicht möglich, Fed. R. Evid. 804(a)(5)   . . . . . . . . . . . . . . . . 306 f) Verwendung der früheren Aussage, Fed. R. Evid. 804(b)(1)  . . . . . . . 308 aa) Die verschiedenen Möglichkeiten und Motive in unterschied­lichen Verfahren bzw. Verfahrensstadien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 (1) Grand jury testimony  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 (2) Preliminary hearings  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 (a) Einzelfallentscheidung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 (b) Das Protokoll aus dem preliminary hearing ist niemals zulässig  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 (c) Das Protokoll aus dem preliminary hearing ist zulässig  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 (d) Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 (3) Möglichkeit und Motiv im Fokus weiterer Fallgruppen  .. 328 (a) Previous state court trial und technischer Fortschritt  329 (b) Wesentlicher Wechsel der Position im Verfahren: Vom Mitangeklagten zum Zeugen  . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 (c) Aussagen unter Eid im Strafverfahren nach Fed. R. Crim. Proc. 15  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332

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Inhaltsverzeichnis (d) Verwertung einer Aussage unter Eid aus dem Zivilverfahren (civil deposition)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 bb) Zwischenergebnis  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 g) Statement under the belief of imminent death, sog. dying declaration, Fed. R. Evid. 804(b)(2)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 aa) Subjektive Voraussetzung: Der Glaube an den unmittelbar bevorstehenden Tod  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 bb) Objektive Voraussetzung: Auf den Grund oder die Umstände des Todes Bezug nehmend  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 cc) Abschiedsbriefe als Sonderkonstellation?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 dd) Ausnahme nur für Tötungsdelikte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 h) Statement against interest, Fed. R. Evid. 804(b)(3)  . . . . . . . . . . . . . . . . 348 aa) Was ist gegen die Interessen des Erklärenden?  . . . . . . . . . . . . . . . 350 (1) Der Erklärende belastet durch seine Äußerung nur sich selbst  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 (2) Äußerungen, die auch Dritte belasten: Williamson v. United States  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 (a) Konsequenzen aus und Widersprüche zu Williamson v. United States  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 (b) Kritik an Williamson v. United States  . . . . . . . . . . . . . . 358 (3) Äußerungen, die den Angeklagten entlasten  .. . . . . . . . . . . . . 360 (4) Relevante Faktoren, wann eine Äußerung, die Dritte belastet, auch selbstbelastend ist  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 bb) Corroborative circumstances  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 (1) Wann muss diese Voraussetzung vorliegen?  .. . . . . . . . . . . . . 363 (2) Welche Anforderungen sind an die corroborative circumstances zu stellen?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 (a) Wem gegenüber und wo wird die Äußerung abgegeben?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 (b) Das sog. curry favor problem  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 (aa) Das curry favor problem in Williamson v. United States  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 (bb) Das curry favor problem und die Confrontation Clause  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 i) „Forfeiture by wrongdoing exception“, Fed. R. Evid. 804(b)(6)  . . . 370 aa) Wrongful act  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 bb) Intent  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 cc) Cause und Prozessuales  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 3. Residual exception, Fed. R. Evid. 807  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 V. Die hearsay rule im Fokus der Confrontation Clause  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 1. Crawford v. Washington als Meilenstein: testimonial statements  . . . . . 384

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2. Die emergency exception und der primary purpose test nach Davis v. Washington  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 3. Dying declarations und non-testimonial statements  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 4. Der Zeitpunkt der Ausübung des Konfrontationsrechts  . . . . . . . . . . . . . . 398 a) „Vorherige Möglichkeiten“ – Frühere Befragungen außerhalb der Hauptverhandlung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 b) Befragungen in der Hauptverhandlung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 5. Verzicht   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 6. Zwischenergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 D. Schlussbetrachtung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 Anhang  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Literaturverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Stichwortverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454

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Der Zeuge kann zweifellos als das wichtigste Beweismittel bezeichnet wer­ den.1 Neben dem unmittelbaren Zeugen sind auch mittelbare Zeugen von Bedeu­ tung. Diese sog. Zeugen vom Hörensagen kommen zwar auch im Zivilverfahren2 oder Verwaltungsprozess3 vor, sie spielen aber vor allem im Strafverfahren eine besondere Rolle. Die Strafprozessordnung kennt vier Beweismittel: den Zeugenbeweis, §§ 48 ff. StPO, und den Sachverständigenbeweis als persönliche Beweismittel sowie den Augenscheinsbeweis, §§ 72 ff. StPO, und Urkunden und andere Schriftstücke, §§ 249 ff. StPO, als sachliche Beweismittel. Darüber hinaus sind die Aussagen des Beschuldigten4 und des Mitbeschuldigten5 als Beweismittel im weiteren Sin­ ne6 zu klassifizieren. Unter diesen Beweismitteln nimmt der Zeuge vom Hören­ sagen eine Sonderstellung ein: Auf den ersten Blick scheint dieses Beweismittel eine Untergruppe des Zeugenbeweises darzustellen, das in der Strafprozessord­ nung selbst keine ausdrückliche Regelung erfahren hat. Es stellt sich aber die Fra­ ge, was genau unter einem Zeugen vom Hörensagen zu verstehen ist und ob die­ ser ein nach der Strafprozessordnung zulässiges Beweismittel darstellt: Während getreu dem Sprichwort „Hörensagen ist halb gelogen“7 wohl nur die Unzuverläs­ 1  BGHSt 32, 115, 127: „Der Zeugenbeweis ist eines der wichtigsten Beweismittel, das die Strafprozessordnung zur Wahrheitserforschung zur Verfügung stellt.“. 2  BGHZ 168, 79 84 (Zeuge vom Hörensagen bei der Vaterschaftsfeststellung): „Auch der Zeuge vom Hörensagen ist Zeuge, da er seine eigene konkrete Wahrnehmung bekun­ den soll. Zwar haftet dieser Art des Beweises eine besondere Unsicherheit an, die über die allgemeine Unzuverlässigkeit des Zeugenbeweises hinausgeht, so dass an die Beweiswür­ digung hohe Anforderungen zu stellen sind. Dies könnte es aber nicht rechtfertigen, ein solches Beweismittel als unzulässig anzusehen.“; BGH NJW-RR 1990, 1276 (Zeuge vom Hörensagen als „Indizienbeweis“ zum Unfallhergang); Huber, in: Musielak/Voit, ZPO, § 373 Rn. 17. 3  BVerwG, Beschluss vom 08. 04. 2008 – 8 B 5.08 –, BeckRS 2008, 34378 (Zeuge vom Hörensagen zu Traumatisierungen als Abschiebungshindernis); vgl. auch BVerwG, Be­ schluss vom 17. 10. 2016 – 1 B 111.16 –, juris. 4  Vgl. §§ 136, 163a Abs. 1, 243 Abs. 3 StPO. 5  Vgl. z. B. § 251 Abs. 1 und 2 StPO. 6 Vgl. Beulke, Rn. 179 sowie Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Einl. Rn. 49. 7  Graf/Dietherr, S. 457 = VIII Nr. 523 und Schmidt-Wiegand, S. 183; bei Graf/Dietherr, S. 457 = VIII Nr. 530 und Schmidt-Wiegand, S. 183 f. steht auch das Sprichwort: „Die Au­ gen glauben sich selbst, die Ohren anderen Leuten.“; siehe auch Graf/Dietherr, S. 464: Das Zeugnis hat nur dann Beweiskraft, wenn es auf „eigner Wahrnehmung beruht; noch so

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sigkeit des Zeugen vom Hörensagen bzw. dessen zweifelhafter Beweiswert unbe­ stritten ist, gehen die Ansichten bezüglich der Zulässigkeit dieses Beweismittels in verschiedenen Rechtsordnungen seit Jahrhunderten8 auseinander. Schon der römische Dichter Titus Plautus soll mehr als 200 Jahre v. Chr. „Besser einer vom Sehen, als vom Hören zehn“9 gesagt und damit deutliche Bedenken gegen dieses Beweismittel geäußert haben. In der Constitutio Criminalis Carolina (CCC) aus dem Jahre 1532 war beispielsweise ausdrücklich geregelt, dass der Angeklagte, sofern kein Geständnis vorlag, nur aufgrund der Aussagen von zwei „genugsa­ men“, also unmittelbaren Zeugen verurteilt werden konnte. Denn neben Art. 23 CCC ergab sich insbesondere aus Art. 65 CCC, dass Zeugen vom Hörensagen ausgeschlossen waren, da Zeugen „von jrem selbs eygen waren wissen“ aussagen sollten und es nicht für „gnugsam“ gehalten wurde, wenn sie „vonn frembden hören sagen würden.“10 Dementsprechend galt lange der Grundsatz „Zeuge vom Hörensagen gilt im Rechte nicht.“11 Ein gravierender Unterschied besteht heutzutage vor allem zwischen der deut­ schen und der US-amerikanischen Rechtsordnung. Kaum ein anderes Prinzip be­ schäftigt die US-amerikanische Rechtswissenschaft so sehr wie die hearsay rule, die in Article VIII der Federal Rules of Evidence12 (801 – 807) eine gesetzliche Regelung erfahren hat und die in Büchern zum Beweisrecht (evidence) ca. 20 bis 40 Prozent13 des Inhalts ausmacht. Das Prinzip ist – wenngleich es auf den ersten Blick einfach erscheinen mag und sogar juristischen Laien bekannt ist, dass hear­ say eigentlich unzulässig ist – recht komplex.

viele Zeugen vom Hörensagen vermöchten erst ein Gerücht zu begründen, keinen Beweis, denn Hörensagen ist halb gelogen, was aber die Augen sehen, betrügt das Herz nicht.“; siehe zu Sprichwörtern auch die Übersicht bei Schaefer, S. 66. 8 Siehe zur historischen Entwicklung des Zeugen vom Hörensagen im deutschen Recht Geppert, Unmittelbarkeit, S. 7 ff.; Heissler, S. 12 ff.; Joachim, S. 60 ff.; Sprang, S. 17 ff. 9  Graf/Dietherr, S. 457 = VIII Nr. 525 m. w. N.; Schaefer, S. 66. 10  Geppert, Jura 2015, 143, 152; näher dazu ders., Unmittelbarkeit, S. 14 ff., 19; Art. 65 CCC: „Item die zeugen sollen sagen, von jrem selbs eygen waren wissen, mit an­ zeygung jres wissen gründtlicher vrsach. So sie aber vonn frembden hören sagen würden, das soll nit gnugsam geacht werden“. 11  Graf/Dietherr, S. 457 = VIII Nr. 522; Schmidt-Wiegand, S. 184 jeweils m. w. N. 12 Die Federal Rules of Evidence wurden nach einem fast siebenjährigen Entwick­ lungsprozess 1975 vom Kongress als Gesetz erlassen und sind seitdem nicht wesentlich verändert worden. Im Dezember 2011 wurden die Regeln lediglich umgeschrieben, um sie leichter verständlich zu machen. Siehe zur Gesetzgebungs- und Entwicklungsgeschichte Fishman, Hearsay, S. 5. 13  Beispielsweise befassen sich Mueller/Kirkpatrick auf 350 der 1206 Seiten und Merritt/Simmons auf 312 von 941 Seiten (ohne Appendix) mit hearsay.

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Im US-amerikanischen Recht wird die Unzulässigkeit des Zeugen vom Hö­ rensagen in erster Linie mit dessen Unzuverlässigkeit begründet, denn auch hier soll – wie im deutschen Strafverfahren – die Ermittlung der materiellen Wahrheit das oberste Ziel sein: Alle Beweisregeln würden auf die Wahrheit abzielen14, was an verschiedenen Stellen im Gesetz auch deutlich werde15. Ein so unzuverlässiges Beweismittel wie der Zeuge vom Hörensagen könne allerdings nichts zur Wahr­ heitsfindung beitragen16, weshalb dessen Unzulässigkeit ausdrücklich in Fed. R. Evid. 802 normiert sei. In den darauf folgenden Regelungen werden allerdings zahlreiche Ausnahmen von diesem Grundsatz gemacht. Schon um die Frage, ob es sich bei einem Beweismittel um hearsay evidence handelt, wird von den Par­ teien oft ein erbitterter Streit geführt und für den Fall, dass dies bejaht wird, ist ebenso umstritten, ob eine der vielen Ausnahmen einschlägig ist. Im Gegensatz zum US-amerikanischen Recht, für das die hearsay rule ge­ nau festlegt, welche Beweismittel zulässig und welche unzulässig sind, gibt es im deutschen Recht keine gesetzliche Regelung, die sich mit der Problematik der mittelbaren Beweisführung befasst und den Zeugen vom Hörensagen ausdrücklich zulässt oder ausschließt. Im deutschen Recht stellt der Zeuge vom Hö­ rensagen – trotz aller mit ihm verbundenen rechtlichen und auch tatsächlichen Probleme – nach herrschender Meinung ein zulässiges Beweismittel dar; diese mit dem Hörensagenbeweis verbundenen Probleme werden im Ergebnis über die Beweiswürdigung gelöst. Beide Rechtsordnungen haben das Ziel, unzuverlässige Beweismittel grund­ sätzlich auszuschließen bzw. eine Verurteilung nicht (ausschließlich) auf unzu­ verlässige Beweismittel zu stützen und somit im Strafprozess zu gerechten Ur­ teilen zu gelangen. Die zentrale Frage ist, ob dieses Ziel durch die auf den ersten Blick sehr strenge hearsay rule besser erreicht werden kann und ob auch für das deutsche Recht eine dezidierte gesetzliche Regelung wünschenswert ist, um mög­ liche Unklarheiten zu beseitigen. Im deutschen Recht wird der Zeuge vom Hörensagen oft im Zusammenhang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz thematisiert, doch die Frage, was überhaupt hierunter zu verstehen ist und welche Personen – nur Privatpersonen oder auch 14  Fenner, Hearsay Rule, S. 4: „All of the rules of evidence (…) are aimed at the same single target: the Truth“. 15  Fenner, Hearsay Rule, S. 4, nennt dazu beispielsweise Fed. R. Evid. 403, die fol­ gendermaßen lautet: „The court may exclude relevant evidence if its probative value is substantially outweighed by a danger of one or more of the following: unfair prejudice, confusing the issues, misleading the jury, undue delay, wasting time, or needlessly present­ ing cumulative evidence“. 16  Fenner, Hearsay Rule, S. 5: „(…) the objective of the hearsay rule is Truth; it is about keeping out evidence that categorically is so unreliable that it does not help us find the truth“.

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Verhörspersonen oder sogar V-Leute17 – überhaupt als Zeuge vom Hörensagen in Betracht kommen, wird häufig nur rudimentär beantwortet. Es stellen sich so­ dann zahlreiche Folgefragen: Darf der Richter den mittelbaren Zeugen überhaupt vernehmen oder gibt es gesetzliche Regelungen, die dies ausschließen? Falls das Gericht ihn vernehmen darf, muss es sodann aufgrund von § 244 Abs. 2 StPO auch den unmittelbaren Zeugen vernehmen und verstößt es, wenn es dies nicht tut, ge­ gen seine gerichtliche Aufklärungspflicht? Welche Auswirkungen hat dies auf den in § 261 StPO normierten Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung? Zweifellos führt der Zeuge vom Hörensagen aufgrund der mittelbaren Be­ weisführung zu besonderen Gefahren in tatsächlicher Hinsicht sowie zu Span­ nungen zwischen dem Strafverfolgungsinteresse des Staates und dem Interesse der Allgemeinheit an der Aufklärung von Straftaten – nicht durch irgendwelche, sondern gerade durch zuverlässige Beweismittel – auf der einen Seite sowie den Verteidigungsinteressen des Angeklagten auf der anderen Seite. Schließlich ist das Phänomen der „stillen Post“ allgemein bekannt. Wenn also nicht das misshandelte Opfer selbst in der Hauptverhandlung aus­ sagt, sondern ein Angehöriger, dem das Opfer unmittelbar nach der Tat darüber berichtet hat, oder der das Opfer behandelnde Arzt oder gar ein Polizeibeamter, der das Opfer vernommen hat, ist offensichtlich, dass sich durch diesen Zeugen vom Hörensagen als weiteres Glied in der Kette die allgemeinen Probleme des Zeugenbeweises potenzieren. Dementsprechend hat der BGH schon 1962 ausge­ führt: „Bei einem Zeugen vom Hörensagen besteht zunächst ganz allgemein eine erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollständigkeit in der Wiedergabe von Tatsachen, die ihm von demjenigen vermittelt worden sind, auf den sein Wissen zurückgeht. Je größer die Zahl der Zwischenglieder, desto geringer ist der Be­ weiswert der Aussage. Schon dieser Gesichtspunkt mahnt zur Vorsicht.“18 Der Zeuge vom Hörensagen ist also keine Kuriosität, die nur in der Theorie von Bedeutung ist, sondern in der Praxis wird zur Rekonstruktion des tatsächli­ chen Geschehens häufig auf dieses Beweismittel zurückgegriffen. Als klassische Konstellationen des Zeugen vom Hörensagen kommen vor allem Vernehmungs­ personen in Betracht, wenn der Beschuldigte zu einem früheren Zeitpunkt ihnen gegenüber Angaben gemacht hat und sich erst in der Hauptverhandlung auf sein 17  Insbesondere verdeckte Ermittler und V-Leute („Vertrauensleute“) der Polizei oder der Geheimdienste sind im Rahmen von Staatsschutzsachen oder bei der Bekämpfung von Terrorismus und der Organisierten Kriminalität sowie bei der Verfolgung der von diesen Gruppierungen begangenen Straftaten in der Praxis nicht mehr wegzudenken. Allerdings würde es den Rahmen sprengen, in dieser Arbeit auch auf diese umfangreiche und schon oft behandelte Problematik einzugehen; siehe zu diesem Thema beispielsweise Ott, Ver­ deckte Ermittlungen im Strafverfahren. 18  BGHSt 17, 382, 385; ebenso BGH, Urteil vom 25. 07. 2000 – 1 StR 169/00 –, juris Rn. 63.

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Schweigerecht beruft. Ebenso kann sich auch ein Zeuge erst in der Hauptverhand­ lung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berufen, so dass frühere Vernehmungs­ personen als Zeugen vom Hörensagen zu früheren Aussagen von Angehörigen in Betracht kommen. Gerade in Fällen angeblichen sexuellen Missbrauchs spielen Zeugen vom Hörensagen eine wesentliche Rolle.19 Vor allem in den Entscheidun­ gen des BGH geht es immer wieder um die Frage, welche Bedeutung den Angaben des Zeugen vom Hörensagen beigemessen werden kann, wie beispielsweise in ei­ ner Entscheidung aus dem Jahr 2002: Das vermeintliche Opfer des sexuellen Miss­ brauchs hatte sich inzwischen suizidiert, so dass in der Hauptverhandlung auf die Äußerungen, die die unmittelbare Opferzeugin gegenüber Freunden, Ärzten und Therapeuten abgegeben hatte, zurückgegriffen werden musste.20 Auch der EGMR hatte kürzlich in Hümmer v. Deutschland zu klären, ob ein Ermittlungsrichter als Zeuge vom Hörensagen vernommen werden darf.21 Ihm gegenüber – und auch vor der Polizei – hatten zwei Geschwister angegeben, von ihrem Bruder gewürgt und mit einem Beil angegriffen worden zu sein, sie beriefen sich dann in der Haupt­ verhandlung allerdings auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht.22 Zu nennen ist auch der „Mallorca-Mordfall“, in dem ein verdeckter Ermittler den Verdächtigen, der sich auf sein Schweigerecht berufen hatte, unter Ausnutzung eines geschaffenen Vertrauensverhältnisses beharrlich zu einer Aussage drängte und ihm in einer ver­ nehmungsähnlichen Befragung Äußerungen zum Tatgeschehen entlockte.23 Eine zentrale Frage lautet, welche Vorkehrungen die Strafprozessordnung trifft, um Problemen wie Missverständnissen zu begegnen. Denn wenn es wirk­ lich so ist, dass der Zeuge vom Hörensagen gar nicht explizit geregelt ist, dann bedeutet dies – sofern das Beweismittel überhaupt zulässig sein sollte –, dass es auch keine eigenen Regelungen für die mit diesem Beweismittel verbundenen spezifischen Probleme gibt. 19  BGH StV 2008, 236, 237: Fünfjähriges Mädchen berichtet ihrer Mutter und Groß­ mutter, die im Prozess als Zeugen vom Hörensagen aussagen, vom sexuellen Missbrauch durch den Onkel; dieser habe „Sex mit ihr gemacht“. BGH StV 2003, 604, 605: Mädchen berichtet zunächst ihrer Betreuerin und später einer Sachverständigen über einen sexuel­ len Missbrauch durch den Stiefvater; die Angaben gegenüber der Sachverständigen wer­ den durch deren Vernehmung in den Prozess eingeführt. Siehe zu den Bekundungen einer Betreuerin über eine ihr berichtete Vergewaltigung auch BGHSt 50, 11, 15. 20  BGH NStZ 2002, 656, 657; siehe auch BGH NStZ-RR 2013, 287 sowie BGH, Urteil vom 24. 08. 2016 – 2 StR 135/16 –, juris: Die Ehefrau hatte sich in einem familiengericht­ lichen Verfahren auf Zeugen berufen, die sich ihr nach einem sexuellen Übergriff ihres Ehemannes angeblich anvertraut hatten. 21 EGMR, Urteil vom 19.  07. 2012 – 26171/07 – [Hümmer v. Deutschland], juris (= EGMR NJW 2013, 3225 ff.), der einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfah­ rens bejaht, da für den Beschuldigten vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Hauptbelastungszeugen kein Verteidiger bestellt wurde. 22  EGMR, Urteil vom 19. 07. 2012 – 26171/07 – [Hümmer v. Deutschland], juris. 23  BGHSt 52, 11 ff. (= BGH NJW 2007, 3138 ff.).

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht I.  Die theoretischen Grundlagen: Was ist ein Zeuge vom Hörensagen? Der Zeuge ist als persönliches Beweismittel eine Person, die in einem nicht gegen sie selbst gerichteten Strafverfahren Auskunft über die Wahrnehmung von Tatsachen gibt. Grundsätzlich kann ein Zeuge somit nur über Tatsachen berich­ ten, die einer Wahrnehmung durch die „äußeren Sinneswerkzeuge“ zugänglich sind.1 Dies sind zweifellos vergangene Tatsachen, die primär Gegenstand des Strafverfahrens sind, da die Beweisaufnahme zur Aufklärung zurückliegender Straftaten durchgeführt wird, oder auch gegenwärtige Tatsachen, wie die Folgen der aufzuklärenden Straftaten. Dabei ist grundsätzlich gleichgültig, wann und aus welchem Anlass – zum Beispiel durch Zufall, aufgrund von Berufsausübung oder im Auftrag der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts – der Zeuge die Wahrnehmungen, über die er aussagen soll, gemacht hat.2 Über reine Wertur­ teile darf ein Zeuge nicht vernommen werden, denn Gegenstand des Zeugenbe­ weises sind Tatsachen. Bei der Schilderung dieser Tatsachen kann es jedoch un­ vermeidlich sein, Schlussfolgerungen und Werturteile mitzuteilen, die sich jedem Menschen als selbstverständlich aufdrängen und für eine verständliche Schilde­ rung unerlässlich sind.3 Denn mit der sinnlichen Wahrnehmung geht häufig eine mit der gewonnenen Lebenserfahrung vergleichende, also urteilende Tätigkeit einher, wenn der Zeuge bekundet, der Angeklagte sei „sinnlos betrunken gewe­ sen“ oder „zu schnell gefahren“.4 Über die Charaktereigenschaften eines anderen Menschen kann ein Zeuge nur vernommen werden, wenn er tatsächliche Um­ stände bekunden kann, die den Schluss auf ihr Vorliegen zulassen.5 Unter diesen Voraussetzungen soll auch eine einfache Bewertung des Wahrgenommenen, wie der Eindruck der Glaubwürdigkeit oder der Ehrlichkeit einer Person, Gegenstand des Zeugenbeweises sein können.6

1 

RGSt 27, 95, 96; 37, 371, 371. BGHSt 33, 178, 181; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 48 Rn. 1. 3  RGSt 27, 95, 96; 37, 371, 372; Beulke, Rn. 181. 4 RGSt 37, 371, 371; vgl. auch BGHSt 39, 251, 253 f.; vgl. dazu auch Dallmeyer, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 346 ff. 5  Dallmeyer, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 351 ff. 6  RGSt 26, 70, 71; BGHSt 39, 251, 254; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Vor § 48 Rn. 2. 2 

I.  Die theoretischen Grundlagen: Was ist ein Zeuge vom Hörensagen?

23

Der BGH betont, dass ein Zeuge grundsätzlich nur über seine eigenen Wahr­ nehmungen vernommen werden könne, sei es, dass „er die von ihm zu bekunden­ den Tatsachen gesehen, gehört, gelesen, gefühlt oder mit seinem Geschmacks­ sinn wahrgenommen“ habe.7 Auch das RG hat schon hervorgehoben, dass es bei der Wahrnehmung wesentlich auf das individuelle Auffassungsvermögen, das Urteil und die Gedächtnisstärke, die Fähigkeit, streng sachlich zu berichten, so­ wie auf die „persönliche Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit“8 ankomme. Weil das Ergebnis der Wahrnehmungen und ihre Wiedergabe „regelmäßig durchaus persönlicher Art“ seien, könne ein Zeuge „nicht durch einen anderen Zeugen (…) beliebig ersetzt werden, ist in diesem Sinne vielmehr unersetzbar.“9 Bevor näher betrachtet wird, wann ein Zeuge vom Hörensagen neben dem unmittelbaren Zeu­ gen vernommen werden oder diesen gar ersetzen kann, muss zunächst geklärt werden, was überhaupt unter einem Zeugen vom Hörensagen zu verstehen ist. 1.  Weitergabe fremder Tatsachenwahrnehmung und inhaltliche Wahrheit der vom Dritten mitgeteilten Tatsache Der Zeuge vom Hörensagen wird häufig als indirektes, reproduzierendes oder mittelbares10 – mittelbar in dem Sinne, dass zwischen dem unmittelbaren Zeugen als direktem Beweismittel und dem Beweisgegenstand ein weiteres Beweismit­ tel steht,11 und keinesfalls im Sinne eines Verstoßes gegen den Unmittelbarkeits­ grundsatz – Beweismittel bezeichnet. Im Allgemeinen wird er als eine Aus­ kunftsperson umschrieben, die das wiedergibt, was ihr von einem Dritten – dem unmittelbar Wahrnehmenden – über den beweisbedürftigen Vorfall mitgeteilt worden ist.12 Eine genauere Umschreibung dieser einzelnen Kriterien erfolgt im deutschen Recht in der Regel nicht13, weil das Vorliegen des Hörensagenbeweises keine besonderen Konsequenzen nach sich zieht. 7 

BGH NJW 1998, 1723, 1725. RGSt 47, 100, 104 f. 9  RGSt 47, 100, 104 f.; zustimmend BGHSt 22, 347, 348 f. 10  BGHSt 17, 382, 383 f.: „Von ‚Mittelbarkeit‘ kann nur insofern gesprochen werden, als der Zeuge vom ‚Hörensagen‘ nicht eine zum gesetzlichen Tatbestand gehörige Tatsache, sondern lediglich ein Beweisanzeichen bekundet, welches auf eine solche Tatsache hindeu­ tet. Dadurch wird aber der Zeuge vom ‚Hörensagen‘ nicht zum mittelbaren Beweismittel und seine Vernehmung steht nicht deshalb im Widerspruch zu dem Grundsatz der Unmittel­ barkeit.“; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1027; Löhr, S. 52; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schlu­ ckebier/Widmaier, § 250 Rn. 15: „mittelbare Wahrnehmungen“; siehe auch Stüber, S. 135. 11  Joachim, S. 40. 12  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 216; siehe auch Joachim, S. 6 m. w. N. sowie Sander/ Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 25. 13  Siehe aber Geppert, Unmittelbarkeit, S. 216; Joachim, S. 6 ff., insbesondere S. 22 mit dem Versuch einer Definition; Schaefer, S. 8 ff. 8 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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Der Zeuge vom Hörensagen wurde in jüngster Zeit am treffendsten von Gep­ pert definiert: „Die Auskunftsperson ‚vom Hörensagen‘ gibt das wieder, was ihr von einem Dritten – dem unmittelbar Wahrnehmenden – über den beweisbe­ dürftigen Vorfall mitgeteilt worden ist. Entscheidend ist die Weitergabe fremder Tatsachenwahrnehmung; es muss also immer um die inhaltliche Wahrheit der mitgeteilten (fremd-wahrgenommenen) Tatsache gehen. Auskunftsperson vom Hörensagen ist somit, wer den Wahrnehmungsbericht einer anderen Person le­ diglich weitergibt, wer fremden Beweis reproduziert.“14 Der Dritte muss gegenüber dem Äußerungsempfänger lediglich behaupten – unhabhängig also von der Frage, ob dies wirklich der Wahrheit entspricht –, dass er Tatsachen selbst sinnlich wahrgenommen habe.15 Es geht nicht um die Weitergabe von Werturteilen; deshalb lassen sich Äuße­ rungen über Charaktereigenschaften oder den Leumund einer Person nur schwie­ rig einordnen, weil sie manchmal nur ein bloßes Werturteil darstellen, manchmal aber auch Tatsachen enthalten, die die Wertung untermauern.16 Dabei ist irrele­ vant, ob der Zeuge seine Beobachtungen zufällig, im Auftrag der Polizei oder als „gerufener Zeuge“ im Auftrag des Gerichts gemacht hat.17 Berichtet der Zeuge also über das, was ihm ein Dritter, häufig das Opfer, be­ richtet hat, so ist er Zeuge vom Hörensagen. Sofern es hingegen um die Feststel­ lung geht, dass eine Äußerung erfolgt ist, ist der Äußerungsempfänger unmit­ telbarer Zeuge.18 Er ist auch unmittelbarer Zeuge, wenn er ein bloßes Verhalten bekundet, durch das kein gedanklicher Inhalt übermittelt wird,19 oder wenn er berichtet, welche Beobachtungen er am Tatort gemacht hat, sowie im Hinblick auf Beobachtungen, die er an der Person des Mitteilenden gemacht hat, beispiels­ weise, ob diese unter Alkohol- oder sonstigem Drogeneinfluss stand, oder sonsti­ ge Beobachtungen, die auf eine Einschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit des unmittelbaren Zeugen schließen lassen.20 Im angelsächsischen Rechtskreis wird für die Bekundung eines bloßen Verhal­ tens häufig folgendes Beispiel verwendet: Ein Zeuge sollte über die Seetüchtigkeit eines Schiffes vernommen werden, dessen Kapitän inzwischen verstorben war. Wenn der Zeuge nun bekundet, er habe gesehen, dass der Kapitän erst nachdem er die Seetüchtigkeit des Schiffes eingehend geprüft hatte, mit seiner Familie auf 14 

Geppert, Unmittelbarkeit, S. 216; siehe auch ders., Jura 1991, 538, 539. Schaefer, S. 13; näher dazu Joachim, S. 14 f. 16  Näher dazu Joachim, S. 11 ff. 17  Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 4. 18  Schaefer, S. 9 f. 19 Im Übrigen wäre die Vernehmungsbeamtin in Bezug auf die Tatsache, dass das Kind genickt hat, eine unmittelbare Zeugin.. 20  Näher dazu Joachim, S. 20 ff. 15 

I.  Die theoretischen Grundlagen: Was ist ein Zeuge vom Hörensagen?

25

dem Schiff eincheckte, so ist dieser Zeuge einfacher bzw. unmittelbarer Zeuge. Aus dem Verhalten des Kapitäns kann natürlich bei lebensnaher Auslegung auf die Seetüchtigkeit geschlossen werden – ansonsten wäre er wohl kaum mit seiner Familie an Bord gegangen – , ein gedanklicher Inhalt, den der Kapitän mitgeteilt hat bzw. mitteilen wollte21, liegt hier aber gerade nicht vor. Anders wäre es, wenn der Kapitän anderen Personen gegenüber Bemerkungen über den Zustand des Schiffes gemacht hätte; dann wären diese Personen, da es um den Inhalt der Äu­ ßerung geht, Zeugen vom Hörensagen. Der Dritte kann seine Mitteilung dem Äußerungsempfänger, dem „testis de auditu alieno“22, in verschiedenen Formen offenbaren. Welche Form er verwen­ det, ist für den Beweis des Hörensagens nicht relevant. Die am häufigsten ver­ wendete Form wird wohl die verbale Kommunikation und damit das Erzählen sein. Die Mitteilung kann aber genauso gut in Schriftform oder – beispielsweise bei einem Taubstummen – durch Gebärden oder sonstige Gesten zum Ausdruck kommen. Entscheidend ist, dass ein bestimmter Gedankeninhalt übermittelt wird: Ein eingeschüchtertes oder beschämtes Kind, das als Zeuge in einem Ver­ fahren wegen sexuellen Missbrauchs vernommen wird, könnte auf die Frage der Vernehmungsbeamtin, ob ihm sexuelle Gewalt widerfahren ist, auch mit einem bloßen Kopfnicken antworten. Dieses Kopfnicken übermittelt den gedanklichen Inhalt, dass ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat.23 Die Vernehmungsbe­ amtin ist dann in Bezug auf den stattgefundenen sexuellen Missbrauch Zeugin vom Hörensagen. Irrelevant ist auch, wie der Zeuge vom Hörensagen von der Mitteilung eines Dritten über den beweisbedürftigen Zustand erfahren hat: Wenn der Kapitän sich gegenüber seinem Ersten Offizier zur Seetüchtigkeit des Schiffes äußert, so kann nicht nur Letzterer, der Adressat der Mitteilung ist, sondern jeder, der dieses Ge­ spräch zufällig hört oder gezielt belauscht, Zeuge vom Hörensagen sein. Die See­ tüchtigkeit hat der Zeuge hier nicht selbst wahrgenommen, so dass er in Bezug darauf Zeuge vom Hörensagen ist, in Bezug auf die Tatsache, dass der Kapitän die Äußerung gemacht hat, ist die Person unmittelbarer Zeuge, weil sie dies selbst wahrgenommen hat. Ein Beweis vom Hörensagen liegt im deutschen Recht auch dann vor, wenn der Äußernde und der Empfänger der Äußerung nicht miteinander kommunizieren, denn die Tatsachenübermittlung kann auch ohne Wissen und sogar gegen den Willen des Erklärenden erfolgen 24, wenn beispielsweise der Zeuge Selbstgesprä­ 21  Der Kapitän hatte keine Absicht etwas zu erklären, dieser intent to assert wird im US-amerikanischen Recht vorausgesetzt, damit es sich um hearsay handeln kann. 22  Schaefer, S. 9. 23  Beispiel von Joachim, S. 8. 24  Joachim, S. 22.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

26

che führt und ein Dritter dies zufällig hört. Hingegen ist für die hearsay rule im US-amerikanischen Recht gerade charakteristisch, dass der Erklärende kommu­ nizieren wollte. Auch bei Vernehmungen über den Inhalt einer Urkunde kann es sich um Zeugnis vom Hörensagen handeln, wenn ein Dritter über die in Briefen, Tage­ buchaufzeichnungen, Protokollen oder sonstigen Notizen enthaltenen Tatsachen­ wahrnehmungen des Verfassers berichtet.25 Ein Rückgriff auf den Zeugen vom Hörensagen kann geboten sein, wenn die Urkunde dem Gericht – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr vorgelegt und auch der Verfasser nicht mehr vernommen werden kann. Der Dritte kann dann als Zeuge vom Hörensagen be­ richten, was er zuvor gelesen hat. Wenngleich der Terminus Hörensagen auf den ersten Blick den Anschein erwecken mag, dass der Zeuge etwas gehört haben, ihm also etwas mündlich übermittelt worden sein muss, ist – wie bereits erwähnt – die Art und Weise der Übermittlung für die Einstufung als Zeugnis vom Hörensagen irrelevant: Die Botschaft kann auch durch Gesten, Niederschreiben oder Lesen vermittelt werden, wenngleich die sprachliche Weitergabe die häufigste Art sein mag. Dafür, dass Beweis vom Hörensagen nur mittelbarer Beweis sein kann, „bei dem mündlich-persönlicher Beweis durch mündlich-persönlichen Beweis repro­ duziert wird“, ist nichts ersichtlich.26 Auch Gegenstände des Augenscheins, wie beispielsweise Tonbandaufnahmen 27, Skizzen und Zeichnungen28 können Tatsa­ chenmitteilungen enthalten.29 Diese Tatsachenmitteilungen kann ein Dritter als Zeuge vom Hörensagen in den Prozess einführen. Denkbar ist zum Beispiel, dass ein Polizeibeamter Aufnahmen aus einer Telefonüberwachung auswertet und die Tonbänder zum Zeitpunkt der Verhandlung nicht mehr zur Verfügung stehen. Dann könnte theoretisch der Beamte als Zeuge vom Hörensagen über den Inhalt der Tonbandaufnahmen vernommen werden; in der Praxis wird sich der Beamte allerdings kaum jemals an den Inhalt der Tonbandaufnahmen erinnern. Neben der Weitergabe der fremden Tatsachenwahrnehmung geht es beim Hö­ rensagen vor allem auch um die inhaltliche Wahrheit der vom Dritten mitgeteilten (fremd-wahrgenommenen30) Tatsache und damit den Beweis des Tat- und Schuld­ vorwurfs.31 Eines der wohl berühmtesten Beispiele für den Zeugen vom Hörensa­ 25 

Siehe zu diesen sog. Berichtsurkunden Geppert, Unmittelbarkeit, S. 197 ff. anscheinend Geppert, Unmittelbarkeit, S. 249, allerdings ohne nähere Begrün­ dung; ablehnend auch Joachim, S. 36 f. 27  Siehe dazu Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 86 Rn. 11. 28  Siehe dazu Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 86 Rn. 12. 29  Siehe auch Joachim, S. 37 ff. 30 Natürlich macht der Zeuge vom Hörensagen auch eigene Wahrnehmungen: Er nimmt nämlich das selbst wahr, was ihm der Dritte erzählt; vgl. Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 915. 31  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 216; Löhr, S. 51. 26  So

I.  Die theoretischen Grundlagen: Was ist ein Zeuge vom Hörensagen?

27

gen ist das Mutter-Kind-Beispiel von von Kries.32 Wenn das vierjährige Kind, das Opfer eines sexuellen Missbrauchs wurde, seiner Mutter von der Tat berichtet, so ist die Mutter, wenn sie über das berichtet, was das Kind ihr bezüglich des zu erweisenden Vorfalls mitgeteilt hat, Zeugin vom Hörensagen. Dabei geht es zwar – wie Geppert zutreffend ausführt – auch um die Tatsache, dass das Kind seiner Mutter etwas erzählt hat – und somit um die Feststellung, dass die Äußerung er­ folgt ist –, sowie darum, wann es von der Tat berichtet und wie es den Vorfall ge­ schildert hat. In Bezug auf diese Tatsachen ist die Mutter tatsächlich unmittelbare Zeugin und gerade nicht Zeugin vom Hörensagen.33 Sofern das Gericht aus der Aussage der Mutter nun aber mehr als nur Hinweise auf die Glaubhaftigkeit der Angaben und der Glaubwürdigkeit des Kindes als unmittelbaren Zeugen gewin­ nen soll, „geht es bei der Mitteilung der Mutter letztlich doch um die ‚Richtigkeit der Anklage‘ und den darin enthaltenen Tat- und Schuldvorwurf und demzufolge um die inhaltliche Wahrheit der vom Kind über die Mutter weitervermittelten Tatsachenwahrnehmung, also unverkennbar um Hörensagen.“34 Die Mutter be­ richtet sehr wohl fremdwahrgenommene Tatsachen. Dieses Beispiel lässt sich fortentwickeln, wenn die Mutter die Äußerung, die sie von dem Kind erhalten hat, einer weiteren Person erzählt und diese Person sodann eine Aussage über die sexuelle Misshandlung macht. Diese Person ist als weiteres Glied eine Zeugin vom Hörensagen zweiten Grades.35 Sie kann zwar berichten, dass die Mutter ihr gegenüber etwas berichtet hat und ist in Bezug auf diese Tatsache unmittelbare Zeugin. Im Vordergrund steht aber auch hier der Inhalt der Aussage: Sie berichtet über die Tatsachenwahrnehmungen der Mutter und des Kindes, wobei die Wahr­ nehmungen des Kindes wiederum von der Mutter reproduziert wurden.36 Es ist zwischen der Wahrnehmung durch den Dritten und dessen Äußerung seiner Wahrnehmung zu unterscheiden, was schon Schaefer sehr anschaulich dargestellt hat: Während die von dem Dritten wahrgenommene Tatsache das Be­ weisthema oder auch eine nur mittelbar erhebliche (indizierende) Beweistatsache betreffen kann, ist die Äußerung (über diese Wahrnehmung) des Dritten immer nur eine Indiztatsache.37 Wenn A dem B mitteilt, er habe gesehen, dass C jemanden erschossen habe, so berichtet er über eine Tatsachenwahrnehmung. Über den Inhalt dieser Mitteilung kann B als Zeuge vom Hörensagen vernommen werden. B ist als Äußerungsemp­ 32  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 105, der als Gegner des Hörensagenbeweises das Bei­ spiel allerdings nicht als Hörensagenbeweis betrachtet. 33  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 217. 34  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 217. 35  Es gibt also verschiedene Grade des Hörensagenbeweises, man könnte auch vom Hörensagen des Hörensagens sprechen, Schaefer, S. 9; siehe auch Joachim, S. 6. 36  Siehe auch die Beispiele bei Joachim, S. 7. 37  Joachim, S. 11; Schaefer, S. 13 f.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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fänger ein Zeuge vom Hörensagen sowohl dann, wenn der unmittelbare Zeuge A ihm gegenüber behauptet hat, er, A, habe den C mit einer Waffe in der Nähe des Tatorts angetroffen, als auch dann, wenn A behauptet hat, die Tat des C aus einem Versteck beobachtet zu haben.38 Während die Wahrnehmung des A in Form des Antreffens in der Nähe des Tatorts eine Indiztatsache betrifft, betrifft die Wahrnehmung der unmittelbaren Beobachtung eine direkt erhebliche Tatsache. Die Äußerung des B als Zeugen vom Hörensagen stellt aber in beiden Konstellationen nur eine Indiztatsache da­ für dar, dass A eine Wahrnehmung des – jeweils von ihm behaupteten – Inhalts gemacht hat.39 2.  Der Beweiswert des Zeugen vom Hörensagen und seine Indizwirkung Interessanterweise erfährt der Zeugenbeweis im Allgemeinen schon auf der ersten Stufe des Verfahrens bei den polizeilichen Ermittlungen eine höhere Wert­ schätzung als der Sachbeweis, was sich sodann durch das ganze Verfahren bis zur Hauptverhandlung – so jedenfalls im US-amerikanischen Recht40 – fortsetzt.41 Der Zeuge vom Hörensagen erbringt unmittelbaren Beweis, wenn es darum geht, dass die Aussage gemacht wurde, denn dann berichtet er über seine eigene sinnliche Wahrnehmung;42 der reproduzierende Zeuge erbringt also nur für das Hörensagen als solches unmittelbaren Beweis.43 Der Zeuge vom Hörensagen bekundet allerdings in seinen typischen Erschei­ nungsformen als mittelbares Beweismittel nicht eine zum gesetzlichen Tatbe­ stand gehörige Tatsache, sondern „lediglich ein Beweisanzeichen“44, welches „auf eine solche Tatsache hindeutet“45. Es handelt sich also um ein Indiz für die jeweilige Tatsache.46 Beim Indizienbeweis als indirektem Beweis47 wird aufgrund

38 

Beispiel von Schaefer, S. 14. Schaefer, S. 14. 40  Kühne, NStZ 1985, 252, 252; Wells/Lindsay/Ferguson, 64 J. Appl. Psychol. 440 ff. (1979); Wells/Olson, 54 Annu. Rev. Psychol. 277 ff. (2003). 41  Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 851; ders., NStZ 1985, 252, 252. 42  Siehe dazu Löhr, S. 51; Sprang, S. 25. 43  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1027. 44  BGHSt 17, 382, 383 f.; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1027 (Hervorhebungen nicht in BGHSt, aber bei Eisenberg). 45  BGHSt 17, 382, 383 f. (Hervorhebungen nicht im Original); siehe auch Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1027. 46  Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 250 Rn. 15. 47  Peters, Strafprozeß, S. 294 f. 39 

I.  Die theoretischen Grundlagen: Was ist ein Zeuge vom Hörensagen?

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von Tatsachen ein Schluss auf die unmittelbar erhebliche Tatsache gezogen.48 Für den Zeugen vom Hörensagen werden also Schlussfolgerungen auf den Inhalt der Mitteilung gezogen; die Richtigkeit der rechtserheblichen Tatsache wird erst durch einen Schluss aus den bewiesenen Tatsachen, nämlich des Hörens, ermit­ telt.49 Nur vereinzelt wird vertreten, es dürften mangels allgemeiner Erfahrung­ sätze aus der als bewiesen erachteten Tatsache des Hörens einer Erklärung keine Schlüsse auf deren inhaltliche Richtigkeit gezogen werden; solche Schlussfolge­ rungen seien grundsätzlich unzulässig.50 Zwar mögen die Schlussfolgerungen unzuverlässig sein, sie sind aber keineswegs unzulässig. Durch den Bericht des Zeugen vom Hörensagen wird nicht bewiesen, dass sich das Geschehen, so wie es der Dritte berichtet hat, auch wirklich zugetragen hat, aber er kann als Indiz dienen, wobei der Beweiswert dieses Indizes umstritten ist: Einerseits wird von einem „mehr oder weniger schwachen Indiz“51 für das zu beweisende Geschehen gesprochen, andererseits wird er als „Indicium von gewissermaßen selbstständi­ ger Bedeutung“52 bewertet, das einen „besonders wichtigen Anhaltspunkt für die Schlussfolgerung“53 bildet. Wenn das Kind seiner Mutter berichtet, es sei von einer bestimmten Person vergewaltigt worden, so lässt sich die Tatsache, dass der Angeklagte auch wirk­ lich der Täter ist, nur im Wege einer Schlussfolgerung gewinnen. Der Richter wird auf den gedanklichen Inhalt der ursprünglichen Aussage des Kindes, den die Mutter wiedergegeben hat, zurückgreifen und daraus Schlussfolgerungen für den beweisbedürftigen Vorgang ziehen.54 Die Mitteilung der Mutter kann hier durchaus als Beweisanzeichen für die Richtigkeit der mitgeteilten Tatsachen die­ nen.55 Und dieses Indiz kann, je nach Einzelfall, auch gar nicht so „schwach“ sein; dies gilt insbesondere, wenn es durch weitere Indizien untermauert wird, wenn beispielsweise die vom Kind genannte Person wiederum zur Tatzeit von einem Zeugen in der Nähe des Tatorts gesehen wurde und bereits wegen Sexualdelik­ ten vorbestraft ist. Trotz aller Gefahren der Beweissurrogate und der besonderen Gefahren, die beim Zeugen vom Hörensagen bestehen56 – im US-amerikanischen

48 

Siehe auch Sander, in: Löwe-Rosenberg, § 261 Rn. 81. Peters, Strafprozeß, S. 294 f.; näher dazu Joachim, S. 40 ff.; siehe zum US-amerika­ nischen Recht Tribe, 87 Harv. L. Rev. 957, 958 (1974). 50 So Seebode/Sydow, JZ 1980, 506, 513 f.; näher dazu Joachim, S. 42 ff. 51  Eb. Schmidt, StPO I, Rn. 450; vgl. auch Löhr, S. 52; Sprang, S. 26 und 40. 52  Rupp, S. 136. 53  Rupp, S. 136. 54  Siehe dazu auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 219 f. 55  Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 4. 56  Löhr, S. 52 ff. 49 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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Recht wird stets von hearsay dangers gesprochen – spricht grundsätzlich nichts dagegen, die richterliche Überzeugungsbildung auch auf Indizien zu stützen.57 Das erkennende Gericht muss sich bei der mittelbaren Beweisführung stets vor Augen führen, dass mit jedem zusätzlichen Glied in der Beweiskette auch mehr Schlüsse zu ziehen sind und dadurch die Fehleranfälligkeit und die Irrtumswahr­ scheinlichkeit steigen.58 Daher ist „das Postulat möglichst kurzer Schlußketten als ‚Klugheitsregel‘ allgemein anerkannt“59. Das Gericht soll also aus der Quel­ le selbst schöpfen, da eine Beweisreproduktion mit einer „Abschwächung und Trübung des Beweismaterials“60 einhergeht. Es gibt ohnehin zahlreiche Faktoren, die schon die Glaubhaftigkeit der Aus­ sage und Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen mindern und sich auch auf den mittelbaren Zeugen auswirken.

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers Die allgemeinen Probleme des Zeugenbeweises führen beim Zeugen vom Hö­ rensagen zu besonderen Schwierigkeiten: Da die Wahrnehmung, Erinnerung, Wiedergabe und Glaubwürdigkeit von zahlreichen Faktoren beeinflusst werden, die mit dem jeweiligen (unmittelbaren) Zeugen eng verknüpft sind, kommt es auf dessen individuelle physische, psychische und sprachliche Fähigkeiten sowie des­ sen Glaubwürdigkeit an und es müsste eigentlich auch diese Person vernommen werden. Der unmittelbare Zeuge erscheint aber gerade nicht vor Gericht, so dass an ihn keine klärenden Zusatz- und Ergänzungsfragen gestellt werden können, sondern stattdessen wird auf den Zeugen vom Hörensagen zurückgegriffen, der zwar über die von ihm gehörte Äußerung berichten, aber oft nicht die näheren Umstände, warum und wie es überhaupt zu der Äußerung gekommen ist, erklä­ ren kann. 1.  Aussagefähigkeit Um überhaupt als Zeuge in Betracht zu kommen, muss die zu vernehmende Person aussagefähig sein. Die Aussagefähigkeit ist gegeben, „wenn der Aussa­ gende die von ihm bekundete Tatsache unter hinreichend günstigen Umständen wahrnehmen konnte, sich seiner früheren Wahrnehmung in zutreffender Weise 57 

Näher dazu Roxin/Schünemann, § 45 Rn. 48 ff. dazu auch Schlüchter, Rn. 472, die in diesem Zusammenhang auch von „Ge­ dankenoperationen“ spricht; Donnelly v. United States, 228 U.S. 243, 272 (1913): „multiply the probabilities of error“. 59  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 130 mit Verweis auf Rupp. 60  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 128 f. 58  Vgl.

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers

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und ausreichendem Ausmaß zu erinnern vermag und in der Lage ist, das in seiner Erinnerung Vernommene genügend wiederzugeben.“61 Somit lässt sich die „Entstehungsgeschichte der Zeugenaussage“ im Wesent­ lichen in drei Phasen, nämlich die Wahrnehmung, die Erinnerung und die Wie­ dergabe gliedern.62 Jede dieser Phasen ist anfällig für zahlreiche Störfaktoren und Verfälschungen, die „Zweifel an der Präzision und Unverfälschtheit (…) säen müssen“63, so dass der Beweiswert von Zeugen häufig bezweifelt werden muss.64 Diese Risiken werden durch ein weiteres Glied in der Beweiskette, den mittelba­ ren Zeugen, verstärkt, wenn nicht gar verdoppelt, es handelt sich also eindeutig um einen minderwertigen Beweis im Vergleich zum unmittelbaren Zeugen. Die drei Phasen der Entstehung einer Zeugenaussage und die damit zwangsläufig ver­ bundenen Störfaktoren sowie die Glaubwürdigkeit des Zeugen müssen im deut­ schen Recht stets von einem Richter bei der Beurteilung des Beweiswerts eines Zeugen berücksichtigt werden, was die Gerichte nicht selten vor Herausforderun­ gen stellt, die beim Zeugen vom Hörensagen noch größer sind. Im US-amerika­ nischen Recht wird der Wert eines Beweises grundsätzlich von der jury beurteilt. Die hearsay dangers werden als einer der Hauptgründe angeführt, weshalb der Zeuge vom Hörensagen im US-amerikanischen Strafverfahren ausgeschlossen sein soll. Dieser Begriff wurde – soweit ersichtlich – erstmals von Morgan ver­ wendet, der zwischen Aufrichtigkeit und falschem Gebrauch von Sprache (sin­ cerety and misuse of language)65 sowie Wahrnehmung und Erinnerung (percep­ tion and memory)66 differenzierte. Die in der Rechtswissenschaft verwendeten Termini variieren zwar, sie meinen inhaltlich aber alle dasselbe.67

61  Glatzel, StV 1994, 46, 46 mit Verweis auf Undeutsch; siehe auch Dahs, Handbuch, Rn. 597. 62 So Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 30. Diese Phasen lassen sich weiter untergliedern; Peters, Fehlerquellen, S. 86 spricht von „vier Stufen der Aussage“: Wahrnehmung, Gedächtnisaufspeicherung, Erinnerung und Wiedergabe, S. 86 ff. 63  Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 31. 64  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1363 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 851, dort m. w. N. in Fn. 187. 65  Näher dazu Morgan, 62 Harv. L. Rev. 177, 185 ff. (1948). 66  Morgan, 62 Harv. L. Rev. 177, 188 (1948); vgl. auch Stoddard v. State, 389 Md. 681,  696 (Md. 2005): „(…) scholars have focused on the veracity of the declarant and have identified four factors (sometimes termed ,testimonial inferences‘): (1) sincerity (the dan­ ger of fabrication); (2) narration (the danger of ambiguity); (3) perception (the danger of inaccurate observation); and (4) memory (the danger of faulty recollection)“. 67  Statt von misuse of language wird teilweise von articulateness oder überwiegend von narration gesprochen, siehe dazu auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 785 f. (1990) sowie dort insbesondere Fn. 15 m. w. N.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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a)  Wahrnehmung Als erste hearsay danger ist die Wahrnehmung (perception)68, die oft auch als „Gefahr fehlerhafter Beobachtung“69 umschrieben wird, zu nennen. Die Wahr­ nehmung des Menschen wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, deren beiden wichtigsten wohl die Wahrnehmungssinne und die äußeren Bedingun­ gen der Wahrnehmung sind, aber schon die objektive Wahrnehmung im eigent­ lichen Sinne ist dem Menschen nicht möglich. Jede menschliche Wahrnehmung ist selektiv70 und wird individuell gesteuert. Daher ist die Wahrnehmung stets persönlichkeitsgebunden71 und auch abhängig von der affektiven Einbindung in das Geschehen72. Der Wahrnehmungsvorgang vollzieht sich in zwei Stufen, die häufig als „Per­ zeption“ und „Apperzeption“ bezeichnet werden. Man könnte sie auch als „Wahr­ nehmungstechnik“ und „Eingliederung in das kognitive System“ bezeichnen.73 Die Perzeption ist die Aufnahmefähigkeit bzw. die „unmittelbare Reaktion“ der Sinnesorgane auf die äußeren Einflüsse.74 Dieser Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen sind schon von Natur aus physiologische Grenzen gesetzt,75 die auch der Richter bzw. die Geschworenen bei der Beurteilung, ob die Aussage des Zeugen glaubhaft ist, in Betracht ziehen müssen. Der Richter bzw. die Ge­ schworenen müssen sich also immer die Frage stellen, zu welcher Aufnahme der Mensch überhaupt fähig ist und zu welcher Aufnahme gerade dieser Mensch be­ fähigt ist.76 Die akustischen und visuellen Aufnahme- und Verarbeitungskapa­ zitäten sind grundsätzlich begrenzt. Insbesondere die Lokalisierung akustischer Wahrnehmungen und die Schätzungen der Entfernung einer Schallquelle durch einen Zeugen sind häufig unzuverlässig.77 Das Gleiche gilt für andere physikali­

68 

Siehe auch Mueller/Kirkpatrick, S. 733. beispielsweise Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 573 (Md. 2005): „perception (the danger of inaccurate observation)“. 70  Zur Selektivität der Wahrnehmung siehe insbesondere Kühne, NStZ 1985, 252, 253 f. 71  Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 30 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 852; Peters, Strafprozeß, S. 377. 72  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1369a. 73  Dazu grundlegend Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1370 ff.; siehe auch Barton, Straf­ verteidigung, § 14 Rn. 7. 74  Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 30 f.; Bender/Nack/Treuer, Rn. 14; Peters, Strafprozeß, S. 377. 75  Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 31 ff.; Bender/Nack/Treuer, Rn. 20 ff.; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1365 ff. 76  Peters, Strafprozeß, S. 377. 77  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1366. 69  Siehe

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers

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sche Größen wie Lautstärke, Gewicht und insbesondere für Zeitdauer- und Ge­ schwindigkeitsschätzungen.78 Naturgemäß sind die physiologischen Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit bei Personen, die unter speziellen Wahrnehmungsdefekten oder Handicaps lei­ den, noch viel ausgeprägter.79 Die Wahrnehmung eines Brillenträgers, der seine Brille vergessen hat, ist ebenso beschränkt wie die eines Schwerhörigen, der kein Hörgerät trägt oder vergessen hat, dies einzuschalten.80 Gleiches gilt für den Farbblinden beim Be­ trachten unterschiedlicher Farben oder Farbnuancen und den Nachtblinden in der Dunkelheit. Denn auch die äußeren Bedingungen beeinflussen die Wahrneh­ mung wesentlich.81 Das Landeskriminalamt Saarbrücken hat durch eine Serie von Fotos gezeigt, dass dasselbe silber-metallic farbene Fahrzeug je nach Tages­ licht und Umfeld gelb, grün, blau oder grau wirken kann.82 Umwelteinflüsse wie beispielsweise Helligkeit und Dunkelheit spielen eine große Rolle. Schlechte Lichtverhältnisse oder deren plötzlicher Wechsel vom Hel­ len ins Dunkle beschränken die Wahrnehmungsfähigkeit des Auges.83 Tagsüber kann der Zeuge von der Sonne geblendet werden, nachts von einer Taschenlampe oder Scheinwerfern. Während der Mensch in der bis zu fünf Sekunden dauernden Blendphase praktisch blind ist,84 kann es bis zu einer halben Stunde dauern, bis man nachts bzw. in der Dunkelheit die größte Sehschärfe erreicht hat.85 Die nächste Stufe der Wahrnehmung ist die Apperzeption, die „persönlich­ keitsgebundene Sinngebung“86, wobei die Grenzen fließend verlaufen und die Vorgänge zwangsläufig miteinander verbunden sind.87

78 

Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1367 ff. Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 33. 80  Bender/Nack/Treuer, Rn. 34. 81  Zum Beispiel kann eine Kerze in einer dunklen, klaren Nacht auf dem Land kilome­ terweit wahrgenommen werden, nicht hingegen in einer beleuchteten Großstadt, Kühne, NStZ 1985, 252, 252. 82 Vgl. Kühne, NStZ 1985, 252, 252. 83  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1365. 84  Kühne, NStZ 1985, 252, 252. 85  Bender/Nack/Treuer, Rn. 24 f.: Wenn der Zeuge beispielsweise aus einer hell er­ leuchteten Gaststätte in einer ländlichen Region auf die dunkle Straße tritt, sind seine Beobachtungen kritisch zu hinterfragen, weil es einige Zeit dauert, bis sich seine Augen den neuen Lichtverhältnissen angepasst haben. 86  Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 33. 87  Peters, Strafprozeß, S. 378. 79 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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In diesem Vorgang werden „die Bruchstücke der wahrgenommenen Reali­ tät“88 verarbeitet und interpretiert und in das „bestehende kognitive System“89, die so genannten Schemata, durch Ausfüllungsneigungen und Schlussfolgerun­ gen90 eingegliedert. Barton stellt zutreffend fest, dass gerade in diesem Prozess „Wahrnehmungsverfälschungen (…) geradezu strukturell vorprogrammiert“ sind.91 Denn im Verarbeitungs- und Interpretationsprozess werden die selektiven Wahrnehmungen in ein Ereignisschema übertragen. In diesem wird das Ereignis in seinen Grundzügen festgelegt und außerdem werden die noch vorhandenen Leerstellen in Abhängigkeit von dem Gesamtgeschehen ergänzt. Diese Schema­ tisierung verdeutlicht Eisenberg anhand des folgenden Beispiels: In einem Vor­ fall, der als Erstechen eines anderen Menschen gedeutet wird, sieht der Zeuge zunächst in der Hand des Angreifers etwas blitzen und anschließend, dass der Angreifer eine „typische“ Stechbewegung macht und das Opfer zu Boden sinkt. Folglich nimmt das blitzende Objekt für den Zeugen den Füll-Wert „Messer“ an. Das tatsächlich wahrgenommene Geschehen wird schemaimmanent ergänzt und beide Vorgänge werden fatalerweise im Gedächtnis des Zeugen verschmelzen, so dass dieser später bekunden wird, er habe eindeutig gesehen, wie der Angreifer mit einem Messer zugestochen habe.92 Gleiches gilt für die Knallzeugen, die in der Gerichtspraxis eine große Rolle spielen: Personen hören einen lauten Knall, der ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen lenkt. Allerdings nehmen sie den Unfall erst wahr, nachdem er schon erfolgt ist und sie schließen sodann unbe­ wusst auf ein vermutetes Geschehen und halten dies für das wahre Ereignis.93 b)  Erinnerung Ferner besteht die Gefahr von falschen Erinnerungen (memory)94 bzw. von Erinnerungsverfälschungen.95 Dabei ist zunächst zu fragen, was von dem Wahr­ genommenen überhaupt im Gedächtnis abgespeichert worden ist, denn schon die­ ser Speicherungsprozess kann durch besondere Emotionen wie Aufregung oder Todesangst gestört werden. Dies ist vor allem bei den noch anzusprechenden Ausnahmen zur hearsay rule – wie den present sense impressions, den excited 88 

Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 33. Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1370. 90  Siehe zur Sinngebung auch Bender/Nack/Treuer, Rn. 66 ff. 91  Barton, Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 33. 92  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1372. 93  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 8. 94 Ausführlich dazu Imwinkelried, 41 Fla. L. Rev. 215, 224 ff. (1989); siehe auch Mueller/Kirkpatrick, S. 733 f. 95  Siehe beispielsweise Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 573 (Md. 2005): „memory (the danger of faulty recollection)“. 89 

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers

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utterances und den sog. dying declarations – von Bedeutung. Streng genommen ist erst im nächsten Schritt zu fragen, woran sich der Zeuge erinnern kann. Es ist denkbar, dass etwas im Gedächtnis abgespeichert ist und nicht abgerufen werden kann. In der Regel liegt zwischen dem Zeitpunkt der Wahrnehmung und dem Zeitpunkt der (gerichtlichen) Vernehmung ein nicht unbeachtlicher Zeitraum. Besonders in diesem Zeitraum ist das Wahrgenommene zahlreichen Störprozes­ sen ausgesetzt. Einerseits ist mit zunehmender Zeit eine deutliche Verblassungstendenz er­ kennbar:96 Je länger das wahrgenommene Geschehen zurückliegt, desto schlech­ ter kann man sich in der Regel erinnern. Das Wahrgenommene kann aber nicht nur vergessen, sondern auch komplett verdrängt97 werden, so dass die Information aus dem Gedächtnis nicht mehr abrufbar ist. Dies ist häufig ein Schutzreflex bei Ereignissen, die den Zeugen peinlich berühren und ihm unangenehm sind, was insbesondere für Aussagen vor Gericht über Sexualdelikte gilt.98 Dennoch ist auch ein Unfallverletzter mit retrograder Amnesie nicht automatisch ein völlig ungeeig­ netes Beweismittel, da seine Erinnerungsfähigkeit durchaus von einem Sachver­ ständigen zuverlässig beurteilt werden kann.99 Ereignisse, die häufig als vergessen gelten, können durch Vorhalte, eine ausführliche Erörterung des Themas oder Besichtigung des Tatorts wieder in das Gedächtnis gerufen werden.100 In der psy­ chologischen Fachliteratur ist belegt, dass durch diese Arten der kontextgestützten Erinnerung eindeutig eine verbesserte Gedächtnisleistung erzielt werden kann.101 Insbesondere dürfen auch die so genannten „Blitzlicht“-Erinnerungen102 nicht unterschätzt werden: Psychologische Studien haben bewiesen, dass besonders schockierende Ereignisse sehr detailliert im Gedächtnis gespeichert und nur sel­ ten vergessen werden.103 Aktuelle Studien zeigen, dass auch dreijährige Kinder stressvolle Ereignisse, die sie selbst unmittelbar betreffen, über einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen erinnern und verständlich wiedergeben können.104 96 Grundlegend Bender/Nack/Treuer, Rn. 115 ff.; siehe auch Barton, Strafverteidi­ gung, § 14 Rn. 10 ff. und Arntzen, Zeugenaussage, S. 55 ff. 97  Christianson, Memory, S. 33, 34; Greuel et al., Glaubhaftigkeit, S. 30 f. und S. 43 f. 98  Vgl. BGH StV 2003, 656, 656 sowie Bender/Nack/Treuer, Rn. 173 f. 99  OLG Saarbrücken VRS 46, 46, 47; siehe zur retrograden Amnesie auch Bender/ Nack/Treuer, Rn. 136 f. 100  BGHR StPO § 244 Abs. 3 S. 2 Ungeeignetheit 4; Güntge, in: Alsberg, Beweisan­ trag, Rn. 1199. 101  Greuel et al., Glaubhaftigkeit, S. 35. 102  Christianson, Memory, S. 33, 41: „,flashbulb‘ memories“. 103  Christianson, Memory, S. 33, 41. 104  Christianson, Memory, S. 33, 40 f.; a. A., die inzwsichen aber aufgrund neuerer Studien wohl überholt sein dürfte, Arntzen, DRiZ 1976, 20; zur Aussagefähigkeit von Kin­ dern und deren Erinnerung grundlegend Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1411 ff.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Andererseits kann es auch zu gefährlichen Erinnerungsverfälschungen und Pseudoerinnerungen kommen,105 die häufig durch schemaimmanente Ergän­ zungen sowie durch nachträgliche Suggestionen und Falschinformationen ent­ stehen.106 Barton weist auf Anreicherungstendenzen hin, indem bestehende Erinnerungslücken unbemerkt durch Verarbeitung, Anpassung, Verschiebung, Vertauschung, Ersatzerinnerungen und Erweiterungen ausgefüllt werden.107 Vor allem von Fehlinformationen, die in Fragen eingestreut werden, geht eine suggestive Kraft aus, die auch zu einem „False Memory Syndrome“ führen kann.108 c)  Wiedergabe Natürlich kommt es bei der Wiedergabe des Geschehens auch auf die Auf­ richtigkeit einer Person an, hier geht es aber zunächst einmal um die Gefahr der Mehrdeutigkeit und die korrekte (sprachliche) Wiedergabe (narration)109, die „der Fähigkeit der Aussageperson“110 unterliegt. Entscheidend ist zunächst die Aus­ drucksfähigkeit des Zeugen, also die Fähigkeit, das, was er sagen will, richtig zum Ausdruck zu bringen, das Geschehen mit seinen Worten korrekt wiederzu­ geben.111 Es besteht die Gefahr, dass der Zeuge etwas anderes meint, als er sagt. Ferner kommt in Betracht, dass das Geschehen nur unvollständig wiedergegeben oder vom Empfänger der Äußerung missverstanden wird. Sofern es sich beim Zeugen vom Hörensagen um Vernehmungspersonen handelt, besteht eine erhöhte Gefahr, dass die eigentliche Aussage des unmittelbaren Zeugen verfälscht wird. Gerade bei Vernehmungen ist es wünschenswert, dass der Zeuge zunächst voll­ kommen frei berichtet, um eine Verfälschung der Aussage zu vermeiden. Erst im Anschluss an seine freie Erzählung sollte er befragt werden, wobei diese Befra­ gung möglichst neutral – ohne leitende Fragen – erfolgen soll. Denn vor allem suggestiv gestellte Fragen stellen eine große Fehlerquelle beim Abrufen der „ab­ gespeicherten“ Informationen dar. Die Fehler der Wiedergabe fußen häufig auf Gründen, die in den Rahmenbe­ dingungen der Vernehmung, aber auch in der Person des Aussagenden liegen.112 105  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 13; ders., Fragwürdigkeit des Zeugenbeweises, S. 23, 36; siehe auch Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1374 ff.; Peters, Strafprozeß, S. 380 f. 106  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1375; Greuel et al., Glaubhaftigkeit, S. 34 f. 107  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 11. 108  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 13. 109  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 573 (Md. 2005): „narration (the danger of ambigui­ ty)“; siehe dazu auch Mueller/Kirkpatrick, S. 734. 110  Peters, Fehlerquellen, S. 88. 111  Peters, Strafprozeß, S. 382. 112  Peters, Strafprozeß, S. 382.

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers

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Der Zeuge kann verwirrt oder aufgeregt sein, was sich auf die Wiedergabe des Geschehens auswirkt: Je nach Beziehung zur Tat oder zum Täter kann ihn die Tat belasten oder peinlich berühren. Niemand wird gern die prekären Details einer sexuellen Misshandlung oder Vergewaltigung wiedergeben. Hinzu kommt ein Konformitätsdruck, die Fragen beantworten zu müssen oder die Erwartungen der Vernehmungsperson nicht enttäuschen zu wollen, wodurch Erinnerungslü­ cken, die zwar erkannt, aber dennoch in dem Glauben ausgefüllt werden, den Strafverfolgungsbehörden ein abgerundetes Bild schuldig zu sein oder einen gu­ ten Eindruck zu machen.113 Der Zeuge kann also durchaus redlich, seine Aussage dennoch falsch sein. Schließlich treten bei der schriftlichen Fixierung häufig – meistens bedingt durch die Vernehmungsperson – Protokollierungsfehler auf.114 Auch die Wiedergabe des Geschehens durch den unmittelbaren Zeugen ist also zahlreichen Fehlerquellen ausgesetzt, zu denen er nicht durch das Gericht befragt werden kann. Für den Zeugen vom Hörensagen kommt, wie für jeden anderen Zeugen, der vor Gericht aussagen muss, erschwerend hinzu, dass er durch die formale Atmosphäre im Gericht, die Richter, die Anwälte, die Zuhörer und auch die Presse so aufgeregt sein kann, dass er unter Umständen vergisst, wichtige Details zu erwähnen.115 2.  Bewusste Falschaussagen und Glaubwürdigkeit Von (sprachlichen) Fehlern bei der Wiedergabe zu unterscheiden ist die Lüge als bewusst falsche Aussage, um das Gericht zu täuschen.116 Die Motive für eine Lüge können sehr vielfältig sein.117 Ferner weist Barton zutreffend darauf hin, dass Falschaussagen, bei denen sich Lüge und Irrtum vermengen, „ein ganz be­ sonders heikles Kapitel bilden“.118 Für den Zeugen vom Hörensagen sind zwei Konstellationen denkbar. Zum einen kann der Zeuge vom Hörensagen selbst lügen, zum anderen kann es der unmittelbare Zeuge sein, der den Zeugen vom Hörensagen belügt. Zumindest die erstgenannte Konstellation ist weitaus weniger prekär, da der Zeuge vom Hörensagen selbst vor Gericht erscheint und das Gericht ihn direkt befragen kann, um mögliche Widersprüche in seiner Aussage aufzudecken. Ei­ gentlich liegen die Belastungstendenzen auf der Hand, wenn sich die Ehefrau

113 

Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 16; Peters, Strafprozeß, S. 382. Näher dazu unten III. 115  Siehe auch Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 17; Peters, Strafprozeß, S. 382 f. 116  Peters, Strafprozeß, S. 383 f. 117  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 21; Peters, Strafprozeß, S. 384. 118  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 22. 114 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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in einem familiengerichtlichen Verfahren auf Zeugen beruft, die ihr von einem sexuellen Übergriff ihres Ehemannes berichtet haben sollen.119 Problematischer ist die Konstellation, in der der unmittelbare Zeuge als ers­ tes Glied in der Kette gegenüber einer anderen Person bewusst falsche Angaben macht und diese Person die Angaben sodann gutgläubig wiedergibt. Hier ist es nicht nur für die Schöffen und die Geschworenen, sondern auch für besonders geschulte Personen und Fachleute wie Polizisten, Richter, Psychologen oder Psy­ chiater noch schwieriger als sonst, die Glaubhaftigkeit der Äußerung und die Glaubwürdigkeit (sincerity)120 des Zeugen zu beurteilen.121 Denn es ist äußerst schwierig, die Verlässlichkeit einer nicht anwesenden und unter Umständen sogar fremden Person zu beurteilen, auf deren Aussage es eigentlich ankommt, wenn diese Person nicht selbst vor Gericht erscheint, sondern an ihrer Stelle nur der Zeuge vom Hörensagen. Schließlich wird die Glaubwürdigkeit eines Menschen vor allem aufgrund seiner Persönlichkeit, seines Charakters, seiner Vita und auch der Beweggründe seiner Aussage, insbesondere der Motive für eine starke Belas­ tung des Angeklagten, beurteilt.122 Dem unmittelbaren Zeugen kommt es mit seinen einen anderen belastenden Äußerungen häufig darauf an, die Verantwortung von sich zu schieben, um sich dadurch selbst zu entlasten.123 Gerade bei der Vernehmung von Verhörspersonen als Zeugen vom Hörensagen muss also die Glaubhaftigkeit der Aussage und die Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen besonders kritisch geprüft und ge­ fragt werden, ob der unmittelbare Zeuge die einen anderen belastenden Angaben möglicherweise nur gemacht hat, um sich selbst Vorteile nach § 31 BtMG oder § 46b StGB für das weitere Verfahren zu sichern.124 Auch im US-amerikanischen Recht bestehen Zweifel am Wahrheitsgehalt einer Aussage, wenn man nicht nur sich selbst belastet – womit es sich um eine Ausnahme against interest125 gem. Fed. R. Evid. 804(b)(3) handeln würde –, sondern zugleich einen anderen belastet und dadurch Vorteile für das eigene Verfahren erlangt (curry favor problem126). Selbst wenn der unmittelbare Zeuge vor Gericht auftreten würde, bestehen die oben genannten allgemeinen Probleme des Zeugenbeweises. Im US-amerikani­ schen Recht wird aber allgemein angenommen, dass diese Probleme durch drei 119 

BGH, Urteil vom 24. 08. 2016 – 2 StR 135/16 –, juris. beispielsweise Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 573 (Md. 2005): „sincerity (the danger of fabrication)“; siehe auch Mueller/Kirkpatrick, S. 734. 121  Siehe zu den Voraussetzungen eines Glaubwürdigkeitsgutachtens BGHSt 45, 164 ff. 122  Vgl. auch Walther, GA 2003, 204, 208. 123  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 21. 124  BGH StV 2016, 774, 775. 125  Näher dazu unten Kapitel C. IV. 2. h). 126  Näher dazu unten Kapitel C. IV. 2. h) bb) (2) (b). 120  Siehe

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers

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Schutzmechanismen, die der U.S. Supreme Court auch in California v. Green betont hat, wenn nicht eliminiert, so doch zumindest minimiert werden.127 Dabei ist insbesondere das Kreuzverhör (cross-examination) als Hauptgrund für den Ausschluss von hearsay evidence zu nennen, dem im US-amerikanischen Recht ein sehr hoher Stellenwert beigemessen wird.128 Auch in California v. Green wird unter Verweis auf Wigmore betont, dass das Kreuzverhör zweifellos „die größte rechtliche Maschine ist, die jemals erfunden wurde, um die Wahrheit zu ermit­ teln“129. Durch intensive Befragung der Gegenseite sollen Missverständnisse und Widersprüche in der Zeugenaussage sowie Verfälschungen durch den Zeugen aufgedeckt werden.130 Ferner kommt der Beeidigung der Aussage eine sehr hohe Bedeutung zu. Der Zeuge soll durch den Eid (oath) – insbesondere auch durch dessen religiöse Komponente131 – zu einer ehrlichen Aussage motiviert werden, indem ihm die Bedeutung des Verfahrens vor Augen geführt und er auf die Straf­ barkeit eines Meineids (perjury) hingewiesen wird.132 Außerdem wird immer wieder erwähnt, dass der Zeuge persönlich anwesend sein muss. Das Gericht bzw. die Geschworenen sollen die Möglichkeit haben, das Verhalten (demeanor) des Zeugen – wie beispielweise Körpersprache, die Stimm­ lage, seine Reaktion auf Nachfragen, ob er Blickkontakt hält oder den Blicken ausweicht – während seiner Aussage zu beobachten und sich damit einen persön­ lichen Eindruck von dem Zeugen zu verschaffen.133 Für das US-amerikanische Recht fasst der U.S. Supreme Court die Gründe – fehlender Eid, keine Möglich­ keit für das Gericht und die Geschworenen, den Zeugen im Zeugenstand zu beob­ achten und Ergänzungsfragen an ihn zu stellen, sowie die fehlende Möglichkeit des Kreuzverhörs – für den Ausschluss des Beweises vom Hörensagen sehr gut in Donnelly v. United States zusammen und betont auch, dass die Wahrscheinlich­ keit von Fehlern durch dieses Beweismittel massiv erhöht werde.134 127 

California v. Green, 399 U.S. 149, 158 (1970). McFarland, 28 Fla. St. U. L. Rev. 907, 913 (2001): „While these [testimonial] dan­ gers exist for every witness, hearsay is deemed inadmissible because the declarant is not under oath, not in the presence of the jury, and cannot be crossexamined. The inability to cross-examine the witness is widely viewed as the chief justification of the rule“. 129  California v. Green, 399 U.S. 149, 158 (1970): „(…) the ‚greatest legal engine ever invented for the discovery of the truth‘“; siehe auch Pointer v. Texas, 380 U.S. 400, 404 (1965) und McCormick on Evidence, S. 181. 130  Siehe dazu McCormick on Evidence, S. 180 m. w. N. 131  McCormick on Evidence, S. 179. 132 Bei Mueller/Kirkpatrick, S. 736, klingt es doch sehr idealistisch, wenn nicht sogar naiv: „Most importantly, the ceremony of the oath brings home to the witnness that the time has come to be serious, careful, and honest.“; siehe auch McCormick on Evidence, S. 179. 133  Näher dazu McCormick on Evidence, S. 179 f. und Mueller/Kirkpatrick, S. 736 f. 134  Donnelly v. United States, 228 U.S. 243, 272 (1913): „The chief grounds of its exclu­ sion are, that the reported declaration (if in fact made) is made without the sanction of an 128 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Vor besondere Herausforderungen, die Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit zu beurteilen, werden die Gerichte gestellt, wenn Kinder als Zeugen auftreten und wenn es um Sexualdelikte geht, bei denen die Aussage des Opferzeugen häu­ fig das einzige Beweismittel ist. Vor allem in Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern ist oft das junge Opfer selbst der einzige unmittelbare Zeuge der Tat. 3.  Kindliche Zeugen und Traumatisierungen bei Opfern sexueller Übergriffe Häufig bestehen gegen kindliche Zeugen gewisse Bedenken. Unter Hinweis auf die mangelnde Aussagefähigkeit aufgrund des Alters sowie auf eine oft kli­ scheehaft unterstellte Traumatisierung des Opfers durch eine Vernehmung über einen sexuellen Missbrauch wird im deutschen Recht unter Umständen vorschnell auf den Zeugen vom Hörensagen zurückgegriffen. Vor allem im englischen und US-amerikanischen Recht bestehen Vorbehalte und eine bestimmte Skepsis der Geschworenen gegenüber der Aussagefähigkeit eines kindlichen Zeugen sowie dessen Glaubhaftigkeit.135 Darüber hinaus er­ schwert das komplexe Beweisrecht die Wahrheitsfindung, da aufgrund der hear­ say rule die Kinder grundsätzlich selbst aussagen müssen.136 In England können oath, with no responsibility on the part of the declarant for error or falsification, without opportunity for the court, jury, or parties to observe the demeanor and temperament of the witness, and to search his motives and test his accuracy and veracity by cross-examination, these being most important safeguards of the truth, where a witness testifies in person, and as of his own knowledge; and, moreover, he who swears in court to the extra-judicial decla­ ration does so (especially where the alleged declarant is dead) free from the embarrassment of present contradiction and with little or no danger of successful prosecution for perjury. It is commonly recognized that this double relaxation of the ordinary safeguards must very greatly multiply the probabilities of error, and that hearsay evidence is an unsafe reliance in a court of justice.“ (Hervorhebung nicht im Original). 135  Dent, S. 1 sowie auch Yuille/Hunter/Joffe/Zaparniuk, S. 95, 98: „(…) our criminal justice systems have a long history of incorrectly doubting the eyewitness abilities of chil­ dren. As a result, children have become victimized by ‚discriminatory legal system which (…) [has] regarded children as inherently unreliable witnesses whose testimony must be specially scrutinized‘“. 136  Vgl. dazu Spencer, Children’s Evidence, S. 113, 115 ff.: Kinder mussten in der öf­ fentlichen Verhandlung aussagen und konnten auch ins Kreuzverhör genommen werden. In einem Fall vor dem London Central Criminal Court im Jahre 1987 durfte das Kind durch eine Scheibe geschützt aussagen, so dass es dem Angeklagten nicht in die Augen sehen musste. Diese Praxis wurde vom Court of Appeal im Jahre 1990 bewilligt, R v X, Y & Z, (1990) 91 CrApR 36. Durch den Criminal Justice Act 1988, section 32 ist es Kindern unter 14 Jahren in Verfahren zu Sexual- und Gewaltverbrechen vor dem Crown Court erlaubt ihre Aussage im Rahmen einer Videokonferenz zu machen, was jedoch – nach wie vor – am Tag der Verhandlung geschehen muss, vgl. zu dieser Problematik Spencer, Children’s Evidence, S. 113, 115.

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers

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zwar aufgrund des Criminal Justice Act von 1991, der auf eine Empfehlung der sogenannten Pigot Kommission zurückgeht, Befragungen von Kindern im Vor­ feld auf Video aufgezeichnet und als zulässiges Beweismittel in das Verfahren eingeführt werden, das Kind muss aber am Tag der Verhandlung anwesend sein und sich ggf. einem belastenden Kreuzverhör unterziehen.137 a)  Die Bedeutung des Alters für die Aussagefähigkeit Auch jüngere Kinder können prinzipiell Zeugen sein, doch erscheinen Aus­ sagefähigkeit und damit die Glaubhaftigkeit der Angaben und die allgemeine Glaubwürdigkeit je nach Alter und Entwicklungsstand oft zweifelhaft.138 Vor al­ lem dem Alter kommt eine besondere Bedeutung für die Aussagefähigkeit eines Kindes zu: Ein zweijähriges Kind139 wird eine Vergewaltigung zum einen auf­ grund des fehlenden Erinnerungsvermögens nicht erinnern können, zum anderen wird es – selbst wenn es sich erinnern könnte – sie aufgrund fehlender ausgepräg­ ter kommunikativer Fähigkeiten sprachlich nicht wiedergeben, also nicht darüber berichten können. Gleiches gilt aber auch für ein achtjähriges Kind, das über den Inhalt eines komplexen Vertrages berichten soll. Eine starre Altersgrenze140 für die Aussagefähigkeit von Kindern gibt es also nicht, weil vielmehr die persönlichen Fähigkeiten und der individuelle Entwick­ lungsstand des Kindes entscheidend sind, aber es existieren gewisse Erfahrungs­ werte.141

137  Die Pigot Kommission empfahl, Kinder unter 14 Jahren (bei Verbrechen mit sexuel­ lem Hintergrund unter 17 Jahren, S. 25) außerhalb des Gerichts, in informeller Umgebung, ins Kreuzverhör zu nehmen und dieses Verhör seinerseits auf Video aufzunehmen und es so in den Prozess einzuführen (Report of the Home Office Advisory Group on Video Evi­ dence, S. 21 ff.). Entscheidend sei allein das Kindeswohl. Von einem Kind könne niemals verlangt werden, gegen seinen Willen in einer öffentlichen Verhandlung vor dem Crown Court zu erscheinen, auch nicht wenn es durch Bildschirme oder ein internes Videoüber­ tragungssystem geschützt werde; siehe dazu auch Köhnken, StV 1995, 376, 376 ff. 138  BGH StV 1995, 293, 293; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1411; Kühne, Strafprozess­ recht, Rn. 802; Rogall, in: SK-StPO, Vor § 48 Rn. 32; vgl. auch RGSt 58, 396, 396. 139  Vgl. dazu im US-amerikanischen Recht Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 600 (Md. 2005) m. z. N.: „We are aware of no case in which a two-year-old child has been found com­ petent to testify (…), and, indeed, there is considerable psychological evidence that child­ ren of such tender age lack the ability to distinguish meaningfully between truth and lies“. 140 Siehe zum US-amerikanischen Recht Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 600 (Md. 2005) m. z. N. 141  Senge, in: Karlsruher Kommentar, Vor § 48 Rn. 5; Ignor/Bertheau, in: Löwe-Ro­ senberg, Vor § 48 Rn. 27, in der Regel älter als viereinhalb Jahre; näher dazu Niehaus/ Volbert/Fegert, S. 28 ff.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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Es wird angenommen, dass Kinder abgesehen von wenigen Ausnahmefällen erst ab einem Alter von fünf Jahren als Hauptzeuge in Betracht kommen.142 Erst in diesem Alter können sie Ereignisse und Erlebnisse, die sie beeindruckt und möglicherweise körperlich betroffen haben, verständlich schildern, so dass ein klarer Eindruck vom Gesamtverlauf entsteht.143 Zwar können auch schon zwei- oder dreijährige Kinder Erlebnisse verbal wiedergeben, doch ist umstritten, ob sie über die erforderlichen kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten verfügen, um ein Geschehen richtig wahrzunehmen, einzuordnen und später darüber zu berichten. Drei- oder vierjährige Kinder kön­ nen in der Regel als Stützzeugen herangezogen werden, doch muss die Glaub­ würdigkeit aller Zeugen, die jünger als viereinhalb Jahre sind, grundsätzlich erst durch einen Psychologen begutachtet werden, da sie sich in psychologischen Stu­ dien nur selten als aussagetüchtig erwiesen haben.144 Immerhin macht aber ein Drittel aller Kleinkinder im Alter von vier Jahren schon brauchbare und zuver­ lässige Aussagen über Sexualdelikte.145 Entscheidend sind ferner weitere externe Faktoren wie die zeitliche Differenz zwischen dem Bericht über die Tat und dem Tatgeschehen an sich, die Art der Befragung und auch die Person des Befragen­ den bzw. Vernehmenden. Vor allem neuere empirische Erkenntnisse zeigen, dass durchaus auch schon Dreijährige in der Lage sind, in einer altersgerechten Vernehmungssituation, in der Suggestionen und Falschinformationen vermieden werden, brauchbare An­ gaben zu machen.146 Somit können auch drei- und vierjährige Kinder durchaus aussagefähig sein. Je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger wird es selbstverständlich für das Kind, sich an das Geschehene zu erinnern. Dies gilt jedenfalls bei einer freien Wiedergabe des Erlebten oder allgemeinen Fragen zur Tat. Gerade bei Kleinkin­ dern ist das Erinnerungsvermögen noch nicht entsprechend ausgeprägt. Während acht- bis zwölfjährige Kinder das Geschehen relativ gut erinnern und grundsätz­ lich genauso zuverlässig sind wie Erwachsene, wenn sie eine Woche nach der Tat befragt werden, nimmt das Erinnerungsvermögen bei Kleinkindern nach einer Zeit von zwei Wochen schon rapide ab.147 142 

Arntzen, DRiZ 1976, 20; Schlüchter, Rn. 476, insbesondere Fn. 218. Arntzen/Michaelis, Psychologie der Kindervernehmung, S. 39, 42. 144 BGH StV 1995, 293 zum vierjährigen Kind; OLG Zweibrücken StV 1995, 293, 293: Dringender Tatverdacht kann nicht allein auf die Angaben eines zwei Jahre und neun Monate alten Kindes gestützt werden; Arntzen, DRiZ 1976, 20; Niehaus/Volbert/Fegert, S. 28 f.; siehe auch Arntzen, Vernehmungspsychologie, S. 56 f. 145  Michaelis-Arntzen, Suggestibilität, S. 205, 206. 146  Christianson, Memory, 33, 40 f.; Gley, StV 1987, 403, 405; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1411; Rüping, Strafverfahren, Rn. 184. 147  Dent, S. 8 f. 143 

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers

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Es spielen weiterhin die Person, die die Fragen stellt, sowie insbesondere die Art und Weise der Befragung eine große Rolle. Entscheidend ist, ob das Kind aus eigenem Antrieb von sich aus relativ frei erzählt, ob das Kind auf allgemeine Fra­ gen, auf spezifische Fragen oder gar auf suggestive Fragen, durch die das Kind in eine bestimmte Richtung gelenkt wird, antwortet oder ob es sich vielleicht aufgrund der Autorität des Befragenden zu einer bestimmten Antwort genötigt sieht, weil es das Gefühl vermittelt bekommt, eine Antwort geben zu müssen148. Es überrascht nicht, dass suggestive Befragungen in der Regel – in noch stärke­ rem Ausmaß als bei Erwachsenen – die Aussage verfälschen.149 Vor allem Kinder im Vorschulalter sind besonders anfällig für solche suggestiven und in eine be­ stimmte Richtung führende Fragen.150 Grundsätzlich kann man wohl sagen, dass je jünger das Kind ist, desto anfälliger ist es für suggestive Fragen.151 Aus diesem Grund erscheint eine freie Wiedergabe durch das Kind oder eine allgemeine Befragung grundsätzlich vorzugswürdig, es handelt sich bei der Art und Weise der Befragung bzw. bei der Befragungstechnik aber um eine schmale Gratwanderung, weil auch bedacht werden muss, dass durch spezifische Fragen auch das Erinnerungsvermögen des Kindes angeregt werden kann und es sich durch spezifische Fragen auch an Details erinnert, die das Kind im Rahmen einer allgemeinen Befragung oder freien Wiedergabe nicht erinnern würde.152 In der psychologischen Literatur gibt es Studien, die belegen, dass sogar Kinder im Alter von sechs Jahren sowohl objektive als auch suggestive Fragen genauso zuverlässig wie Erwachsene beantworten können.153 Im Ergebnis ist die Differenz des Beweiswertes zwischen Sechsjährigen und Erwachsenen recht gering, weil Erwachsene zwar insgesamt mehr Informationen wiedergeben, dieses Mehr an Informationen aber sowohl mehr korrekte als auch mehr inkorrekte Informatio­ nen als bei sechsjährigen Kindern enthält.154 Es überrascht, dass sogar Dreijährige Informationen liefern, die in einem Gerichtsverfahren von Nutzen sein können.155 148 

Vgl. dazu Yuille/Hunter/Joffe/Zaparniuk, S. 95, 103. Vgl. dazu grundlegend Scholz, NStZ 2001, 572, 576; siehe auch Eisenberg, Beweis­ recht, Rn. 1416. 150  Ceci/Bruck, S. 233 ff.; Ceci/Ross/Toglia, S. 89; Yuille/Hunter/Joffe/Zaparniuk, S. 95, 98 und 103. 151  Goodman/Aman/Hirschman, S. 1, 12: „(…) the children [3 and 6 years of age], espe­ cially the 3-year-olds, were more suggestible than adults“. 152  Saywitz, S. 39: „It is well documented that children recall less information than adults in free recall“. 153  Dent, S. 3; siehe zum sechsjährigen Zeugen im US-amerikanischen Recht beispiels­ weise State of Minnesota v. Posten, 302 N.W.2d 638 (Minn. 1981). 154  Goodman/Aman/Hirschman, S. 1, 11. 155  Goodman/Aman/Hirschman, S. 1, 12; vgl. auch Saywitz, S. 37: „Children from 3 to 8 years of age showed the same basic structure of scripts as adults. Although the descriptions of 3- to 4-year-olds were shorter and skeletal, the basics of the script were evident“. 149 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Bei älteren Kindern ist zwar die Fähigkeit ausgeprägter, ein Geschehen detailliert und frei zu erzählen, doch muss auch bedacht werden, dass sie aufgrund emotio­ naler oder sozialer Einflüsse Schamgefühle haben oder Schutzreflexe für beschul­ digte, nahestehende Personen entwickeln, aufgrund derer sie Informationen sogar zurückhalten.156 Besonders problematisch sind kindliche Zeugen, die Opfer eines Sexualde­ likts geworden sind. In einem Fall des sexuellen Missbrauchs war die Hauptbe­ lastungszeugin zur Tatzeit nur zwei Jahre und vier Monate und machte über ein Jahr nach der Tat vor Gericht sehr detaillierte Angaben.157 Gerade Kinder sind durch Suggestionen und Falschinformationen äußerst beeinflussbar, was sogar zu Aussagen über nie stattgefundene Ereignisse führen kann.158 Besonders bei Aus­ einandersetzungen der Eltern über das Sorgerecht,159 bei belastenden Aussagen nach vielen Jahren sowie bei verhaltensauffälligen Kindern und Kindern, die sich vor oder in der Pubertät befinden, oder bei Kindern, die geschlossen als Gruppe auftreten,160 ist die Entstehungsgeschichte stets kritisch zu hinterfragen, um die Glaubwürdigkeit der Zeugen und die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben beurteilen zu können, was vor allem bei sehr jungen Kindern nur sachgerecht von einem Psychologen durchgeführt werden kann.161 b)  Die Auswirkungen von Traumatisierungen auf die Aussagefähigkeit Eine Vernehmung stellt für den Befragten in der Regel eine besondere Situa­ tion dar. Dass dies vor allem für Kinder aufgrund der ungewohnten Umgebung eine aufreibende Situation ist, liegt auf der Hand. Dies gilt erst recht bei einer Vernehmung vor Gericht mit der einschüchternden Atmosphäre eines Gerichts­ 156  Vgl. dazu Goodman/Schwartz-Kenney, S. 15, 31 und insbesondere S. 28: „Although older children may at times be more capable than younger children of reporting an event, social influences can eliminate and sometimes even reverse the typical age advantage“. 157  BGH NJW 1993, 2451, 2451. 158  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1375; siehe auch zu den Anforderungen an Glaubhaf­ tigkeitsgutachten BGH NStZ 2000, 100, 101: „Speziell bei kindlichen Zeugen besteht die Gefahr, dass diese ihre Angaben unbewusst ihrer eigenen Erinnerung zuwider verändern, um den von ihnen angenommenen Erwartungen eines Erwachsenen, der sie befragt, zu entsprechen oder um sich an dessen vermuteter größerer Kompetenz auszurichten“. 159  BGHSt 1996, 366, 367; siehe aber auch Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1417, der zeigt, dass Kinder sich nicht immer durch enge Bezugspersonen beeinflussen lassen. 160 KMR-Paulus, § 244 Rn. 259 f.; Schlothauer, Glaubwürdigkeitsbegutachtung, S. 143, 143 f. 161  Grundsätzlich kann das Gericht die Aussage eines kindlichen oder jugendlichen Zeugen, der Opfer eines an ihm begangenen Sexualdelikts geworden ist, aber selbst wür­ digen; vgl. dazu BGH NStZ-RR 2005, 146, 146 und BGHR StPO 244 Abs. 4 S. 2 Glaub­ würdigkeitsgutachten 2.

II.  Allgemeine Probleme des Zeugenbeweises und hearsay dangers

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saals und den damit verbundenen Rahmenbedingungen – die Befragung durch mehrere „Autoritätspersonen“162, die Anordnung der Tische und der damit ver­ bundenen frontalen Befragung, das Tragen der Roben, die Anwesenheit zahlrei­ cher Zuschauer – sowie der insgesamt sehr formalen Vorgehensweise.163 Es ist auch naheliegend, dass insbesondere bei Sexualdelikten das Opfer pein­ lich berührt ist, wenn es vor Fremden über sexuelle Handlungen berichten soll, und gerade die Anwesenheit des Peinigers ist für das Opfer in der Regel beson­ ders beklemmend.164 Hier muss aber zwischen einer beklemmenden Situation und einer abermaligen Traumatisierung differenziert werden, weil Letztere oft klischeehaft unterstellt wird. So weisen Brockmann/Chedor zwar auf eine „aku­ te oder posttraumatische Belastungsstörung“, „Selbstvorwürfe/Schuldgefühle“, „Selbstverschuldungsvorwurf durch Dritte“ sowie „Angst vor Glaubwürdigkeits­ entzug“ als psychologisch relevante Aspekte einer „Opfervernehmung“ hin.165 Eine abermalige Traumatisierung bei einer Befragung durch den Richter ist aber, wie Scholz ausführt, „wenig wahrscheinlich, denn bei der Psychotherapie einer posttraumatischen Belastungsreaktion arbeitet man insbesondere dann erfolg­ reich, wenn man Konfrontationsstrategien benutzt, d. h. wenn die Patientin dazu ermutigt wird, sich bewusst wieder und wieder an das traumatische Geschehen zu erinnern.“166 In der psychologischen Fachliteratur werden in der Beteiligung im Strafver­ fahren sogar „positive Effekte im Sinne einer Entlastungs- und Erledigungsfunk­ tion“ gesehen, da eine „offene Thematisierung und Aufklärung des Ereignisses für den Verarbeitungsprozess auch förderlich sein“ könne.167 Im Übrigen ist zu bedenken, dass der Schutz von „Opferzeugen“ wie „verge­ waltigten Frauen und missbrauchten Kindern“ in der Vernehmungssituation in den letzten Jahren gestärkt worden ist.168

162  Vgl. dazu Scholz, NStZ 2001, 572, 572: „Die Anwesenheit mehrerer Fragesteller be­ wirkt eine unsymmetrische Gesprächssituation und hat insbesondere dann negative Aus­ wirkungen auf das Gesprächsergebnis, wenn die aussagende Person selbstwertgestört oder ein Kind ist, bzw. als geschädigte Person über das fragliche Geschehen aussagen soll“. 163  Köhnken, StV 1995, 376, 376. 164  Yuille/Hunter/Joffe/Zaparniuk, S. 95, 100: „Because the child must talk with stran­ gers and must describe intimate details during the interview, each interview is potentially upsetting for the child.“; sie weisen in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass Kin­ der bei Sexualdelikten durchschnittlich siebenmal von der Polizei befragt wurden und ein Kind sogar 24 Mal vernommen worden ist. 165  Brockmann/Chedor, S. 39 ff. 166  Scholz, NStZ 2001, 572, 575; vgl. auch Jansen, S. 74. 167  Buse/Volbert, S. 224. 168  Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 361.1.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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III.  Der Beweiswert des Zeugen vom Hörensagen im Vergleich zu Protokollen Von den Kritikern des Hörensagenbeweises wird häufig vorgebracht, dass die Vernehmung einer Verhörsperson im Vergleich zu einer Beweisführung durch Protokolle einen verminderten Beweiswert habe. Beispielsweise Heissler betont, dem Zeugen vom Hörensagen würden „zusätzliche Mängel anhaften“169 und durch ihn würde die Gefahr der „Beweistrübung“170 bestehen. Dieses un­ mittelbare persönliche Beweismittel müsse gegenüber den sachlichen sogar „als am wenigsten zuverlässig und damit für die Wahrheitsfindung am schädlichs­ ten angesehen werden“. Allerdings können nach dem von Heissler befürworteten absoluten Verbot des Hörensagenbeweises gravierende Beweislücken entstehen, wenn beispielsweise in bestimmten Fällen weder der unmittelbare Zeuge noch ein Protokoll in der Hauptverhandlung vorhanden ist.171 Der Zeuge vom Hörensa­ gen kann also (in Einzelfällen) sehr wohl zur Aufklärung beitragen. Dennoch wird sich eine Verhörsperson aufgrund der Vielzahl der Vernehmun­ gen, die ein Polizeibeamter, Staatsanwalt oder Richter durchführt, wohl nicht an die Details der Vernehmung des unmittelbaren Zeugen erinnern können, wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt als Zeuge vom Hörensagen über die frühere Verneh­ mung berichten soll, so dass die Verlesung des Protokolls – da die Aussage sofort protokolliert wird – sachgerecht erscheint, wenn der unmittelbare Zeuge nicht mehr verfügbar ist.172 Wollte man die Verhörsperson, die sich an die Vernehmung nicht erinnern kann, vernehmen, so würde diese ihr Gedächtnis ohnehin durch einen Blick ins Protokoll auffrischen, so dass das Protokoll in dieser Konstella­ tion einen höheren Beweiswert hat.173 Heissler verkennt aber, dass dem Protokoll nicht per se ein höherer Beweiswert als dem Zeugen vom Hörensagen zukommt, weil auch Fälle denkbar sind, in denen der mittelbare Zeuge einen höheren Be­ weiswert als der unmittelbare Zeuge haben kann, was sich auch auf die Quali­ tät des Vernehmungsprotokolls auswirken kann. Schon Geppert hat ausgeführt, dass zunächst die individuell unterschiedlichen „Beweisfähigkeiten“ der Zeugen berücksichtigt werden müssten, wobei das Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Artikulationsvermögen eine wesentliche Rolle spielten.174 Dazu soll noch einmal das Mutter-Kind-Beispiel aufgegriffen werden: Wenn das Kind der Mutter un­ mittelbar nach der Tat, immer noch unter dem Eindruck des Geschehens stehend in seiner gewohnten Umgebung von der Tat berichtet, so wird die Mutter, obwohl 169 

Heissler, S. 81. Heissler, S. 86 und S. 95. 171  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 235 f. 172  Vgl. dazu auch Grünwald, S. 120; so auch Mehle, in: FS Grünwald, S. 351, 359. 173  Vgl. dazu auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 276 ff. m. w. N. 174  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 235. 170 

III.  Der Beweiswert des Zeugen vom Hörensagen im Vergleich zu Protokollen

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sie nur mittelbare Zeugin ist, das Geschehen zuverlässiger im Gedächtnis behal­ ten und genauer wiedergeben können und somit in der Regel als Zeugin vom Hörensagen in der Hauptverhandlung die bessere Auskunftsperson sein als ein dreijähriges Kind, das seine Aussage bei der Polizei zu Protokoll gibt und – trotz des geschulten Personals – von der Situation, den Förmlichkeiten und der fremden Umgebung des Verhörs überfordert ist oder sich in Anbetracht der verstrichenen Zeit möglicherweise nicht mehr erinnern kann. Etwaige „Beweisdefizite“ des Kindes wirken sich hier möglicherweise auch auf das Protokoll aus. Die Mutter wird zwar in der Hauptverhandlung als Zeugin vom Hörensagen inhaltlich nicht mehr wiedergeben können als ihr ursprünglich vom Kind mitgeteilt wurde, aber sie wird das ihr Mitgeteilte im Augenblick der Vernehmung möglicherweise bes­ ser erinnern sowie exakter wiedergeben und somit insgesamt zuverlässiger be­ richten können als das Kind im Zeitpunkt der protokollarischen Vernehmung.175 Bei der Protokollierung der Aussage des Kindes – wie aber auch bei der Proto­ kollierung der Aussage von Erwachsenen – muss weiterhin immer bedacht wer­ den, dass das Protokoll möglicherweise auch durch den Vernehmungsbeamten, der das Protokoll anfertigt, die Aussage zwar selten bewusst, aber oft unbewusst verfälscht, jedenfalls zumindest verzerrt wird und damit häufig nicht mit der Wirklichkeit bzw. dem Gesagten übereinstimmt, wenngleich es am Ende vom Zeugen genehmigt wird.176 Barton bezeichnet die Protokollierung von Zeugen­ aussagen als ein „ganz besonders dunkles Kapitel“ im Ermittlungsverfahren.177 Protokollierungsfehler seien „alles andere als selten“178. Den Vernehmungsbe­ amten unterlaufen Auslassungen und die Vernehmungsprotokolle enthalten, da die Beamten den größten Teil der Protokollaussage selbst formulieren, Modifi­ kationen des Gesagten oder (falsche) Paraphrasierungen oder sogar das genaue Gegenteil des vom Zeugen Bekundeten.179 Auch Kühne weist auf das starke „Verzerrungspotential“ bei der Protokollierung hin und kritisiert, dass Proto­ kolle häufig Zeugnisse der „Versuchung des Protokollierenden, die Aussage in seiner Sprache aufzunehmen und damit (unbewußt) Inhalte zu ändern“ sind.180 175 

Geppert, Unmittelbarkeit, S. 235. die Hälfte der Beschuldigten liest das Protokoll nicht durch, Bender/Nack/ Treuer, Rn. 1548. 177  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 18. 178  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 18; im Übrigen weist er daraufhin, dass von der Tonbandprotokollierung nur selten Gebrauch gemacht wird; vgl. auch Bender/Nack/ Treuer, Rn. 1548. 179  Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 18; siehe auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 189 ff. 180  Kühne, NStZ 1985, 252, 255, der für das starke Verzerrungspotential von Verneh­ mungsprotokollen folgende Beispiele nennt: Kinder hätten von „beischlafähnlichen“ Be­ wegungen berichtet oder eine „junge Schweinehirtin“ soll gesagt haben: „Ich gebe zu, die der Bäuerin gehörigen bei mir gefundenen Kleidungsstücke genommen und getragen zu 176  Sogar

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Die Aussagen von Zeugen und Beschuldigten werden also häufig durch die Ver­ hörsperson transformiert,181 um das „Ermittlungsergebnis stimmig zu machen“ und die Aussage „den Tatbestandsmerkmalen des in Betracht gezogenen Delikts anzupassen“182. Dadurch wird die Wahrheit erst „geschaffen“183. Zwar könnten solche Protokoll- und Protokollierungsfehler durch eine vollständige Ton- oder Videoaufzeichnung der Vernehmung einschließlich der Vor- und Nebengesprä­ che – und nicht nur die Nutzung des Tonbands als Diktiergerät – verhindert werden,184 aber hierbei könnte die Aussageperson in ihrem Aussageverhalten ge­ hemmt werden185 und sich vor allem bei einer Videoaufzeichnung wie ein Schau­ spieler auf der Bühne fühlen186. Der in § 136 StPO neu eingefügte Absatz 4, der zum 01. 01. 2020 in Kraft treten wird, ermöglicht – wie bisher fakultativ – die audiovisuelle Aufzeichnung aller Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungs­ verfahren und schreibt darüber hinaus eine Aufzeichnungspflicht für bestimmte Fälle grundsätzlich vor, beispielsweise sobald Anhaltspunkte für eine vorsätzli­ che Tötung gegeben sind.187 Der Beweiswert derartiger Vernehmungsprotokolle kann also durchaus gering sein,188 er muss auf jeden Fall kritisch betrachtet und darf nicht – wie von Heissler – überbewertet werden: Zwar mag auch der zuverlässigste Zeuge die Aussage der Originalbeweisperson nicht ganz genau wiedergeben, aber wer annimmt, durch ein sächliches Medium wie das Protokoll sei die „Originalaussage in objektiver Weise ‚konserviert‘“189, überschätzt das Protokoll und unterschätzt die diesem Beweismittel anhaftenden Schwächen. Ferner weist Geppert auf den nicht nur theoretischen Fall hin, dass die un­ mittelbare Wahrnehmungsperson – zum Beispiel der Angeklagte selbst – einer haben; ich habe nur einen furtum usus begangen.“; siehe auch ders., Strafprozessrecht, Rn. 363 ff. 181  Näher dazu Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1334. 182  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 598 und 611 f. 183  Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeivernehmung, S. 94. 184  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 616 ff., der insbesondere in Rn. 622 die Vorteile einer Tonbandaufnahme aufzeigt. 185  Vgl. dazu Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 618 m. w. N. 186  Ransiek, StV 1994, 343, 347. 187  Gesetz zur effektiven und praxistauglichen Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.08. 2017, BGBl. I, S. 3202 ff., 3208, 3213; siehe dazu auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 136 Rn. 19a ff. 188 So Barton, Strafverteidigung, § 14 Rn. 18, der zu Recht ein Wortprotokoll, das auf Tonträger aufgezeichnet und anschließend übertragen wird, als vorzugswürdig betrachtet, wovon aber in der Praxis viel zu selten Gebrauch gemacht werde. Natürlich stellen sich auch bei einem Wortprotokoll die grundsätzlichen Probleme des Zeugenbeweises, insbe­ sondere durch die Art und Weise der Befragung. 189  Heissler, S. 83; siehe dort auch S. 82: „‚objektivierte‘ Berichtsurkunden“.

III.  Der Beweiswert des Zeugen vom Hörensagen im Vergleich zu Protokollen

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Privatperson mündlich etwas anvertraut hat, was sie in einem offiziellen Verneh­ mungsprotokoll überhaupt nicht oder zumindest nicht in der ursprünglich-spon­ tanen Form mitgeteilt hätte.190 Während das Gericht bei der Verlesung eines Protokolls keinen persönlichen Eindruck von dem Zeugen, der die Aussage gemacht hat, und in der Regel auch nicht von dem Beamten, der das Protokoll angefertigt hat, bekommt, kann sich der Richter bei einem Zeugen vom Hörensagen zwar kein persönliches Bild von der Originalbeweisperson, aber immerhin von diesem mittelbaren, vor ihm sit­ zenden Beweismittel machen.191 Denn hier kann ebenfalls – in Anlehnung an den allgemeinen Unmittelbarkeitsgrundsatz, der eigentlich für die Vernehmung des unmittelbaren Zeugen streitet – angeführt werden, dass das Gericht auch durch die Wahrnehmung des Zeugen vom Hörensagen ein „viel klareres und sichereres Bild gewinnen“ kann „als aus dem Studium der Akten“192, beispielsweise der pro­ tokollierten Aussage eines nicht mehr verfügbaren unmittelbaren Zeugen. Auch der Zeuge vom Hörensagen steht unter dem Eindruck der formalen Atmosphäre des Gerichtsverfahrens und er wird sich der Bedeutung seiner Aussage, insbeson­ dere durch die Ermahnung des Vorsitzenden zur Wahrheit und den Hinweis auf die Strafbarkeit von Aussagedelikten, bewusst sein bzw. werden und aufgrund der an ihn gestellten Fragen seine Aussage ergänzen, korrigieren oder gar zu­ rücknehmen. In dieser Situation ist er nicht nur den Fragen des Gerichts, sondern den Fragen aller Verfahrensbeteiligten ausgesetzt, die somit die Möglichkeit ha­ ben, klärende Fragen zu stellen oder Vorhalte zu machen, um Missverständnisse oder Erinnerungslücken des mittelbaren Zeugen aufzudecken und dadurch un­ ter Umständen dessen Glaubwürdigkeit oder die Glaubhaftigkeit seiner Aussage zu erschüttern. Diese Befragung hat gegenüber dem „stummen“ Protokoll den Vorteil, dass sie aufgrund der „‚Feinheiten‘ eines mündlichen Vernehmungsge­ sprächs – Ausdrucksweise, Reihenfolge der Äußerungen, Widersprüchlichkei­ ten –“193 durchaus zur Klärung beitragen kann, wenngleich zuzugeben ist, dass der Zeuge vom Hörensagen logischerweise nicht mehr wiedergeben kann, als ihm selbst mitgeteilt worden ist. Neben den häufig verkannten Vorteilen des Hörensagenbeweises können ins­ besondere die wesentlichen Unterschiede zwischen diesem und dem Protokoll angeführt werden, um eine Andersbehandlung dieser beiden Beweismittel zu rechtfertigen, die somit nicht wertungswidersprüchlich ist.194 190 

Geppert, Unmittelbarkeit, S. 235. Geppert, Unmittelbarkeit, S. 235. 192  Zum Unmittelbarkeitsgrundsatz in Bezug auf den unmittelbaren Zeugen von Lilien­ thal, S. 29. 193  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 236. 194  So auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 234; a. A. Heissler, S. 173. 191 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Beweisrecht der Strafprozessordnung Zunächst ist zu klären, ob der Zeuge vom Hörensagen nach dem geltenden Beweisrecht der Strafprozessordnung überhaupt ein zulässiges Beweismittel ist und welche Bedeutung die Grundsätze der richterlichen Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO und der freien Beweiswürdigung nach § 261 StPO sowie der Unmittelbarkeitsgrundsatz nach § 250 StPO für die Zulässigkeit dieses Beweis­ mittels haben. In diesem Zusammenhang sind zwar grundsätzlich auch Art. 103 Abs. 1 GG sowie das Recht auf ein faires Verfahren, Art. 6 Abs. 1 EMRK, und Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK relevant, diese Normen sollen zunächst ausgeklammert werden. Es stellt sich die Frage, ob das Gericht, sofern mehrere Beweismittel zur Ver­ fügung stehen – beispielsweise ein unmittelbarer Tatzeuge, der gesehen hat, wie der Täter auf das Opfer einschlug, und ein Zeuge vom Hörensagen, dem das Op­ fer erzählt hat, dass es vom Täter geschlagen worden sei –, zwingend den unmit­ telbaren Zeugen vernehmen muss oder ob sich das Gericht an dessen Stelle auf die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen beschränken darf. Ferner ist zu fragen, wie es sich auswirkt, wenn der unmittelbare Tatzeuge nicht mehr vernom­ men werden kann oder wenn er aus sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht: Darf das Gericht dann auf den Zeugen vom Hörensagen zurückgreifen? Kann das Gericht den unmittelbaren Zeugen neben, also ergänzend zu dem unmittelbaren Zeugen vernehmen? Welche Antworten die Literatur und die Rechtsprechung auf diese Fragen geben, soll im Folgenden dargestellt werden. 1.  Der Unmittelbarkeitsgrundsatz, § 250 StPO Ein häufig von den Gegnern des Hörensagenbeweises vorgebrachter Einwand ist der Unmittelbarkeitsgrundsatz. Doch was besagt der Unmittelbarkeitsgrund­ satz, woraus ergibt er sich und warum soll dieser gerade gegen die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen sprechen? Diese Fragen sollen in diesem Kapitel genauer untersucht und eingehend beantwortet werden. Die geschichtliche Entwicklung zeigt eine Abkehr vom „gemeinen Recht“ des geheimen Inquisitionsprozesses hin zum rechtsstaatlichen Verfahren mit den Prinzipien der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Hauptver­ handlung.195 Vor allem der Unmittelbarkeitsgrundsatz war 1877 bei der Einführung der Reichsstrafprozessordnung (RStPO)196, die auch Grundlage der heutigen Straf­ 195  Siehe zum Strafprozess der Constitutio Criminals Carolina sowie zum Inquisitions­ prozess, Maas, S. 17 ff. 196  RGBl. Nr. 8, S. 253 ff., 298.

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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prozessordnung ist, eine der zentralen Reformforderungen,197 um die Ermittlung der materiellen Wahrheit zu gewährleisten. So verlangte schon § 249 RStPO – der dem heutigen § 250 StPO entspricht –, dass eine Person persönlich zu vernehmen sei und ihre Vernehmung nicht durch die Verlesung der Niederschrift einer frü­ heren Vernehmung ersetzt werden dürfe. Obwohl der Unmittelbarkeitsgrundsatz in der Strafprozessordnung nicht explizit geregelt ist, kann § 250 StPO und vor allem dessen Satz 2 als Ausdruck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes bezeichnet werden. In den §§ 250 ff. StPO ist lediglich positiv geregelt, dass die Vernehmung einer Person nicht durch die Verlesung von Protokollen oder Urkunden ersetzt werden darf. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist auch eng mit § 226 Abs. 1 StPO sowie dem Amtsermittlungsgrundsatz in § 244 Abs. 2 StPO und dem Grund­ satz der richterlichen Beweiswürdigung in § 261 StPO verknüpft, weil in diesen Verfahrensmaximen wiederum die Ratio des Unmittelbarkeitsgrundsatzes zum Vorschein kommt.198 Während in der Vergangenheit vereinzelt die Ansicht vertreten wurde, der Un­ mittelbarkeitsgrundsatz enthalte nur eine materielle Komponente – so ursprüng­ lich insbesondere von Kries199 und zuletzt wohl Heissler200 – oder nur eine for­ melle Komponente201, dürften diese Ansichten inzwischen überholt sein. Nach heute wohl absolut herrschender Auffassung ist zwischen der formellen und der materiellen Unmittelbarkeit zu differenzieren.202

197  Kühne, in: Löwe-Rosenberg, Einl. Abschnitt I Rn. 63 ff.; vgl. auch Bennecke/Beling, S. 251. 198  Rolinski, in: FS Kühne, S. 297; siehe auch Krause, S. 141: „notwendiges Korrelat“. 199  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 98 f.: „Das Prinzip der Unmittelbarkeit kann (…) nicht in der Weise bestimmt werden, daß man das Verhältnis von erkennendem Gericht zu den Beweismitteln beschreibt, sondern nur dadurch, daß man angibt, was resp. was nicht zum Gegenstand des Beweises gemacht werden darf.“ Ihm folgend Kronecker, ZStW 7 (1887), 395, 400; Muskat, GA 36 (1888), 281 ff., insbesondere 285 und 286. 200  Heissler, S. 59, nach dem „allein eine materielle Betrachtungsweise des Unmit­ telbarkeitsproblems sachgerecht ist.“; siehe auch dessen Kritik am formell-unmittelbaren Unmittelbarkeitsbegriff S. 98 f. 201  Krause entnimmt dem Grundsatz der Unmittelbarkeit nur eine formelle Kompo­ nente, S. 132; so auch Redecker, S. 144. 202  Geppert, Jura 1991, 538, 541; Großkopf, S. 26 ff.; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosen­ berg, § 250 Rn. 1; Meurer, JuS 1999, 937, 939; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 2a; Roxin/Schünemann, § 46 Rn. 3; Schlüchter, Rn. 470; Stüber, S. 44 ff.; so wurde schon früher vom Grundsatz der Unmittelbarkeit in subjektiver und objektiver Hinsicht gesprochen, Bennecke/Beling, S. 249 f.; vgl. grundlegend zum Grundsatz der Unmittel­ barkeit, Geppert, Unmittelbarkeit, S. 121 ff.; kritisch zu diesen Termini, Löhr, S. 19 ff.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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a)  Die formelle Unmittelbarkeit Durch das formelle Unmittelbarkeitsprinzip203 wird das erkennende Gericht als Beweiserhebungssubjekt festgelegt: Das Gericht muss alle entscheidungser­ heblichen Faktoren in der Hauptverhandlung selbst aufnehmen204 und im Rahmen der Beweisaufnahme den Angeklagten und die einzelnen Beweismittel selbst sinnlich wahrnehmen205, also Urkunden verlesen und deren Inhalt wörtlich zur Kenntnis nehmen, Augenscheinsobjekte selbst besichtigen sowie Zeugen und Sachverständige sehen und hören.206 Diese formelle Unmittelbarkeit ist zwar im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt, sie wird aber in verschiedenen Vorschriften, beispielsweise §§ 226, 229, 244 Abs. 2, 261 StPO, deutlich.207 Vorbehalte gegen den Hörensagenbeweis werden aber nicht aufgrund des formellen Unmittelbar­ keitsprinzips, sondern vielmehr mit Blick auf das materielle Element208 geltend gemacht. b)  Die materielle Unmittelbarkeit Das materielle Element befasst sich mit der beweisrechtlichen Frage, welches Beweismittel oder welches Beweismittel gerade nicht zum Gegenstand des Be­ weises gemacht werden soll,209 und ist eng mit der aus dem Untersuchungsgrund­ satz folgenden und in § 244 Abs. 2 StPO normierten Amtsaufklärungspflicht verknüpft210, welche es gebietet, dass das Gericht sich – bei der Ermittlung der beweiserheblichen Tatsachen von Amts wegen – um den sachnächsten 211 und vor allem bestmöglichen212 Beweis bemüht.213 So verlangt auch der materielle 203 

Dazu grundlegend jüngst Stüber, S. 44 f. Schlüchter, Rn. 470. 205  Großkopf, S. 32; Rolinski, in: FS Kühne, S. 297; früher schon Bennecke/Beling, S. 249 f. 206  Siehe zur „formellen“ Unmittelbarkeit im Zusammenhang mit anderen Verfahrens­ grundsätzen Geppert, Unmittelbarkeit, S. 136. 207  Vgl. dazu Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, Vor § 226 Rn. 11, § 226 Rn. 1 und § 250 Rn. 1. 208 Der materielle Unmittelbarkeitsgrundsatz oder auch Unmittelbarkeitsgrundsatz im materiellen Sinn ist der heute wohl am häufigsten verwendete Ausdruck; so als erster Pollack, GA 33 (1885), 231, 253; vgl. Geppert, Unmittelbarkeit, S. 127; Großkopf, S. 32; Heissler, S. 59; teilweise wurde früher auch vom Grundsatz der Unmittelbarkeit in objektiver Hinsicht gesprochen, Bennecke/Beling, S. 250. 209  Verlangt wird eine direkte „Nähe des Gerichts zum Beweisthema“, vgl. Geppert, Unmittelbarkeit, S. 127 ff. sowie von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 98 ff. 210  Vgl. dazu auch Stüber, S. 48. 211  OLG Düsseldorf StraFo 2008, 120. 212  OLG Düsseldorf NStZ 2008, 358, 358. 213  Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 244 Rn. 12. 204 

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Unmittelbarkeitsgrundsatz eine möglichst zuverlässige Aufklärung durch den bestmöglichen Beweis: Das Gericht muss „aus der Quelle selbst schöpfen“214 und „unter mehreren Beweismitteln in Bezug auf ein und dasselbe Beweisthe­ ma dasjenige Beweismittel wählen, das dem zu erforschenden Sachverhalt am nächsten steht.“215 Bei der Feststellung des Sachverhalts muss sich das Gericht in die „denkbar innigste, unmittelbarste Beziehung“216 zu den zu erschließenden Tatsachen setzen und es sollten sich zwischen den Richter „und das Beweisthema keine Zwischenglieder einschieben“217. „Mittelbare“ Beweise bzw. Beweissurro­ gate sind aufgrund ihres geringeren Beweiswertes zurückzustellen.218 Unmittelbar-originäre Beweise gelten grundsätzlich als zuverlässiger und ha­ ben deshalb in der Regel eine höhere Qualität.219 Allerdings gibt es in der deut­ schen Strafprozessordnung, abgesehen von den Spezialregelungen der §§ 250 ff. StPO, in denen gewisse Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes gere­ gelt sind, keine Norm, die sich gezielt mit der Problematik mittelbarer Beweisfüh­ rung befasst. Während es im US-amerikanischen und englischen Recht für den Zeugen vom Hörensagen eine explizite Regelung gibt, geht das deutsche Recht auf dieses mittelbare Beweismittel nicht näher ein. c)  Regelungsweite des § 250 StPO und deren Auswirkungen auf den Zeugen vom Hörensagen Heutzutage ist nahezu unbestritten, dass die formelle Komponente des Un­ mittelbarkeitsgrundsatzes des deutschen Strafverfahrens in § 250 StPO normiert ist.220 Hingegen ist bis heute streitig, wie § 250 StPO zu verstehen ist, d. h. ob und in welchem Umfang die materielle Komponente des Unmittelbarkeitsgrundsatzes in § 250 StPO normiert ist und in welchem Verhältnis die beiden Sätze zueinan­ der stehen. Wenn § 250 StPO nämlich stets verlangen würde, dass das tatnächste bzw. bestmögliche Beweismittel zu erheben ist221, so würde dies dazu führen,

214 So ein häufig verwendeter Ausdruck: Bennecke/Beling, S. 250; ebenso Maas, S. 1 f.; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 128 ff.; ders., Jura 1991, 538, 541. 215  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 129; vgl. auch Bennecke/Beling, S. 315: „größtmögli­ che Lebensnähe“ und Maas, S. 1 f. 216  Bennecke/Beling, S. 249. 217  Bennecke/Beling, S. 251. 218  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 129 f., 162 ff. 219  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 185, 162 f.; eine Ausnahme bilden sog. „Blechzeugen“, da anstelle dieses vermeintlich unmittelbaren Personalbeweises der indizierende Sachbe­ weis zuverlässiger sein kann, S. 165. 220  Joachim, S. 76 Fn. 4 m. w. N. 221  Verlangt wird eine direkte „Nähe des Gerichts zum Beweisthema“, vgl. Geppert, Unmittelbarkeit, S. 127 sowie Eb. Schmidt, StPO I, Rn. 445.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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dass der Zeuge vom Hörensagen als ferneres Beweismittel entweder gar nicht oder zumindest nur eingeschränkt vernommen werden darf.222 aa)  „Absoluter Ausschluss“ der Reproduktion fremder Tatsachenwahrnehmungen Gegen die Reproduktion fremder Tatsachenwahrnehmungen wenden sich die Vertreter der absoluten Theorie, die damit zugleich für einen völligen Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen plädieren. Diese absolute Theorie ist insbesondere auf August von Kries zurückzuführen, der sich schon 1886 für einen völligen Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen aussprach und dessen Vernehmung für absolut unzulässig hielt.223 Diesen Ausschluss führt er auf den damaligen § 249 RStPO, den heutigen § 250 StPO, als die seiner Meinung nach zentrale Norm für den Zeugen vom Hörensagen zurück und folgert den Ausschluss aus dem Verhältnis der beiden Sätze der Norm zueinander. Während in Rechtsprechung und Literatur im Prinzip Einigkeit darüber be­ steht, dass § 250 StPO die Verlesung einer Urkunde anstelle eines persönlichen Beweismittels verbietet, ist umstritten, ob diese Norm über das Verlesungsverbot hinaus eine Verwendung anderer mittelbarer Beweismittel als Urkunden, vor al­ lem die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen, verbietet.224 Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, in welchem Verhältnis die beiden Sätze der Norm zueinander stehen und wie man den unklaren Wortlaut von Satz 1 auslegt. Sofern man der herrschenden Meinung folgend der Ansicht ist, Satz 1 werde durch Satz 2 lediglich eingeschränkt bzw. erläutert, so dass § 250 StPO weiter nichts als das Verbot der Verlesung von Protokollen oder schrift­ lichen Erklärungen anstelle der Vernehmung der betreffenden Person statuiert, dann dürfe nur die direkte Vernehmung nicht durch die Verlesung ersetzt werden, mit der Folge, dass nach dieser engen Interpretation der Zeuge vom Hörensagen ein zulässiges Beweismittel ist. Wenn man jedoch wie von Kries eine weite Interpretation des ersten Satzes zugrunde legt und somit „die ganze Tragweite der ersten Bestimmung bestehen“ bleiben soll,225 so dass stets auf den direkten Zeugen zurückzugreifen sei, dann wäre ein Beweis durch den Zeugen vom Hörensagen völlig ausgeschlossen. Mit dem zweiten Satz solle vielmehr „nur den Mißbräuchen einer früheren Praxis

222 

Vgl. auch Joachim, S. 77 ff. von Kries, ZStW 6 (1886), 88 ff. folgend lehnen auch Muskat, GA 36 (1888), 281, 281 ff., von Ullmann, S. 473 f. und von Scanzoni, JW 1925, 997, 997 den Zeugen vom Hö­ rensagen als Beweismittel ab. 224  Heissler, S. 122. 225  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 88. 223 

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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nochmals ausdrücklich entgegengetreten werden“226. Die §§ 250 ff. StPO enthiel­ ten lediglich die Ausnahme von der Regel und würden normieren, unter welchen Voraussetzungen und durch welches Beweismittel – nämlich nur durch die Verle­ sung bestimmter Protokolle – die Vernehmung des Augenzeugen ersetzt werden dürfe.227 Von Kries stellt ferner fest, dass die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen zu einer Schwächung und Trübung des Beweismittels führt und dass durch die Verwendung dieses mittelbaren Beweismittels ausgerechnet die Mängel auftre­ ten, die durch die Abkehr vom schriftlichen Verfahren und den darauf gründen­ den Unmittelbarkeitsgrundsatz beseitigt werden sollten.228 Er hält die Verneh­ mung des Zeugen vom Hörensagen für absolut unzulässig und begründet diese Ansicht mit einem Erst-Recht-Schluss, den er aus dem Vergleich zwischen Proto­ koll und Personalbeweis – nämlich dem Ermittlungsrichter, der in der Hauptver­ handlung als Zeuge über den Inhalt einer vor ihm gemachten Aussage berichtet – zieht: Wenn schon das Protokoll nicht verlesen werden dürfe – obwohl Richter in der Regel „pflichtgemäß alle Mühe und Sorgfalt“ darauf verwendeten, „die Aussage des Zeugen so getreu als möglich zu fixieren“229 –, dann dürfe erst recht nicht der Richter als Zeuge vom Hörensagen vernommen werden, weil die er­ heblich spätere Vernehmung gegenüber dem schriftlich fixierten Protokoll das schlechtere Beweismittel sei.230 Er übt allgemeine Kritik an dem Beweismittel des Zeugen vom Hörensagen231 und fordert, dass man auf „eine so außerordentlich unsichere Vermittlungsme­ thode gänzlich verzichtet“232, weil das Risiko, „vollständig irre geleitet zu wer­ den“, zu erheblich sei. Da es sich beim Zeugen vom Hörensagen um ein „höchst problematisches Mittel der Aufklärung“ handele, „bei welchem die Chance des Irrtums sehr groß“233 sei, will er auch keine Ausnahme für Entlastungsbeweise

226 

von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 93. von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 93. 228  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 92 f.; vgl. auch von Ullmann, S. 474. 229  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 93. 230  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 93: „Man käme also auf diese Weise zu dem merk­ würdigen Resultat, daß (…) für dieselbe nicht die bessere und sicherere, sondern die schlechtere Methode zur Anwendung gebracht würde.“; vgl. auch von Kries, Lehrbuch, S. 377; Muskat, GA 36 (1888), 281, 285: „Das (…) Protokoll bietet noch immer etwas mehr Sicherheit dafür, daß der Zeuge so und nicht anders ausgesagt hat“; vgl. auch von Schwarze, GS 33 (1881), 270, 284 f. sowie insbesondere auch von Ullmann, S. 473 f. 231  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 95: „Einmal die geringe Fähigkeit der Menschen überhaupt, die Äußerungen eines andern richtig aufzufassen und korrekt wiederzugeben“. 232  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 96. 233  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 96. 227 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

zulassen234. Man dürfe auf „die letzte Garantie, die Unmittelbarkeit, nicht (…) verzichten.“235 Zu beachten ist aber, dass er den Begriff des Zeugen vom Hörensagen eng aus­ legt und darüber hinaus für den Unmittelbarkeitsgrundsatz gewisse Einschrän­ kungen vornimmt, wodurch ein etwaiger Beweismittelverlust begrenzt wird.236 So soll die Mutter eines sexuell missbrauchten Kindes, die über Äußerungen be­ richten soll, die das Kind ihr gegenüber unmittelbar nach der Tat gemacht hat, keine Zeugin vom Hörensagen sein.237 An diesem bedenklich engen Begriff des Zeugen vom Hörensagen wird auch deutlich, dass von Kries die Vernehmung einer Verhörsperson als den typischen Fall eines Zeugen vom Hörensagen be­ trachtet238 und auch stets aus dieser Perspektive – nämlich von der Vernehmung einer Verhörperson her – argumentiert239, um den Zeugen vom Hörensagen als unzulässiges Beweismittel darzustellen, obwohl seine Ausführungen eigentlich für den Zeugen vom Hörensagen im Allgemeinen gelten sollen.240 Ferner soll der Unmittelbarkeitsgrundsatz erst ab Beginn des Verfahrens gel­ ten – was wiederum auf die eben genannte Sichtweise zurückzuführen sein mag. Um diese Einschränkung zu verdeutlichen, benutzt von Kries folgende Beispiele: Jemand wird überfallen und schwer verletzt, kann aber noch, bevor er stirbt, von 234 Nach von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 96 f. müsse man sich mit der „Mangelhaftigkeit menschlicher Erkenntnis überhaupt“ und damit, dass „insbesondere gegen den eintreten­ den Untergang von Beweismittel kein Kraut gewachsen ist“ abfinden. „Eine Unterschei­ dung zwischen Schuld- und Unschuldsbeweis ist undurchführbar.“ 235  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 96. 236  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 110: „Daß es den praktischen Bedürfnissen völlig zuwiderlaufen würden, auf diese eminent wichtigen Beweismittel zu verzichten, bedarf keiner Ausführung“. 237  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 105: „Die Vernehmung der Mutter enthält keinen Verstoß gegen das Prinzip der Unmittelbarkeit, wie die Mutter korrekt auch nicht als Zeu­ ge vom Hörensagen bezeichnet werden darf. Gegenstand des Beweises bei ihrer Verneh­ mung ist, was seinerzeit das Kind ihr für Mitteilungen gemacht hat. Hieraus werden nicht Schlüsse darauf gezogen, was bei Vernehmung des Kindes durch das Gericht der Haupt­ verhandlung resultieren würde, sondern Schlüsse auf die Richtigkeit der Aussage direkt.“; Kritik an dieser Sichtweise äußert auch Heissler, S. 58 f. 238  So ausdrücklich von Kries, Lehrbuch, S. 377: „Die Vernehmung der Gerichtsper­ sonen über eine früher vor ihnen gemachte Aussage ist der typische Fall eines Zeugnisses vom Hörensagen“. 239  von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 92: „der Untersuchungsrichter als Zeuge vernommen werden darf“; in diesem Zusammenhang werden auch die Vernehmungsprotokolle als das bessere Beweismittel bezeichnet; vgl. auch ebd., 95 „Vernehmung des beauftragten oder ersuchten Richters“; ähnlich argumentiert von Schwarze, GS 33 (1881), 270, 284 ff. 240  von Kries spricht auch ausdrücklich von dritten Personen, „die zufällig bei der Ver­ nehmung“ anwesend waren, so dass sie gerade keine Verhörpersonen sind, ZStW 6 (1886), 88, 94; vgl. auch die Darstellung von Geppert, Unmittelbarkeit, S. 133, dort insbesondere Fn. 70.

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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einem Amtsrichter vernommen werden. In einem anderen Fall hat eine Verneh­ mung des Verletzten nicht stattgefunden. Vor seinem Tod hat er aber einer Privat­ person, die ihm zur Hilfe kam, Einzelheiten des Überfalls berichtet. Die ausdifferenzierten Regeln der Strafprozessordnung sollten erst ab „dem Beginn eines Verfahrens“ greifen, weil erst dann die Möglichkeiten vorhanden seien, „diejenigen Formen zur Anwendung zu bringen, die das Gesetz angewen­ det wissen will, wenn der Verlust eines originären Objektmittels in Aussicht“ stehe. Die gesetzlichen Verpflichtungen und damit auch der Unmittelbarkeits­ grundsatz könnten sich daher nur auf das Beweismaterial beziehen, „welches am Anfang des Verfahrens überhaupt vorhanden“ gewesen sei. Diesen entscheiden­ den Zeitpunkt des Beginns eines Verfahrens sieht von Kries grundsätzlich „na­ türlich nicht“ erst in einem gerichtlichen Verfahren, sondern bereits im Tätigwer­ den des Staatsanwalts: Im ersten Beispiel beginnt das Verfahren mit dem Tätigwerden des Amts­ richters, was zur Konsequenz hat, dass, wenn der Amtsrichter ein formell feh­ lerhaftes Protokoll angefertigt hätte, weder er selbst als Zeuge verhört werden dürfte, noch die Vernehmung anderer Zeugen vom Hörensagen zulässig wäre. Im zweiten Beispiel könnten die Zeugen vernommen werden, weil sie von dem Prinzip der Unmittelbarkeit gar nicht betroffen wären, da das Verfahren noch nicht begonnen hätte und somit auch die gesetzlichen Formen noch nicht zur Anwendung kämen. Durch dieses Verständnis vom Beginn des Verfahrens als entscheidender Zeitpunkt wird deutlich, dass es auch hier in erster Linie wie­ der um die Verhörperson als Zeugen vom Hörensagen gehen dürfte, obwohl er zugleich auch explizit die Vernehmung anderer Zeugen vom Hörensagen – ins­ besondere auch dritter Personen, „die zufällig bei der Vernehmung“ anwesend waren 241 – ausschließt. Auch Muskat hat sich von Kries folgend für einen völligen Ausschluss des Zeu­ gen vom Hörensagen ausgesprochen, wofür er ähnliche Argumente anführt, wo­ bei er jedoch keine Einschränkung „ab Beginn des Verfahrens“ vornimmt. Auch er begründet seine Ansicht mit dem Verhältnis der beiden Sätze des § 249 RStPO zueinander, so führte er aus, dass, wenn eine Tatsache aufgrund der Wahrneh­ mung einer Person als erwiesen angenommen werden soll, „diese Person selbst in der Hauptverhandlung gehört werden muß“242. Neben dem Wortlaut, der gegen die Ansicht der herrschenden Meinung spreche,243 führt Muskat insbesondere den Sinn und Zweck der Norm an: Zeugen vom Hörensagen seien unzulässig, weil sie

241 

Vgl. dazu schon oben sowie von Kries, ZStW 6 (1886), 88, 94. Muskat, GA 36 (1888), 281, 283. 243  Muskat, GA 36 (1888), 281, 282: „Diese Auslegung thut jedoch zunächst entschie­ den dem Wortlaut des Gesetzes Zwang an“. 242 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

gerade „keine lebendigen Erkenntnisquellen“244 und daher mit dem Prinzip der Unmittelbarkeit nicht vereinbar seien und somit „dem Geiste des“ § 249 StPO widersprechen würden 245. Neben der allgemeinen Kritik – „die große Gefahr einer möglicherweise miß­ verständlichen Auffassung des Gehörten von Seiten des mittelbaren Zeugen“246 – führt auch Muskat insbesondere den Vergleich mit dem Verlesungsverbot für Protokolle als Argument gegen den Zeugen vom Hörensagen an247 und weist da­ bei gerade auf dessen geringeren Beweiswert im Vergleich zum Protokoll hin248. Problematisch sei insbesondere, wenn ein Untersuchungsrichter anstelle des von ihm vernommenen Zeugen gehört werde, zumal dieser in der Regel zur Auffri­ schung seines Gedächtnisses auf das Protokoll zurückgreife, was zu einer unzu­ lässigen Umgehung des Verlesungsverbots führen würde. Es sei „unverständlich, warum die Beweisaufnahme durch Zeugnis des Untersuchungsrichters gestattet, die Erhebung des viel zuverlässigeren Urkundenbeweises durch Verlesung des Protokolls dagegen ausgeschlossen sein sollte.“249 In diesem Zusammenhang fällt – wie bei von Kries – auf, dass die Argumentation von der besonderen Konstel­ lation des Untersuchungsrichters als Zeugen vom Hörensagen geprägt ist.250 Im Gegensatz zu von Kries, der versucht, einen etwaigen Beweismittelverlust durch diverse – teilweise inkonsequent erscheinende – Einschränkungen zu begrenzen, 244  Muskat, GA 36 (1888), 281, 284. Ähnlich argumentiert wohl auch Brauer, der meint, dass ein Zeuge stets über eigene Sinneswahrnehmungen zu berichten habe –„nur solche Zeugen (…), welche geeignet sind, durch sich selbst allein (…) irgend einen erheblichen Beweis zu liefern“ – und der Zeuge vom Hörensagen diesen Anforderungen nicht gerecht werde, GS 9 (1857), 48, 52; dennoch lässt Brauer dieses Beweismittel in bestimmten Kon­ stellationen zu, vgl. dazu ebd., S. 52 ff. 245  Muskat, GA 36 (1888), 281, 283; vgl. auch S. 286: Dem Zeugen vom Hörensagen ist „(…) durch § 249 eine unübersteigliche Schranke gezogen“. 246  Muskat, GA 36 (1888), 281, 284. 247  Muskat, GA 36 (1888), 281, 284 f. 248  Muskat, GA 36 (1888), 281, 284: „Was aber das Zeugnis vom Hörensagen noch ge­ fährlicher und für die Wahrheitsermittlung ungeeignet erscheinen läßt, als die Verlesung der Protokolle, das ist seine geringere Beweiskraft bezüglich des Hörensagens selbst. Das von einer Behörde aufgenommene, von dem Zeugen genehmigte und unterzeichnete Pro­ tokoll bietet noch immer etwas mehr Sicherheit dafür, daß der Zeuge so und nicht anders ausgesagt hat (…)“. 249  Muskat, GA 36 (1888), 281, 291; er stellt an dieser Stelle noch einmal klar, dass es aber durchaus zulässig ist, den Untersuchungsrichter als Zeugen zu vernehmen, wenn sich seine Aussage mit dem Inhalt des Protokolls nicht notwendig zu decken braucht, wenn er also eigene Wahrnehmungen – zum Beispiel seinen persönlichen Eindruck vom Ange­ klagten oder von einem Zeugen – bekunden soll, weil er dann ja gerade nicht Zeuge vom Hörensagen sondern vielmehr direkter Zeuge ist. 250  Seine Ausführungen für Zeugen vom Hörensagen sollen im Allgemeinen gelten, was auch durch die Formulierungen auf S. 285 „einer dritten Privatperson“ und S. 293 „sowohl des Richters als auch jeder dritten Privatperson“ deutlich wird.

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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ist Muskat aber – zumal er die Gefahren, die von dem Zeugen vom Hörensagen ausgehen, höher bewertet als einen kompletten Verzicht auf dieses Beweismittel – konsequent und will die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen auch dann nicht zulassen, wenn der Originalzeuge verstorben oder aus sonstigen Gründen unerreichbar ist. Denn den Zeugen vom Hörensagen unberücksichtigt zu lassen, sei „nicht so bedauerlich, als wenn infolge der Mangelhaftigkeit des Beweismit­ tels eine unrichtige Thatsache als erwiesen angenommen würde.“251 In neuerer Zeit hat sich Heissler, der einen rein materiellen Unmittelbarkeits­ begriff 252 vertritt, für einen völligen Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen aus­ gesprochen.253 Heissler räumt zwar ein, dass aus dem bloßen Wortlaut des § 250 S. 1 StPO keine zwingenden Schlüsse gezogen werden könnten, weil der Wort­ laut weder für einen völligen Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen noch für dessen Zulässigkeit spreche,254 die systematische Stellung des § 250 StPO hinter § 249 StPO als der Norm, die die Form der Urkundenverwertung zum Inhalt habe, scheine aber „eher dafür zu sprechen“, nur den Ausschluss von Urkunden zu bezwecken255, so dass die Möglichkeit der Vernehmung des Zeugen vom Hö­ rensagen naheliege. Die systematische Stellung sei aber „allein nicht geeignet“, den unklaren Wortlaut des § 250 StPO zu beeinflussen,256 sondern er betont, dass der Wille des Gesetzgebers für die Auslegung einer Norm entscheidend sei. Je­ doch muss er bei der Analyse der Gesetzgebungsmaterialien feststellen, dass sich aus der Entstehungsgeschichte keine Anhaltspunkte für die Zu- oder Unzulässig­ keit des Zeugen vom Hörensagen ergäben, da der Gesetzgeber dieses Beweismit­ tel nicht dem Problemkreis des § 250 StPO zugeordnet habe.257 Sodann nimmt er eine Auslegung der Norm unter Berufung auf Larenz nach „objektiv-teleologischen Kriterien“ entsprechend dem Grundsatz „Gleichbewer­ tung des Gleichsinnigen“ vor und betont, dass „alle Rechtssätze (…) so auszule­ gen sind, daß Wertungswidersprüche innerhalb der Rechtsordnung tunlichst ver­ mieden werden“.258 § 250 S. 1 StPO sei daher gerade nach dem Sinn und Zweck der Norm zu interpretieren, wobei die optimale Wahrheitsfindung im Vorder­ grund stehe, weshalb der Gesetzgeber in Satz 2 die mittelbare Beweisführung durch Verlesung von Protokollen grundsätzlich verboten habe.259 Mit dem Zeugen 251 

Muskat, GA 36 (1888), 281, 287. Heissler, S. 59 f.: „originäre Tatsachen“. 253  Heissler, S. 96, 165 ff., 182. 254  Heissler, S. 166 f. 255  Heissler, S. 167. 256  Heissler, S. 167. 257  Heissler, S. 167 ff., zur Entstehungsgeschichte siehe auch S. 124 f. m. w. N. 258  Heissler, S. 170 f.; vgl. auch Larenz, S. 334 f. 259  Heissler, S. 171. 252 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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vom Hörensagen seien jedoch genau dieselben wahrheitsschädlichen Faktoren, nämlich eine mangelnde Beweiswürdigung und Sachaufklärung verbunden wie mit der Verlesung von Urkunden.260 Beide Beweismittel seien „aus den gleichen Gründen wahrheitsschädlich“, weshalb ein „Verbot allein der Protokollverlesung, nicht aber des Zeugnisses vom Hörensagen in höchstem Maße inkonsequent“ sei.261 Auf diesen Wertungswiderspruch stützt er den völligen Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen. Weil diesem Beweismittel gegenüber den mittelbaren sächlichen Beweismitteln – Verlesung von Protokollen oder dem Abspielen von Tonträgern – noch „zusätzliche Mängel anhaften“262 würden, die zu einer Be­ weistrübung führten, müsse „dieses mittelbare persönliche Beweismittel gegen­ über den sächlichen sogar als am wenigsten zuverlässig und damit für die Wahr­ heitsfindung am schädlichsten angesehen werden“263. Immer wieder weist Heissler – unter Hinweis auf den von ihm entgegen der herrschenden Meinung vertretenen rein materiellen Unmittelbarkeitsbegriff 264 – auf die Gefahren einer „Beweistrübung“265 durch mittelbare Beweismittel und insbesondere auf die „generelle Gefährlichkeit für die Wahrheitsfindung“266 des Zeugen vom Hörensagen hin 267. Er hält es für „zweckmäßig“, sachliche Beweismittel wie Urkundeninhalte und Augenscheinobjekte nicht generell auszuschließen, sondern deren Verwertbar­ keit der „konkreten richterlichen Entscheidung zu überlassen“.268 Hingegen sei bei personalen Beweismitteln im Hinblick auf den Unmittelbarkeitsgrundsatz sowie aufgrund der „generell zu bejahende[n] potentielle[n] Gefahr der Beein­ trächtigung der Wahrheitserforschung“, insbesondere wegen des fehlenden per­ sönlichen Eindrucks des Gerichts von der Originalbeweisperson, auf eine Re­ produktion zu verzichten.269 Wenn der Gesetzgeber schon den Ausschluss des „ungleich weniger gefährlichen Reproduktionsmediums der Berichtsurkunden“ in § 250 StPO ausdrücklich normiert habe,270 dann müsse erst recht der Zeuge vom Hörensagen, dem „noch größere, der Wahrheitsfindung abträgliche Mängel 260 

Heissler, S. 172. Heissler, S. 97. 262  Heissler, S. 81. 263  Heissler, S. 86. 264  Heissler, S. 59. 265  Heissler, S. 86 und S. 95. 266  Heissler, S. 94. 267  Heissler, S. 93: Mittelbare Beweismittel „beschränken die Wahrheitsfindung“; S. 96: „die grundlegenden Prinzipien der materiellen Wahrheitserforschung (…) (dürfen) nicht ausgehöhlt werden“; S. 97: „wahrheitsschädlich“. 268  Heissler, S. 95 f. 269  Heissler, S. 96. 270  Heissler, S. 175. 261 

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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anhaften“271 würden und der mit weiteren „subjektiv bedingten Fehlerquellen“272 verbunden sei, ausgeschlossen sein.273 § 250 S. 1 StPO enthalte ein umfassendes Gebot unmittelbarer Vernehmung, das durch Satz 2 (exemplarisch) konkretisiert werde; Satz 2 sei zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen auch auf den Zeu­ gen vom Hörensagen zu übertragen.274 Im Grunde genommen lässt sich sagen, dass Heissler § 250 S. 1 StPO als reine Beweisausschließungsregel für mittelbare Beweise versteht und aus dem Verbot der Protokollverlesung auch die Unzulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen her­ leitet. Im Wesentlichen entspricht seine Ansicht der Auffassung der oben genann­ ten älteren Vertreter eines rein materiellen Unmittelbarkeitsbegriffs.275 Im Gegensatz zu von Kries und Muskat hält Heissler eine ergänzende Be­ weisführung durch Zeugen vom Hörensagen als echte Beweismittel neben der Originalbeweisperson für zulässig, weil § 250 StPO auch nur die Ersetzung des originären Zeugen – und nicht die ergänzende Verlesung von Berichtsurkunden neben diesem – verbiete. Dieses in § 250 StPO auf eine ersetzende Reproduktion beschränkte Verbot solle auf alle Vermittlungsmedien gleichermaßen und somit auch auf den Zeugen vom Hörensagen zu übertragen sein.276 Hingegen dürfe der Zeuge vom Hörensagen nicht vernommen werden, wenn der originäre Zeuge selbst nicht mehr zur Verfügung stehe; der Zeuge vom Hö­ rensagen könne demnach nur neben und gerade nicht anstelle des nicht mehr ver­ fügbaren Originalzeugen vernommen werden, weshalb Heissler den Vertretern der absoluten Theorie zuzuordnen ist. Zwar stellt § 251 StPO eine Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes dar und enthält einige Ausnahmetatbestände, in denen die Vernehmung eines Zeugen durch die Verlesung einer Niederschrift oder Urkunde ersetzt werden kann. Heissler betont, dass diese Norm jedoch aufgrund ihres Ausnahmecharak­ ters restriktiv auszulegen sei; eine Übertragung auf den Zeugen vom Hörensagen komme mangels Ähnlichkeit zu den in der Norm genannten Beweismitteln und den diesem Beweismittel „immanenten zusätzlichen Mängeln“277 nicht in Be­ tracht.278 Wenn also der Originalzeuge nicht mehr vernommen werden könne, 271 

Heissler, S. 174. Heissler, S. 174. 273  Einer anderen Auslegung begegnet Heissler mit rechtsstaatlichen Bedenken, S. 176. 274  Heissler, S. 176 f.; für den Fall, dass der Wortlaut des § 250 S. 1 StPO den Aus­ schluss des Zeugen vom Hörensagen nicht erlaube, plädiert er für eine analoge Anwen­ dung des Satz 2, S. 177, Fn. 213. 275  Vgl. dazu auch Joachim, S. 83. 276  Heissler, S. 221 f. 277  Siehe dazu auch Heissler, S. 172 sowie eingehend S. 66 ff. 278  Heissler, S. 267. 272 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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dann dürfe auch ein Zeuge vom Hörensagen nicht vernommen werden, sondern in dieser – wohl eher seltenen – Konstellation sei in der Praxis ein Beweismittel­ verlust hinzunehmen.279 bb)  Relativer Ausschluss gemäß dem Grundsatz des bestmöglichen Beweismittels Von Stemann und von Tippelskirch forderten schon im 19. Jahrhundert in An­ lehnung an die best evidence rule des englischen Beweisrechts, dass stets das bes­ te verfügbare Beweismittel erbracht werden müsse, so dass beim Zeugenbeweis grundsätzlich der unmittelbare Zeuge – wenn er denn verfügbar sei – und nicht der Zeuge vom Hörensagen zu vernehmen sei.280 Ähnlich der best evidence rule wird auch im deutschen Recht der in § 250 StPO normierte Unmittelbarkeitsgrundsatz teilweise dahingehend ausgelegt, dass das Gericht verpflichtet sei, möglichst281 den unmittelbaren Zeugen zu ver­ nehmen, um die Risiken, die mit einer mittelbaren Beweisführung verbunden seien, zu minimieren. Um einen Beweismittelverlust zu vermeiden, soll im Interesse der Wahrheits­ findung der Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen keineswegs absolut sein: Der Zeuge vom Hörensagen kann also nicht nur neben dem unmittelbaren Zeugen vernommen werden, um dessen Aussage zu ergänzen. Der Zeuge vom Hörensa­ gen kann vielmehr auch anstelle des unmittelbaren Zeugen vernommen werden, wenn dieser aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht vernommen wer­ den kann, weil der Hörensagenbeweis in dieser Konstellation zum bestmöglichen Beweismittel wird. Dieses Gebot möglichster Unmittelbarkeit wird von den Ver­ tretern des relativen Ausschlusses282 überwiegend aus dem Wortlaut, aus der Ent­ stehungsgeschichte oder aus dem Sinn und Zweck des § 250 StPO gefolgert. Die dazu vertretenen Ansätze und die jeweiligen Begründungen variieren erheblich.

279 

Heissler, S. 267 f. von Stemann, GS 4 (1852), 70, 84; von Tippelskirch, Archiv für preußisches Straf­ recht 5 (1857), 303, 316: Jede Partei müsse „die besten Beweismittel vorbringen (…), wel­ che die Natur der Sache gestattet“; siehe auch zum hearsay und zum englischen Recht Kulischer, Grünhuts Zeitschrift 34 (1907), 169, 187, 231, der den Zeugen vom Hörensagen aber als „gänzlich unzulässig“ betrachtet, S. 210, und daher den Vertretern der absoluten Theorie zuzuordnen ist; vgl. zum englischen Recht auch Glaser, GS 33 (1881), 1, 85 ff. 281 Schon Bennecke/Beling stellten im Hinblick auf die Möglichkeit fest, dass Unmit­ telbarkeit relativ zu verstehen ist, S. 252 f. 282  Beling, S. 319; Bennecke/Beling, S. 252 f.; Hanack, JZ 1972, 236, 237; Koeniger, S. 252 f.; von Lilienthal, S. 31; Rupp, S. 133 f.; von Stemann, GS 4 (1852), 70, 84; vgl. auch Joachim, S. 84 Fn. 44 und Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 25 Fn. 126 jeweils m. w. N. 280 

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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Da die Gefahr des Irrtums durch die Zahl der Glieder steigt, spricht sich Rupp für möglichst kurze Schlussketten aus: „Die Wahrscheinlichkeit eines Irrthums ist um so geringer, je unvermittelter, je unmittelbarer die Anschauung des Rich­ ters von der Strafthat ist.“283 Es liegt auf der Hand, dass der Richter eher den Zeugen vernimmt, der das Tatgeschehen unmittelbar wahrgenommen hat – bei­ spielsweise das Opfer eines Raubes –, als denjenigen, dem das Opfer von der Tat erzählt hat – beispielsweise einem Nachbarn –, oder sogar eine Person, der wiederum das ganze Geschehen von einem anderen erzählt worden ist, weil sich durch jedes zusätzliche Glied Fehlerquellen einschleichen. Diese allgemeine Klugheitsregel sei laut Rupp durch § 249 RStPO zur Rechtsregel geworden, weil diese Vorschrift das Gebot möglichster Unmittelbarkeit enthalte.284 Der Zeuge vom Hörensagen sei daher grundsätzlich ausgeschlossen.285 Rupp nimmt an, § 250 StPO enthalte ein allgemeines Verbot vermittelnder Wahrnehmung,286 und er begründet dieses Verbot und damit den Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen insbesondere mit dem Sinn der Vorschrift: So wäre der Satz 1 des § 250 StPO nach seiner Meinung „gänzlich überflüssig“, wenn er nur das Verbot der Ersetzung des Zeugenbeweises durch den Urkundenbeweis enthielte, weil er dann lediglich das wiederholte, was bereits durch Satz 2 geregelt werde. Entsprechend ihrem Sinn sei die Vorschrift aber so zu interpretieren, dass der Satz 1 ein allgemeines Verbot der Vermittlung unmittelbarer Wahrnehmung enthalte, während in Satz 2 nur „beispielsweise Consequenzen“ gezogen wür­ den.287 Im Hinblick auf den mehrdeutigen Wortlaut der Vorschrift schlägt Rupp zur Vermeidung von Missverständnissen vor, den „Hauptsatz“ der Norm durch Ein­ fügen eines Wortes folgendermaßen zu präzisieren: Beruht der Beweis einer Tat­ sache auf der Wahrnehmung „derselben durch eine“ Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen.288 Die Norm wolle aufgrund ihres Wortlauts „ist zu vernehmen“ keine Unmöglichkeit statuieren, sondern fordere die Verneh­ mung „möglicher“ Zeugen.289 Wenn ein unmittelbarer Zeuge nicht vernommen werden könne, dann greife § 250 StPO nicht und die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen statt des unmittelbaren Zeugen sei zulässig, weil ersterer in die­ ser Konstellation zum bestmöglichen Zeugenbeweis werde.

283 

Rupp, S. 127. Rupp, S. 128 und 141. 285  Rupp, S. 129. 286  Rupp, S. 129. 287  Rupp, S. 131. 288  Rupp, S. 132 f. 289  Rupp, S. 138. 284 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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So sieht es im Ergebnis auch Dolderer, der jedoch einen anderen Ansatz ver­ folgt:290 Während Dolderer eingesteht, dass der Wortlaut des § 250 StPO weder für noch gegen die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen spreche,291 sei nach seiner Ansicht in § 250 S. 1 StPO nur der Grundsatz der „Unmittelbarkeit des Verkehrs“ – das erkennende Gericht muss also die persönlichen Beweismittel selbst wahrnehmen – normiert, wohingegen die „Unmittelbarkeit der Tatsachen­ erschließung“ im Gesetz keine Regelung erfahren habe.292 Zwar habe der Ge­ setzgeber bei Erlass des § 250 StPO gar nicht an den Zeugen vom Hörensagen gedacht,293 aber trotz fehlender ausdrücklicher Regelung könne auch die Unmit­ telbarkeit der Tatsachenerschließung als Rechtsregel angesehen werden294. Durch progressive Rechtsfortbildung sei im Wege der Gebotsergänzung295 des § 250 StPO die „Lücke“ dahingehend zu schließen, dass die gleichen Bedenken, die gegen die Verlesung von Protokollen vorgebracht würden – wobei sich Dolderer auf Muskat beruft –, im Wesentlichen auf den Zeugen vom Hörensagen übertra­ gen werden könnten, so dass möglichst der unmittelbare Zeuge zu vernehmen sei, während die Vernehmung des mittelbaren Zeugen grundsätzlich unzulässig sei.296 Der Zeuge vom Hörensagen soll aber nach den Vertretern dieser Theorie nicht völlig ausgeschlossen sein, sondern das Gebot möglichster Unmittelbarkeit297 werde eben nur verletzt, wenn nur der Zeuge vom Hörensagen vernommen wer­ de, obwohl ein unmittelbarer Zeuge, der vernommen werden könnte, verfügbar sei. Hier würde man den unmittelbaren Zeugen, der im Vergleich zum Zeugen vom Hörensagen das bessere Beweismittel darstelle, ignorieren und damit das bestmögliche Beweismittel außer Acht lassen. Der Zeuge vom Hörensagen dür­ fe den unmittelbaren Augenzeugen also nicht ersetzen, er könne aber durchaus neben, also ergänzend zu dem unmittelbaren Zeugen, insbesondere in Kindes­ missbrauchsfällen 298, vernommen werden, wobei seiner Aussage eine „indizie­ rende Bedeutung“299 zukomme. Um einen Beweismittelverlust zu vermeiden, sei es auch zulässig, den Zeugen vom Hörensagen anstelle des Originalzeugen, wenn 290 Vgl.

Dolderer, S. 44 sowie insbesondere S. 60 ff.; vgl. auch die Darstellung bei Sprang, S. 31 ff. und Joachim, S. 85; vor allem Sprang setzt sich ausführlich mit dieser Ansicht auseinander und äußert „starke Bedenken“, S. 37 ff. 291  Dolderer, S. 47. 292  Dolderer, S. 48,  61, siehe auch S. 64. 293  Dolderer, S. 60, 66. 294  Dolderer, S. 64 ff. 295  Dolderer, S. 65, 67. 296  Dolderer, S. 66 f. 297  Rupp, S. 133. 298  Rupp, S. 135 f. 299  Dolderer, S. 67 f.

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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letzterer aus irgendeinem Grund nicht oder nicht mehr vernommen werden kön­ ne, zu vernehmen, da der Zeuge vom Hörensagen gerade in dieser Konstellation zum bestmöglichen Beweismittel werde. In neuerer Zeit haben sich Grünwald und Peters unter ausdrücklicher Ableh­ nung der herrschenden Meinung für einen relativen Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen ausgesprochen.300 Aufgrund von § 250 StPO – und laut Peters einer indirekten Verpflichtung aus § 244 Abs. 2 StPO – sei stets das tatnächste Beweis­ mittel zu vernehmen, woraus sich die Unzulässigkeit des Zeugen vom Hörensa­ gen ergebe, wenn dieser anstelle des unmittelbaren Zeugen vernommen werde.301 Peters führt den Wortlaut der Norm an, ohne dieses Wortlautargument näher zu erläutern.302 Er weist auf die große Bedeutung einer „ethisch und kriminalistisch abgesicherten Beweisführung“ hin, die bei einem Zeugen vom Hörensagen nicht gegeben sei, wobei sich seine Argumentation ausschließlich auf die Problematik bei V-Männern bezieht.303 Auch Koeniger hält die Vernehmung des unmittelba­ ren Zeugen aufgrund des Wortlauts von § 250 StPO für verpflichtend.304 Nach Grünwald spreche neben dem „eindeutigen Wortlaut“ auch „die Erwä­ gung, daß das Gesetz in der Regel nur Vorschriften enthält, die auch eine Bedeu­ tung haben“, gegen die Ansicht der herrschenden Meinung – die annimmt, die Tragweite des ersten Satzes werde durch den zweiten Satz umrissen –, durch die dem ersten Satz „jede Bedeutung abgesprochen“ werde.305 Ferner führt er insbe­ sondere dieselben Gründe, die gegen eine Ersetzung der unmittelbaren Verneh­ mung durch die Verlesung von Protokollen sprechen, gegen die Ersetzung durch die Vernehmung eines Zeugen vom Hörensagen an, „nämlich die Behaftung mit zusätzlichen Fehlerquellen und die Ausschaltung der Rechte der Verteidigung auf Anwesenheit und Einflußnahme auf das Zustandekommen der Äußerung des Zeugen.“306 Laut Grünwald kommt der Vernehmung einer Verhörsperson die größere Be­ deutung als der Vernehmung eines beliebigen Zeugen vom Hörensagen zu.307 Dass die Vernehmung einer Verhörsperson der Vernehmung eines Zeugen aber gerade 300 

Grünwald, Beweisrecht, S. 119; ders., in: FS Dünnebier, S. 347, 353; Peters, Straf­ prozeß, S. 317 f.; folgend Mehle, in: FS Grünwald, S. 351, 358 f. 301  Grünwald, Beweisrecht, S. 119; Peters, Strafprozeß, S. 317 f.; ebenso Mehle, in: FS Grünwald, S. 351, 358 f. 302  Peters, Strafprozeß, S. 318, wobei er sich auf die V-Mann-Problematik bezieht und auch das Recht auf Verteidigung nach Art. 6 EMRK anführt. 303  Peters, Strafprozeß, S. 318 f. 304  Koeniger, S. 252 f.; näher dazu unten. 305  Grünwald, Beweisrecht, S. 119. 306  Grünwald, Beweisrecht, S. 119 f. 307  Vgl. dazu auch oben von Kries, der die Vernehmung einer Verhörperson als den typischen Fall eines Zeugen vom Hörensagen betrachtet.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

nicht gleichrangig sei, lasse sich aus § 251 StPO ableiten: Wären sie gleichrangig, „so könnte der Tod eines Zeugen oder seine sonstige Unerreichbarkeit nicht dazu führen, daß die Verlesung eines Protokolls zulässig wird. Vielmehr müßte dann beim Ausfall des Zeugen die Vernehmung der Verhörsperson vorgeschrieben sein. Erst wenn auch diese verstorben oder unerreichbar geworden ist, dürfte auf den Urkundebeweis zurückgegriffen werden.“308 Nach seiner Meinung statuieren die §§ 250, 251 StPO „in Wahrheit (…) nicht einen Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis, sondern den Vorrang der unmittelbaren Vernehmung vor der Reproduktion von außerhalb der Hauptverhandlung gemachten Äußerun­ gen.“ Um einen Beweisverlust zu vermeiden, müsse man „als letzte Möglichkeit auch den Rückgriff auf die Vernehmung der Verhörsperson zulassen“. cc)  Keine Regelung des Zeugen vom Hörensagen in § 250 StPO Sowohl die Rechtsprechung309 als auch die herrschende Lehre310 nehmen heut­ zutage an, dass der Zeuge vom Hörensagen in § 250 StPO keine Regelung erfah­ ren habe. Die herrschende Meinung sieht § 250 StPO als eine bindende Vorschrift nur des Inhalts, dass ein Tatsachenbeweis, der auf der Wahrnehmung einer Person be­ ruht, durch Vernehmung eben dieser Person geführt werden muss, und dass eine Verlesung des über ihre Vernehmung angefertigten Protokolls grundsätzlich un­ zulässig ist.311 § 250 StPO statuiere also bloß den Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis.312 Danach sei zwar das originäre (personale) Beweis­ mittel seinem (urkundlich-sachlichen) Surrogat vorzuziehen313 – ohne diese Norm wäre es nämlich wegen der im Grundsatz bestehenden Freiheit des Urkundenbe­ weises möglich, den Beweis allein durch Protokolle und somit mittels Beweissur­ rogaten anstelle der vorhandenen lebendigen Erkenntnisquellen zu erheben314 –, 308  Grünwald, Beweisrecht, S. 120; andererseits wird auch vertreten, dass das Zeugnis von Verhörspersonen erst nach der Verlesung der Vernehmungsniederschriften erfolgen darf, siehe dazu die Darstellung bei Geppert, Unmittelbarkeit, S. 279 f. 309  RGSt 2, 160, 161; 27, 163, 165; BGHSt 6, 209, 210. 310  Dennoch wird der Zeuge vom Hörensagen in den Kommentaren stets bei § 250 StPO behandelt: Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 25, dort auch Fn. 129 m. w. N.; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 4; siehe auch Detter, NStZ 2003, 1, 2; Schäfer, Strafverfahren, Rn. 1092. 311  Sprang, S. 35 m. w. N. 312  BGH, Urteil vom 11. 03. 2014 – 1 StR 655/13 –, BeckRS 2014, 07059 Rn. 18 m. w. N.; Beulke, Rn. 410; aber auch vor dem Augenscheinbeweis, dazu Güntge, in: Alsberg, Be­ weisantrag, Rn. 860; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 11; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 2; a. A. KMR-Paulus, § 244 Rn. 193 ff. und § 250 Rn. 2. 313  Wömpner, NStZ 1983, 293, 294. 314  Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 1.

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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einen weiterreichenden Grundsatz, dass allgemein bei der Beweisaufnahme stets das sachnächste oder bestmögliche Beweismittel benutzt werden müsse, womit auch der Zeuge vom Hörensagen ausgeschlossen wäre, ließe sich dem § 250 StPO aber nicht entnehmen.315 Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist, wobei auch die Entstehungsgeschichte herangezogen werden kann.316 Also sind als Kriterien der Auslegung, die sich nicht einander ausschließen, sondern gegenseitig ergänzen, üblicherweise der Wortsinn, die Ge­ setzessystematik, der Wille des historischen Gesetzgebers sowie objektiv-teleo­ logische Kriterien heranzuziehen.317 (1) Grammatische Auslegung Der aus dem allgemeinen Sprachgebrauch zu entnehmende Wortsinn ist Aus­ gangspunkt der grammatischen Auslegung, er bestimmt aber zugleich auch deren Grenze, da das, was außerhalb des möglichen Wortsinns liegt, nicht mehr Inhalt des Gesetzes sein kann.318 Während einige Vertreter, die den Hörensagenbeweis als unzulässiges Beweis­ mittel betrachten, eingestehen, dass der Wortlaut weder für noch gegen die Zuläs­ sigkeit dieses Beweismittels spreche319, vertreten andere, die dieses Beweismittel zulassen, die Ansicht, der Wortlaut erwecke den Anschein, dass der Zeuge vom Hörensagen ein unzulässiges Beweismittel sei.320 Die Gegner des Hörensagen­ beweises wollen dessen Unzulässigkeit jedenfalls vereinzelt mit dem Wortlaut

315  Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 23; Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 250 Rn. 3; Wetterich, S. 44. 316  BVerfGE 1, 299, 312; 8, 274, 307; 11, 126, 130 f.; die Entscheidungen, insbeson­ dere BVerfGE 1, 299, 312, stellen auch klar, dass der Entstehungsgeschichte nur insoweit Bedeutung zukommt, „als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg nicht ausgeräumt werden können“. 317  Grundlegend dazu Larenz, S. 320 ff. 318  Larenz, S. 320 ff. und S. 343. 319  Dolderer, S. 47; Heissler meint, dass sich „aus dem bloßen Wortlaut (…) letztlich ein zwingender Schluss weder in die eine noch in die andere Richtung“ ergebe, S. 166. Er spricht sich aber aufgrund von objektiv-teleologischen Kriterien für die Unzulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen aus, S. 170 ff. 320  Glaser beispielsweise meint, dass der Wortlaut gegen die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen spreche, er betrachtet ihn aber als zulässiges Beweismittel, S. 463; vgl. auch Glaser, GS 33 (1881), 1, 83 ff.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

begründen.321 Man ist versucht, ein solches Verbot aus dem Gebot des ersten Sat­ zes herzuleiten: „Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen.“ Jedenfalls ist durch eine besondere Betonung oder Interpretation bestimmter Worte versucht worden, schon aus dem Wortlaut ein entscheidendes Argument für die Unzulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen herzuleiten.322 Koeniger meint, dass in § 250 StPO in erster Linie der unmittelbare Zeuge gemeint sei, weil das Wort „wahrnehmen“ mehr bedeute als die „bloße Entgegennahme einer Mitteilung über eine Tatsa­ che“323. So will auch Beling allein aufgrund des Wortlauts die Unzulässigkeit herleiten, indem er Satz 1 mit einer besonderen Akzentuierung liest: „Beruht der Beweis einer Tatsache auf der Wahrnehmung einer Person, so ist diese in der Hauptverhandlung zu vernehmen.“324 Diese Interpretationen überzeugen jedoch nicht. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet „wahrnehmen“ nicht nur „sehen“, sondern (allgemein) „bemerken“ oder „als Sinneseindruck aufnehmen“325, wozu logischerweise auch das durch den Sinn des Hörens Aufgenommene zählt.326 Im Übrigen darf auch nicht durch Wortspiele oder die übermäßige Betonung eines Demonstrativpro­ nomens ein so wichtiges Beweismittel wie der Zeuge vom Hörensagen ausge­ schlossen werden. Denn wie Mehner kritisch anmerkt: „Welches andere Wort als dieses Demonstrativpronomen hätte der Gesetzgeber an dieser Stelle schon wählen können, ohne den Sprachfluss zu stören?“327 Wie eingangs erwähnt, bildet jedenfalls der Wortsinn auch die Grenze der Auslegung. Der Zeuge vom Hörensagen hat im Wortlaut des § 250 StPO aber gerade keine Regelung erfahren. Es würde folglich zu weit gehen, dieses Beweis­ mittel aufgrund des Wortlauts generell von der Beweiserhebung auszuschließen. Auch die oben dargestellte sprachliche Umformulierung der Norm durch Rupp328 de lege lata dürfte – wenn überhaupt – nur in absoluten Ausnahmefällen zuläs­ sig sein und überschreitet die Grenzen einer Auslegung am Wortsinn.329 Wenn 321  In neuerer Zeit soweit ersichtlich nur noch Peters, Strafprozess, S. 317 f.; früher beispielsweise Rupp, S. 130 und von Scanzoni, JW 1925, 997. 322  Siehe dazu grundlegend auch die Darstellung bei Joachim, S. 88 ff. 323  Koeniger, S. 253, so dass in § 250 StPO in erster Linie der unmittelbare Zeuge gemeint sei. 324  Beling, S. 319. 325  Siehe www.duden.de, zuletzt abgerufen am 29. 01. 2018 (Hervorhebung durch den Verfasser). 326  So auch Mehner, S. 31 f. 327  Mehner, S. 32. 328  Mehner, S. 133: „Beruht der Beweis einer Thatsache auf der Wahrnehmung derselben durch eine Person, so ist die letztere in der Hauptverhandlung zu vernehmen“. 329  Kritisch dazu auch Joachim, S. 90 f.; Mehner, S. 32 f.

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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der Gesetzgeber eine so weitreichende Entscheidung, ein Beweismittel komplett auszuschließen, hätte treffen wollen, dann hätte dies eindeutig normiert werden müssen; ein solcher Ausschluss kann nicht durch Wortspiele oder die Akzentuie­ rung einzelner Worte konstruiert werden. Aus dem Wortlaut lässt sich im Grunde genommen weder die Zulässigkeit noch die Unzulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen herleiten.330 (2) Genetische Auslegung Im Rahmen der genetischen Auslegung ist zu ermitteln, welche Deutung der Regelungsabsicht des Gesetzgebers am ehesten entspricht.331 Dabei ist der Wille des Gesetzgebers, d. h. welche Normvorstellungen der historische Gesetzgeber hatte und welche Zwecke er verfolgte, entscheidend und es sind insbesondere Gesetzesentwürfe, Beratungsprotokolle und Begründungen heranzuziehen, um die konkreten Normvorstellungen des Gesetzgebers zu ermitteln.332 Die Gesetzgebungsmaterialen zum heutigen § 250 StPO geben auf die wich­ tige Frage, ob der Zeuge vom Hörensagen ausgeschlossen sein soll, keine Ant­ wort.333 In den Materialen wird diese Frage nämlich nicht ausdrücklich behandelt. Ein Blick in die Entstehungsgeschichte der Norm legt aber den Schluss nahe, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung der Norm und der Verabschiedung der gelten­ den Strafprozessordnung diesen Aspekt gar nicht regeln wollte.334 Entwurf I (§ 204)335 enthielt nur einen einzigen Satz, „Die Vernehmung einer Person darf nicht durch die Verlesung des über eine frühere Vernehmung aufge­ nommenen Protokolls oder einer schriftlichen Erklärung ersetzt werden.“, der dem zweiten Satz des § 249 RStPO entspricht. Erst durch Entwurf II (§ 209), der dem Entwurf I den ersten Satz voranstellte, wurde die Gesetzesformel des § 249 RStPO geschaffen. Entwurf I enthielt also zunächst nur das ausdrückliche Verlesungsverbot und wurde durch Entwurf II, aus dem sich der Auslegungsstreit ergibt, geändert. Ent­ 330 

Geppert, Unmittelbarkeit, S. 222 f.; Joachim, S. 89 f.; Löhr, S. 68; Schäfer, Rn. 1092; früher schon John, S. 206; Maas, S. 70 und wohl auch Graf zu Dohna, S. 175; im Ergebnis ebenso Heissler, S. 166, der den Zeugen vom Hörensagen aber aus anderen Gründen aus­ schließen will. 331  Larenz, S. 328 ff., 344. 332  Larenz, S. 330, 344. 333  Siehe auch die historische Auslegung bei Joachim, S. 92 ff. und Geppert, Unmit­ telbarkeit, S. 224 ff. 334  So auch Joachim, S. 95; sehr deutlich Geppert, Unmittelbarkeit, S. 225: „In Wirk­ lichkeit aber hat der Gesetzgeber klar erkennbar nicht im Entferntesten daran gedacht, den Beweis vom Hörensagen für unzulässig zu erklären.“; früher schon John, S. 207. 335 Vgl. John, S. 205.

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wurf III (§ 212) hat diese Änderungen wortwörtlich übernommen, wobei auch die Motive der amtlichen Begründung zu Entwurf II entsprachen.336 Die Motive aller drei Entwürfe stimmen also vollkommen überein und lassen die Frage, weshalb der erste Satz eingeschoben wurde, unbeantwortet. Wie sich aus den Motiven zu Entwurf I ergibt, sollte „die Verlesung von Protokollen an Stelle mündlicher Vernehmung“ verhindert werden.337 Nach diesen Motiven kann also der alleini­ ge Zweck darin gesehen werden, die Verlesung von Vernehmungsprotokollen zu verbieten. Wenn jetzt durch Entwurf II ohne nähere Begründung noch ein Satz eingeschoben wird, so wird man wohl – wie auch schon John – mit Recht davon ausgehen dürfen, dass die Motive zu Entwurf I für ausreichend erachtet wurden, um auch den neu eingefügten Satz im Entwurf II zu begründen, und dass auch dieser erste Satz keinen anderen Zweck gehabt haben kann, „als in positiver Form das Gleiche zum Ausdruck zu bringen, was der erste Entwurf in ausschließlich negativer Form zum Ausdruck gebracht“338 hat.339 Schließlich findet sich in den Beratungsmaterialien zu den Entwürfen der Strafprozessordnung zur inhaltlichen Reichweite des § 212340 lediglich die An­ merkung von von Schwarze, er fasse den § 212 so auf, dass durch diesen Para­ graphen eine Beschränkung der allgemeinen, in § 211341 erteilten Befugnis aus­ gesprochen werden solle, so dass im Übrigen – soweit nicht in den §§ 213 ff.342 auch noch Ausnahmen bestimmt seien – die Verlesung von Urkunden unbedingt zulässig sei.343 Ebenso merkt Hanauer an, man könne keinen Zweifel haben, dass durch § 212 nur die Verlesung von Vernehmungsprotokollen ausgeschlossen wer­ den solle. Wie auch die Zwischenüberschrift „Verlesung von Schriftstücken“ deutlich macht, zeigen auch diese Anmerkungen, dass die Norm ausschließlich die Ver­ lesung von Urkunden bzw. Vernehmungsprotokollen regeln sollte. Der Zeuge vom Hörensagen wird auch innerhalb der Beratungen gar nicht erwähnt, was den Schluss nahe legt, dass der Gesetzgeber ihn nicht ausschließen wollte. Wenn er dies hätte tun wollen, dann hätte der Gesetzgeber zu dieser Thematik Stellung beziehen müssen, zumal ihm die Ansicht der herrschenden Meinung, dass der Zeuge vom Hörensagen ein zulässiges Beweismittel ist, sicherlich bekannt war. 336 

Geppert, Unmittelbarkeit, S. 108 f. m. w. N. John, S. 206. 338  John, S. 206. 339  Eingehend auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 106 ff. und S. 224 ff. 340  § 212 entspricht dem heutigen § 250 StPO; siehe dazu Hahn, Bd. 1, S. 29. 341  § 211 entspricht dem heutigen § 249 StPO; siehe dazu Hahn, Bd. 1, S. 29. 342  §§ 213 ff. entsprechen im Wesentlichen den heutigen §§ 251 ff. StPO; siehe dazu Hahn, Bd. 1, S. 29 f. 343  Hahn, Bd. 1, S. 860. 337 

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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Hiermit hätte sich der Gesetzgeber also auseinandersetzen müssen, was er auch ganz gewiss getan hätte, wenn er an dieser Stelle des Gesetzes den Zeugen vom Hörensagen hätte ausschließen wollen. Es liegt doch auf der Hand, dass der Ge­ setzgeber, wenn er eine solch wichtige Verfahrensfrage wie den Ausschluss eines Beweismittels hätte regeln wollen, dies expressis verbis – und nicht nur mit einem missverständlichen und weiten Interpretationsspielraum bietenden Satz – getan hätte oder sich zumindest Anhaltspunkte zu dieser wichtigen Beweismittelfrage in den Gesetzgebungsmaterialien finden ließen. Folglich wollte der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 250 StPO den Zeugen vom Hörensagen keineswegs für unzulässig erklären.344 (3) Teleologische Auslegung Bei der teleologischen Auslegung stehen der Sinn und Zweck des Gesetzes im Vordergrund. Als Kriterien sind die Sachstrukturen des Normbereichs und die der Rechtsordnung immanenten Rechtsprinzipien zu nennen.345 Diese Ausle­ gung wird auch als objektiv-teleologische Auslegung bezeichnet, unter anderem weil der Gesetzgeber sich der Kriterien nicht immer voll bewusst gewesen sein mag.346 Zunächst mögen die Grenzen zur historischen Auslegung fließend verlau­ fen, zumal die Beratungsmaterialien zu § 250 StPO in Bezug auf den Zeugen vom Hörensagen keine Details enthalten und daher nicht ganz klar ist, worüber sich der Gesetzgeber Gedanken gemacht hat. Außerdem ist der Zweck des § 250 StPO mit der Entstehungsgeschichte dieser Norm eng verknüpft. Sinn und Zweck der Reformbestrebungen der Strafprozessordnung war insbesondere die Abkehr von komplizierten Beweisregeln und vom geheimen bzw. schriftlich-mittelbaren Verfahren des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses zu einem öffentlichen, transparenten, gerechten und an der materiellen Wahrheit orientierten Verfahren. In diesem Verfahren kommt vor allem der Forderung nach Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht in mündlicher Hauptverhandlung als ein Hauptanliegen der Reformbestrebungen besondere Bedeutung zu. Sinn und Zweck des § 250 StPO liegen also ausschließlich darin, die persönliche Ver­ nehmung nicht durch eine Verlesung zu ersetzen.347 Wenn man an dieser Stelle zugleich den Zeugen vom Hörensagen als Beweismittel hätte ausschließen wol­ 344 Ebenso Güntge, in Alsberg, Beweisantrag, Rn. 862; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 224 ff.; Joachim, S. 95; Krause, S. 136; Löhr, S. 65 f. 345  Larenz, S. 344. 346  Larenz, S. 333 und S. 344. 347  Schließlich liegt auf der Hand und ist allgemein anerkannt, dass die persönliche Vernehmung und der damit verbundene persönliche Eindruck, den das Gericht von der Auskunftsperson erhält, gegenüber der Verlesung das dienlichere Beweismittel darstellt, Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 1. Gleichwohl ist beim Hörensagenbeweis

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len, dann hätte man dies ausdrücklich regeln müssen. Es ist auch nicht nachvoll­ ziehbar, dass man dieses Beweismittel stillschweigend ausschließen wollte. Denn wie auch Löhr zutreffend ausführt, beschäftigt sich die Reformbewegung nicht mit der Frage, welche Beweismittel zur Sachverhaltsaufklärung heranzuziehen sind. Der Zeuge vom Hörensagen war aber auch im preußischen Strafverfahren vor der Reichsstrafprozessordnung von 1877 ein anerkanntes Beweismittel.348 Dies zeigt Oppenhoff in seiner Kommentierung der Preußischen Gesetze, die stellenweise deutliche Parallelen zum heutigen § 261 StPO zeigen, unter Beru­ fung auf zwei Entscheidungen des Preußischen Obertribunals.349 Wenn der Ge­ setzgeber entgegen dem vorherigen Rechtszustand bezweckt hätte, die mittelbare Beweisführung und damit den Zeugen vom Hörensagen zu verbieten, dann hätte er sicherlich zu diesem Problem Stellung bezogen. Jedenfalls kann nicht ohne nähere Anhaltspunkte auf die Unzulässigkeit eines bekannten Beweismittels ge­ schlossen werden. Die Gegner des Zeugen vom Hörensagen führen häufig objektiv-teleologische Kriterien an, um dieses Beweismittel auszuschließen. Muskat meint, es widerspre­ che „dem Geiste des“ § 249 StPO,350 und Heissler meint, es stelle einen „Wer­ tungswiderspruch“351 innerhalb der Rechtsordnung dar, wenn man die Urkunden als zuverlässigere Beweismittel ausschließe, gleichzeitig aber den Zeugen vom Hö­ rensagen trotz der ihm anhaftenden Mängel zuließe.352 So sieht es auch Dolderer, der entsprechend dem Gedanken der „progressiven Rechtsfindung“353 diese angeb­ liche „Lücke“ des Gesetzes im Wege der „Gebotsergänzung“ schließen möchte.354 Die Urkunden – als vermeintlich zuverlässigere Beweismittel – auszuschlie­ ßen und den Zeugen vom Hörensagen zuzulassen, mag zwar auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, es handelt sich aber keineswegs um eine Gesetzes­ lücke, die im Wege der Gebotsergänzung zu schließen wäre, oder um einen Wer­ tungswiderspruch im Sinne der juristischen Auslegung, der mit den objektiven Zwecken des Rechts unvereinbar wäre.355 Es darf nämlich keine isolierte Sinn­ zu beachten, dass das Gericht nur von dem mittelbaren Zeugen, nicht aber von dem unmit­ telbaren Zeugen einen unmittelbaren persönlichen Eindruck bekommt. 348  Vgl. dazu Löhr, S. 65. 349  Oppenhoff, S. 136 Nr. 43 und S. 138 Nr. 56; siehe auch John, S. 209. 350  Muskat, GA 36 (1888), 281, 283. 351  Heissler, S. 171. 352  Heissler, S. 170 ff.; mit dieser Ansicht setzt sich auch Geppert ausführlich ausein­ ander, der sie ablehnt, Unmittelbarkeit, S. 233 ff. 353  Dolderer, S. 65. 354  Dolderer, S. 65 ff.; mit dieser Ansicht setzt sich vor allem Sprang, S. 32 f., ausein­ ander, die sie ablehnt, S. 37 ff.; ebenso Geppert, Unmittelbarkeit, S. 231 ff. 355  Grundlegend zu Wertungswidersprüchen im Rahmen objektiv-teleologischer Aus­ legungskriterien, Larenz, S. 334 ff.

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deutung stattfinden, sondern die ratio legis ergibt sich vielmehr erst aus dem „inneren System“.356 Entscheidend ist – wie auch schon Löhr unter Berufung auf Larenz ausführte – die Vereinbarkeit mit dem Sinnganzen und der Zwecksetzung der strafprozessualen Regelung.357 Folglich darf § 250 StPO keinesfalls geson­ dert, sondern muss im Zusammenhang mit den sonstigen Normen der Strafpro­ zessordnung, dessen Beweisrecht sich nach seiner Gesamtkonzeption am Ziel der materiellen Wahrheit orientiert, betrachtet werden.358 Vorliegend sind die richterliche Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO und der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO von besonderer Bedeu­ tung. Zwar mag insbesondere aus § 244 Abs. 2 StPO die Pflicht folgen, nach Möglichkeit das tatnächste oder das sonst die beste und zuverlässigste Aufklä­ rung versprechende erreichbare Beweismittel zu wählen; ein völliger Ausschluss mittelbarer Beweise oder des Zeugen vom Hörensagen lässt sich aus der Ge­ samtschau der Normen aus § 250 StPO aber gerade nicht positiv nachweisen, zumal es nach dem Beweisrecht auch keinen allgemeingültigen Grundsatz gibt, dass unzuverlässigere Beweismittel oder solche mit einem geringeren Beweis­ wert ausgeschlossen sind oder etwaigen Einschränkungen unterliegen.359 Im Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO kommt auch gerade die mit den Reformbestrebungen bezweckte Abkehr von den gesetz­ lichen Beweisregeln des Inquisitionsprozesses und damit grundsätzlich auch von den Beweisausschließungsregeln wie beispielsweise im common law zum Aus­ druck,360 wenngleich auch die Beweisverwertungsverbote in gewisser Weise eine Einschränkung dieses Grundsatzes sind. Eine abstrakt-formale Beweisregel, die den Zeugen vom Hörensagen grundsätzlich ausschließt, ist jedenfalls mit § 261 StPO und § 244 Abs. 2 StPO nicht vereinbar.361 Der Sinnzusammenhang der Nor­ men zeigt, dass der Zeuge vom Hörensagen nicht ausgeschlossen ist, begrenzt aber zugleich durch den Ermittlungsgrundsatz nach § 244 Abs. 2 StPO sowie den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 261 StPO die Risiken, die mit dem Zeugen vom Hörensagen unter Umständen verbunden sind: Das Gericht wird der Aussage eines mittelbaren Zeugen nicht nur einen vermin­ derten Beweiswert zumessen, sondern es wird sich in der Praxis gerade aufgrund des § 244 Abs. 2 StPO grundsätzlich auch zur Vernehmung des unmittelbaren Zeugen gezwungen sehen. Nur in bestimmten Fällen – wie beispielsweise bei Unerreichbarkeit des unmittelbaren Zeugen oder in gewissen Fällen von Kindes­ missbrauch – kann sich das Gericht mit der Vernehmung des mittelbaren Zeugen 356 

Larenz, S. 336. Löhr, S. 67 ff. 358  Löhr, S. 68. 359  Joachim, S. 95; vgl. auch Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 23. 360  Siehe auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 233. 361  Krause, S. 140. 357 

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begnügen. Hierin ist aber kein Wertungswiderspruch zu sehen, zumal ebenso die §§ 251 ff. StPO in bestimmten Fällen Ausnahmen für die Verlesung von Urkun­ den zulassen.362 Selbst wenn man argumentiert, dass dem Zeugen vom Hörensagen – mög­ licherweise insbesondere im Vergleich zu Dokumenten und Protokollen – „zu­ sätzliche Mängel anhaften“363 und durch ihn die Gefahr der „Beweistrübung“364 bestehe, unterliegt es der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, verschie­ dene Arten der Beweisführung unterschiedlich zu behandeln, sofern dies sach­ lich vertretbar ist. Denn auch wenn die Mangelhaftigkeit eines Beweismittels genauso wenig dessen Unzulässigkeit zu begründen vermag wie die positive Beweiskraft des­ sen Zulässigkeit, so sei dennoch erwähnt, dass durchaus „gewichtige praktische Gründe“ für die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen angeführt werden können, der aufgrund „kriminalistischer Erfahrung“ zur Aufklärung schwerer Verbrechen „von organisierten Banden“ oder „im Unterweltmilieu“ erforderlich sein kann.365 Es ist Sinn und Zweck des Strafverfahrens, in einem rechtsstaatlichen Verfah­ ren die materielle Wahrheit zu ermitteln. Würde man den Zeugen vom Hörensa­ gen komplett ausschließen, wäre dies der Wahrheitsfindung keineswegs dienlich. Es sind sogar Konstellationen denkbar, in denen es nicht sachgerecht erscheint, den unmittelbaren Zeugen zu vernehmen, und in denen der mittelbare Zeuge der bessere und zuverlässigere Zeuge sein kann.366 Ein Wertungswiderspruch oder eine Gesetzeslücke sind also nicht ersichtlich.367 (4) Systematische Auslegung Bei dieser Auslegung steht die Wahrung der sachlichen Übereinstimmung mit einer anderen Bestimmung im Vordergrund; es geht um die sachliche Zusam­ mengehörigkeit der Vorschriften.368 Zunächst ist anzumerken, dass die Fassung des ersten Satzes – wie von den Gegnern des Hörensagenbeweises vorgebracht wird – zwar recht weit geht und Raum für Interpretationen bieten mag, dass dieser Satz aber in einer „unlöslichen 362 

So auch Joachim, S. 95 ff. Heissler, S. 81. 364  Heissler, S. 86 und S. 95. 365  Krause, S. 137. 366  Beispielsweise im berühmten Mutter-Kind-Beispiel, siehe dazu Geppert, Unmittel­ barkeit, S. 228, S. 234 f. 367  Vgl. dazu auch eingehend Geppert, Unmittelbarkeit, S. 231 ff. 368  Larenz, S. 324 ff. und S. 343 f. 363 

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Gedankenverbindung“369 mit Satz 2 steht und die beiden Sätze nur gemeinsam in­ terpretiert werden können. Der nach seinem Wortlaut zu weit gefasste Satz 1 des § 250 StPO erhält insoweit seine genauere Bestimmung erst durch Satz 2 der Norm, der die „negativ formulierte Kehrseite dieses Gebots bildet“370 und der das Gebot des ersten Satzes sowohl sichert als auch umgrenzt.371 Was der erste Satz aus Klar­ stellungsgründen positiv normiert, wird im zweiten Satz durch ein entsprechen­ des Verbot noch einmal klargestellt. Wenn diese beiden Sätze nicht auf das Engste miteinander verknüpft sein sollten, dann hätte der Gesetzgeber den Unterschied – wenn er denn zum einen den Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen und zum anderen ein Verlesungsverbot für Urkunden hätte regeln wollen – durch einen Ab­ satz deutlich machen und so eine Distanz der Regelungen schaffen können.372 Der von Kritikern häufig vorgebrachte Einwand, dass Satz 1 dann quasi über­ flüssig wäre und das Gesetz nur Regelungen enthalte, die auch eine Bedeutung hätten,373 ist im Rahmen der historischen Betrachtung entkräftet worden. Als schlagendes Argument ist aber gerade die Stellung der Norm im Gesetz anzuführen: § 250 StPO steht in einem Abschnitt, der die Zulässigkeit des Ur­ kundenbeweises regelt. Es würde eine „ganz unwahrscheinliche Regelwidrigkeit im gesetzlichen Aufbau“ darstellen, wenn an dieser Stelle auch der Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen geregelt werden sollte, zumal diese Beweismittel in keinerlei Zusammenhang zueinander stehen.374 Es geht also an dieser Stelle keineswegs um die Ersetzung von unmittelbaren Zeugen durch mittelbare Zeu­ gen. Der Entwurf der Strafprozessordnung enthielt im sechsten Abschnitt mit der Überschrift „Hauptverhandlung“ für die §§ 211 ff., die im Wesentlichen den heutigen §§ 249 ff. StPO entsprechen,375 noch die weitere Zwischenüberschrift „Verlesung von Schriftstücken“376. Keineswegs hier, sondern der Gesetzessyste­ matik entsprechend wohl eher im Rahmen der Normen zum Zeugenbeweis, also in den §§ 48 ff. StPO, hätte der Gesetzgeber den Zeugen vom Hörensagen gere­ gelt, wenn er dies hätte tun wollen. In der heutigen Strafprozessordnung sind die §§ 249– 256 StPO erkennbar Spezialvorschriften für die Beweismittel Urkunden, wobei in § 249 StPO als Form des Urkundenbeweises die „Verlesung“ vorgesehen ist. Diese Verlesung erfährt für den Bereich berichtender Urkunden durch § 250 StPO eine Beschrän­ 369 

Schneidewin, JR 1951, 481, 482. Wömpner, NStZ 1983, 293, 294; siehe auch BGHSt 6, 209, 210. 371  Sprang, S. 35; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 1. 372  So auch Mehner, S. 33. 373  Grünwald, Beweisrecht, S. 119. 374 So Schneidewin, JR 1951, 481, 482; folgend Krause, S. 137; Löhr, S. 65. 375  Siehe dazu Hahn, Bd. 1, S. 29. 376  Siehe dazu Hahn, Bd. 1, S. 63. 370 

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kung – Urkunden, die die Wahrnehmung des Zeugen oder das Gutachten des Sachverständigen nur mittelbar wiedergeben, dürfen die Beweisperson nicht er­ setzen377 –, von der die nachfolgenden §§ 252 ff. StPO ihrerseits unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen zulassen.378 § 250 StPO steht ja gerade hinter § 249 StPO und vor §§ 251 ff. StPO und will in diesem Kontext nur den Urkundenbe­ weis regeln. Ein Wechsel vom Urkundenbeweis zu dem Zeugen vom Hörensagen als Problemkomplex des Personalbeweises ist an dieser Stelle nicht nachvollzieh­ bar und widerspricht der Systematik des Gesetzes.379 Bei § 250 StPO geht es daher, wie auch der Systemzusammenhang zu § 244 Abs. 2 und § 261 StPO noch zeigen wird,380 der Gesetzessystematik entsprechend ausschließlich um die Ersetzung des Zeugenbeweises durch den Urkundenbeweis und die Norm kann nur als Regelung eines Verlesungsverbots für Vernehmungs­ protokolle oder sonstige schriftliche Zeugnisse verstanden werden.381 (5) Zwischenergebnis § 250 StPO statuiert nur den Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkun­ denbeweis. Der Grundsatz, dass stets der bestmögliche Beweis zu erheben ist, lässt sich der Norm nicht entnehmen, sie soll vielmehr verhindern, dass eine mögliche Vernehmung eines Zeugen durch den Urkundenbeweis ersetzt wird.382 Der weit gefasste Wortlaut des ersten Satzes mag zwar Raum für Interpretationen bie­ ten, ein Verbot des Zeugen vom Hörensagen kann daraus jedoch nicht hergeleitet werden. Die historische Auslegung hat gezeigt, dass der Gesetzgeber dieses Be­ weismittel anscheinend nicht ausschließen wollte. Doch selbst wenn man meinte, der Gesetzgeber habe bei Erlass der Norm den Zeugen vom Hörensagen gar nicht bedacht, so wird doch durch die Stellung der Norm im Gesamtzusammenhang der Strafprozessordnung und deren Sinn und Zweck, vor allem in der Gesamt­ schau mit § 244 Abs. 2 und § 261 StPO deutlich, dass § 250 StPO den Zeugen vom Hörensagen nicht ausschließt. Insbesondere durch § 244 Abs. 2 und § 261 StPO lassen sich etwaige Risiken, die mit dem Hörensagenbeweis verbunden sind, an­ gemessen beschränken. Die Unzulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen kann also keineswegs aus § 250 StPO hergeleitet werden.383 377 

Dazu grundlegend Güntge, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 860 ff. Geppert, Unmittelbarkeit, S. 227. 379  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 227. 380  Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 23. 381 So auch Güntge, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 862; Joachim, S. 92; Sander/­ Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 25; Sprang, S. 36. 382  Schäfer, Rn. 1094. 383  Siehe auch Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 25; Seebode/Sydow, JZ 1980, 506, 509; Stüber, S. 170. 378 

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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Da der Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO für den Zeugen vom Hören­ sagen nicht einschlägig ist, stellt sich die Frage, ob sich die (Un-)Zulässigkeit die­ ses Beweismittels möglicherweise aus anderen Beweisgrundsätzen ergibt. Hier sind insbesondere die richterliche Aufklärungspflicht, die sich als besondere Äu­ ßerungsform des Untersuchungsgrundsatzes darstellt,384 sowie der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung von Bedeutung. 2.   Der Grundsatz der richterlichen Aufklärungspflicht gemäß § 244 Abs. 2 StPO Wie weit die richterliche Aufklärungspflicht reicht und was sie über die Ver­ wendung von originären und auch abgeleiteten Beweismitteln, insbesondere den Hörensagenbeweis besagt, soll im Folgenden untersucht werden, denn die heut­ zutage herrschende Meinung betrachtet § 244 Abs. 2 StPO (und nicht § 250 StPO) als die zentrale Norm für die Frage der Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen, die auch mit der Frage der richterlichen Beweiswürdigung eng verknüpft ist.385 Die Erforschung der Wahrheit, „die Ermittlung des wahren Sachverhalts“ ist das zentrale Anliegen des Strafprozesses.386 Dieses Prinzip der materiellen Wahr­ heit und eine objektive Rechtsprechung sind zwar äußerst wünschenswert, aber kaum erreichbar.387 Man muss sich stets vor Augen führen, dass es die materielle Wahrheit eigentlich gar nicht gibt, sondern vielmehr „verschiedene Relativierun­ gen“ der Wahrheit, vielleicht sogar „diverse Wahrheiten“.388 Oder um es mit den Worten von Hengesch zu sagen: „Indem wir Wahrheit herstellen, wissen wir sie. Wir können sie nur wissen, nicht beweisen. Wo wir etwas ‚beweisen‘, wird Wahr­ heit bereits vorausgesetzt.“389 Wie sich der Zeugenbeweis und die divergieren­ den Wahrheiten der einzelnen Zeugen auf den Herstellungsprozess der Wahrheit 384 

Vgl. auch Roxin/Schünemann, § 45 Rn. 2; Schlüchter, Rn. 471. BGHR StPO § 250 S. 1 Unmittelbarkeit 1; BGH NStZ 2004, 50, 50; so auch schon BGHSt 6, 209, 210; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1031. 386  BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45, 61; vgl. auch BVerfG NJW 2003, 2444 ff.; Krehl, in: Karlsruher Kommentar, § 244 Rn. 28; vgl. auch Swobada, S. 90 ff. 387  Erreichbar sind nur „intersubjektiv nachvollziehbare, plausible, stimmige Urteile“, dazu näher Leitmeier, JR 2013, 64, 66. 388  Vgl. dazu sehr anschaulich Theile, NStZ 2012, 666 ff. 389  Hengesch, ZStW 101 (1989), 611, 623; vgl. auch Rolinski, in: FS Kühne, S. 297, 311: „Ziel des Strafverfahrens aber bleibt die ‚Reproduktion historischer Geschehnisse‘. Allerdings ist die ‚Rekonstruktion historischer Wahrheit‘ wegen ‚grundsätzlicher mensch­ licher Wahrnehmungsprobleme‘ nicht erreichbar. Das Ergebnis der Beweisaufnahme kann nur eine ‚prozessuale Wahrheit‘ sein, die aber möglichst nah an der historischen liegen soll. (…) Die während einer Beweisaufnahme geschaffenen Konstrukte fundieren dann die ‚prozessuale Wahrheit‘. Das Tatgeschehen, die historische Wahrheit, als Grundlage des richterlichen Urteils, wird daher nicht ‚ermittelt‘ oder gefunden, sondern von den Be­ teiligten ‚erfunden‘“. 385 

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auswirken und welche Rolle sie hierbei spielen, wird später noch thematisiert werden. Um dem (theoretischen) Prinzip der materiellen Wahrheit jedenfalls gerecht zu werden, hat das Gericht zur Erforschung der Wahrheit gem. § 244 Abs. 2 StPO die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. So darf sich das Ge­ richt „bei der Auswahl unter mehreren Beweismitteln regelmäßig nicht damit be­ gnügen, den mit der Gefahr größerer Unzuverlässigkeit behafteten sachferneren Beweis zu erheben, sofern qualitativ bessere Beweismittel zur Verfügung stehen. Vielmehr hat das Gericht bei der Erforschung einer Straftat und bei der Ermitt­ lung der für Schuld und Strafe maßgebenden Tatsachen in die erkenntnismäßig bestmögliche Sachnähe zu den Tatsachen zu treten, die für Unrechtstatbestand, Schuld und Sanktionen beweisrelevant sind“390. § 244 Abs. 2 StPO enthält also zwei Aussagen, deren eine den Gegenstand und deren andere die Methode betrifft. Auf die erste Aussage, nämlich die fest­ stellungsbedürftigen Tatsachen, wie Prozess- und Schuldfragen,391 soll hier nicht näher eingegangen werden. Vorliegend steht vielmehr die Methode, nämlich das Gebot bestmöglicher Beweise, im Vordergrund. § 244 Abs. 2 StPO verpflichtet das erkennende Gericht insbesondere, „sich des sachnächsten Beweismittels zu bedienen und dieses Beweismittel in der nach den Gegebenheiten bestmöglichen Form zu verwenden.“392 Was besagt diese bestmögliche Form über die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen? Bedeutet das, dass er – wie es die Vertreter der absoluten Theorie fordern – niemals oder – wie es die Vertreter der relativen Theorie fordern – nur neben dem unmittelba­ ren Zeugen bzw. nur, wenn dieser nicht verfügbar ist, vernommen werden darf? Möglicherweise sind sogar Fälle denkbar, in denen der Zeuge vom Hörensagen sogar anstelle des unmittelbaren Zeugen vernommen werden kann, ohne die ge­ richtliche Aufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO zu verletzen. Es besteht aufgrund von § 244 Abs. 2 StPO grundsätzlich die Pflicht, das unmittelbare Beweismittel zu nutzen und somit den unmittelbaren Zeugen als „sachnächsten“ Zeugen393 zu hören.394 Ob das Gericht dabei ein „pflichtgemäßes Ermessen“395 hat, erscheint fraglich, da dieser Terminus irreführend ist. Es ist zu beachten, dass das Gericht grundsätzlich ohnehin keine unbeschränkte Freiheit 390 

BVerfGE 57, 250, 277 (Hervorhebung durch den Verfasser). Vgl. dazu Schlüchter, Rn. 471.1. 392  OLG Düsseldorf NStZ 2008, 358, 358. 393  BGH, Urteil vom 11. 03. 2014 – 1 StR 655/13 –, BeckRS 2014, 07059 Rn. 18: Einver­ nahme des bei der Vernehmung anwesenden Polizeibeamten statt des Richters. 394  Dahs, Revision, Rn. 263; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 26. 395  Löhr, S. 79 und 84. 391 

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der Beweisführung und völlig freies Ermessen bei der Auswahl der verschiede­ nen Beweismittel hat, sondern dass es sich aufgrund von § 244 Abs. 2 StPO um eine umfassende Sachverhaltsaufklärung bemühen muss und deshalb aufgrund des höheren Beweiswertes und der größeren Zuverlässigkeit auf originäre Be­ weismittel und damit auf unmittelbare Zeugen zurückgreifen muss, sofern diese Beweismittel zur Verfügung stehen.396 In der Rechtsprechung wird häufig da­ von gesprochen, dass die Sach- und Beweislage die Sachverhaltserforschung von Amts wegen „nahelegen“ oder „aufdrängen“ müsse.397 Der Originalzeuge stellt als unmittelbares Personalbeweismittel – abgesehen von den sogenannten Knall- und Blechzeugen398 und den grundsätzlichen Schwä­ chen des Zeugenbeweises399 – jedenfalls im Vergleich zum Zeugen vom Hören­ sagen als abgeleitetes Beweismittel die sicherste Form der Beweiserhebung dar. Das Gericht muss sich also, um seine gerichtliche Aufklärungspflicht nicht zu verletzen, nach § 244 Abs. 2 StPO grundsätzlich zur Vernehmung des Origi­ nalzeugen gedrängt sehen, weil er die beste Kenntnis von den wahrgenommen Tatsachen hat und diese somit am genauesten, sichersten und zuverlässigsten be­ richten kann.400 Es widerspricht – mit Ausnahme sehr weniger Fälle – dem Gebot bestmöglicher Sachaufklärung und damit der Aufklärungspflicht, wenn sich das Gericht damit begnügen würde, den Zeugen vom Hörensagen anstelle des verfügbaren unmittelbaren Zeugen zu hören.401 Dementsprechend würde der Richter 396  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 184 f.; Dahs bezeichnet den Ausdruck als „missver­ ständlich“ und bringt auch seine „Skepsis gegenüber der ‚Omnipotenz‘ des Richters“ zum Ausdruck, GA 1973, S. 317, 317 f.; Krehl, in: Karlsruher Kommentar, § 244 Rn. 33: „Der Beurteilungsmaßstab für die Pflicht des Tatgerichts zur Sachverhaltserforschung erwächst aus sachlogischen Zusammenhängen. (…) Diese Beurteilung ist keine Frage des Ermessens.“; Dallmeyer, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 42: „Ermessen ist den Gerichten damit (…) nicht eingeräumt“; a. A. Gollwitzer, in: Löwe-Rosenberg, § 244 Rn. 44: „Die Aufklä­ rungspflicht ist Richtlinie für jede Ermessensentscheidung des Gerichts“, allerdings mit der wesentlichen Einschränkung: „Das eingeräumte Ermessen muss, auch wenn es als ‚frei‘ bezeichnet wird, so ausgeübt werden, dass dadurch die Sachaufklärung gefördert und nicht beeinträchtigt wird.“; kritisch zur Omnipotenz des Richters – allerdings im Zu­ sammenhang mit der Würdigung von Beweisen durch den Richter – äußert sich auch Löhr, S. 87, die aber von einem „pflichtgemäßen Ermessen des Richters“ spricht, S. 79. 397  BGH NJW 2000, 2517, 2519; NStZ 1990, 384: „Die ihm nach § 244 Abs. 2 StPO obliegende Pflicht zur umfassenden Sachverhaltsaufklärung reicht so weit, wie die (…) Umstände zum Gebrauch eines bestimmten weiteren Beweismittels drängen oder ihn zu­ mindest nahelegen.“ Weshalb sich das Gericht zur Vernehmung der Zeugen „hätte ge­ drängt sehen müssen“, OLG Celle StV 1991, 294, 294; OLG Köln StV 1998, 585, 585; siehe auch Dallmeyer, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 42. 398  Geppert, Unmittelbarkeit, S 165. 399  Siehe dazu Kapitel B. II. 400  Löhr, S. 83; siehe auch Wetterich, S. 44. 401  Schlüchter, Rn. 472; Wetterich, S. 44.

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seine Aufklärungspflicht verletzen, wenn er sich mit der Vernehmung eines Zeu­ gen vom Hörensagen zufrieden geben würde, nur weil ihm dieser aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten geeigneter erscheint, wenn der unmittelbare Zeuge erreichbar und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist.402 Man kann in diesem Fall wohl von einer – wie im Verwaltungsrecht – „Ermessensreduzierung auf Null“403, bei der für eine freie Ermessensausübung durch das erkennende Gericht kein Raum mehr ist, sprechen.404 In erster Linie muss sich das Gericht also dazu gedrängt sehen, den unmit­ telbaren Zeugen persönlich zu hören, auch wenn er schwierig zu erreichen ist.405 So ist es Zeugen grundsätzlich zuzumuten, auch von einem außereuropäischen Wohnort aus in der Hauptverhandlung zu erscheinen.406 Dies gilt vor allem, wenn das Strafverfahren einen besonders schweren strafrechtlichen Vorwurf zum Ge­ genstand hat und der Aussage des Zeugen die entscheidende Bedeutung zukommt oder diese sogar das alleinige Beweismittel ist.407 Neben der Bedeutung der Aus­ sage ist auch im Hinblick auf den Beschleunigungsgrundsatz die Verfahrensver­ zögerung zu beachten, die möglicherweise mit einer persönlichen Vernehmung des unmittelbaren Zeugen verbunden ist. So kann unter Umständen, wenn der Zeuge längere Zeit nicht vernommen werden kann, Beweis über dessen frühere Aussagen durch Vernehmung der Verhörsperson erhoben werden oder auch eine Verlesung früherer Aussagen nach § 251 StPO in Betracht kommen. Der zeitli­ che Faktor darf, je nach Bedeutung der Aussage, aber nicht zu niedrig angesetzt werden. Eine vorübergehende Vernehmungsunfähigkeit des einzigen Tatzeugen kann es auch dann nicht rechtfertigen, von seiner persönlichen Vernehmung ab­ zusehen und stattdessen durch Vernehmung der Verhörsperson Beweis über seine früheren Aussagen zu erheben, wenn sie voraussichtlich sechs Monate dauern wird und auch danach nicht sicher ist, ob er seine Vernehmungsfähigkeit wieder­ erlangen wird.408 Zum einen ist eine Verfahrensverzögerung von sechs Monaten – abgesehen von Fällen der U-Haft – keineswegs eine ungewöhnlich lange Zeit; zum anderen reichen bloße Zweifel, ob der Zeuge seine Vernehmungsfähigkeit wiedererlangen wird, nicht aus, um auf ein Zuwarten bis zu der voraussichtli­ chen Wiederherstellung der Vernehmungsfähigkeit des Zeugen zu verzichten.409 Dies käme allenfalls dann in Betracht, wenn aufgrund eines Sachverständigen­ 402 

Joachim, S. 100. Maurer/Waldhoff, § 7 Rn. 24 f. 404 So Joachim, S. 100. 405  BGHSt 1, 373, 376; 6, 209, 211; 17, 382, 384; BGH GA 1968, 370, 370. 406  So schon BGHSt 9, 230, 230 ff. 407  BGHSt 9, 230, 230 ff.; OLG Düsseldorf StV 1991, 295, 295 f.; OLG Köln StV 1998, 585, 585. 408  BayObLG StV 1982, 412, 412 f. 409  BayObLG StV 1982, 412, 413. 403 

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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gutachtens die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Zeuge auch nach der Wiederherstellung seiner Vernehmungsfähigkeit keine Erinnerung an das Tatge­ schehen haben wird. Unter Umständen kann ausnahmsweise auf die Vernehmung des unmittelbaren Zeugen verzichtet werden, wenn sicher ist, dass er seine Ver­ nehmungsfähigkeit nicht wiedererlangen wird bzw. seine Erinnerungsfähigkeit verloren hat. In bestimmten Fällen können also Hindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art der Vernehmung des unmittelbaren Zeugen entgegenstehen. So kann der Zeuge inzwischen verstorben sein, sein Aufenthaltsort kann unbekannt und nicht ermittelbar sein oder sein Aufenthaltsort kann bekannt sein, aber er weigert sich und sein Erscheinen zur Vernehmung vor dem erkennenden Gericht kann nicht erzwungen werden oder er hält sich im Ausland auf. Jedenfalls in diesen Fällen, in denen der unmittelbare Zeuge aus tatsächlichen Gründen nicht vernommen werden kann, kann der Rückgriff auf den mittelbaren Zeugen zur Aufklärung des Geschehens sogar geboten sein.410 Eine Unerreichbarkeit aus Rechtsgründen kommt in Betracht, wenn dem Zeu­ gen im Falle einer wahrheitsgemäßen Aussage eine rechtsstaatswidrige Verfol­ gung oder eine nicht abwendbare Gefahr für Leib und Leben droht, so dass er – auch wenn er erreichbar oder sogar präsent ist – nicht vernommen werden darf. Ferner ist ein Zeuge aus rechtlichen Gründen unerreichbar, wenn die zuständi­ ge Behörde eine wirksame Sperrerklärung entsprechend § 96 StPO abgibt und V-Leute daher nicht aussagen dürfen.411 Sofern der unmittelbare Zeuge nicht mehr erreichbar ist oder andere wichti­ ge Gründe der Vernehmung entgegenstehen, ist es auch im Hinblick auf § 244 Abs. 2 StPO zulässig, auf den Zeugen vom Hörensagen zurückzugreifen, weil er in dieser Konstellation das bestmögliche Beweismittel ist. § 244 Abs. 2 StPO fordert nämlich eine bestmögliche Sachverhaltsaufklärung vom Gericht und kei­ neswegs „das mit der Verfahrenswirklichkeit unvereinbare Gebot, über alle be­ weiserheblichen Tatsachen maximal Beweis zu erheben.“412 § 244 Abs. 2 StPO statuiert auch kein allgemeines Verbot, mittelbare und damit sachfernere Beweise zu verwenden.413 Ein solches Verbot und damit der völlige Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen, wie sie die Vertreter der absoluten The­ orie befürworten, würden die Sachaufklärung erschweren und die Ermittlung der materiellen Wahrheit in Einzelfällen unter Umständen unmöglich machen.414 Die 410 

Krainz, GA 1985, 402, 406. Näher dazu Joachim, S. 215 f. und 238 f. sowie Krainz, GA 1985, 402, 406 ff.; siehe auch Fischer, in: Karlsruher Kommentar, § 244 Rn. 172 f. 412  Schlüchter, Rn. 472. 413  BVerfGE 57, 250, 277; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 184; Schmitt, in: Meyer-Goß­ ner/Schmitt, § 244 Rn. 12; Schlüchter, Rn. 472. 414  Ablehnend auch Henkel, S. 343; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 26 und Löhr, S. 79 f. 411 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen kann also durchaus geboten sein.415 Dies gilt nicht nur für die Fälle, in denen er das einzige verfügbare Beweismittel ist, sondern er kann stets auch neben dem unmittelbaren Zeugen vernommen werden, da seine Bekundungen mitunter wichtige Schlüsse auf den Beweiswert der Aussage des unmittelbaren Zeugen zulassen.416 Dabei mag die Aussage des Zeugen vom Hörensagen zwar einen geringeren Beweiswert als die Aussage des unmittelbaren Zeugen haben, aber der Beweiswert ist eine Frage der Beweiswür­ digung und die Unzuverlässigkeit hat mit der Frage der Zulässigkeit nichts zu tun.417 Jedenfalls kann der Hörensagenbeweis, indem man ihn als Indiz für die Wahrheit der Aussage des unmittelbaren Zeugen heranzieht, gerade bei Kindern und Personen mit Erinnerungslücken durchaus zur Aufklärung beitragen. Neben den bereits oben erwähnten typischen Fällen mit Hindernissen tatsäch­ licher oder rechtlicher Art für die Vernehmung des unmittelbaren Zeugen kann es bestimmte Fallkonstellationen geben, in denen das Gericht auf die Vernehmung des verfügbaren unmittelbaren Zeugen verzichten und direkt auf den Zeugen vom Hörensagen zurückgreifen darf, ohne seine Aufklärungspflicht zu verletzen. Es versteht sich von selbst, dass diese Fälle mit Blick auf das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung auf ein absolutes Minimum zu beschränken sind. Hier kommen insbesondere Kinder und Kleinkinder in Betracht. Ein dreijähriges Kind wird sich nach einiger Zeit vermutlich nicht an eine Vergewaltigung erinnern können, so dass es als Zeuge unbrauchbar sein kann. Abgesehen davon, dass auch die Atmosphäre des Gerichtsverfahrens das Kind überfordern kann, erscheint die Mutter möglichweise als bessere Zeugin, um darüber zu berichten, was das Kind ihr gegenüber unmittelbar nach der Tat und damit aus frischer Erinnerung berich­ tet hat.418 Entscheidend sind aber stets die Umstände des Einzelfalles, die genau geprüft werden müssen. Der häufig pauschal vorgebrachte Einwand, die Mutter sei als Zeugin geeigneter und das Kind werde sich aufgrund seines Alters nicht erinnern, kann unter Umständen nicht durchgreifen, da die psychologische Fach­ literatur belegt, dass auch sehr junge Kinder häufig mehr wahrnehmen, erinnern und wiedergeben können, als ihnen allgemein zugetraut wird.419 Auch die häufig gegen eine (erneute) unmittelbare Vernehmung des Kindes apodiktisch vorgetragenen Bedenken, das Kind könnte durch den erneuten Be­ 415 

Detter, NStZ 2003, 1, 3; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 26. Henkel, S. 343; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 26; Löhr, S. 79: „Indiz bestätigender Art neben der Aussage des Tatzeugen“. 417  Ausführlich zur Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen unten Kapitel B. IV. und V.; vgl. auch Grünwald, JZ 1966, 489, 493, der diesen Grundsatz aber in § 250 StPO ver­ ankert sieht: „Insoweit handelt es sich um das Gebot, die verlässliche Beweiserhebung vorzunehmen, nicht aber um den Ausschluß unverläßlicher Beweismittel“. 418  Schneidewin, JR 1951, 481, 482. 419  Näher dazu oben B. II. 3. 416 

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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richt über (möglicherweise) traumatische Erlebnisse psychische Schäden davon tragen, überzeugen nicht. Denn hier werden die psychologischen Möglichkeiten und die – zum Teil neuen – rechtlichen Vorkehrungen zum Schutz des Kindes nicht angemessen berücksichtigt: Hier kommt ein Ausschluss der Öffentlichkeit oder unter den Voraussetzungen des § 247 Satz 1 StPO auch des Angeklagten zum Schutz des Kindes während der Vernehmung in Betracht, eine Zeugenver­ nehmung mittels audiovisueller Übertragung gem. § 247a StPO oder eine kind­ gerechte Vernehmung durch den Richter, § 241a StPO, die auch in Anwesenheit einer Psychologin in kindgerechter Umgebung stattfinden kann.420 Auch Löhr betrachtet es in bestimmten Einzelfällen als vorzugswürdig, direkt auf den Zeugen vom Hörensagen anstatt erst auf den Originalzeugen zurückzu­ greifen.421 Sie wendet sich gegen ein „abstrakt-formales Prinzip des bestmögli­ chen Beweises mit dem sachlich durch nichts gerechtfertigten bedingten Verbot des Zeugnisses vom Hörensagen“422 und untermauert ihre Ansicht mit folgendem Beispiel:423 Ein Mann, auf den ein Mordanschlag verübt worden war, hat seinem Freund unmittelbar nach der Tat darüber detailliert berichtet und verliert kur­ ze Zeit später infolge einer Krankheit weitgehend sein Erinnerungsvermögen. Würde man das Prinzip des bestmöglichen Beweises abstrakt-formal verstehen, dann wäre das Gericht auch hier in einem Strafverfahren verpflichtet, den un­ mittelbaren Tatzeugen zu vernehmen, wenngleich nicht zu erwarten ist, dass er sachdienliche Angabe machen kann. Die Vernehmung des Freundes wäre nach diesem Prinzip unzulässig, solange nicht zugleich auch das Opfer als unmittel­ barer Zeuge vernommen wird, obwohl das Gericht sich nur von der Aussage des Freundes eine Aufklärung verspricht. Dieses Beispiel, wenngleich es sehr konstruiert wirkt, und auch das Mutter/ Kind-Beispiel machen deutlich, dass das Festhalten an einem formalen Prinzip des bestmöglichen Beweises – dass stets erst der Originalzeuge vernommen werden muss, bevor auf den Zeugen vom Hörensagen zurückgegriffen werden kann – die Aufklärung des Sachverhalts nicht fördert, sondern unter Umständen verzögert und dem unmittelbaren Zeugen unnötige Unannehmlichkeiten bereitet. Die bestmögliche Sachaufklärung lässt sich hier ausnahmsweise am besten allein durch die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen erzielen. Die Vernehmung des Originalzeugen ist hier nicht zwingend geboten, so dass darauf ausnahms­

420  Bevor die Vernehmung der einzigen Belastungszeugin, die unter einer Traumatisie­ rung leidet, durch Zeugen vom Hörensagen ersetzt wird, sind die sonstigen Möglichkeiten zu prüfen, vgl. dazu BGH, Urteil vom 12. 06. 2002 – 2 StR 107/02 –, juris (= BGH StV 2002, 635 ff.). 421  Löhr, S. 80. 422  Löhr, S. 84, vgl. dort auch S. 79 ff. 423  Löhr, S. 80.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

weise verzichtet werden kann, ohne die Amtsaufklärungspflicht des § 244 Abs. 2 StPO zu verletzen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Zulässigkeit des Zeugen vom Hö­ rensagen eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO ist.424 Der Zeuge vom Hörensagen ist kein unzulässiges Beweismittel, denn er kann durchaus zur Wahrheitsfindung beitragen.425 Aus diesem Grund darf auch ein Beweisantrag nicht einfach mit der Begründung abgelehnt werden, ein Zeuge vom Hörensagen sei ein ungeeignetes Beweismittel.426 Denn er kann zweifellos neben dem Originalzeugen gehört werden – er muss aber nicht zwingend ergän­ zend gehört werden.427 Grundsätzlich darf sich das Gericht nicht damit begnügen, den Zeugen vom Hörensagen anstelle des unmittelbaren Zeugen zu vernehmen, dies kann aber in bestimmten Fallkonstellationen sinnvoll sein428.429 Der Zeuge vom Hörensagen kann sogar zum bestmöglichen Beweismittel werden, wenn bei­ spielsweise der unmittelbare Zeuge nicht verfügbar ist. 3.   Die freie Beweiswürdigung nach § 261 StPO Vereinzelt wird § 261 StPO als Einwand gegen die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen vorgebracht. Nach § 261 StPO entscheidet über das Ergebnis der Beweisaufnahme das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhand­ lung geschöpften Überzeugung. Mit Blick auf diesen Wortlaut wurde schon 1933 von Schaefer betont, dass über das Ergebnis der Beweisaufnahme ausschließlich das erkennende Gericht entscheide, weshalb der Zeuge vom Hörensagen unzulässig sei.430 Gegen diesen Grundsatz werde nämlich verstoßen, wenn ein Zeuge vom Hörensagen über den Inhalt der Äußerung eines Dritten berichte, da der Zeuge vom Hörensagen in die­ ser Konstellation nicht nur von ihm wahrgenommene Tatsachen erzähle, sondern zugleich auch ein Urteil über die Glaubwürdigkeit des Dritten abgebe: Er ziehe, 424  Güntge, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 862; so auch Detter, NStZ 2003, 1, 2; Henkel, S. 343. 425  A. A. Seebode/Sydow, JZ 1980, 506, 515: Jeder Zeuge vom Hörensagen sei auszu­ schließen. 426  BGH NStZ 1999, 578. 427  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1031. 428  Güntge, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 862; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 5 m. w. N.; Schneidewin, JR 1951, 481, 482; a. A., wonach verfügbare Zeugen nicht durch Zeugen vom Hörensagen ersetzt werden dürfen: Grünwald, in: FS Dünnebier, S. 347, 353; Mehle, in: FS Grünwald, S. 351, 358 f. (Vernehmung von Verhörspersonen); Peters, Strafprozeß, S. 317 f. 429  Prozessual bedeutet dies, dass das Gericht erhöhten Darlegungspflichten nachkom­ men muss, BGH StV 1988, 91 mit Anm. Strate; siehe auch Dahs, Revision, Rn. 263. 430  Schaefer, S. 64 f.; jedenfalls bei anonymen Gewährsmännern, S. 52 ff., 63 f.

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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wenn es um die inhaltliche Richtigkeit der Aussage des Dritten gehe, Schlussfol­ gerungen und nehme somit die Rolle des „Urteilers“ ein und damit eine Tätig­ keit wahr, die zu dem „Rechtsprechungsgeschäft des Richters“ gehöre.431 Dieser Ansatz wurde in neuerer Zeit von Seebode/Sydow aufgegriffen.432 Diese sind im Übrigen der Ansicht, da durch den Zeugen vom Hörensagen die Aussage eines nicht anwesenden Dritten in den Prozess eingeführt werde und damit nicht das, was der Zeuge selbst wahrgenommen habe, dass hierin ein Verstoß gegen den nu­ merus clausus der Beweismittel zu sehen sei.433 Sie vertreten die Auffassung, das Gericht müsse sich von der persönlichen Glaubwürdigkeit des Dritten stets – und damit nicht nur in Fällen, in denen die Identität des Dritten unbekannt ist, wie es der BGH fordert – ein Bild machen können.434 Zweifellos kann der Beweiswert ei­ ner Person besser beurteilt werden, wenn man die Person in der Aussagesituation live erlebt, ihr Aussageverhalten beobachtet und einen Eindruck von der Persön­ lichkeitsstruktur, dem Alter, den kognitiven Fähigkeiten, der affektiven Einbin­ dung in das Geschehen435 und auch der Entstehung und Entwicklungsgeschichte der Aussage, insbesondere einer möglichen Motivation, den Angeklagten zu be­ lasten,436 bekommt. Dass all dies nur schwer beurteilt werden kann, wenn der unmittelbare Zeuge nicht zugegen ist, spricht aber nicht für den Ausschluss des mittelbaren Zeugen, solange sich das Gericht der Grenzen seiner Erkenntnismög­ lichkeit und der „begrenzten Zuverlässigkeit des Zeugnisses vom Hörensagen“437 bewusst ist, den Beweiswert besonders sorgfältig und kritisch prüft438 und dies 431 

Schaefer, S. 26 ff.; siehe auch S. 36 ff. Seebode/Sydow, JZ 1980, 506, 509 ff. 433  Seebode/Sydow, JZ 1980, 506, 511 ff. 434  Seebode/Sydow, JZ 1980, 506, 510. 435  Sander, in: Löwe-Rosenberg, § 261 Rn. 81b m. w. N. 436  Sander, in: Löwe-Rosenberg, § 261 Rn. 81e m. w. N. 437  BVerfG NStZ 1995, 600, 600 (zum gesperrten verdeckten Ermittler). 438  BVerfGE 57, 250, 292 f.; BVerfG NJW 1981, 1719, 1725: „Allerdings stellt die nur begrenzte Zuverlässigkeit des Zeugnisses vom Hörensagen besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung, da die jedem Personalbeweis anhaftenden Fehlerquellen sich da­ durch erheblich verstärken, daß die Qualität des Beweisergebnisses zusätzlich von der Zu­ verlässigkeit des Beweismittlers abhängt. Die Rechtsprechung hat die damit verbundenen Richtigkeitsrisiken insbesondere beim anonym gebliebenen Gewährsmann, dessen Wis­ sen durch einen Zeugen vom Hörensagen eingeführt wird, nicht übersehen und verlangt, daß der Beweiswert derartiger Bekundungen besonders kritisch zu überprüfen ist. Dabei genügen die Angaben des Gewährsmannes regelmäßig nicht, wenn sie nicht durch andere, nach der Überzeugung des Fachgerichts wichtige Gesichtspunkte bestätigt werden; das Gericht muß sich der Grenzen seiner Überzeugungsbildung stets bewußt sein, sie wahren und dies in den Urteilsgründen zum Ausdruck bringen.“; BVerfG NJW 1996, 448, 449; BGHSt 17, 382, 385 f.; 36, 159, 166; 46, 93, 105 f.; 49, 112, 119 f.; BGH NStZ 1988, 144; BGH StV 2008, 236, 237; siehe auch Sander, in: Löwe-Rosenberg, § 261 Rn. 83a, dort insbesondere m. w. N. in Fn. 605. 432 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

auch in den Urteilsgründen zum Ausdruck bringt, woran die Revisionsgerichte – sowie auch das BVerfG mit Blick auf ein faires Verfahren439 – zu Recht strenge Anforderungen stellen.440 Früher wurde durch strenge Beweisregeln genau festgelegt, welcher Beweis­ wert einem Beweismittel zukam, was durch die Einführung des Prinzips der frei­ en richterlichen Beweiswürdigung überholt wurde. Allerdings hat der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahr 1962 den Grundsatz aufgestellt, dass Feststel­ lungen zulasten des Angeklagten aufgrund von Angaben eines Zeugen vom Hö­ rensagen nur getroffen werden dürfen, wenn „diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte bestätigt“441 werden. Dieser Grundsatz kann durchaus als Beweisregel bezeichnet werden442 und es ist auch allgemein anerkannt, dass dem Zeugen vom Hörensagen „nur ein eingeschränkter Beweiswert“443 zukommt. Neben den zahlreichen Schwächen, die dem Zeugenbeweis immanent sind, kommt also durch den Zeugen vom Hörensagen ein weiteres Glied in der Beweis­ kette und damit auch eine weitere wesentliche Fehlerquelle hinzu; der U.S. Su­ preme Court spricht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1913 auch davon, dass der Zeuge vom Hörensagen die Wahrscheinlichkeit von Fehlern massiv erhöhe.444 Dementsprechend gilt, wenn die Zahl der Zwischenglieder in der Beweisführung wächst, was vor allem in Fällen mit anonymen Gewährsleuten von Bedeutung ist, das Gebot äußerster Vorsicht bei der Beweiswürdigung in besonderem Maße.445 439  BVerfG NJW 1992, 168; NStZ 1995, 600, 600 (jeweils zum gesperrten verdeckten Ermittler); vgl. auch BVerfG NJW 2001, 2245, 2246 f. 440  Vgl. dazu auch Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 28; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 250 Rn. 5; Miebach, NStZ-RR 2014, 233, 236 f. 441  So BGHSt 17, 382, 386; ebenso BVerfG NJW 1996, 448, 449; BGHSt 42, 15, 25 f.; 45, 321, 340; 49, 112, 119 f.; BGH StV 1994, 413, 413; BGH, Beschluss vom 20. 10. 2010 – 2 StR 377/10 –, juris; BGH, Beschluss vom 10. 06. 2013 – 5 StR 191/13 –, juris Rn. 5 m. w. N. (Angaben der früheren Vernehmungsbeamten zum Inhalt der früheren Aussagen des ehe­ maligen Mitangeklagten); ebenso BGH, Beschluss vom 09. 04. 2013 – 5 StR 138/13 –, juris, wo der Angeklagte gegenüber einer Zeugin die Tat gestanden haben soll, die sodann den Angeklagten belastete; siehe auch BVerfG NJW 1996, 448, 449; Sander, in: Löwe-Rosen­ berg, § 261 Rn. 83a, dort insbesondere in Fn. 601 w. N.; siehe zur Darstellung im Urteil Detter, NStZ 2003, 1, 8. 442  So jedenfalls Sander, in: Löwe-Rosenberg, § 261 Rn. 83. 443  BGH, Beschluss vom 04. 03. 2003 – 4 StR 543/02 –, juris (st. Rspr.); siehe auch BGH StV 2003, 604, 605. 444  Donnelly v. United States, 228 U.S. 243, 272 (1913): „very greatly multiply the pro­ babilities of error“. 445  BGHSt 34, 15, 18; vgl. auch BGHSt 17, 382, 385: „Bei einem Zeugen vom Hörensa­ gen besteht zunächst ganz allgemein eine erhöhte Gefahr der Entstellung oder Unvollstän­ digkeit in der Wiedergabe von Tatsachen, die ihm von demjenigen vermittelt worden sind, auf den sein Wissen zurückgeht. Je größer die Zahl der Zwischenglieder, desto geringer ist der Beweiswert der Aussage. Schon dieser Gesichtspunkt mahnt zur Vorsicht.“; siehe

IV.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen

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Die Gefahren, die der Wahrheitsfindung unter Umständen von mittelbaren Be­ weisen drohen, können also durch die freie Beweiswürdigung gebannt werden, indem der Richter den Beweis besonders kritisch würdigt und ihm lediglich einen untergeordneten Beweiswert beimisst.446 Der Zeuge vom Hörensagen kann nur bekunden, was ihm erzählt wurde bzw. was er gehört hat, er kann aber nicht aus eigenem Erleben berichten, ob das Er­ zählte auch der Wahrheit entspricht.447 Diesen Schluss zu ziehen und damit die Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen zu beurteilen, ist ureigenste Aufgabe des Richters, die aber durch den Zeugen vom Hörensagen auch nicht infrage ge­ stellt wird. Im Fokus des § 261 StPO steht die Beweiswürdigung. Da zwischen der Beweisgewinnung bzw. Beweisheranziehung einerseits und der Beweiswür­ digung andererseits zu differenzieren ist, lässt sich diese Norm nicht als Argu­ ment gegen den Zeugen vom Hörensagen vorbringen. Vielmehr spricht sie eher für die Zulässigkeit des Hörensagenbeweises, solange das Gericht seiner Pflicht zur Beweiswürdigung nachkommt. Allerdings stellt sich das Problem, die Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen zu beurteilen: Neben der Glaubwürdigkeit des Zeugen vom Hörensagen muss nämlich gerade die Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen beurteilt werden, ohne dass das Gericht letzteren direkt befragen, ihn bei seiner Aussage beobachten und sich damit ein persönliches Bild machen kann. Es ist also eine doppelte Glaubwürdigkeitsbeurteilung erforderlich, da das Gericht die Glaub­ würdigkeit des unmittelbaren Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Angaben „nicht originär, sondern nur vermittelt über Berichte anderer“448, quasi durch die „Zwischenschaltung eines Filters“449 beurteilen kann.450 Das Gericht selbst muss die Glaubwürdigkeit des Dritten beurteilen und darf die Einschätzung des Zeu­ gen vom Hörensagen nicht einfach unreflektiert übernehmen.451 auch zum Spezialfall der Vernehmung von Verhörpersonen bei behördlich geheim gehal­ tenen V-Männern: BGHSt 36, 159, 166: „Auf die Angaben des Informanten kann eine ent­ sprechende Feststellung regelmäßig nur dann gestützt werden, wenn diese Bekundungen durch andere, nach der Überzeugung des Tatrichters wichtige Beweisanzeichen bestätigt werden.“; so auch BVerfG NStZ 1995, 600, 600 (zum gesperrten verdeckten Ermittler). 446  Kritisch dazu wohl Grünwald, JZ 1966, 489, 493, der auch Bezug auf die hearsay rule nimmt. 447  Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 27. 448  BGHSt 50, 11, 15. 449 Vgl. Krainz, GA 1985, 402, 412. 450  Siehe auch Geppert, Jura 1991, 538, 539: „Doppelung der Glaubwürdigkeitsbeurtei­ lung“; Stüber, S. 136 „Fremdglaubwürdigkeitsbeurteilung“; besonders kritisch Seebode/ Sydow, JZ 1980, 506, 509 ff. 451  BGHSt 17, 382, 385; 29, 109, 111; 34, 15, 20; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 27; Sander, in: Löwe-Rosenberg, § 261 Rn. 29.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Dies gilt nach richtiger und absolut herrschender Ansicht für alle Konstellatio­ nen des Zeugen vom Hörensagen;452 die erhöhten Anforderungen gelten also nicht nur, wenn ein Beamter die Äußerungen eines dem Gericht und den übrigen Ver­ fahrensbeteiligten unbekannten Gewährsmannes, wie beispielsweise eines ver­ deckten Ermittlers oder einer gesperrten V-Person bekundet, sondern auch wenn der Zeuge vom Hörensagen eine Privatperson ist, die zufällig bestimmte Äuße­ rungen des unmittelbaren Zeugen wahrgenommen hat und diese nun bekundet. Schließlich haften allen Zeugen vom Hörensagen die gleichen Schwächen an. Al­ lerdings kann das Gericht unter Umständen – trotz Risiken und Schwierigkeiten – die Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen beurteilen, wenn diese Person bekannt ist,453 was bei einem anonymen Gewährsmann oder bei anderen unbe­ kannten Personen vollkommen ausgeschlossen ist.454 Geringere Anforderungen sind unter Umständen zu stellen, wenn der Zeuge namentlich bekannt ist oder auch schon in der früheren Instanz vernommen werden konnte, wenn er sich bei­ spielsweise erst in der Berufungsverhandlung auf ein Auskunftsverweigerungs­ recht beruft.455 Es bleibt also festzuhalten, dass vor allem wegen der erheblich erschwerten Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben des Dritten456 beim Zeugen vom Hörensagen an die Beweiswürdigung erhöhte Anforderungen gestellt werden. § 261 StPO statuiert also nicht mehr und nicht weniger, als dass das Gericht die Aussage des Zeugen vom Hörensagen in besonderem Maß kritisch hinterfragt; zu einem Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen führt diese Norm jedenfalls nicht.457

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetzund der Europäischen Menschenrechtskonvention Nachdem die Auslegung des § 250 StPO sowie des § 244 Abs. 2 StPO und des § 261 StPO keine Anhaltspunkte für die Unzulässigkeit des Zeugen vom Hö­ 452  Siehe nur Sander, in: Löwe-Rosenberg, § 261 Rn. 83a m. w. N.; anders aber Detter, NStZ 2003, 1, 9, der erhöhte Anforderungen an die Beweiswürdigung nur bei V-Männern oder sonst gesperrten Zeugen stellt. 453  Siehe auch Schaefer, S. 52 ff.; besonders kritisch Seebode/Sydow, JZ 1980, 506, 509 ff. 454  Stüber, S. 136, dort insbesondere Fn. 556. 455 OLG Koblenz (Vernehmung der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft, da sich der Zeuge in zweiter Instanz auf sein Auskunftsverweigerungsrecht berufen hat) StV 2007, 519, 519 f. 456  BGHSt 45, 203, 208; BGH StV 2003, 604, 605; 2008, 236, 237. 457  So die h. M., siehe statt aller Krainz, GA 1985, 402, 405 f.

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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rensagen geliefert hat, stellt sich die Frage, ob sich diese möglicherweise durch gesetzliche Wertentscheidungen außerhalb der Strafprozessordnung ergibt. Hier kommen das Grundgesetz und die Europäische Konvention zum Schutz der Men­ schenrechte und Grundfreiheiten in Betracht. Die Strafprozessordnung wird häufig selbst als ein „Ausführungsgesetz zum Grundgesetz“ bezeichnet.458 Ein Verbot des Zeugen vom Hörensagen könnte sich also aus der verfassungskonfor­ men Auslegung des § 250 StPO oder unmittelbar aus dem Grundgesetz ergeben. Als entsprechende Normen kommen der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG, die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und das Rechts­ staatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG in Betracht. 1.   Der Anspruch auf rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG Der Anspruch auf rechtliches Gehör „ist nicht nur ein ‚prozessuales Urrecht‘, sondern auch ein objektiv-rechtliches Verfahrensprinzip und für ein rechtsstaat­ liches Verfahren konstitutiv.“459 Dem Recht auf Gehör kommt also ein Doppel­ charakter zu.460 Als jedenfalls grundrechtsgleiches Recht461 ist es eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips462 nach Art. 20 Abs. 3 GG und des Men­ schenwürdesatzes463 nach Art. 1 Abs. 1 GG. Es sichert die Einhaltung rechtsstaat­ licher Mindeststandards.464 „Der Einzelne soll nicht nur Objekt der richterlichen Entscheidung sein, sondern vor einer Entscheidung (…) zu Wort kommen, um als Subjekt Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können.“465 Das Gericht darf seiner Entscheidung also nur solche Tatsachen zugrunde le­ gen, zu denen die Beteiligten die Gelegenheit hatten, sich zu äußern466 – unabhän­ gig davon, ob sie diese Gelegenheit auch genutzt haben467. 458  Diese Formulierung wird verschiedenen Urhebern zugeschrieben; sie findet sich beispielsweise bei Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, S. 910; vgl. auch BVerfGE 32, 373, 383 und BGHSt 19, 325, 330: „angewandtes Verfassungsrecht“. 459  BVerfGE 107, 395, 408 unter Bezugnahme auf BVerfGE 55, 1, 6; siehe zum prozes­ sualen Urrecht auch BVerfGE 6, 12, 14; 9, 89, 96; 70, 180, 188; 107, 395, 408. 460  Degenhart, in: Sachs, Art. 103 Rn. 2; vgl. auch Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 103 Rn. 1. 461  Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 103 Rn. 1; Degenhart, in: Sachs, Art. 103 Rn. 2; siehe auch BVerfGE 9, 89, 95: „Der in Art. 103 Abs. 1 GG zum Grundrecht erhobene Grundsatz des rechtlichen Gehörs (…)“. 462  BVerfGE 9, 89, 95; 39, 156, 168; 74, 220, 224. 463  BVerfGE 55, 1, 6; 63, 332, 337. 464  BVerfGE 107, 395, 407. 465  BVerfGE 107, 395, 409; siehe auch BVerfGE 9, 89, 95 sowie Höfling, in: Sachs, Art. 1 Rn. 15. 466  BVerfGE 6, 12, 14. 467  Vgl. dazu auch BGHSt 13, 123, 125.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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Beim Recht auf Gehör ist zwischen drei Stufen – Information, Äußerung und Berücksichtigung – zu differenzieren.468 Die erste Stufe dieses Rechts stellt die Mitteilungs- und Informationspflicht des Gerichts dar.469 Denn nur wenn man hinreichende Kenntnis von verfahrensrelevanten Vorgängen hat, kann man sich überhaupt äußern. Diese Möglichkeit, sich zum Verfahrensstoff zu äußern, bildet die zweite Stufe, auf die die Berücksichtigung bzw. Begründung als dritte Stufe folgt.470 Letztere verpflichtet das Gericht, die Ausführungen des Beschuldigten „zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen“471 und seine Entscheidung grundsätzlich zu begründen.472 Vorliegend ist ausschließlich die zweite Stufe, das Recht sich zu äußern, von Bedeutung. Denn schon aus diesem Recht folgt ein (Grund-)Recht auf effektive Verteidigung im Strafprozess.473 Der Angeklagte soll sich nicht darauf beschränken müssen, sich passiv – also nur in abwehrender, reagierender Weise – zu verteidigen, sondern er muss auch aktiv und „angriffs­ weise durch Vorbringen günstiger Tatsachen und Beweismittel“474 „Einfluss auf das Verfahren nehmen können“475. Dieses Recht darf, wie Walther kritisch an­ merkt, „nicht im luftleeren Raum“ schweben, sondern es „muss Wirkung entfal­ ten können“476, d. h. der Angeklagte muss „echte Chancen“ haben, das Verfahren zu beeinflussen477. Dieses vom Grundgesetz garantierte Recht wird wiederum durch einzelne Normen der Strafprozessordnung für die Hauptverhandlung konkretisiert: Nach § 243 Abs. 2 und Abs. 4 StPO hat der Angeklagte das Recht, sich zur Person und zur Sache zu äußern, nach § 257 Abs. 1 StPO kann er nach jeder einzelnen Beweis­erhebung eine Erklärung abgeben und er hat gem. § 258 Abs. 3 StPO das letzte Wort478.479 Für den Zeugen vom Hörensagen kommt vor allem dem § 240 468 

BVerfGE 107, 395, 409; näher dazu Degenhart, in: Sachs, Art. 103 Rn. 11. NJW 1998, 3788. Auch zu nennen sind die Hinweispflichten des Gerichts nach § 265 StPO. Ferner muss der Angeklagte aufgrund von Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK über die rechtliche Bewertung des ihm vorgeworfenen Sachverhalts genau und vollständig informiert werden. 470  Degenhart, in: Sachs, Art. 103 Rn. 11. 471  BVerfGE 86, 133, 145. 472  Degenhart, in: Sachs, Art. 103 Rn. 11 und Rn. 40. 473 Grundlegend Spaniol, S. 212 ff., 219 ff. 474  BVerfGE 7, 275, 278 f.; Tiedemann, JuS 1965, 14, 19. 475  BVerfGE 65, 171, 174 f.; 64, 135, 145; 66, 313, 318; siehe auch Walther, GA 2003, 204, 221 f. 476  Walther, GA 2003, 204, 221 (Hervorhebung im Oroginal). 477  Walther, GA 2003, 204, 221; vgl. auch Degener, StV 2002, 618, 621; früher schon Eser, JZ 1966, 660, 668; vgl. auch Rüping, Rechtliches Gehör, S. 149 ff. m. w. N. 478  BVerfGE 54, 140, 141 f.; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 103 Rn. 52. 479  Siehe zu den Rechten auch Roxin/Schünemann, § 18 Rn. 8. 469  BGH

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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Abs. 2 StPO eine besondere Bedeutung zu. Auch das darin normierte Recht, Fragen an Zeugen zu stellen, ist eine besondere Ausprägung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.480 Aber auch durch die Vernehmung des Zeugen vom Hören­ sagen werden weder das Fragerecht nach § 240 Abs. 2 StPO noch der Anspruch auf rechtliches Gehör beschränkt. Der Angeklagte bzw. sein Verteidiger können hier nämlich sehr wohl an den Zeugen, auch wenn er nur mittelbarer Zeuge ist, Fragen stellen und Stellungnahmen abgeben. Vor allem in Fällen, in denen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten die Identität und Personalien des unmittel­ baren und mittelbaren Zeugen bekannt sind, kann die Verteidigung nicht nur die Glaubhaftigkeit der Aussage des Zeugen vom Hörensagen, sondern auch dessen und sogar die Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen infrage stellen, wenn­ gleich dies in dieser Konstellation für die Verteidigung schwieriger sein dürfte, als wenn man den unmittelbaren Zeugen direkt befragen würde. Diese mittelbare Beweisführung kann – wie jede andere Art der mittelbaren Beweisführung, ob­ wohl sie oft an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sind – durchaus als „anklä­ gerfreundlich“ bezeichnet werden.481 Die Verteidigung kann – auch durch entsprechende Beweisanträge – aktiv auf den weiteren Verlauf des Verfahrens Einfluss nehmen. Ferner kann die Verteidi­ gung auf die Risiken, die mit einer mittelbaren Beweisführung verbunden sind, hinweisen, die aber ohnehin schon im Hinblick auf das Revisionsrecht vom Ge­ richt selbst berücksichtigt werden sollten, so dass dem Anspruch auf rechtliches Gehör Genüge getan wird. Komplizierter erscheint die Konstellation, wenn die Identität des unmittelba­ ren Zeugen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten nicht bekannt ist. Formal kann die Verteidigung auch hier Fragen an den Zeugen, nämlich an den Zeugen vom Hörensagen stellen. In diesem Fall ist es für die Verteidigung aber wesent­ lich schwieriger, durch eigenes Vorbringen die Glaubwürdigkeit des nicht anwe­ senden unmittelbaren Zeugen zu erschüttern, weil sie ihren Gegner nicht kennt und Anhaltspunkte, die einen entsprechenden Schluss zuließen, meistens nicht bekannt sein dürften. Zwar soll es – wie Arndt vorbringt – in einem Strafverfah­ ren keine Geheimnisse vor dem Angeklagten geben, weil das rechtliche Gehör den Angeklagten vor „jedwedem Geheimverfahren“482 schützt, doch lässt sich dieser Einwand auf den „normalen“ Zeugen vom Hörensagen nicht übertragen: Entsprechend dem Grundsatz „ultra vires nemo obligatur“ findet die „Pflicht des Strafgerichts ihre Grenzen am rechtlichen oder (und) tatsächlich Unmöglichen“483. 480 Eingehend Walther, GA 2003, 204, 219 ff.; siehe auch Britz, in: Radtke/Hohmann, § 240 Rn. 3 und Degener, StV 2002, 618, 621. 481  So ausdrücklich Walther, GA 2003, 204, 211. 482  Arndt, JZ 1963, 65, 67 (Hervorhebung im Original). 483  Tiedemann, JuS 1965, 14, 19.

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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Dementsprechend kann nur das, was das Gericht tatsächlich gewähren kann, Ge­ genstand des Anspruchs sein.484 Wenn also die Identität des unmittelbaren Zeugen auch dem Gericht nicht bekannt ist, kann aus Art. 103 Abs. 1 GG kein Anspruch auf dessen Vernehmung hergeleitet werden. Dies gilt ebenso, wenn der unmit­ telbare Zeuge verstorben oder aus sonstigen Gründen unerreichbar ist. Entschei­ dend ist hier auch, dass die Aussage des mittelbaren Zeugen nur ein Indiz darstellt. Art. 103 Abs. 1 GG geht gegenüber Indizien naturgemäß weniger weit als gegen­ über unmittelbaren Beweistatsachen und gewährt auch kein Recht auf bestimmte Beweisregeln wie etwa die Ausschließlichkeit unmittelbarer Beweiserhebung.485 Zur Bewertung dieses Indizes kann die Verteidigung allerdings durchaus Stellung nehmen und auf die Gefahren der mittelbaren Beweisführung hinweisen, sie hat im Ergebnis nicht mehr und – wie es Art. 103 Abs. 1 GG fordert – auch nicht weniger in der Hand als das (unwissende) Gericht selbst.486 Von einem „Geheim­ verfahren“ kann also keineswegs gesprochen werden.487 Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der Anspruch auf rechtliches Ge­ hör seine Grenze im tatsächlich Möglichen findet und der Zeuge vom Hörensa­ gen diesen Anspruch grundsätzlich nicht beschränkt. Anders könnte es hingegen in den sogenannten V-Mann-Fällen sein, weil hier Informationen zur Person des V-Mannes als unmittelbaren Zeugen absichtlich geheim gehalten werden.488 Da Art. 103 Abs. 1 GG eine spezielle Ausprägung des Menschenwürdesat­ zes ist und Art. 103 Abs. 1 GG für das Beweisrecht schärfere Konturen enthält, kommt durch Verwendung des Zeugen vom Hörensagen auch kein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Betracht.489 Ohnehin würde dieses Beweismittel nicht dazu führen, den Beschuldigten zum „bloßen Objekt (…) herabzuwürdigen“490.

484 

Joachim, S. 123. BVerfGE 1, 418, 429; Tiedemann, JuS 1965, 14, 19. 486  Tiedemann, JuS 1965, 14, 19; vgl. auch Stüber, S. 174. 487  So aber Geppert, Unmittelbarkeit, S. 299, der in der Beweisführung mittels unbe­ kannter V-Mann-Aussagen eine Verletzung rechtlichen Gehörs sieht; ebenso Arndt, NJW 1962, 25, 27; ders., NJW 1963, 432, 433; Meilicke, NJW 1963, 425, 428; Dahs, Rechtliches Gehör, S. 88 f.; Grünwald, JZ 1966, 489, 494. 488  Siehe dazu Stüber, S. 174. 489  Siehe dazu Geppert, Unmittelbarkeit, S. 238; Joachim, S. 126; Tiedemann JuS 1965, 14, 19. Im Übrigen gewähren die Prozessgrundrechte die Subjektstellung des Betroffenen im Verfahren selbst dort, wo eine Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG noch nicht vorliegen würde, Spaniol, S. 210 f. 490  BVerfGE 122, 248, 271; st. Rspr.: BVerfGE 27, 1, 6; 45, 187, 228; 96, 375, 399; siehe auch Höfling, in: Sachs, Art. 1 Rn. 15. 485 

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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2.   Das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG und dessen Konkretisierungen durch das Prinzip des fair trial und das Verlangen nach Waffengleichheit Das Rechtsstaatsprinzip ist „eines der elementaren Prinzipien des Grundge­ setzes“491, das durch zahlreiche Regelungen eine Konkretisierung erfahren hat. Auch der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG ist eine solche Konkretisierung, so dass für diese Teilelemente ein Rückgriff auf das allgemeine Rechtsstaatsprinzip grundsätzlich unnötig und unzulässig ist.492 Weitergehend als der Anspruch auf rechtliches Gehör gibt es „ein allgemeines Prozessgrundrecht“493 auf ein faires Verfahren, das heutzutage nicht in Art. 103 Abs. 1 GG, sondern im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht nach Art. 2 Abs. 1 GG, insbesondere in dem durch ein Strafverfah­ ren bedrohten Recht auf Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 GG, dessen frei­ heitssichernde Aufgabe auch im Verfahrensrecht Beachtung erfordert, wurzelt.494 Das Rechtsstaatsprinzip enthält „die Idee der Gerechtigkeit als wesentlichen Bestandteil“495 und fordert „eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Straf­ verfahrensrechts“.496 Das Recht auf ein faires Verfahren kann also als eine be­ sondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips bezeichnet werden,497 es ist aber wohl auch „aufs engste“498 mit der Subjektstellung des Beschuldigten verbunden. Während der fair trial-Grundsatz ausdrücklich im 5. und 14. Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung genannt wird, wurde dieser Begriff vom B ­ VerfG erstmalig in einer Entscheidung aus dem Jahre 1969 verwendet, ohne diesen nä­ her zu präzisieren.499 Das Wort „fair“ sagt an sich noch nichts über die Verfah­ rensführung aus, sondern es muss präzisiert und mit konkretem Inhalt gefüllt werden:500 Als ein unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafver­ fahrens gewährleistet das Recht auf ein faires Verfahren dem Beschuldigten – als Subjekt des Verfahrens –, aktiv verfahrensrechtliche Befugnisse wahrzunehmen 491 

BVerfGE 1, 14, 18 (Leitsatz 28); 20, 323, 331. So ausdrücklich Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn. 30a; siehe auch Sachs, in: Sachs, Art. 20 Rn. 77. 493  BVerfGE 57, 250, 275; BVerfG NJW 2001, 2245, 2246. 494  BVerfGE 122, 248, 271; BVerfG NJW 2001, 2245, 2246; siehe auch Eisenberg, Be­ weisrecht, Rn. 793. 495  St. Rspr. BVerfGE 7, 89, 92; 57, 250, 275; 74, 129, 152; 122, 248, 272. 496  BVerfGE 122, 248, 272. 497 Grundlegend Spaniol, S. 202 ff.; siehe auch Hartmann/Apfel, Jura 2008, 495, 496. 498 So Spaniol, S. 205. 499  BVerfGE NJW 1969, 1423, 1424; vgl. dazu auch Hartmann/Apfel, Jura 2008, 495, 495 f. 500  BVerGE 57, 250, 275 f.; Bottke, ZStW 96 (1984), 726, 753 f.; Spaniol, S. 202. 492 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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und Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter ange­ messen abzuwehren.501 Dieser Anspruch auf ein faires Verfahren ist durch das Verlangen nach verfah­ rensrechtlicher „Waffengleichheit“502 von Ankläger und Beschuldigtem gekenn­ zeichnet und schließt eine faire Handhabung des Beweisrechts und der verfah­ rensrechtlichen Befugnisse des Angeklagten ein503. Es hat seinen Ursprung im Parteiprozess des angelsächsischen Rechts und lässt sich in einem vom Offizi­ alprinzip und der Instruktionsmaxime beherrschten kontinentalen Strafprozess nur eingeschränkt garantieren:504 Im deutschen Recht sind zum einen sowohl der Richter als auch der Staatsanwalt keine Parteien,505 zum anderen bleibt die Waf­ fengleichheit aufgrund der staatlichen Eingriffsmaßnahmen – im Gegensatz zum US-amerikanischen Recht und vor allem im Ermittlungsverfahren,506 in dem die Ermittlungsergebnisse „einseitig unter dem Blickwinkel der Anklageerhebung zusammengetragen“ werden507 – eine Illusion; es handelt sich zwar um ein erstre­ benswertes Ziel, das aber nicht wirklich erreicht werden kann.508 Ein faires Verfahren setzt unter anderem voraus, dass der Beschuldigte aktiv auf das Verfahren Einfluss nehmen kann.509 Er muss günstige und ihn entlastende Aspekte in das Verfahren einbringen können. Hierzu zählt auch das Fragerecht des Angeklagten als ein kontradiktorisches Element in dem von der Offizial­ maxime geprägten und damit eigentlich inquisitorischen deutschen Strafverfah­ ren.510 Durch die Vernehmung von Zeugen vom Hörensagen werden die verfahrens­ rechtlichen Befugnisse des Angeklagten aber keineswegs übermäßig beschränkt. Er kann, wie schon oben erwähnt, genau wie das Gericht, die Staatsanwaltschaft oder sonstige Verfahrensbeteiligte Fragen an den anwesenden Zeugen vom Hö­ 501 

BVerfGE 38, 105, 111; 122, 248, 271 f.; BVerfG NJW 2010, 925, 925. BVerfGE 38, 105, 111; 122, 248, 272; grundlegend zum Prinzip der Waffengleich­ heit Safferling, NStZ 2004, 181 ff.; siehe auch Spaniol, S. 116 ff. und S. 229 ff.; Trechsel, ZStW 100 (1988), 667, 694 f.: „Eine markante Konkretisierung des Begriffs ‚fair trial‘ liegt im Postulat der ‚Waffengleichheit‘ (…)“. 503  BVerfG NJW 2001, 2245, 2246; vgl. auch BVerfGE 106, 28, 48; 117, 202, 240. 504  Gaede, S. 642 f.; siehe auch Trechsel, ZStW 100 (1988), 667, 694 f. 505  Safferling, NStZ 2004, 181, 184. 506  Spaniol, S. 128. 507  Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 755 f. 508  Vgl. dazu Gaede, S. 643 m. w. N. 509 Siehe zum Grundsatz der „fundamental fairness“ und des „due process“ im US-amerikanischen Recht auch LaFave/Israel/Kung/Kerr, Criminal Procedure, S. 65 ff. und 82 ff. 510  Vgl. zur „Verfahrensfairness“ und zum „Fragerecht des Angeklagten“ auch Degener, StV 2002, 618, 620 f. 502 

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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rensagen stellen und auch auf die Gefahren dieses Beweismittels aufmerksam machen. Da die Bedeutung einer Zeugenaussage, wie bereits angesprochen, von sehr individuellen Faktoren abhängig ist, ist es für den Angeklagten wesentlich schwieriger und in Einzelfällen nahezu unmöglich, die Glaubwürdigkeit des mittelbaren Zeugen und die Glaubhaftigkeit einer Aussage infrage zu stellen, wenn ihm sämtliche Hintergrundinformationen zu den prägenden Faktoren des Zeugenbeweises unbekannt sind.511 Allerdings wird der Grundsatz der Waf­ fengleichheit dadurch nicht beschränkt, weil sich dieses Problem auch den ande­ ren Verfahrensbeteiligten stellt, die somit keine überlegene Stellung haben und keinen Wissensvorsprung im Verhältnis zum Angeklagten erlangen. Schließlich findet eine „kontradiktorische Erörterung“512 statt. Eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren liegt ohnehin erst dann vor, wenn „eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben wurde“.513 Ein Verbot in Anlehnung an die US-amerikanische hearsay rule, ei­ nen Zeugen vom Hörensagen zu vernehmen, gehört aber gerade nicht zum un­ abdingbaren Kernbereich eines rechtsstaatlichen, deutschen Strafverfahrens.514 Sowohl der BGH als auch das BVerfG haben (zwar für V-Leute) wiederholt auf die Risiken der mittelbaren Beweisführung durch Zeugen vom Hörensagen hin­ gewiesen und betont, dass nur dann von einem fairen Verfahren gesprochen wer­ den könne, wenn das Gericht diese Risiken im Rahmen der Beweiswürdigung entsprechend beachtet habe: Das Gericht müsse sich „der Grenzen seiner Über­ zeugungsbildung stets bewusst sein“515 und dürfe den Angeklagten belastende Feststellungen nur dann auf den Zeugen vom Hörensagen stützen, wenn sie durch andere wichtige Gesichtspunkte und Beweisanzeichen bestätigt worden seien.516 Wenn diese Vor­raussetzungen bei der Beurteilung der Aussage eines mittelbaren Zeugen wirklich gewahrt werden, dann kann man wohl von einem fairen Verfahren sprechen, so dass kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegt.

511 

BGHSt 32, 115, 128 = BGH NJW 1984, 247, 249 (zum V-Mann). BGHSt 51, 150, 155; BGH NStZ 2004, 505, 506; NStZ-RR 2005, 321, 321. 513  BVerfG, Beschluss vom 08. 10. 2009 – 2 BvR 547/08 –, BeckRS 2009, 39830. 514  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 239; Tiedemann, MDR 1963, 456, 458 f. 515  BVerfG NJW 2001, 2245, 2246. 516  BVerfG NJW 2001, 2245, 2246 (V-Mann); BGH NStZ-RR 2013, 287. 512 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

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3.   Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grund­ freiheiten (EMRK) vom 4. November 1950 ist ein völkerrechtlicher Vertrag517, der am 3. September 1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getre­ ten ist.518 Die EMRK bindet als völkerrechtlicher Vertrag die Vertragsstaaten.519 Die nationale Umsetzung der Vertragspflichten obliegt somit den Mitgliedstaa­ ten, wobei die Inkorporation als einfachgesetzliches Recht oder auch – wie bei­ spielsweise in Österreich – mit Verfassungsrang erfolgen kann.520 In Deutschland kommt der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag der Rang von (einfachem) Bun­ desrecht zu.521 Die Konvention will bestehendes nationales Recht nicht umge­ stalten, sondern durch internationalen Rechtsschutz festigen und programmatisch verstärken522, indem sie einen Mindeststandard an Menschenrechten gewährt; einheitliches Recht in den Mitgliedstaaten fordert die EMRK gerade nicht.523 Die Vorschriften sind nicht so auszulegen, dass sie mit den bestehenden nationalen Vorschriften übereinstimmen, sondern dem Schutzzweck entsprechend erfolgt eine völkerrechtlich autonome Auslegung der Bestimmungen der EMRK durch die Mitgliedsstaaten.524 Klassischer Ausgangspunkt für die Auslegung einer Norm ist zunächst der Wortlaut, die ordinary meaning der Norm.525 Aufgrund der sprachlichen Unter­ schiede in den Mitgliedstaaten sind die authentischen Textfassungen allein die in englischer und französischer Sprache, auf die in Zweifelsfällen zurückzugreifen ist.526 Im Rahmen einer harmonisierenden Auslegung ist die Bedeutung zu er­ mitteln, die die beiden Textfassungen optimal miteinander in Einklang bringt,

517 

Gaede, S. 63 m. w. N.; Spaniol, S. 45 f. II 1952, S. 685; siehe auch zur sprachlichen Überarbeitung der deutschen Fassung BGBl. II 2002, S. 1054 ff.; BGBl. II 2010, S. 1198. 519  Statt aller Gaede, S. 63 m. w. N. 520  Näher dazu Gaede, S. 64 f. m. w. N.; Esser, in: Löwe-Rosenberg, Einf. EMRK Rn. 84. 521  BGHSt 45, 321, 328 f.; Spaniol, S. 183; näher dazu Gaede, S. 64 f. und auch Esser, in: Löwe-Rosenberg, Einf. EMRK Rn. 85 ff. jeweils m. w. N. 522  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 242; Löhr, S. 182. 523  Esser, in: Löwe-Rosenberg, Einf. EMRK Rn. 181. 524  Näher dazu Gaede, S. 79 ff.; Esser, in: Löwe-Rosenberg, Einf. EMRK Rn. 180 f. 525  Gaede, S. 81 m. w. N. 526  Auch die englische und französische Fassung sind im Bundesgesetzblatt veröffent­ licht, BGBl. II 1952, S. 685 ff. und S. 953; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 240 f.; siehe auch Gaede, S. 81 f. m. w. N.; Echterhölter, JZ 1956, 142 warnt „dringend“ „vor reiner Wort­ lautauslegung“. 518  BGBl.

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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es gilt also der Sinngehalt, der von beiden Textfassungen gedeckt ist.527 Sofern die Auslegung anhand des Wortlauts keine Klarheit bringt, ist die teleologische Auslegung, bei der die ordinary meaning in context entsprechend dem Ziel der Norm ermittelt wird, heranzuziehen.528 Fraglich ist, ob sich aus der EMRK Beschränkungen für den Zeugen vom Hörensagen ergeben. Vorliegend könnten Art. 6 Abs. 1 EMRK, das Recht auf ein faires Verfahren, sowie Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK, das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen, in Betracht kommen. Letzterer ist eine besondere Ausprägung des Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil er spezifische Anforderungen an das – eher allgemeine – Recht auf ein faires Verfahren stellt und dieses damit konkre­ tisiert.529 Es ist allgemein anerkannt, dass das Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen, zu den Mindeststandards, die dem Angeklagten durch die Menschen­ rechtspakte nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK und Art. 14 Abs. 3 lit. e IPBPR ge­ währt werden, gehört.530 a)  Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK Diese Norm gewährt jedem Angeklagten das Recht „Fragen an die Belas­ tungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen zu erwirken“. Bei der deutschen Übersetzung kommt – im Gegensatz zur englischen Text­ fassung – nicht hinreichend zum Ausdruck, dass sich der Begriff „unter densel­ ben“ Bedingungen sowohl auf das Ladungsrecht als auch auf das Fragrecht des ersten Halbsatzes bezieht.531 Es wird aber nicht nur, wie der deutsche Wortlaut – im Gegensatz zum Sixth Amendement der US-amerikanischen Verfassung, der sonst als Modell für den Art. 6 EMRK genutzt wurde („to be confronted with the witness“)532 – andeutet, ein bloßes Fragerecht gewährt, sondern die herrschende

527  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 243; Esser, in: Löwe-Rosenberg, Einf. EMRK Rn. 183 ff. 528  Näher dazu Gaede, S. 83 ff.; Geppert, Unmittelbarkeit, S. 241 f. und Esser, in: Lö­ we-Rosenberg, Einf. EMRK Rn. 188 ff. jeweils m. w. N. 529  EGMR, Urteil vom 24. 11. 1986 – 1/1985/87/134 – [Unterpertinger v. Österreich], juris (= EuGRZ 1987, 147 und NJW 1987, 3068); EuGRZ 1992, 474 „specific aspect of the general concept of fair trial“; BGH NJW 2000, 3505, 3506; Löhr, S. 174; siehe auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 243 und Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 171. 530  BGH NStZ 2004, 505, 506; Becker, in: Löwe-Rosenberg, § 240 Rn. 1 a. E. 531  Mehner, S. 111; ebenso Geppert, Unmittelbarkeit, S. 245. 532  So auch Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 773 Fn. 1961; Tiedemann, JuS 1965, 14, 20: Die EMRK und „ganz besonders“ Art. 6 EMRK ist „maßgeblich vom an­ gelsächsischen Vorstellungen“ beeinflusst, wodurch dem deutschen Prozessrecht „frem­ des Gedankengut aufgepfropft worden“ ist; siehe auch Spencer, Evidence, S. 594, 618.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Meinung leitet aus dieser Vorschrift ein Konfrontationsrecht533 ab534, das von der Strafprozessordnung nicht ausdrücklich gewährt wird. Auch die englische Text­ fassung – „to examine or have examined“535 – gewährt deutlich mehr als nur das bloße Stellen von Fragen.536 Die Begriffe „Konfrontation“ und „Konfrontationsrecht“, aber auch der Be­ griff des „Belastungszeugen“ sind dem deutschen Recht eigentlich fremd. aa)  Das Konfrontationsrecht im deutschen Strafverfahren Es gibt Stimmen in der Literatur, die – nicht ganz unberechtigte – Bedenken äußern, das Konfrontationsrecht des Beschuldigten sowie das seines Verteidigers seien im deutschen Strafverfahren, insbesondere auch in der Hauptverhandlung, viel zu schwach.537 Während im US-amerikanischen Verfahren die Zeugen der jeweils anderen Partei ins Kreuzverhör genommen werden können, um die (belastende) Aussage kritisch zu durchleuchten, ist die Stellung der Verteidigung im deutschen Straf­ verfahren deutlich schwächer ausgestaltet. Es ist aus folgenden Gründen wohl eher ein Frage- als ein Konfrontationsrecht: Die Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung liegt zuerst in der Hand des Richters, dem die Sachaufklärung obliegt. Zunächst soll der Zeuge nach § 68 Abs. 1 StPO frei berichten, was gerade unter aussagepsychologischen Gesichts­ punkten zu begrüßen ist. Es besteht also nicht die Gefahr, dass die Aussage des Zeugen durch die Art und Weise der Befragung in der Wiedergabe verfälscht wird. Nach § 68 Abs. 2 StPO sind sodann zur Vervollständigung der Aussage sowie zur Erforschung des Grundes, auf dem das Wissen des Zeugen beruht, nötigenfalls weitere Fragen zu stellen. Teilweise wird kritisiert, in der Hauptver­ handlung bestehe „ein Mißverhältnis zwischen der Passivität“ der Verteidigung 533  Nicht zu verwechseln mit der Konfrontation im engeren Sinn, d. h. einer unmit­ telbaren Gegenüberstellung mit dem Belastungszeugen; Grundlegend zum Konfrontati­ onsrecht, auch mit Hinweisen auf andere Länder: EGMR, Große Kammer, Urteil vom 15. 12. 2011 – 26766/05 und 22228/06 – [Al-Khawaja and Tahery v. United Kingdom]. 534  Näher dazu Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 773 ff. m. w. N. 535  BGBl. II 2002, S. 1058: „Everyone charged with a criminal offence has the follow­ ing minimum rights: (…) to examine or have examined witnesses against him and to obtain the attendance and examination of witnesses on his behalf under the same conditions as witnesses against him.“; siehe dort auch die französische Textfassung „interroger ou faire interroger“. 536  Walther, GA 2003, 204, 212 verdeutlicht, dass der englische Wortlaut ein aktives Hinterfragen des Wahrheitsgehalts gewährt: nicht „bloß ein schwächliches Fragerecht, sondern ein geharnischtes Recht auf Infragestellung“, S. 215 (Hervorhebung im Original). 537 So Walther, GA 2003, 204, 206 ff.

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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und „der Hyperaktivität des Vorsitzenden“.538 Bedenken gegen diese dominan­ te Rolle des Vorsitzenden bestehen aber auch gerade aus sozialpsychologischen Gründen aufgrund des sog. Inertia-Effekts539: Der Vorsitzende wird beeinflusst durch den Eröffnungsbeschluss und die damit verbundene Hypothese hinreichen­ der Verurteilungswahrscheinlichkeit sowie durch seine Kenntnis der belastenden Beweise aus den Ermittlungsakten, so dass er in seiner Einstellung zu Lasten des Angeklagten vorgeprägt ist. Der Vorsitzende wird daher nicht nur Fragen stellen, die diese belastende Sichtweise bestätigen, sondern er wird vielmehr auch Entlas­ tendem, das erst im späteren Verlauf der Vernehmung zutage tritt, weniger Ge­ wicht beimessen.540 Aus sozialpsychologischen Gründen ist es daher perikulös, dass die Verteidigung Zeugen erst nach dem Gericht und auch nach der Staatsan­ waltschaft befragen kann.541 Erschwerend kommt hinzu, dass die Stellung der Verteidigung bei der Befra­ gung bzw. Vernehmung542 im Vergleich zum Vorsitzenden – und im Gegensatz zum US-amerikanischen Recht – wesentlich schwächer ausgestaltet ist, zumal Unterbrechungen durch den Vorsitzenden hier in wesentlich größerem Maße mög­ lich sind,543 wohingegen Unterbrechungen durch den Vorsitzenden im US-ame­ rikanischen Recht die Ausnahme darstellen, da er im gesamten Verfahren eine eher passive Rolle einnimmt.544 Hauptakteure sind vielmehr, wie für einen Par­ teiprozess typisch, die Verteidigung und die Anklage. Bei der Vernehmung von Zeugen der Gegenseite greifen die Parteien häufig auf die cross-examination zu­ rück. Zwar wird einerseits kritisiert, dass es bei diesem Kreuzverhör nicht unbe­ dingt um die Wahrheitsfindung gehe, sondern dass vielmehr der Zweikampf der 538  Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 735; siehe auch Herrmann, S. 368 ff., der für die Be­ weisaufnahme im US-amerikanischen Recht blauäugig anmerkt, die Aufgaben seien auf die Beteiligten, also auf die Anklage und die Verteidigung, so verteilt, dass „sich ein zwanglo­ ses und fruchtbares Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte“ ergebe, S. 370. Herrmann, S. 366, kritisiert, dass „die Untersuchungsfunktion des Vorsitzenden in der Hauptverhand­ lung nicht mit dem Bild der richterlichen Unparteilichkeit vereinbar ist“ und spricht, S. 369, von einer „psychologischen Überforderung“ des Vorsitzenden in der Beweisaufnahme. 539  Näher dazu Barton, Strafverteidigung, § 12 Rn. 35 ff. 540  Barton, Strafverteidigung, § 12 Rn. 37 f.; vgl. auch Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 735. 541  Hinzu kommt der sog. Schulterschlusseffekt: Der Richter wird sich bei unklarer Entscheidungslage eher an der Beurteilung des Staatsanwalts und nicht an der des Vertei­ digers orientieren, siehe dazu Barton, Strafverteidigung, § 12 Rn. 41 sowie Schünemann, StV 2000, 159, 163. 542  Degener kritisiert zu Recht, dass der Strafprozessordnung eine präzise Termino­ logie fehlt, da nicht scharf zwischen „Vernehmung“ und „Frage“ differenziert wird, StV 2002, 618, 618 Fn. 1; vgl. §§ 69 Abs. 2, 239 Abs. 2, 241a Abs. 1 und Abs. 2 StPO. 543  Dazu eingehend Degener, StV 2002, 618 ff.; siehe auch Herrmann, S. 368 ff. 544  Frankel, 23 U. Pa. L. Rev. 1031, 1041 ff. (1975); Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 733 f. und 737.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Parteien im Vordergrund stehe, den jede Partei zu gewinnen bestrebt sei,545 an­ dererseits wird das right to cross-examination in Brown v. United States als „the most efficacious test devised by the law for the discovery of truth“546 sowie als „the great and permanent contribution of the Anglo-American system of law to improved methods of trial procedure“547 bezeichnet. Es dürfte sich jedenfalls im Parteiprozess als für die Verteidigung durchaus effektives Mittel erweisen, um die Glaubhaftigkeit der Aussage oder die Glaubwürdigkeit des Belastungszeugen zu erschüttern. In einem solchen Kreuzverhör sind Nachfragen und Unterbre­ chungen des Richters nicht nur die absolute Ausnahme548, sondern es sind sogar Suggestivfragen (leading questions) zulässig.549 Zwar sieht auch die Strafprozess­ ordnung in ihrem § 239 die Möglichkeit des Kreuzverhörs vor, dieses „informelle Kreuzverhör“ sollte aber wohl eher als „Wechselverhör“ bezeichnet werden, von dem in der Praxis nur äußerst selten Gebrauch gemacht wird.550 Es kann durchaus als „Fremdkörper“551 oder als „systemfremdes Element“552 in der vom Untersu­ chungsgrundsatz geprägten Hauptverhandlung des deutschen Rechts bezeichnet werden. Statt eines wirklichen Konfrontationsrechts sollte für das deutsche Straf­ verfahren eher von einem Fragerecht gesprochen werden. Der dem angelsächsischen Recht entstammende Terminus wird häufig in das deutsche Recht übernommen. Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ist allerdings mit Blick auf die Verfahrensgerechtigkeit, das Prinzip der Waf­ fengleichheit („equality of arms“) zu gewährleisten.553 Dies ergibt sich insbeson­ dere aus den Dokumenten zur Entstehung der Regelung, in denen es heißt: „The purpose of this paragraph is to place the accused on a footing of equality with the public prosecutor, as regards the hearing of witnesses.“554 Diese Norm ist maß­ geblich vom angelsächsischen Rechtssystem geprägt, da es dort ausschließlich Aufgabe der Parteien ist, die Zeugen zu laden und vor Gericht zu befragen. In diesem Parteiprozess555 kommt dem Fragerecht des Angeklagten bzw. der Vertei­ digung ein wohl noch höherer Stellenwert zu als im von einem Untersuchungs­ grundsatz geprägten deutschen Strafverfahren. 545  Hirschberg, S. 59 f.; besonders kritisch vor allem Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 747 f. m. w. N. 546  Brown v. United States, 234 F.2d 140, 144 (6th Cir. 1956). 547  Brown v. United States, 234 F.2d 140, 144 (6th Cir. 1956) unter Verweis auf Wigmore. 548  Es sei denn, die Gegenpartei rügt die Unzulässigkeit einer bestimmten Frage. 549  Peoples, S. 169. 550  Becker, in: Löwe-Rosenberg, § 239 Rn. 1 m. w. N. 551 So Becker, in: Löwe-Rosenberg, § 239 Rn. 1. 552  Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 752. 553  Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 202 m. w. N. 554  Siehe dazu Nijhoff, S. 262; siehe auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 245 f. 555  Näher dazu unten Kapitel C. I. „Das US-amerikanische Strafverfahren“.

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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bb)  Der Belastungszeuge Im Gegensatz zum adversatorischen US-amerikanischen bzw. angelsächsi­ schen Recht, in dem die Verteidigung und die Anklage als Parteien gegenein­ ander antreten und nur die Parteien die Zeugen benennen, die in der Regel – je nachdem von welcher Seite sie benannt wurden – nur Be- oder Entlastendes be­ kunden, gibt es im deutschen Strafprozess, der von der Offizialmaxime geprägt wird, nur einen „einheitlichen“ Zeugenbegriff.556 Jedenfalls ist die formelle Un­ terscheidung zwischen Belastungs- und Entlastungszeugen der Strafprozessord­ nung fremd, wenngleich der Begriff des Belastungszeugen neuerdings in der Rechtsprechung Verwendung findet.557 Die Wortwahl wurde von den Vorstellun­ gen des angelsächsischen Parteiprozesses bestimmt, in dem die Begriffe „witness for the prosecution/prosecution witness“ und „witness for the defence/defence witness“ Termini technici sind, und stellt das Prinzip der Waffengleichheit für den Personalbeweis besonders heraus:558 Entscheidend ist also nicht, auf wessen Betreiben der Zeuge vom Gericht geladen wurde, sondern ob seine Bekundung den Angeklagten in irgendeiner Hinsicht der Anklage entsprechend belastet und für die Entscheidungsfindung herangezogen wird.559 Im Übrigen ist der Begriff des Belastungszeugen weiter zu verstehen als der Begriff des Zeugen der Straf­ prozessordnung, nämlich jals ede Aussage vor Gericht, die zur Entscheidungs­ findung herangezogen wird, so dass auch der Mitangeklagte560 Zeuge sein kann. Es gibt eine Minderheit, die für den Spezialfall des Zeugen vom Hörensagen über die Angaben geheim gehaltener V-Leute Bedenken im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK hat, da sie nur solche Personen als Belastungszeugen betrach­ tet, die „über die belastende Tatsache unmittelbare Wahrnehmungen gemacht ha­ ben“561. Eine solche Sichtweise würde aber logischerweise jede Beweisführung 556  Zum Begriff des Zeugen i. S. d. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK näher Esser, in: Löwe-­ Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 764 ff.; siehe auch Walther, GA 2003, 204, 208 Fn. 19. 557  BGH NStZ 2004, 505, 506: „Das Recht des Angekl., Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, ist durch Art. 6 IIId der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den Grundsatz des fair trial garantiert. (…) Nach den von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen hat die Zeugenvernehmung nach Art. 6 IIId EMRK grundsätzlich in öffentlicher Verhandlung mit dem Ziel einer kon­ tradiktorischen Erörterung zu erfolgen.“; BGHSt 46, 93, 97 ff. (= BGH NJW 2000, 3505, 3506); BVerfG NJW 2010, 925, 925; siehe auch BGH NStZ 1988, 423; NStZ-RR 2000, 13; vgl. auch BGH, Urteil vom 01. 02. 2005 – 1 StR 327/04 –, BeckRS 2005, 02844; Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 764. 558  Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 760. 559  Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 764. 560  BGH NStZ-RR 1996, 334; NStZ-RR 2005, 321, 321; näher dazu Esser, in: Löwe-­ Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 765 ff. 561  So ausdrücklich Guradze, EMRK, S. 109 f.; ebenso Dörr, S. 83; Grünwald, JZ 1966, 489, 494.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

durch den Zeugen vom Hörensagen ausschließen; auch mittelbare Zeugen können – zumindest theoretisch – sogar Entlastendes berichten.562 Es ist also zu fragen, ob Art. 6 EMRK mit dem Begriff des Belastungszeugen nur den unmittelbaren Zeugen erfasst. Da der Wortlaut der deutschen Textfas­ sung hierzu keinen Aufschluss liefert, ist – wie eingangs erwähnt – auf die eng­ lische und französische Fassung zurückzugreifen. Die englische Fassung spricht von einem „witnesses against him“ und die französische Fassung563 von „témoins à charge“. Aus diesen Termini kann nicht hergeleitet werden, dass der Begriff des Belastungszeugen nur unmittelbare Tatzeugen erfasst und damit – auch für die Auslegung der deutschen Strafprozessordnung – der Zeuge vom Hörensagen ein unzulässiges Beweismittel wäre. In diesem Zusammenhang soll ein kurzer Blick auf das französische Strafver­ fahrensrecht und die Bedeutung des Zeugen vom Hörensagen im französischen Strafverfahren geworfen werden. cc)  Exkurs: Das französische Strafverfahren Da die beiden authentischen Textfassungen der EMRK auf Englisch und Fran­ zösisch verfasst sind, darf auch das französische Recht an dieser Stelle nicht unbe­ rücksichtigt bleiben, da man durchaus annehmen kann, dass auch das französische Recht einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die EMRK gehabt haben dürfte. Das französische Strafverfahren ist grundsätzlich inquisitorisch geprägt.564 Dem Untersuchungsgrundsatz (principe de la vérité matérielle)565 entsprechend nimmt der Richter bei der Ermittlung der materiellen Wahrheit eine aktive Rol­ le ein und hat damit im gesamten Verfahren eine starke Stellung inne.566 Im französischen Strafverfahrensrecht, dem Code de procédure pénale (CPP), gibt es keinen geschlossenen Beweismittelkatalog; es gelten die Beweismittelfrei­ heit (principe de la liberté de la preuve) und der Grundsatz der freien richter­ lichen Beweiswürdigung (intime conviction), die vor allem in Art. 427 Abs. 1 562  Die

mittelbare Beweisführung wird aber – vermutlich nicht zu Unrecht – als „an­ klägerfreundlich“ kritisiert, Walther, GA 2003, 204, 211. 563  BGBl. II 2002, S. 1058: „Tout accusé a droit notamment à interroger ou faire in­ terroger les témoins à charge et obtenir la convocation et l’interrogation des témoins à dé­charge dans les mêmes conditions que les témoins à charge.“ ; vgl. dazu auch Röhrich, S. 311 ff. 564  Debove/Falletti/Janville, S. 363: „(…) notre procedure revêt un caractère mixte“; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1230; Vitu, Die Grundzüge des französischen Strafverfah­ rens, S. 7, 39 f. 565  Vgl. dazu Art. 81 Abs. 1 CPP. 566  Barth, Landesbericht Frankreich, S. 89, 105; Debove/Falletti/Janville, S. 362 f.; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1230 sowie Rn. 1238: „eigentümliche Mischung aus Parteiund Instruktionsprinzip“; Vitu, Die Grundzüge des französischen Strafverfahrens, S. 7, 23 f. und 39 f.

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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CPP567 zum Ausdruck kommen.568 Der Richter kann also jeden vorgetragenen Beweis frei würdigen. Man kann sagen, dass das Mündlichkeitsprinzip569 und vor allem das Prin­ zip der Unmittelbarkeit Einschränkungen unterliegen,570 da vor allem das Proto­ koll571 und die richterliche Voruntersuchung (instruction préparatoire/informati­ on préparatoire) eine wichtige Rolle spielen. Die Strafverfahren sind häufig durch eine Vorverlagerung der Beweisaufnah­ me in das untersuchungsrichterliche Vorverfahren geprägt. Dies wird dadurch deutlich, dass die Beweisaufnahme im französischen Strafverfahrensrecht im Titel des untersuchungsrichterlichen Verfahrens und nicht unter dem Titel der Hauptverhandlung geregelt ist.572 Der Untersuchungsrichter delegiert die Er­ mittlungen häufig an die Offiziere der Gerichtspolizei, die über die von ihnen durchgeführten Vernehmungen entsprechende Protokolle anfertigen.573 Es gibt zwar die Möglichkeit, auch in der Hauptverhandlung neue Beweise zu erheben, hiervon wird aber nur selten Gebrauch gemacht, der Schwerpunkt liegt eindeutig auf einer erneuten Prüfung und Gegenüberstellung der bereits in der Voruntersu­ chung erhobenen Beweise.574 Dies geht soweit, dass ein in der gerichtlichen Vor­ untersuchung vernommener Zeuge, über dessen Vernehmung ein Protokoll an­ gefertigt wurde, nicht noch einmal in der Hauptverhandlung vernommen werden muss, sondern dieser Zeugenbeweis auch über das Protokoll (procès verbal)575 in das Verfahren eingeführt werden kann.576 567  „Hors les cas où la loi en dispose autrement, les infractions peuvent être établies par tout mode de preuve et le juge décide d’après son intime conviction.“; siehe auch Art. 353 und 536 CPP. 568  Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1229; Löhr, S. 99; Vitu, Die Grundzüge des französi­ schen Strafverfahrens, S. 7, 25 f.; vertiefend Debove/Falletti/Janville, S. 646 f. und Merle/ Vitu, Traité de droit criminel II, Nr. 166 f. 569  Zu den Einschränkungen des Mündlichkeitsprinzips Lorenz, Frankreich, S. 59, 66; siehe auch Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1229 jeweils m. w. N. 570  Barth, Landesbericht Frankreich, S. 89, 107 f. m. w. N.; siehe auch Kühne, Strafpro­ zessrecht, Rn. 1233 ff. jeweils m. w. N. 571  Vgl. 537 CPP. 572  Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1210. 573  Barth, Landesbericht Frankreich, S. 89, 101 ff. 574  Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1230. 575  Näher zum Protokoll im französischen Strafverfahren, Vogler, S. 171, 245 ff.; siehe auch Vouin/Léauté, S. 244 f.; streng genommen nicht nur durch Protokolle (procès-ver­ baux), sondern auch durch Berichte (rapports). Beide Dokumente unterscheiden sich nur durch ihre Verfasser und werden als preuve littérale bezeichnet, näher dazu Conte/Maistre du Chambon, S. 30. 576  Gleß, ZStW 115 (2003), 131, 139; Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 1233.1; ausführlich und kritisch dazu Barth, Landesbericht Frankreich, S. 89, 107 ff.; siehe dazu auch Pfefferkorn, S. 187 f. mit Hinweisen auf französische Rspr.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Im französischen Strafverfahren wird dem Protokoll gem. Art. 537 CPP ein besonders hoher Stellenwert beigemessen – das darin Ausgesagte gilt als Be­ weis, solange nicht bzw. solange bis das Gegenteil bewiesen wird –, weil man davon ausgeht, dass die Aussage eines Zeugen, die unmittelbar bzw. nur kurze Zeit nach der Tat unter dem frischen Eindruck des Wahrgenommenen gemacht und von einem staatlichen Organ gewissenhaft protokolliert wurde, eine zuver­ lässige Grundlage für das Gericht bildet, um Rückschlüsse auf das Geschehen zu ziehen und somit den Sachverhalt zu ermitteln.577 Man kann also durchaus von einer „vorweggenommenen richterlichen Beweisaufnahme“ sprechen, die nur beschränkt einer „kontradiktorischen Erörterung“ zugänglich ist.578 Die Ge­ richte begnügen sich – abgesehen von Verfahren vor dem Schwurgericht (cour d’assies) – überwiegend mit der Verlesung der Vernehmungsprotokolle, ohne den Zeugen (témoin) nochmals bzw. selbst zu hören.579 Vor diesem Hintergrund über­ rascht es nicht, dass im französischen Strafverfahrensrecht auch der Zeuge vom Hörensagen, der sogenannte témoin ouï-dire, nach absolut herrschender Meinung ein zulässiges Beweismittel ist.580 Schon im Beweisrecht des zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Kraft getretenen Code d’instruction criminelle, der im Jahr 1958 durch den Code de procédure pénale ersetzt wurde581, fand sich keine ausdrückliche gesetzliche Regelung und – im Gegensatz zum angelsächsischen Recht – schon gar kein Verbot des Hören­ sagenbeweises. Es finden sich lediglich allgemeine Formulierungen582, die darauf schließen lassen, dass der Zeuge vom Hörensagen keineswegs verboten sein soll­ te. Dies betont insbesondere Garraud – wie von Löhr dargestellt583 – unter Hin­ 577  Gleß, ZStW 115 (2003), 131, 140 – auch mit Vergleichen zur hearsay rule; siehe aber auch zu den Protokollierungsfehlern im deutschen (Vor-)Verfahren oben unter III. 578  Gleß, ZStW 115 (2003), 131, 144. 579  Barth, Landesbericht Frankreich, S. 89, 107 f.: „Eine neue Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung, die über die Ermittlungen im Vorverfahren hinausgeht, wird in jeder Tatsachenintsanz in aller Regel vermieden“. 580  Debove/Falletti/Janville, S. 664; Donnedieu de Vabres, Nr. 972: „Conditions requi­ ses pour être témoin. – Pour être témoin, il faut avoir eu directement connaissance par la vue ou par l’ouïe du fait sur lequel porte l’information. Il ne suffit pas d’avoir ,entendu dire‘. La prevue par ouïe-dire n’est pas interdite, mais elle doit être classée dans les présomptions (présomptions de l’existence du fait, resultant de sa notoriété)“; Merle/Vitu, Traité de droit criminel II, Nr. 171: „Le témoin peut déposer non seulement sur ce qu’il a perçu lui-même de l’infraction poursuivie, mais aussi sur ce qu’il a appris dàutres personnes à son sujet.“; siehe auch Barth, Landesbericht Frankreich, S. 89, 112 f.; Spencer, Evidence, S. 594, 619 f.; Vogler, S. 171, 244. 581  Näher zur Geschichte Vitu, Die Grundzüge des französischen Strafverfahrens, S. 7 ff. 582  Garraud, S. 2: „Etre témoin, c’est attester la vérité d’un fait don’t on la connaissan­ ce personelle, soit pour l’avoir vu, soit pour l’avoir entendu.“, zitiert nach Löhr, S. 97; siehe auch Sprang, S. 105 ff. 583  Löhr, S. 97 f.; alle Zitate von Garraud stammen von dort.

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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weis auf den bedingten Ausschluss des „témoignage ex auditu alieno“ im älteren französischen Recht584 und auf das Verbot des Hörensagenbeweises in anderen Ländern, der dazu ausführt: „Ces règles ne sont pas écrites dans nos lois; mais la défiance du témoignage indirect (…) est une règle de circonspection, à laquelle le juge ne saurait se soustaire.“585 Natürlich wird auch in der französischen Rechtswissenschaft vor diesem Be­ weismittel im Allgemeinen und seinem Beweiswert im Besonderen gewarnt: „Les témoins (…) doivent déposer que sur ce qu’ils ont constaté par eux-mêmes, et non sur ce qui’ils ont appris par ouï-dire, la preuve par ouï-dire étant essentiel­ lement douteuse et dangereuse.“586 Im Schrifftum wird darauf hingewiesen, dass „ouï-dire“ in diesem Kontext nicht als Hörensagen im strengen Sinne, sondern vielmehr als „Gerücht“ oder „Gerede“, bei dem der unmittelbare Zeuge nicht mehr festgestellt werden kann, zu verstehen ist, so dass der Zeuge vom Hörensa­ gen im strengen Sinne keineswegs ausgeschlossen sein soll.587 Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen ist in der französischen Recht­ sprechung und im französischen Schrifttum – ähnlich dem deutschen Recht mit Blick auf §§ 244 Abs. 2, 250, 261 StPO – als Folge der an der materiellen Wahr­ heit orientierten umfassenden gerichtlichen Aufklärungspflicht und der damit einhergehenden freien Wahl der Beweismittel allgemein anerkannt, zumal seine Zuverlässigkeit und der damit verbundene Beweiswert im Rahmen der richter­ lichen Beweiswürdigung (intime conviction) entsprechend gewürdigt werden können. Im französischen Strafverfahren können also durchaus Vernehmungsbe­ amte darüber vernommen werden können, was der unmittelbare Zeuge oder auch der Angeklagte ihnen gegenüber in der Vernehmung gesagt hat.588 Die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen und die Verlesung des Ver­ nehmungsprotokolls erscheinen sachgerecht, wenn der unmittelbare Zeuge nicht mehr erreichbar ist oder aus anderen Gründen nicht mehr vernommen werden kann, sie erscheint aber bedenklich, wenn der Zeuge vom Hörensagen anstelle des verfügbaren, unmittelbaren Zeugen vernommen wird. Dies gilt erst recht, wenn es sich um die Ersetzung des einzigen Belastungszeugen handelt. So hat auch der EGMR in Delta v. Frankreich eine Verletzung des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK darin gesehen, dass zunächst das Gericht erster Instanz nur den Polizei­ beamten als Zeugen vom Hörensagen vernommen und sodann das Berufungsge­ 584 

Garraud, S. 10, zitiert nach Löhr, S. 97, siehe dort auch Fn. 213. Garraud, S. 10 f., zitiert nach Löhr, S. 97. 586  Bouzat/Pinatel, Nr. 1222; siehe auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 61 Fn. 159 m. w. N. 587  Sprang, S. 107; näher dazu auch Löhr, S. 98. 588  Näher dazu Löhr, S. 98 und Sprang, S. 107 ff. mit Hinweisen auf das französische Schrifttum; siehe auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 61 f. 585 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

richt seine Entscheidung auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung erster Instanz sowie das polizeiliche Vernehmungsprotokoll gestützt hat.589 Diese Ent­ scheidung macht zum einen deutlich, dass der Zeuge vom Hörensagen im fran­ zösischen Strafverfahren ein zulässiges Beweismittel ist, zum anderen, dass die französische Rechtsprechung an ihrer sonst sehr verbreiteten Beweiserhebung durch Beweissurrogate dann keinesfalls mehr festhält, wenn diese die einzige Belastungszeugin ersetzen, die der Angeklagte zu keinem Zeitpunkt des Verfah­ rens befragen konnte.590 dd)  Kein Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen durch das Konfrontationsrecht Der Zeuge vom Hörensagen ist im französischen Strafprozessrecht also ohne Einschränkungen zulässig. Dies ist auch nach Einführung der EMRK weder von der Rechtsprechung noch von der Literatur in irgendeiner Art und Weise infrage gestellt worden.591 Wie eingangs erwähnt will die EMRK bestehendes nationales Recht nicht umgestalten und es ist nichts dafür ersichtlich, dass Frankreich als Mitgliedstaat eine lang geübte Rechtspraxis durch die Unterzeichnung der Kon­ vention abschaffen wollte. Nun könnte man den Wortlaut der englischen Textfassung anführen, um ei­ nen Ausschluss mittelbarer Zeugen zu begründen, da im englischen Recht auf­ grund der hearsay rule als „witnesses against him“ nur unmittelbare Tatzeugen in Betracht kommen. Abgesehen davon, dass die englische und die französische Textfassung gleichwertig nebeneinander stehen und deshalb in Zweifelsfällen nur der Sinngehalt gilt, der auch von beiden Textfassungen gedeckt ist,592 ist zu bedenken, dass der Hörensagenbeweis im englischen Beweisrecht grundsätzlich ausgeschlossen ist. Es gibt dort zahlreiche gewohnheitsrechtlich anerkannte bzw. inzwischen gesetzlich normierte Ausnahmen, in denen Zeugen vom Hörensagen doch zulässig sind.593 Wenn man nun folgern würde, dass allein aufgrund des 589  EGMR, Urteil vom 19. 12. 1990 – 11444/85 –, Serie A, Nr. 191, S. 3 ff. [Delta v. Frankreich]; vgl. dazu auch Barth, Landesbericht Frankreich, S. 89, 112 ff.; zur Verletzung der EMRK durch Frankreich wegen unzureichender Gewährung von Konfrontationsrech­ ten, wenn der Ermittlungsbeamte als Zeuge in der Hauptverhandlung die Identität seines Informanten nicht Preis gibt, siehe EGMR, Urteil vom 20. 09. 1993 – 14647/89 –, Serie A, Nr. 261-C, S. 56 f. [Saïdi v. Frankreich]; siehe dazu auch Krauß, V-Leute im Strafprozeß, S. 72 f. sowie Lorenz, Landesbericht, S. 301, 359. 590  Seit 2001 verbietet Art. 706 – 62 CPP die Verurteilung ausschließlich auf anonyme Zeugenaussagen zu stützen; siehe zu anonymen Zeugen und Zeugenschutz im französi­ schen Strafverfahren, Pfefferkorn, S. 146. 591  Näher dazu Löhr, S. 97 ff. 592  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 243. 593  Näher dazu Spencer, Hearsay Evidence, S. 101 ff.

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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englischen Begriffs der Zeuge vom Hörensagen auch durch die EMRK ausge­ schlossen wäre, so ergebe sich daraus das Problem, dass in der Konvention keine einzige Ausnahme normiert ist und somit in der Praxis häufig Beweismittelver­ luste zu befürchten sind. Von einem solchen Ausschluss des hearsay evidence durch die EMRK geht aber selbst der englische Gesetzgeber nicht aus, da dieser nach Inkrafttreten der Konvention seinen Ausnahmekatalog für zulässige Hören­ sagenbeweise in einigen Gesetzen modifiziert und erweitert hat.594 Belastungszeuge im Sinne der EMRK kann also auch der in der Hauptver­ handlung anwesende Zeuge vom Hörensagen, also in der Regel die Verhörsperson sein.595 Der nicht anwesende unmittelbare Zeuge ist außerdem nur Belastungs­ zeuge, wenn er im früheren Verfahrensstadium von der Strafverfolgungsbehör­ de vernommen worden ist, hingegen nicht, wenn er im Rahmen eines privaten Gesprächs gegenüber einer anderen Person Angaben macht, da er zu keiner Zeit in einem Verfahren vernommen wurde und somit mangels eines Bezugs zum Ver­ fahren nicht Adressat eines verfahrensinternen Fragerechts sein kann.596 Während alle Verfahrensbeteiligten ihre Fragen gleichermaßen an den anwesenden mittel­ baren Zeugen richten können, bei dem es sich oft um eine Verhörsperson handelt, ist dies bei dem nicht anwesenden unmittelbaren Zeugen oft nicht möglich, wes­ halb ja auch gerade auf den Zeugen vom Hörensagen zurückgegriffen wird. Wenn der unmittelbare Zeuge lediglich im Vorverfahren oder sonst außerhalb der Hauptverhandlung vernommen wurde, muss dem Angeklagten „entweder zu dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge seine Aussage macht, oder in einem späteren Verfahrensstadium eine angemessene und geeignete Gelegenheit gegeben wer­ den, den Zeugen selbst zu befragen oder befragen zu lassen.“597 Vom EGMR wurde im Verfahren Thomas v. United Kingdom – und damit für eine Rechtsordnung, in der es eine jury und einen Parteiprozess gibt – festgestellt, dass Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK eine „Vermutung“ gegen die Verwen­ dung von Hörensagenbeweis enthalten.598 Allerdings führen Beschränkungen 594  Vgl. dazu den Criminal Justice Act 2003 Section 114 ff.; siehe zu früheren Geset­ zesänderungen, beispielsweise durch den Criminal Evidence Act 1965, Stelter, S. 109 f.; siehe auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 244. 595  Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 770; siehe auch BVerfGE 57, 250, 273 ff.; Löhr, S. 176 ff.; anders noch BGH GA 1968, 370, 370; BGHSt 17, 382, 388. 596  Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 769. 597 BGH NStZ-RR 2005, 321, 321; siehe dazu EGMR, Urteil vom 19.  07. 2012 – 26171/07 –, juris [Hümmer v. Deutschland] (= EGMR NJW 2013, 3225), wo eine Verlet­ zung der EMRK bejaht wurde: Die Angehörigen sagten vor dem Ermittlungsrichter aus, ohne dass dem Beschuldigten, der seine Familie angegriffen hatte, ein Verteidiger bestellt worden war, und beriefen sich in der Hauptverhandlung auf § 52 StPO. 598  EGMR, Urteil vom 10. 05. 2005 – 19354/02 – [Thomas v. United Kingdom]: „Ar­ ticle 6 §§ 1 and 3 (d) of the Convention contain a presumption against the use of hearsay evi­dence against a defendant in criminal proceedings“.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

des Fragerechts – schließlich kann es dafür gute Gründe geben599 – nach stetiger Rechtsprechung nicht zur Unverwertbarkeit der belastenden Aussage, wenn das Verfahren in seiner Gesamtheit einschließlich der Art und Weise der Beweis­ erhebung und Würdigung (sog. Beweiswürdigungslösung600) den Geboten der Verfahrensfairness genügt.601 Bei der Beurteilung, ob das Verfahren insgesamt fair geblieben ist, werden drei Faktoren602 zugrunde gelegt: Zunächst muss ein triftiger Grund bestehen, weshalb das Fragerecht des Angeklagten beschränkt wurde. Sodann ist zu prüfen, ob die eingeschränkten Verteidigungsrechte mögli­ cherweise kompensiert werden können, indem die Befragung nachgeholt wird.603 Schließlich ist der Beweis besonders sorgfältig und kritisch zu würdigen.604 Bei der Kompensation des verletzten Konfrontationsrechts ist insbesondere von Bedeutung, ob die ausgebliebene Befragung der Justiz möglicherweise gar nicht zuzurechnen ist. Als Gründe für die Beschränkung des Konfrontations­ rechts kommen beispielsweise der Zeugenschutz, insbesondere bei Opfern von Sexualdelikten605, sowie die Befürchtung, dass der Zeuge in Gegenwart des An­ geklagten nicht die Wahrheit sagen werde606, in Betracht. Die Gründe, weshalb der Angeklagte den Zeugen nicht mehr befragen kann, können auf rechtliche oder tatsächliche Umstände zurückzuführen sein.607 Dies können beispielsweise ein Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrecht, die Angst des Zeugen vor der Rache des Angeklagten oder die Unerreichbarkeit608 des Belastungszeugen sein. 599 EGMR, Große Kammer, Urteil vom 15.  12. 2011 – 26766/05 und 22228/06 – [Al-Khawaja and Tahery v. United Kingdom] Rn. 120; siehe dort auch Rn. 63 ff. mit Hin­ weisen auf das Konfrontationsrecht in anderen Ländern. 600 Kritisch dazu Fezer, JZ 2001, 363, 364 und Wohlers, StV 2014, 563 ff. jeweils m. w. N. 601  BVerfG NJW 2010, 925, 926; BGHSt 55, 70, 74 f.; BGH NStZ-RR 2014, 246, 248. 602  Näher dazu Schädler/Jakobs, in: Karlsruher Kommentar, Art 6 EMRK Rn. 66 ff.; siehe auch EGMR, Große Kammer, Urteil vom 15. 12. 2015 – 9154/10 – [Schatschaschwili v. Deutschland], juris Rn. 107 ff. (= StV 2017, 213) sowie BGH StraFo 2017, 276, 277. 603  Vgl. dazu BGH NStZ-RR 2005, 321, 321. 604  Schädler/Jakobs, in: Karlsruher Kommentar, Art. 6 EMRK Rn. 69 und 74 f. m. w. N. 605  EGMR NJW 2003, 2297, 2298; BGH NJW 2007, 2341, 2342. 606 EGMR, Urteil vom 24.  11. 1986 – 1/1985/87/134 – [Unterpertinger v. Öster­ reich], juris (= EuGRZ 1987, 147 und NJW 1987, 3068) sowie Urteil vom 26. 03. 1996 – 54/1994/501/583 – [Doorson v. Niederlande], juris; BGHSt 46, 93, 96; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, Art. 6 EMRK Rn. 22c m. w. Beispielen. 607  Näher dazu Lohse, JR 2015, 60 ff. 608  Verstoß gegen Art. 6 EMRK bei Vernehmung der Opferzeugin, einer polnischen Staatsangehörigen, durch den Ermittlungsrichter, die nach der Vernehmung nach Polen reist und nicht zur Hauptverhandlung erscheint, BGH JR 2007, 300 ff.; siehe auch EGMR, Große Kammer, Urteil vom 15. 12. 2015 – 9154/10 – [Schatschaschwili v. Deutschland], juris (= StV 2017, 213 ff.).

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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Die ausgebliebene Befragung stellt zum Beispiel einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK dar, da die fehlende Möglichkeit der Konfrontation der Justiz zuzurechnen ist, wenn zentrale Belastungszeugen aus Gründen der Beweissi­ cherung vom Ermittlungsrichter vernommen werden sollen, der Beschuldigte aber noch unverteidigt ist und von der Anwesenheit bei der Vernehmung aus­ geschlossen werden soll und der Zeuge sich später auf § 52 StPO beruft.609 Die Vernehmung des einzigen Belastungszeugen, dessen Zeugnisverweigerung in der Hauptverhandlung zu befürchten ist, hat die klare und eindeutige Funktion einer Beweissicherung, weil der Inhalt durch die Vernehmung des Ermittlungs­ richters in die Hauptverhandlung eingeführt werden soll.610 Dadurch wird „ein Stück entscheidungsrelevante Beweisaufnahme aus der Hauptverhandlung in das Ermittlungsverfahren vorgelagert“611. Allerdings ist der Verstoß gegen Art. 6 EMRK der Justiz nicht zurechenbar, wenn sich der Zeuge auf § 55 StPO beruft und sodann die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft aus einem früheren Verfahren als Zeugin vernommen wird.612 Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK gewährt dem Angeklagten ein Fragerecht und da­ mit ein wesentliches Recht. Dieses Recht kann in bestimmten Konstellationen verletzt sein, was je nach den Umständen des Einzelfalls zum Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen führt. Die Norm regelt aber nicht generell, dass Zeu­ gen vom Hörensagen ausgeschlossen sein sollen.613 Zu einem anderen Ergebnis kommt man auch nicht über den in Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verankerten Grund­ satz der Waffengleichheit. Grundsätzlich haben sowohl der Verteidiger als auch der Staatsanwalt dieselben Chancen, Fragen an den Zeugen vom Hörensagen und über diesen auch die Glaubwürdigkeit des unmittelbaren Zeugen infrage zu stel­ len. Sogar in der Vernehmung von V-Leuten kann kein Verstoß gegen den Grund­ satz der Waffengleichheit gesehen werden, da der Staatsanwalt keinen Wissens­ vorsprung gegenüber der Verteidigung hat, weil auch ihm bei der Vernehmung von Gewährspersonen die Identität der V-Leute nicht bekannt ist, so dass die Beweissituation für beide Seiten die gleiche ist.614 609  Grundlegend zur Verteidigerbestellung vor ermittlungsrichterlicher Vernehmung des Belastungszeugen, BGH NJW 2000, 3505 ff.; vgl. auch EGMR, Urteil vom 19. 07. 2012 – 26171/07 – [Hümmer v. Deutschland], juris Rn. 43 ff. (= StV 2014, 452 mit Anm. Pauly). 610  Fezer, JZ 2001, 363, 364; siehe zum Vernehmungsbeamten als Zeugen vom Hören­ sagen, wenn sich Opferzeuge auf § 52 StPO beruft auch EGMR EuGRZ 1992, 474, 475. 611  Fezer, JZ 2001, 363, 364. 612  Vgl. EGMR, Urteil vom 19. 07. 2012 – 29881/07 – [Sievert v. Deutschland], juris Rn. 60 ff. (= JR 2013, 170); Lohse, JR 2015, 60, 61. 613  Siehe dazu auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 243 ff.; Joachim, S. 132 f. 614  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 246; Tiedemann, JuS 1965, 14, 20 geht sogar so weit zu sagen, dass die V-Leute „daher keine ‚prosecutive witnesses‘“ seien. Zwar ist es durchaus möglich, dass mittelbare Zeugen auch Entlastendes berichten, für einen V-Mann wird dies in der Praxis aber kaum jemals vorkommen.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Interessanterweise hat der EGMR erst kürzlich betont, dass die Anwesenheit des Staatsanwalts bei der Vernehmung von Zeugen im Ermittlungsverfahren den Grundsatz der Waffengleichheit nicht verletze. Denn im deutschen Strafverfah­ ren würden die Strafverfolgungsbehörden – anders als bei einer Anklage im Par­ teiprozess – sowohl die be- als auch die entlastenden Umstände zu berücksichti­ gen haben.615 Ob dies wirklich der Fall ist, soll hier dahingestellt bleiben.616 Das Konfrontationsrecht kann in Einzelfällen zum Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen führen, über seine generelle Zulässigkeit besagt es allerdings nichts. b)  Art. 6 Abs. 1 EMRK Schließlich ist zu prüfen, ob sich der Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen möglicherweise aus dem Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt, nach dem jede Person ein Recht darauf hat, „dass über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage (…) in einem fairen Verfahren (…) verhandelt wird.“ Nach der englischen Textfassung wird dem Angeklagten ein „fair hearing“ gewährt.617 Inhalt und Reichweite des Art. 6 Abs. 1 EMRK können hier nicht näher ana­ lysiert werden618, aber das in der Norm enthaltene Gebot der Verfahrensfairness soll dem Angeklagten im Wesentlichen die von Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 103 Abs. 1 GG gewährten Rechte der Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs sichern.619 Der Zeuge vom Hörensagen kann also durch Art. 6 Abs. 1 EMRK nur ausge­ schlossen sein, wenn sein Regelungsgehalt noch weitergeht als der der Normen des Grundgesetzes, die den Zeuge vom Hörensagen gerade nicht ausschließen. Neben dem Begriff des fair hearing entstammt auch der Begriff des fair tri­ al, der in diesem Zusammenhang häufig verwendet wird, dem angelsächsischen Rechtskreis. Es stellt sich also die Frage, ob möglicherweise die Grundsätze des 615 

EGMR, Urteil vom 17. 04. 2014 – 9154/10 –, juris Rn. 80. Lohse, JR 2015, 60, 63. Wenn es wirklich auch um entlastende As­ pekte ginge, könnte man auch infrage stellen, weshalb Hörensagenbeweis nicht vom An­ geklagten zu seiner Entlastung vorgebracht werden darf, vgl. dazu EGMR, Urteil vom 10. 05. 2005 – 19354/02 – [Thomas v. United Kingdom]: „(…) such considerations also justify the exclusion of the use of hearsay evidence when that evidence may be considered as assisting the defence“. 617  „In the determination of (…) any criminal charge against him, everyone is entitled to a fair (…) hearing (…)“, BGBl. II 2002, 1058; siehe zu Ungenauigkeiten bei der frühe­ ren Übersetzung der authentischen Textfassungen ins Deutsche, die inzwischen überholt wurde, Mehner, S. 109. 618  Grundlegend dazu Gaede, S. 290 ff. 619  Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 183. 616 Zustimmend

V.  Die Zulässigkeit des Zeugen vom Hörensagen nach dem Grundgesetz

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angelsächsischen Rechts zur Konkretisierung dieses Terminus heranzuziehen sind. Die EMRK und „ganz besonders“ deren Art. 6 mögen „maßgeblich von angelsächsischen Vorstellungen“ beeinflusst sein, wodurch dem deutschen Pro­ zessrecht in gewisser Weise „fremdes Gedankengut aufgepfropft worden“ ist.620 Man könnte die Ansicht vertreten, dass eine Vorschrift der EMRK, die eindeutig einem bestimmten Rechtskreis entstammt, auch nach den Grundsätzen dieses Rechtskreises auszulegen sei.621 Wenn der fair trial Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 EMRK sowie auch das Fragerecht des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK dem angelsäch­ sischen Rechtskreis entstammen, dann könnte man erwägen, die dort geltende hearsay rule auf das deutsche Strafverfahrensrecht zu übertragen mit der Folge, dass mittelbare Zeugen ausgeschlossen sind. Während die englische Textfassung der EMRK nur neben der französischen Textfassung gilt, ist auch das englische Rechtssystem wie auch diesem entnom­ mene Grundsätze keineswegs Leitbild für die Rechtssysteme der weiteren Mit­ gliedstaaten. Diese regeln vielmehr selbst die Struktur und Einzelheiten des Verfahrens.622 Dazu zählt, dass sie in den jeweiligen Verfahrensarten – ob inqui­ sitorsch oder adversatorisch – auch die Form und Voraussetzungen der Beweiser­ hebung sowie die bei der Beweiswürdigung von den Gerichten zu beachtenden Grundsätze festlegen.623 Im Gegensatz zum angelsächsischen Parteiprozess, in dem der Richter eher eine passive Rolle einnimmt, sind die kontinentaleuropäischen Rechtssysteme vom Untersuchungsgrundsatz von Amts wegen, bei dem der Richter eine starke Stellung innehat, sowie dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdi­ gung geprägt. Dies gilt nicht nur für das deutsche – §§ 244, 261 StPO –, son­ dern auch für das französische Strafverfahren. Die Vorstellungen eines einzel­ nen Rechtssystems sollen nicht auf die unterschiedlichen Rechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten übertragen, das Recht soll nicht vereinheitlicht werden. Eine Konkretisierung des Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die hearsay rule oder sons­ tige spezifische angelsächsische Beweisregeln kommt somit nicht in Betracht.624 Der Ausschluss des Zeugen vom Hörensagen mag nach dem angelsächsischen Verständnis Voraussetzung für einen fair trial sein, dieser Grundsatz hängt aber

620 

Tiedemann, JuS 1965, 14, 20. Vgl. dazu Appell, S. 17; Echterhölter, JZ 1956, 142. 622  EGMR, Große Kammer, 16. 11. 2010 – 926/05 – [Taxquet v. Belgium], Rn. 83 (unter Hinweis auf die verschiedenen Jury-Systeme in den Mitgliedstaaten): „A State’s choice of a particular criminal-justice system is in principle outside the scope of the supervision carried out by the Court at European level, provided that the system chosen does not con­ travene the principles set forth in the Convention“. 623  Esser, in: Löwe-Rosenberg, Art. 6 EMRK Rn. 169 f., 758 ff. 624  So ausdrücklich Mehner, S. 145, siehe dort auch S. 141 ff. 621 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

eng mit den Eigenheiten des englischen Strafverfahrens zusammen und lässt sich daher nicht auf andere Rechtsordnungen übertragen.625 Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK sprechen also nicht grundsätzlich gegen den Zeugen vom Hörensagen, sondern es geht vielmehr darum, dass dem Ange­ klagten die Möglichkeit gewährt wird, Fragen an den unmittelbaren Zeugen zu stellen. Aus diesem Grund ist in der Regel neben dem Zeugen vom Hörensagen der unmittelbare Zeuge in der Hauptverhandlung zu vernehmen. Sofern die Ver­ nehmung des unmittelbaren Zeugen in der Hauptverhandlung nicht möglich sein sollte, müssen schon im Ermittlungsverfahren verfahrensrechtliche Maßnahmen getroffen werden, um das Fehlen einer solchen Möglichkeit zu kompensieren.626

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen und damit verbundene rechtliche Probleme Als Zeugen vom Hörensagen kommen sowohl Privatpersonen als auch Ver­ hörspersonen in Betracht, wobei sich bei der späteren Vernehmung der Verhörs­ person mit Blick auf § 252 StPO die Frage der Verwertbarkeit ihrer Aussage stellt. In diesem Zusammenhang ist auch die Reichweite des Begriffs der Vernehmung von Bedeutung. Schließlich soll betrachtet werden, ob externe Berater, die in Unternehmen interne Untersuchungen durchführen, über die dort gewonnen Er­ kenntnisse als Zeuge vom Hörensagen berichten können. 1.   Privatpersonen als Zeugen vom Hörensagen Vor allem bei Sexualdelikten vertraut sich das Opfer zunächst Familienan­ gehörigen oder Freunden an, so dass diese als Zeugen vom Hörensagen in Be­ tracht kommen. So offenbarte sich beispielsweise in einem Fall das vermeintliche Opfer gegenüber Freunden, Ärzten und Therapeuten und berichtete von einem sexuellen Missbrauch durch den Stiefvater, bevor es sich suizidierte.627 Denk­ bar sind auch Konstellationen, in denen das schwer verwundete, sterbende Opfer gegenüber Bekannten oder anderen Ersthelfern Angaben zum Tathergang und zur Identität des Täters macht. Interessanterweise fallen im US-amerikanischen Recht Angaben zur Identität des Täters, die das Opfer in Fällen sexuellen Miss­ 625  Geppert, Unmittelbarkeit, S. 248 f.; Löhr, S. 181; Tiedemann, JuS 1965, 14, 20; ders., JZ 1967, 570, 571: „Der Geist der Fairneß läßt sich nicht aus der eigenartigen Struk­ tur und den besonderen Beweisregelungen des englischen Parteienprozesses gleichsam herausdestillieren“. 626  Siehe dazu EGMR, Große Kammer, Urteil vom 15. 12. 2015 – 9154/10 – [Schatscha­ schwili v. Deutschland], juris (= StV 2017, 213 ff.). 627  BGH NStZ 2002, 656, 657; der Angeklagte wurde freigesprochen, da es neben den Zeugen vom Hörensagen keine zusätzlichen Indizien gab.

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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brauchs gegenüber Ärzten macht, unter die Ausnahme zum Zweck der medizinischen Behandlung nach Fed. R. Evid. 803(4)(A).628 Gerade wenn der unmittelbare Zeuge aus tatsächlichen und aus rechtlichen Gründen nicht verfügbar ist, kann es sachgerecht, wenn nicht sogar notwendig sein, auf den Zeugen vom Hörensagen zurückzugreifen, denn gerade mit Blick auf die richterliche Aufklärungspflicht stellt der mittelbare Zeuge dann das tat­ nächste Beweismittel dar. Demenstprechend ist auch der BGH der Ansicht, ein Ausschluss dieses Zeugen vom Hörensagen ergebe sich auch nicht daraus, dass sich der unmittelbare Zeuge in der Hauptverhandlung auf ein Zeugnisverweige­ rungsrecht beruft, da sich dies in keiner Weise auf die Verwertbarkeit von frü­ heren Äußerungen gegenüber Privatpersonen – oder auch gegenüber Sozial- und Jugendämtern – auswirke.629 2.   Verhörspersonen als Zeugen vom Hörensagen § 252 StPO begründet nach herrschender Meinung ein selbständiges Beweis­ verwertungsverbot, sofern dem Zeugen in der Hauptverhandlung ein Zeugnis­ verweigerungsrecht zusteht.630 Als Zeugnisverweigerungsrechte im Sinne dieser Norm kommen Angehörige, denen ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO zusteht, sowie Berufsgeheimnisträger631 nach §§ 53, 53a StPO in Betracht. Vor allem der Angehörige, der sich erst in der Hauptverhandlung auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft, kann als klassischer Hauptanwendungsfall des § 252 StPO bezeichnet werden.632 § 52 StPO trägt in erster Linie der beson­ deren Lage des Zeugen Rechnung, der als Angehöriger des Beschuldigten der Zwangslage ausgesetzt sein kann, seinen Angehörigen belasten oder die Unwahr­ heit sagen zu müssen.633 Diesen Anwendungsbereich des § 52 StPO erweitert der § 252 StPO, indem der Zeuge eine bereits abgegebene Aussage folgenlos rück­ gängig machen kann. Dadurch soll er vor der Konfliktsituation, die aus der Wahr­ heitspflicht und seinem Näheverhältnis zum Angeklagten resultiert, geschützt werden, die zeitlich über die erste Vernehmung, beispielsweise vor der Polizei, hinaus fortwirkt.634 628  629 

1609.

Näher dazu unten C. IV. 1. c). Vgl. beispielsweise BGH StV 1998, 360, 361; OLG Saarbrücken NJOZ 2014, 1608,

630  Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 1; Volk/Engländer, § 27 Rn. 10; siehe zu Beweisverwertungsverboten BGHSt 38, 214, 219. 631  Näher dazu Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 4. 632  So auch Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 2. 633  BVerfG NStZ-RR 2004, 18; BGHSt 2, 351, 354; 11, 213, 217; 22, 35, 36; 27, 231, 232; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 52 Rn. 1. 634  BVerfG NStZ-RR 2004, 18; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 2.

114

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Dass Privatpersonen als Zeugen vom Hörensagen vernommen werden können, die Vernehmung der früheren Verhörsperson allerdings ausgeschlossen ist, kriti­ siert Kohlhaas als „grotesken Zustand“635 und macht dies anhand eines anschau­ lichen Beispiels deutlich: Wenn die Mutter eines misshandelten Kindes die Nachbarin kontaktiert und ihr detailliert berichtet, dass ihr Ehemann das Kind misshandelt habe, so kann die Nachbarin selbst dann in der Hauptverhandlung vernommen werden, wenn die Mutter später von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Wenn sich die Mutter hingegen direkt an die Polizei wendet und dort im Rahmen einer Ver­ nehmung das Geschehen berichtet, kann der Vernehmungsbeamte in der späteren Hauptverhandlung nicht vernommen werden, weil die Vernehmung durch § 252 StPO gesperrt ist.636 Dies mag zwar auf den ersten Blick paradox erscheinen, es gibt dafür aber gute Gründe. a)  § 252 StPO als Verlesungs- oder Verwertungsverbot? Der Wortlaut der Norm enthält auf den ersten Blick lediglich ein Verlesungsver­ bot. Es wäre also durchaus denkbar, den Inhalt der früheren Aussage nicht durch Verlesung des Protokolls, sondern durch Vernehmung der Verhörsperson über den Inhalt der früheren Aussage in den Prozess und damit als Zeugen vom Hörensagen einzuführen. So ging auch das Reichsgericht637 noch davon aus, dass die Norm „nach ihrem klaren Wortlaut“638 nur ein Verbot von Verlesungen normiere.639 Der Wortlaut spricht weder für die eine noch für die andere Auslegung,640 wenngleich das Verlesen im Sprachgebrauch der Strafprozessordnung häufig als ein Verwer­ ten verstanden wird. Hingegen spricht die Entstehungsgeschichte der Norm recht eindeutig gegen eine Verwertung der früheren Aussage.641 Auf die Idee, dass die Vernehmung von Verhörspersonen durch § 252 (damals § 251) StPO nicht ausge­ schlossen sei, erwiderte einer der Gründerväter der Reichsstrafprozessordnung, der Abgeordnete von Schwarze: „Wenn das zulässig ist, daß durch derartige Mani­ pulationen (…) der Gedanke und die Vorschrift des Gesetzes illusorisch gemacht werden kann und darf, da hört jede Gesetzgebung auf!“642 635 

Kohlhaas, NJW 1967, 958, 960. Beispiel von Kohlhaas, NJW 1967, 958, 960; zustimmend Jäger, JA 2012, 472, 474; siehe auch Haubrich, NJW 1981, 803, 804; siehe auch das Beispiel bei Volk/Engländer, § 27 Rn. 8. 637  RGSt 5, 142, 143 f.; 16, 119, 120; 35, 5, 6; 48, 246, 247; 51, 122, 123; 70, 6, 7; 72, 221, 222; nach 1945 auch OLG Kiel SchlHA 1946, 163; OLG Stuttgart NJW 1951, 932, 933. 638  RGSt 5, 142, 143. 639  Siehe zur Ansicht des Reichsgerichts auch Schünemann, ZStW 114 (2002), 1, 6 f. 640  So auch BGHSt 2, 99, 101. 641  RGSt 10, 374; BGHSt 2, 99, 103. 636 

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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Heutzutage ist mit Blick auf den Schutzzweck der Norm allgemein anerkannt, dass die Verwertung der früheren Aussage schlechthin verboten ist und daher auch die Vernehmung von Verhörspersonen grundsätzlich ausscheidet.643 Daher können nicht-richterliche Verhörspersonen wie Staatsanwälte und Polizeibeamte sowie Sachverständige644 nicht als Zeugen vom Hörensagen vernommen werden, um den Inhalt der früheren Aussage in den Prozess einzuführen. Die Vernehmung nicht-richterlicher Verhörspersonen wäre bei einem Zeugnisverweigerungsrecht nur möglich, wenn sich der Zeuge zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung auf die­ ses Recht beruft und zugleich der Verwertung seiner früheren Aussage zustimmt und damit auf den Schutz des § 252 StPO verzichtet.645 642

b)  Ausnahme für richterliche Verhörspersonen? Schließlich macht die Rechtsprechung für das in § 252 StPO aufgestellte Ver­ wertungsverbot seit jeher eine Ausnahme für richterliche Verhörspersonen, wo­ runter auch Zivilrichter646 und sogar Schöffen647 fallen können.648 Diese Ausnah­ me greift allerdings nicht, wenn das Zeugnisverweigerungsrecht erst nach der früheren Vernehmung entstanden ist,649 da diese nachträgliche Entstehung mit der Situation vergleichbar ist, dass der Zeuge gar nicht belehrt worden ist, so dass auch die Vernehmung richterlicher Verhörspersonen unzulässig ist.650 Richterli­ che Verhörspersonen sollen trotz eines nachträglich erklärten Zeugnisverweige­ rungsrechts der Auskunftsperson als Zeuge vom Hörensagen vernommen werden 642  In den Verhandlungen des Reichstages, zit. nach Löwe/Hellweg, Strafprozeßord­ nung für das Deutsche Reich, S. 700 (= 251 Anm. 3.); siehe auch von Schwarze, GS 33 (1881), 270, 288; vgl. ferner BGHSt 2, 99, 103. 643  Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 7; Volk/Engländer, § 27 Rn. 10 ff. 644  BGHSt 18, 107; BGH StV 1987, 328. 645  BGHSt 45, 203, 205; BGH NStZ 2015, 232; näher dazu Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 252 Rn. 16a f. und Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 17 m. w. N.; in dieser Konstellation stellen sich sodann Probleme mit Blick auf das Konfrontationsrecht, vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 Rn. 16b. 646 Vgl. zum Vormundschaftsrichter BGH NJW 1998, 2229, 2230 f.; kritisch dazu Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1287; siehe auch Diemer, in: Karlsruher Kommentar, § 252 Rn. 24; Roxin/Schünemann, § 46 Rn. 29. 647  Diemer, in: Karlsruher Kommentar, § 252 Rn. 25. 648  St. Rspr. seit BGHSt 2, 99, 109 f.; 7, 194, 195; 32, 25, 29 ; 36, 384, 385; Frister hält die Rspr. für „eindeutig gesetzwidrig“, betrachtet die ihr zugrunde liegende rechtspoli­ tische Wertung aber als akzeptablen Kompromiss, in: FS Feser, S. 211, 224; siehe auch Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Fn. 36 m. w. N. 649  Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 3; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 12. 650  BGHSt 27, 231; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 22 m. w. N.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

können, wenn sie den Zeugen zuvor ordnungsgemäß belehrt haben und dieser sodann in Kenntnis seines Rechts freiwillig ausgesagt hat. Diese Ausnahme für richterliche Vernehmungen ist in der Literatur stark kritisiert worden und wird dort überwiegend abgelehnt.651 Während sich diese Differenzierung anfangs noch mit unterschiedlichen Belehrungspflichten rechtfertigen ließ, da nur der Richter, nicht aber Polizeibeamte oder Staatsanwälte den Zeugen über seine Rechte beleh­ ren mussten, gilt die Belehrungspflicht seit Änderung der Strafprozessordnung durch das StPÄG vom 19. 12. 1964 gem. § 52 Abs. 3 StPO i.V.m. § 161a Abs. 1 Satz 2 bzw. § 163 Abs. 5 StPO auch für nicht-richterliche Vernehmungen.652 Wenn Art und Form der Belehrung gleich sind, dann gibt es eigentlich keinen Grund, die richterliche Verhörsperson anders zu behandeln als eine Belehrung durch den Staatsanwalt oder die Polizei.653 Dies sollte aber auf keinen Fall dazu führen, wie vereinzelt im Schrifttum654 angenommen wird, dass nunmehr auch Polizeibeamte und Staatsanwälte vernommen werden können, sofern sie den Zeugen vorher nur ordnungsgemäß belehrt haben. Seit Einführung der Belehrungspflicht wird die Ausnahme mit der angeblich höheren Qualität der richterlichen Vernehmungen begründet, zumal sich auch aus § 251 Abs. 1 und Abs. 2 StPO ergebe, dass „ihnen schon das Gesetz ganz allgemein höheres Vertrauen entgegenbringt“.655 Bei dieser Argumentation wird verkannt, dass § 251 StPO nichts über die Qualität der richterlichen Vernehmung besagt, sondern lediglich die Protokollverlesung regelt. Die Regelung des § 251 StPO lässt sich nicht auf den unmittelbaren Beweis durch Zeugen übertragen und kann damit bei der Auslegung des § 252 StPO nicht weiterhelfen.656 Bei § 251 StPO geht es um die Verlesung richterlicher Protokolle und damit um mittelba­ ren Beweis durch Urkunden. Allein das bei der richterlichen Vernehmung gem. § 168c Abs. 1 StPO bestehende Anwesenheitsrecht des Verteidigers kann keine 651  Beulke, Rn. 420; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1287 f.; Geppert, NStZ 2012, 281, 282; ders., Jura 1988, 305, 308; Henckel, HRRS 2014, 482, 484; Sander/Cirener, in: Lö­ we-Rosenberg, § 252 Rn. 10; Peters, Strafprozeß, S. 321; Roxin/Schünemann, § 46 Rn. 29; Volk/Engländer, § 27 Rn. 12; der Rspr. zustimmend Diemer, in: Karlsruher Kommentar, § 252 Rn. 22 und 26; ebenso Dahs, Handbuch, Rn. 576. 652  Vgl. dazu Roxin/Schünemann, § 46 Rn. 29 sowie Sander/Cirener, in: Löwe-Rosen­ berg, § 252 Rn. 9. 653  Sprang, S. 79. 654  Nüse, JR 1966, 281, 283; Kohlhaas, NJW 1965, 1254, 1255; ders., NJW 1967, 958, 960; Roestel, SchlHA 1967, 161, 162; Schlüchter, 497.3; diese Ansicht ausdrücklich ableh­ nend Diemer, in: Karlsruher Kommentar, § 252 Rn. 26, der aber die Vernehmung der rich­ terlichen Verhörsperson zulässt, und Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 10 a. E. 655 BGHSt 21, 218, 219; 49, 72, 77; eingehend und kritisch Eisenberg, NStZ 1988, 488 ff.; zustimmend aber beispielsweise Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 Rn. 14. 656  Michaelis, NJW 1968, 58, 59.

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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höhere Qualität begründen. Auch die Protokollierungspflicht des Richters gem. § 168 StPO gilt heutzutage im Wesentlichen657 gem. § 168b StPO auch für die Staatsanwaltschaft und auch für polizeiliche Vernehmungen658. § 252 StPO ver­ bietet ohnehin die Verlesung aller und damit auch richterlicher Vernehmungs­ protokolle. Das allgemeine Argument der höheren Qualität der richterlichen Vernehmung vermag nicht zu überzeugen. Wenngleich dem Richter häufig eine besondere Sachkunde, Neutralität und Objektivität zugesprochen wird659, fehlen für die An­ nahme einer höheren Qualität empirische Belege.660 Das Erinnerungsvermögen dürfte bei allen in Betracht kommenden Verhörspersonen gleich gut bzw. gleich schlecht sein. Im Übrigen geht es aber bei § 252 StPO auch nicht um die Qualität des Beweismittels bzw. des Zeugen vom Hörensagen, denn wenn es darum ginge, könnte man sich schon die Frage stellen, warum die Norm überhaupt ein Verlesungsverbot normiert, da es unter Umständen zur Ermittlung der Wahrheit sach­ gerechter sein könnte, vor der eher unzuverlässigen Vernehmung der Verhörsper­ son auf das doch wohl zuverlässigere Beweismittel, nämlich die Verlesung des Protokolls zurückzugreifen; und anstatt den Richter als Zeugen vom Hörensagen zu vernehmen, der aus seiner subjektiv gefärbten Erinnerung berichtet, müsste man doch erst recht auf das zuverlässigere Beweismittel der Bild-Ton-Aufzeich­ nung der früheren richterlichen Vernehmung zurückgreifen dürfen, was nach § 255a Abs. 1 StPO aber gerade nicht gestattet ist.661 Die Befürworter der Vernehmung der richterlichen Verhörspersonen machen geltend, dem Zeugen stehe wegen der „regelmäßig von ihm empfundenen erhöh­ ten Bedeutung der richterlichen Vernehmung (…) deutlicher als bei einer poli­ zeilichen Vernehmung vor Augen“, dass er seine Aussage nicht ohne Weiteres wieder aus der Welt schaffen kann.662 Zwar mag für den Laien die Stellung eines Richters besondere Bedeutung haben, allerdings darf auch das dann möglicher­ weise bestehende „kommunikative Gefälle“ zwischen dem Richter und dem Zeu­ gen ebenso wenig verkannt werden wie die Tatsache, dass Polizisten üblicher­ 657 

Vgl. dazu Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 168 Rn. 1. BGH NStZ 1995, 353; siehe auch Michaelis, NJW 1968, 58, 59. 659  Vgl. dazu auch AE-Beweisaufnahme, GA 2014, 1, 67. 660  Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1288a. 661 Siehe zu diesem Wertungswiderspruch, der aufgrund des eindeutigen Gesetzes­ wortlauts des § 255a Abs. 1 StPO nur durch den Gesetzgeber beseitigt werden kann, BGHSt 49, 72; Bild-Ton-Aufzeichnungen sollen allerdings bei der Vernehmung der richterlichen Verhörspersonen – ebenso wie Vernehmungsniederschriften verlesen werden – als Vorhalt vorgespielt werden dürfen, BGHSt 49, 72, 78; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 35; kritisch Rieß, StraFo 1999, 1, 3. 662  BGHSt 49, 72, 77 mit  abl. Anm. Degener, StV 2006, 509; zustimmend beispiels­ weise Diemer, in: Karlsruher Kommentar, § 252 Rn. 26. 658 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

weise in Vernehmungen besser geschult sind als Richter.663 Ohnehin konzentriert sich der Ermittlungsrichter im Rahmen der Zeugenvernehmung häufig auch auf die ihm aus den Unterlagen bekannten Aussagen der polizeilichen oder staatsan­ waltschaftlichen Vernehmung, so dass die Gefahr der „Denaturierung der Wahr­ heitsfindung“ besteht und sich die richterliche Vernehmung im Extremfall auf die bloße Wiederholung des Akteninhalts beschränkt.664 Über diese allgemeinen Kritikpunkte an der angeblich höheren Qualität der richterlichen Vernehmung hinaus soll ein genauerer Blick auf die Norm geworfen werden. Der Wortlaut des § 252 StPO liefert jedenfalls keine Anhaltspunkte, weshalb eine Ausnahme für richterliche Verhörspersonen gemacht werden sollte:665 Nach dem Wortlaut wäre nur die Verlesung unzulässig, wovon ursprünglich auch das Reichsgericht ausgegangen ist. Mehner hat dargelegt, dass der Begriff des „Ver­ lesens“ in der Strafprozessordnung in einem Sinne gebraucht wird, der über das „Vorlesen“ im Sinne eines „Zu-Gehör-Bringens“ hinausgeht und häufig weiter zu verstehen ist, nämlich im Sinne eines „Verwertens“ des Urkundeninhalts in Form der Verlesung.666 Der Wortlaut spricht also weder für noch gegen die Zulässigkeit der Vernehmung richterlicher Verhörspersonen.667 Gleiches gilt für die systematische Stellung der Norm.668 Nach Eser enthält § 252 StPO eine Bestätigung des in § 250 StPO niedergelegten Unmittelbar­ keitsprinzips.669 Ein Verbot des mittelbaren Zeugenbeweises konnte allerdings schon nicht aus § 250 StPO hergeleitet werden.670 Vielmehr handelt es sich bei § 252 StPO um einen Fremdkörper innerhalb der Vorschriften über den Urkun­ denbeweis; die Norm ist „an unpassender Stelle in das Gesetz eingefügt wor­ den“671, da sie nicht in den Zusammenhang der §§ 250, 251, 253 ff. StPO, sondern zu den Zeugnisverweigerungsrechten der §§ 52 ff. StPO gehört. Der Sinn und Zweck des § 252 StPO kann also nur im Zusammenhang mit § 52 StPO betrachtet werden. Es geht um den Schutz des Zeugen vor der bereits ange­ 663 

Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1288a. Schünemann, in: FS Meyer-Goßner, S. 385, 405. 665  Siehe dazu auch Neumann, ZIS 2016, 121, 122. 666  Mehner, S. 184 f.; vgl. dazu auch BGHSt 2, 99, 102: „Es widerspricht also nicht dem Sprachgebrauch der StPO, wenn man in dem Verlesungsverbot des § 252 StPO ein Verbot sieht, die Niederschrift über die frühere Vernehmung in irgendeiner Form zu verwerten.“ (Hervorhebungen im Original). 667  Näher dazu Mehner, S. 183 ff.; siehe auch Joachim, S. 167; siehe auch BGHSt 2, 99, 107. 668  Siehe dazu auch Neumann, ZIS 2016, 121, 122 f. 669  Eser, NJW 1963, 234, 236. 670  So auch Joachim, S. 167. 671  Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 250 Rn. 1. 664 

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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sprochenen Zwangslage672 und darüber hinaus auch um den Schutz des familiären Verhältnisses bzw. des Familienfriedens673 und um die „schonende Rücksicht auf die Familienbande, die den Angeklagten mit dem Zeugen verbinden“.674 Diesen Sinn und Zweck der Norm ignoriert der BGH bei seiner Ausnahme für die richterliche Vernehmungsperson aus rein kriminalpolitischen Zweckmä­ ßigkeitserwägungen,675 bei der er verschiedene Interessen miteinander abwägt: „Angesichts eines nach Belehrung bewusst erklärten Verzichts auf die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts in der verfahrensrechtlich hervorgehobenen Situation einer richterlichen Vernehmung ist das öffentliche Interesse an einer effektiven Strafrechtspflege von größerer Bedeutung als das Interesse des Zeu­ gen.“676 Es bestehe kein Anlass, dem Zeugen die Entscheidungsgewalt über seine Zeugnisverweigerung bis zur späteren Hauptverhandlung auch hinsichtlich der Tatsachen offen zu halten, die er in Kenntnis seines Verweigerungsrechts freiwil­ lig und damit unter Verzicht auf dieses Recht in einer richterlichen Vernehmung mitgeteilt habe, denn in dieser Konstellation überwiege das Interesse an effekti­ ver Strafverfolgung die Interessen des Zeugen.677 Dementsprechend wird in der Literatur noch weitergehend vertreten, dass das Aufklärungsinteresse überwiege, wenn der Zeuge in Kenntnis seines Zeugnisverweigerungsrechts, insbesondere nach ordnungsgemäßer Belehrung, ausgesagt hat, so dass jede Verhörsperson – egal ob Richter oder Staatsanwalt und Polizeibeamter – vernommen werden könne.678 Bei einem absoluten Verwertungsverbot schwingt sich der Zeuge auch kei­ neswegs zum – wie es der BGH formuliert – „Herrn des ganzen Verfahrens“679 auf. Wenn man dieses Argument aufgreift, so fragt man sich, weshalb der Zeuge zulässigerweise „Herr des Verfahrens“ sein soll, indem er sich auf sein Zeugnis­ verweigerungsrecht beruft, wenn er zuvor eine Aussage gegenüber der Polizei oder der Staatsanwaltschaft gemacht hat, die dann ja gerade nicht verwertbar wäre. Ist der Zeuge auch Herr des Verfahrens, wenn er sich von Anfang an auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft? Für die Auslegung des § 252 StPO kann 672 

Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 52 Rn. 1. BGHSt 38, 96, 99; BGH NStZ 2009, 345, 346. 674  BGHSt 11, 213, 216; ausführlich zum Schutz der gesamten Familie Rengier, Zeug­ nisverweigerungsrechte, S. 8 ff; ebenso Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1211; zustimmend auch Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 52 Rn. 1; siehe auch Ignor/Bertheau, in: Löwe-Rosenberg, § 52 Rn. 1 m. w. N. 675  Eisenberg, NStZ 1988, 488, 489; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 10; Geppert, Jura 1988, 305, 308: „kriminalpolitischer Kompromiß“. 676  BGHSt 45, 342, 346. 677  BGH StV 1998, 360, 362. 678  Schlüchter, Rn. 497.3. 679  BGHSt 2, 99, 107 f. 673 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

möglicherweise auch der Wortlaut des § 52 Abs. 3 Satz 2 StPO herangezogen werden, wo es nämlich „auch während der Vernehmung“ lautet, so dass jede nachträgliche Änderung des Entschlusses des zeugnisverweigerungsberechtig­ ten Zeugen zu berücksichtigen sein könnte.680 Im Übrigen legen die Geltendma­ chung eines Zeugnisverweigerungsrechts und das daraus resultierende Verbot der Vernehmung der richterlichen Verhörsperson das Verfahren auch keines­ wegs lahm.681 Gerade in Fällen sexuellen Missbrauchs in der Familie – dem wohl wichtigsten Anwendungsfall der richterlichen Verhörspersonen als Zeugen vom Hörensagen682 – wollen die Strafverfolgungsorgane die Aussage des vermeintli­ chen Opfers für den Fall, dass sich dieses später doch auf sein Zeugnisverwei­ gerungsrecht berufen sollte, durch eine ermittlungsrichterliche Vernehmung für die Hauptverhandlung konservieren. So stellte beispielsweise auch in BGHSt 46, 93 ff. die Staatsanwaltschaft den Antrag, die Zeugin „möglichst bald“ richterlich zu vernehmen, da befürchtet werden müsse, der Angeklagte werde „alles unter­ nehmen, möglicherweise auch durch Dritte, um seine Tochter von der Aussage abzuhalten“683. Der Zeuge vom Hörensagen in Form der Vernehmung der Ver­ hörsperson ist ohnehin nur ein Beweismittel von vielen bzw. nur ein Indiz und die Aussage einer richterlichen Verhörsperson hätte dementsprechend nur einen sehr geringen Beweiswert.684 Davon abgesehen kann es aber durchaus zulässig sein, andere Personen, denen gegenüber das Opfer außerhalb einer Vernehmung Angaben zur Tat gemacht hat, zu vernehmen. § 252 StPO billigt dem verweige­ rungsberechtigten Zeugen zumindest zu, „Herr“ über die Verlesung der Verneh­ mungsprotokolle zu sein.685 Schutzzweck des § 252 StPO ist, die Entscheidungsfreiheit des Zeugen bis zu seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung zu sichern, da ihm möglicher­ 680  So

106 f.

schon Sprang, S. 77; siehe auch Mehner, S. 191 ff.; anders aber BGHSt 2, 99,

681  So aber Kohlhaas, NJW 1967, 958, 960 f.: „Daß die Ausdehnung des Beweisverbots auf vernommen habende Zeugen in ihrer letzten Konsequenz den Zusammenbruch aller familiären Deliktsverfahren, vom Sittlichkeitsvergehen bis zur sadistischen Mißhandlung, nach sich ziehen würde, darf als sicher angenommen werden.“; siehe auch Otto, GA 1970, 289, 295 f., der dafür plädiert, um Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern wirksam bekämpfen zu können, § 252 StPO dahingehend zu ändern, dass das Protokoll über die frühere Aussage des Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung gem. § 52 StPO die Aus­ sage verweigert, verlesen werden darf, wenn der Zeuge bei seiner früheren Aussage über sein Zeugnisverweigerungsrecht belehrt wurde und ausdrücklich erklärt hat, dass er von diesem Recht keinen Gebrauch mache. 682  Siehe zu Fällen sexuellen Missbrauchs und richterlicher Verhörsperson beispiels­ weise BGHSt 2, 99; 11, 338; 21, 218; 46, 93 sowie BGH NStZ-RR 2012, 212, 212 f. 683  BGHSt 46, 93, 101. 684  Michaelis, NJW 1968, 58, 59. 685  Siehe dazu auch Eckstein, JA 2002, 119, 123.

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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weise erst zu diesem Zeitpunkt die Folgen seines Verhaltens klar werden. Nur ein umfassendes Verwertungsverbot wird dem Schutz der familiären Situation gerecht, denn der Zeuge kann sich – trotz richterlicher Belehrung – der Trag­ weite seiner Aussage unter Umständen gar nicht bewusst sein.686 Es wird auch dem Schutzzweck des § 252 StPO nicht gerecht, wenn der BGH behauptet, der Zeuge, der trotz Belehrung aussagt, habe seine Schutzwürdigkeit durch seine Äußerung selbst infrage gestellt und auf sein Zeugnisverweigerungsrecht ver­ zichtet.687 Und selbst wenn dem Zeugen die Tragweite seiner Aussage bewusst war, so können die Gründe, weshalb er sich nunmehr auf sein Zeugnisverweige­ rungsrecht beruft, vielfältig sein. Er kann sich mit dem Angeklagten inzwischen wieder versöhnt haben; sogar eine Einflussnahme durch den Angeklagten auf den Zeugen, sein Zeugnisverweigerungsrecht nunmehr auszuüben, wird allge­ mein als zulässig erachtet, sofern dies im Rahmen von sozialüblichem und nicht strafbarem Verhalten geschieht.688 All dies kann dem Schutz des familiären Friedens durchaus dienen. Der Schutz der §§ 52, 252 StPO soll jedem zeug­ nisverweigerungsberechtigten Zeugen zugutekommen, egal von wem er zuvor verhört wurde. Es geht hier einzig und allein um die Konfliktsituation des Zeu­ gen und den Schutz der familiären Bande, der nicht von Art und Form der Be­ lehrung oder der Mär der besonderen Qualität einer richterlichen Vernehmung abhängt.689 Bloße Zweckmäßigkeitserwägungen dürfen, auch wenn sie einem le­ gitimen Zweck690 dienen mögen, keinesfalls die Umgehung des Gesetzes recht­ fertigen.691 Mit Blick auf den Telos könnte man das Argument der höheren Qua­ lität der richterlichen Vernehmung – sofern man eine solche überhaupt bejahen wollte – auch ins Gegenteil verkehren: Die Vernehmung des Richters muss erst recht ausgeschlossen sein, wenn man den Schutz der Familie und die Belastung eines Angehörigen berücksichtigt, da die Vernehmung des Ermittlungsrichters aus der Perspektive des erkennenden Gerichts ein viel bedeutenderes und den Angeklagten damit stärker belastendes Beweismittel ist, weil das Gericht unter psychologischen Gesichtspunkten einem Kollegen einen höheren Beweiswert beimessen wird als einer sonstigen Vernehmungsperson oder gar einer Privat­ person. Der Ermittlungsrichter wird daher der den Angeklagten am stärksten belastende Zeuge vom Hörensagen sein. In der Praxis ist die Vernehmung durch den Ermittlungsrichter keineswegs eine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel,

686 

Sprang, S. 75. BGHSt 2, 99, 106 f.; ablehnend auch Sprang, S. 75 ff. 688  Joachim, S. 168 f.; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 9 f.; vgl. dazu auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 112 Rn. 29. 689  Sprang, S. 79. 690  BGHSt 46, 93, 101, dort auch mit Verweis auf Nrn. 10, 19a, 221, 222 RiStBV. 691  Michaelis, NJW 1968, 58, 59; so auch Eisenberg, NStZ 1988, 488, 489. 687 

122

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

um die Aussage für die Hauptverhandlung zu konservieren, was aber zu einer Aushöhlung des § 252 StPO führt.692 Wenn man dieser restriktiven Auffassung nicht folgen will, so erscheint es doch zumindest sachgerecht, wie vom 2. Strafsenat in einem Anfragebeschuss beabsichtigt, die Verwertung einer früheren richterlichen Vernehmung eines Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungs­ recht Gebrauch macht, durch Vernehmung der richterlichen Vernehmungsperson nur dann für zulässig zu erachten, wenn dieser Richter den Zeugen nicht nur über sein Zeugnisverweigerungsrecht, sondern auch qualifiziert über die Möglichkeit der Einführung und Verwertung seiner Aussage im weiteren Verfahren belehrt hat.693 Der 4. Strafsenat694 und auch der 1. Strafsenat695 haben allerdings erklärt, an der bisherigen Rechtsprechung, dass eine qualifizierte Belehrung des Zeugen nicht geboten sei, festhalten zu wollen.696 Nichtsdestotrotz ist es aber nach Ansicht der Rechtsprechung und auch eines Teils der Literatur zulässig, die richterliche Verhörsperson und nur diese – so soll wegen Verstoßes gegen § 252 StPO nicht einmal die Vernehmung der Protokoll­ führerin zulässig sein, wenn diese bekunden soll, dass der als Zeuge vernomme­ ne Richter den Inhalt einer Aussage objektiv falsch wiedergegeben habe697 – zu vernehmen, so dass diese Konstellation die wohl wichtigste Form des Zeugen vom Hörensagen im Strafprozess darstellt. Es stellt sich also die Frage, welche weiteren Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um den Ermittlungsrichter ver­ nehmen zu können. Gem. § 141 Abs. 3 StPO muss mit Blick auf das Konfrontati­ onsrecht des Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK dem Beschuldigten vor der zum Zwecke der Beweissicherung durchgeführten ermittlungsrichterlichen Vernehmung ei­ nes zentralen Belastungszeugen ein Verteidiger bestellt werden, wenn der Be­ schuldigte von der Anwesenheit bei dieser Vernehmung ausgeschlossen ist. Das Unterlassen der Bestellung des Verteidigers mindert zwar den Beweiswert des Vernehmungsergebnisses (Beweiswürdigungslösung), es soll aber nach stetiger Rechtsprechung keineswegs zu dessen Nichtverwertung führen.698 Auch hier kann der Tatrichter eine Verurteilung nur auf die Angaben des Vernehmungs­ 692 

Näher dazu Rengier, Jura 1981, 299, 303 m. w. N. NStZ 2014, 596, 597 f.; zustimmend auch Henckel, HRRS 2014, 482, 485; Jahn, JuS 2014, 1138, 1139 f.; Neumann, ZIS 2016, 121, 128 f.; ablehnend aber Kudlich/ Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 23. 694  BGH, Beschluss vom 08. 01. 2015 – 3 ARs 20/14 –, BeckRS 2015, 02351. 695  BGH, Beschluss vom 14. 01. 2015 – 1 ARs 21/14 –, BeckRS 2015, 02348 Rn. 11 ff. 696  Siehe dazu BGH NJW-Spezial 2015, 153. 697  BGH NStZ 1993, 295; dazu Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1287; Roxin/Schünemann, § 46 Rn. 29. 698  BGHSt 46, 93, 103 ff.: „nur Minderung des Beweiswertes, kein Verwertungsver­ bot“; siehe auch Detter, NStZ 2003, 1, 3. 693  BGH

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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richters stützen, wenn diese Bekundungen durch andere wichtige Gesichtspunkte außerhalb der Aussage bestätigt werden.699 Gegen diese Beweiswürdigungslö­ sung hat auch das BVerfG keine Bedenken.700 Bei der Vernehmung des Ermittlungsrichters kann von der Benachrichtigung des Verteidigers unter Umständen abgesehen werden, wenn dessen Benachrichti­ gung den Untersuchungserfolg beispielsweise durch eine zeitliche Verzögerung701 gefährden würde, § 168c Abs. 5 S. 2 StPO.702 Daher wird in der Praxis die ermitt­ lungsrichterliche Vernehmung oft unmittelbar im Anschluss an die polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Vernehmung stattfinden.703 c)  In welchen Konstellationen ist die Vernehmung des Zeugen vom Hörensagen möglicherweise durch § 252 StPO gesperrt? Für die Frage, ob eine Vernehmung als Zeugen vom Hörensagen in der Haupt­ verhandlung möglich ist, ist entscheidend, ob dieser Zeuge vom Hörensagen den Dritten zum damaligen Zeitpunkt bereits seinerseits vernommen hat. Nur bei ei­ ner Vernehmung besteht eine Belehrungspflicht, § 52 Abs. 3 Satz 1 StPO, die – sofern gegen sie verstoßen wurde – unter Umständen ein Verwertungsverbot zur Folge hat.704 Es muss also zunächst eine Vernehmung vorliegen, denn den Schutz der §§ 52, 252 StPO verdient ein Zeuge, der seine Angabe außerhalb einer Vernehmung aus freien Stücken macht, in der Regel nicht. Früher wurde der Begriff der Vernehmung rein formal bestimmt und danach differenziert, ob es bloße „Äußerungen“ – also Angaben außerhalb einer Verneh­ mung – waren oder ob es sich um eine „Aussage“ in einer förmlichen Verneh­ mung handelte. § 252 StPO sollte nur für Aussagen in einem laufenden Strafver­ fahren Anwendung finden.705 Allerdings hat auch der BGH inzwischen erkannt, dass die Unterscheidung zwischen den Begriffen „Aussage“ und „Äußerung“ nicht geeignet ist, den Anwendungsbereich des § 252 StPO klar abzugrenzen.706 Vernehmung im Sinne des § 252 StPO ist nicht nur eine förmlich durchgeführ­ te Vernehmung, sondern dieser Begriff ist vielmehr weit auszulegen und umfasst

699 

BGHSt 46, 93 ff.; Detter, NStZ 2003, 1, 3. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 23. 01. 2008 – 2 BvR 2491/07 –, juris. 701  Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 168c Rn. 5. 702  Siehe dazu auch Rengier, Jura 1981, 299, 305 f. 703  Rengier, Jura 1981, 299, 303; Schünemann, in: FS Meyer-Goßner, S. 385, 392. 704  Vgl. dazu Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 52 Rn. 32. 705  OLG Düsseldorf, NJW 1968, 1840 mit abl. Anm. Hahnzog, NJW 1969, 68; OLG Stuttgart, Justiz 1972, 322; siehe auch Haubrich, NJW 1981, 803, 804 und Joachim, S. 174. 706  BGHSt 29, 230. 700 

124

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

alle früheren Bekundungen aufgrund einer amtlichen Befragung.707 Entscheidend soll nach Ansicht der Rechtsprechung sein, dass das Staatsorgan in amtlicher Ei­ genschaft der Auskunftsperson gegenübertritt und diese zu dem den Gegenstand des Strafverfahrens bildenden Sachverhalt befragt. An diesem Gegenübertreten in amtlicher Funktion soll es – wie der BGH in der Sedlmayr-Entscheidung betont hat – fehlen, wenn der Zeuge sich gegenüber einem V-Mann äußert. Denn selbst wenn der V-Mann nachfrage, führe er keine Vernehmung, da sich der Zeuge nicht in einer Konfliktsituation befinde, sondern sich „aus freien Stücken“ äußere.708 Allerdings werden auch vernehmungsähnliche Situationen709 und informato­ rische Befragungen vom Verwertungsverbot des § 252 StPO erfasst710. Bei der „informatorischen Befragung“711 handelt es sich um eher allgemeine Fragen, durch die die Polizeibeamten, wenn sie vor Ort eintreffen, noch bevor überhaupt ein Verdacht wegen einer bestimmten Straftat oder gegen eine bestimmte Person besteht, sich im Rahmen einer informatorischen Voruntersuchung bzw. einem dem formalisierten Ermittlungsverfahren „zeitlich vorgelagerten formlosen ‚In­ formationsverfahren‘“ ein Bild von der Lage machen.712 Bei diesen allgemeinen Fragen handelt es sich um eine Informationssammlung in Form des Herumfra­ gens. Der Beweiserhebungswille des Amtsträgers entspricht noch nicht dem einer Vernehmung. Auch der Zeuge wird in einer Vernehmung aufgrund der Förmlich­ keit des Verfahrens einen anderen Zwang zum Geben von Antworten verspüren als bei der informatorischen Befragung. Allerdings darf nicht verkannt werden, dass auch bei letzterer durchaus eine mittelbare Beeinflussung des Zeugen durch staatliche Strafverfolgungsorgane erfolgen kann, weil deren Anwesenheit beim Zeugen – obgleich er nicht unmittelbar zu einer Aussage gezwungen wird – zu einem Motivationszwang führen kann, der für die weiteren Angaben des Zeugen ursächlich ist.713 Denkbar ist ein vorauseilender Gehorsam in Form des vorschnel­ len Beantwortens von Fragen. Gerade bei informatorischen Befragungen sei das Schutzbedürfnis des Zeugen noch größer als bei förmlichen Vernehmungen.714 707  BGHSt 29, 230, 232 f.; BayObLG NStZ 2005, 468, 469; OLG Saarbrücken, NJW 2008, 1396, 1396; LG Stuttgart, Beschluss vom 20. 10. 2014 – 7 Qs 52/14 –, BeckRS 2014, 19703; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 9; kritisch Haubrich, NJW 1981, 803, 803 f. 708  BGHSt 40, 211, 215. 709  BGH NJW 1990, 1859, 1860. 710  Kritisch zur Erfassung von informatorischen Befragungen durch § 252 StPO wohl Haubrich, NJW 1981, 803, 803 f. 711  Geppert plädiert dafür, von „informatorischer Anhörung“ zu sprechen, da dieser Begriff neben der informatorischen Befragung auch die spontanen Äußerungen miterfas­ se, in: FS Oehler, S. 323, 323. 712  Geppert, in: FS Oehler, S. 323, 324 f.; siehe auch Joachim, S. 178. 713 So Joachim, S. 178 f. 714  BayObLG NStZ 2005, 468, 469.

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

125

Für den Ermittlungsrichter kann das Vorliegen einer Vernehmung unproble­ matisch bejaht werden, er soll aber nach Ansicht der Rechtsprechung als Aus­ nahme zu § 252 StPO trotzdem vernommen werden dürfen. Spannender ist die Frage, ob der Dritte gegenüber der Polizei oder anderen Behörden seine Angaben im Rahmen einer Vernehmung oder vernehmungsähnlichen Situation gemacht hat, da diese gerade nicht als Zeugen vom Hörensagen vernommen werden könn­ ten, sondern ihre Vernehmung durch § 252 StPO gesperrt ist, wenn die früheren Äußerungen ihnen gegenüber eine Vernehmung i. S. d. § 252 StPO darstellen. aa)  Einzelfälle im Fokus der vernehmungsähnlichen Situation Es gibt zahlreiche Grenzfälle, in denen immer auf die Gesamtsituation des Einzelfalls abgestellt werden muss. Entscheidendes Kriterium, ob eine Verneh­ mung i. S. d. § 252 StPO vorliegt, ist nach herrschender Meinung, auf wessen Initiative die Äußerungen zurückzuführen sind: Macht der Zeuge die Äußerun­ gen von sich aus, also ungefragt oder reagiert er auf staatliches Verhalten, indem er die Fragen von Polizisten und anderen Hoheitsträgern beantwortet und damit in einer Konfliktlage Informationen preisgibt? Damit unterfallen nicht nur Be­ kundungen gegenüber Privatpersonen mangels einer Vernehmungssituation715 – wie beispielsweise die Äußerungen gegenüber Rettungssanitätern716 –, sondern auch Erklärungen gegenüber Amtspersonen, die der Angehörige von sich aus außerhalb einer Vernehmung, etwa bei der Bitte um polizeiliche Hilfe ungefragt, „spontan“ und „aus freien Stücken“ abgegeben hat, nach herrschender Meinung keinem Verwertungsverbot.717 bb)  Erstattung einer Anzeige Aus eigener Initiative und damit „spontan“ und „aus freien Stücken“718 wendet sich der Zeuge bei der Erstattung einer Strafanzeige719 an die Polizei, so dass diese, sofern sie nicht mit einer Vernehmung verbunden ist, verwertbar ist. Nach Rengier sollen alle Äußerungen, die der Polizei in ihrer Funktion als Ermittlungsund Vernehmungsorgan zugehen, unter das Verwertungsverbot des § 252 StPO fallen, da sie einen einheitlichen Lebensvorgang bilden, der nicht durch Zufälle oder gar Willkür aufgespalten werden dürfe.720 Deshalb dürfe auch der Inhalt 715 

BGH StV 1998, 360, 361. BGH, Urteil vom 23. 05. 2001 – 3 StR 17/01 –, juris Rn. 10. 717  OLG Saarbrücken NJOZ 2014, 1608, 1609. 718  BGH NJW 1998, 2229. 719  BGH NJW 1998, 2229; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 39 jeweils m. w. N. 720  Rengier, Jura 1981, 299, 301. 716 

126

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

einer Strafanzeige als Vorstufe einer Vernehmung nicht verwertet werden.721 Ge­ ppert weist zu Recht darauf hin, dass eine solche Sichtweise zu weit geht, zumal § 252 StPO den Zeugen nicht vor jeder seelischen Belastung schützen soll, son­ dern nur vor solchen, die mit der Wahrnehmung und Erfüllung von Zeugenpflich­ ten verbunden sind.722 Allgemein anerkannt ist, dass eine Strafanzeige, die mit einer Vernehmung verbunden ist, nicht verwertet werden darf.723 cc)  Notrufe und das Eintreffen von Polizeibeamten Auch im Rahmen von Notrufen724 wendet sich der Zeuge von sich aus und ohne staatliche Befragung an die Polizei, um deren Einschreiten zur Gefahrenabwehr oder zur Verfolgung einer Straftat zu verlangen. Bei diesen ersten Angaben zur Tat handelt es sich um einen Hilferuf, der verwertet werden kann. Wenngleich sich diese Hilferufe oft auf das Verhalten eines Angehörigen beziehen, sind die Äußerungen, da § 252 StPO nicht greift, verwertbar. Allerdings muss beachtet werden, dass nicht allein maßgeblich sein kann, dass sich der Zeuge aus eige­ ner Initiative an die Polizei gewandt hat, da durch stetiges Befragen die §§ 52, 252 StPO nicht umgangen werden dürfen und der Anruf schließlich in eine Ver­ nehmung münden kann.725 Entscheidend ist also die Art der Fragen bzw. welche Fragen gestellt werden. Auch die Fragen des den Notruf entgegennehmenden Po­ lizeibeamten sollen, vor allem wenn es sich um sehr kurze Fragen handelt, abklä­ ren, ob ein Notfall vorliegt, ob polizeiliche Hilfe erforderlich ist und wo sich das Opfer und der mutmaßliche Täter zum Zeitpunkt des Anrufs aufhalten, und dann nicht unter § 252 StPO fallen.726 Sogar die Fragen, die die Polizeibeamten kurz nach dem Eintreffen am Ein­ satzort stellen, was passiert sei oder warum die Zeugen die Polizei gerufen ha­ ben, stellen nicht zwingend bereits eine Vernehmung dar, sondern es handelt sich oftmals lediglich um ein „Eingangsgespräch“ zur „Orientierung“, um sich ganz allgemein ein Bild von der Lage zu machen.727 Eine besondere Rolle spielen Notrufe und die Fragen der eintreffenden Polizei­ beamten bei Trunkenheitsfahrten und anderen Verkehrsdelikten. 721  Rengier, Jura 1981, 299, 301; ausdrücklich ablehnend Geppert, in: FS Oehler, S. 323, 333 f. 722  Geppert, in: FS Oehler, S. 323, 334. 723 Vgl. Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 39 m. w. N. in Fn. 214. 724  BGH NStZ 1986, 232; OLG Hamm NStZ 2012, 53. 725  Näher dazu LG Stuttgart, Beschluss vom 20. 10. 2014 – 7 Qs 52/14 –, BeckRS 2014, 19703. 726  OLG Hamm NStZ 2012, 53, 53 f. 727  So OLG Hamm, Beschluss vom 24. 06. 2014 – 3 RVs 44/14 –, BeckRS 2014, 19563, Rn. 28 und 39 f.

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

127

Wenn ein Zeuge sich telefonisch bei der Polizei meldet und behauptet, An­ gaben zu einem Verkehrsunfall machen zu können, so handelt es sich um eine Vernehmung i. S. d. § 252 StPO, wenn er anschließend von den Polizeibeamten aufgesucht und informatorisch zum Sachverhalt befragt wird.728 Aufgrund der informatorischen Befragung hielt auch das BayObLG die Äußerungen in einem ähnlichen Fall für nicht verwertbar.729 Die Polizisten, die nach Anzeigeerstattung und Halteranfrage am Wohnhaus eintrafen, sagten den die Haustür öffnenden Eltern, dass sie den Fahrer des weißen Fahrzeugs suchten, woraufhin die Eltern übereinstimmend angaben, dass diesen nur ihr Sohn fahre. Dieser sei erst vor kurzem heimgekommen.730 Der Vater gab ferner an, dass es ja mal Zeit wurde, dass die Polizei komme.731 Anders entschied allerdings das OLG Saarbrücken: Die Zeugin hatte sich vor Bekanntwerden des Tatverdachts gegen ihren Ehemann telefonisch an die Polizei gewandt und mitgeteilt, dass ihr Mann soeben mit dem Fahrzeug nach Hause ge­ kommen sei, einen Unfall gehabt habe und betrunken sei. Als die Polizeibeamten dort eintrafen, äußerte der Angeklagte – während die Beamten noch aus ihrem Fahrzeug stiegen und bevor sie Gelegenheit hatten, den Angeklagten oder seine Frau anzusprechen –, er wäre nicht gefahren, während seine Ehefrau sagte, er sei soeben mit dem Fahrzeug nach Hause gekommen. Die Angaben der vor den Po­ lizeibeamten streitenden Ehegatten seien uneingeschränkt verwertbar, da keine informatorische Befragung stattgefunden habe.732 Die Frage der besorgten Mutter, ob ihrem Sohn etwas passiert sei, dieser sei nämlich mit dem Motorrad zur Uni gefahren733, als sie die Polizisten an der Haus­ tür sieht, kann als Spontanäußerung verwertet werden, wenn es darum geht, wer zur Tatzeit ein Motorrad ordnungswidrig geführt hat. Ebenso sind die Äußerun­ gen der Zeugin verwertbar, die diese spontan in einem „nicht zu bremsenden Re­ deschwall“ gegenüber den Polizeibeamten unmittelbar nach deren Eintreffen und sofort nach Öffnen der Wohnungstür macht.734 Gleiches gilt auch für die Antwort, die der Zeuge den am Tatort eintreffenden Polizeibeamten („noch auf dem Flur“) auf die Frage, was los sei, gibt. Auch diese Frage der Beamten leite noch keine „Vernehmung formloser (informatorischer) Art“ ein.735 728 

OLG Köln VRS 80 (1991), 32, 34. BayObLG NStZ 2005, 468, 469. 730  BayObLG NStZ 2005, 468, 468. 731  BayObLG NStZ 2005, 468, 468. 732  OLG Saarbrücken NJW 2008, 1396. 733  OLG Saarbrücken NJOZ 2014, 1608, 1609. 734  OLG Hamm NStZ 2012, 53, 54. 735  BGH NStZ 1986, 232; siehe auch OLG Hamm NStZ 2012, 53, 54: Zeugin fällt nach dem Eintreffen der Beamten sofort nach dem Öffnen der Wohnungstür in einen „nicht zu bremsenden Redeschwall“. 729 

128

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Hingegen ist die Grenze zur Vernehmung überschritten, so dass der Polizei­ beamte nicht über die Angaben eines Kindes als Zeuge vernommen werden darf, wenn das Kind erst auf Nachfrage des Polizisten von einer an ihm begangenen Straftat berichtet. In BGHSt 29, 230 hatte ein Polizeibeamter nachts ein zwölf­ jähriges Mädchen aufgegriffen. Auf die Frage, was sie um diese Zeit in der In­ nenstadt zu suchen habe, antwortete sie, dass sie fürchte, von ihrem betrunkenen Vater geschlagen zu werden. Daraufhin fragte der Polizist erneut, was geschehen sei. Das Mädchen hat zunächst nur geantwortet, dass ihr Vater sie schlage „und so“. Erst auf weitere Nachfrage, was sie mit diesem Ausdruck meine, hat die Zeugin zu erkennen gegeben, dass sie sexuell bedrängt werde.736 Hier wurden die belastenden Äußerungen erst auf Nachfrage des Polizisten, die insbesondere auf die Erläuterung der zunächst unbestimmten Angaben der Zeugin abzielte, gemacht, so dass eine Vernehmung vorlag. dd)  Sozialarbeiter Wenn eine Sozialarbeiterin737 ein elfjähriges Mädchen, das von seinem Vater sexuell missbraucht wurde, befragt, „um zu erkunden, wie sie am besten helfen könne“738, handelt es sich nicht um eine vernehmungsähnliche Situation. Gleiches gilt für Äußerungen, die das minderjährige Opfer macht, das sich zur medizini­ schen Untersuchung und therapeutischen Behandlung in einer Klinik aufhält, wo sie während drei Sitzungen durch einen Diplompsychologen und eine Sozialpä­ dagogin zu sexuellen Verfehlungen des Angeklagten befragt wurde und dabei in einer „unverfänglichen Spielsituation“ Äußerungen zur Tat gemacht hat.739 ee)  Sachverständige und Jugendgerichtshilfe Mitteilungen eines Zeugen gegenüber einem Sachverständigen über Zusatztat­ sachen, um dessen Glaubwürdigkeit zu begutachten, stehen einer Aussage i. S. d. § 252 StPO gleich.740 Dies gilt auch dann, wenn der Sachverständige außerhalb des anhängigen Strafverfahrens, etwa in einem Zivilrechtsstreit, oder auch in ei­ nem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit, tätig geworden ist.741 Der BGH stellt ausdrücklich fest, dass, wenn ein Kind in einem Sorgerechtsverfahren zu sexuellen Übergriffen seines Stiefvaters durch einen Sachverständigen befragt wird, um die Glaubwürdigkeit der Zeugin zu überprüfen, seine Interessenlage in 736 

BGHSt 29, 230, 231. Siehe auch Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 39 m. w. N. in Fn. 219 f. 738  BGH NStZ 1986, 232 mit Anm. Kiehl, StV 1988, 48. 739  BGH NStZ 1992, 247. 740  BGHSt 46, 189, 192; BGH NStZ 2007, 353, 354; siehe auch Rengier, Jura 1981, 299, 304 f. 741  BGH NStZ 2007, 353, 354 m. w. N. 737 

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

129

den wesentlichen Punkten nicht anders als bei einer Vernehmung als Zeuge im Strafverfahren sei.742 Das Kind befinde sich in einer „vernehmungsähnlichen Si­ tuation“.743 Der Sachverständige kann demnach nicht als Zeuge vom Hörensagen vernommen werden.744 Unter § 252 StPO fallen auch Angaben, die auf Befragung gegenüber einem Beauftragten der Gerichts- und Jugendgerichtshilfe gemacht wurden.745 ff)  Informelle Befragungen Auch informelle Befragungen im Rahmen heimlicher Ermittlungen können mangels förmlicher Vernehmung verwertet werden746. Ein V-Mann darf zu den Äußerungen von Angehörigen des Angeklagten üblicherweise vernommen wer­ den. Der BGH hat in der Sedlmayr-Entscheidung, BGHSt 40, 211 ff., die Ver­ wertung für zulässig erachtet, wenn der V-Mann von den Ermittlungsbehörden gezielt auf den Angeklagten und dessen Umfeld angesetzt wurde und im Rahmen der Gespräche mehrmals nachfragt. Da V-Männer nicht den Ermittlungsbehörden angehören und dem Zeugen auch nicht in amtlicher Funktion gegenübertreten, liegt keine Vernehmung vor.747 Auch eine entsprechende Anwendung des § 252 StPO lehnt der BGH richtigerweise ab, da der Schutzzweck des Zeugnisverweige­ rungsrechts nicht berührt sei: Im Gegensatz zu der typischen Vernehmungssitua­ tion besteht hier keine Konfliktlage des Zeugen, sich zwischen wahrheitswidriger Aussage oder der Belastung eines Angehörigen entscheiden zu müssen, da der Zeuge, wenn ihm kein Strafverfolgungsorgan in amtlicher Funktion gegenüber­ tritt, selbst und aus vollkommen freien Stücken entscheiden kann, was er äußert und wer seine Gesprächspartner sind.748 Für § 252 StPO ist es unerheblich, ob es sich dabei um „wahre oder falsche Freunde“ handelt.749 Entscheidend ist, dass es sich um ein Privatgespräch handelt. Das BVerfG hat allerdings betont, dass ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren vorliegen kann, wenn sich das Vorgehen des V-Mannes nicht nur als eine „rein passive Informationserlangung“,

742 

BGHSt 36, 384, 388 (= BGH NJW 1990, 1859 f.). BGHSt 36, 384, 389. 744  Anders ist dies bei sog. Befundtatsachen; ausführlich zu den Äußerungen gegen­ über einem Sachverständigen, Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 40 ff. m. w. N.; siehe auch Eckstein, JA 2002, 119, 124 f. 745  BGH NJW 2005, 765, 766; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1276a. 746  Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 52 Rn. 3; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn 9 jeweils m. w. N. 747  BGHSt 40, 211, 214 (= BGH NStZ 1994, 593 ff.); siehe Kudlich/Schuhr, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 9 m. w. N. 748  BGHSt 40, 211, 214; Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 38 f. 749  BGHSt 40, 211, 215. 743 

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

130

sondern vielmehr als „heimliche Befragung“ darstellt.750 Jedenfalls erscheint ein Verwertungsverbot in den Fällen sachgerecht, in denen der V-Mann gegen einen Zeugen, der sein Zeugnisverweigerungsrecht ausübt, gezielt eingesetzt wird, um ihn heimlich zu befragen und dessen Rechte gezielt zu umgehen.751 d)  § 252 StPO und entlastende Äußerungen Die §§ 52, 252 StPO gelten nach Ansicht des BVerfG auch für den Angeklag­ ten entlastende Äußerungen des Zeugen.752 Der Zeuge allein hat die Wahl, seine einmal gemachte – belastende oder entlastende – Aussage bis zur Hauptverhand­ lung für ihn folgenlos wieder rückgängig zu machen.753 Deshalb kann eine rich­ terliche Verhörsperson auch nicht zu für den Angeklagten günstigen Aussagen befragt werden. e)  § 252 StPO und das Auskunftsverweigerungsrecht gemäß § 55 StPO Während die Vernehmung von Verhörspersonen als Zeugen vom Hörensagen aufgrund von § 252 StPO auch für informatorische Befragungen von Angehö­ rigen grundsätzlich ausgeschlossen ist, geht der Schutz für den Beschuldigten – mangels einer entsprechenden Regelung, die denselben Schutz für den Ange­ klagten bezweckt, wie sie § 252 StPO dem Zeugen gewährt – nicht so weit: Hier können die Polizeibeamten als Zeugen vom Hörensagen über das, was ihnen der Beschuldigte im Rahmen einer informatorischen Befragung mitgeteilt hat, durchaus vernommen werden.754 Sofern überhaupt eine Vernehmung vorliegt, ist allerdings umstritten, ob § 252 StPO auch für das Auskunftsverweigerungsrecht gem. § 55 StPO gilt.755 Man könnte meinen, dass das Auskunftsverweigerungsrecht schon begrifflich nicht unter § 252 StPO fällt, was mit der scheinbaren sprachlichen Differenzierung 750 

BVerfG NStZ 2000, 489, 490. Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 38; siehe auch BVerfG NStZ 2000, 489 mit Anm. Rogall (ab S. 490), dort insbesondere S. 493 zur Umgehung sowie BGHSt 40, 211, 217 mit Anm. Schlüchter/Radbruch, NStZ 1995, 354, 354 f. 752  BVerfG NStZ-RR 2004, 18, 19; ebenso Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 Rn. 1; a. A. Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 8 m. w. N. sowie Mitsch, JR 2012, 431, 434. 753  BVerfG NStZ-RR 2004, 18, 19. 754  Näher dazu Geppert, in: FS Oehler, S. 323, 343. 755 Gegen eine Anwendung des § 252 StPO auf das Auskunftsverweigerungsrecht wohl die h. M.: BGHSt 17, 245, 247; eingehend dazu Dölling, NStZ 1988, 6, 8 ff.; siehe auch Beulke, Rn. 466; Dahs, Handbuch, Rn. 577; Grünwald, JZ 1966, 489, 499; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 11 m. z. N.; Sander/Cirener, in: Löwe-Ro­ senberg, § 252 Rn. 6; a. A. beispielsweise Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1129; Geppert, Jura 1988, 305, 312 f.; Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 236. 751 

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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in der Strafprozessordnung zwischen Zeugnis- und Auskunftsverweigerungs­ recht begründet werden könnte. Dass es eine solche aber tatsächlich nicht gibt, zeigt § 56 StPO.756 Diejenigen, die § 252 StPO nicht anwenden wollen, wenden auch ein, bei § 55 StPO gehe es nicht um den Schutz der familiären Situation oder eines besonderen Vertrauensverhältnisses,757 sondern allein um Achtung der Persönlichkeit758 und damit den Schutz vor Selbstbelastung759. Nach der Recht­ sprechung und einem Teil der Literatur können Äußerungen, die der Zeuge im Ermittlungsverfahren gemacht hat, durch Vernehmung der Verhörsperson in der Hauptverhandlung verwertet werden, selbst wenn sich der Zeuge dort auf § 55 StPO beruft.760 Dies erscheint auch sachgerecht, denn wenn der Zeuge ordnungs­ gemäß belehrt worden ist und trotzdem aussagt, hat er auf den Schutz des § 55 StPO bewusst und endgültig verzichtet. Er wird keineswegs zu einer Selbstbelas­ tung gezwungen, vor der § 55 StPO den Zeugen schützen will, sondern er muss lediglich hinnehmen, dass frühere Aussagen verwertet werden.761 Wenn der Zeu­ ge auf den Schutz des § 55 StPO verzichtet, bedeutet dies außerdem, dass sofort ein Verfahren gegen ihn selbst eingeleitet werden kann, in dem seine Äußerungen verwertet werden; dann muss die Aussage erst recht im Strafprozess gegen den ursprünglichen Beschuldigten verwertet werden können.762 f)  Berufsgeheimnisträger gemäß §§ 53, 53a StPO Es könnten auch Ärzte, Psychologen oder sonstige Berufsgeheimnisträger als Zeugen vom Hörensagen im Strafprozess vernommen werden, indem sie beispielsweise darüber, was das Opfer unmittelbar nach der Tat dem die Verlet­ zungen behandelnden Arzt gesagt hat oder was der Täter nach der Tat seinem Therapeuten offenbart hat, berichten. Diese Angaben des Zeugen vom Hörensa­ gen könnten mangels einer Vernehmungssituation selbst dann verwertet werden, wenn sich die unmittelbare Zeugin – beispielsweise, weil sie von ihrem Ehemann 756  So ausdrücklich Eb. Schmidt, StPO I, Vorbem. zu §§ 52 – 56 Rn. 9, weshalb seiner Meinung nach auch § 55 StPO unter § 252 StPO fällt; ebenso noch Alsberg/Nüse, Beweis­ antrag (3. Aufl.), S. 100. 757  BGH NStZ 2009, 345, 346; siehe aber auch Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/ Widmaier, § 55 Rn. 1. 758  BVerfGE 38, 105, 113; BGHSt 17, 245, 246: „ein Persönlichkeitsrecht“; BGH NStZ 1998, 46, 47. 759  BGHSt 17, 245, 246; 38, 302, 305 f.; 47, 220, 223; BGH NStZ 1998, 46, 47; Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1113. 760 BGHSt 17, 245, 247; Güntge, in: Alsberg, Beweisantrag, Rn. 873; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 Rn. 5 m. w. N.; a. A. Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1284 und insbesondere 1129 m. w. N. 761  Dölling, NStZ 1988, 6, 8 f. 762  Beulke, Rn. 466.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

misshandelt worden ist – auf ein Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 52 StPO be­ ruft oder der Angeklagte von seinem Schweigerecht Gebrauch macht. Bestimm­ te Berufsgruppen unterliegen allerdings einer Geheimhaltungspflicht. Dies sind beispielsweise Ärzte763, § 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB, Psychologen764, § 203 Abs. 1 Nr. 2 StGB, sowie Sozialarbeiter und Sozialpädagogen765, § 203 Abs. 1 Nr. 5 StGB. Die Kehrseite dieser materiellrechtlichen Schweigepflicht ist das in § 53 StPO normierte Zeugnisverweigerungsrecht für bestimmte Berufsgeheimnisträ­ ger.766 Der Personenkreis, dem ein solches Zeugnisverweigerungsrecht gewährt wird, ist allerdings kleiner als der des § 203 StGB;767 gem. § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO wird es zwar Ärzten und physiologischen Psychotherapeuten sowie Kinderund Jugendpsychotherapeuten, nicht aber Sozialarbeitern und Sozialpädagogen gewährt. Hier sind zwei Konstellationen denkbar: Zum einen könnte der Berufsgeheim­ nisträger von der Schweigepflicht entbunden werden, zum anderen könnte er aber auch unter Verstoß gegen die Schweigepflicht aussagen. aa)  Verwertbarkeit von Äußerungen, die unter Verstoß gegen die Schweigepflicht erfolgt sind Umstritten ist, ob die Äußerungen, die unter Verstoß gegen die Schweige­ pflicht gemacht werden und somit eine Strafbarkeit des Berufsgeheimnisträgers gem. § 203 StGB begründen, im Strafverfahren verwertet werden dürfen. Beispielsweise könnte der Arzt, der das Opfer behandelt hat, aussagen, dass das Opfer ihm gegenüber während der Behandlung angegeben hat, von seinem Vater oder Ehemann misshandelt worden zu sein. Das Opfer selbst beruft sich allerdings auf sein Zeugnisverweigerungsrecht und möchte den Arzt auch nicht von der Schweigepflicht entbinden. Der BGH bejaht die Zulässigkeit der Vernehmung und die Verwertbarkeit einer solchen Aussage.768 Als Begründung wird angeführt, dass die aus § 203 Abs. 1 StGB resultierende Strafbarkeit allein die Risikosphäre des Zeugen be­ treffe und daher die Aufklärungspflicht des Gerichts nicht einschränken könne und dass § 53 StPO ein Zeugnisverweigerungsrecht und keine Zeugnisverweige­ rungspflicht normiere, so dass allein der zeugnisverweigerungsberechtigte Be­ 763 

Fischer, § 203 Rn. 19. Fischer, § 203 Rn. 20. 765  Fischer, § 203 Rn. 24. 766  Näher zum Verhältnis von § 53 StPO zu § 203 StGB Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 53 Rn. 4 ff.; Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 53 Rn. 3 ff. 767  Eschelbach, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 53 Rn. 3. 768  BGHSt 9, 59, 60 f.; 15, 200, 202; 18, 146, 147 f.; ebenso Schmitt, in: Meyer-Goßner/ Schmitt, § 53 Rn. 6 m. w. N.; Volk/Engländer, § 28 Rn. 16. 764 

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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rufsgeheimnisträger die Wahl habe, ob er dieses Recht ausübe oder eben nicht.769 Diese Ansicht ist zu eng. Beulke kritisiert, dass ein „wortbrüchiger Gesprächs­ partner“ vor staatlichen Gerichten kein Gehör finden dürfe.770 Ein Beweisverwer­ tungsverbot wird häufig für Äußerungen bejaht, die in den Kernbereich privater Lebensgestaltung fallen, was für Gespräche mit dem Strafverteidiger771 und im Einzelfall auch für Gespräche mit Ärzten772 bejaht wird.773 Aber auch eine Be­ schränkung auf den bloßen Kernbereich wird den Schutzzwecken des § 53 StPO nicht gerecht, da alle Gespräche mit Ärzten und Psychotherapeuten auf jeden Fall unverwertbar sein sollten. Gerade mit Blick auf den Schutz des besonderen Vertrauensverhältnisses erscheint dies naheliegend. Denn vor allem bei Ärzten dient das Zeugnisverweigerungsrecht auch den wichtigen Interessen der Allge­ meinheit.774 Es geht auch um den Schutz eines wichtigen und besonders engen Vertrauensverhältnisses und damit um den Individualschutz des Patienten an sei­ nen berechtigten Geheimhaltungsinteressen.775 Keineswegs geht es, wie der BGH annimmt, bei § 53 StPO allein um den Berufsgeheimnisträger und nicht diejenige Person, die ihn von der Schweigepflicht entbinden kann.776 Richtigerweise wird auch in der Literatur davon gesprochen, dass die Schutzzwecke des § 53 Abs. 1 Nr. 1 – 3 StPO unlösbar miteinander verbunden bzw. zu einer „Dreiheit von Indi­ vidual-, Sozial- und Berufsinteresse“ verschmolzen seien.777 Gleiches dürfte für Gespräche mit Psychotherapeuten gelten. Bei einem Verstoß gegen § 203 StGB erscheint deshalb ein Verwertungsverbot sachgerecht.778

769 So Schlüchter, Rn. 489.2; grundsätzlich zustimmend Ignor/Bertheau, in: Löwe-Ro­ senberg, § 53 Rn. 12 f., die allerdings eine Ausnahme für Äußerungen machen, die in den Kernbereich privater Lebensgestaltung fallen. 770  Beulke, Rn. 462 m. w. N.; für ein Verwertungsverbot auch Kudlich/Schuhr, in: Satz­ ger/Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 13. 771  BVerfG StV 2012, 257, 263. 772  BVerfGE 109, 279, 322 f.; BVerfG StV 2012, 257, 265. 773  Ignor/Bertheau, in: Löwe-Rosenberg, § 53 Rn. 13; Eschelbach, in: Satzger/Schlu­ ckebier/Widmaier, § 53 Rn. 5. 774  Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 22 m. w. N. 775 Näher dazu Rengier, Zeugnisverweigerungsrechte, S. 14 m. w. N.; vgl. auch BGHSt 18, 146, 147: „§ 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO dient zwar auch dem Interesse des Patienten, der sich vertrauensvoll in die Behandlung eines Arztes begeben hat“. 776  BGH NStZ 2012, 281. 777  Müller-Dietz, S. 88 zum ärztlichen Berufsgeheimnis; siehe auch Rengier, Zeugnis­ verweigerungsrechte, S. 25. 778  Grundlegend dazu von Harenne, S. 164 ff., die sich auch für die Unverwertbarkeit der Aussage ausspricht, S. 170.

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

bb)  Entbindung von der Schweigepflicht Die Berufsgeheimnisträger können von ihrer Verschwiegenheitsverpflichtung entbunden werden, so dass auch das Zeugnisverweigerungsrecht entfällt, § 53 Abs. 2 Satz 1 StPO.779 Ein besonderes Problem, insbesondere mit Blick auf die Reichweite des Ver­ wertungsverbots nach § 252 StPO, stellt sich, wenn der Berufsgeheimnisträ­ ger zunächst von seiner Schweigepflicht entbunden wird und der mit dem An­ geklagten verwandte Zeuge in der Hauptverhandlung die Entbindung von der Schweigepflicht widerruft: Können die von den Berufsgeheimnisträgern in frü­ heren Vernehmungen, als jene kein Zeugnisverweigerungsrecht hatten, vor den Verhörs­personen – Polizeibeamter, Staatsanwalt, Ermittlungsrichter – abgegebe­ nen Bekundungen dadurch in das Verfahren eingeführt und verwertet werden, dass die Verhörspersonen über die damaligen Aussagen vernommen werden? Hier handelt es sich oft um Ärzte, die zu Verletzungen des mit dem Angeklagten verwandten Zeugen vernommen werden sollen.780 In BGHSt 18, 146 musste geklärt werden, ob die Äußerungen, die ein von seiner Schweigepflicht entbundener Arzt gegenüber einem Ermittlungsrichter zu der Vergiftung des Schwagers durch den Angeklagten machte, durch die Ver­ nehmung des Untersuchungsrichters verwertet werden können, wenn der Zeuge zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung die Entbindung von der Schweigepflicht widerrufen hat. Der BGH betont, dass es allein darauf ankomme, ob für die Ärzte „die Verwertung zu einem Widerstreit der Pflichten führen“ könne.781 Eine solche Zwangslage bestehe aber in der gegebenen Situation nicht, da ihm im Zeitpunkt seiner Vernehmung durch den Untersuchungsrichter das Zeugnisverweigerungs­ recht, von dem er nunmehr in der Hauptverhandlung Gebrauch mache, gar nicht zugestanden habe. Für die Anwendung des § 252 StPO sei einzig und allein ent­ scheidend, dass eine solche Pflichtenkollision zwischen Wahrheitspflicht und Schweigepflicht für den Berufsgeheimnisträger besteht, so dass auch die Anga­ ben, die ein von seiner Schweigepflicht entbundener Arzt gegenüber einem po­ lizeilichen Vernehmungsbeamten gemacht hat, in das Strafverfahren eingeführt werden können.782 Auf die ansonsten im Rahmen von § 252 StPO vorgenommene Differenzierung zwischen richterlichen und sonstigen Verhörspersonen kommt es hier also nicht an. 779 

Näher dazu Ignor/Bertheau, in: Löwe-Rosenberg, § 53 Rn. 77 ff. 18, 146: Arzt wird zur Vergiftung des Schwagers durch die Angeklagte befragt; BGH NStZ 2012, 281: Arzt wird zu Stichverletzungen des Ehemannes durch seine Ehefrau befragt. 781  BGHSt 18, 146, 150. 782 BGHSt 18, 146, 150; BGH NStZ 2012, 281, 281 f.; ablehnend Mitsch, JR 2012, 432 ff.; zustimmend Sander/Cirener, in: Löwe-Rosenberg, § 252 Rn. 4. 780  BGHSt

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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Der BGH wird mit seinem Verständnis des § 252 StPO dem Schutzzweck der §§ 53, 53a StPO nicht gerecht. §§ 53, 53a StPO schützen nicht nur das Interesse des Berufsträgers, sondern vielmehr auch das Interesse des Patienten, der sich vertrauensvoll in die Behandlung eines Arztes begeben oder einem Psychothe­ rapeuten anvertraut hat. Geppert weist zu Recht darauf hin, dass das berufsbe­ zogene Zeugnisverweigerungsrecht dem Berufsgeheimnisträger die Pflichten­ kollision ersparen soll, das von seinem Patienten in ihn gesetzte Vertrauen der Verschwiegenheit angesichts staatlicher Zeugnis- und Wahrheitspflicht enttäu­ schen zu müssen.783 Auch für den Berufsgeheimnisträger besteht eine der Kon­ fliktlage des angehörigen Zeugen gem. § 52 StPO vergleichbare Situation, dass er ein bestehendes Vertrauensverhältnis dadurch zerstört, dass seine frühere Aussa­ ge verwertet wird – wenngleich er auch zum Zeitpunkt seiner früheren Aussage von der Verschwiegenheitspflicht entbunden war. In der Literatur wird ferner da­ rauf hingewiesen, dass gerade bei Psychotherapeuten durch eine Verwertung der Aussage der Behandlungserfolg gefährdet werden könnte.784 cc)  Situation in den USA Das „Arzt-Patienten-Privileg“ (physician-patient privilege) ist nicht in den Federal Rules of Evidence normiert, da es in den meisten Bundesstaten eine Re­ gelung durch den jeweiligen Gesetzgeber erfahren hat.785 Daher wurde auch in ­United States v. Wilk festgestellt, dass es in Bundesstrafverfahren ein solches Pri­ vileg nicht gibt.786 Das Privileg genießt ohnehin keinen hohen Stellenwert, jeden­ falls nicht annähernd einen solchen, der mit dem Recht im deutschen Strafverfah­ ren vergleichbar ist, da es zahlreiche Ausnahmen gibt. Es findet unter anderem im Strafverfahren häufig keine Anwendung, wie es beispielsweise ausdrücklich in California Evidence Code § 998 und in Texas Rules of Evidence § 509(b) nor­ miert ist.787 Interessanterweise genießen Äußerungen, die ein Patient gegenüber seinem Psychotherapeuten macht, einen weitaus höheren Schutz (psychotherapist-patient privilege).788 Seit der Entscheidung des U.S. Supreme Court im Jahre 1996 in 783 

Geppert, NStZ 2012, 282, 283. Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 252 Rn. 13. 785  Beispielsweise California Evidence Code §§ 990 – 1007 und Texas Rules of Evi­ dence § 509; siehe auch Mueller/Kirkpatrick, S. 425. 786  United States v. Wilk, 572 F.3d 1229, 1236 (11th Cir. 2009). 787  California Evidence Code § 998: „There is no privilege under this article in a crim­ inal proceeding.“; Texas Rules of Evidence § 509 (b) ist nahezu identisch; siehe auch Blunt v. State, 724 S.W.2d 79 (Tex. Crim. App. 1987), wo betont wird, dass das Privileg im Straf­ verfahren nicht gilt, wenn „der Patient ein Opfer, Zeuge oder der Angeklagte“ ist. 788  Siehe auch Mueller/Kirkpatrick, S. 427 ff. 784 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

Jaffee v. Redmond789 sind sie ein Privileg gemäß Fed. R. Evid. 501.790 Für eine erfolgreiche Psychotherapie sei eine „Atmosphäre des Vertrauens“ Vorausset­ zung, da der Therapeut, um erfolgreich behandeln zu können, besonders auf die Angaben und Offenbarungen des Patienten angewiesen sei.791 Dennoch hat der U.S. Supreme Court festgestellt, dass die Pflicht des Therapeuten zur Verschwie­ genheit nicht absolut sein muss.792 Seitdem beschäftigt die Circuit Courts die Fra­ ge, ob eine Ausnahme für gefährliche Patienten („dangerous-patient“ exception) gemacht werden kann und wie weit diese reicht.793 In zahlreichen Staaten besteht die Pflicht für den Therapeuten, potentielle Opfer zu warnen und vor allem auch Fälle von Kindesmisshandlungen zu melden.794 Diese gesetzliche Entbindung von der Schweigepflicht geht aber nicht so weit, dass das Privileg im Strafverfahren aufgehoben würde und der Therapeut gegen seinen ehemaligen Patienten aussa­ gen dürfte.795 Früher war in Strafverfahren, insbesondere in Fällen von Kindes­ missbrauch, häufig eine Ausnahme zu dem Privileg gemacht worden.796 g)  Vernehmungsverbot für nicht-richterliche Verhörspersonen aus § 254 StPO? Gem. § 250 Satz 1 StPO darf die Vernehmung der Verhörsperson grundsätz­ lich nicht durch die Verlesung des Protokolls ersetzt werden. Von diesem Grund­ satz macht § 254 StPO – ähnlich wie § 253 StPO für Zeugen und Sachverständige, allerdings mit einer Beschränkung auf richterliche Protokolle – zur Verfahrens­ vereinfachung eine Ausnahme für den Angeklagten.797 Nach § 254 Abs. 1 StPO muss – wenn der Angeklagte sich zunächst zur Sache geäußert hat, sich dann aber in der Hauptverhandlung auf seine Schweigerecht beruft – zu den früheren Geständnissen nicht die Verhörsperson vernommen, sondern es kann stattdes­ 789 

Jaffee v. Redmond, 518 U.S. 1 (1996). Jaffee v. Redmond, 518 U.S. 1, 15 (1996). 791  Jaffee v. Redmond, 518 U.S. 1, 10 (1996). 792  Jaffee v. Redmond, 518 U.S. 1, 18 (1996), dort in Fn. 19: „(…) we do not doubt that there are situations in which the privilege must give way, for example, if a serious threat of harm to the patient or to others can be averted only by means of a disclosure by the therapist“. 793  United States v. Glass, 133 F.3d 1356, 1360 (10th Cir. 1998); United States v. Hayes, 227 F.3d 578, 583 ff. (6th Cir. 2000); United States v. Chase, 340 F.3d 978, 992 (9th Cir. 2003) (en banc); United States v. Auster, 517 F.3d 312, 315 f. (5th Cir. 2008); United States v. Ghane, 673 F.3d 771, 784 ff. (8th Cir. 2012). 794  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 431 ff. 795  Siehe statt aller United States v. Ghane, 673 F.3d 771, 784 ff. (8th Cir. 2012). 796 Beispielsweise United States v. Burtrum, 17 F.3d 1299, 1302 (10th Cir. 1994) m. w. N.; näher dazu Poulin, 76 Wash. U. L. Q. 1341, 1374 (1998). 797  Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg, § 254 Rn. 1 ff.; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/ Schluckebier/Widmaier, § 254 Rn. 3. 790 

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sen auch das richterliche Protokoll über das Geständnis verlesen – und seit dem 01. 01. 2018 die ausdioviuselle Aufzeichnung vorgeführt – werden.798 § 254 StPO erlaubt also, richterliche Protokolle zum Beweis dafür zu verlesen, dass „der An­ geklagte die in ihnen beurkundeten Erklärungen abgegeben hat“799. Hingegen ist allgemein anerkannt, dass sich aus § 254 StPO ein Beweis- und Verwertungsver­ bot für alle nicht-richterlichen – also für polizeiliche800, staatsanwaltschaftliche oder sonstige behördliche – Niederschriften ergibt.801 Umstritten ist aber, ob § 254 StPO dem Angeklagten zusätzlich die Möglich­ keit bietet, die Vernehmung der Verhörsperson und andere Rückgriffe auf seine früheren Aussagen in nicht-richterlichen Vernehmungen zu verhindern, wenn er erst in der Hauptverhandlung von seinem Schweigerecht Gebrauch macht, ob also Staatsanwälte und Polizisten wegen § 254 Abs. 1 StPO nicht als Zeuge vom Hörensagen über vor ihnen abgelegte Geständnisse in der Hauptverhandlung ver­ nommen werden können. Da § 254 StPO nur die Verlesung richterlicher Protokolle explizit gestattet, könnte man daraus durchaus den Schluss ziehen, die Verwendung anderer Pro­ tokolle oder auch sonstiger Beweismittel solle ausgeschlossen sein. So hat Grün­ wald als einer der ersten aus § 254 StPO gefolgert, dass ein nicht-richterliches Geständnis überhaupt nicht – auch nicht durch die Vernehmung von Verhörsper­ sonen – in den Prozess eingeführt werden dürfe,802 und dafür immer mehr An­ hänger803 gefunden. Grünwald weist darauf hin, dass es bei § 254 StPO nicht um die Qualität der Protokolle, sondern vielmehr um die Qualität der Vernehmung selbst gehe, da Geständnissen, die gegenüber einem Richter abgegeben werden, ein höheres Ver­ trauen entgegengebracht werde.804 Zwar bestehen bei der richterlichen Vernehmung immerhin gesteigerte Mit­ wirkungsrechte des Verteidigers, es darf aber durchaus bezweifelt werden, dass 798 

Näher dazu Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg, § 254 Rn. 5 ff. BGHSt 1, 337, 339. 800  BGH NStZ 1995, 47. 801  BGHSt 1, 337, 339. 802  Grünwald, JZ 1968, 752, 754. 803  Schroth, ZStW 87 (1975), 103, 130; Frister, in: FS Fezer, S. 211, 224; Kudlich/ Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 254 Rn. 11; Velten, in: SK-StPO, § 254 Rn. 2, 12; siehe auch Jahn zu § 254 StPO-AE, in: FS Wolter, S. 963, 964 ff. sowie Riegner, NJW 1961, 63, 64. 804  Grünwald, JZ 1968, 752, 754; Grünwald, Beweisrecht, S. 133; vgl. auch BGH NJW 1960, 1630, 1631: „Sinn und Zweck des § 254 StPO, der zum Schutze des Angekl. darauf Rücksicht nimmt, daß Geständnisse, die in solchen (nicht von einem Richter aufgenom­ menen) Prot. enthalten sind, oft nicht einwandfrei das wiedergeben, was der Angekl. hat sagen wollen“. 799 

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B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

ihr deshalb wirklich ein höheres Vertrauen805 entgegengebracht werden sollte. Al­ lerdings ist es durchaus zutreffend, dass Geständnissen, die in nicht-richterlichen Vernehmungen abgegeben wurden, noch mehr Misstrauen entgegengebracht wird.806 Dies gilt insbesondere für Geständnisse gegenüber der Polizei; es wird sogar von einer „systematischen Verzerrung des Inhaltes von polizeilichen Ver­ nehmungsprotokollen“807 gesprochen. Für den Ausschluss nicht-richterlicher Verhörspersonen wird auch der Verweis auf § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO vorgebracht, dass es dem Angeklagten freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Dieser Hinweis auf die Aussagefreiheit sei wertlos, wenn trotz Schweigens des Angeklagten frü­ here Aussagen in das Verfahren eingeführt werden könnten, da dem Angeklagten dadurch seine Wahlmöglichkeit808 genommen werde.809 Allerdings zeigt schon die Inkonsequenz, dass richterliche Protokolle nach § 254 StPO dennoch verwer­ tet werden können, dass das Wahlrecht des Angeklagten bei der Auslegung des § 254 StPO nicht weiterhilft.810 Die Befürworter des Ausschlusses der Vernehmung von Verhörspersonen weisen insbesondere auf die Ähnlichkeit mit § 252 StPO und eine vergleichbare Interessenlage hin.811 Zunächst ist festzustellen, dass § 252 StPO negativ formu­ liert ist und ein Verbot statuiert, wohingegen § 254 StPO eine positiv formulierte Ausnahme darstellt. Der Grund für § 252 StPO ist unter anderem „eine bestimm­ te persönliche Nähe zur Sache, die für den Zeugen zu einer seelischen Belastung führen kann, wenn er unter Zeugniszwang steht“.812 Laut Kudlich/Schuhr gehe es in der Sache „bei § 254 [StPO] um den nemo tenetur-Grundsatz als Ausfluss der Menschenwürde des Angeklagten und damit jedenfalls um kein geringeres Rechtsgut als den von § 252 [StPO] geschützten Fa­ milienfrieden“813. Die zu § 252 StPO entwickelten über den Gesetzeswortlaut hi­ nausgehenden Grundsätze sollten daher erst recht angewendet werden, wenn der Angeklagte erst in der Hauptverhandlung die Einlassung zur Sache verweigert.814 805 

Siehe dazu auch Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg, § 254 Rn. 1. Grünwald, JZ 1968, 752, 754. 807  Schünemann, in: FS Meyer-Goßner, S. 385, 393. 808  Näher dazu Becker, in: Löwe-Rosenberg, § 243 Rn. 54 ff. 809  Grünwald, JZ 1968, 752, 754. 810 Laut Grünwald handelt es sich um „eine durchaus erträgliche Inkonsequenz“, JZ 1968, 752, 754. 811  Frister, in: FS Fezer, S. 211, 224; Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Wid­ maier, § 254 Rn. 11; Schroth, ZStW 87 (1975), 103, 129 f. 812  BGHSt 1, 337, 338 (Hervorhebung nicht im Original). 813  Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 254 Rn. 11. 814  Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 254 Rn. 11: „Hinsichtlich seiner früheren Aussage sollte ein umfassendes Beweis- und Verwertungsverbot mit Aus­ 806 

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Der nemo tenetur-Grundsatz ist zwar mindestens so schützenswert wie der Fa­ milienfrieden, hierum geht es aber bei § 254 StPO nicht. Es handelt sich bei § 254 StPO um eine Ausnahme vom Ersetzungsverbot des § 250 StPO und von den Grundsätzen der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit;815 es geht bei dieser Norm nicht darum, dem Angeklagten bis zur richterlichen Vernehmung eine Wahl­ möglichkeit zu eröffnen, ob er sich zur Sache einlässt oder eben schweigt. Der Schutz des verfassungsrechtlich verankerten Schweigerechts – das vollkommen zu Recht in einem rechtsstaatlichen Verfahren einen hohen Stellenwert besitzt und leider viel zu oft umgangen wird – wird durch die in §§ 136, 136a StPO normierten Rechte des Beschuldigten und die Belehrungspflichten gesichert. Der Beschuldigte hat die freie Wahl, ob er sich selbst belastet; jeglicher Zwang im Rahmen einer Vernehmung ist unzulässig.816 Für den Beschuldigten bzw. An­ geklagten besteht – im Gegensatz zum Zeugen – keine Pflicht, sich zu äußern, und er darf auch im weiteren Verlauf des Verfahrens jederzeit seine Haltung än­ dern und wieder von seinem Schweigerecht Gebrauch machen.817 Allerdings lässt sich der Strafprozessordnung kein Grundsatz entnehmen, Äußerungen, die der Beschuldigte freiwillig gemacht hat, nicht zu verwerten, wenn er später seine Haltung ändert.818 Seine Rechte sind dadurch ausreichend gewahrt, dass Verstö­ ße gegen die Belehrungspflicht und unzulässige Umgehungen seines Schweige­ rechts durch die Strafverfolgungsbehörden Beweisverwertungsverbote zur Folge haben. Außerdem kann die Verhörsperson in der Hauptverhandlung auch zu Ver­ fahrensverstößen beim Zustandekommen der Aussagen und den Umständen der Vernehmung befragt und ihre Integrität überprüft werden. Hierbei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass schon Ransiek davor gewarnt hat, darauf zu vertrauen, dass die Vernehmungssituation von den Vernehmenden zutreffend geschildert wird, wenn gerade ihr Verhalten rechtlich überprüft werden soll, denn „faktisch würden sich die zu Kontrollierenden selbst kontrollieren“.819 In der Praxis mag sich oft das Problem stellen, dass rechtsunkundige Personen zu spät rechtlichen Beistand erhalten und zu dem Zeitpunkt, zu dem ihnen ein Verteidiger beisteht, schon selbst belastende Äußerungen gemacht haben.820 Die möglichst frühe Bestellung eines Verteidigers ist zwar wünschenswert, aber nicht Gegenstand des geltenden § 254 StPO. Allerdings sollen nach § 254 StPO-AE nicht-richterliche Verhörspersonen nicht mehr ohne die Zustimmung des Ange­ nahme nur für Niederschriften richterlicher Vernehmungen (Wortlaut des § 254) ange­ nommen werden.“; ebenso Frister, in: FS Fezer, S. 211, 224. 815  Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg, § 254 Rn. 1. 816  Näher zu diesem Zwangsverbot Ransiek/Winsel, GA 2015, S. 620 ff. 817  BGHSt 1, 337, 338. 818  BGHSt 1, 337, 338. 819  Ransiek, StV 1994, 343, 347. 820  Vgl. dazu Kudlich/Schuhr, in: Satzger/Schluckebier/Widmaier, § 254 Rn. 11.

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klagten als Zeugen über die Aussage vernommen werden können, wenn bei der damaligen Vernehmung des Angeklagten kein Verteidiger anwesend war.821 Da­ mit wird § 254 StPO-AE „wesensmäßig als Ausdruck des nemo tenetur-Prinzips rekonstruiert“.822 Im Übrigen wird schon für das geltende Recht vereinzelt eine Ausnahme vom Verbot für die Verlesung polizeilicher Protokolle gefordert, so­ fern der Angeklagte der Verlesung zustimmt.823 Die herrschende Meinung leitet aus § 254 StPO also richtigerweise nur für nicht-richterliche Protokolle ein Beweis- und Verwertungsverbot ab, nicht hin­ gegen für die persönliche Vernehmung von Verhörspersonen.824 Die richterliche Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StGB kann die Vernehmung der Verhörs­ person hingegen unter Umständen sogar gebieten.825 h)  Vorhalt durch nicht-verlesbare Verhörsprotokolle Mit der Vernehmung von (nicht-richterlichen) Verhörspersonen ist sodann ein weiteres Problem verknüpft, wenn ihnen (trotz § 254 StPO) nicht-richterliche Protokolle vorgehalten werden.826 Denn die Verlesung nicht-richterlicher Proto­ kolle ist nicht schlechthin unzulässig, sondern nicht-richterliche Protokolle sollen durchaus zum Zwecke des Vorhalts verlesen werden dürfen.827 Bedauerlicherwei­ se wird dadurch das nicht-richterliche Vernehmungsprotokoll nun doch auf einem Umweg, nämlich über die Vernehmung der polizeilichen oder staatsanwaltschaft­ lichen Verhörsperson, in die Hauptverhandlung eingeführt.828 Der Vorhalt gegenüber der richterlichen Vernehmungsperson im Rahmen des § 252 StPO wurde bereits angesprochen; vor allem bei der Vernehmung von Verhörspersonen spielt der Vorhalt eine besondere Rolle.829 Es darf durch­ aus bezweifelt werden, dass bei dem Vernehmungsbehelf des Vorhalts wirklich nur die Erinnerung des Zeugen aufgefrischt und damit seine „reaktive“ Aussage, nicht aber der Inhalt des früheren Vernehmungsprotokolls selbst Grundlage der 821 

Jahn, in: FS Wolter, S. 963, 971 f. Jahn, in: FS Wolter, S. 963, 972. 823  Bohlander, NStZ 1998, 396, 397; ebenso Julius, in: HK-StPO, § 254 Rn. 14. 824  BGHSt 1, 337 ff.; OLG Frankfurt am Main StV 1996, 202; Beulke, Rn. 416; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 254 Rn. 8; Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg, § 254 Rn. 4 und 9; Roxin/Schünemann, § 46 Rn. 26; Volk/Engländer, § 27 Rn. 22. 825  BGH NJW 1966, 1524; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 254 Rn. 1; Mosbacher, in: Löwe-Rosenberg, § 254 Rn. 4. 826  Näher dazu Joachim, S. 187 ff., 191 ff. 827  BGHSt 1, 337, 339; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 254 Rn. 8; a. A. Roxin/ Schünemann, § 46 Rn. 25. 828  Jahn, in: FS Wolter, S. 963, 969 f. 829  Schünemann, in: FS Meyer-Goßner, S. 385, 404. 822 

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

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Beweis­erhebung wird.830 Schünemann sieht in der Vorhaltepraxis gerade gegen­ über Belastungszeugen eine „Gefahr für die Wahrheitsfindung“, weil „sich die dadurch de facto bewirkte Fixierung des Zeugen auf den Inhalt des ohne dialek­ tische Kontrolle zustande gekommenen, polizeilichen Vernehmungsprotokolls in ihren Wirkungen mit dem (…) Perseveranzeffekt beim Gericht paart und dadurch zu einer Denaturierung der Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung führt, die im Extremfall lediglich noch in einem Nachvollzug des Akteninhalts besteht.“831 Die Verhörsperson bereitet sich auf die Hauptverhandlung vor, was in der Regel durch einen Blick ins Protokoll geschieht, um sich das Geschehen in Erinnerung zu rufen.832 Hier besteht sodann in der Hauptverhandlung die Gefahr, dass nur noch über das gerade Gelesene, nicht aber über die (nicht mehr) vorhandenen eigenen Erinnerungen berichtet wird.833 Gerade die Verhörsperson wird sich auf­ grund der Vielzahl der von ihr geführten Vernehmungen nicht mehr an ein be­ stimmtes Verhör erinnern können.834 Der Vorhalt ist deshalb in der Literatur hef­ tiger Kritik ausgesetzt: Der Grundsatz des § 254 StPO, wonach die Verwertung polizeilicher Protokolle in der Hauptverhandlung als Beweismittel unzulässig sei, werde nur theoretisch gewahrt.835 Die Grenze zwischen dem zulässigen Zeu­ genbeweis und dem unzulässigen Urkundenbeweis werde „praktisch verwischt“, indem die Vernehmung der Verhörsperson einer Verwertung des polizeilichen Protokolls als Beweismittel gleichkomme.836 Somit kann der Vorhalt durchaus als Versuch einer indirekten Verwertung des Protokollinhalts, vor dem der Ange­ klagte eigentlich geschützt werden soll, bezeichnet werden.837 Es wird kritisiert, dass durch die Vernehmung der Verhörsperson verbunden mit dem Vorhalt des Vernehmungsprotokolls, das Verbot der Verlesung eines nicht-richterlichen Pro­ tokolls zu Beweiszwecken „fast vollständig zur Illusion“ werde.838 Da der Vorhalt der Vernehmung zum Verwechseln ähnlich ist, können vor allem die Schöffen nicht zwischen dem Vorhalt und der Vernehmung differenzieren.839 Aus dieser Misere hat schon Riegner 1961 für § 254 StPO einen Ausweg gezeigt, der bisher nicht befolgt worden ist: Die Vernehmung der polizeilichen Verhörsperson soll ausgeschlossen sein, wenn sich diese nicht mehr von allein 830 

Kritisch insbesondere Eisenberg, Beweisrecht, Rn. 1287 und 1302a. Schünemann, in: FS Meyer-Goßner, S. 385, 405. 832  Siehe dazu auch Geppert, Unmittelbarkeit, S. 277 f. 833  Jahn, in: FS Wolter, S. 963, 969 f. 834  Näher dazu Geppert, Unmittelbarkeit, S. 276 ff. 835  Riegner, NJW 1961, 63, 63. 836  Riegner, NJW 1961, 63, 63. 837  Schroth, ZStW 87 (1975), 103, 128. 838  Grünwald, JZ 1968, 752, 754. 839  So auch Roxin/Schünemann, § 46 Rn. 25, die den Vorhalt deshalb ablehnen; siehe auch Grünwald, Beweisrecht, S. 134 ff. 831 

142

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

an das Geschehen erinnert, sondern zuvor im Protokoll nachgelesen hat.840 Der Zeuge soll nur das aussagen, was er von den damaligen Aussagen des Angeklag­ ten tatsächlich noch erinnert.841 Jedenfalls ist allgemein anerkannt, dass, falls die frühere Verhörsperson sich als Zeuge trotz Vorhalts nicht erinnert, das Verneh­ mungsprotokoll nicht als Ergänzung ihrer Aussage verlesen werden darf.842 Al­ lerdings ist zuzugeben, dass es praktisch nur schwer umzusetzen sein wird, wenn die Verhörsperson ausschließlich aus der Erinnerung, ohne zuvor im Protokoll nachgelesen zu haben, berichten soll, da sich Verhörspersonen aufgrund der Viel­ zahl der Vernehmungen, die sie im Alltag durchführen, und der verstrichenen Zeit bis zur Hauptverhandlung bis auf einzelne herausragende Fälle wohl kaum mehr an eine einzelne Vernehmung erinnern können werden. 3.   Internal Investigations In jüngerer Zeit dürfte der Zeuge vom Hörensagen insbesondere bei Internal Investigations eine bedeutende Rolle spielen, die vor allem in den USA – in ers­ ter Linie auf Betreiben der SEC843 –, aber nun auch in Deutschland immer mehr zunimmt.844 Bei unternehmensinternen Untersuchungen sollen bereits begangene Regelver­ stöße durch externe Berater im Zusammenhang mit einem Bußgeld- oder Straf­ verfahren im Auftrag des Unternehmens selbst aufgeklärt werden.845 Bei diesen sog. Internal Investigations846 werden oft auch arbeitsrechtliche Maßnahmen oder Schadensersatzansprüche gegen die beteiligten Mitarbeiter geprüft oder eine strafbefreiende Selbstanzeige bei den Kartell- oder Finanzbehörden vorbereitet.847 Die zentrale Erkenntnisquelle der unternehmensinternen Ermittlungen sind neben der Sichtung von Dokumenten848 vor allem die Befragungen von Mitar­ 840 

Riegner, NJW 1961, 63, 64. Riegner, NJW 1961, 63, 64. 842  Langkeit/Cramer, StV 1996, 230, 231; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 254 Rn. 8; siehe aber auch Wömpner, NStZ 1983, 293, 299. 843 Näher dazu Bittmann/Molkenbur, wistra 2009, 373 ff. und Wastl/Litzka/Pusch, NStZ 2009, 68 ff. 844  Nestler, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 1, Rn. 11 und 27 ff. 845  Zur Definition des Begriffs „Internal Investigation“ Nestler, in: Knierim/Rüben­ stahl/Tsambikakis, Kapitel 1, Rn. 19 ff. 846  Auch Reviews oder Audits genannt, siehe auch Breßler/Kuhnke/Schulz/Stein, NZG 2009, 721, 721. 847  Breßler/Kuhnke/Schulz/Stein, NZG 2009, 721, 721; siehe auch Salvenmoser/Schreier, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, 15. Teil, Rn. 36 ff. 848 Insbesondere durch eine systematische Überprüfung des unternehmensinternen E-Mail-Verkehrs, oft durch sog. Screenings, näher dazu Nestler, in: Knierim/Rübenstahl/ Tsambikakis, Kapitel 1, Rn. 55. 841 

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

143

beitern. Diese sog. Interviews849 werden in der Regel von spezialisierten Rechts­ anwälten850 geführt, die darüber entsprechende Protokolle fertigen.851 Dabei bestimmt der Rechtskreis des Auftraggebers auch die Kompetenzen des Intervie­ wers, der damit grundsätzlich, wie der Auftraggeber selbst, alle arbeits- und be­ triebsverfassungsrechtlich erlaubten Mittel anwenden darf.852 Der Arbeitnehmer ist aufgrund der Pflichten aus seinem Arbeitsvertrag nicht nur zur Teilnahme an einem solchen Interview verpflichtet, sondern er muss zur Ermittlung des Sach­ verhalts beitragen, wenn die Ermittlungen den Arbeitsbereich853 des Arbeitneh­ mers betreffen, und dementsprechend wahrheitsgemäß antworten.854 Dies führt zu einem Dilemma des Arbeitnehmers, der unter arbeitsrechtlichen Gesichtspunkten zur Aussage verpflichtet sein kann, dem im Strafverfahren al­ lerdings wegen des nemo tenetur-Grundsatzes das Recht zusteht, sich nicht selbst belasten zu müssen.855 Dieses Recht wird faktisch unterlaufen, wenn die Strafver­ folgungsbehörden in einem Strafverfahren gegen den Mitarbeiter auf Unterlagen der Internal Investigations zurückgreifen oder den internen Ermittler als Zeugen vom Hörensagen darüber vernehmen, was der Mitarbeiter, der sich nunmehr auf sein Auskunftsverweigerungsrecht beruft, zuvor im Rahmen des Interviews ge­ sagt hat. Zwar gilt das Recht des Arbeitgebers, Fragen zu stellen, wie auch das Bundes­ arbeitsgericht betont, nicht grenzenlos, sondern die Auskunftsverpflichtung müs­ se der „Bedeutung des Auskunftsinteresses entsprechen“856 und der Arbeitgeber müsse ein „berechtigtes, billigenswertes und schutzwürdiges Interesse“857 an den Antworten haben. Einerseits wird diese Interessenabwägung, bei der selbstredend auch die Interessen des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sind, gerade bei einem Verdacht auf Straftaten in der Regel zu Gunsten des Arbeitgebers ausfallen.858 Andererseits könnte man argumentieren, dass die Grenzen der Auskunftspflicht erreicht sind, wenn dem Mitarbeiter aufgrund seiner Aussage der Verlust des Ar­ 849  Breßler/Kuhnke/Schulz/Stein, NZG 2009, 721, 721; Beckemper, in: Knierim/Rü­ benstahl/Tsambikakis, Kapitel 15, Rn. 243 ff.; näher zu den Interviews Knierim, in: Knie­ rim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 7, Rn. 1 ff. 850  Nestler, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 1, Rn. 24 f. 851  Nestler, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 1, Rn. 53 f. 852  Knierim, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 7, Rn. 8. 853  Näher zur Trennung zwischen Privat- und Arbeitsbereich Göpfert/Merten/Siegrist, NJW 2008, 1703, 1705. 854  Näher dazu Rudkowski, NZA 2011, 612, 612 f.; Vogt, NJOZ 2009, 4206, 4212. 855 Ausführlich Beckemper, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 15, Rn. 242 ff. 856  BAG NZA 1996, 637, 638. 857  BAG NZA 1996, 637, 638. 858  Beckemper, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 15, Rn. 249; siehe dazu auch Bittmann/Molkenbur, wistra 2009, 373, 376 f.

144

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

beitsplatzes oder strafrechtliche Verfolgung droht.859 Ob dem Arbeitnehmer ein Schweigerecht860 zusteht, sofern er sich durch seine Angaben selbst belasten wür­ de, ist umstritten, die wohl herrschende Meinung bejaht allerdings eine arbeits­ rechtliche Pflicht zur umfassenden Aussage.861 Ohnehin wird der Arbeitnehmer in der Praxis aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Drucksituation, in der er sich in einem Gespräch mit seinem Arbeitgeber bzw. dessen Vertretern befindet, und aufgrund einer möglichen Überrumpelung faktisch zur Aussage gezwun­ gen. Zu diesem Zeitpunkt ist dem Arbeitnehmer die Tragweite seiner Aussage noch gar nicht bewusst, da er sich keine Gedanken über ein Strafverfahren und die Verwertbarkeit seiner Aussage macht und nicht erkennt, dass die Strafverfol­ gungsbehörden zu einem späteren Zeitpunkt auf diese Aussage zurückgreifen werden. Fraglich ist, welche Folgen diese arbeitsrechtliche Pflicht zur umfassenden und damit möglicherweise auch selbstbelastenden Aussage für das Strafverfah­ ren hat und ob selbstbelastende Angaben des Arbeitnehmers gegen ihn verwendet werden dürfen. Die in der Literatur wohl herrschende Meinung bejaht aufgrund der umfassenden arbeitsrechtlichen Aussagepflicht ein Verwertungsverbot für das Strafverfahren.862 Denkbar wäre, den nemo tenetur-Grundsatz auf unternehmensinterne Befra­ gungen zu übertragen, wenn der Staat bzw. die Strafverfolgungsbehörden sich privater Ermittler bedienen, um staatliche Strafverfolgungsinteressen durchzu­ setzen. Schließlich wird sich der Befragte aufgrund arbeitsrechtlicher Pflichten und einer „vernehmungsähnlichen Situation“ zur Beantwortung der Fragen ge­ nötigt fühlen und daher auch alle Fragen beantworten. Hiergegen ist einzuwen­ den, dass der nemo tenetur-Grundsatz863 – wenngleich es sich durchaus um eine „vernehmungsähnliche Situation“ handeln mag – grundsätzlich nur vor staatlich veranlassten Aussagen – also davor, dass sich der Beschuldigte aufgrund der amt­ 859  Salvenmoser/Schreier, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, 15. Teil, Rn. 174 f.; siehe auch Fritz/Nolden, CCZ 2010, 170, 172. 860 Dafür Rudkowski, NZA 2011, 612, 613; siehe auch Maschmann, S. 149, 172 ff. 861  Schneider, NZG 2010, 1201, 1204; Vogt, NJOZ 2009, 4206, 4212; kritisch aber Salvenmoser/Schreier, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, 15. Teil, Rn. 174 f.; siehe zu den ar­ beitsrechtlichen Grenzen der Anhörung als Voraussetzung der Verdachtskündigung Krug, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 7, Rn. 78 ff., dort heißt es beispielsweise in Rn. 80: „Abzulehnen sind Tendenzen der Rechtsprechung, den anzuhörenden Arbeitneh­ mer mit Rechten wie den Beschuldigten im Strafverfahren auszustatten“ und in Rn. 90: „Allerdings sollte es die Rechtsprechung vermeiden, dem Arbeitnehmer Beschuldigten­ rechte wie im Strafverfahren zuzugestehen“. 862  Bittmann/Molkenbur, wistra 2009, 373, 377 f.; Momsen, ZIS 2011, 508, 512 ff.; Wastl/Litzka/Pusch, NStZ 2009, 68, 70 f.; anders Jahn, StV 2009, 41, 45, der eine Aus­ kunftspflicht verneint und Aussagen daher grundsätzlich für verwertbar hält. 863  Näher dazu Ransiek/Winsel, GA 2015, 620 ff.

VI.  Erscheinungsformen des Zeugen vom Hörensagen

145

lichen Funktion, in der ihm die Auskunftsperson gegenübertritt, irrig zur Beant­ wortung der Frage verpflichtet fühlt – schützen soll.864 Bei den Interviews handelt es sich zunächst in erster Linie um eine „Interaktion unter Privaten“865, selbst wenn die Ermittlungen möglicherweise darauf zurückzuführen sind, dass der Staat das Unternehmen angehalten hat, internen Regelverstößen nachzugehen. Dementsprechend trifft den Fragenden eigentlich auch keine Belehrungspflicht, insbesondere nicht darüber, dass die Angaben des Mitarbeiters möglicherweise in einem Strafverfahren gegen ihn verwertet werden.866 Mit Blick auf den Grundsatz eines fairen Verfahrens kann es allerdings durchaus sachgerecht erscheinen, wenn selbstbelastende Aussagen aus einem Interview, die ohne vorherige Belehrung erfolgen – sofern eine umfassende ar­ beitsrechtliche Pflicht zur Aussage besteht – ,in einem Strafverfahren gegen den Arbeitnehmer selbst grundsätzlich einem Beweisverwertungsverbot unterworfen werden.867 In einem fairen Verfahren dürfen die Aussagen nur verwendet werden, wenn der Arbeitnehmer im Rahmen des Interviews – sofern eine umfassende ar­ beitsrechtliche Pflicht zur Aussage bejaht wird – auch entsprechend belehrt wur­ de, nämlich darüber, dass die Angaben auch in einem Strafverfahren gegen ihn selbst verwertet werden, oder der Arbeitnehmer im späteren gegen ihn gerichte­ ten Strafverfahren sein Einverständnis868 zur Verwertung erteilt. Sofern man ein Beweisverwertungsverbot verneint869 oder die Aussage des Mitarbeiters in einem Strafverfahren gegen andere Beschuldigte verwertet wer­ den soll, kann – wenn der Mitarbeiter nach entsprechender Belehrung die Aus­ sage verweigert, um sich nicht selbst belasten zu müssen – anstelle des Arbeit­ nehmers allerdings der zuvor die internen Ermittlungen führende Rechtsanwalt vernommen werden. Zwar steht externen Rechtsanwälten – anders als Syndikus­ anwälten – und anderen Berufsgeheimnisträgern ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StPO zu, allerdings trifft diese im Verhältnis zum befragten Mitarbeiter auch keine Verschwiegenheitspflicht: Das von § 53 StPO 864  So wohl die h. M., beispielsweise Fritz/Nolden, CCZ 2010, 170, 172 ff., insbesondere 174; Momsen, ZIS 2011, 508, 513; Salvenmoser/Schreier, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau, 15. Teil, Rn. 174; für eine Übertragung des nemo tenetur-Grundsatzes allerdings Maschmann, S. 149, 172; ebenso Wastl/Litzka/Pusch, NStZ 2009, 68, 70 f.; vgl. auch BGHSt 42 („Mithörfalle“), 139 ff. und BGHSt 52, 11 („Mallorca-Mordfall“); siehe zu verdeckten Be­ fragungen und Selbstbelastungsfreiheit BGH NStZ 2011, 596 ff. mit Anm. Barton, StRR 2011, 341 ff. 865  Momsen, ZIS 2011, 508, 513. 866  Rudkowski, NZA 2011, 612, 612; Salvenmoser/Schreier, in: Achenbach/Ransiek/ Rönnau, 15. Teil, Rn. 175; Tsambikakis, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 7, Rn. 37 f. 867  Näher dazu Momsen, ZIS 2011, 508, 513. 868 So Bittmann/Molkenbur, wistra 2009, 373, 377 f. 869  So jedenfalls Jahn, StV 2009, 41, 45.

146

B.  Der Zeuge vom Hörensagen im deutschen Recht

geschützte Vertrauensverhältnis besteht zu dem Unternehmen, das den Rechts­ anwalt mandatiert hat, und nicht zu dem befragten Mitarbeiter.870 Zu letzterem besteht auch kein „mandatsähnliches Vertrauensverhältnis“871. Wenn der Rechts­ anwalt im Unternehmensinteresse tätig wird, ist es auch das Unternehmen, das den Rechtsanwalt gem. § 53 Abs. 2 S. 1 StPO von der Schweigepflicht entbinden kann.872 Entscheidend für die Entbindung, aus der eine Aussagepflicht des Be­ rufsträgers resultiert, ist nämlich das Mandatsverhältnis.873

870 

Beckemper, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 15, Rn. 252 ff. Vgl. dazu LG Hamburg NZWiSt 2012, 26, 27 ff.; Beckemper, in: Knierim/Rüben­ stahl/Tsambikakis, Kapitel 15, Rn. 255. 872  Beckemper, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 15, Rn. 254; Bock/Gerhold, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 5, Rn. 15 ff. 873  Bock/Gerhold, in: Knierim/Rübenstahl/Tsambikakis, Kapitel 5, Rn. 16. 871 

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess I.  Das US-amerikanische Strafverfahren Unter den zahlreichen Unterschieden zwischen dem US-amerikanischen und dem kontinentaleuropäischen Rechtssystem, die nicht alle aufgezählt und schon gar nicht detailliert dargestellt werden können, sind zwei der signifikantesten Un­ terschiede, die häufig auch als besonders bedeutsam für die Wahrheitsfindung im angloamerikanischen Recht bezeichnet werden, die jury und die cross-examina­ tion.1 Vor allem die starke Einbindung juristischer Laien in das Strafverfahren in Form der jury dürfte ein wesentlicher Grund für das sehr formalistische Beweis­ recht einhergehend mit dem Verbot des Hörensagenbeweises und mit dem hohen Stellenwert des Kreuzverhörs sein. Man könnte sagen, jury, cross-examination und der Grundsatz „no hearsay evidence“ bedingen einander.2 Ein weiterer we­ sentlicher Unterschied ist der Parteiprozess im US-amerikanischen Verfahren: Im Gegensatz zum vom Offizialprinzip und der Instruktionsmaxime dominier­ ten kontinentalen Strafprozess beherrschen ausschließlich die beiden Parteien, die Anklage und die Verteidigung, das Verfahren, wohingegen der Richter eine eher passive Rolle einnimmt. Das Verfahren ist ein Zweikampf bzw. „sportlicher Wett­ kampf“3, in dem die Parteien die Wahrheit prozessual herstellen, indem sie ihre Hypothese vom Tatgeschehen, ihren case4, entwickeln. Die Prozessparteien sind in besonderer Weise von einer „Mentalität des Gewinnens“ geprägt5 und präsentieren 1  Wigmore on Evidence § 1364 (a. E. = S. 27): „(…) that most characteristic rule of the Anglo-American law of Evidence, – a rule which may be esteemed, next to jury-trial the grea­test contribution of that eminently practical legal system to the world`s methods of proce­ dure“; siehe zum Kreuzverhör auch Brown v. United States, 234 F.2d 140, 144 (6th Cir. 1956). 2  Dem Angeklagten entgeht die wichtige Möglichkeit des Kreuzverhörs und die Ju­ roren werden als juristische Laien Schwierigkeiten haben, den Beweiswert der Aussage entsprechend einzuordnen; siehe auch McCormick on Evidence, S. 175 ff. 3 Zum Spannungsverhältnis von Wahrheitsfindung und „sportlichem Wettkampf“ Herrmann, S. 151 ff.; vgl. auch Swoboda, S. 76 ff. 4  Weshalb häufig von government’s, prosecution’s oder state’s case gesprochen wird; LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1375 und S. 1389. 5  Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 503; vgl. auch Swoboda zum angloamerikani­ schen Rechtssystem, S. 77 f.: „Die Regeln legitimieren das Urteil als Produkt eines fairen (…) Wettstreits der Parteien. (…) Die unterlegene Partei kann dem Gericht eine Entschei­ dung nicht als falsch vorwerfen, sondern muss sich vielmehr fragen, warum es ihr trotz aller Verfahrenschancen nicht gelungen ist, das Gericht von ihrer Version der Dinge zu überzeugen. Als aktiver Teilnehmer des Wettstreits lag es in ihrer Hand, das Ergebnis der Auseinandersetzung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. (…) Die nach strengen Formen

148

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

ihre Beweise grundsätzlich erst in der Hauptverhandlung, wo es zu einem Aufei­ nandertreffen der unterschiedlichen Strategien kommt.6 Dennoch ist die Anklage aus verfassungsrechtlichen Gründen (due process) mit Blick auf ein faires Ver­ fahren verpflichtet, den Beschuldigten entlastende Beweise7 offenzulegen. Dieser sog. pretrial discovery Grundsatz8 wurde insbesondere vom U.S. Supreme Court in Brady v. Maryland betont, denn „eine Gesellschaft gewinnt nicht nur, wenn die Schuldigen verurteilt werden, sondern wenn Strafverfahren fair sind“9. Dem­ entsprechend muss, wie der U.S. Supreme Court schon in Berger v. United States feststellte, auch der Staatsanwalt danach streben, dass Gerechtigkeit geübt wird.10 Hier sei auch schon einmal erwähnt, dass dem Konfrontationsrecht, das im Anschluss an die hearsay rule näher betrachtet werden soll, im US-amerika­ nischen Recht eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Man kann sich mit der hearsay rule nicht befassen, ohne auch einen Blick auf die Confrontation Clause zu werfen. Das Konfrontationsrecht11 ist ein Hauptgrund12 für die Existenz der hearsay rule und vor allem die fehlende Möglichkeit, den Zeugen ins Kreuzver­ hör zu nehmen, wird häufig zur Unzulässigkeit des Hörensagenbeweises führen. Wie der U.S. Supreme Court betont, haben die hearsay rule und die Confrontation Clause denselben Ursprung13 und grundsätzlich das gleiche Schutzgut14, es geht prozessual hergestellte Wahrheit muss sich nicht an der materiell richtigen Lösung messen lassen. Wenn das Ergebnis am Ende mit der materiellen Rechtslage nicht übereinstimmt, so macht dies das Urteil nicht ‚ungerecht‘, es hat vielmehr nur eine Seite im Wettbewerb ‚versagt‘ (…)“. 6  Siehe auch Herrmann, S. 167 ff. 7  Sog. substantial material evidence, dazu Brady v. Maryland, 373 U.S. 83 (1963). 8  Grundlegend dazu Kamisar/LaFave/Israel/King/Kerr, S. 1365 ff., siehe auch Herrmann, S. 199 ff. und Schmid, S. 144 f. 9  Brady v. Maryland, 373 U.S. 83, 87 f. (1963): „Society wins not only when the guilty are convicted but when criminal trials are fair; our system of the administration of justice suffers when any accused is treated unfairly.“; siehe auch Kamisar/LaFave/Israel/King/ Kerr, S. 1368 ff. 10  Berger v. United States, 295 U.S. 78, 88 (1935) „[W]hile [the prosecutor] may strike hard blows, he is not at liberty to strike foul ones. It is as much his duty to refrain from im­ proper methods calculated to produce a wrongful conviction as it is to use every legitimate means to bring about a just one.“; Banks, S. 136: „The duty to ensure justice is done“; siehe auch American Bar Association: Standard 3 – 1.2(c) „The duty of the prosecutor is to seek justice, not merely to convict“. 11  Grundlegend dazu Haddad, 81 J. Crim. L. & Criminology 77 ff. (1990); Kirst, 66 Neb. L. Rev. 485 ff. (1987). 12  Vgl. dazu McCormick on Evidence, S. 180 f. 13  Dutton v. Evans, 400 U.S. 74, 86 (1970): „(…) the Sixth Amendment’s Confronta­t ion Clause and the evidentiary hearsay rule stem from the same roots“. 14  California v. Green, 399 U.S. 149, 155 (1970): „hearsay rules and the Confrontation Clause are generally designed to protect similar values“.

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

149

nämlich gerade um die Schwächen von mittelbaren Beweismitteln. Es ist also nicht möglich, das eine ohne das andere zu untersuchen.15 Nach dem sechsten Verfassungszusatz wird dem Angeklagten in allen Strafver­ fahren das Recht gewährt, mit Belastungszeugen konfrontiert zu werden („in all criminal prosecutions, the accused shall enjoy the right (…) to be confronted with witnesses against him“). Die Grundsatzentscheidung im US-amerikanischen Recht zur Confrontation Clause Pointer v. Texas16 stammt aus dem Jahr 1965. Der Ur­ sprung dieses Rechts liegt allerdings schon Jahrhunderte zurück; für das common law wird er einer Entscheidung vom Anfang des 17. Jahrhunderts zugeschrieben, in der Sir Walter Raleigh wegen Hochverrats angeklagt wurde. In dem Verfahren sollte gegen ihn eine Aussage eines vermeintlichen Mittäters verwertet werden, die dieser während einer Befragung gemacht hatte, die möglicherweise auch unter der Anwendung von Folter stattgefunden hatte und in der Raleigh als Initiator der Tat genannt worden war.17 Raleigh forderte allerdings, seinen Ankläger vorzuladen18, damit er ihm „von Angesicht zu Angesicht“19 gegenübertreten könne. Diese For­ mulierung, die auch schon im römischen Recht zu finden war20, hat auch in zahlrei­ chen US-Entscheidungen ihren Niederschlag gefunden; dieses „von Angesicht zu Angesicht“ bildet das Kernstück des Konfrontationsrechts und bedeutet, dass der Angeklagte physisch anwesend sein darf, um den Belastungszeugen zu sehen, zu hören und Fragen an ihn zu stellen sowie ihn ins Kreuzverhör zu nehmen.21 Das Recht des Angeklagten, den Zeugen ins Kreuzverhör zu nehmen, in dem letzterer auch unter Eid steht und sich der Richter bzw. die Geschworenen ein Bild von dessen Aussageverhalten machen können, kann als Herzstück der Confronta­ tion Clause bezeichnet werden.22 15  Eingehend zum Verhältnis von Konfrontationsrecht und hearsay rule, O’Brien, 29 St. Louis U. Pub. L. Rev. (2010), 501 ff. 16  Pointer v. Texas, 380 U. S. 400 (1965). 17  Siehe dazu die Dartsellung bei Mueller/Kirkpatrick, S. 1027. 18  „Call my accuser“. 19  „Face to face“. 20  So soll schon der römische Statthalter Festus gesagt haben, es sei nicht die Art der Römer, jemanden hinzurichten, bevor der Angeklagte seine Ankläger von Angesicht zu Angesicht gesehen habe und ihm die Chance gegeben worden sei, sich selbst gegen die Anklage zu verteidigen, vgl. dazu Coy v. Iowa, 487 U.S. 1012, 1015 f. (1988). 21  Mattox v. United States, 156 U.S. 237, 244 (1895) „(…) seeing the witness face to face, and of subjecting him to the ordeal of a cross-examination.“; Kirby v. United States, 174 U.S. 47, 55 (1899): „(…) witnesses who confront him at the trial, upon whom he can look while being tried, whom he is entitled to cross-examine (…)“; United States v. Ben­ filed, 593 F.2d 815, 821 (8th Cir. 1979): „Normally the right of confrontation includes a face-to-face meeting at trial at which time cross-examination takes place.“; Coy v. Iowa, 487 U.S. 1012, 1015 f. (1988). 22 Douglas v. Alabama, 380 U.S. 415, 418 (1965): „primary interest“; Crawford v. Wash­ington, 541 U.S. 36, 57 (2004) m. w. N.

150

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Im Übrigen gibt es über die juries hinaus eine wesentlich stärkere Einbindung von juristischen Laien in das Strafverfahren in Form von lay magistrates, grand jury und trial jury.23 Zwar hat die Mehrheit der Staaten in ihren Rechtssystemen noch lay magistrates, der Großteil der Fälle wird aber von einem juristisch ge­ bildeten magistrate entschieden.24 Durch die Beteiligung der juristischen Laien – vor allem in den juries – soll das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Rechts­ system und auf ein gerechtes Verfahren gestärkt und es sollen regionale Vorstel­ lungen von Gerechtigkeit verwirklicht werden, schließlich dürfe eine so wichtige Materie wie das Strafrecht nicht ausschließlich in den Händen von Staatsbediens­ teten liegen.25 Während der „normale“ Gang des deutschen Strafverfahrens dem Leser hin­ reichend bekannt sein dürfte, erscheint es erforderlich, den Verlauf des US-ame­ rikanischen Strafverfahrens zumindest in seinen Grundzügen zu skizzieren. Um diesen Verlauf nachvollziehen zu können, ist es wiederum geboten, kurz auf die Wurzeln des US-amerikanischen Rechtssystems einzugehen. 1.   Die Wurzeln des US-amerikanischen Rechtssystems Während kontinentaleuropäische Länder besonders vom römischen Recht ge­ prägt sind und die dort geltenden Gesetze vom jeweiligen Gesetzgeber kodifiziert werden – was allgemein als civil law bzw. statute law bezeichnet wird –, hat das US-amerikanische Recht seinen Ursprung im englischen Recht und ist damit der Tradition des Richterrechts bzw. des common laws26 verhaftet.27 Allerdings lässt sich sagen, dass das Strafrecht heutzutage komplett gesetzlich kodifiziert ist (completely statutory) und nicht mehr vom common law bestimmt wird.28 Schon im 19. Jahrhundert begannen verschiedene Staaten, das Strafrecht in sogenannten „Codes“ gesetzlich festzulegen, wenngleich diese Codes weder mit dem deutschen Strafgesetzbuch noch mit den abstrakten und schlüssigen Strukturen der meisten europäischen Jurisdiktionen vergleichbar sind.29 Die aus dem Jahr 1787 stammende US-amerikanische Bundesverfassung wur­ de im Laufe der Zeit durch verschiedene Zusatzartikel (Amendments) ergänzt.30 23 

Vgl. auch Swoboda, S. 78 ff. LaFave/Israel/King/Kerr, Crminal Procedure, S. 48. 25  LaFave/Israel/King/Kerr, Crminal Procedure, S. 48: „bring to bear local concep­ tions of justice“. 26  Zur Terminologie Hay, US-Amerikanisches Recht, Rn. 16. 27  Näher dazu Hay, US-Amerikanisches Recht, Rn. 1 ff.; siehe auch Schmid, S. 6 ff. 28  Von Mehren/Murray, Law in the United States, S. 187. 29  Von Mehren/Murray, Law in the United States, S. 188 f. 30  Bloom/Brodin, S. 2. 24 

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

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Heutzutage besteht sie aus sieben Haupt- und 27 Zusatzartikeln, deren ersten zehn die Bill of Rights aus dem Jahr 1791 bilden und den Bürgern bestimmte unveräußerliche Grundrechte, die sich insbesondere auf das Strafverfahren aus­ wirken, sichern.31 Vor allem unter Chief Justice Earl Warren32 haben die ver­ fassungsrechtlichen Garantien eine recht liberale Anwendung im Strafverfahren erfahren.33 Das amerikanische Recht wird insbesondere durch den demokratisch-födera­ listischen Aufbau der USA und deren Gliederung in einen Bundesstaat und 50 Einzelstaaten geprägt. Dieser Dualismus ist für die Darstellung der Grundzüge des amerikanischen Strafverfahrens von besonderer Bedeutung, weil die Einzel­ staaten grundsätzlich die Hoheit über das Strafrecht sowie über das Strafverfah­ rensrecht haben. Dies ist aufgrund der Größe der USA und den damit verbunde­ nen historischen, ökonomischen, geographischen und kulturellen Unterschieden – in der Weltmetropole New York hat man sicher ein anderes Verständnis von Schuld und Sühne als im konservativ geprägten Texas oder im mehr als 3000 km entfernten Utah34 – nachvollziehbar, es erschwert aber wegen der zum Teil verschiedenen Strukturen bei der Behördenorganisation und den Gerichten so­ wie den Unterschieden beim Straf- und Strafverfahrensrecht – wenngleich bei den Strukturen und den eigentlichen Verfahren auch zahlreiche Gemeinsamkei­ ten bestehen – die Darstellung. Im Grunde genommen kann man sagen, dass es in den USA anders als in Deutschland nicht das Strafrechtssystem gibt, sondern vielmehr viele verschiedene, miteinander konkurrierende, oft auch im Wesentli­

31  Hay, US-Amerikanisches Recht, Rn. 38 ff; siehe auch ders., Law of the United States, Rn. 704 ff. und Bloom/Brodin, S. 2. 32  Er war von 1953 bis 1969 oberster US-Bundesrichter. 33  Bloom/Brodin, S. 3; Hay, Law of the United States, Rn. 704. 34 Utah ist der einzige Bundesstaat, in dem Todesurteile neuerdings wieder durch Erschießungskommandos vollstreckt werden dürfen, vgl. dazu die SZ vom 25. 03. 2015, S. 6. Während im Bundesstaat New York seit 1963 niemand mehr hingerichtet worden ist und dieser Bundesstaat zurzeit auch keine Todesstrafe hat, sind in Texas seit 1976 mehr als 500 Personen exekutiert worden. Dies ist besonders bedenklich, weil Studien darauf hindeuten, dass es in Texas im Jahr 2013 die meisten Fehlurteile gab: Der Großteil (13) der erst in einem Wiederaufnahmeverfahren Freigesprochenen (87) entfällt auf Texas, das stets zu den drei Bundesstaaten mit den meisten aufgehobenen Fehlurteilen zählt, siehe dazu „Exonerations in 2013“, The National Registry of Exonerations vom 04. 02. 2014, S. 1 und S. 19 unter https://www.law.umich.edu/special/exoneration/Documents/Exonera tions_in_2013_Report.pdf. Die Zahl der Todesurteile in den USA hat in den letzten Jah­ ren massiv abgenommen, vgl. http://www.deathpenaltyinfo.org/death-sentences-unitedstates-1977 – 2008, zuletzt abgerufen am 15. 05. 2017. Die Todesstrafe wurde schon in ei­ nigen Bundesstaaten abgeschafft und wird nur noch in den wenigsten vollstreckt, insbe­ sondere in Texas, Virginia, Oklahoma, Florida und Missouri, näher dazu Hay, Law of the United States, Rn. 702 ff.

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chen übereinstimmende Strafrechtssysteme.35 Grundsätzlich hat jeder Bundes­ staat sein eigenes Strafrechtssystem mit eigenen Strafgesetzen, Strafverfolgungs­ behörden36, Strafgerichten und einem eigenen Strafvollzug. Zu diesen 50 (teil-) souveränen Bundesstaaten tritt konkurrierend auf Bundesebene das Bundesstraf­ recht (federal criminal law), das von der wohl bekanntesten Strafverfolgungs­ behörde, dem Federal Bureau of Investigation (F.B.I.), bundesweit verfolgt bzw. aufgeklärt wird und dessen Anteil in den letzten Jahren stark zugenommen hat,37 wenngleich die absolute Mehrheit von weit über 90 % der Delikte immer noch nach dem Recht der Einzelstaaten verfolgt wird.38 Schließlich hat der Kongress auch für den District of Columbia spezielle Regelungen erlassen, die nur in die­ sem Bezirk gelten, so dass es insgesamt 52 Strafrechtsordnungen in den USA gibt.39 Im Bundesrecht und ungefähr der Hälfte der Einzelstaaten wird üblicherweise zwischen Vergehen (misdemeanor) und Verbrechen (felony) anhand der Höchst­ strafe – und nicht wie im deutschen Recht dem Mindestmaß – von einem Jahr Freiheitsstrafe differenziert.40 Während den Gesetzen und der Justiz der Einzelstaaten enge territoriale Gren­ zen gezogen sind, da ihre Zuständigkeit an der Grenze des jeweiligen Bundes­ staates endet, gelten die Bundesstrafgesetze in den gesamten USA. Vergehen und Verbrechen hiergegen können durch die zuständigen Bundesbehörden landesweit verfolgt und durch die Bundesstrafgerichte abgeurteilt werden.41 35 

von Mehren/Murray, Law in the United States, S. 187; Schmid, S. 35. auf Bundesebene gibt es fast 30 Behörden mit polizeilichen Befugnissen. Hinzu kommen die Polizeibehörden der einzelnen Bundesstaaten (State Police, State Constabulary) sowie fast 3000 Bezirke bzw. Grafschaften (counties, parishes), an deren Spitze jeweils ein Sheriff steht, und die Polizeibehörden einzelner Gemeinden oder Städte mit einem in der Regel vom Volk gewählten Polizeichef (constable, marshal). Kriminalpo­ lizeiliche Ermittlungen werden von Detektivabteilungen durchgeführt, die dem Bezirks­ anwalt (district attorney, prosecuting attorney) unterstehen, vgl. zu den Polizeibehörden Schmid, S. 36 ff. m. w. N. 37  von Mehren/Murray, Law in the United States, S. 189. 38  Israel/Kamisar/LaFave/King, S. 2. 39  Israel/Kamisar/LaFave/King, S. 1 ff.; LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedu­ re, S. 29. 40  In einigen Staaten gibt es wiederum auch „minor“ oder „simple“ misdemeanors, bei denen nur eine Freiheitsstrafe von 90 Tagen verhängt wird; näher dazu LaFave/Israel/ King/Kerr, Criminal Procedure, S. 35 f.; siehe auch Hay, Law of the United States, Rn. 682. 41  Aufgrund der konkurrierenden bzw. sich überschneidenden Strafrechtsordnung der Einzelstaaten und des Bundesstaates sind mehrere Strafverfolgungen und Verurteilungen für eine einzelne Straftat möglich. Denn die Double Jeopardy Clause des Fifth Amendment gilt nicht, wenn zwei verschiedene Souveräne – zwei Einzelstaaten oder ein Einzel- und der Bundesstaat – einen Täter verfolgen, dessen Tat gleichzeitig beide Rechtsordnungen 36  Bereits

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2.   Der Verlauf des Strafverfahrens Es sollen im Folgenden die übliche Strafverfolgung von Verbrechen (felonies) und der damit verbundene „normale“ Gang eines Strafverfahrens dargestellt wer­ den. Damit ist die überblicksartige Darstellung der Ermittlung eines Verdächti­ gen bis hin zu dessen Verurteilung sowie ein Überblick über die weiteren Verfah­ rensbeteiligten gemeint. Es würde den Rahmen sprengen, auf einzelne Aspekte der sonstigen zahlreichen Verfahrensmöglichkeiten und die damit verbundenen Ausnahmen einzugehen. a)  Investigative Phase Am Beginn eines jeden Strafverfahrens steht die investigative Phase.42 Zu­ nächst muss die Polizei durch eine Anzeige (complaint)43 oder in sonstiger Weise Kenntnis von einer Straftat erhalten, was sie zur Ermittlung eines Verdächtigen (suspect) veranlasst. Dieser Auftrag ist sehr vielfältig und ureigenste Aufgabe der Polizeibehörden (police agencies), deren Organisationsstruktur recht komplex ist.44 Durch die 50 Bundesstaaten gibt es nahezu 18.000 verschiedene Polizeibe­ hörden, von denen die Mehrheit Teil der kommunalen Verwaltung ist (z. B. muni­ cipal police departments oder county sheriff’s offices).45 Während in Deutschland die Staatsanwaltschaft die Herrin des Ermittlungsverfahrens ist und die Polizei ihren Weisungen untersteht, sind die Polizeibehörden in den Einzelstaaten der USA unabhängiger von der Staatsanwaltschaft (prosecution).46 Der Polizeibeam­ te kann durch eigene Wahrnehmungen oder auch durch Berichte Dritter wie Zeu­ gen, Opfer oder anderer Polizisten darüber, was sie gesehen, gehört oder sonst wie wahrgenommen haben – hearsay information – einen begründeten Anfangs­ verdacht (reasonable suspicion) gegen eine Person erlangen, was ihn zu weite­ ren Ermittlungen veranlasst.47 Sollten diese Ermittlungen einen hinreichenden Verdacht (probable cause)48 begründen, so kann die Polizei bei einem Richter, üblicherweise einem magistrate, einen Haftbefehl beantragen (arrest warrant) verletzt hat; von Mehren/Murray, Law in the United States, S. 190 f.; vgl. zu Einzelheiten Singer, S. 205 ff. sowie insbesondere zur dual sovereignty doctrine, S. 234 ff. 42  Vgl. zu den Standardmaßnahmen der Polizei in der investigativen Phase wie z. B. search and seizure oder stop and frisk, Saltzburg/Capra/Davis, S. 100 ff. und S. 209 ff. 43  Complaint als Anzeige darf nicht mit dem späteren complaint bzw. indictment, der Anklage, verwechselt werden. 44  Worrall, S. 31: „Criminal procedure is, in many ways, police procedure“. 45  Ausführlich dazu Israel/Kamisar/LaFave/King, S. 5 ff. 46  Israel/Kamisar/LaFave/King, S. 7. 47  Siehe zum reasonable suspicion beispielsweise Samaha, S. 136 f. 48 Siehe zu den inhaltlichen Anforderungen an das Vorliegen von probable cause ­Hessel, S. 67 ff.

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oder bei Gefahr in Verzug den Verdächtigen auch ohne Haftbefehl festnehmen (warrantless arrest), um hieran anknüpfend auf der Polizeiwache weitere Maß­ nahmen ergreifen zu können. Hier kommen erkennungsdienstliche Maßnahmen wie die Feststellung der Personalien oder die Anfertigung von Lichtbildern oder das Abnehmen von Fingerabdrücken (booking) oder insbesondere Identifizierun­ gen durch Zeugen in Betracht.49 Der hinreichende Tatverdacht kann auch auf mittelbare Beweismittel wie hear­ say gestützt werden, da in diesem Stadium des Verfahrens noch nicht so strenge Anforderungen an die Beweismittel gestellt werden wie im späteren Gerichts­ verfahren, sondern die Verdachtsgründe eher summarisch geprüft werden.50 Die Beurteilung des hearsay evidence erfolgte in dieser Phase des Verfahrens früher in einem Zwei-Stufen-Test, auf dessen erster Stufe die Verlässlichkeit des Infor­ manten und auf der zweiten Stufe die Quelle der Information des Informanten geprüft wurden. Dieser Test ging auf zwei Entscheidungen des U.S. Supreme Court – Aguilar v. Texas51 und Spinelli v. United States52 – aus den sechziger Jahren zurück, so dass lange von dem Aguilar-Spinelli Zwei-Stufen-Test (Agui­ lar-Spinelli two pronged test) gesprochen wurde.53 Seit der Entscheidung Illinois v. Gates54 aus dem Jahre 1983 wird ein weniger strenger Ansatz verfolgt, indem einfach die Gesamtumstände55 aus der Sicht eines verständigen Dritten (common 49  Worrall, S. 277 f. Bei Identifizierungen ist – neben DNA-Material und möglichem Bildmaterial vom Tatort aus Videoaufnahmen bzw. Überwachungskameras – gerade der Zeuge ein äußerst bedeutsames, aber auch fehleranfälliges Beweismittel. Die Identifizie­ rungen durch Zeugen finden in der Regel auf der Wache durch Gegenüberstellungen statt. Dabei ist zwischen zwei bzw. neuerdings wohl drei Arten der Identifizierungsgegenüber­ stellung zu unterscheiden: Bei der Wahlgegenüberstellung steht der Tatverdächtige in ei­ ner Reihe mit ihm ähnelnden Personen (lineup), aus der der Zeuge den Beschuldigten wiedererkennen muss, sowie die bloße Vorführung des Tatverdächtigen allein (showup). Die letztgenannte Methode erscheint aufgrund der immensen Suggestivwirkung äußerst bedenklich und dürfte – wenn überhaupt – nur einen sehr geringen Beweiswert haben. Neuerdings wird die sequentielle oder sukzessive Gegenüberstellung empfohlen, bei der der Zeuge jeweils nur eine Person sieht, ihm aber nacheinander mehrere Personen ge­ zeigt werden. Dieser Methode wird ein höherer Beweiswert als den beiden anderen Iden­ tifizierungsgegenüberstellungen zugeschrieben. Eine Identifizierung kann auch durch die Vorlage von Lichtbildern erfolgen (photographic array), wobei auch die sukzessive Lichtbildvorlage von mindestens acht Personen zu präferieren ist. Siehe auch Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 58 Rn. 12a. 50  Siehe zur Zulässigkeit von hearsay zur Begründung von probable cause Samaha, S. 188 ff. 51  Aguilar v. Texas, 378 U.S. 108 (1964). 52  Spinelli v. United States, 393 U.S. 410 (1969). 53  Ausführlich dazu Saltzburg/Capra/Davis, S. 11 f. und insbesondere S. 140 ff.; siehe dazu auch Hessel, S. 70 ff. 54  Illinois v. Gates, 462 U.S. 213 (1983). 55  Illinois v. Gates, 462 U.S. 213, 230 (1983): „totality-of-the-circumstances ap­proach“.

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sense) gewürdigt werden, ohne zwischen einzelnen Stufen zu differenzieren und ohne dass beide Stufen kumulativ erfüllt sein müssten.56 Schon bei der ersten Vernehmung ist der Beschuldigte seit dem Grundsatzur­ teil Miranda v. Arizona57 aufgrund des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit über sein Recht, zu schweigen, sowie das Recht, einen Anwalt zu konsultieren, zu belehren.58 Die Festnahme stellt im Grunde genommen den ersten Schritt des Anklageprozesses dar, auf die ein „probable cause“ hearing vor einem Haftrich­ ter, einem sog. magistrate, folgt. b)  „Probable cause“ hearing und initial appearance Der vierte Verfassungszusatz wendet sich gegen unbillige Festnahmen („un­ reasonable seizure“). Daraus soll zwar verfassungsrechtlich kein Anspruch abge­ leitet werden können, dem Haftrichter vorgeführt zu werden, doch schreiben fast alle Rechtsordnungen dies ohnehin – entweder aufgrund entsprechender gesetzli­ cher Regelungen oder aufgrund von Gerichtsbeschlüssen – vor.59 Nach Gernstein v. Pugh60 soll der Verhaftete, sofern ein Haftbefehl nicht im Vorfeld beantragt worden ist, binnen einer angemessenen Frist (reasonable time bzw. promptly after arrest), die in der Regel nicht mehr als 48 Stunden betragen darf,61 dem Haftrich­ ter vorgeführt werden. In diesem sog. Gernstein oder „probable cause“ hearing prüft der Richter lediglich, ob die Polizei zu Recht einen hinreichenden Verdacht für die Festnahme hatte. Deshalb ist diese Anhörung entbehrlich, wenn der Rich­ ter vor der Verhaftung einen Haftbefehl erlassen und im Rahmen des Erlasses schon eine entsprechende Prüfung durchgeführt hat.62 Auch im Rahmen dieser Anhörung sind die Grenzen für die Zulässigkeit von Beweismitteln sehr niedrig, so dass die Polizei ihren Verdacht auch auf

56 Ausführlich dazu Saltzburg/Capra/Davis, S. 144 ff.; siehe dazu auch Hessel, S. 70 ff. 57  Miranda v. Arizona, 384 U.S. 436 (1966). 58 Dazu grundlegend Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeiverneh­ mung, S. 29 ff.; jüngst kritisierte Wittmann, dass in der heutigen Rechtspraxis von der Miranda-Warnung nicht mehr verbleibe „als ein verblasster, weitgehend inhaltsleerer My­ thos“, JZ 2014, 105, 111. 59  Singer, S. 10 spricht von „all jurisdictions“; hingegen Worrall, S. 278: „not all ju­ risdictions“. 60  Gernstein v. Pugh, 420 U.S. 103 (1975). 61  County of Riverside v. McLaughlin, 500 U.S. 44 (1991); bis zur Gernstein-Entschei­ dung wurden im Bundesstaat Florida Verdächtige erst bis zu 30 Tage nach ihrer Verhaf­ tung einer solchen Anhörung zugeführt. 62  Gleiches gilt, wenn jemand aufgrund der Anklageschrift (indictment) einer grand jury, die investigative Aufgaben wahrnimmt, verhaftet wird; siehe auch Worrall, S. 279.

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Informationen vom Hörensagen stützen kann.63 Im Anschluss daran folgt die initial appearance oder auch first appearance, die in der Praxis häufig mit dem Gernstein hearing verbunden wird und von dem preliminary hearing zu unter­ scheiden ist, da der letzte Begriff häufig ungenau zur Bezeichnung der beiden anderen Anhörungen verwendet wird.64 Im Rahmen dieser Anhörung, die nicht in allen Bundesstaaten erforderlich ist,65 nimmt der Magistrat in der Regel ein Schriftstück, das die Anschuldigungen zusammenfasst (complaint), von der Po­ lizei, die dieses nach der Festnahme angefertigt hat, oder vom Staatsanwalt, der unter Umständen aber auch erst später in das Verfahren eintreten kann66, ent­ gegen und informiert – da der Magistrat bei Verbrechen und auf Bundesebene auch bei sonstigen Übertretungen (misdemeanors) nicht selbst das Urteil spre­ chen kann – den Beschuldigten über die Vorwürfe sowie seine Rechte. Diese verfassungsrechtlich garantierten Rechte beinhalten das Recht zu schweigen, das Recht auf einen Anwalt (counsel) sowie das Recht auf einen Geschworenen­ prozess (jury trial). Ferner entscheidet der Richter, ob er den Verdächtigen – möglicherweise unter Auflagen – auf Kaution (bail) entlässt oder ob er ihn in Gewahrsam behält.67 c)  Der Staatsanwalt und die Anklageerhebung Der amerikanische Strafprozess ist ein typischer Anklageprozess, in dem tra­ ditionsgemäß ein Amtsträger die Rolle des Anklägers übernimmt und den Staat repräsentiert,68 weil ein Verbrechen häufig als Angriff auf den Staat verstanden wird, wohingegen in England erst in den letzten Jahren ein entsprechendes Amt geschaffen wurde und die Rolle des Anklägers zuvor auch von Privatpersonen wahrgenommen wurde, indem diese neben ihren Schadensersatzansprüchen vor Gericht auch die strafrechtliche Verfolgung begehrten.69 In Bundesstrafverfahren übernimmt einer der gut 90 United States Attorneys (auch U.S. Attorneys) in dem ihm zugewiesenen Bezirk (district) die Rolle des obersten Strafverfolgers und führt die Aufsicht über die ihm beigeordneten Staatsanwälte.70 U.S. Attorneys werden vom Präsidenten mit Zustimmung des Senats für eine Amtszeit von vier Jahren ernannt. Sie unterstehen dem (Bundes-)Justizministerium der Vereinigten 63 

Singer, S. 10. Singer, S. 10; Worrall, S. 278. 65  Worrall, S. 278. 66  Schmid, S. 54. 67  Singer, S. 11 ff.; ggf. ist ein separates pretrial release hearing anzuberaumen, vgl. dazu Worrall, S. 280 f. sowie Stack v. Boyle, 342 U.S. 1 (1951). 68  Worrall, S. 310. 69  Schmid, S. 39; Singer, S. 30 f. 70 Vgl. Schmid, S. 39. 64 

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Staaten (United States Department of Justice, DOJ), das von einem Kabinetts­ mitglied als United States Attorney General (Generalstaatsanwalt) geleitet wird;71 das Justizministerium ist das einzige Ministerium, dessen Leiter nicht als Minis­ ter (secretary) bezeichnet wird. Bei einzelstaatlichen Straftaten, die – da die Strafgewalt in den Vereinig­ ten Staaten hauptsächlich Sache der einzelnen Bundesstaaten ist – die Mehr­ heit darstellen, übernimmt der District Attorney die Strafverfolgung. Je nach Bundesstaat gibt es unterschiedliche Bezeichnungen für dieses Amt, so z. B. Prosecuting Attorney, Prosecutor, State’s Attorney, County Attorney, County Prosecutor.72 In den meisten Bundesstaaten wird der District Attorney vom Volk gewählt, was zu einer politischen Färbung führt.73 Es gibt aber auch die Möglichkeit der Ernennung.74 Der District Attorney ist in der Führung seines Amtes weitgehend unabhängig, weil er fachlich und administrativ keiner über­ geordneten Behörde untersteht.75 Es gibt zwar auch in den Einzelstaaten einen Generalstaatsanwalt (Attorney General), dessen Einfluss im Strafverfahren aber begrenzt ist.76 Der Staatsanwalt77 allein entscheidet nach seinem Ermessen (prosecutori­ al discretion), erstens ob er Anklage erhebt, zweitens über die Anklagepunkte und drittens, welche Vorwürfe Gegenstand des Verfahrens sein sollen. Nach den Worten des Attorney General und Richter am Obersten Gerichtshof der Verei­ nigten Staaten, Robert H. Jackson, hat der Staatsanwalt „mehr Gewalt über Le­ ben, Freiheit und Ehre als jede andere Person in Amerika“.78 Dieses sehr weit reichende Ermessen (broad discretion), das gesetzlich nicht näher geregelt ist79, ist aufgrund der politischen Färbung nicht unbedenklich, zumal das Amt häufig als Sprungbrett für weitere Karrieremöglichkeiten genutzt wird: Der im Fokus der Öffentlichkeit stehende District Attorney könnte eine Anklageerhebung da­ von abhängig machen, ob er mit dem Fall in der Öffentlichkeit eine gute Figur machen wird, oder er wird eine Verfolgung von Personen, denen er sich poli­ 71 

Schmid, S. 39. Israel/Kamisar/LaFave/King, S. 7 f. Schmid, S. 37, 39 ff. 73  von Mehren/Murray, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 260 f. 74  Schmid, S. 40. 75  von Mehren/Murray, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 261; Schmid, S. 40. 76  Schmid, S. 40. 77  Siehe zur Rolle des Anklägers im adversatorischen Verfahren, Swoboda, S. 85 ff. 78  Jackson, 24 J. Am. Jud. Soc’y, 18, 18 (1940): „The prosecutor has more control over life, liberty, and reputation than any other person in America“. 79  Vgl. dazu Singer, S. 32 ff, mit Hinweisen auf die California Crime Charging Stan­ dards in Fn. 14; siehe auch Corrigan, 13 Hastings Const. L. Q. 537, 543 (1986) sowie Worrall, S. 310. 72 

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tisch verbunden fühlt oder die in der Gunst der Öffentlichkeit stehen, ablehnen.80 Während in Deutschland dem Staatsanwalt gerne die Rolle als „Wächter des Ge­ setzes“81 zugeschrieben wird und sich die Staatsanwaltschaft aufgrund des Le­ galitätsprinzips gerne rühmt, die objektivste Behörde der Welt zu sein und in gleicher Weise Entlastungs- wie Belastungsmomente für den Beschuldigten zu prüfen und sogar zugunsten des Angeklagten Rechtsmittel einlegen zu können, steht im amerikanischen Strafverfahren die Auseinandersetzung (adversarialism) zwischen den Anklagevertretern und dem Angeklagten bzw. dessen Verteidiger im Vordergrund.82 Zwar sind Staatsanwälte grundsätzlich auch verpflichtet, dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger entlastende Beweise vorzulegen, doch gibt es keine allgemeine Pflicht zur Sicherung, dass solche Beweise auch wirk­ lich dem Gericht vorgelegt werden oder in sonstiger Weise die Rechte und Inte­ ressen des Angeklagten besondere Berücksichtigung finden.83 Nach dem Ideal­ bild des US-amerikanischen – und auch des deutschen – Strafverfahrens geht es für den Staatsanwalt nicht darum, einen Fall zu gewinnen, sondern er soll für Gerechtigkeit sorgen: Nach Berger v. United States84 soll der Staatsanwalt als Justizhoheit unparteiisch handeln, die Verurteilung des Schuldigen sicherstellen und den Unschuldigen schützen. Dieses erstrebenswerte Idealbild lässt sich in der Praxis nur schwer und insbesondere in einem adversatorischen System wohl kaum erreichen, weil vor allem der Parteiprozess eindeutig von einer Mentalität des Gewinnens geprägt ist.85 Von Mehren/Murray gehen sogar soweit, das Straf­ 80  Schmid, S. 41 f., vgl. dort auch zum Verbot der selective prosecution wegen des Grundsatzes der gleichen Behandlung vor dem Gesetz (equal protection of the laws), Four­ teenth Amendment sowie United States v. Batchelder, 442 U.S. 114, 124 f. (1979): „(…) a prosecutor’s discretion to choose is not ,unfettered‘; selectivity in the enforcement of criminal laws is subject to constitutional constraints.“; ebenso Wayte v. United States, 470 U.S. 598, 608 (1985): „Although prosecutorial discretion is broad, it is not ,unfettered‘.“; kritisch von Mehren/Murray, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 260 f. sowie Singer, S. 31. 81 Vgl. dazu insbesondere zu ihrer herausgehobenen Bedeutung der Staatsanwalt­ schaft in der Verständigungssituation BVerfG, Urteil vom 19. 03. 2013 – 2 BvR 2628/10 – 2 BvR 2883/10 – 2 BvR 2155/11 –, juris Rn. 93 sowie Fischer, in: FS Kühne, S. 203, 212. 82  von Mehren/Murray, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 258 f.; United States. v. Cyprian, 756 F.Supp. 388 (N.D.Int. 1991). 83  von Mehren/Murray, Law in the United States, S. 194 f.; vgl. die Dartsellung des Code of Conduct for Judicial Employees bei Worrall, S. 313 ff. 84  Berger v. United States, 295 U.S. 78, 88 (1935): „The United States Attorney is the representative not of an ordinary party to a controversy, but of a sovereignty whose obli­ gation to govern impartially is as compelling as its obligation to govern at all; and whose interest, therefore, in a criminal prosecution is not that it shall win a case, but that justice shall be done. As such, he is in a peculiar and very definite sense the servant of the law, the twofold aim of which is that guilt shall not escape or innocence suffer. He may prosecute with earnestness and vigor – indeed, he should do so“. 85  Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 503.

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verfahren eher als Auseinandersetzung bzw. Wettbewerb (contest) zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung zu bezeichnen und nicht als Ermittlung bzw. „Untersuchung, ob eine Straftat begangen wurde und wer sie eventuell be­ gangen hat.“86 Zu Recht weisen sie darauf hin, dass in diesem Wettbewerb gerade der Rolle des Verteidigers eine Schlüsselfunktion zukommt, weil dieser durch seine Fähigkeiten und sein Geschick eine faire Behandlung des Angeklagten si­ cherstellen muss: Je kompetenter und besser der Verteidiger ist, desto höher sind die Chancen des Angeklagten auf einen Freispruch. In der Regel dürften sich betuchte Leute die besseren Anwälte leisten, was sich in Bezug auf die Anklage und das Verfahren insgesamt zu ihrem Vorteil auswirken dürfte.87 Dieses sozia­ le Phänomen dürfte zwar auch dem deutschen Strafverfahren nicht ganz fremd sein, in unserem Rechtssystem kann eine schlechte Verteidigung aber häufig – wenngleich auch nicht immer88 – durch das Gericht – insbesondere durch den Grundsatz der richterlichen Aufklärungspflicht89 bzw. das „Gebot bestmöglicher Sachaufklärung“90 nach § 244 Abs. 2 StPO und auch durch den Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung91 nach § 261 StPO – kompensiert werden, wohingegen der Richter im amerikanischen Strafverfahren grundsätzlich eine eher passive Rolle92 einnimmt und keinen Zugang zu unabhängigen Informatio­ nen hat. In dem adversary system obliegt es ausschließlich der Verantwortung der Parteien, relevante Tatsachen zu ermitteln, mögliche Zeugen zu finden und diese zu befragen sowie Sachverständige zu konsultieren. Jede Partei trägt die für ihre Seiten günstigen Tatsachen vor und versucht, die Glaubhaftigkeit der Aussagen von Zeugen, die von der Gegenseite benannt wurden, zu entkräften.93 Es lässt sich nicht pauschal sagen, in welchem Stadium des Verfahrens der Staatsanwalt in dieses eintritt. Möglicherweise informiert die Polizei ihn schon unmittelbar nach der Festnahme des Verdächtigen, so dass er bereits am „proba­ ble cause“ hearing und an der initial appearance teilnimmt, er kann aber auch erst später in das Verfahren eintreten. Jedenfalls trifft er seine Entscheidung, Anklage zu erheben (charging decision) vor dem preliminary hearing und ist ab dieser Ent­

86 

von Mehren/Murray, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 258. von Mehren/Murray, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 259. 88  Beispielhaft sei erwähnt, dass dem Verteidiger nicht bekannt sein könnte, dass er Einwände gegen eine Beweisverwertung rechtzeitig geltend machen muss (sog. Wider­ spruchslösung), siehe dazu Beulke, Rn. 460a. 89  Beulke, Rn. 406. 90  BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45, 61; BVerfG NJW 2003, 2444. 91  Beulke, Rn. 490 ff. 92  von Mehren/Murray, Law in the United States, S. 195; vgl. auch Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 733 f. 93 Vgl. LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1156 f., 1179 f. 87 

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scheidung Verfahrensbeteiligter.94 Die Art und Weise der Anklageerhebung va­ riiert zwischen den Einzelstaaten erheblich und es ist nicht in allen Einzelstaaten der Staatsanwalt, der diese Entscheidung trifft: In manchen Staaten wird diese Entscheidung von der grand jury, die nicht mit der trial jury verwechselt werden darf, getroffen. Während in manchen Einzelstaaten der Staatsanwalt selbst durch Benennung der Delikte (filing charges) in der Anklageschrift (information) und deren Einreichung bei Gericht entscheiden kann, welche Straftaten Gegenstand des Verfahrens sein sollen, muss der Staatsanwalt in anderen Einzelstaaten den „Umweg“ über die grand jury gehen; manche Staaten erlauben – wie die Verfas­ sung des Staates Kalifornien95 – beide Methoden dieses sog. testing the govern­ ment’s case. d)  Die grand jury Eine Anklage durch eine grand jury (indictment) ist in 18 Bundesstaaten – zumindest für schwere Straftaten – sowie in Bundesstrafverfahren vorgeschrie­ ben.96 Dennoch hat ihre Bedeutung in den letzten Jahren stark abgenommen, weil in den Staaten, die beide Methoden erlauben, primär auf die Anklageerhebung durch information zurückgegriffen wird.97 Die grand jury hat ihren Ursprung in England, wo Gesandte des Königs durch das Land reisten, um Recht zu sprechen. Mangels genauer Kenntnis des Geschehens waren die Gesandten des Königs häu­ fig auf die Berichte der Einwohner angewiesen, um festzustellen, welche Verbre­ chen vor Ort geschehen waren. Dieser Ursprung der grand jury hat wiederum seinen Niederschlag im fünften Verfassungszusatz – „No person shall be held to answer for a capital, or otherwise infamous crime, unless on a presentmet or indictment of a grand jury“ – gefunden, was darauf zurückzuführen ist, dass man die Anklagen und die Macht des Staates bei Ermittlungen durch ein lokales Kontrollorgan begrenzen oder zumindest überwachen wollte.98 Heutzutage wird eine Anklageerhebung durch die grand jury aufgrund ihrer weitreichenden Er­ mittlungsbefugnisse vom Staatsanwalt angestrebt, wenn dessen bisherige Ermitt­ lungsergebnisse noch nicht ausreichend sind, um seinen Fall zu belegen.99

94 

Worrall, S. 288. § 14 California Constitution: „Felonies shall be prosecuted as provided by law, either by indictment or, after examination and commitment by a magistrate, by in­ formation“. 96  Vgl. dazu die Dartsellung bei Worrall, S. 323. 97  Deshalb werden diese eigentlichen „option states“ häufig als „information states“ bezeichnet, dazu LaFave/Israel, Criminal Procedure (1984), S. 279 f. 98  Samaha, S. 506; Singer, S. 56; Worrall, S. 321 f. 99  Lafave/Israel, Criminal Procedure (1984), S. 280. 95  Art. 1

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Die grand jury ist, wie der Name bereits andeutet, größer als die trial jury und besteht heutzutage in der Regel aus 16 bis 23 Bürgern100, die – ähnlich wie bei ei­ ner trial bzw. petit jury – entweder nach einem Zufallsprinzip (random selection) oder nach dem älteren „Verfahren der Schlüsselperson“ (key man) nach möglichst fairen und objektiven Gesichtspunkten (von einer bestimmten Liste) gewählt wer­ den;101 die jury soll den Querschnitt der Gesellschaft darstellen („cross-section of the community“)102. Die Geschworenen entscheiden in einem nicht-öffentlichen Verfahren, ob die vom Staatsanwalt vorgelegten Beweise ausreichend sind, um eine Anklage zu erheben. Die grand jury tagt unter Vorsitz des Staatsanwalts, der die Sitzung in gewisser Weise leitet und vorschlägt, welche Zeugen zu vernehmen sind; die Juroren sind aber theoretisch unabhängig und befinden selbst darüber, welche Tatsachen und Beweise sie ihrer Entscheidung zugrunde legen und ob sie die An­ klage im Ergebnis zulassen oder abweisen wollen.103 Auf die Frage, inwieweit die grand jury ihrer ursprünglichen verfassungsrechtlichen Funktion, der Begren­ zung der staatlichen Kontrolle, heutzutage noch gerecht wird oder ob sich juris­ tische Laien nicht vielmehr von der Autorität des Staatsanwalts leiten lassen und seinen Empfehlungen möglicherweise (blind) folgen, soll hier eigentlich nicht näher eingegangen werden.104 Es ist aber zu erwähnen, dass selbst der obers­ te Gerichtshof in United States v. Dionisio105 kritisch anmerkt, dass die grand jury ihrer „historischen Rolle als schützendes Bollwerk, das fest zwischen dem gewöhnlichen Bürger und dem übereifrigen Staatsanwalt steht“106 nicht immer genügt. Der Supreme Court of California weist zu Recht auf die Abhängigkeit der grand jury vom Staatsanwalt hin, die auf die institutionelle Schizophrenie, die der grand jury als Anklägerin und Tatsachenermittlerin immanent ist, zurückzufüh­ ren ist.107 Dieses Kontrolldefizit sowie die leitende Funktion des Staatsanwalts im Rah­ men der grand jury unterstreicht erneut seine mächtige Stellung im Strafverfah­ 100  Auch in den einzelnen Bundesstaaten variiert die Größe, die teilweise wiederum von der Größe der Bezirke abhängt; siehe auch California Penal Code § 888.2. 101  Singer, S. 56; Worrall, S. 323. 102  Schmid, S. 55. 103  Vgl. auch Singer, S. 63. 104  Vgl. dazu Griffin, 26 U. Fla. L. Rev. 825 (1974), insbesondere S. 834 ff. 105  United States v. Dionesio, 410 U.S. 1 (1973). 106  „The grand jury may not always serve its historic role as a protective bulwark stan­ ding solidly between the ordinary citizen and an overzealous prosecutor“. 107  Hawkins v. Superior Court, 22 Cal.3d 584 (1978): „The domination of grand jury proceedings by the prosecuting attorney no doubt derives at least in part from the grand jury’s institutional schizophrenia: it is expected to serve two distinct and largely inconsis­ tent functions – accuser and impartial factfinder“.

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ren; so wird die grand jury häufig auch als bloßer „Stempel“ des Staatsanwalts bezeichnet.108 Der Staatsanwalt ist verfassungsrechtlich auch nicht verpflichtet, der grand jury den Beschuldigten entlastende Beweise vorzulegen.109 Dies er­ scheint besonders bedenklich, weil die Sitzungen nicht-öffentlich sind und ein Richter, der Beschuldigte selbst oder dessen Verteidiger daran nicht teilnehmen dürfen. Die grand jury ist ein Ermittlungsorgan mit weitreichenden Befugnissen (­broad subpoena power).110 Sie kann Zeugen vorladen, verhören und eine umfangreiche Beweisaufnahme durchführen,111 die viel weitreichender sein kann als die Beweis­ aufnahme im eigentlichen Gerichtsverfahren, weil die grand jury grundsätzlich keinen Beweiserhebungsverboten unterliegt. Deshalb können die Geschworenen auch Informationen erlangen, die in einem Gerichtsverfahren selbst nicht zuläs­ sig wären, wie der Hörensagenbeweis oder sogar erzwungene Geständnisse.112 In einem Verfahren wegen Steuerhinterziehung gegen Frank Costello, einen der bekanntesten Mafiosi seiner Zeit, wurde die Anklage (indict­ment) ausschließ­ lich auf hearsay gestützt113, was der U.S. Supreme Court für rechtmäßig erachtet hat.114 Anders als beispielsweise in Kalifornien115 und Idaho116 ist in den meisten Bundesstaaten hearsay in der grand jury zulässig. Sogar bei der Befragung von Zeugen haben weder der Beschuldigte noch sein Verteidiger ein Anwesenheitsrecht117, weil das im sechsten Verfassungszusatz 108 Kritisch Worrall, S. 321 „highly dependent on the actions of the prosecutor“; siehe auch Singer, S. 57 sowie die Darstellung der Vor- und Nachteile („prosecutors’ rubber stamps“) bei Samaha, S. 507 ff. 109  Williams v. United States, 504 U.S. 36 (1992); näher dazu Singer, S. 62 m. w. N., siehe dort auch S. 66. 110  Singer, S. 57. 111  Siehe zu Details Worrall, S. 329 ff. 112  Singer, S. 61 f. 113  Zusammenfassende Darstellung des Falles bei Patterson, 61 Wash. U. L. Q. 191, 198 f. (1983). 114  Costello v. United States, 350 U.S. 359 (1956); kritisch dazu Patterson, 61 Wash. U. L. Q. 191 ff. (1983), dort auch m. w. N. zur Rspr. 115  Hearsay ist in der grand jury in Kalifornien grundsätzlich unzulässig, California Penal Code § 939.6 und California Evidence Code §§ 1200 ff.; siehe auch People v. Backus, 23 Cal.3d 360, 387  ff. (Cal. 1979) und People v. Skelton, 109 Cal.App.3d 691,  704  (Cal. Ct. App. 1980); cert. denied, Curtin v. United States, 450 U.S. 917 (1981). 116  Siehe I.C. § 19 – 1105 (Idaho Code, Title 19, Chapter 11) und I.C.R. 6(f) sowie State v. Edmonson, 113 Idaho 230, 236 (Idaho 1987) m. w. N. zu Staaten, in denen hearsay in der grand jury unzulässig ist; State v. Martinez, 125 Idaho 445, 448 f. (Idaho 1994). 117  Vgl. dazu auch Singer, S. 69: Es gibt in mindestens 24 Staaten für die grand jury ein statutory right to counsel; in 13 Staaten darf der Verteidiger zwar zugegen sein, aber nicht an dem Verfahren teilnehmen.

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kodifizierte Konfrontationsrecht hier nicht greift. Während im deutschen Straf­ verfahren bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung von Zeugen und Sach­ verständigen dem Verteidiger stets und dem Beschuldigten grundsätzlich – mit Ausnahme der Fälle des § 168c Abs. 3 und 4 StPO – gem. § 168c Abs. 2 StPO ein Anwesenheitsrecht zusteht und jene durch Ausübung ihres Fragerechts die Glaubhaftigkeit der Aussage oder die Glaubwürdigkeit des Zeugen schon im Rahmen der Vernehmung erschüttern können, findet der sechste Verfassungs­ zusatz nur auf den Strafprozess (criminal proceedings) selbst Anwendung, der aber erst beginnt, nachdem die grand jury ihre Ermittlungen abgeschlossen hat.118 Nicht einmal die Zeugen dürfen einen Rechtsbeistand mit in den Befragungs­ raum bringen, weil das durch den sechsten Verfassungszusatz gewährte Recht auf einen Anwalt (right to counsel) hier nicht greift. Der Zeuge hat zwar grund­ sätzlich das vom fünften Verfassungszusatz gewährte Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, es ist aber umstritten, ob der Zeuge hierüber auch belehrt werden muss. Die bereits angesprochenen Miranda-Rechte sollen nach Gollaher v. United States119 nicht greifen, weil die Befragung durch die grand jury schon an sich nicht so einschüchternd sei wie eine Befragung nach einer Festnahme. Diese Entscheidung erscheint bedenklich, es ist aber zu begrüßen, dass die meis­ ten Staaten eine solche Belehrung ohnehin gesetzlich kodifiziert haben.120 In der Praxis wird den Zeugen häufig Immunität gewährt, sofern sie sich durch ihre Aussagen selbst belasten. Nachdem alle Zeugen ausgesagt haben und alle sonstigen Beweismittel begut­ achtet wurden, fasst der Staatsanwalt die Beweise, die für eine Anklage sprechen, zusammen und setzt eine Anklageschrift auf (indictment), über die die Juroren sodann alleine beraten und abstimmen. Sofern die Juroren die Auffassung des Staatsanwalts teilen und genug Beweise für einen Prozess bejahen, der Fall des Staatsanwalts also den Test besteht, votieren sie für eine Anklage. In Bundes­ strafverfahren müssen zwölf Geschworene der Anklage zustimmen.121 Sodann wird die Anklageschrift bei Gericht eingereicht (entspricht filing charges) und vom Richter angenommen, wobei diese Annahme eine bloße Formalität ist und lediglich geprüft wird, ob alle erforderlichen Unterlagen vorliegen.122 Bei der Entscheidung, Anklage zu erheben oder eben nicht, kommt dem Staats­ anwalt – wie schon erwähnt – ein weites Ermessen zu, das nur in engen Grenzen überprüfbar und beeinflussbar ist (sog. prosecutorial discretion).123 Selektive 118 

United States v. Mandujano, 425 U.S. 564 (1976); Singer, S. 63. Gollaher v. United States, 419 F.2d 520 (9th Circuit 1969). 120  Worrall, S. 328 f. 121  Samaha, S. 507. 122  Samaha, S. 507. 123  Worrall, S. 310 ff. 119 

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und unfaire Entscheidungen zur Verfolgung von Minderheiten oder willkürliche Anklagen sind revidierbar.124 e)  Preliminary hearing Wenn der Staatsanwalt – wie in einigen Staaten, deren Zahl in den letzten Jahren stets gestiegen ist125 – die Anklage allein durch bloße Einreichung einer Anklageschrift (information)126 erheben kann und damit die grand jury als Kon­ trollorgan entfällt, wird ein preliminary hearing anberaumt. Dieser Begriff wird häufig ungenau auch für die beiden bereits genannten Verfahren verwendet, ist aber von diesen zu unterscheiden.127 Dieses Vorverfahren, das vor einem unteren Gericht (municipal justice court, U.S. Magistrate’s Court)128 stattfindet, wird zwar von der Verfassung nicht vor­ geschrieben, es wird aber in Bundesstrafverfahren und in ca. 20 Einzelstaaten129 durchgeführt, sofern es sich nicht um eine Rechtsordnung handelt, die eine Un­ tersuchung durch die grand jury vorschreibt, weil dann grundsätzlich ein prelimi­ nary hearing entbehrlich ist.130 In den Staaten, die dieses Verfahren praktizieren, hat der Beschuldigte grundsätzlich einen Anspruch auf ein preliminary hearing, wobei der Beschuldigte aber auch auf die Durchführung dieses Verfahrens ver­ zichten kann (to waive his right).131 Im Gegensatz zur grand jury review, in der die Rechte des Beschuldigten und seine Partizipationsmöglichkeiten stark eingeschränkt sind, findet diese Anhö­ rung vor einem Richter – in der Regel vor einem magistrate oder auch vor einem justice of the peace oder auch municipal court judge132 – statt, sie ist öffentlich und – wie für das US-amerikanische Strafverfahren typisch – ein kontradiktori­ sches Verfahren, bei dem auch der Beschuldigte zugegen ist und nach Coleman v. Alabama133 ein Recht auf einen Anwalt hat (right to counsel), weil es sich um eine besonders kritische Phase (critical stage) des Verfahrens handelt.

124 

Worrall, S. 315 ff. LaFave/Israel, Criminal Procedure (1984), S. 279. 126  Näher zu diesem Dokument Peoples, S. 148. 127  Singer, S. 10; Worrall, S. 288. 128  Im Falle eines Eröffnungsbeschlusses ist sodann eine höheres Gericht, U.S. District Court oder Superior Court, zuständig. 129  Singer, S. 78. 130  Nur sehr wenige Staaten verlangen nach einer grand jury auch noch ein prelimi­ nary hearing, vgl. dazu Singer, S. 79, Fn. 4. 131  Worrall, S. 288. 132  Singer, S. 78; Samaha, S. 505 f. 133  Coleman v. Alabama, 399 U.S. 1 (1970). 125 

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In einem preliminary hearing muss der Staatsanwalt erörtern, dass seine An­ klage begründet ist. Er muss in einem mehr oder weniger summarischen Verfah­ ren darlegen, ob ausreichend Anscheinsbeweise für die Schuld des Beschuldig­ ten existieren (prima facie case rule).134 Der Magistrat muss entscheiden, ob die Beweislage ausreicht, um die Anhörung in ein Gerichtsverfahren überzuleiten, wofür probable cause bestehen muss, wobei dieser Begriff nicht mit dem pro­ bable cause hearing zu verwechseln und grundsätzlich enger zu verstehen ist.135 Dennoch ist die Hürde nicht allzu hoch, da der Magistrat, der zwar juristisch geschult ist, aber nicht in allen Staaten zwangsläufig Volljurist sein muss, sich bei der Beurteilung der Rechts- und Beweislage in der Regel auf den Staatsanwalt verlassen wird.136 Dieser Schulterschlusseffekt, dass der Richter sich bei unklarer Beweislage an der Beurteilung des Staatsanwalts und nicht an der des Verteidi­ gers orientiert, ist auch im deutschen Recht zu beobachten.137 In der Praxis wird der amerikanische Staatsanwalt auch nur selten mehr Beweise anbieten – in der Regel ein oder zwei Zeugen sowie ein Minimum an sachlichen Beweismitteln138 – als erforderlich sind, um diese Hürde zu nehmen und so den bind-over standard zu erreichen, weil er seine Beweismittel vor dem eigentlichen Gerichtsverfahren in der Regel nicht offenbaren will. Auch der Verteidiger kann Beweismittel vorlegen, insbesondere Entlastungs­ beweise präsentieren, um die Anklage zu entkräften, aber er wird in der Praxis kaum jemals eine solche Anhörung „gewinnen“ können.139 Zum einen ist dies auf die recht niedrigen Anforderungen, die an den Beweis von probable cause gestellt werden, zurückzuführen, zum anderen hängt dies mit taktischen bzw. verfahrensrechtlichen Erwägungen zusammen: In der Regel ist auch der Verteidiger in diesem Stadium des Verfahrens nicht bereit, seine Ent­ lastungsbeweise überhaupt oder im Detail preiszugeben, so dass der Magistrat auch keine Entlastungszeugen auf Veranlassung des Verteidigers vorladen oder in sonstiger Weise ein Alibi überprüfen kann.140 Während der deutsche Verteidiger darum bemüht ist, die Vorwürfe der An­ klagebehörde möglichst frühzeitig, also schon im Ermittlungsverfahren, zu ent­ kräften, um eine Anklageerhebung oder zumindest die Eröffnung des Haupt­ verfahrens zu vermeiden, wollen im US-amerikanischen Verfahren sowohl die 134  Statt der prima facie case rule wenden manche Gerichte die directed verdict rule an, vgl. Samaha, S. 506. 135  Worrall, S. 289 f.; siehe auch Griffin, 26 U. Fla. L. Rev. 825, 828 (1974). 136  Griffin, 26 U. Fla. L. Rev. 825, 835 (1974). 137  Dazu grundlegend Barton, Strafverteidigung, § 12 Rn. 41. 138  Samaha, S. 505. 139  Singer, S. 78. 140  Samaha, S. 505; Singer, S. 78.

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Verteidigung als auch die Anklage ihr Pulver für den „Kampf“ in der Hauptver­ handlung trocken halten, um dort einen Überraschungscoup zu landen.141 Der Verteidiger erhält im preliminary hearing zwar einen Einblick in die Be­ lastungsbeweise der Anklage, er selbst wird aber aus taktischen Gründen kaum Entlastungsbeweise preisgeben, sondern er wird sich in der Regel darauf be­ schränken, die Belastungszeugen ins Kreuzverhör zu nehmen.142 Dieses Recht wird verfassungsrechtlich nicht garantiert, es wird aber in der Regel zumindest mit Einschränkungen gewährt.143 Der Verteidiger wird davon aber ohnehin nur sehr zurückhaltend Gebrauch machen, da er sich der psychologischen Wirkungen eines Kreuzverhörs bewusst sein wird: Es besteht die Gefahr, dass sich Erzählun­ gen im Gedächtnis umso fester verwurzeln, je öfter sie erzählt werden. Dies gilt gerade für das Kreuzverhör, so dass sich ein Augenzeuge, der sich ursprünglich nur vage erinnert hat, im Eifer des Gefechts und aufgrund des damit verbundenen Stresses die Geschichte als wirklich geschehen im Gedächtnis abspeichert und zu einem späteren Zeitpunkt unbewusst oder – auch um sein Gesicht zu wah­ ren – bewusst nicht mehr abweichen will.144 Außerdem will auch der Verteidi­ ger möglichst wenig von seinen Beweismitteln und seiner Verteidigungsstrategie preisgeben. Im preliminary hearing entscheidet zwar – im Gegensatz zur grand jury – ein unabhängiger und juristisch geschulter Magistrat über die Zulässigkeit von Be­ weismitteln, aber auch hier sind im Bundesstrafverfahren145 sowie in den meisten Bundesstaaten auch unrechtmäßig erlangte Beweismittel sowie Hörensagen zu­ lässig.146 Auch in Kalifornien ist hearsay im preliminary hearing seit 1990 auf­ grund eines Volksentscheides, Proposition 115147, der zur Änderung der gesetzli­ chen Regelungen, California Penal Code § 872 (b) und California Evidence Code Section § 1203.1, führte, zulässig, sofern die Aussage vom Hörensagen von einem Strafverfolgungsbeamten stammt.148 Da ein preliminary hearing in der Regel nur erforderlich ist, wenn der Staats­ anwalt die Anklage in Form einer information erhebt, kann er dies in einigen 141 

Siehe auch Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 751. Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 501. 143  Goldsby v. United States, 160 U.S. 70 (1895); näher dazu Singer, S. 70 und Worrall, S. 289. 144  Singer, S. 79. 145  Worrall, S. 289, dort insbesondere Fn. 5. 146  Samaha, S. 505 f. m. w. N.; siehe auch Singer, S. 78. 147  Crime Victims Justice Reform Act (1990), siehe dazu https://ballotpedia.org/California _Proposition_115,_the_%22Crime_Victims_Justice_Reform_Act%22_%281990%29, zu­ letzt abgerufen am 29. 07. 2018. 148  Zu den neuen Regelungen siehe Withman v. Superior Court, 54 Cal.3d 1063 (Cal. 1991) und Peterson v. California, 604 F.3d 1166, 1167 ff. (9th Cir. 2010). 142 

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Staaten alternativ nach eigenem Ermessen auch durch ein indictment tun, indem er den Fall einer grand jury vorlegt, bei der – wie schon erwähnt – die Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten des Beschuldigten wesentlich einschränkt sind.149 Hier sind insbesondere Fälle denkbar, in denen der Staatsanwalt das Opfer, wie zum Beispiel bei Sexualdelikten, vor öffentlichen Aussagen und Befragungen schützen will und daher das geheime grand jury Verfahren vorzieht. Der Staats­ anwalt hat es also selbst in der Hand, wie er die Anklage erhebt, und wählt das grand jury Verfahren, weil er vermeiden möchte, dass die Verteidigung über­ haupt nähere Kenntnis von seinen belastenden Beweismitteln erhält.150 Beide Verfahren haben Vor- und Nachteile, die zum Teil bereits angesprochen worden sind. Das grand jury Verfahren wird häufig als ineffizient, teuer und zeitraubend kritisiert, weil das Verfahren viel länger dauert als ein preliminary hearing. Dafür bietet es eine aktive Teilnahme der Bürger am Verfahren und stärkt dadurch das Vertrauen der Gesellschaft in das Strafrechtssystem.151 Der Beschuldigte hingegen wird in der Regel ein preliminary hearing bevorzugen, weil es sich um ein öffentliches und kontradiktorisches Verfahren handelt, das ihm aufgrund der Partizipationsrechte eine gewisse Möglichkeit bietet, auf den weiteren Verlauf Einfluss zu nehmen. Dieses Verfahren wird von Kritikern häu­ fig als sinnloser „mini-trial“ bezeichnet. Es steht dem Beschuldigten in der Regel auch frei, auf dieses Verfahren zu verzichten (waive), weil er beispielsweise keine Hinweise auf seine spätere Verteidigungsstrategie preisgeben will oder weil der Staatsanwalt in Aussicht stellt, einen Verzicht durch Zugeständnisse beim späte­ ren plea bargaining zu belohnen. Wird ein Überweisungsbeschluss der grand jury (indictment) oder eine An­ klage (information) beim Gericht eingereicht, so folgt ein gerichtliches Vorver­ fahren, das mit dem deutschen Vorverfahren in keiner Weise vergleichbar ist. In diesem Anklageeröffnungsverfahren (arraignment) werden dem Angeschuldig­ ten die Anklagepunkte mitgeteilt und er wird veranlasst, zu den gegen ihn vor­ gebrachten Anschuldigungen Stellung zu nehmen, wobei ihm grundsätzlich drei Varianten152 der Einlassung (plea) offenstehen: Er kann sich nicht schuldig beken­ nen (not guilty), was üblicherweise zur Überweisung an das Geschworenenge­ richt (trial court) führt. Bei einem Schuldbekenntnis (guilty), das auch die Aner­ kennung der rechtlichen Würdigung des Anklagevorwurfs umfasst, ergeht in der Regel ohne weitere Verhandlung ein Schuldspruch und das Verfahren mündet im 149 

State v. Edmonson, 743 P.2d 459, 113 Idaho 230 (1987). Singer, S. 79. 151  Siehe zu den Vor- und Nachteilen der beiden Verfahren Samaha, S. 504 ff. 152  Man kann auch von fünf Varianten ausgehen, sofern man weiter unterteilt in das Bekenntnis, nicht schuldig aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit (not guilty by reason of insanity), sowie eine bedingte Erklärung (conditional plea), vgl. dazu Peoples, S. 144; Schmid, S. 58; Samaha, S. 509. 150 

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sentencing-Stadium.153 Neben diesen beiden sehr bekannten Bekenntnissen gibt es darüber hinaus das sogenannte „nolo contendere“, bei dem der Beschuldigte entsprechend der Bedeutung „ich will nicht streiten“ seine Verantwortung für die Tat weder anerkennt noch bestreitet. Diese plea of no contest hat im Wesentlichen die rechtlichen Folgen eines Schuldbekenntnisses, d. h. der Angeklagte erkennt den Tatbestand der Anklage als richtig an und bekennt sich schuldig, er will aber verhindern, dass dies gegen ihn in einem anderen Verfahren verwertet werden kann oder dass hieraus Ansprüche gegen ihn in einem zivilrechtlichen Verfahren geltend gemacht werden.154 In der Praxis wird die Mehrheit der Fälle aber gar nicht in diesem gerichtli­ chen Vorverfahren geklärt, sondern durch ein Aushandeln zwischen Staatsan­ waltschaft und Verteidigung, dem plea bargain. f)  Plea bargain Der Parteien- und Verhandlungscharakter des amerikanischen Strafprozesses wird insbesondere auch am plea bargain deutlich.155 Es handelt sich dabei um Verhandlungen156 zwischen dem Ankläger und dem Beschuldigten, um eine – die anzuklagenden Delikte (charge bargaining), das Strafmaß bzw. die Schuldoder Rechtsfolgenfrage (sentence bargaining) oder neuerdings auch die Tatsachen bzw. Fakten (fact bargaining)157 betreffende – Einigung zu erzielen und somit einen umfangreichen und zeitraubenden (jury-)trial zu umgehen. In der Regel macht der Ankläger dem Beschuldigten im Stadium des Anklageprüfungsver­ fahrens Zugeständnisse, ein minderschweres Delikt anzuklagen oder die Ankla­ ge anderer Straftatbestände zu unterlassen (charge bargaining), um dadurch ein Schuldeingeständnis zu erwirken. Ziel ist es, ein für beide Seiten akzeptables Ergebnis bzw. eine Entscheidungsgrundlage zu erzielen, bevor der Fall zum Ge­ richt gelangt, was in der Praxis auch fast immer gelingt; jedenfalls liegt in der absoluten Mehrheit der Fälle von ca. 90 %158 eine guilty plea vor, also eine Erklä­ rung, wonach sich der Angeklagte schuldig bekennt und dadurch auf bestimmte Rechte verzichtet.159 Es ist fraglich, ob dies dem Sinn und Zweck des Strafprozes­ 153 

Schmid, S. 58. Schmid, S. 58; Worrall, S. 290. 155  Ausführlich zu den Vor- und Nachteilen dieses Verfahrens, Dressler/Thomas III, S. 991 ff. 156 Laut Samaha basieren 95 % der Verurteilungen auf guilty pleas; diese werden häufig nicht verhandelt, sondern der Großteil sind straight pleas, S. 524 f. 157  Zu diesem jüngsten Phänomen siehe Singer, S. 147; siehe auch Samaha, S. 545. 158  Vgl. dazu Dressler/Thomas III, S. 991; Schmid, S. 59 m. w. N. sowie Singer, S. 144 und Worrall, S. 348. 159  Schmid, S. 59; Singer, S. 150 ff.; siehe auch Hay, US-amerikanisches Recht, Rn. 722. 154 

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ses gerecht wird. Fischer bezeichnet den Strafprozess als „Kampf: Widerstreit, Konflikt, auch Überwältigung. Wo er Konsens zu sein scheint, ist er Einsicht in die Stärke des Gegners.“160 Es liegt auf der Hand, dass solche Verhandlungen aufgrund der Stärke des Anklägers die Gefahr von Missbräuchen in sich bergen. Hier sei beispielsweise die schwache Verhandlungsposition von Personen, die sich zum Zeitpunkt der Verhandlungen in U-Haft befinden, oder auch das Risiko des overcharching er­ wähnt. Beim overcharching stellt der Ankläger zunächst in Aussicht, ein schwer­ wiegenderes Delikt – z. B. first degree murder statt second degree murder – an­ zuklagen, wohl wissend, dass dies eigentlich gar nicht einschlägig ist, oder er beantragt eine zu hohe Strafe, um mehr Spielraum bei den Verhandlungen zu haben.161 Hier besteht insbesondere die Gefahr, dass ein Geständnis zu faktisch unangemessenen Vorwürfen gemacht wird,162 aber auch, dass der vollkommen Unschuldige eine guilty plea eingeht. Aktuelle Studien belegen, dass die Zahl von Beschuldigten, die sich schuldig bekennen, obwohl sie die Tat nicht begangen haben, in den letzten Jahren zugenommen hat bzw. diese falschen Geständnisse häufiger aufgedeckt werden: 17 % der in einem Wiederaufnahmeverfahren im Jahre 2013 Entlasteten waren verurteilt worden, nachdem sie zuvor eine guilty plea eingegangen waren.163 Weiterhin kommen eine Bewährungsstrafe (probation) oder eine vorzeitige Entlassung (parole) als Zugeständnisse in Betracht. Bei diesem sentence bargai­ ning wie auch bei dem In-Aussicht-Stellen eines milderen Urteils und bei der Strafzumessung überschreitet der Ankläger zwar seine Kompetenzen, weil dies eigentlich dem Richter obliegt, der Staatsanwalt kann aber ein bestimmtes Straf­ maß, das die Verteidigung fordert, entweder unterstützen oder zumindest nicht ein höheres Strafmaß fordern. Der Ankläger gibt dem Richter in diesen Berei­ chen zwar nur Empfehlungen (recommendations) und der Richter, der der guilty plea zustimmen (approval) muss, hat theoretisch die Möglichkeit, die Empfeh­ lung eines spezifischen Strafmaßes durch den Staatsanwalt zu ignorieren, was 160 

Fischer, in: FS Kühne, S. 203, 208. Dressler/Thomas III, S. 995 f.; Schmid, S. 60 sowie grundlegend Lafave/Israel, Criminal Procedure (1984), S. 159 und 621 ff. 162  von Mehren/Murray, Law in the United States, S. 195. 163  15 von 87 Entlasteten, also 17 %, waren eine guilty plea eingegangen, Exonerations in 2013, S. 3, The National Registry of Exonerations vom 04. 02. 2014, https://www.law.um ich.edu/special/exoneration/Documents/Exonerations_in_2013_Report.pdf. Allerdings gehen Langzeitstudien von geringeren Werten aus: 6 % (20/340) in der Langzeitstudie von 2003 sowie 8 % (71/873) in der Langzeitstudie von 2012, Exonerations in the ­United States, 1989 – 2012; Report by the National Registry of Exonerations, June 2012, S. 61, http://www.law.umich.edu/special/exoneration/Documents/exonerations_us_1989_2012_ full_report.pdf (beide zuletzt abgerufen am 29. 01. 2018); siehe auch Dressler/Thomas III, S. 996 f. 161 

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in der Praxis aber eher die absolute Ausnahme ist (sentencing differential).164 Die Teilnahme des Richters selbst an den Verhandlungen ist im Bundesstrafverfahren und in vielen Einzelstaaten verboten und wird insgesamt kritisch gesehen.165 Um ein Urteil, das der Absprache der Parteien entspricht, zu erzielen, kann das plea bargain aber auch eine Absprache darüber enthalten, welchem – dem Interesse der Parteien entsprechenden – Richter die Anklage vorgelegt werden soll, was als judge shopping bezeichnet wird.166 Zu Recht wird in diesem Zusammenhang von einem „Geständnishandel“167 gesprochen und kritisiert, dass die Gefahr bestehe, dass „das Strafverfahren in eine unwürdige Feilscherei abgleitet“168. Beim plea bargain und den damit verbundenen Gefahren sind eindeutig Parallelen zur Ab­ sprache im deutschen Strafverfahren erkennbar. Bei der Absprache verständigen sich die Strafverfolgungsorgane ohne um­ fangreiche Beweisaufnahme und Beweiswürdigung mit dem Beschuldigten und dessen Verteidiger über die Verfahrensbeendigung. Dieses Institut wurde durch Richterrecht geschaffen und erst im August 2009 vom Gesetzgeber in § 257c StPO normiert169, der an die Verständigung bestimmte formale Anforderungen stellt. Die Absprache im Strafprozess wurde und wird häufig als Deal oder kritisch als „Handel mit der Gerechtigkeit“170 oder abwertend auch als „Mauscheln“171 be­ zeichnet. Durch den weitgehenden Verzicht auf eine Beweisaufnahme bleibt, wie Schlothauer treffend formuliert, „nicht nur die ‚Erforschung der Wahrheit‘ auf der Strecke“, sondern die „von den Angeklagten abverlangten (Formal-)Geständ­ nisse lassen vielfach nicht erkennen, ob sie Falschgeständnisse darstellen“172. Zwar muss ein abgelegtes Geständnis auf seine Richtigkeit überprüft werden und

164  Singer, S. 147 sowie zur Rolle des Richters beim plea bargain im Bundesstrafver­ fahren S. 114; siehe auch Dressler/Thomas III, S. 995. 165  Siehe zu Details Singer, S. 148 ff. Es wird davon ausgegangen, dass ein Angebot des Richters den Angeschuldigten unter Druck setzt, dieses Angebot auch wirklich anzu­ nehmen, weil es ohnehin der Richter ist, der das Strafmaß festsetzt. 166  Schmid, S. 59. 167  von Mehren/Murray, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 259. 168  Schmid, S. 59. 169 Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.  07. 2009, BGBl. I, S. 2353. 170  So BGH, Beschluss vom 03. 03. 2005 – GSSt 1/04 –, juris Rn. 37 (= BGHSt 50, 40 ff.). 171  Dazu grundlegend „Detlef Deal“ aus „Mauschelhausen“, in: StraFo 2011, 487 ff.; Fischer stellt in Anlehnung an ein Zitat Feuerbachs fest: „Die Zeiten ändern sich; das Hudeln und Sudeln hält an.“, in: FS Kühne, S. 203, 206. 172  Schlothauer, StraFo 2011, 487, 487.

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ein „bloßes inhaltsleeres Formalgeständnis“ reicht nicht aus173, doch ist fraglich, inwieweit dieser Aufklärungspflicht in der Praxis wirklich nachgegangen wird. Auch im deutschen Strafverfahren stellt sich das Problem der sog. „Sanktions­ schere“, dass bei einem „streitigen Verfahren“ im Gegensatz zum absprachege­ mäßen Verfahren die zu erwartende Strafe bzw. Sanktion in der Regel höher sein bzw. schwerer wiegen wird.174 Die Anwendung sowohl des plea bargain175 als auch der Absprache sind aus dem Alltag der Strafjustiz nicht mehr wegzudenken und inzwischen gängige Pra­ xis. In beiden Jurisdiktionen werden sie mit den knappen Ressourcen der Justiz176, dem Beschleunigungsgrundsatz177 und dem Grundsatz der Prozessökonomie, insbesondere bei komplexen (Wirtschaftsstraf-)Verfahren178 gerechtfertigt.179 Nur durch die Anwendung dieser Rechtsinstitute könne die Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz überhaupt gewährleistet werden.180 Immerhin ist an einer Absprache noch das Gericht – nach dem gesetzlichen Leitbild – als weitere objektive Kontrollinstanz181 beteiligt und es ist unzu­ lässig, dass das Gericht mit den Verfahrensbeteiligten vor Urteilsverkündung 173 

BGH, Beschluss vom 03. 03. 2005 – GSSt 1/04 –, juris Rn. 42. BGH, Beschluss vom 03. 03. 2005 – GSSt 1/04 –, juris Rn. 44. 175  Vgl. zu den Vor- und Nachteilen Singer, S. 143 ff., insbesondere S. 156: Dort wird – im Hinblick auf rechtsstaatliche Prinzipien und den in-dubio-pro-reo-Grundsatz bedenk­ licherweise – davon gesprochen, dass durch die Verhandlungen vermieden wird, dass ein schuldiger Angeklagter aufgrund schwacher Beweise freigesprochen wird. 176  Singer, S. 130: „to save state resources“. 177  Kritisch dazu Fischer, in: FS Kühne, S. 203, 210: „Mit dem Begriff der ‚Beschleu­ nigung‘ des Prozesses ist viel Unsinn getrieben worden. (…) Es gibt aber kaum sachliche Gründe, der deutschen Justiz mehr ‚Beschleunigung‘ um jeden Preis abzuverlangen, weil sie ein Jahr braucht für die Siemens-Korruption (…). Daran ist nichts Bedenkliches und nichts muss ‚beschleunigt‘ werden“. 178  Kritisch dazu Fischer, in: FS Kühne, S. 203, 209: „Der Deal im Strafprozess sei, so wird oft behauptet, eine Folge der Kompliziertheit des Rechts und der Verhältnisse, die es regelt. Das ist vermutlich unzutreffend. Das (Straf-)Recht des Derivate-Handels im Jahr 2013 ist nicht schwieriger oder überraschender als das Recht des Lokomotivenhandels im Jahr 1913“. 179  Vgl. dazu BGHSt 50, 40 Rn. 52 ff.; von Mehren/Murray sprechen zwar von einer „Aushöhlung der Legitimität des Strafrechts“, der „Geständnishandel“ ergebe sich jedoch „als praktische Notwendigkeit in einem Strafjustizsystem, das mit Geschäftsfällen über­ schwemmt wird und nur minimal dafür ausgestattet ist“, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 259 f.; die US-amerikanische Strafjustiz würde „vollkommen gelähmt“ werden, Schmid, S. 59. 180  BGHSt 50, 40 54. 181 Auf den in der Praxis vorherrschenden Schulterschluss zwischen Richter und Staatsanwalt soll hier nicht weiter eingegangen werden, siehe dazu Barton, Strafverteidi­ gung, § 12 Rn. 41 sowie Schünemann, StV 2000, 159, 163. 174 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

einen Rechtsmittelverzicht vereinbart, weil die Absprache nicht unter dem „Deckmantel der Unkontrollierbarkeit“ stattfinden soll.182 Im amerikanischen Strafverfahren nimmt der Richter jedoch – wie schon erwähnt – eine eher pas­ sive Rolle ein: Zwar ist das Gericht in seiner Urteilsrolle beim plea bargain nicht an die Vereinbarungen der Parteien gebunden, es befindet sich aber auch nicht in der Position, die Vereinbarungen zu verwerfen.183 Der Richter muss sich vielmehr nur davon überzeugen, dass der Angeschuldigte sich der Konse­ quenzen einer guilty plea bewusst ist und dass er diese vor allem auch freiwillig eingegangen ist, wobei dieser Begriff sehr weit ausgelegt wird.184 Freiwillig ist im Grunde genommen jede guilty plea, die nicht durch Zwangsmittel erzwun­ gen wurde.185 Besonders bedenklich erscheint, dass in einigen Einzelstaaten sogar ein „Alford plea“ anerkannt wird: Nach North Carolina v. Alford186 ist es zulässig, dass ein Angeschuldigter eine guilty plea abgibt, obwohl er die Straf­ tat nicht zugibt und beteuert unschuldig zu sein.187 Das Verhandlungsergebnis der Parteien wird nur wirksam, wenn es vom Richter akzeptiert wird. Zwar stehen dem Richter theoretisch eng begrenzte Mittel zur Verfügung, eine von den Parteien ausgehandelte plea zurückzuweisen und die Parteien zu erneuten Verhandlungen aufzufordern oder dem Angeschuldigten die Möglichkeit zu ge­ ben, seine guilty plea zurückzuziehen, doch machen die Richter in der Praxis hiervon nur äußerst selten Gebrauch.188 In den meisten Einzelstaaten hat der Angeschuldigte überhaupt nur in engen Grenzen die Möglichkeit, seine plea zu­ rückzuziehen (withdrawal of plea); eine guilty plea schließt Rechtsmittel gegen das Urteil in der Regel aus.189

182 

BGHSt 50, 40 56. von Mehren/Murray, Das Recht in den Vereinigten Staaten von Amerika, S. 259; siehe auch zur passiven Rolle des Richters bei der Überprüfung von Entscheidungen einer grand jury, Singer, S. 66 f. 184  Zu den Voraussetzungen eines zulässigen guilty plea siehe Singer, S. 130 ff. 185  Singer, S. 131 f. 186  North Carolina v. Alford, 400 U.S. 25 (1970). 187  Singer, S. 132. 188  Singer, S. 152 ff.; Worrall, S. 360 f.; als Beispiel für eine Ablehnung durch das Gericht United States v. Bean, 564 F.2d 700 (5th Cir. 1977). 189  Singer, S. 138 f.; siehe auch Schmid, S. 60 f. mit Ausführungen zum Bundesstraf­ verfahren, für das das plea bargain in Fed. R. Crim. Proc. 11(d) ff. eine gesetzliche Kodi­ fizierung erfahren hat. 183 

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

173

g)  Die Hauptverhandlung Nach den Anhörungen und Vorverfahren mündet das Verfahren in die Haupt­ verhandlung (trial), sofern die Verteidigung und der Staatsanwalt sich nicht auf eine außergerichtliche Beilegung durch eine plea einigen konnten.190 Neben dem besonderen Recht des common law auf eine unabhängige jury (right to trial by jury) stehen dem Angeklagten weitere Rechte zu, wie das Recht auf ein schnelles Verfahren (right to a speedy trial)191 und das Recht auf ein öffentliches Verfahren (right to a public trial), die sich aus dem Sixth Amendment ergeben. Ferner hat der Angeklagte das Recht auf einen unabhängigen Richter (right to an impartial judge)192, das zwar im sechsten Verfassungszusatz nicht ausdrücklich genannt ist, weil dessen Wortlaut nur von jury spricht, der U.S. Supreme Court hat aber entschieden, dass der unabhängige Richter über die Due Process Clause des vierzehnten Verfassungszusatzes hier hineinzulesen ist, weil dem Richter auch in einem Geschworenenprozess die rechtliche Prüfung zukommt, wohingegen die Geschworenen nur über die Tatsachen entscheiden (fact finder). Insbesondere bei einem Verzicht des Angeklagten auf das Recht auf einen Geschworenenprozess (waiver), der in der Regel zu einer Verhandlung vor dem Einzelrichter führt (sog. bench trial, trial without jury oder auch court trial193), in der eine eher allgemeine Beweisaufnahme über die der Tat zugrunde liegenden Tatsachen durchgeführt wird (Fed. R. Crim. Proc. Rule 23(c)),194 kommt dem Richter eine besondere Stel­ lung zu. In fast der Hälfte aller Fälle verzichtet der Angeklagte auf einen jury trial und entscheidet sich für den Einzelrichter,195 allerdings kann der Richter gegen den Verzicht des Angeklagten auf einen Geschworenenprozess ein Veto einlegen, wenn er meint, dass gerade durch den Geschworenenprozess ein faires Ergebnis zu erzielen sei.196 Hier ist kurz auf das für den deutschen Leser häufig nur aus Film und Fernsehen bekannte Recht auf eine unabhängige jury einzugehen und sodann sind die Rechte, die insbesondere auch mit dem Beweismittel des Zeugen eng verbunden sind – das Konfrontationsrecht (right to confrontation) und das Recht auf compulsory evidence – anzusprechen.

190 

Siehe dazu auch die Übersicht bei Samaha, S. 524. Dazu grundlegend Barker v. Wingo, 407 U.S. 514 (1972) sowie Worrall, S. 376 ff. 192  Dazu grundlegend Tumey v. Ohio, 273 U.S. 510 (1927); Ward v. Monroeville, 409 U.S. 57 (1972) sowie Worrall, S. 381 ff. 193 So Peoples, S. 163 f. 194  Schmid, S. 65. 195  Singer, S. 168; siehe auch LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1396. 196  Worrall, S. 388. 191 

174

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

aa)  Trial judge Dem Prinzip des Parteiprozesses entsprechend obliegt es der Anklage und der Verteidigung, Beweise zu sammeln und diese in der Hauptverhandlung zu prä­ sentieren. Dieser feindliche Kampf um die Fakten lässt für eine sinnvolle oder gerechte Beteiligung des Richters kaum Raum, zumal seine Unterbrechungen oder Nachfragen die Geschworenen, die möglicherweise versucht sind, irgend­ welche Schlüsse aus den Anmerkungen des Richters zu ziehen, verwirren kön­ nen.197 Durch seine Kommentare könnte der Vorsitzende ferner die Verfahrens­ strategien der Parteien stören, was unter Umständen zur Aufhebung des Urteils führen kann, wenn die Verteidigung darlegen kann, dass die Eigenmächtigkeit des Richters ihre Verteidigungsstrategie durchkreuzt hat.198 Aus diesen Gründen unterbricht der Richter die Befragungen grundsätzlich nicht, es sei denn, dass die Gegenseite die Unzulässigkeit einer bestimmten Frage rügt. Es entspricht daher dem Selbstverständnis des Richters, sich auf die Rolle eines passiven Modera­ tors zu beschränken.199 Frankel geht so weit, dass der Richter den Prozess vom „Olymp der Ignoranz“ („a peak of Olympian ignorance“) beobachten müsse und das Verfahren nicht „als blinder und Fehler machender Eindringling“ („blind and blundering intruder“) stören dürfe.200 bb)  Das Recht auf einen Geschworenenprozess Bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten (petty crime exception/six month imprisonment rule)201 hat der Angeklagte grundsätz­ lich einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf einen Geschworenenprozess, der sich aus Art. 3 Abs. 2 der Verfassung der USA – „The trial of all crimes (…) shall be by jury“ – sowie aus dem sechsten Verfassungszusatz ergibt. Die Einzelstaa­ ten haben dieses Recht wiederum in eigenen Gesetzen kodifiziert, wie z. B. in § 689 California Penal Code202. 197  Grundlegend zur passiven Rolle des trial judge, Frankel, 123 U. Pa. L. Rev. 1031, 1041 ff. (1975); siehe auch Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 736. 198  United States v. Bland, 697 F.2d 262, 266 (8th Cir. 1983): „A trial judge should sel­ dom intervene in the questioning of a witness and then only to clarify isolated testimony. A trial court should never assume the burden of direct or cross-examination“. 199  Idealistischer hingegen Quercia v. United States, 289 U.S. 466, 469 (1933): „In a trial by jury in a federal court, the judge is not a mere moderator, but is the governor of the trial for the purpose of assuring its proper conduct and of determining questions of law“; siehe zur Kritik Frankel, 123 U. Pa. L. Rev. 1031, 1041 ff. (1975). 200  Frankel, 123 U. Pa. L. Rev. 1031, 1042 (1975). 201  Baldwin v. New York, 399 U.S. 66 (1970); Lewis v. United States, 518 U.S. 322 (1996). 202  „No person can be convicted of a public offense unless by verdict of a jury, accept­ed and recorded by the court, by a finding of the court in a case where a jury has been waived, or by a plea of guilty“.

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

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Die jury begrenzt und kontrolliert die staatliche Macht, indem sie als unab­ hängiges und von der Gemeinschaft dominiertes Gremium (jury of his peers – Justiz durch Seinesgleichen) zwischen dem Staat mit all seinen Ressourcen und dem einzelnen Individuum steht.203 Nach Duncan v. Louisiana204 bietet die jury dem Angeklagten „einen unschätzbaren Schutz gegen den korrupten oder über­ eifrigen Staatsanwalt und gegen den folgsamen, parteiischen oder exzentrischen Richter.“205 Schon die Magna Carta aus dem Jahre 1215 enthält Ansätze dieses Gremiums, das insbesondere in der englischen Bill of Rights verankert wurde und seitdem auch weit verbreitete Praxis in den amerikanischen Kolonien war.206 Auf dieses Recht kann der Angeklagte – wie dargelegt (bench trial) – zwar auch verzichten, in Bundesstrafverfahren und den meisten Einzelstaaten ist ein solcher Verzicht aber nur mit Zustimmung der Anklage und des Gerichts mög­ lich.207 In den meisten Staaten hat auch die Staatsanwaltschaft ein Recht, unab­ hängig von der Zustimmung des Angeklagten auf einen jury trial zu bestehen.208 Aufgabe der jury ist es, über die zugrunde zu legenden Tatsachen zu entschei­ den und sodann auf diesen Sachverhalt die vom Richter festgelegten Normen anzuwenden; nur in einer absoluten Minderheit der Staaten entscheidet die jury sowohl über die Tatsachen als auch über das Recht.209 Die jury soll aus „einem repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft“210 be­ stehen. Während fast 200 Jahre lang davon ausgegangen wurde, dass diese Vor­ aussetzung nur bei zwölf Geschworenen erfüllt sei, hat der U.S. Supreme Court in Williams v. Florida, festgestellt, dass diese Zahl ein „historischer Zufall“211 sei und diese Bedingung jedenfalls bei Vergehen auch durch eine sechsköpfige jury erfüllt sein könne212. Während sich bei Vergehen die Größen der juries erheblich unterscheiden, wobei je nach Einzelstaat sechs bis zwölf Mitglieder erforderlich sind, werden für Verbrechen in der absoluten Mehrheit der Staaten und in Bun­ 203  Samaha, S. 525; Singer v. United States, 380 U.S. 24, 31 (1965): „The clause [Trial of all Crimes shall be by jury] was clearly intended to protect the accused from oppression by the Government“. 204  Duncan v. Louisiana, 391 U.S. 145 (1968). 205  Duncan v. Louisiana, 391 U.S. 145, 156 (1968): „inestimable safeguard against the corrupt or overzealous prosecutor and against the compliant, biased, or eccentric judge“. 206  Samaha, S. 525. 207  Siehe dazu Fed. R. Crim. Proc. 23(a); vgl. auch LaFave/Israel/Kung/Kerr, Criminal Procedure, S. 1287 f.. 208  LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1288. 209  In Indiana und Maryland entscheidet die jury über Tatsachen und Recht (Art. 1, § 19 Indiana Constitution, Art. 23 Maryland Declaration of Rights). 210  Williams v. Florida, 399 U.S. 78, 100 (1970). 211  Williams v. Florida, 399 U.S. 78, 102 (1970). 212  Kritisch dazu Smith/Saks, 60 Fla. L. Rev. 441 (2008); wohl auch Samaha, S. 526 f.

176

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

desstrafverfahren zwölf Geschworene verlangt.213 Nur sechs Einzelstaaten haben bei Verbrechen eine jury, deren Mitgliederzahl zwölf unterschreitet, wobei sechs Juroren die absolute Untergrenze darstellen.214 Die Juroren müssen, um „einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft“ darzustellen und ein objektives Urteil zu fällen, nach möglichst fairen und ob­ jektiven Gesichtspunkten ermittelt werden. Da die Verhandlung vor dem Gericht stattfindet, in dessen Bezirk die Tat begangen wurde, und daher auch die Juroren aus dieser Gegend stammen (district)215 – die ursprünglich als „Gleichgestellte und Nachbarn“ den Angeklagten vor staatlicher Verfolgung und Unterdrückung schützen sollten216 –, kann es bei emotional aufgeheizten Fällen ratsam sein, auf den Geschworenenprozess zu verzichten und sich für den bench trial zu entschei­ den.217 Während früher Amtspersonen oder Bürger aufgrund ihrer guten sozialen Kontakte vom Richter beauftragt wurden, unabhängige Geschworene zu finden, gilt dieses „Verfahren der Schlüsselperson“ (key man) heutzutage weitgehend als überholt, wenngleich es auch heute noch in einigen Staaten, insbesondere in Neuengland und in den Südstaaten,218 angewendet wird.219 Weiter verbreitet ist jedoch inzwischen das objektivere und daher auch fairere Zufallsprinzip („ran­ dom selection“), bei dem die potentiellen Jurymitglieder zunächst auf einer Liste erfasst (jury list, jury pool, master jury wheel)220 werden. Die Liste kann auf vielfältige Weise erstellt werden, was sich zwischen den Einzelstaaten erheblich unterscheidet. Eine weitverbreitete Methode, wie sie auch in Bundesstrafverfah­ ren angewendet wird, ist die Auswahl aus dem Wahlregister.221 In Kalifornien und anderen Einzelstaaten werden die Juroren aus dem Führerscheinregister ge­ wählt und wiederum andere Staaten blättern einfach durch das Telefonbuch, die 213  Vgl. zu Details Worrall, S. 385 ff. mit einer Übersicht zu den juries in den Einzel­ staaten bei Vergehen. Zur Geschichte der jury grundlegend Smith/Saks, 60 Fla. L. Rev. 441, 444 ff. (2008). 214  Nach Ballew v. Georgia, 435 U.S. 223 (1978) ist eine fünfköpfige jury verfassungs­ widrig. Zu den Größen der juries in den Einzelstaaten bei Verbrechen, Smith/Saks, 60 Fla. L. Rev. 441, 443 (2008). Conneticut und Florida lassen auch bei der Anklage von schweren Verbrechen (serious felonies) – nicht aber bei Kapitaldelikten – eine sechsköpfige jury zu. 215  Dazu näher Singer, S. 172. 216  Smith/Saks, 60 Fla. L. Rev. 441, 444 ff. (2008); zur Geschichte und dem Ursprung der jury auch Singer, S. 168 ff. 217  Peoples, S. 163. 218  Samaha, S. 527; siehe auch LaFave/Israel, Criminal Procedure (1984), S. 708. 219  Singer, S. 171; Worrall, S. 388 f. 220  Zu den Termini Worrall, S. 388. 221 Siehe Jury Selection and Service Act of 1968 sowie eingehend LaFave/Israel, Crim­inal Procedure (1984), S. 708 ff.

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

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Steuerverzeichnisse oder Volkszählungsberichte.222 Um überhaupt auf die Liste der potentiellen Geschworenen zu kommen, müssen die Bürger bestimmte Eigen­ schaften aufweisen, wobei die Voraussetzungen zwischen den Einzelstaaten vari­ ieren. Die Bürger müssen aber in der Regel älter als 18 Jahre alt sein, dürfen keine Vorstrafen haben und müssen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzen. Nachdem die allgemeine Liste der potentiellen Geschworenen zusammenge­ stellt ist, werden die Personen, die infrage kommen, den Dienst anzutreten, kon­ taktiert und vorgeladen (summon).223 Diese Auswahl nennt man panel oder veni­ re224, wobei die Personen ausscheiden, die die eben genannten Voraussetzungen nicht erfüllen, oder auch Personen, die kein Englisch sprechen, bestimmten Be­ rufen nachgehen 225 oder für die der Dienst eine besondere Härte darstellen würde. An die Auswahl des jury panel sind besondere verfassungsrechtliche Anforde­ rungen zu stellen, zumal die jury einen gleichen Schutz (equal protection)226 bzw. einen fairen Querschnitt der Gesellschaft (fair cross-section)227 gewähren soll. Wenngleich die genaue Reichweite dieses Grundsatzes nur schwer zu bestimmen ist, lässt dich dennoch sagen, dass absichtliche und erhebliche bzw. systematische Diskriminierungen und Ausschlüsse (systematic exclusion) bestimmter Individu­ en und Gruppen (distinctive group) unzulässig sind. In Bundesstrafverfahren hat der Angeklagte zwar einen Anspruch, die Liste einzusehen, um sie zu überprü­

222 

Worrall, S. 388; Samaha, S. 527. Peoples, S. 159; Singer, S. 173. 224  Dieser Ausdruck geht auf das alte englische Recht zurück, in dem dem sheriff mit einer writ befohlen wurde, für den Prozess zwölf Männer venire facias, d. h. kommen zu lassen, so Schmid, S. 66; vgl. zu den Termini auch Worrall, S. 388; Singer bezeichnet das venire auch als wheel, S. 173. 225  Z. B. Polizisten, Soldaten oder sonstige Staatsbedienstete, vgl. Singer, S. 173. 226  In Stauder v. Virginia, 100 U.S. 303 (1879) erklärte der U.S. Supreme Court ein Gesetz für verfassungswirdig, das Afroamerikaner von der Tätigkeit als Geschworene ausschloss. Nach Whitus v. Georgia, 385 U.S. 545 (1967) darf es keine signifikante Dis­ krepanz zwischen dem Anteil der Afroamerikaner an der Bevölkerung und dem Anteil an der jury geben. Auch der systematische Ausschluss von Personen mit spanischen Vor­ namen ist unzulässig, Castaneda v. Partida, 430 U.S. 482 (1972); vgl zur equal protection Worrall, S. 389. 227  Dies forderte der U.S. Supreme Court schon 1942 in Glasser v. United States, 315 U.S. 60 (1942), wobei diese Entscheidung nur für Bundesstrafverfahren galt, seit 1975 aber auch in den Einzelstaaten Anwendung findet, Taylor v. Louisiana, 419 U.S. 522 (1975). Letztere verbietet den systematischen Ausschluss irgendeiner bestimmten Gruppe (distinc­tive group), wobei dieser Begriff recht weit zu verstehen ist und über den der eth­ nischen Minderheit hinausgeht. Er umfasst Afroamerikaner, Lateinamerikaner, Juden und auch Frauen. Siehe auch Duren v. Missouri, 439 U.S. 357 (1979) sowie zu dieser Problema­ tik Worrall, S. 389 f. und Singer, S. 174 ff. m. w. N. zur Rspr. 223 

178

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

fen, die Liste enthält aber in der Regel kaum mehr Informationen als die Namen, so dass er Geschlecht und ethnische Herkunft allenfalls ableiten kann.228 Nach der Auswahl des jury panel beginnt das Voir dire. Dies wird einerseits entsprechend dem häufigen französischen Sprachgebrauch als „sie sagen sehen“ bzw. „sehen was gesagt wird“229 bezeichnet, andererseits wird der Terminus in Anlehnung an die altenglische Rechtssprache für „vrai dire“, also die Wahrheit sagen,230 verwendet. Dies ist ursprünglich auf einen Eid der Geschworenen (La­ teinisch verum dicere), die Wahrheit zu sagen, zurückzuführen. In diesem Prozess werden die aufgebotenen Geschworenen auf mögliche Vorurteile überprüft; nach dem sechsten Verfassungszusatz sollen nur unpartei­ ische Geschworene (impartial) vom jury panel in die eigentliche jury gewählt werden. Dieses Verfahren ist in der Praxis häufig sehr kompliziert und zeitrau­ bend. In manchen Einzelstaaten entscheidet zwar der Richter, wer in der jury sitzt, und die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung können nur Fragen an die Geschworenen vorschlagen; in den meisten Einzelstaaten sind es aber die Partei­ en selbst, die die Fragen stellen.231 Dennoch kann der Richter zu Beginn Fragen an die Geschworenen stellen, muss dies aber – abgesehen von Fällen mit ras­ sistischem Hintergrund oder bei Fällen mit Todesstrafe – nicht.232 Die Parteien versuchen sodann, durch akribische Fragen nicht nur herauszufinden, ob es sich um einen unvoreingenommenen potentiellen Geschworenen handelt, sondern vor allem eine Prognose darüber abzugeben, wie der potentielle Geschworene sich im Prozess entscheiden wird und ob es sich daher um einen Geschworenen handelt, der ihren Vorstellungen entspricht. Die Parteien beleuchten den Hintergrund der Personen, die oft wissenschaftlich angefertigte Fragebögen ausfüllen müssen, be­ fragen deren Bekannte und beauftragen unter Umständen sogar Wissenschaftler, die eine Prognose über die wahrscheinliche Entscheidung abgeben.233 Sind die Parteien der Meinung, dass es dem potentiell Geschworenen an der erforderli­ chen Unabhängigkeit fehlt, können sie ihn ablehnen (striking)234. Die Ablehnung kann mit Begründung erfolgen (challenges for cause), was unbegrenzt geschehen kann, sofern der Richter die Begründung als fundiert betrachtet.235 Als Grund kommen beispielsweise ein Verwandtschaftsverhältnis zum Angeklagten oder in 228 

Worrall, S. 388 f. Peoples, S. 161; Worrall, S. 391. 230 So Schmid, S. 66; Samaha, S. 528. 231  So jedenfalls Worrall, S. 391; hingegen sind es laut Singer primär die Richter, die die Fragen stellen, S. 178 f. 232 Dazu Worrall, S. 394 m. w. N.; siehe auch Peoples, S. 160 f. 233  Worrall, S. 391; siehe zur scientific jury selection Peoples, S. 162 f. 234  Samaha, S. 528 f. 235 Siehe Peoples, S. 161. 229 So

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

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Fällen mit Todesstrafe236 grundlegende Zweifel des Befragten an dieser Strafe in Betracht.237 Unter Umständen kann es ausreichend sein, eine Voreingenommen­ heit zu begründen, wenn der Befragte schon aus der Presse von dem Verfahren erfahren hat.238 Bei Fällen mit umfangreicher Medienberichterstattung kommt aber, wenn die Atmosphäre am eigentlichen Gerichtsort – grundsätzlich findet die Verhandlung vor dem Gericht statt, in dessen Bezirk die Straftat begangen wurde239 – schon vor dem Prozessbeginn sehr aufgeladen ist und daher davon auszugehen ist, dass die Juroren voreingenommen sein werden und in diesem Gerichtsbezirk keine neutralen Juroren zu finden sein werden, eher ein Antrag (motion) des Beschuldigten in Betracht, die Gerichtsverhandlung in einen ande­ ren Bezirk (district) zu verlegen (change of venue).240 Den Parteien steht es in einer begrenzten Zahl, die je nach Delikt und Einzel­ staat variiert,241 auch frei, eine Person ohne nähere Begründung abzulehnen (per­ emptory challenge).242 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass sowohl die allgemeine Liste der Geschworenen (jury list) als auch das oben angesproche­ ne Verzeichnis der infrage kommenden Geschworenen (jury panel) repräsentativ sein müssen, die endgültige Zusammensetzung der jury mit zwölf Geschworenen dies schließlich aufgrund der – gerade auch grundlosen – Ablehnungsmöglich­ keiten sowohl der Verteidigung als auch der Staatsanwaltschaft aber nicht unbe­ dingt sein muss.243 Sobald die erforderliche Anzahl an Geschworenen ausgewählt wurde und die jury somit komplett ist – ggf. werden noch Ersatzgeschworene (alternate jurors)244 bestimmt –, werden die Geschworenen vom Richter vereidigt (oath). Während der Richter im Prozess über rechtliche Fragen – wie beispielsweise die Zulassung von Beweismitteln – entscheidet, sollen die Geschworenen mit ihrem „gesunden Menschenverstand“ (common sense) aufgrund ihrer Lebenserfahrung245 über das tatsächliche Geschehen entscheiden und schwören, dies ausschließlich anhand der Beweise, die im Gerichtssaal präsentiert werden, zu tun. Während es ihnen 236 Siehe

S. 8.

dazu auch den Bericht zu „Boston-Bombern“ in der SZ vom 05. 03. 2015,

237  Ausführlich zu challenges for cause: Singer, S. 180 ff. und Worrall, S. 394 jeweils mit Hinweisen auf Rspr. 238  Vgl. dazu Singer, S. 182 f., wobei dann u. U. ein change of venue in Betracht kommt. 239  Siehe Fed. R. Crim. Proc. 18. 240  Peoples, S. 161; siehe auch Singer, S. 182 f. 241  Siehe dazu die Übersicht bei Worrall, S. 392 f.; siehe auch Samaha, S. 528 f. 242  Schmid, S. 66 und ausführlich Singer, S. 183 ff. und Worrall, S. 395 ff. jeweils mit Hinweisen auf Rspr. 243  Worrall, S. 388 f. sowie 395 ff. 244  Singer, S. 197. 245  People v. Arnold, 96 N.Y.2d 358, 361 (N.Y. 2001); vgl. dazu auch Singer, S. 198.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

in der Vergangenheit nicht erlaubt war, Fragen an die Zeugen zu stellen oder sich Notizen zu machen, können die Geschworenen inzwischen in Bundesstrafverfah­ ren und in der großen Mehrheit der Einzelstaaten über den Richter Fragen stellen lassen und sich in einigen Staaten auch Notizen machen.246 In einigen Staaten erhalten die Geschworenen auch ein Handbuch mit Hinweisen zu ihrer Tätigkeit, dem Gerichtsverfahren und der Gerichtsterminologie.247 cc)  Eröffnungserklärungen Der Staatsanwalt und die Verteidigung können zu Beginn der eigentlichen Hauptverhandlung eine an die jury gerichtete Eröffnungserklärung (opening state­ment) abgeben.248 Damit wollen sie die Geschworenen weiter in den Fall ein­ führen und grob aufzeigen, was sie in dem Fall versuchen werden zu beweisen. Hier geht es nicht um das Beweisen selbst, weil dieses erst im Rahmen der späte­ ren Beweisaufnahme stattfindet, sondern um einen Überblick darüber, wie sich der Fall aus der Perspektive der Parteien darstellt und mit welchen Beweismitteln sie ihre Sicht in dem Verfahren darlegen wollen.249 Zunächst gibt der Staatsan­ walt eine solche Erklärung ab. Je nach Gerichtsbarkeit kann die Verteidigung unmittelbar im Anschluss an die Eröffnungserklärung des Staatsanwalts oder erst, nachdem dieser seinen Fall insgesamt präsentiert hat, eine entsprechende Eröffnungserklärung, warum die Beweislage ihrer Meinung nach nicht für eine Verurteilung ausreichen wird, abgeben (rebuttal).250 Aus verteidigungstaktischen Gründen kann es unter Umständen sinnvoll sein, darauf zu verzichten, solche Erklärungen machen die Geschworenen aber näher mit dem Gegenstand des Ver­ fahrens und den Strategien der Parteien vertraut, so dass sie dem Verfahren leich­ ter folgen können.251 dd)  Beweisaufnahme Sodann ist es Aufgabe des Staatsanwalts, den gesamten Fall darzulegen und mit den ihm zur Verfügung stehenden Zeugen und sonstigen Beweismitteln die Schuld des Angeklagten aufgrund der verfassungsmäßig verankerten Unschulds­ vermutung so zu beweisen, dass daran kein begründeter Zweifel besteht (to prove the State’s case beyond a reasonable doubt/case-in-chief).252 246 

Singer, S. 196. Schmid, S. 69. 248  LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1400. 249  Peoples, S. 165. 250  Schmid, S. 69 f. 251  Schmid, S. 69 f. 252  In re Winship, 397 U.S. 358 (1970); vgl. auch California Penal Code § 1096. 247 

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

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Diese Beweispflicht der Staatsanwaltschaft ist eine zentrale Voraussetzung für ein Verfahren, das der Due Process Clause gerecht werden soll, doch stimmt die Verteidigung manchmal zu, einige Tatsachen erst gar nicht zu bestreiten (sti­ pulate), weil sie befürchtet, das bestimmte Beweismittel – wie z. B. grausame Bilder vom Opfer oder Tatort – die jury negativ beeinflussen könnten.253 Dem adversatorischen System und dem Parteiprozess entsprechend muss jede Partei die Umstände beweisen, die für ihre Sicht des Falles günstig sind und ihre Ver­ sion unterstützen. Dies gilt auch für die Verteidigung, die auch eine „affirmati­ ve Beweislast“254 bezüglich Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgründen trifft.255 Bei der Präsentation der Beweise gilt im Vergleich zum deutschen Recht ein strenges Beweisrecht.256 Die Hauptverhandlung des US-amerikanischen Strafverfahrens ist von einem strengen Unmittelbarkeitsgrundsatz geprägt, der besonders in zwei grundlegen­ den Verfahrensprinzipien zum Ausdruck kommt: Dies ist zum einen die Unzu­ lässigkeit sekundärer Beweismittel (best evidence rule)257 und zum anderen das Verbot des Hörensagenbeweises durch die hearsay rule.258 Der Begriff „best evidence rule“ kann wohl zu Recht als Fehlbezeichnung an­ gesehen werden, da der Grundsatz, dass die Parteien stets den besten Beweis erbringen müssen, in dieser Strenge heute nicht mehr gilt.259 Es ergibt sich in der Praxis bei einem Parteiprozess in der Regel von selbst, dass die Parteien den Be­ weis vorlegen werden, der ihre Sichtweise am besten und zuverlässigsten stützt, um den Richter oder die Geschworenen von ihrem Fall zu überzeugen. Die Vor­ lage des Originals wird von Fed. R. Evid. 1002 aber gefordert, wenn der Inhalt eines Schriftstücks, einer technischen Aufzeichnung oder einer Fotografie260 Ge­ genstand des Beweises werden soll. Jede Partei bestellt also die Zeugen (testimonial evidence), die ihrer Meinung nach für das jeweilige Vorbringen von Vorteil sind, weshalb häufig von prose­ cution witness261 bzw. defense witness262 gesprochen wird. Auch der Angeklagte 253 

Samaha, S. 538; Schmid, S. 153 f. Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 503. 255  Schmid, S. 70 und 153 f. 256  Vgl. dazu Samaha, S. 538 f. und Schmid, S. 70; siehe zu den Beweismitteln auch Peoples, S. 165 ff. 257  Ausführlich zur best evidence rule, Mueller/Kirkpatrick, S. 1159 ff. 258  Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 508 f. 259  Mueller/Kirkpatrick, S. 1159 f. 260  Rule 1002: „An original writing, recording, or photograph is required in order to prove its content unless these rules or a federal statute provides otherwise“. 261  LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1390. 262  LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1386. 254 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

kann das Erscheinen von Zeugen, die zu seinen Gunsten aussagen sollen, erzwin­ gen, was sich aus dem sechsten Verfassungszusatz – „to have compulsory process for obtaining witnesses in his favor“ – ergibt.263 Zeugen werden im US-amerikanischen Strafprozess zwar eigentlich nicht vom Gericht, sondern wie bei einem Parteiprozess üblich von den Parteien geladen,264 die Verteidigung kann aber, indem sie eine gerichtliche Vorladung (subpoena) veranlasst, die Aussage eines Zeugen (subpoena ad testificandum) oder die Ein­ führung von Urkunden und sonstigen Beweismitteln (subpoena duces tecum/ subpoena for production of evidence) in das Verfahren erzwingen.265 Während die Zeugen im deutschen Recht in der Regel nur vom Richter belehrt und selten vereidigt werden, müssen sie im US-amerikanischen Recht stets schwören, die Wahrheit zu sagen.266 Zunächst werden die Zeugen von der Partei vernommen, von der sie auch ge­ laden worden sind und deren Sicht des Falles sie in der Regel unterstützen. Diese Befragung wird auch als direkte Befragung (direct examination) bezeichnet.267 Die daran anschließende Befragung durch die Gegenseite ist das im US-ameri­ kanischen Recht sehr bedeutsame Kreuzverhör (cross-examination). In diesem Kreuzverhör versucht dann beispielsweise der Verteidiger, die Glaubwürdigkeit des Hauptbelastungszeugen oder eines anderen Zeugen der Staatsanwaltschaft zu erschüttern oder dessen Aussage infrage zu stellen, wobei – im Gegensatz zur direkten Befragung – auch Suggestivfragen (leading questions) zulässig sind.268 Nach Abschluss des Kreuzverhörs durch die Gegenseite kann die andere Partei ihren Zeugen erneut befragen (redirect), woraufhin wieder eine Befragung durch die Gegenseite erfolgen kann (recross).269 Weil die Staatsanwaltschaft die alleinige Darlegungs- und Beweislast trägt (burden of proof), dass der Angeklagte schuldig ist (beyond a reasonable doubt)270, kann es aus verteidigungstaktischen Gründen sinnvoll sein, dass die Verteidigung ihrerseits gar keinen „Fall darlegt“ (to present a case).271 Sie kann sich darauf beschränken, die (Belastungs-)Zeugen der Staatsanwaltschaft ins 263 

Samaha, S. 540. Farnsworth, S. 127: „Another result of the adversary nature of the proceeding has been that traditionally each witness is called on behalf of one of the parties, rather than on behalf of the court and is subject to cross-examination by the opposing party’s lawyer“. 265  Näher dazu LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1382 f. 266  Peoples, S. 169. 267  Peoples, S. 169. 268  Peoples, S. 169. 269  Peoples, S. 169; Weigend, ZStW 100 (1988), 733, 736 f. 270  Zu diesem Terminus Samaha, S. 540 f. 271  Samaha, S. 540. 264 

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Kreuzverhör zu nehmen und dadurch Zweifel an der Darstellung des Falles der Staatsanwaltschaft zu erwecken (reasonable doubt) oder sie kann eigene Zeugen mit dem einzigen Ziel, die Zeugen der Staatsanwaltschaft zu entkräften, aufbie­ ten. Darüber hinaus kann die Verteidigung natürlich auch Zeugen vorladen, um Zweifel an der Schuld des Angeklagten zu begründen, wie z. B. Alibi-Zeugen.272 Diese Zeugen können dann wiederum nach ihrer Befragung durch die Vertei­ digung von der Staatsanwaltschaft als Gegenseite ins Kreuzverhör genommen werden. Damit es im Kreuzverhör keine bösen Überraschungen gibt, befragen die Parteien die eigenen Zeugen vor der Hauptverhandlung eingehend und berei­ ten ihre Zeugen auf das Kreuzverhör durch die Gegenseite entsprechend vor.273 Die Verfassung gewährt dem Angeklagten in der Hauptverhandlung sowohl das Recht, die Aussage zu verweigern, als auch das Recht auszusagen. Letzteres war historisch bedingt nicht immer möglich, ist aber seit langem anerkannt und spätestens seit Rock v. Arkansas274 ein verfassungsmäßiges Recht.275 Sofern der Angeklagte, dem durch die Verfassung ein Aussageverweigerungs­ recht276 (right not to take the stand) gewährt wird 277, sich entschließt auszusa­ gen – worüber eine Entscheidung erst am Ende der Beweisaufnahme verlangt werden darf 278 –, unterliegt seine Vernehmung denselben Regeln wie der eines Zeugen und auch er kann von der Staatsanwaltschaft ins Kreuzverhör genommen werden279. Interessanterweise sind im Rahmen des Kreuzverhörs nach Harris v. New York280 sogar Vorhalte aus früheren Aussagen, die unter Verstoß gegen die 272 

Samaha, S. 540. Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 503. 274  Rock v. Arkansas, 483 U.S. 44, 107 S.Ct. 2704 (1987); in der Entscheidung wird dieses Recht und dessen Ursprung, das sich aus der Due Process Clause des Fourteenth Amendment, der Compulsory Process Clause des Sixth Amendment und dem Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, des Fifth Amendment ergibt, anschaulich herausgearbei­ tet und festgestellt: „In fact, the most important witness for the defense in many criminal cases is the defendant himself“. 275  Näher dazu LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1395 f. 276  Man müsste vermutlich von einem Zeugnisverweigerungsrecht sprechen, weil der Angeklagte zum witness against himself wird; näher dazu unten beim privilege against self-incrimination, Kapitel C. IV. 2. a) cc). 277  Das right against self-incrimination ist im Fifth Amendment kodifiziert; vgl. auch Art. 1 § 13 California Constitution; California Evidence Code § 930; näher dazu LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1391 ff.; siehe auch Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 506. 278  Grundlegend dazu Brooks v. Tennessee, 406 U.S. 605, 92 S.Ct. 1891, 32 L.Ed.2d 358 (1972); siehe auch LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1392 f. 279  Näher zum Kreuzverhör des Angeklagten, LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Pro­ cedure, S. 1392 m. w. N. 280  Harris v. New York, 401 U.S. 222 (1971). 273 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Miranda-Rechte,281 z. B. bei der Polizei, gemacht wurden und deren Verwertung an sich daher unzulässig ist, zulässig, um die Glaubhaftigkeit der Aussage zu erschüttern.282 Dass eine Aussage in demselben Prozess zwar nicht zur Frage der Schuld des Angeklagten, wohl aber zur Frage seiner Glaubwürdigkeit genutzt werden darf, erscheint bedenklich, zumal diese rechtliche Differenzierung die Geschworenen vor eine gewisse Herausforderung stellt und sowohl das Gericht als auch insbesondere die jury sicherlich nicht unbeeindruckt lässt. In einigen Bundesstaaten kann unter engen Voraussetzungen auch die Staats­ anwaltschaft verpflichtet sein, der Verteidigung Zugang zu bestimmten Beweis­ mitteln zu gewähren – um zum Beispiel eigene wissenschaftliche Untersuchun­ gen wie DNA-Tests durchzuführen – oder ihr bei der Suche nach bestimmten Entlastungszeugen zu helfen.283 Dem Richter kommt im Rahmen dieser Beweisaufnahme eine wohl eher un­ tergeordnete Rolle zu und auch die jury nimmt eine passive Rolle ein.284 Wäh­ rend im deutschen Recht der Vorsitzende Richter die Beweisaufnahme führt und sich dabei vom Grundsatz der richterlichen Aufklärungspflicht285 leiten lässt und daher durch § 244 Abs. 2 StPO stets darum bemüht ist, den bestmöglichen Be­ weis zu erheben, obliegt diese Aufgabe im US-amerikanischen Strafverfahren ausschließlich den Parteien. Hier entscheidet der Richter auch nicht über das Ergebnis der Beweisaufnah­ me286, weil es in einem Geschworenenverfahren gerade ureigenste Aufgabe der jury ist, über die zugrunde zu legenden Tatsachen zu entscheidenden (fact finder/ trier of fact). Der Richter moderiert vielmehr das Verfahren und entscheidet über Rechtsfragen287 sowie über die Zulässigkeit von Beweismitteln und von Fragen der Parteien an die Zeugen (trier of law).288 Ferner agiert er als Vermittler zwi­ schen den Parteien und gibt der jury Hinweise, wie die Rechtslage ist und wie

281  Grundlegend dazu Ransiek, Die Rechte des Beschuldigten in der Polizeiverneh­ mung, S. 30 ff. 282  Siehe auch People v. May, 44 Cal.3d 309 (1988) sowie Peoples, S. 177. 283  Näher dazu LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1384 f.; zur Preisgabe der Identität eines Informanten siehe Roviaro v. United States, 353 U.S. 53, 77 S.Ct. 623, 1 L.Ed.2d 639 (1957). 284  Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 503; siehe auch Sowbada, S. 78 ff. 285 Dazu Beulke, Rn. 406. 286  Zum Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung gem. § 261 StPO Beulke, Rn. 490. 287  California Penal Code § 1124: „The Court must decide all questions of law which arise in the course of a trial“. 288  Federal Rules of Evidence 611(a); California Evidence Code § 765; siehe auch Peoples, S. 164.

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

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die Gesetze anzuwenden sind.289 Aus dieser eher passiven Rolle des Richters und der weitreichenden Entscheidungsmöglichkeit der jury ergeben sich bestimmte Probleme, die hier kurz angesprochen werden sollen. Der Richter muss die Geschworenen auf Antrag des Angeklagten auch beleh­ ren, aus seinem Schweigen keine Schlüsse auf seine Schuld zu ziehen.290 Ferner instruiert der Richter zwar die Geschworenen bei unzulässigen Fragen der Partei­ en, die Antwort des Zeugen nicht zu berücksichtigen, es erscheint aber fraglich, inwiefern es den Juroren als juristischen Laien wirklich gelingt, das Schweigen des Angeklagten oder eine bereits vom Zeugen beantwortete unzulässige Fra­ ge bei ihren Beratungen über die Schuldfrage wirklich unberücksichtigt zu las­ sen.291 Dies bewusst auszublenden wird schon juristisch besonders geschulten Personen wie Richtern oder Staatsanwälten schwer fallen, aber erst recht der jury, die es am Ende möglicherweise vielleicht auch nur unbewusst bei ihrer Ent­ scheidung beyond reasonable doubt zugrunde legt und deshalb bei der Klärung von Zulässigkeitsfragen zunächst auch ausgeschlossen wird.292 Es dürfte schon schwer sein, einem Laien diesen Terminus überhaupt zu erklären. Empirische Studien belegen, dass die Geschworenen in etwa nur die Hälfte der vom Richter erteilten rechtlichen Hinweise überhaupt verstehen.293 Hinzu kommt, dass der Dienst als Geschworener äußerst unbeliebt ist. Dies hängt neben dem zeitlichen Aufwand sicherlich auch mit der Isolierung (sequest­ ration) während des Dienstes zusammen: Die Geschworenen dürfen während des Verfahrens nicht mit Außenstehenden und auch nicht untereinander über den Fall diskutieren, sie dürfen noch nicht einmal etwas über den Fall hören oder lesen.294 Um sicherzustellen, dass die Geschworenen sich ihre Meinung erst im Rahmen ihrer Beratungen nach Abschluss des Verfahrens (deliberations) bilden, werden sie daher in manchen Verfahren für diese Zeit, manchmal aber auch für das ge­ samte Verfahren von ihrem sozialen Umfeld isoliert und in einem Hotel unterge­ bracht. 289  Z. B. California Penal Code § 1044: „It shall be the duty of the judge to control all proceedings during the trial, and to limit the introduction of evidence and the argument of counsel to relevant and material matters, with a view to the expeditious and effective ascertainment of the truth regarding the matters involved“. 290  Samaha, S. 540. 291  Peoples, S. 170. 292  So z. B. bei bestimmten Zulässigkeitsfragen nach California Evidence Code § 402. In court trials dürfen die Richter bei der Klärung solcher Fragen logischerweise anwesend sein, vgl. dazu Arnold/Gonzales, § 27.33 (= S. 678): „In court trials, however, because judges are considered better able to limit their consideration of evidence to the purpose for which it is admissible, motions to exclude evidence are usually heard by the same judge who will hear the trial“. 293  Samaha, S. 542. 294  Peoples, S. 171.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Nachdem die Parteien ihren Fall präsentiert haben, also nach Abschluss der Beweisaufnahme, geben sie eine abschließende Stellungnahme (closing argu­ ment) ab, die in etwa den Plädoyers im deutschen Recht entspricht.295 Es beginnt in der Regel die Staatsanwaltschaft und sodann folgt die Verteidigung, worauf die Staatsanwaltschaft – ohne eine neue Angelegenheit vorzubringen – erwidern kann (to rebut/rebuttal). Die Staatsanwaltschaft kann auf die abschließende Stel­ lungnahme auch verzichten, dann kann sie aber auch auf das Plädoyer der Vertei­ digung nicht erwidern.296 Anschließend, in einigen Staaten aber auch schon vor den abschließenden Stellungsnahmen, erteilt der Richter der jury die rechtlichen Hinweise (jury in­ structions)297, bevor sie sich zu ihren Beratungen zurückzieht.298 ee)  Jury deliberation Die Geschworenen dürfen je nach Rechtsordnung die Protokolle der Beweis­ aufnahme mit in das Beratungszimmer nehmen; sie werden dort während ihren Beratungen von Gerichtsdienern überwacht, die sicherstellen, dass es zu dieser Zeit keinen Kontakt zu Außenstehenden gibt. Lediglich das Gericht dürfen die Geschworenen zur Klärung rechtlicher Aspekte kontaktieren.299 Sie wählen, so­ fern dies nicht schon früher geschehen ist, zunächst einen Sprecher (foreperson) und betrachten innerhalb des vom Richter erklärten Rechts die Fakten, wobei sie Beweismittel bewerten und über die Glaubwürdigkeit von Zeugen entschei­ den. Die Geschworenen müssen verhandeln, bis sie ein Urteil fällen oder bis sie sicher sind, dass sie mangels Einigung kein Urteil fällen können.300 In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass Urteile nicht immer einstimmig gefällt werden müssen, was aber – wie auch die Größe der jury – sehr umstritten ist. Einige Staaten fordern sehr wohl eine einstimmige Entscheidung (unanimous verdict) der Geschworenen, ein verfassungsrechtlicher Anspruch hierauf besteht aber nicht.301 Grundsätzlich lässt sich sagen, dass je größer eine jury ist, desto eher sind Abweichler hinzunehmen: In Apodaca v. Oregon302 entschied der U.S. Su­ preme Court mit einem Votum von fünf zu vier Richtern, dass keine einstimmige Entscheidung in den Einzelstaaten erforderlich ist, sondern eine Mehrheit von 11:1 oder 10:2 für eine Verurteilung ausreicht. In Johnson v. Louisiana genügte 295 

Näher dazu LaFave/Israel/King/Kerr, Criminal Procedure, S. 1401 f. Samaha, S. 540 f. 297  Zum Inhalt dieser Hinweise siehe Samaha, S. 542; siehe auch Peoples, S. 178 f. 298  Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 508. 299  Samaha, S. 542 f. 300  Peoples, S. 179. 301  Peoples, S. 180. 302  Apodaca v. Oregon, 406 U.S. 404 (1972). 296 

I.  Das US-amerikanische Strafverfahren

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sogar eine Mehrheit von 9:3, weil neun Geschworene „eine deutliche Mehrheit der jury“303 seien. Nach Burch v. Louisiana304 muss das Urteil bei sechsköpfigen juries jedoch einstimmig sein.305 Sollten die Geschworenen trotz intensiver Beratungen feststellen, dass sie sich nicht einigen können, müssen sie den Richter darüber informieren, der so­ dann versucht, das Problem zu klären und die Geschworenen doch noch zu einer Einigung zu bewegen. Sollte eine Einigung dennoch nicht erzielt werden kön­ nen, muss der Richter die Geschworenen entlassen (hung jury). Anschließend entscheidet der Staatsanwalt, ob er den Fall noch einmal vor einer neuen jury verhandeln will. Sofern die Geschworenen ein Urteil fällen, informieren sie auch hierüber den Richter und die Verhandlung wird fortgesetzt. Im Gerichtssaal fragt der Rich­ ter die Geschworenen, ob sie ein Urteil gefällt haben, woraufhin deren Sprecher mit „Ja“ antwortet und sodann das unterschriebene Urteil übergibt. Sowohl bei einem Urteil als auch bei der hung jury kann es vorkommen, dass die einzelnen Geschworenen auf Befragung der Parteien offenbaren müssen, wie sie gestimmt haben (poll the jury). Bei einer Verurteilung hat naturgemäß die Verteidigung ein Interesse daran, Unstimmigkeiten aufzudecken und so Gründe für einen neuen Prozess zu finden. Bei einer hung jury ist es hingegen der Staatsanwalt, der seine Chancen für einen neuen Prozess ausloten will, zumal er bei knappen Entschei­ dungen – wie 11:1 in Staaten, in denen eine einstimmige Entscheidung erforder­ lich ist – den Fall vor einer anderen jury anklagen wird. Die Urteile lauten in der Regel auf schuldig (guilty) oder nicht schuldig (not guilty). Die jury kann einen Angeklagten aber auch freisprechen, obwohl er bei Betrachtung der Tatsachen eigentlich schuldig im Sinne des Gesetzes wäre. Diese spezielle Form des Freispruchs (jury nullification) ist auf den besonderen Stellen­ wert der jury zurückzuführen.306 Im Anschluss an den Schuldspruch erfolgt die Strafzumessung (sentencing), die bei Verbrechen in der Regel in einem separaten Verfahren ergeht, weil die für die Beantwortung der Frage, welche Sanktion für den Täter angemessen ist, erforder­ lichen Unterlagen (presentence report)307 erst zusammengestellt werden müssen. 303 

Johnson v. Louisiana, 400 U.S. 356 (1972): „a substantial majority of the jury“. Burch v. Louisiana, 441 U.S. 130 (1979). 305  Die Entscheidung erscheint auf den ersten Blick inkonsequent: Wenn bei Johnson 75 % der Stimmen (9/12) für eine Verurteilung ausreichen, dann sollten auch 83 % (5/6) genügen. Der U.S. Supreme Court ist der Meinung, dass die jury, wenn sie schon so klein ist, doch zumindest einstimmig entscheiden soll, was auch zu begrüßen ist. Zu den Argu­ menten für eine einstimmige Entscheidung aller juries siehe Samaha, S. 543 f. 306  Dazu näher Samaha, S. 544. 307  Näher zu dem Verfahren Peoples, S. 187 f. 304 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Die Strafzumessung ist in den meisten Staaten Aufgabe des Richters oder ei­ nes Richtergremiums, teilweise aber auch Aufgabe der jury. Die jury entschei­ det insbesondere über die Verhängung der Todesstrafe, weil eine so gravierende Sanktion nicht allein in den Händen eines Richters liegen soll.308 Bei dieser Strafe ist daher in den meisten Staaten – sofern sie die Todesstrafe überhaupt anwen­ den – ein zweigliedriges Verfahren (bifurcated trial) erforderlich: Während die Geschworenen im ersten Verfahren, dem klassischen Geschworenenprozess, über Schuld und Unschuld urteilen, entscheiden sie in einem daran anschließenden Verfahren, ob die Todesstrafe verhängt werden soll.309 In den meisten Staaten sind, wie auch überwiegend im deutschen Recht, ge­ setzlich nur Strafrahmen (indeterminate sentencing)310 mit Ober- und Untergren­ zen festgelegt, so dass der Richter ein gewisses Ermessen bei der Verhängung der Strafe hat. In den letzten Jahren gab es Bestrebungen, dieses richterliche Ermes­ sen und auch das Ermessen der Kommission für Haftentlassungen (parole board) zu begrenzen.311 So wurde 1984 die U.S. Sentencing Commission gegründet, die Richtlinien bei Verurteilungen in Bundesstrafsachen für die Richter nach einem speziellen Punktesystem (federal sentencing guidelines) erließ.312 In der Folgezeit haben auch einige Einzelstaaten ein entsprechendes Richtliniensystem erlassen (state guideline system).313 Darüber hinaus gibt es aber auch obligatorische Strafen (mandatory sentenc­ ing), bei denen der Richter keinerlei Ermessen hat, sondern eine bestimmte Strafe festsetzen muss. Eine erwähnenswerte Besonderheit stellen die „Three Strikes“ Gesetze dar.314 Der Terminus stammt aus dem Baseball, bei dem ein Spieler nach dem dritten Fehlschlag (strike) bis zur nächsten Runde nicht mehr am Spiel teil­ nehmen darf. Nach diesen Gesetzen müssen Rückfalltäter (recidivist oder auch habitual offenders), die zum dritten Mal wegen eines (schweren) Verbrechens verurteilt werden, mit einer strengen Strafe rechnen, die – obwohl die Anwen­ dung in den Einzelstaaten erheblich variiert – eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren bis lebenslang ist. Die meisten Staaten verlangen, dass es sich um gewalttätige (violent) oder besonders schwere Verbrechen (serious felonies) handelt. Der ver­ gangene Zeitraum zwischen den Taten ist in der Regel unbeachtlich. Auf diesem 308 

Worrall, S. 440 f. Worrall, S. 440 f. 310  Peoples, S. 185 f. 311  Siehe dazu auch Singer, S. 320. 312  Peoples, S. 196 f.; siehe auch die Übersicht zu den federal sentencing guidelines bei Worrall, S. 439 sowie ausführlich Singer, S. 318 ff. 313  Singer, S. 321. 314  Worrall, S. 438. 309 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Gebiet hat es in den letzten Jahren aber auch grundlegende Reformen gegeben, die zu einer Lockerung der strengen Regelung geführt haben. Besonders streng war das Gesetz in Kalifornien, wo im Gegensatz zu den meisten anderen Staaten der Katalog der in Betracht zu ziehenden Straftaten viel weiter gefasst war und auch Drogendelikte erfasst waren und der dritte Verstoß (strike) auch nicht seri­ ous oder violent sein musste, um die lebenslange Freiheitsstrafe zu verhängen.315 h)  Das Rechtsmittelverfahren Gegen die erstinstanzlichen Urteile der trial courts haben sich verschiedene Rechtsbehelfe herausgebildet. Für diese Rechtsbehelfe gibt es im US-amerikani­ schen Strafverfahren zwar keine einheitlichen Begriffe, sie werden aber oft allge­ mein als review bezeichnet.316 Es ist in erster Linie der Angeklagte, der gegen die Entscheidung der erstins­ tanzlichen Gerichte vorgeht und durch Einlegung eines Rechtsmittels (appeal) die Überprüfung des Urteils durch eine andere, zumeist höhere Instanz, den U.S. Circuit Court of Appeal oder den Court of Appeal anstrebt.317 Ab Einrei­ chung des Rechtsmittels bei diesen Appellationsgerichten wird der Angeklagte, der im trial court stets als defendant bezeichnet wurde, als appellee oder überwie­ gend als appellant bezeichnet.318

II.  Die Definition von hearsay evidence Das common law war seit seinen Anfängen im frühen englischen Recht Richter­recht. Entsprechend war auch in dem vom englischen Recht maßgeblich beeinflussten US-amerikanischen Recht die Judikative ursprünglich Hauptpro­ duzent strafrechtlicher Normen, deren Einfluss in den letzten Jahrzehnten immer weiter abgenommen hat und von der Legislative durch entsprechende gesetzliche Regelungen wie beispielweise die Federal Rules of Evidence, die von der Mehr­ heit der Einzelstaaten bei der Einführung des Beweisrechts als Vorbild genutzt wurden, begrenzt wurde.319 Bei hearsay handelt es sich um einen Beweis, der im US-amerikanischen Recht grundsätzlich unzulässig ist. Zwar scheinen die Definition von hearsay und die 315  Näher dazu Males/Macallair, 11 Stan. L. & Pol‘y Rev. 65 (1999); nun aber modera­ ter California Penal Code § 667.7(a)(1). 316  Schmid, S. 81. 317  Schmid, S. 81; Thaman, Landesbericht USA, S. 489, 503. 318  Siehe aber die Hinweise zu diesen Begriffen bei Schmid, S. 84; im Folgenden wird bei der Darstellung der Entscheidungen häufig von dem Angeklagten gesprochen. 319 McCormick on Evidence, S. 183 Fn. 2; Mueller/Kirkpatrick, S. 4 f.; siehe auch zum Model Penal Code als Hauptquelle für das amerikanische Strafrecht, Dubber, S. 2 ff.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Ausnahmen zur hearsay rule im Gesetz (Fed. R. Evid. 801 – 807) geregelt zu sein, aber die Definitionen bringen häufig nicht die nötige Klarheit; im Übrigen ist die hearsay rule sehr komplex. So gibt es alleine schon zahlreiche Methoden, um zu ermitteln, ob überhaupt grundsätzlich ein Hörensagenbeweis vorliegt320 – von den zahlreichen Ausnahmen und Sonderfällen ganz zu schweigen! Während die Frage, ob ein Beweis vom Hörensagen vorliegt, im deutschen Recht von untergeordneter Bedeutung oder gar unbedeutend ist, wird im US-amerikanischen Verfahren zwischen den Parteien schon über diese Frage oft ein erbitterter Streit geführt. Denn während das Problem im deutschen Recht über die Beweiswürdigung durch das Gericht gelöst wird, versucht im US-ame­ rikanischen Recht die eine Partei häufig, die Beweismittel der anderen Partei mit der Begründung, es handele sich um hearsay und damit um ein unzulässiges Beweismittel, auszuschließen. Beide Parteien nutzen die hearsay rule, um die Vernehmung von Zeugen der Gegenseite zu verhindern, aber es dürfte vor allem die Verteidigung sein, die dieses Argument vorbringt, um in der Hauptverhand­ lung die Verwertung belastender Beweise zu verhindern. Vereinzelt wird sogar darum gestritten, ob der Zeuge sein Geburtsdatum nennen darf, denn schon diese Angabe könnte hearsay darstellen, da der Zeuge es nur vom Hörensagen kenne.321 Auf den ersten Blick geht es beim Hörensagen, wie der Name zeigt, darum, dass jemand sagt und dadurch wiederholt, was er einen anderen sagen gehört hat. Er berichtet über ein Geschehen, das er selbst nicht unmittelbar wahrgenommen hat, sondern darüber, was ihm von einem Dritten mitgeteilt worden ist, also über etwas, das er mittelbar wahrgenommen hat. Der Begriff des Hörensagens im US-amerikanischen Recht ist viel enger als der des deutschen Rechts. Dies ist die logische Konsequenz des strengen Beweis­ rechts, da der Beweis vom Hörensagen im US-amerikanischen Recht grundsätz­ lich ausgeschlossen ist, wohingegen im deutschen Recht Äußerungen, die Hören­ sagen darstellen, grundsätzlich in die Verhandlung eingeführt werden können und erst auf der Ebene der Beweiswürdigung eine etwaige Begrenzung erfahren. Hearsay ist in Rule 801 Fed. R. Evid. legal definiert: (a) Statement. „Statement“ means a person’s oral assertion, written assertion, or non­ verbal conduct, if the person intended it as an assertion. (b) Declarant. „Declarant“ means the person who made the statement. (c) Hearsay. „Hearsay“ means a statement that: 320  Siehe die Darstellung der „Top Ten Approaches to Hearsay“ bei Fenner, Hearsay Rule, S. 17 ff. Die drei vermutlich nützlichsten Methoden – „Formula Approach“, „Ma­ nufactured-Evidence Approach“ und „Real-Witness Approach“ genannt – überschneiden sich teilweise, weisen teilweise auch Ungenauigkeiten auf, aber gelangen im Wesentlichen alle zum selben Ergebnis, Fenner, Hearsay Rule, S. 29 f. 321  Schmid, S. 71.

II.  Die Definition von hearsay evidence

191

(1) the declarant does not make while testifying at the current trial or hearing; and (2) a party offers in evidence to prove the truth of the matter asserted in the state­ ment.

Ein Beweis vom Hörensagen kann also nur vorliegen, wenn drei Vorausset­ zungen kumulativ erfüllt sind: Es muss sich um ein statement handeln, das nicht vor dem erkennenden Gericht und somit out-of-court abgegeben wurde („not make while testifying at the current trial“) und dessen Beweiszweck/-ziel die inhaltliche Richtigkeit des statements ist („offered to prove the truth of the matter asserted in the statement“).322 Die hearsay rule muss also bedacht werden, wenn ein Zeuge in der Gerichts­ verhandlung über statements – in der Regel verbale Behauptungen – aussagt, die ein Dritter, der declarant323, außerhalb des Gerichtsverfahrens abgegeben hat (an out-of-court assertion).324 Das out-of-court-Merkmal ist in der Regel nicht mit besonderen Problemen verbunden.325 Viel interessanter ist hingegen die Frage, wann überhaupt ein statement vor­ liegt. Hierauf scheint zunächst Absatz (a) eine Antwort zu geben, der das state­ ment als „a person’s oral assertion, written assertion, or nonverbal conduct, if the person intended it as an assertion“ legaldefiniert. Die Behauptung des declarant326 wird zwar in den meisten Fällen mündlich ge­ äußert, dies muss aber nicht zwingend der Fall sein, sondern ein statement kann auch durch schlüssiges Verhalten oder schriftlich abgegeben werden (written statements). Bei den mündlichen Äußerungen ist der Klassiker, dass ein Dritter die Äußerung wahrnimmt und sodann darüber berichtet. Auch die auf Tonband aufgezeichnete Äußerung eines declarant würde hearsay darstellen, wenn das Tonband in den Prozess eingeführt wird.327 Die Äußerung des declarant kann auch schriftlich erfolgen. Daher liegt ein Hörensagenbeweis nicht nur – wie im 322  Siehe beispielsweise auch United States v. Childs, 539 F.3d 552, 559 (6th Cir. 2008): „statement, other than one made by the declarant while testifying at the trial or hearing, offered in evidence to prove the truth of the matter asserted“. 323  Siehe auch United States v. Childs, 539 F.3d 552, 559 (6th Cir. 2008): „A ,declarant‘ is one who makes a ,statement,‘ and words qualify as a ,statement‘ only if they make an ,assertion‘“. 324  Fenner, Hearsay Rule, S. 4. 325  Der out-of-court-declarant wird im Folgenden auch nur noch als declarant bezeichnet. 326  Wenn es um nonverbale Äußerungen des declarant geht, ist der declarant derjeni­ ge, dessen Verhalten vom Zeugen beobachtet wurde, Lilly/Capra/Saltzburg, S. 151: „the person whose conduct is observed by the witness“. 327  Mueller/Kirkpatrick, S. 732, sofern auch die zweite Voraussetzung gegeben ist, vgl. beispielsweise United States v. Giraldo, 822 F.2d 205, 213 (2d Cir. 1987), wo Äußerun­ gen auf dem Anrufbeantworter zulässig waren.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

deutschen Recht – vor, wenn jemand einen Brief schreibt und die darin enthaltene Behauptung durch die Vernehmung eines Dritten, der diesen Brief gelesen hat, in die Verhandlung eingeführt werden soll, sondern auch der Brief selbst kann hear­ say darstellen, wenn er in den Prozess eingeführt wird.328 Gleiches gilt für Rech­ nungen, Gutachten und sonstige Dokumente, die aber möglicherweise unter eine der fast 30 Ausnahmen zur hearsay rule fallen, wie beispielsweise Geschäfts­ unterlagen (business records) oder öffentliche Register (public records). Wenn das von einem Sachverständigen erstellte Gutachten zur Ballistik nur durch das Gutachten in den Prozess eingeführt werden soll, ohne den Sachverständigen selbst zu vernehmen, dann handelt es sich um hearsay, sofern das Gutachten zum Beweis der darin enthaltenen Wahrheit angeboten wird (offered as evidence of their truth).329 Im Übrigen ist, wenn der Inhalt von Dokumenten in das Verfahren eingeführt werden soll, stets auch die best evidence rule zu beachten.330 Entscheidend ist, dass eine assertion gegeben ist und dass diese zum Beweis der in ihr behaupteten Tatsache angeboten wurde.331 1.   Was ist überhaupt eine assertion? Zunächst muss näher betrachtet werden, wann als erste Voraussetzung der Fed. R. Evid. 801(c) ein statement vorliegt.332 Die entscheidende Folgefrage lautet also, was überhaupt unter assertion zu verstehen ist und ob dieser Begriff unter Umständen auch Anweisungen, Befehle und Fragen umfassen kann. Dieser für die hearsay rule so wesentliche Terminus wird im Gesetz nicht definiert und hat die Rechtsprechung in zahlreichen Entscheidungen beschäftigt. Die Mehrheit der Gerichte ist der Ansicht, dass eine assertion nur aus einem deklarativen Satz im Modus des Indikativs bestehen kann. Ob dieser Ansatz möglicherweis zu simpel und die Thematik wesentlich komplexer ist, weil auch weitere Faktoren zu be­ rücksichtigen sind, soll im Folgenden untersucht werden. Wie auch im deutschen Recht können sowohl mündliche als auch schriftliche Äußerungen sowie nonverbales Verhalten eine Erklärung enthalten. Es macht also keinen Unterschied, ob jemand die Frage, ob es regnet, beantwortet, indem er einfach „ja“ oder „nein“ sagt, die Antwort aufschreibt oder mit dem Kopf nickt 328 

Mueller/Kirkpatrick, S. 732. McCormick on Evidence, S. 188 mit weiteren Beispielen und den dazu ergangenen Entscheidungen. 330  Siehe dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 733 und insbesondere S. 1159 ff. 331  Fenner, Hearsay Rule, S. 8; McCormick on Evidence, S. 183: „The rule’s definition means, therefore, that out-of-court conduct is hearsay, if it is not an assertion or, even if it is assertive, it is not offered to prove the truth of the matter asserted“. 332  „The definition of ,statement‘ assumes importance because the term is used in the definition of hearsay in subdivision (c).“ 801 Fed. R. Evid. Advisory Committee’s Note. 329 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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bzw. den Kopf schüttelt oder unter Umständen einfach auch nur seinen Regen­ schirm aufspannt. Alle diese Formen der Kommunikation enthalten eine Erklä­ rung und es war vom Erklärenden auch beabsichtigt zu kommunizieren bzw. eine Erklärung abzugeben. Letzteres ist für die Bejahung der assertion von großer Bedeutung, da die Federal Rules of Evidence bei der Definition der assertion einen besonderen Fokus auf die Absicht des Handelnden legen. Das Advisory Committee on Evidence Rules – ein von der United States Judicial Conference eingesetztes Gremium, das die Regeln stetig überarbeitet und Änderungsvor­ schläge macht333 – merkt dazu an: „The key to the definition is that nothing is an assertion unless intended to be one.“334 Der entscheidende Unterschied ist also nicht, ob eine Äußerung ausdrücklich oder konkludent abgegeben wird, sondern ob der Handelnde beabsichtigt (intentional), eine Erklärung abzugeben oder sei­ ne Gedanken auszudrücken, oder ob dies gerade unabsichtlich (unintentional) erfolgt.335 Wenn man schon nicht kommunizieren bzw. nichts äußern will, dann kann es sich auch nicht um hearsay handeln („No assertion, no hearsay.“)336. Die­ ser Ansatz bei der Bestimmung von hearsay wird häufig als „assertion-oriented“ approach337 bezeichnet und – wenngleich die Termini oft nicht einheitlich ver­ wendet werden und häufig auch nicht genau zwischen den Ansätzen differenziert wird – von der herrschenden Meinung befürwortet.338 Und auch der von der Min­ dermeinung favorisierte „intent test“ ist im Wesentlichen bloß eine Modifikation

333 

Siehe dazu auch Mueller/Kirkpatrick, S. 5 f. nicht im Original; die Notes of Advisory Committee on Proposed Rules heißen vollständig zu Absatz (c) „The effect of the definition of ,statement‘ is to exclude from the operation of the hearsay rule all evidence of conduct, verbal or nonverbal, not intended as an assertion. The key to the definition is that nothing is an assertion unless intended to be one“. 335  United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1580 (D.C. Cir. 1990): „(…) the crucial dis­ tinction under rule 801 is between intentional and unintentional messages, regardless of whether they are express or implied. It is difficult to imagine any question, or for that matter any act, that does not in some way convey an implicit message. One of the principal goals of the hearsay rule is to exclude declarations when their veracity cannot be tested through cross-examination. When a declarant does not intend to communicate anything, however, his sincerity is not in question and the need for cross-examination is sharply diminished. Thus, an unintentional message is presumptively more reliable. Evidence of unintended implicit assertions is ,[a]dmittedly (…) untested with respect to the perception, memory, and narration (or their equivalents) of the actor,‘ but ,these dangers are minimal in the absence of an intent to assert and do not justify the loss of the evidence on hearsay grounds.‘ Fed.R.Evid. 801 advisory committee note“. 336  Fenner, Hearsay Rule, S. 10. 337  Favorisiert von McCormick on Evidence, S. 185; siehe auch Fenner, Hearsay Rule, S. 10 f. 338  McCormick on Evidence, S. 185 m. w. N. 334  Hervorhebung

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

des assertion-oriented approach.339 Man könnte also auch von einem „intent test“ sprechen. Das „literalist model“340 ist eine besonders strenge Ausprägung des as­ sertion-oriented approach, bei dem die wortwörtliche Bedeutung der Äußerung betrachtet wird; diese Äußerung fällt nur dann unter die hearsay rule, wenn sie wirklich zum Beweis der wortwörtlich behaupteten Tatsache angeboten wird. Neben dem assertion-oriented approach werden zwei weitere Ansätze vertre­ ten, die grundsätzlich zu den gleichen Ergebnissen kommen. Allerdings macht es bei den implied assertions einen Unterschied, welcher Theorie gefolgt wird. Im common law341 wurde bei der Bestimmung von hearsay noch ein beson­ derer Fokus auf den declarant gelegt. Nach einer sehr strengen Ausprägung des „declarant-oriented approach“342 wären auch Äußerungen hearsay evidence, die angeboten werden, um daraus Rückschlüsse auf die Gedanken (belief) des decla­ rant zu ziehen, wobei aus diesen Gedanken wiederum auf die Wahrheit bzw. auf das Geschehen in der Außenwelt geschlossen werden soll. Wenn durch die Aus­ sage eines Zeugen, er habe eine Person mit einem Regenschirm gesehen, be­ wiesen werden soll, dass es geregnet hat, dann setzt dies voraus, dass man der Person mit dem Regenschirm die Richtigkeit ihrer Einschätzung unterstellt und 339  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 784 (1990): „Hearsay scholars tend to prefer the decla­ rant definition to the assertion definition, or to conclude that the two definitions are the same.“ dort auch m. w. N.; Park selbst lehnt beide Ansätze ab („I disagree with both po­ sitions“); moderater und anscheinend den assertion approach befürwortend aber ders., 16 Miss. C. L. Rev. 125, 126 (1995): „The assertion-oriented approach to defining hearsay is as workable as any. It points quickly to the right solution (…) No other definition is likely to do much better“. 340  Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75, 79 (1995): „The ,literalist‘ model of Rule 801’s definiti­ on takes the most extreme position. Based on a generalization that the risk of insincerity in implied assertions is low due to ,the absence of an intent to assert,‘ it admits as nonhearsay any statement that does not literally match the belief of the declarant that it is relevant to prove. Thus, the caller’s statement in Kearley would be nonhearsay because it literally does not match the caller’s belief that Kearley is a drug supplier.“; vgl. auch Park, 16 Miss. C. L. Rev. 125, 125 (1995): „strong version of the assertion oriented approach“. 341  Kirgis, 43 Wm. & Mary L. Rev. 275, 279 f. (2001): „Wright apparently represent­ ed the common law view of hearsay (…) In the twentieth century, the credibility-based approach embodied by Wright began to fall out of favour.“; vgl. auch Park, 16 Miss. C. L. Rev. 125, 126 (1995). 342  Park spricht von „declarant-centered“: „Under a declarant definition, an out-of-court-statement is hearsay when it depends for value on the credibility of the decla­ rant.“, 74 Minn. L. Rev. 783, 783 (1990); ders., 16 Miss. C. L. Rev. 125, 125 (1995): „An example of a declarant-oriented definition is one that defines an act or utterance as hear­ say if it is offered for an inference about a belief of the declarant.“ Der Fokus liegt „on the presence of a belief on the part of the declarant or actor about some fact or matter“, weshalb auch von einer „’belief-based’ definition“ gesprochen wird, „offered to prove the belief about some matter that is ,implied‘ by, or inferred from, the actor’s or ,declarant’s‘ conduct“, O’Brian, 29 St. Louis U. Pub. L. Rev., 501, 513 f. (2010).

II.  Die Definition von hearsay evidence

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hierauf vertraut, nämlich dass es wirklich geregnet hat, weshalb die Person auch den Regenschirm aufspannte, denn sie würde nicht einfach so mit dem Regen­ schirm durch die Gegend laufen. Auch die Aussage eines Zeugen, die Uhr des Kirchturms habe eine bestimmte Zeit angezeigt, wäre nach dieser Ansicht hersay evidence, weil sie voraussetzt, dass vorher eine andere Person die Uhr korrekt gestellt hat, womit es gerade auf die Glaubwürdigkeit dieser Person ankommt. Gleiches gilt für Angaben des Zeugen zu seinem Geburtsdatum, weil es auch hier auf die Zuverlässigkeit der Person ankommt, die dem Zeugen das Geburtsdatum, das er selbst ursprünglich nicht wissen konnte, mitgeteilt hat.343 Bei diesem An­ satz stehen die allgemeinen Gefahren des Hörensagenbeweises, die sog. hearsay dangers, im Vordergrund und es kommt insbesondere auf die Glaubwürdigkeit des declarant an, weshalb vereinzelt auch von einer „Gefahrenanalyse“344 bzw. von einem „hearsay risk approach“345 gesprochen wird. Nach dem declarant-oriented approach346 stellen – ebenso wie nach dem foun­ dation fact approach347 – implied assertions hearsay evidence dar.348 Diese An­ sätze sollen später anhand der englischen Entscheidungen Wright v. Tatham und Regina v. Kearley noch näher betrachtet werden.349 Abgesehen von diesen Ansätzen kommen im Grunde genommen weitere Ka­ tegorisierungen in Betracht: Man könnte zwischen den beiden Kategorien verbal conduct und nonverbal conduct differenzieren, die sich wiederum in die Unter­ gruppen assertive und non-assertive einteilen lassen. Insgesamt sind also vier Kategorien denkbar: assertive verbal conduct, non-assertive verbal conduct oder assertive nonverbal conduct und non-assertive nonverbal conduct. Dabei sind die eng miteinander verknüpften Fragen also stets, wann etwas assertive ist und wann ein entsprechender intent vorliegt.

343 

Beispiele von Park, 16 Miss. C. L. Rev. 125, 126 f. (1995). Park, 16 Miss. C. L. Rev. 125, 125 (1995): „The declarant-oriented approach could also be called ,dangers analysis‘ because it classifies evidence as hearsay when the pro­ posed use of the evidence would expose the trier to dangers of reliance on the declarant’s unexamined memory, perception, narrative ability, or sincerity“. 345  Siehe dazu Fishman, Hearsay, S. 18. 346  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 788 (1990): „(…) the trier is being asked to infer the fact from the declarant’s utterance (…) Implied assertions are hearsay under the declarant definition because they depend for value on the declarant’s credibility. Whether the federal definition of hearsay is different from the declarant definition depends on whether implied assertions are hearsay under Rule 801(c)“. 347  Dazu grundlegend Swift, 75 Cal. L. Rev. 1339 ff. (1987); siehe auch dies., 16 Miss. C. L. Rev. 75, 75 ff., insbesondere 79 (1995). 348  Vgl. auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 783 und 788 (1990). 349  Siehe unten C. II. 1. b) aa) und c). 344 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

a)  Verbal conduct Auch der verbal conduct kann sowohl assertive als auch non-assertive – was häufig auch als non-assertive utterance bezeichnet wird – sein. Entscheidend ist auch hier der assertive intent, so dass genau zu betrachten ist, in welchen Situati­ onen dieser vorliegt.350 Es sei schon einmal darauf hingewiesen, dass die hearsay rule in Fällen von assertive verbal conduct – ebenso wie bei Fragen und implied assertions – nicht einschlägig ist, wenn die Äußerung nicht zum Beweis der in ihr behaupteten Tat­ sache angeboten wird.351 aa)  Spontane Ausrufe Spontane Ausrufe wie „Autsch!“, „Ach, cool!“, „Oh, nein!“ oder „Verflucht!“ können Schmerz, Freude, Enttäuschung, Ärger und vieles mehr ausdrücken. Sie sind also in gewisser Weise, untechnisch gesprochen, assertive, denn sie drücken Ideen und Gefühle wie „Das tut weh!“, „Damit habe ich nicht gerechnet!“ oder „Was soll ich jetzt machen?“ aus. Allerdings sind diese spontanen Ausrufe oft so „reflexartig“, dass sie gar nicht beabsichtigt und damit non-assertive i. S. d. hear­ say rule sind. Oft haben sie keinen beweisbaren Tatsachenkern, der richtig oder falsch sein kann, und damit auch kein credibility Problem in Bezug auf den die Äußerung abgebenden declarant. Allerdings hat der Ausruf „Oh, nein, es regnet schon wieder!“ durchaus einen beweisbaren Tatsachenkern, nämlich den, ob es wirklich regnet oder nicht. Aufgrund des unbedeutenden Inhalts und der einfachen Bedeutung bestehen die typischen hearsay dangers hier allerdings nur in einem geringen Maß. Vor allem die Gefahr mangelnder Aufrichtigkeit des declarant wird durch die Sponta­ neität minimiert. Je umfangreicher, komplexer oder unspontaner der Ausruf ist, desto eher wird es sich um eine assertion handeln.352 bb)  Höflichkeiten des Alltags Begrüßungen, Verabschiedungen und Höflichkeitsfloskeln wie „Hallo, wie geht’s?“, „Ich muss los!“ und „Schön, dich zu sehen!“ drücken zwar etwas aus, nämlich oft, in welchem Verhältnis die betreffenden Personen zueinander stehen: 350  Mueller/Kirkpatrick, S. 747: „In strict theory, the key element in non-assertive verbal conduct is lack of assertive intent“. 351 Advisory Committee Note: „Similar considerations govern nonassertive verbal conduct and verbal conduct which is assertive but offered as a basis for inferring some­ thing other than the matter asserted, also excluded from the definition of hearsay by the language of subdivision (c)“. 352  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 748.

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Kennt man sich? Sind es gute Bekannte oder gar enge Freunde? Den Chef be­ grüßt man schließlich anders als den Ehepartner. Diese Höflichkeiten des Alltags stellen aber mangels beabsichtigter Tatsachenbehauptung keine assertion i. S. d. hearsay rule dar.353 cc)  Nicht willensgetragene Äußerungen Personen, die sich aufgrund von Alkohol- oder sonstigem Drogenkonsum in einem Rauschzustand befinden, können keine willensgetragenen Äußerungen abgeben. Gleiches gilt für Personen, die hypnotisiert sind oder im Schlaf reden. Einen Klassiker in der Praxis stellen bei Missbrauchsfällen im Schlaf redende Kinder dar: In State v. Stevens354 wurde festgestellt, dass es sich nicht um hearsay handelt, wenn ein Zeuge aussagt, ein Kind als vermeintliches Opfer eines sexuel­ len Missbrauchs habe Albträume und sage im Schlaf den Namen seines mutmaß­ lichen Peinigers: „Arne, don’t“ und „Arne, stop, Arne, don’t, please don’t!“ Sol­ che unfreiwilligen und nicht-willensgetragen Äußerungen355 sind mangels intent keine assertion,356 sondern nur nicht-ausdrückliche bzw. nicht-bestimmte Äuße­ rungsformen (non-assertive utterances), die als circumstancial evidence eine Tat­ sache indirekt beweisen können: Zwar enthalten die Äußerungen der im Schlaf redenden Kinder keine direkten Vorwürfe von sexuellem Missbrauch, aber es erscheint aufgrund der Äußerungen wahrscheinlich – wenngleich die Gründe für die Äußerungen vielfältig sein können357 –, dass die Kinder ein emotionales Trau­ ma erlitten haben, das sie mit Arne verbinden.358 Die Zeuginnen, die diese Äu­ ßerungen gehört haben, sagen über eine Sache aus, von der sie selbst persönliche Kenntnis haben, nämlich was die Kinder während des Schlafs sagten.359 dd)  Anweisungen, Befehle und verbal acts Anweisungen und Befehle werden nach herrschender Meinung nicht als asser­ tion betrachtet, wobei die Begründungen variieren. Auch die Aufforderung eines 353  Mueller/Kirkpatrick, S. 748 f.; siehe auch Burgess v. State, 598 A.2d 830, 89 Md. App. 522. 354  State v. Stevens, 794 P.2d 38 (Wash. Ct. App. 1990). 355  State v. Stevens, 794 P.2d 38 (Wash. Ct. App. 1990); siehe dazu auch in State v. Posten, 302 N.W.2d 638 (Minn. 1981) die concurring opinion von Wahl, J., S. 642 f.: „(…) sleep talk could never constitute an assertion in the waking-world sense“. 356  State v. Stevens, 794 P.2d 38, 43 f. (Wash. Ct. App. 1990): „(…) the declarant must intend to make the statement in order for it to be hearsay“. 357  Das Kind könnte beispielsweise auch träumen, dass Arne sich suizidieren möchte, und ihn davon abhalten wollen. Im Übrigen kann auch von Bedeutung sein, wie viele Per­ sonen mit dem Vornamen Arne das Kind kennt. 358  Siehe dazu State v. Stevens, 794 P.2d 38 (Wash. Ct. App. 1990). 359  State v. Stevens, 794 P.2d 38 (Wash. Ct. App. 1990).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Polizeibeamten an einen flüchtenden Verdächtigen, stehen zu bleiben („Stop!“), ist nach People v. Sorrels360 keine assertion. Diese Aufforderung soll „wie Be­ grüßungen, Nettigkeiten, Danksagungen, Höflichkeiten, Fragen, Angebote, Anweisungen, Warnungen, Ausrufe, Ausdruck von Freude, Ärger oder anderen Emotionen“361 keine beabsichtigte Äußerung einer Tatsache oder Meinung sein („not intended expressions of fact or opinion“).362 Nach dem strengen „literalist approach“ wird argumentiert, dass eine Anweisung oder ein Befehl – wie bei­ spielsweise „Setz für mich zehn Dollar auf X!“ – schon wortwörtlich gerade keine Aussage darstellt. Oft werden solche Anweisungen auch als verbal acts bezeichnet, wobei diese Kategorisierung nicht unumstritten ist. Verbal acts bzw. verbal parts of acts363 sind Äußerungen bestimmter Worte in bestimmten Situationen, meist mit einem rechtlichen Bezug bzw. rechtlicher Relevanz, weshalb sie manchmal auch „oper­ ative legal facts“ genannt werden; die Äußerung und das Verhalten sollen hier so eng miteinander verknüpft364 sein, dass sie auch als Unterfall der res gestae betrachtet werden und kein hearsay darstellen.365 Solche rechtlich relevanten Äußerungen, die im deutschen Recht den Wil­ lenserklärungen entsprechen dürften und beispielsweise beim Abschluss von Verträgen getätigt werden, wie Angebot und Annahme, also die Worte, die kennzeichnen, dass sich die Parteien geeinigt haben, und auch die Aufhebung eines Vertrages stellen als verbal acts kein hearsay dar.366 Bei Sportwetten und Drogenfällen werden Äußerungen wie die Aufforderung des Wettenden an den Wettanbieter („Setz für mich zehn Dollar auf X!“) oder auch die Frage des Dro­ genkäufers an seinen Lieferanten nach Drogen („Kann ich 40 Gramm kaufen?“) häufig als verbal acts bezeichnet, die gerade keine assertion darstellen sollen. Hierbei handelt es sich um eine gewohnheitsrechtliche Ausnahme, bei der nicht nachvollziehbar ist, weshalb verbal parts of an act nicht auch eine Äußerung, eine 360 

People v. Sorrels, 389 Ill. App.3d 547 (Ill. App. 2009). Burgess v. State, 89 Md. App. 522, 537 f.; 598 A.2d 830 (1991). 362  People v. Sorrels, 389 Ill. App. 3d 547, 554 (Ill. App. Ct. 2009). 363  Siehe dazu auch Fishman, Hearsay, S. 37: „A statement made before or during the act, which was intended by the participants to define the act, is considered a verbal part of the act“. Es wird nicht als hearsay betrachtet, denn „it is not being offered to prove the truth of the matter asserted; rather it is offered to prove the legal significance of the act of which it is a verbal part.“; siehe insbesondere auch Colvin v. State, 260 Ala. 338, 440 (Ala. 1954) und Broadus v. State, 540 So.2d 786, 787 (Ala. Crim. App. 1988). 364  Colvin v. State, 260 Ala. 338, 440 (Ala. 1954); Mueller/Kirkpatrick, S. 770. 365  Fishman, Hearsay, S. 35 f.; ausfürhlich dazu auch Bell, C. J., dissenting, Garner v. State, 995 A.2d 694, 710 f. (Md. 2010). 366  Beispielsweise auch die Aufforderung, jemanden zu finden, der einen Mord begeht; näher zu verbal acts McCormick on Evidence, S. 189 ff. mit weiteren Beispielen; siehe auch unten C. II. 1. b) ff). 361 

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assertion, sein sollten. Das Gesetz spricht jedenfalls nur von assertion und intent. Ein weiteres Argument dafür, diese Fallgruppe aufzugeben, ist, dass sehr viele Äußerungen einen rechtlichen Bezug haben und somit die Gefahr besteht, über die Ausnahme der verbal acts die hearsay rule zu umgehen. Häufig und nicht nur für die verbal acts wird die Eigenschaft der assertion negiert, da es an einem beweisbaren Tatsachenkern fehle. Die zu beweisende Tat­ sache mit der assertion an sich zu vermengen, was häufig von den Gerichten getan wird, erscheint einerseits dogmatisch nicht korrekt. Im ersten Schritt muss man sich fragen, ob überhaupt eine assertion vorliegt und erst daran anknüpfend stellt sich die Frage, was die zu beweisende Tatsache sein soll. Oft wird die Fra­ ge, ob überhaupt eine assertion vorliegt, von den Gerichten auch offen gelassen und sofort festgestellt, dass die Aussage nicht zum Beweis der in ihr behaupteten Tatsache angeboten wird.367 Allerdings muss hier bei der Darstellung der Prob­ lemfälle, insbesondere ob Fragen und implied assertions eine assertion i. S. d. hearsay rule sind, aus Verständnisgründen teilweise schon auf den später noch näher zu betrachtenden Aspekt des „offered for the truth of the matter asserted“ eingegangen werden. Anweisungen und Befehle werden überwiegend als eine implied assertion be­ trachtet, bei denen der Äußernde keinen intent to assert habe, so dass diese kein hearsay darstellen würden. Ob dies wirklich der Fall ist, wird im Rahmen der Fragen näher betrachtet werden. Hier sei schon einmal erwähnt, dass die typi­ schen Fälle für Anweisungen und Befehle sind, dass ein Polizist während einer Durchsuchung wegen Drogen oder Glückspiels das Telefon abnimmt und anony­ me Anrufer ihren Einsatz für Sportwetten per Telefon gegenüber dem Polizisten als vermeintlichen Wettanbieter platzieren oder Drogen kaufen wollen. ee)  Fragen Während beim Beantworten einer Frage – in welcher Form auch immer die Antwort erfolgen mag – eine entsprechende Absicht des Erklärenden, kommuni­ zieren zu wollen, unproblematisch bejaht werden kann, ist die Frage, ob jemand, der selbst eine Frage stellt, gleichzeitig beabsichtigt, etwas zu erklären, weitaus schwieriger zu beantworten. Nach wohl herrschender Meinung in der Literatur und in der Rechtsprechung sind Fragen – wie auch Anweisungen und Vorschläge – in der Regel kein hearsay, weil sie grundsätzlich nichts erklären und – sofern sie überhaupt etwas erklären – dies auch meistens nicht beabsichtigt sei, da es an 367  United States v. Rodriguez-Lopez, 565 F.3d 312, 313 (6th Cir. 2009): „We do not even know whether the callers phrased their statements as declarations (,I want some he­ roin.‘), questions (,Can I get some heroin?‘), or commands (,Bring me some heroin.‘). But whatever their grammatical mood, the statements are not hearsay because the government does not offer them for their truth“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

der Absicht fehle, eine Äußerung abzugeben.368 Nur in wenigen Ausnahmefällen soll auch beim Stellen einer Frage eine entsprechende Absicht (intent) und damit eine assertion vorliegen. Eine Frage, die darauf gerichtet ist, eine Information zu entlocken oder eine Antwort zu erhalten, soll danach keine assertion sein.369 Fragen werden zwar gestellt, um Informationen zu erhalten, es werden aber gleichzeitig durch das Stellen der Frage, insbesondere auf der Beziehungsebe­ ne, Informationen vermittelt. Zur Einleitung in diese Thematik findet sich in der US-amerikanischen Rechtsprechung ein anschauliches und sehr simples Beispiel: „Sohn, regnet es draußen?“. Durch diese Frage beabsichtigt der Fragende eindeu­ tig Informationen über das Wetter zu erhalten, er übermittelt zugleich aber (un­ beabsichtigt) zahlreiche Informationen, die oft erst auf den zweiten Blick sichtbar werden: nicht nur, dass er selbst nicht weiß, ob es regnet und wie das Wetter ist, sondern auch dass er sich für das Wetter interessiert, dass er sich wahrscheinlich im Haus – oder zumindest drinnen – aufhält und dass er einen Sohn hat.370 Hier ist recht eindeutig, dass die Übermittlung der Information nicht beabsichtigt ist. Auch in Lexington Insurance v. Western Pennsylvania Hosp. wird betont, dass „Fragen und Nachfragen grundsätzlich nicht Hörensagen sind, weil der Erklären­ de nicht die erforderliche erklärende Absicht hat, auch nicht wenn die Frage eine stillschweigende Botschaft übermittelt oder Informationen über Annahmen und Vermutungen des Erklärenden enthält.“371 368  United States v. Thomas, 451 F.3d 543, 548 (8th Cir. 2006): „Questions and com­ mands generally are not intended as assertions, and therefore cannot constitute hearsay“; United States v. Oguns, 921 F.2d 442, 449 (2d Cir. 1990): „Because a question cannot be used to show the truth of the matter asserted, the dangers necessitating the hearsay rule are not present.“; Inc. Pub. Corp. v. Manhattan Magazine, Inc., 616 F.Supp. 370, 388 (S.D.N.Y. 1985): „An inquiry is not an ,assertion,‘ and accordingly is not and cannot be a hearsay statement.“; aff’d, 788 F.2d 3 (2d Cir. 1986); United States v. Wright, 343 F.3d 849 (6th Cir. 2003): „(…) a question is typically not hearsay because it does not assert the truth or falsity of a fact. A question merely seeks answers and usually has no factual content.“; United ­States v. Rodriguez-Lopez, 565 F.3d 312, 313 (6th Cir. 2009): „We do not even know whether the callers phrased their statements as declarations (,I want some heroin.‘), questions (,Can I get some heroin?‘), or commands (,Bring me some heroin.‘). But whate­ ver their grammatical mood, the statements are not hearsay because the government does not offer them for their truth. Indeed, if the statements were questions or commands, they could not – absent some indication that the statements were actually code for something else – be offered for their truth because they would not be assertive speech at all. They would not assert a proposition that could be true or false.“; United States v. Lewis, 902 F.2d 1176, 1179 (5th Cir. 1990): „The questions asked by the unknown caller, like most questions and inquiries, are not hearsay because they do not, and were not intended to, assert anything“. 369  United States v. Love, 706 F.3d 832, 840 (7th Cir. 2013) „rather, it was in the lan­ guage of Summers, ,designed to elicit information and a response.‘ (…) that sort of question is not hearsay“; siehe auch United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1300 (10th Cir. 2005). 370  Beispiel aus United States v. Love, 706 F.3d 832, 839 f. (7th Cir. 2013).

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Ob und wann durch eine Frage Informationen und damit Äußerungen (asser­ tion) übermittelt werden und ob eine entsprechende Absicht (intent) vorliegt, be­ schäftigt die US-amerikanische Rechtsprechung in zahlreichen Entscheidungen. Nahezu jeder Circuit Court musste sich mit dieser Thematik und mit den implied assertions bereits befassen. Dabei gelangen die Gerichte anscheinend zu parado­ xen Entscheidungen, weil es nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Frage „Hast du das Zeug bekommen?“ in United States v. Lewis372 oder „Hat Keith noch Stoff?“ in United States v. Long373 zwar nicht, die Frage „Wie habt ihr uns so schnell gefunden?“ in United States v. Summers374 aber sehr wohl hearsay evidence dar­ stellen soll. 371

b)  Die Entwicklung von Fragen und implied assertions anhand ausgewählter Rechtsprechung aa)  Wright v. Tatham In Bezug auf die „implied assertions“ kann man eine englische Entscheidung aus dem Jahr 1837 als wegweisend bezeichnen: Wright v. Tatham375. Auch wenn diese Entscheidung schon fast 200 Jahre zurückliegt, beschäftigt der common law background und damit der „Geist des alten Marsden“376 die US-amerikani­ sche Rechtsprechung auch heutzutage noch, da Baron Parke in dieser Entschei­ dung das erste Mal den Begriff „implied statements“377 verwendete. Die heutige Fassung der hearsay rule kann man nur verstehen, wenn man sich mit der histori­ schen Entwicklung der Reichweite der Vorschrift befasst. Wright hatte es vom Knecht zum Verwalter seines Gutsherrn Marsden ge­ bracht, der ihm testamentarisch einen Teil des Grundbesitzes vermachte. Sein gesetzlicher Erbe Tatham wollte jedoch das gesamte Erbe und zweifelte Marsdens Testierfähigkeit an. Um zu beweisen, dass der Erblasser im Vollbe­ sitz seiner geistigen Kräfte war, bot Wright verschiedene Briefe, die Dritte, die 371  Lexington Insurance v. Western Pennsylvania Hosp., 423 F.3d 318, 330 (3d Cir. 2005): „(…) questions and inquiries are generally not hearsay because the declarant does not have the requisite assertive intent, even if the question ,convey[s] an implicit message‘ or provides information about the declarant’s assumptions or beliefs.“ (Hervorhebung im Original). 372  United States v. Lewis, 902 F.2d 1176, 1179 (5th Cir. 1990). 373  United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1579 f. (D.C. Cir. 1990). 374  United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1293 (10th Cir. 2005). 375  Wright v. Tatham, 7 Adolphus & E. 313, 112 Eng. Rep. 488 (Exchequer Chamber, 1837), aff’d 5 Cl. & F. 559, 47 Rev. Rep. 136 (House of Lords, 1838); siehe auch die ausführ­ liche Darstellung bei McCormick on Evidence, S. 200 ff. 376  Beispielsweise Stoddard v. Maryland, 850 A.2d 406, 157 Md. App. 247 (2004). 377  Wright v. Tatham, 112 Eng. Rep. 488, 516 (Exchequer Chamber, 1837).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

inzwischen verstorben waren, zu Lebzeiten an Marsden geschrieben hatten, an. Die Briefe äußerten sich zwar nicht ausdrücklich zu der psychischen Verfassung ihres Empfängers, sie sollten aber aufgrund ihrer Schreibweise und ihres Inhalts – es ging um verschiedene geschäftliche und soziale Angelegenheiten – belegen, dass die Absender davon ausgingen, dass der Empfänger Marsden im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war, woraus auch die Testierfähigkeit gefolgert werden sollte. Die Absender der Briefe wollten über geschäftliche und soziale Angelegen­ heiten schreiben; sie hatten allerdings keinen intent, ihre Meinung zur Testier­ fähigkeit des Erblassers mitzuteilen. Das Gericht befand, dass es sich bei den Briefen um ein Äquivalent zum Beweis vom Hörensagen handelte, da aus den Briefen auf die Meinung einer dritten Person geschlossen werden sollte, deren Glaubwürdigkeit nicht überprüft werden konnte, so dass sie als Beweismittel un­ zulässig waren. Nach Wright v. Tatham wurden also auch implied assertions von der hearsay rule erfasst. Es ist aber schon fraglich, ob die Voraussetzungen der hearsay rule hier wirklich erfüllt waren, da die Briefe eben nicht zum Beweis der darin behaupteten Tatsachen bezüglich geschäftlicher und sozialer Angele­ genheiten dienten, sondern es um die Testierfähigkeit ging. Nach Ansicht des Gerichts muss sich der intent anscheinend auch auf das Beweisziel beziehen, das Gericht scheint eher von einer ergebnisorientierten Entscheidung, den Verwalter vom Erbe auszuschließen, motiviert worden zu sein. bb)  Entscheidungen des U.S. Supreme Court Ohne die implied assertions ausdrücklich zu behandeln, hatte sich auch der U.S. Supreme Court mit dieser Problematik schon in Krulewitch v. United ­States378 und Dutton v. Evans auseinanderzusetzen. (1) Krulewitch v. United States Krulewitch und eine Mittäterin (co-conspirator) hatten eine Frau veranlasst, der Prostitution nachzugehen und sie aus diesem Grund durch mehrere Bundes­ staaten gefahren.379 Nach Verhaftung aller drei Personen kam es zwischen den beiden Frauen zu einem Gespräch, über das die Prostituierte vor Gericht aus ihrer Erinnerung wie folgt berichtete: „[Die Mittäterin] fragte mich, (…) ,du hast noch nichts gesagt?‘ Und ich sagte ‚Nein‘ Und sie sagte ‚Also, tu’ es nicht‘ (…) ‚bis wir dir einen Anwalt besorgt haben.‘ Und dann sagte sie, ‚Sei vorsichtig, was du sagst.‘ Und ich kann nicht die genauen Worte wiedergeben. Aber sie sagte, ‚Es wäre besser für uns beiden Mädchen, die Schuld auf uns zu nehmen als Kay 378  379 

Krulewitch v. United States, 336 U.S. 440 (1949). Krulewitch v. United States, 336 U.S. 440 (1949).

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[Anm: der Angeklagte], weil er es nicht ausstehen könnte, er könnte es nicht aus­ stehen.‘“380 Bei der Einführung dieser Aussage in den Prozess ging es der Staatsanwalt­ schaft nicht um die ausdrückliche Behauptung dieser Aussage, nämlich nicht da­ rum, was Kay Krulewitch ausstehen könne und was nicht; sie wird also nicht zum Beweis der behaupteten Tatsache angeboten. Dennoch geht der U.S.  Su­preme Court davon aus, dass diese Aussage die Schuld des Angeklagten Krulewitch impliziert und behandelt sie als hearsay.381 Wenn man diese Entscheidung des U.S. Supreme Court konsequent umsetzen würde, dann würde nach diesem weiten Ansatz fast jedes Beweismittel der hear­ say rule unterfallen. Zwar könnte man auch vertreten, dass Fragen („Du hast noch nichts gesagt?“) und Aufforderungen („Also, tu’ es nicht!“) keine assertions sei­ en, aber hiermit setzt sich das Gericht gar nicht auseinander, sondern es prüft, ob durch die Mittäterin eine Ausnahme zur hearsay rule gegeben ist, die ja eigentlich erst zu prüfen ist, wenn es sich überhaupt erst einmal um hearsay handelt! Das Vorliegen einer Ausnahme wird im Ergebnis aber verneint. (2) Dutton v. Evans Die Problematik wird auch in einer weiteren Entscheidung des U.S. Supreme Court in Dutton v. Evans382 ansatzweise angesprochen. Als der Mitangeklagte, der neben Alex Evans wegen Mordes angeklagt war, nach der Verlesung der Mordanklage in seine Zelle zurückkehrte, fragte ihn ein Mithäftling, wie es vor Gericht gelaufen sei, woraufhin der Mitangeklagte sagte: „If it hadn‘t been for that dirty son of a bitch Alex Evans, we wouldn’t be in this now.“383 Den Inhalt dieser Aussage wiederholte der Mithäftling vor Gericht, was die Staatsanwaltschaft als circumstancial evidence anbot384, dass Alex Evans den 380  Krulewitch v. United States, 336 U.S. 440 (1949): „She asked me, she says, ,You didn’t talk yet?‘ And I says, ,No.‘ And she says, ,Well, don’t,‘ she says, ,until we get you a lawyer.‘ And then she says, ,Be very careful what you say.‘ And I can’t put it in exact words. But she said, ,It would be better for us two girls to take the blame than Kay (the defendant) because he couldn’t stand it, he couldn’t stand to take it‘“. 381 So ausdrücklich Krulewitch v. United States, 336 U.S. 440, 442 (1949): „The ­statement plainly implied that petitioner was guilty of the crime for which he was on trial. It was made in petitioner’s absence and the Government made no effort whatever to show that it was made with his authority. The testimony thus stands as an unsworn, out-of-court declaration of petitioner’s guilt.“ (Hervorhebung nicht im Original). 382  Dutton v. Evans, 400 U.S. 74, 77 (1970). 383  Dutton v. Evans, 400 U.S. 74, 77 (1970). 384  Bei einer zu wortwörtlichen Interpretation besteht häufig die Gefahr, dass Aussa­ gen die eigentlich unter die hearsay rule fallen, von den Gerichten häufig als circumstani­ cial evidence zugelassen werden.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Mord begangen hatte. Hier ging es nicht um die direkte Behauptung, dass Alex Evans ein schlechter Mensch sei oder dass der Mitangeklagte in der Klemme stecke, sondern aus der Äußerung der misslichen Lage des Mitangeklagten, für die er Alex Evans verantwortlich machte, sollte dessen Schuld gefolgert werden. Der U.S. Supreme Court deutet zwar an, dass dies möglicherweise unter die hear­ say rule falle, lässt dies aber offen, da die Confrontation Clause ohnhein nicht verletzt sei.385 Obwohl diese beiden Entscheidungen des U.S. Supreme Court, die im Übrigen vor der Einführung der Federal Rules of Evidence ergangen sind, die Thematik der implied assertions nicht ausdrücklich und schon gar nicht ausführlich behan­ deln, hatten sie dennoch Einfluss auf darauf folgende Entscheidungen, die die implied assertions ausdrücklich als hearsay behandeln. Hierzu zählen beispiels­ weise die Entscheidungen United States v. Pacelli, Park v. Huff, United States v. Reynolds und Lyle v. Koehler. Es gibt aber auch zahlreiche Entscheidungen, die diese Sichtweise ablehnen, so dass man die Rechtsprechung in zwei Lager einteilen kann. cc)  Implied assertions als hearsay evidence Es gibt einige Entscheidungen, die implied assertions als hearsay betrachten. Hier ist beispielsweise zunächst die Entscheidung United States v. Pacelli aus dem Jahr 1974 zu nennen, die vor Inkrafttreten der Federal Rules of Evidence erging.386 (1) United States v. Pacelli Auch in dieser Entscheidung wurden implied assertions unter Verweis auf Krulewitch v. United States als hearsay betrachtet.387 Pacelli wurde verurteilt, Patsy Parks, eine potentielle Zeugin in einem anderen Verfahren gegen den An­ geklagten, getötet zu haben. Parks war erstochen und ihre Leiche sodann ver­ 385  Dutton v. Evans, 400 U.S. 74, 88 (1970): „The confrontation issue arises because the jury was being invited to infer that Williams had implicitly identified Evans as the perpetrator of the murder when he blamed Evans for his predicament. But we conclude that there was no denial of the right of confrontation as to this question of identity. First, the statement contained no express assertion about past fact, and consequently it carried on its face a warning to the jury against giving the statement undue weight“. 386  Siehe auch Park v. Huff, 493 F.2d 923, 927 f. (5th Cir. 1974); rev’d on other grounds, 506 F.2d 849 (1975), cert. denied, 423 U.S. 824 (1975): Sofern die Möglichkeit besteht, dass der declarant einen bestimmten Eindruck vermitteln wollte, handele es sich auch bei im­ plied assertions um hearsay evidence, da das Risiko der Unaufrichtigkeit in diesen Fällen nicht ausgeschlossen sei; vgl. dazu auch Park, 74. Minn. L. Rev. 783, 808 (1990). 387  United States v. Pacelli 491 F.2d 1108 (2d Cir. 1974), cert. denied, 419 U.S. 826 (1974).

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brannt worden.388 Ein Mitarbeiter Pacellis, Lipsky, sagte über Äußerungen aus, die Angehörige und Freunde bei einem gemeinsamen Treffen unmittelbar nach der Verhaftung des Angeklagten gemacht hatten, nämlich dass Pacellis Frau ge­ sagt habe, dass Parks Leiche gefunden worden und Pacelli verhaftet worden sei389 und dass sein Onkel gesagt habe, „dass es eine Million Orte gibt, um eine Leiche zu entsorgen und dass man sie nicht anstecken und in einer menschenleeren Ge­ gend zurücklassen muss, damit sie von Leuten gefunden wird.“390 Zwar wurden diese Aussagen nicht als Beweis dafür angeboten, dass es eine Million Orte gibt, um eine Leiche zu entsorgen – und damit eigentlich nicht als Beweis der behaup­ teten Tatsache –, sehr wohl aber als Beweis dafür, dass die Angehörigen bei dem Treffen davon ausgingen bzw. wussten, dass Pacelli die Tat begangen hatte. Denn wenn die Angehörigen gewusst hätten, dass er unschuldig ist, hätten sie – so die Argumentation der Staatsanwaltschaft – nicht darüber gesprochen, dass der Mör­ der die Leiche an einer Stelle zurücklässt, an der sie einfach zu finden ist – was sie laut Staatsanwaltschaft ohnehin nur vom Täter wissen konnten –, sondern wohl eher darüber, dass Pacelli zu Unrecht verhaftet wurde.391 Das Gericht stuft Lipskys Aussage unter Verweis auf Krulewitch als hearsay ein und betont, dass das einzige Ziel war, zu zeigen, dass verschiedene Personen an Pacellis Schuld glaubten.392 Dabei stellt das Gericht heraus, dass – auch wenn bei den Angehörigen kein entsprechender intent bestand, mitzuteilen, dass Pacel­ li Park getötet hätte und somit die Gefahr der Unaufrichtigkeit minimiert wäre 388 

United States v. Pacelli, 491 F.2d 1108, 1110 (2d Cir. 1974). United States v. Pacelli, 491 F.2d 1108, 1111 (2d Cir. 1974). 390  United States v. Pacelli, 491 F.2d 1108, 1111 (2d Cir. 1974): „Lipsky testified that ,Frank Bassi was saying that there is a million places to put a body and you don’t have to burn it up and leave it laying right out in the middle of nowhere for people to find‘“. 391  United States v. Pacelli, 491 F.2d 1108, 1115 f. (2d Cir. 1974): „Indeed the govern­ ment frankly conceded this in its brief: ,The fact that Pacelli’s wife summoned Lipsky to the Bassis’ apartment is proof that she knew of his involvement with Pacelli in the murder. The fact that Pacelli’s wife, uncle, and close friends were discussing at that meeting that the murder had been bungled by leaving the body where it could easily be found – rather than that Pacelli had been remanded for something he had not done – is strongly indicative that they knew that Pacelli caused Patsy Parks’s death. (…) [T]he jury was entitled to conclude, from the close relationship to Pacelli of the persons at the February 10th meeting, that the source of their knowledge was Pacelli himself, since he was the only person besides Lipsky present at the commission of the crime“. 392  United States v. Pacelli, 491 F.2d 1108, 1115 (2d Cir. 1974): „The purpose of the evidence was to get before the jury the fact that various persons other than Lipsky, who had been closely associated with Pacelli, believed Pacelli to be guilty of having murdered Parks.“ und S. 1116: „Since the extra-judicial statements clearly implied knowledge and belief on the part of third person declarants not available for cross-examination as to the source of their knowledge regarding the ultimate fact in issue, i. e., whether Pacelli killed Parks, Lipsky’s testimony as to them was excludable hearsay evidence“. 389 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

– bei implied assertions gerade die Gefahr der Fehlinterpretation der Vorstellung des declarant bestehe.393 Nach der dissenting opinion handele es sich nicht um hearsay: Es gab keine Äußerung, dass Pacelli seinen Angehörigen erzählt hatte, dass er die Tat begangen habe, und es gab auch von den Angehörigen keine Äu­ ßerung in dieser Hinsicht.394 Die wegweisende Entscheidung in diesem Lager, also der leading case, ist zweifellos United States v. Reynolds mit der Äußerung „I didn’t tell them anything about you!“, in dem der 3d Circuit die Wright-Theorie bestätigt. (2) United States v. Reynolds Nachdem Reynolds versucht hatte, einen gestohlenen Scheck einzulösen, wurde er verhaftet. Die Postangestellten sagten aus, dass Reynolds nach seiner Verhaftung zu einer anderen Person, Parran, „Ich habe ihnen nichts von dir er­ zählt!“ gesagt hatte. Mit dieser Aussage wollte die Anklage die Verabredung zur gemeinsamen Begehung der Straftat (conspiracy) zwischen Reynolds und Parran beweisen und klagte auch letzteren an. Der 3d Circuit setzte sich ausführlich mit implied assertions auseinander und befand, dass es sich hierbei um hearsay handelte.395 393  United States v. Pacelli, 491 F.2d 1108, 1116 f. (2d Cir. 1974): „We consider it ir­ relevant, under Krulewitch, that the extra-judicial statements and conduct admitted in this case may not have been intended by those involved to communicate their belief that Pacelli murdered Parks. The government concedes that if Lipsky had testified that the various declarants (…) had told him at the (…) meeting that Pacelli had admitted to them his participation in the killing of Parks, the testimony would have been inadmissible hear­ say. W ­ hile the danger of insincerity may be reduced where implied rather than express asser­tion of the third parties are involved, there is the added danger of misinterpretation of the declarant’s belief. Moreover, the declarant’s opportunity and capacity for accurate perception or his sources of information remain of crucial importance. Here, for instance, there is no suggestion that the declarants actually observed Pacelli commit the crimes with which he was charged. Thus their extra-judicial implied assertions have even less indicia of reliability than the implied assertion involved in Krulewitch, which was held inadmissible. Pacelli was entitled to cross-examine the third party declarants in order to test the validity of the inference – which the government sought to have the jury draw – that he had told the declarants he had killed Parks.“. 394  Moore, Circuit Judge, dissenting, United States v. Pacelli, 491 F.2d 1108, 1121 (2d Cir. 1974). 395  United States v. Reynolds, 715 F.2d 99 (3d Cir. 1983); die Anklage behauptet, S. 102, die Aussage „was not offered for the truth of the matter asserted“; das Gericht betont auf S. 103: „(…) statements containing express assertions may also contain implied assertions qualifying as hearsay and susceptible to hearsay objections. This situation arises when ,the matter which the declarant intends to assert is different from the matter to be proved, but the matter asserted, if true, is circumstantial evidence of the matter to be proved. In this situation too, the statement is subject to a hearsay objection.‘ (…) The government argues that ,[t]he significance of the statement was that it was made.‘(…) Reynolds’ statement

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Es gehe nicht darum, dass Reynolds diese Äußerung gemacht hat und auch nicht um den ausdrücklichen Inhalt bzw. die ausdrückliche Bedeutung. Was der Betroffene sagen wollte, sei für das Verfahren nicht von Bedeutung, denn es gehe nicht darum, dass Reynolds nichts über Parran erzählt hätte, sondern vielmehr und ausschließlich darum, was durch die Aussage angedeutet werde, ja was aus ihr geschlossen werden solle: Aus der Äußerung „Ich habe ihnen nichts von dir erzählt!“ solle geschlossen werden, dass Parran an der Tat beteiligt gewesen und somit schuldig sei. Die Beweiskraft liegt hier nach Ansicht des Gerichts auf der Wahrheit der angenommenen Tatsache. In Reynolds wird auch ausdrücklich auf die Entscheidungen des U.S. Supreme Court in Dutton v. Evans und Krulewitch v. United States Bezug genommen und betont, dass gerade Dutton ein „klares Beispiel“ für die Ansicht des obersten Ge­ richtshofs sei, dass implied assertions hearsay darstellen können.396 is, however, ambiguous and susceptible to different interpretations. As the government uses it, the statement’s probative value depends on the truth of an assumed fact it implies. Unless the trier assumes that the statement implies that Reynolds did not tell the postal inspectors that Parran was involved in the conspiracy to defraud, even though Parran was in fact involved, the statement carries no probative weight for the government’s case. For if the trier assumes that the statement implied that Reynolds did not tell the postal inspectors that Parran was involved because there was nothing to tell, the statement has no relevance to the government’s case. Its only relevance to the government’s case is tied to an assumed fact of petitioner’s guilt that the government argues the utterance proves. Thus, depending on the interpretation given the content of Reynolds’ statement, it is either probative or not. Consequently, we believe that, as the government uses it, the statement’s relevance goes well beyond the fact that it was uttered. It is not merely intended to prove that Reynolds could speak, or that he could speak in English, or even that he directed a statement toward Parran. Instead, the government offers it to prove the truth of the assumed fact of defendant’s guilt implied by its content.“ sowie auf S. 104: „We cannot find any distinction of substance between Reynolds’ statement, ,I didn’t tell them anything about you,‘ and the co-conspirator’s statement: ,If it hadn’t been for that dirty (…) Alex Evans, we wouldn’t be in this now‘ ( Dutton); or ,It would be better for us two girls to take the blame than Kay (the defendant) because he couldn’t stand it, he couldn’t stand to take it‘ (Krulewitch). Like the statements in Dutton and Krulewitch, Reynolds’ statement in this case was not offer­ed for the purpose of proving its express meaning – that Reynolds did not say anything about Par­ ran. Rather it was offered for the implied assertion that Parran was involved in the crimes for which the two were charged and tried. Therefore, we hold that the statement here, like those in Dutton and Krulewitch, constitutes hearsay because it was introduced to prove its implied assertion of Parran’s guilt.“ (Hervorhebungen nicht im Original); siehe auch Krulewitch v. United States, 336 U.S. 440, 69 S.Ct. 716, 93 L.Ed. 790 (1949) und Dutton v. Evans, 400 U.S. 74, 91 S. Ct. 210, 27 L. Ed. 2d 213 (1970). 396  United States v. Reynolds, 715 F.2d 99, 104 (3d Cir. 1983): „Dutton is a clear in­ stance of the Supreme Court recognizing that a statement’s implied assertion can cons­ titute hearsay. Accordingly, we reject the government’s suggestion in this case that only a statement’s express assertion should be considered in deciding whether it constitutes hearsay“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

(3) Lyle v. Koehler In Lyle v. Koehler hatte Kemp aus der Untersuchungshaft Briefe an zwei poten­ tielle Zeugen geschrieben, in denen er die Zeugen, zwei Freunde von ihm, in Be­ zug auf ihre bevorstehende Aussage genauestens instruierte und sie aufforderte, ihm und seinem Mitangeklagten Lyle für die Tatzeit ein Alibi zu verschaffen.397 Gegen die Einführung dieser Briefe als Beweismittel in die Hauptverhandlung wandte sich Lyle. Daraufhin führt der 6th Circuit eine „konventionelle hearsay Analyse“398 durch und befindet mit einer zwei zu eins Mehrheit, dass es sich bei den Briefen um hearsay handele.399 Das Gericht betont, dass die Tatsache, dass Kemp Briefe verfasse, in denen er auf potentielle Zeugen einwirkt, zeige, dass er den bevorstehenden Prozess fürchte, woraus gefolgert werden könne, dass er an den Taten beteiligt gewesen sei und ein Alibi benötige.400 Das Gericht stellt fest, dass die Geschworenen nach dem Plan der Anklage aus den Briefen verschiedene Schlüsse ziehen werden, die auf die Schuld der Ange­ klagten hindeuten: „‚Wir brauchen ein falsches Alibi‘, weil wir keine Erklärung für unser Verhalten haben, die mit unser Unschuld vereinbar ist, weil ‚wir schul­ dig sind‘.“401 Dieser Schluss drängt sich geradezu auf, denn auf was sonst als auf die Schuld des Angeklagten Kemp soll aus den genauen Anweisungen in Bezug 397 

Lyle v. Koehler, 720 F.2d 426, 429 – 431 (6th Cir. 1983). Lyle v. Koehler, 720 F.2d 426, 432 (6th Cir. 1983): „conventional hearsay analysis“. 399  Merritt und Martin, Circuit Judges, sowie Porter, Senior District Judge, dissenting in Bezug auf hearsay, Lyle v. Koehler, 720 F.2d 426, 436 ff. (6th Cir. 1983). 400  Lyle v. Koehler, 720 F.2d 426, 432 f. (6th Cir. 1983) „Believing the alibi to be false, the prosecution obviously did not seek to introduce the letters in order to demonstrate the truth of the particular statements they contained. Rather, the government intended to have the jury infer from the statements that Kemp was attempting to obtain fabricated alibi tes­ timony, an act that revealed a ,guilty mind‘ on his part regarding the shootings. This guilty mind inference in turn invited the jury to infer Kemp’s substantive guilt. (…) Thus, in determining whether the letters constitute hearsay, we must decide whether the inferences that the government sought to elicit by introducing them should be included within the set of ,assertions‘ that the letters make. (…) Although we consider the question of the proper classification of the letters exceedingly close, we find that the inferences they necessarily invite form an integral part of the letters. They were introduced because by inference they assert the proposition of fact that Kemp and Lyle committed the robbery and hence need an alibi. Accordingly, we conclude that the letters are hearsay (…)“ (Hervorhebung nicht im Original). 401  Lyle v. Koehler, 720 F.2d 426, 432 f. (6th Cir. 1983): „Morgan would not arbitrarily cut the chain of inferences before the necessary conclusion is reached if the purpose of introducing a declaration is to have the jury infer from it the assertion of a final proposition of fact (e.g., (1) ,we need a false alibi,‘ because (2) ,we have no explanation of our conduct consistent with innocence‘ because (3) ,we are guilty‘). Under Morgan’s view, the infer­ ence of Kemp’s guilty mind, as reflected in the letters, is not severable from Kemp’s raw statements; the letters accordingly present a hearsay problem“. 398 

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auf die zu machende Aussage sowie die Aufforderung, den Brief zu zerstören, damit er nicht „in falsche Hände“ gerate, geschlossen werden?402 Aufgrund der engen Verbindung zwischen Lyle und Kemp, die sich unter an­ derem aus ihrer gleichzeitigen Verhaftung ergab, sollen die Geschworenen nach dem Willen der Anklage nicht nur auf die Schuld von Kemp, sondern auch auf die von Lyle schließen.403 Die Schuld der Angeklagten soll sich also implizit aus den Briefen ergeben, die somit hearsay darstellen. Diese Schlussfolgerung kritisiert Porter in seiner dissenting opinion und stellt fest, dass die Briefe zur Falschaus­ sage angestiftet hätten und Befehle sowie Anweisungen gerade kein hearsay dar­ stellen würden. Außerdem weist er darauf hin, dass es gerade nicht um die Wahr­ heit der in den Briefen geäußerten Behauptung gehe, was zu einer „Verwischung der Grenzen zwischen hearsay und circumstancial evidence“ führe.404 (4) United States v. McGlory Auch der 3d Circuit stellt in United States v. McGlory405 in Anknüpfung an United States v. Reynolds fest, dass es sich nicht mehr nur um circumstancial evidence handele, sondern die Grenze zum hearsay überschritten sein könne: McGlory und weitere Personen waren unter anderem wegen Drogenhandels an­ 402 

Lyle v. Koehler, 720 F.2d 426, 430 f. und 434 (6th Cir. 1983). Lyle v. Koehler, 720 F.2d 426, 434 (6th Cir. 1983). 404  Porter, Senior District Judge, dissenting, Lyle v. Koehler, 720 F.2d 426, 436 ff. (6th Cir. 1983): „The letters sought to obtain fabrication of testimony; they were thus orders or instructions. As such, the letters did not contain any ,express assertion of past fact,‘ Dutton v. Evans, 400 U.S. 74, 88, 91 S.Ct. 210, 219, 27 L.Ed.2d 213 (1970), susceptible to proof or disproof. Rather, as the majority notes, ,[b]elieving the alibi to be false, the pro­ secution obviously did not seek to introduce the letters in order to demonstrate the truth of the particular statements they contained.‘ (…) However, the majority has concluded that the letters are to be characterized as hearsay, even though appearing to concede that they were not offered for the truth of the matters they assert, rather, they have concluded that ,the inferences they necessarily invite form an integral part‘ of the documents. (…) Thus, the panel has concluded that the ,matter[s] asserted‘ by the letters included the inferences which the prosecutor wished the jury to draw from them; i.e., the very fact which made them relevant also rendered them hearsay. I cannot agree with the majority’s conclusion. (…) Finally, this Court has recently considered whether or not evidence of an individual’s instructions or requests to another constitutes hearsay, and concluded that it did not. (…) The crux of my difficulty with the panel’s position that the Kemp letters were hearsay is that by blurring the distinction between hearsay and circumstantial evidence, we are not only removing a valuable arrow from the prosecutor’s sling, but, I believe, extending the hearsay rule in a manner which is totally inconsistent with its fundamental purpose. Because the letters were not hearsay, the state was entitled to their introduction for what­ ever purpose it wished – including the inferences which the majority finds to have been engrafted to them. It is well established that false exculpatory statements may be used as substantive evidence of guilt“. 405  United States v. McGlory, 968 F.2d 309 (3d Cir. 1992). 403 

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geklagt. Die Polizei hatte bei einer Durchsuchung in seinem Müll Aufzeichnun­ gen und Notizen gefunden, durch die die Anklage als circumstancial evidence eine Verbindung zwischen den Personen herstellen wollte. Das Gericht betont, dass es sich zwar „technisch“ betrachtet nicht um eine assertion von McGlory handeln möge, dass die Aufzeichnungen aber genutzt werden, um die Schuld der Angeklagten zu implizieren, was dafür spreche, sie als hearsay zu betrachten.406 Nach dem 3d Circuit in United States v. Palma-Ruedas soll unter Verweis auf United States v. Reynolds sogar die Floskel „Schön, Sie kennenzulernen!“ unzulässigen Hörensagenbeweis darstellen, wenn daraus gefolgert werden soll, dass sich die beiden Personen zum ersten Mal treffen und bisher gerade nicht kannten.407 dd)  Implied assertions sind üblicherweise kein hearsay Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Entscheidungen, in denen implied as­ sertions nicht als hearsay behandelt werden. Als Grundsatzentscheidung ist hier zunächst United States v. Zenni408 zu nennen, in der ausdrücklich festgestellt wird, dass implied assertions keine assertion im Sinne der hearsay rule darstellen.409 (1) United States v. Zenni Bei einer Durchsuchung hoben die Polizisten das klingelnde Telefon ab und nahmen dabei von zahlreichen Anrufern Wetteinsätze wie „Setz zwei Dollar auf (…)!“ entgegen. Durch die Aussage der Polizisten sollte bewiesen werden, dass das Gebäude für illegales Glücksspiel genutzt wurde bzw. der Bewohner des Ge­ bäudes in illegale Geschäfte verwickelt ist. Das Gericht setzt sich in seiner Ent­ scheidung zunächst ausführlich mit der Behandlung von implied assertions im common law auseinander, um dann festzustellen, dass nach den Federal Rules of Evidence implied assertions „ausdrücklich von der Anwendung der hearsay rule ausgeschlossen“410 seien. Zum einen sei der Anruf in einem Wettbüro mit 406  United States v. McGlory, 968 F.2d 309, 332 (3d Cir. 1992): „This Court, however, has disfavored the admission of statements which are not technically admitted for the truth of the matter asserted, whenever the matter asserted, without regard to its truth value, implies that the defendant is guilty of the crime charged“. 407 United States v. Palma-Ruedas, 121 F.3d 841, 857 (3d Cir.1997); rev’d on other grounds, 526 U.S. 275, 119 S.Ct. 1239, 143 L.Ed.2d 388 (1999): „Statements offered to support an implied assertion are inadmissible hearsay“. 408  United States v. Zenni, 492 F.Supp. 464 (E.D.Ky 1980). 409  United States v. Zenni, 492 F.Supp. 464 (E.D.Ky. 1980). 410  United States v. Zenni, 492 F.Supp. 464, 469 (E.D.Ky 1980): „As an implied asser­ tion, the proffered evidence is expressly excluded from the operation of the hearsay rule by Rule 801 of the Federal Rules of Evidence (…)“ (Hervorhebung nicht im Original).

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den Worten „Setz zwei Euro auf (…)“ eine Aufforderung (direction), die weder wahr noch falsch sein könne;411 eine assertion müsse immer etwas positiv aus­ drücken412. Zum anderen komme es dabei, wie sich dem Hinweis des Advisory Committee entnehmen lasse, gerade auf den intent to assert an, der bei Anrufern in einem Wettbüro zur Platzierung einer Wette413 gerade nicht vorliege.414 In United States v. Perez stellte auch der 9th Circuit ausdrücklich fest, dass es sich bei implied assertions nicht um hearsay handele.415 Insgesamt folgte eine Vielzahl von Entscheidungen, bei der es fast immer um implied assertions im Rahmen von Anrufen wegen Wetteinsätzen oder wegen des Ankaufs von Drogen ging. (2) United States v. Long: „Hat Keith noch Stoff?“ Vor allem im Rahmen von Durchsuchungen wegen Drogenhandels und -be­ sitzes kommt es häufig – wie auch bei den Anweisungen für Sportwetten – vor, dass ein Polizist während der Durchsuchung das klingelnde Telefon abnimmt und der Anrufer den Polizisten als vermeintlichen Dealer nach Drogen fragt: So nahm auch ein Polizeibeamter in United States v. Long bei der Durchsuchung einer Wohnung den Hörer des klingelnden Telefons ab und eine unbekannte Frau­ enstimme fragte, ob „Keith“ da sei. Der Polizeibeamte antwortete, dass Keith beschäftigt sei, woraufhin die Anruferin fragte, ob Keith „noch Stoff“ habe.416 Auf die Nachfrage, was sie meine, gab die Anruferin eine Menge („a fifty“) an und der Polizist bejahte, dass diese Menge verfügbar sei. Die Anruferin fragte sodann, ob „Mike“ vorbeikommen könne, um den „fifty“ abzuholen, was der 411  United States v. Zenni, 492 F.Supp. 464, 466 Fn. 7 (E.D.Ky 1980): „Put 2$ to win on Paul Revere in third at Pimlico!“. 412  United States v. Zenni, 492 F.Supp. 464, 468 (E.D.Ky 1980). 413  Siehe zu den sog. verbal acts schon oben Kapitel C. II. 1. a) dd). 414  United States v. Zenni, 492 F.Supp. 464, 468 f. (E.D.Ky 1980) stellt schließlich fest: „(…) the utterances of the betters telephoning in their bets were nonassertive verbal con­ duct, offered as relevant for an implied assertion to be inferred from them, namely that bets could be placed at the premises being telephoned. The language is not an assertion on its face, and it is obvious these persons did not intend to make an assertion about the fact sought to be proved or anything else“. 415  United States v. Perez, 658 F.2d 654, 659 (9th Cir. 1981): „Perez’ verbal conduct acknowledging that the caller was Ruvalcaba, whether express or implied, was an implied assertion and admissible as nonassertive conduct under Federal Rule of Evidence 801(a), (c).“; dem Ergebnis zustimmend Wellborn, 61 Tex. L. Rev. 49, 84 (1982): „Perez seems to be a ,correct‘ application of the Committee’s definition“. 416  United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1579 f. (D.C. Cir. 1990): „The caller then ask­ ed if Keith ,still had any stuff.‘ The officer asked the caller what she meant, and the caller responded ,a fifty.‘“; vgl. auch United States v. Rodriguez-Lopez, 565 F.3d 312, 314 f. (6th Cir. 2009); siehe zum englischen Recht Spencer, Hearsay Evidence, S. 7.

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Polizist erneut bejahte. Der Polizist berichtete im Verfahren wegen Drogenhan­ dels über den Inhalt des Gesprächs, wogegen sich Keith Long wendet, da es sich hierbei um hearsay handele. Es wird zwar nicht ausdrücklich erklärt, aber aus dieser Frage kann wohl der eindeutige Schluss gezogen werden, dass Keith „Stoff“ hatte oder etwas allge­ meiner, dass er in Drogengeschäfte verwickelt ist. Der defendant war daher der Meinung, diese Formulierung beinhalte, unabhängig von ihrer Form als Frage eine implizierte Erklärung (implicit assertion), nämlich, dass „Keith Crack hat und dies verkauft“417. Das Gericht greift diese Kritik an ausdrücklichen und in­ direkten Erklärungen zwar auf418, betont aber zugleich, dass der entscheidende Unterschied sei, ob die Äußerung absichtlich oder unabsichtlich gemacht wurde – unabhängig davon, ob es sich um ausdrückliche oder implizierte bzw. still­ schweigende Äußerungen handele.419 Folglich stelle die Frage kein hearsay dar. Gerade im Zusammenhang mit Drogendelikten, aber auch mit anderen Straf­ taten haben in der Vergangenheit immer wieder Fragen eine Rolle gespielt, die Personen gestellt haben, als sie von der Polizei angerufen wurden, nachdem ihre Nummer zuvor auf am Tatort beschlagnahmten Piepern Alarm geschlagen hatte. In United States v. Lewis420 fragte die angerufene Person unmittelbar „Hast du das Zeug erhalten?“. Das Gericht stellt apodiktisch fest, dass implied assertions nicht von der hearsay rule erfasst seien.421 Fragen eines unbekannten Anrufers würden nichts ausdrücken und es liege auch kein intent vor, etwas auszudrü­ cken.422 Ähnlich wurde in United States v. Jackson entschieden, als die angerufene Frau fragte: „Bist du es, Kenny?“. Laut Gericht könne die Frage nicht – weder 417 

United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1579 (D.C. Cir. 1990). United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1579 f. (D.C. Cir. 1990): „While Long’s crit­ icism of a rigid dichotomy between express and implied assertions is not without merit (…)“. 419  United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1580 (D.C. Cir. 1990): „(…) the crucial dis­ tinction under rule 801 is between intentional and unintentional messages, regardless of whether they are express or implied. It is difficult to imagine any question, or for that matter any act, that does not in some way convey an implicit message. One of the principal goals of the hearsay rule is to exclude declarations when their veracity cannot be tested through cross-examination. When a declarant does not intend to communicate anything, however, his sincerity is not in question and the need for cross-examination is sharply di­ minished. Thus, an unintentional message is presumptively more reliable“. 420  United States v. Lewis, 902 F.2d 1176 (5th Cir. 1990). 421  United States v. Lewis, 902 F.2d 1176, 1179 (5th Cir. 1990). 422  United States v. Lewis, 902 F.2d 1176, 1179 (5th Cir. 1990): „The questions asked by the unknown caller, like most questions and inquiries, are not hearsay because they do not, and were not intended to, assert anything.“; vgl. auch United States v. Giraldo, 822 F.2d 205, 213 (2d Cir. 1987), cert. denied, 484 U.S. 969 (1989). 418 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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ausdrücklich noch konkludent – als beabsichtigte Behauptung (intended asser­ tion) ausgelegt werden, so dass es sicht nicht um hearsay handele.423 Es sei zwar möglich, dass die Äußernde (declarant) angenommen habe, der Pager befinde sich im Besitz von Kenny und er sei deshalb auch derjenige, der durch den An­ ruf auf ihre Nachricht auf dem Pager antworte, aber die bloße Tatsache, dass sie diese Annahme durch ihre Frage mitteilt, mache ihre Äußerung nicht zum hearsay: Entscheidend sei nämlich, ob die – ausdrückliche oder konkludente – Äußerung absichtlich abgeben wurde, was vorliegend nicht der Fall sei (intended to assert).424 Es handele sich um eine unverfängliche und mehrdeutige Frage.425 (3) United States v. Summers: „How did you guys find us so fast?“ Interessanterweise hat sich der 10th Circuit 2005 in United States v. Summers426 für die Frage „How did you guys find us so fast?“ anders entschieden: In gewissen Ausnahmefällen kann eine bestimmte Frage durchaus hearsay sein. Diese Entscheidung wird hier dargestellt, um sie von den Entscheidungen in Unit­ ed States v. Jackson und United States v. Long abzugrenzen, mit denen sich das Gericht auch befasste. Den Polizisten war ein gestohlenes Fahrzeug aufgefallen, das sie daraufhin kontrollierten, wobei sie im Inneren des Fahrzeugs verschiedene Gegenstände wahrnahmen, die auf einen Banküberfall hindeuteten. Bei der Abtastung eines Verdächtigen nahm ein Polizeibeamter einen harten Gegenstand wahr, den er für eine Waffe hielt, und fragte, was dies sei, woraufhin der Beschuldigte antwortete: „Was glauben Sie? Das Geld aus der Bank.“427 Als der Polizeibeamte den Beschul­ digten sodann nach Abschluss der Durchsuchung zum Streifenwagen brachte, fragte jener: „Wie habt Ihr uns so schnell gefunden?“428 Als der Polizeibeamte vor Gericht diese Aussagen wiederholte, rügte der Mitangeklagte dies als unzulässig, weil es sich um hearsay handele. Während die erste Instanz den Beweis zuließ, wird er vom 10th Circuit ausgeschlossen. 423  United States v. Jackson, 88 F.3d 845, 848 (10th Cir. 1996): „The question, ,Is this Kenny?‘ cannot reasonably be construed to be an intended assertion, either express or implied. (…) Rather, the important question is whether an assertion was intended. We find it hard to believe in this case that the declarant intended to assert that Mr. Jackson was in possession of the pager and that he was responding to her call“. 424  United States v. Jackson, 88 F.3d 845, 848 (10th Cir. 1996). 425  United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1300 (10th Cir. 2005) „innocuous and ambiguous question in Jackson“. 426  United States v. Summers, 414 F.3d 1287 (10th Cir. 2005). 427  United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1293 (10th Cir. 2005): „What do you think? It’s bank money“. 428  United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1293 (10th Cir. 2005): „How did you guys find us so fast?“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Zunächst analysiert das Gericht die Entscheidungen United States v. Jackson und United States v. Long und betont, dass diese gerade nicht der Möglichkeit entgegenstehen, dass eine Erklärung in Form einer Frage eine Behauptung (asser­ tion) darstellt.429 Während es sich in United States v. Jackson um eine unverfäng­ liche und mehrdeutige Frage handele, durch die Informationen und eine Antwort entlockt werden sollten – und gerade nicht die Beteiligung des Angeklagten an einer Straftat behauptet werden sollte –, gehe es bei der Frage in United States v. Summers um die Bekanntgabe von Schuld und Verwunderung darüber, dass die Polizei die Täter so schnell ermitteln konnte. Es sei leichtgläubig anzunehmen, der Angeklagte habe die Frage lediglich gestellt, weil er sich für die modernen Er­ mittlungsmethoden der Strafverfolgungsbehörden interessiere.430 Die Frage ent­ halte vielmehr eine beschuldigende Behauptung (inculpatory assertion),431 wes­ halb die Absicht des Angeklagten, eine Behauptung abzugeben, eindeutig sei.432 Dass dies wirklich so eindeutig ist, darf aber durchaus bezweifelt werden, denn es ist mehr als fraglich, ob es wirklich um die Bekanntgabe von Verwunderung und Schuld geht. Zwar interessiert sich der Verdächtige nicht wirklich für mo­ derne Ermittlungsmethoden der Strafverfolgungsbehörden, er möchte aber doch wohl durch seine Äußerung keine beschuldigende Behauptung im Sinne von „Ja, ich war es!“ abgeben. Denn schließlich ist aufgrund der Klarheit der Situation – gestohlenes Fahrzeug, Geld aus der Bank – offensichtlich, dass er an einer Straf­ tat beteiligt gewesen ist. Der Beschuldigte möchte doch vielmehr, wenn nicht gar ausschließlich, zum Ausdruck bringen „Oh wow, ich bin verwundert, wie schnell ihr uns gefunden habt!“. Dies ist die intended assertion und es sind nicht irgend­ welche Angaben zu Schuld oder Unschuld. Man könnte meinen, dass das Gericht aufgrund der zahlreichen belastenden Beweise diese Frage lieber ausschließen wollte, um ein revisionsfestes Urteil zu fällen, so dass es auf die Frage gar nicht mehr ankam. Diese Entscheidung stellt jedenfalls eine absolute Ausnahme dar und brachte keineswegs die große Wende, wie eine darauffolgende Entscheidung, United States v. Love433, zeigt. Der 7th Circuit setzt sich zwar mit der Summers-Entscheidung auseinander, betont aber, dass es sich bei der Frage, ob man mit einer bestimmten Person verabredet sei, 429 

United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1299 f. (10th Cir. 2005). States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1300 (10th Cir. 2005): „It begs credu­ lity to assume that in positing the question Mohammed (Anm: einer der Angeklagten) was exclusively interested in modern methods of law enforcement, including surveillance, communication, and coordination“. 431  United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1300 (10th Cir. 2005). 432 United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1300 (10th Cir. 2005): „(…) question clearly contained an inculpatory assertion. (…) the statement intimated both guilt and won­ derment (…) we hold that Mohammed’s intent to make an assertion was apparent“. 433  United States v. Love, 706 F.3d 832 (7th Cir. 2013). 430  United

II.  Die Definition von hearsay evidence

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nicht um hearsay handele, weil der Fragende nicht beabsichtigte, eine Behaup­ tung abzugeben (was not intended to be an assertion). Durch die Frage wolle er nichts offenbaren, sondern es handele sich lediglich um eine Frage, die darauf ge­ richtet sei, Informationen zu entlocken oder eine Antwort zu erhalten, und solche Fragen stellten gerade keine assertion dar.434 ee)  Ist eine weite Auslegung des Begriffs „assertion“ vorzugswürdig? Nur in wenigen Ausnahmefällen soll auch beim Stellen einer Frage ein ent­ sprechender intent und damit eine assertion vorliegen. Wann eine solche Aus­ nahme vorliegt, lässt sich nicht kategorisieren und soll von den Umständen des Einzelfalls abhängen. Der Standpunkt der Rechtsprechung erscheint insgesamt wenig überzeugend, da es sich in den dargestellten Fällen keineswegs um unver­ fängliche und mehrdeutige Fragen handelt. (1) Der Begriff „assertion“ Probleme des Hörensagenbeweises sind in erster Linie sprachliche Proble­ me,435 was hier besonders deutlich wird: Was bedeutet der Begriff assertion, der für die Bestimmung von hearsay so wesentlich, im Gesetz aber nicht definiert ist? Dass die Rechtsprechung bei Fragen fast ausnahmslos die assertion verneint, hängt damit zusammen, dass sie den Begriff „(to) assert“ sehr eng auslegt und auf die offensichtliche Bedeutung der Äußerung abstellt. Im Deutschen wird das Wort „assertion“ in der Regel mit „Behauptung“ und das Verb „to assert“ mit „behaupten“ übersetzt. Einen Anhaltspunkt für eine enge Auslegung kann hier, wenn überhaupt, nur das Adjektiv „assertive“, das ener­ gisch, bestimmt und rechthaberisch bedeutet436, bieten. Es stellt sich also das Pro­ blem, ob man wirklich nur von assertion sprechen kann, wenn man in Anlehnung an energisch oder mit Nachdruck etwas direkt behauptet oder ob nicht vielmehr auch Fragen und Anweisungen eine assertion darstellen können. In den heutigen englischsprachigen Wörterbüchern wird der Begriff mit „to state or express po­ sitively“437 umschrieben. Hierauf wird auch in United States v. Summers Bezug genommen: „,Assert‘ is generally defined as ,to state or declare positively and 434  United States v. Love, 706 F.3d 832, 840 (7th Cir. 2013) mit Verweis auf Summers: „Rather, it was in the language of Summers, ,designed to elicit information and a res­ ponse.‘ (…) that sort of question is not hearsay“. 435  So ausdrücklich auch Kirgis, 43 Wm. & Mary L. Rev. 275, 275 (2001): „Hearsay problems are language problems“. 436  Duden Oxford zu „assertive“: „energisch (Person); bestimmt (Ton, Verhalten); fest (Stimme); (dogmatic) rechthaberisch“. 437  Siehe nur American Heritage Dictionary „assert“, S. 107.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

often forcefully or aggressively‘ or ,to demonstrate the existence of.‘“438, wenn­ gleich in dieser Entscheidung aus der Form der Äußerung als Frage („How did you guys find us so fast?“) eine assertion nicht automatisch verneint wurde. Die Rechtsprechung versteht den Terminus also nur im Sinne von positiv ausdrücken oder ausdrücklich erklären439 und legt den Begriff somit sehr eng aus. Aufgrund dieses engen Verständnisses betrachtet die Rechtsprechung Fragen und Anwei­ sungen (imperative statements) häufig nicht als assertion, weil diese nicht direkt bzw. unmittelbar etwas erklären. Sachgerechter erscheint aber eine weite Auslegung.440 Zu Recht wird in der Lite­ ratur darauf hingewiesen, dass der Begriff aus dem common law stammt und auch dort sehr weit verstanden wurde, nämlich ohne etwas positiv oder besonders stark zu betonen.441 Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei Erlass der hearsay rule, diesen Begriff, der in Fed. R. Evid. 801(a) dreimal genannt wird, beschränken oder ändern wollte, zumal auch der in die Norm übernommene Begriff des truthof-the-matter-asserted dem common law442 entstammt. Der Terminus der assertion scheint vom Gesetzgeber primär gewählt worden zu sein, um die Anwendung der hearsay rule auf solche Fälle zu beschränken, bei denen ein entsprechender intent, sich überhaupt zu äußern, vorlag. Der Begriff des state­ments soll durch den Ter­ minus assertion also gerade auf absichtliche Äußerungen beschränkt werden.443 Man kann also, was von einer Mindermeinung im Schrifttum vertreten wird,444 den Begriff (to) assert auch weiter fassen, in dem Sinne „zu sagen, dass etwas so ist“, nämlich dass ein Geschehen stattgefunden hat oder eine Bedingung existiert445. Sowohl Aussagen als auch Fragen können als statements im Sinne der hearsay rule betrachtet werden, weil durch beide Formen der Kommunikation Ideen und Informationen absichtlich ausgedrückt werden.446 Man könnte also den 438  United States v. Summers, 414 F.3d 1287, 1299 (10th Cir. 2005) mit Verweis auf Webster’s Ninth New Collegiate Dictionary 109 (1991). 439  United States. v. Lewis 902 F.2d 1176, 1179 (5th Cir. 1990): „While ,assertion‘ is not defined in the rule, the term has the connotation of a positive declaration.“; siehe auch die Darstellung bei McCormick on Evidence, S. 184 „to state positively or strongly“ m. w. N. zur Rspr. 440  So auch Mueller/Kirkpatrick, S. 741: „Construing ‚assertion‘ to exclude questions and commands wrongly limits is meaning“. 441  Mueller/Kirkpatrick, S. 740. 442  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 806 (1990) ,dort auch Fn. 111 m. w. N. 443  Mueller/Kirkpatrick, S. 740. 444  Fenner, Hearsay Rule, S. 11; eingehend Fenner, 62 UMKC L. R., 1, 72 ff. (1993); Mueller/ Kirkpatrick, S. 740; siehe auch die Dartsellung bei McCormick on Evidence, S. 184 f. 445  McCormick on Evidence, S. 184: „(…) the word simply means to say that some­thing is so“. 446  So ausdrücklich auch Mueller/Kirkpatrick, S. 739: „(…) even questions or com­ mands make claims about events and conditions (…) And such utterances express and

II.  Die Definition von hearsay evidence

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missverständlichen Begriff der assertion im Gesetz durch verbal expression bzw. communication ersetzen.447 (2) Gründe für eine weite Auslegung des Begriffs „assertion“ und deren Folgen Es handelt sich in den dargestellten Fällen keineswegs um unverfängliche, mehrdeutige Fragen, sondern Fragen können durchaus wesentliche Informatio­ nen übermitteln. Dies wird durch eine zu enge Auslegung des Begriffs der asser­ tion, die Fragen gerade nicht als hearsay betrachtet, verkannt. Vor allem bei sarkastischen Fragen – wie auch bei Fragen, die mit „Wusstest du, dass (…)?“ oder „Warum (…)?“ beginnen448 – wird recht deutlich, dass sie etwas ausdrücken und assertive sind, was sich am folgenden Beispiel verdeutli­ chen lässt: Wenn ein Interessent die Frage stellt, ob es sich um pures Heroin han­ dele, und der Dealer antwortet: „Tragen alle Polizisten blau?“ („Do all cops wear blue?“), so wird kaum jemand bestreiten, dass es sich hier um hearsay handelt, da der Dealer einen entsprechenden intent hat.449 Im Allgemeinen erkennen allerdings nur wenige Gerichte die Problematik und wollen für die assertion nicht einfach auf die bloße Form der Äußerung als Frage, sondern neben der Tatsache gerade auch auf weitere Faktoren, nämlich die Natur der Frage und die Umstände abstellen.450 Die Mehrheit der Gerichte sieht dies aber anders: So betont auch das Gericht in Stoddard v. State451, dass eine assertion nur aus einem deklarativen Satz im Modus des Indikativs bestehen könnte. Dies communicate ideas, quite apart from whatever concrete facts they convey. Hence they should be viewed as ,statements‘ for purposes of the hearsay doctrine“; diese Ansicht wird von United States v. Love, 706 F.3d 832, 840 (7th Cir. 2013) ausdrücklich abgelehnt, siehe dort auch w. N. zur Rspr. 447  So schon Wellborn, 61 Tex. L. Rev. 49, 92 (1983) mit einem Reformvorschlag zu Fed. R. Evid. 801(a): „A ,statement‘ is (1) an oral or written assertion verbal expression or (2) nonverbal conduct of a person, if it is intended by him as an assertion a communica­ tion.“ (Hervorhebungen im Original). 448  Stoddard v. State, 157 Md. App. 247, 269 (Md. Ct. Spec. App. 2004); aus anderen Gründen aufgehoben (reversed) durch Stoddard v. State, 887 A.2d 564 (Md. 2005). 449  Beispiel von Bacigal, 11 S. Ill. U. L. J. 1127, 1139 (1987). 450  So jedenfalls Ex Parte Hunt, 744 So. 2d 851, 857 (Ala. 1999): „Thus, we conclude that whether a question is a ,statement‘ for purposes of Rule 801(a), Ala. R. Evid., depends upon the nature of the question, the circumstances surrounding the question, and the fact sought to be proved by offering the question“. 451  Stoddard v. State, 850 A.2d 406, 411; 157 Md. App. 247, 257 (2004): „At the most basic level, under both the common law and the new Federal and Maryland Rules, a hear­ say statement consisted routinely of the speaking of a declarative sentence in the indicative mood (…)“; aus anderen Gründen aufgehoben (reversed) durch Stoddard v. State, 887 A.2d 564 (Md. 2005).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

mag zwar grundsätzlich so sein, aber selbst dort erkennt das Gericht Ausnahmen an. Ähnlich formuliert es das Gericht in Holland v. State, indem es hervorhebt, dass „assertions grundsätzlich im Indikativ und in der Aussageform“ und nicht „in der Frageform, Befehlsform oder im Konjunktiv“ bestehen.452 Dies ist viel zu formalistisch. Zum einen ist zu beachten, dass Sprache vielseitig und komplex453 ist: Auch Fragen enthalten nicht nur eine interrogative, sondern meistens auch eine deklaratorische Komponente. Zum anderen hängt es oft lediglich vom Zu­ fall ab, ob eine Frage, eine Aussage oder ein Ausruf vorliegt, wie die folgenden Beispiele zeigen: Jemand überschreitet die zulässige Höchstgeschwindigkeit wesentlich und fährt jemanden an, der daraufhin verstirbt. Nach dem Unfall steigen der Fah­ rer und sein Beifahrer aus, woraufhin der Beifahrer den Fahrer anschreit: „Wie oft habe ich dir gesagt, ras’ nicht so?“. Im Verfahren wegen fahrlässiger Tötung macht der Angeklagte keine Angaben, der Beifahrer kann als Zeuge nicht mehr vernommen werden. Können nun umstehende Zeugen, die zwar nicht den Mo­ ment des Unfalls, wohl aber das Geschehen danach beobachtet haben, als Zeugen vernommen werden? Es kann doch keinen Unterschied machen, ob der Beifahrer emotionsgeladen schreit: „Immer rast du so!“, oder besonnen sagt: „Du bist zu schnell gefahren“, oder ob er seine Aussage als Frage: „Warum rast du immer so?“ oder „Wie oft habe ich dir schon gesagt, ras’ nicht immer so?“ formuliert, denn die inhaltliche Aussage ist in allen Konstellationen dieselbe, nämlich dass der Fahrer viel zu schnell gefahren ist. Genauso gut könnte der Beifahrer eine Aussage treffen und diese mit einer Frage abschließen: „Du warst zu schnell. Warum?“ oder direkt fragen: „Warum warst du zu schnell?“. Es erscheint absurd, die Frage zur Zulässigkeit des Beweismittels an die grammatikalische Einbettung der Aussage zu knüpfen.454 Das Beispiel zeigt aber, dass die inhaltliche Aussage – unabhängig von ihrer grammatikalischen Form – immer dieselbe ist: Sie ent­ hält die Botschaft, dass der Fahrer zu schnell war und stellt somit eine assertion dar. Zwar kann es auch Fragen geben, die rein gar nichts ausdrücken, wie bei­ spielsweise die Frage „Wie spät ist es?“ – abgesehen davon, dass der Fragende unbewusst mitteilt, dass er keine Uhr hat –, es gibt aber durchaus auch Fragen, die etwas ausdrücken. Genauso kann es keinen Unterschied machen, ob jemand wie in United States v. Lewis fragt, „Hast du das Kokain erhalten? Wann zahlst du?“ („Did you get the 452  Holland v. State, 713 A.2d 364, 369 f., 122 Md. App. 532 (1998): „For an out-ofcourt utterance to qualify as an assertion, it generally must be in the indicative or declara­ tive mood, rather than in the interrogative mood, the imperative mood, or the subjunctive mood. An out-of-court assertion of a fact may be true or untrue. For that reason, its admis­ sibility in evidence is problematic if offered to prove that fact“. 453  Sehr kritisch und anschaulich dazu auch Mueller/Kirkpatrick, S. 741. 454  Ähnlich kritisch auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 796 (1990).

II.  Die Definition von hearsay evidence

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stuff?“) oder ob er ausdrücklich sagt „Du hast das Kokain erhalten, bezahle es bitte!“455. Die erste Frage enthält eine implizierte Äußerung (implicid assertion), dass es um die Lieferung von Kokain geht, was ziemlich eindeutig ist. Aus der Frage kann man die Schlussfolgerung ziehen, dass der Fragende die Lieferung entweder verkauft hat oder zumindest dem Lager des Verkäufers angehört und dass der Gefragte der Käufer der Drogen ist und eine Lieferung Drogen erhal­ ten hat oder bald erhalten wird. Die Frage „Wann zahlst du?“ bringt doch recht eindeutig zum Ausdruck, dass der Verkäufer sein Geld haben möchte, und es macht auf der Mitteilungsebene keinen Unterschied, ob er dies nun als Aussage oder höflichkeitshalber als Frage formuliert: In beiden Konstellation möchte der Verkäufer (schnellstmöglich) sein Geld. Dieser grammatische Unterschied, der in Einzelfällen durch die bloße Höflichkeit begründet sein kann, kann keine unter­ schiedliche Behandlung rechtfertigen. Ein Anrufer, der wie in United States v. Long fragt, ob Keith noch Stoff habe, bringt nicht nur absichtlich zum Ausdruck, dass er Stoff kaufen will, sondern auch, dass Keith solchen Stoff hat oder nun zumindest eine Lieferung erwartet und jenen verkauft. Wenn der Anrufer dies nicht annähme, würde er wohl kaum bei Keith anrufen; und durch seine Frage bringt er dies auch willentlich nach außen zum Ausdruck – wenn auch nur mittelbar. Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Frage doch gerade zum Ausdruck bringt, dass Keith in der Vergangenheit Stoff hatte, was ja auch gerade der Grund dafür ist, dass die Frage ins Verfahren eingeführt wird (offered to prove).456 Nach Ansicht der Rechtsprechung ist aber nicht entscheidend, ob etwas aus­ drücklich oder stillschweigend erklärt wird, sondern ob ein entsprechender in­ tent, etwas mitzuteilen, vorliegt, was bei implied assertions gerade nicht der Fall sei457 und folgende Konsequenzen hat: Vernimmt ein Polizist einen Anrufer und fragt diesen, ob Xs Haus ein Wettbüro oder Drogenumschlagsplatz sei, und der Zeuge antwortet: „Sie wissen, wie viele Leute heutzutage gerne spielen!“ oder „Sie wissen, wie viele Leute heutzutage gerne einen durchziehen!“, stellt dies hearsay dar: Obwohl der Zeuge nicht ausdrücklich sagt, dass das Gebäude für Glücksspiel oder Drogenhandel genutzt wird, hat er dennoch einen entsprechen­ den intent, die ihm gestellte Frage mit ja zu beantworten.458 Allerdings sollen Anrufe von Leuten, die ihre Wetten platzieren wollen, nicht absichtlich die Behauptung „Xs Haus wird für Glücksspiel oder Drogenhandel missbraucht“ oder „Xs Haus ist ein Wettbüro oder Drogenumschlagsplatz“ ab­ geben. Dies könne zwar aus dem Anruf gefolgert werden, Schlussfolgerungen 455 

So auch Fenner, 62 UMKC L. Rev. 1, 72 ff. (1993). Fenner, 62 UMKC L. R., 1, 74 (1993). 457  United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1580 (D.C. Cir. 1990). 458  Beispiel von Lilly/Capra/Saltzburg, S. 150. 456 So

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

fallen aber nach herrschender Meinung nicht als hearsay unter Fed. R. Evid. 801, weil die entsprechende Absicht (intent), eine solche Erklärung abzugeben, feh­ le.459 Entscheidend sei der testimonial intent, der bei den Anrufern nicht vorge­ legen haben soll, da es ihnen nur darum ging, Drogen zu kaufen oder Wetten zu platzieren, und nicht darum zu behaupten, dass X in der Vergangenheit bereits Drogen verkauft habe oder ein Drogendealer sei oder dass X in der Vergangenheit Wetteinsätze angenommen habe oder ein Wettanbieter sei. Friedman verdeutlicht dies durch zwei Beispiele: Wenn man etwas äußert und davon ausgeht, dass das Gegenüber die Äußerung ohnehin als wahr betrachtet, „Ich möchte Drogen von Kearly kaufen (du und ich, wir wissen beide, so dass ich es dir nicht zu sagen brauche, dass er ein Drogendealer ist)“, soll dies – mangels intention to assert – nicht in den Anwendungsbereich der hearsay rule fallen.460 Wenn es aber darum geht, der anderen Seite die Wahrheit der Behauptung mitzu­ teilen – „Ich möchte Drogen von Kearly kaufen (der, wie du möglicherweise nicht wusstest, ein Drogendealer ist, so dass ich es dir erzähle)“ –, dann soll es sich um Hörensagen im Sinne der Federal Rules of Evidence handeln.461 Der Betreffende müsse also die Absicht haben, die Wahrheit mitzuteilen (convey). Es wird häufig kritisiert, dass nahezu jede Äußerung etwas andeutet, ja eine Frage oder Äußerung gar nicht denkbar sei, ohne zugleich irgendeine stillschwei­ gende Botschaft zu enthalten (implicit message).462 Mueller betont, dass jemand, der „Let’s sit down and talk“ (Wright) oder „I want to buy drugs, let’s come to terms“ sagt, gerade nicht tatsächlich gemeint habe, „John Marsden, you are competent“ oder „Robert Kearley, you deal drugs“. Dies sei kein „implied state­ ment“, sondern vielmehr eine indizierte Schlussfolgerung (indicated conclusion). Die Folge wäre, wie Mueller darlegt, dass nicht nur implied assertions im engeren Sinne unter die hearsay rule fallen würden, sondern nahezu jede Schlussfolge­ rung (every conclusion), die durch das statement angedeutet wird, was zu einer Überdehnung der hearsay rule führe. Es gehe hier vielmehr um Annahmen und Vermutungen (assumptions), die also keine assertion im Sinne der hearsay rule 459  Das Gesetz legt also einen intent test bzw. ein „literalist model“ zugrunde, Begriff von Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75, 79 (1995). 460  Friedman, 16 Miss. C. L. Rev. 87, 91 (1995). 461  Friedman, 16 Miss. C. L. Rev. 87, 91 (1995). 462  United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1580 (D.C. Cir. 1990): „It is difficult to imag­ ine any question, or for that matter any act, that does not in some way convey an implicit message.“, dort m. w. N.; Mueller, 16 Miss. C. L. Rev. 117, 121 (1995): „Because of the conventions of idiomatic speech, every statement (almost every one) implies something in the strong sense that the speaker means to express or communicate a point that lies beyond the literal meaning of her words or differs slightly from it.“ Ähnlich auch Mueller/Kirkpatrick, S. 739 f., die sich allerdings dafür aussprechen, Fragen als statements im Sinne der hearsay rule zu behandeln.

II.  Die Definition von hearsay evidence

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darstellen würden, aber dennoch für die Entscheidung von Bedeutung sein könn­ ten.463 Diese Sichtweise erscheint als zu eng. In Wright v. Tatham ging es den Absen­ dern der Briefe primär darum, über geschäftliche und soziale Angelegenheiten zu schreiben; sie mögen zwar keinen intent haben, ihre Meinung zur Testierfä­ higkeit des Erblassers ausdrücklich mitzuteilen. Die Frage ist aber doch, was der Äußernde annimmt, wovon er ausgeht. Und warum soll nur eine direkte Aussage eine assertion enthalten? Es müssen doch vielmehr auch der Kontext und die Um­ stände, in denen die Aussage erfolgt, betrachtet werden.464 Die Anrufer in Regina v. Kearley und United States v. Zenni sagen eine ganze Menge aus: Zunächst wäre es die Gemütsverfassung der Anrufer, Drogen kaufen oder Wetteinsätze platzieren zu wollen. Hinzu käme der Glauben oder die Mei­ nung, Kearley/Zenni oder wie auch immer die angerufene Person heißen mag, würde dem Anrufer Drogen verkaufen oder Wetteinsätze annehmen sowie fer­ ner die Meinung des Anrufers, Kearly sei ein Drogenhändler oder Zenni sei ein Wettanbieter, weil er in der Vergangenheit Drogen verkauft oder Wetten ange­ nommen habe. Darüber hinaus werden weitere Tatsachen ausgedrückt, nämlich dass das Grundstück für den Drogenhandel oder für Wettspiele genutzt werde und dass es einen entsprechenden Markt gebe, Drogen von Kearly zu kaufen oder Wetten bei Zenni zu platzieren.465 Und nur um dies zu beweisen, sind die Aussa­ gen in den Prozess eingeführt worden. ff)  Mixed acts: performative und assertive Komponente Laut Mueller/Kirkpatrick können implied assertions häufig eine vollziehende (performative) und eine erklärende (assertive) Komponente enthalten, wobei fol­ gende Faustregel gelten soll: Wenn die vollziehende Komponente die erklärende überwiegt, soll es sich nicht um hearsay handeln, wohl aber dann, wenn die erklä­ rende Komponente die vollziehende überwiegt. Obwohl man auf den ersten Blick meinen könnte, dies sei eine sachgerechte Differenzierung, stellen sich doch bei genauerer Betrachtung Abgrenzungsschwierigkeiten, da die Grenzen häufig flie­ 463 

Mueller, 16 Miss. C. L. Rev. 117, 121 (1995). auch Stoddard v. State, 157 Md. App. 247, 276 (Md. Ct. Spec. App. 2004); aus anderen Gründen aufgehoben (reversed) durch Stoddard v. State, 887 A.2d 564 (Md. 2005): „An assertive utterance need not state directly the thing that the declarant intends to assert. It may imply it. It may be in the form of a question, a command, a bit of sarcasm, a statement of something else. The implied assertion may be just as assertive as is a di­ rect assertion. Only the communicative style or rhetorical flourish is different. The thing direct­ly inferred from the words spoken, the thing the declarant intended to communicate, is, by definition, the implied assertion“. 465  Alle Beispiele von Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75, 76 (1995), die diese auf Beweisre­ levanz in Regina v. Kearley untersucht. 464  Siehe

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

ßend verlaufen: Selbst nach Mueller/Kirkpatrick könnte bei den Briefen in Wright der performative aspect überwiegen, wenn es darum geht, Personen zum Ab­ schluss eines Geschäfts zusammenzubringen, der Schwerpunkt könnte aber auch auf dem assertive aspect liegen, da die Briefe auch Gedanken ausdrücken und die Verfasser zum Ausdruck bringen, dass sie mit dem Empfänger eine geschäftliche Verbindung eingehen wollen.466 So soll nach Mueller/Kirkpatrick der Anruf zur Platzierung eines Wetteinsat­ zes oder zum Ankauf von Drogen ein verbal act sein, bei dem die vollziehende Komponente überwiegt: Der Anrufer möchte nicht nur etwas erklären, sondern vor allem einen Vertrag eingehen, sich binden und das Geschäft abschließen.467 Auch Gerichte behandeln solche Anrufe, wenn es darum geht, zu zeigen, dass auf dem Grundstück, bei dem der Anruf eingeht, illegale Geschäfte abgewickelt werden, häufig als non-hearsay.468 Die Einteilung als verbal act erscheint allerdings nicht überzeugend. Es handelt sich um einen irreführenden Begriff, der bewirkt, dass Äußerungen, die eigent­ lich assertive sind, als non-assertive behandelt werden.469 Der Anrufer sagt zwar nicht: „Du, der Angerufene, bist Drogendealer/Wettanbieter“ oder: „Dein Haus ist ein Wettbüro oder ein Drogenumschlagsplatz!“, so dass die assertive Kom­ ponente auf den ersten Blick gering sein mag. Bei genauer Betrachtung stimmt dies aber – wie oben dargelegt – nicht. Es ist schwer nachvollziehbar, weshalb verbal acts keine assertion sein sollen und weshalb der Anruf oder dessen In­ halt eine Handlung auf Seiten des Beschuldigten beschreiben oder erklären soll. Bei einem Angebot zum Abschluss eines Vertrages steht doch eindeutig nicht der performative aspect, sondern der assertive aspect („Ich möchte bei dir etwas kaufen!“) im Vordergrund, denn die Äußerungen der Anrufer bringen eindeutig zum Ausdruck „Ich will Drogen kaufen“ oder „Ich will Wetteinsätze platzieren.“ Dies ist auch von einem entsprechenden intent gedeckt, so dass die Äußerungen assertive sind. Darüber hinaus kann als schlagendes Argument angeführt werden, dass Spra­ che nicht nur eine Form der Kommunikation ist, sondern dass Kommunikation immer das Ziel von Sprache ist: Man kann nicht sprechen, ohne zugleich etwas verbal zu kommunizieren; Sprache ist Kommunikation.470 Man könnte sogar noch strengere Maßstäbe zugrunde legen und argumentieren, dass auch die typischen 466  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 756; siehe auch die Kritik an diesem Ansatz bei Park, 16 Miss. C. L. Rev. 125, 132 ff. (1995). 467  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 785 f. 468 Zustimmend Mueller/Kirkpatrick, S. 786 m. w. N. zur Rspr. 469  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 833 (1990). 470  So auch Rice, 65 Temple L. Rev. 529, 536 (1992) mit Kritik an der Entscheidung in United States v. Zenni.

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Gefahren des Hörensagenbeweises nicht vernachlässigt werden dürfen, die nicht nur bei einer direkten Aussage, sondern auch bei einer Frage bestehen können. gg)  Hearsay dangers auch bei Fragen und implied assertions? Die Gerichte gehen davon aus, dass unbewusste Äußerungen verlässlicher sind.471 Die Gefahr, mit der die hearsay rule häufig begründet wird, ist die Gefahr fehlender Aufrichtigkeit bei der Abgabe einer Erklärung (sincerity), die bei unbe­ wussten Äußerungen gerade nicht bestehe. Entscheidend sei also, ob ein entspre­ chender intent vorliegt, etwas zu erklären, denn nur wenn überhaupt ein intent gegeben sei, bestehe die Gefahr der Unaufrichtigkeit, durch die die Aussage ver­ fälscht werden könnte, und nur dann sollen auch implizierte Äußerungen aus­ nahmsweise eine assertion im Sinne der hearsay rule darstellen.472 Ein Glaubwürdigkeitsproblem bestehe aber gerade nicht, wenn der Handelnde nicht beabsichtige, die Wahrheit der infrage stehenden Behauptung zu erklären, oder wenn, wie Park formuliert, der declarant „den Zweck, für den die Äußerun­ gen vor Gericht verwendet wurden, nicht vorhersehen konnte.“473 Kurz gesagt: Fehle es am intent, etwas zu erklären, dann bestehe auch nicht die Gefahr der Unaufrichtigkeit (insincerity). Das Advisory Committee hält nichtverbales Verhalten (nonverbal conduct) und indirekte Rede für verlässlicher, da die Gefahr einer Verfälschung mangels Erklärungsabsicht (intent to assert) geringer sei. Auch in der Rechtsprechung und im Schrifttum wird die Ansicht vertreten, dass unbewusste Äußerungen verläss­ licher seien: „Ein Mensch belügt sich nicht selbst.“474

471  So United States v. Long, 905 F.2d 1572, 1580 (D.C. Cir. 1990): „One of the princi­ pal goals of the hearsay rule is to exclude declarations when their veracity cannot be tested through cross-examination. When a declarant does not intend to communicate anything, however, his sincerity is not in question and the need for cross-examination is sharply di­ minished. Thus, an unintentional message is presumptively more reliable.“ m. w. N. 472  Siehe dazu auch die Darstellung bei Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75, 79 (1995) die diesen Ansatz allerdings ablehnt: „(…) the risk of insincerity in implied assertions is low due to ,the absence of an intent to assert,‘ it admits as nonhearsay any statement that does not literally match the belief of the declarant that it is relevant to prove“. 473  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 827 (1990): „The declarants could not have foreseen the purpose for which the statements ultimately were used at trial (…). Sincerity dangers therefore are reduced“. 474  Falknor, 33 Rocky Mntn. L. Rev. 133, 136 (1961): „Evidence of conduct must be taken as freed from at least one of the hearsay dangers, i.e. mendacity. A man does not lie to himself“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Swift weist zu Recht darauf hin, dass empirische Daten, die die Ansicht des Advisory Committee stützen, fehlen.475 Im Übrigen gilt dies – wenn überhaupt – nur für die bewusste Verfälschung, also für die Lüge, denn eine unbewusste Äu­ ßerung hat lediglich den Vorteil, dass sie vom Erklärenden nicht bewusst ver­ fälscht werden kann – denn wie sollte man etwas bewusst verfälschen, was man nicht einmal bewusst erklärt? Hingegen bleiben die Gefahr der unbewussten Verfälschung sowie die sons­ tigen typischen Gefahren des Hörensagenbeweises bestehen: Die Gefahren der Wahrnehmung, Erinnerung und Wiedergabe bestehen völlig unabhängig von dem Bewusstsein, sich zu äußern.476 Denn auch derjenige, der eine Frage stellt, kann etwas falsch wahrgenommen, sich falsch erinnert oder etwas falsch wieder­ gegeben haben. Die Fehler werden dadurch potenziert, dass die Beweiskette ein weiteres Glied enthält. Es erscheint daher zu einseitig, nur auf den intent bzw. die Aufrichtigkeit abzustellen, denn auch die anderen Gefahren des Hörensagenbe­ weises bestehen und sollten entsprechend berücksichtigt werden.477 Rice kritisiert daher zu Recht, dass es eine unlogische Schlussfolgerung (non sequitur) sei, allein durch Aufrichtigkeit von einer Herabsetzung der Gefahren des Zeugenbeweises auszugehen.478 Ähnlich kritisch äußert sich der Supreme Court of Iowa,479 denn wenn bewusste Verfälschungen ausschieden, würde die 475 

Swift, 75 Cal. L. Rev. 1339, 1392 f. (1987). Swift, 75 Cal. L. Rev. 1339, 1393 (1987). 477  Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75, 80 (1995): „Because the literalist and intent models focus exclusively on generalizations about sincerity, they can be criticized for being obli­ vious to the factfinder’s need to evaluate the other three testimonial qualities of declarants (…) Hearsay policy should take account of all hearsay risks, not just sincerity. Thus, its aim should be to produce information relevant to evaluating all of a declarant’s testimonial qualities. It should produce the same kinds of information revealed when witnesses testify: the context within which the declarant made the hearsay statement, the circumstances existing when the declarant perceived and remembered the event that is the subject of the statement, and general identifying information about the declarant and the declarant’s relationship to the case“. 478  Rice, 65 Temple L. Rev. 529, 531 (1992): „Of the four dangers giving rise to the hearsay exclusionary rule perception, memory, sincerity, and ambiguity the assertive/ nonassertive distinction addresses only one: the danger of insincerity (i.e. intentional mis­ representation). If a declarant possesses no intention of asserting anything, it would seem to follow that he also possesses no intention of misrepresenting anything. It is a non sequitur to conclude from this, as the Advisory Committee has, that the remaining dangers of perception, memory, and ambiguity are automatically minimized with this assurance of sincerity. The logical link which the Advisory Committee finds between sincerity and error is simply nonexistent“. 479  State v. Dullard, 668 N.W.2d 585, 593 f. (Iowa 2003): „Generally, a position tak­ en by the advisory committee on federal rules is persuasive authority for determining the meaning of our Iowa rules of evidence. (…) On the other hand, the persuasiveness of the committee notes on implied assertions is undermined by the clear split of authority 476 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Gefahr zwar relativiert, aber keineswegs eliminiert. Das fehlende Bewusstsein, sich zu äußern, erhöht vor allem auch die Gefahr von Missverständnissen, wo­ rauf Bacigal hinweist: Unbeabsichtigte, konkludente Äußerungen seien häufig mehrdeutig. Für den Äußernden bestehe gerade kein Grund, Doppeldeutigkeiten zu vermeiden, weil er nicht die Absicht habe, seine Nachricht einem anderen mit­ zuteilen.480 Durch eine ausschließliche Fokussierung auf die Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit des Zeugen (sincerity/insincerity) würden die sonstigen Schwä­ chen, die dem Zeugenbeweis immanent sind, missachtet. Es gibt also durchaus gute Gründe, alle Risiken, die vom Beweismittel des Hörensagenbeweises aus­ gehen, zu berücksichtigen481 und dementsprechend einen funktionaleren Ansatz zu wählen.482 Von Kritikern wird entgegnet, dass eine Ausdehnung bzw. Ersetzung des Be­ griffs assertion zu einer Ausuferung der hearsay rule führen oder neue Probleme schaffen würde.483 Ein weiter Begriff führt zunächst zu einer erweiterten Anwen­ among the federal circuit courts, as well as many legal scholars. (…) we are not convinced that the absence of intent necessarily makes the underlying belief more reliable (…). Four dangers are generally identified to justify the exclusion of out-of-court statements under the hearsay rule: erroneous memory, faulty perception, ambiguity, and insincerity or mis­ representation. (…) Yet, the distinction drawn between intended and unintended conduct or speech only implicates the danger of insincerity, based on the assumption that a person who lacks an intent to assert something also lacks an intent to misrepresent. The other ,hearsay dangers,‘ however, remain viable, giving rise to the need for cross-examination“. (Hervorhebungen nicht im Original). 480  Bacigal, 11 S. Ill. U. L. J. 1127, 1132 (1987): „If there is a distinction in the ambigui­ ty of intended and implied assertions, the distinction indicates that unintended implied as­ sertions are inherently more ambiguous. When a declarant consciously intends to commu­ nicate with an observer, he desires his communication to be understood by that observer he desires his communication to beunderstood by that observer. (…) With unintentional implied assertions, however, the declarant makes no effort to avoid ambiguity, because there is no intent to convey his message to anyone. Thus, unintentional implied assertions have an inherently greater potential to be more ambiguous than intended assertions. The Federal Rules have it backward by classifying the less ambiguous intended assertions as hearsay, while classifying the more ambiguous unintentional assertions as nonhearsay“ (Hervorhebungen nicht im Original). 481  Swift, 75 Cal. L. Rev. 1339, 1394 (1987); dies., 16 Miss. C. L. Rev. 75, 80 (1995); siehe auch Morgan, 62 Harv. L. Rev. 177, 218 (1948): „(…) the rational basis for the hearsay classification is not the formula, ,assertions offered for the truth pf the matter asserted,‘ but rather the presence of substantial risks of insincerity, and faulty narration, memory, and perception“; zu Argumenten für eine unterschiedliche Behandlung von implied und explicit assertions siehe McCormick on Evidence, S. 203. 482  Siehe zum foundation fact approach Swift, 75 Cal. L. Rev. 1339, 1392 (1987). 483  Siehe auch die Vorschläge von Mueller/Kirkpatrick, S. 795 f., die schließlich aber eingestehen: „(…) an amendment would introduce new and unforeseen complications where we already have too many.“; ähnlich auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 838 (1990): „Change also would cause new interpretive problems and probably would entail creation

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

dung der Regel, indem erst einmal ein statement im Sinne der Federal Rules of Evidence vorliegt. Allerdings gibt es, selbst wenn die erste Voraussetzung für die Anwendung der hearsay rule erst einmal gegeben ist, sodann zahlreiche Ausnah­ men, so dass der Beweis häufig trotzdem in das Verfahren eingeführt werden kann. hh)  Bundesstaaten mit common law approach (1) Maryland Schließlich soll noch ein Blick auf die Einzelstaaten, die den common law approach vertreten und sich damit von Federal Rules of Evidence sowie den meis­ ten Einzelstaaten unterscheiden, geworfen werden. Hierbei soll ein besonderer Fokus auf die Rules of Evidence des Bundesstaates Maryland gelegt werden, denn obwohl dessen Beweisrecht den Federal Rules of Evidence im Wesentlichen entspricht, können nach der hearsay rule des Staates Maryland – anders als nach den Federal Rules of Evidence und dem Recht der meisten Staaten – auch Fragen und damit implied assertions unter die hearsay rule fallen. Implied assertions haben allein die Rechtsprechung im Bundesstaat Maryland in jüngerer Zeit in drei wegweisenden Entscheidungen beschäftigt. In der Recht­ sprechung dieses Bundesstaates wurden implied assertions seit jeher, nämlich seit Waters v. Waters484 aus dem Jahre 1872, als hearsay betrachtet. Mit Stoddard v. State485 und Bernadyn v. State486 wurde das altbekannte Prinzip im Wesentli­ chen beibehalten, allerdings stehen diese Entscheidungen nicht im Einklang mit der allerjüngsten Entscheidung in Garner v. State487, der aber auch kein bewuss­ tes Abweichen von den vorherigen Präzedenzfällen zu entnehmen ist.488 Die jün­ geren Entscheidungen scheinen eher Verwirrung zu stiften als für Klarheit zu sorgen und erscheinen untereinander inkonsequent. Zunächst soll aber kurz die historische Entwicklung der Beweisregeln im Bun­ desstaat Maryland näher betrachtet werden, bevor die drei genannten Entschei­ dungen analysiert werden. Nach Einführung der Federal Rules of Evidence im Bundesstaat Maryland, aber vor Einführung der Maryland Rules of Evidence (Md. R. Evid.) wurde Best v. State489 entschieden, wonach ein Anruf, in dem die Anruferin Drogen kaufen of new hearsay exceptions. The existing definition of hearsay has worked tolerably well and should be retained“. 484  Waters v. Waters, 35 Md. 531, 544 f. (1872). 485  Stoddard v. State, 887 A.2d 564 (Md. 2005). 486  Bernadyn v. State, 887 A.2d 602 (Md. 2005). 487  Garner v. State, 960 A.2d 649 (Md. Ct. Spec. App. 2008). 488  Grundlegend und kritisch dazu Lanzendorfer, 71 Md. L. Rev 619 (2012). 489  Best v. State, 71 Md. App. 422 (Md. Ct. Spec. App. 1987).

II.  Die Definition von hearsay evidence

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wollte, ein verbal act und daher kein hearsay sei: Während einer Durchsuchung klingelte das Telefon, so dass ein Polizist den Anruf entgegennahm. Die Anru­ ferin meldete sich mit ihrem Namen und fragte nach dem Angeklagten, worauf der Polizist mit „Ja“ antwortete. Dementsprechend nahm die Anruferin an, sie spreche mit dem Angeklagten, woraufhin sie sagte, dass sie das Geld habe, das sie ihm schulde. Ferner fragte sie: „Kann ich ein Gramm bekommen? Kann ich direkt rüber kommen?“490 Kurze Zeit später klingelte es auch an der Haustür. Die Aussage des Polizeibeamten über das Telefonat sei nach Ansicht des Ge­ richts verwertbar, weil es nicht darum gehe, was gesagt wurde, sondern vielmehr darum, dass das Telefonat geführt wurde. Das Gericht stellt, ohne sich näher mit implied assertions auseinander zu setzen, fest, dass es sich um einen verbal act handele.491 Im Übrigen mutet es seltsam an, dass das Gericht das Beweisziel übermäßig betont und dadurch das Beweismittel zulassen will: Es geht hier sehr wohl darum, was gesagt wurde und keineswegs einfach nur darum, dass ein An­ ruf einging. 1994 wurden die Maryland Rules of Evidence eingeführt.492 Dabei wurden die Federal Rules of Evidence im Wesentlichen übernommen. So wurden die Regeln zum hearsay (chapter 800 ff.) – bis auf wenige Ausnahmen – in den 5. Titel493 der Maryland Rules of Evidence übernommen und tragen dort daher das Präfix 5, wie beispielsweise die Definitionen von hearsay in Rule 5 – 801494.

490 

Best v. State, 71 Md. App. 422, 430 f. (Md. Ct. Spec. App. 1987). v. State, 71 Md. App. 422, 432 (Md. Ct. Spec. App. 1987): „Detective Eller’s testimony concerning his conversation with Debbie from Delaware was not offered in court for the truth of what Debbie, the out-of-court asserter, said; rather, it was offered as evidence of the fact that the call was made. As such, Detective Eller’s testimony was not hearsay at all, but evidence of a verbal act. (…) Testimony concerning telephone calls made to or received at a particular location has been held admissible frequently in prosecu­ tions for bookmaking and other gambling activities, where such testimony is offered not to establish the truth of what was said over the telephone, but as evidence that the calls were made to the location for the purpose of placing bets. (…) Analogously, [the detective’s] tes­ timony about the phone call in this case was offered as evidence that the call was made for the purpose of arranging an illegal drug transaction.“ (Hervorhebungen nicht im Original). 492  Näher zur Einführung und zur historischen Entwicklung Hornstein, 54 Md. L. Rev. 1032 ff. (1995). 493  Näher zur Struktur des 5. Titels Hornstein, 54 Md. L. Rev. 1032, 1035 ff. (1995). 494  Rule 5 – 801: „(a) Statement. A ,statement‘ is (1) an oral or written assertion or (2) nonverbal conduct of a person, if it is intended by the person as an assertion. (b) Declarant. A ,declarant‘ is a person who makes a statement. (c) Hearsay. ,Hearsay‘ is a statement, other than one made by the declarant while testifying at the trial or hearing, offered in evidence to prove the truth of the matter asserted.“ (Hervorhebung hinzugefügt). 491  Best

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Laut Committee Note sind Fragen ausdrücklich nicht als assertion ausgeschlos­ sen.495 Nach Einführung der Maryland Rules of Evidence erging die Entscheidung Holland v. State496. Ein Zeuge berichtete, dass der Angeklagte oder einer seiner Begleiter „We’re going down the strip to sell!“497 gesagt habe. Nach Ansicht des Gerichts werde durch diese Aussage aber – wie auch durch die Frage „Wie spät ist es?“ oder die Aufforderung „Stopp!“ – nichts erklärt (assert), da die Aussage weder wahr noch falsch sein könne.498 Selbst wenn eine Aussage etwas erkläre, komme es ferner auf das Beweisziel an.499 Vorliegend sei es aber nicht darum gegangen, dass der Angeklagte an einem bestimmten Ort, am strip,500 oder wo auch immer Drogen verkauft hat, sondern darum, dass er mit anderen Personen vereinbart hat (conspired), Drogen zu verkaufen, so dass es sich vorliegend nur um circumstancial evidence handele.501 Es gibt zwar zahlreiche Urteile zu implied assertions, doch kaum eine aktuelle Entscheidung – auch nicht auf Bundesebene – hat sich so ausführlich mit der Pro­ 495  Die Committee Note zu Rule 5 – 801 lautet: „This Rule does not attempt to define ,assertion,‘ a concept best left to development in the case law. The fact that proffered evi­ dence is in the form of a question or something other than a narrative statement, however, does not necessarily preclude its being an assertion. The Rule also does not attempt to define when an assertion, such as a verbal act, is offered for something other than its truth.“ (Hervorhebungen hinzugefügt); vgl. auch Fair v. State, 16 A.3d 211, 220 (Md. Ct. Spec. App. 2011). 496  Holland v. State, 122 Md. App. 532 (Md. Ct. Spec. App. 1998). 497  Holland v. State, 122 Md. App. 532, 545 (Md. Ct. Spec. App. 1998). 498  Holland v. State, 122 Md. App. 532, 543 f. (Md. Ct. Spec. App. 1998): „To qualify as hearsay, the words recounted in court must, for starters, constitute an assertion or state­ ment of a fact. Many out-of-court utterances are self-evidently not assertions. If a witness testifies to the out-of-court inquiry, ,What time is it,‘ that inquiry is obviously not an as­ sertion of anything. For an out-of-court utterance to qualify as an assertion, it generally must be in the indicative or declarative mood, rather than in the interrogative mood, the imperative mood, or the subjunctive mood. An out-of-court assertion of a fact may be true or untrue. For that reason, its admissibility in evidence is problematic if offered to prove that fact. An out-of-court inquiry, ,What time is it?‘ can be, by its very nature, neither true nor untrue and there is, therefore, no such credibility problem. The out-of-court command, ,Stop!‘ can be, by its very nature, neither true nor untrue and there is, therefore, no such credibility problem“. 499 Holland v. State, 122 Md. App. 532, 544 (Md. Ct. Spec. App. 1998): „Even an out-of-court utterance that is an assertion of a fact, however, does not necessarily qualify as hearsay evidence. It is further required that the out-of-court assertion be offered for the truth of the thing asserted. Only that raises the question of the credibility of the outof-court asserter and, therefore, engages the gears of the Rule Against Hearsay and its multitudinous exceptions“. 500  Bezeichnet eine bestimmte Straße, die für Drogenhandel bekannt ist. 501  Holland v. State, 122 Md. App. 532, 545 f. (Md. Ct. Spec. App. 1998).

II.  Die Definition von hearsay evidence

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blematik der implied assertions auseinandergesetzt wie Stoddard v. State502. Die Entscheidung legt dar, weshalb der Ansatz des Federal Advisory Committee, der intent based approach, abzulehnen ist, und geht dabei vor allem auf die hearsay dangers ein. (a) Stoddard v. State Nach dieser Entscheidung stellt ebenso wie nach Waters v. Waters jede implied assertion – unabhänging vom intent – hearsay dar. Erik Stoddard war angeklagt, den dreijährigen Sohn, Calen DiRubbo, seiner Freundin misshandelt und getötet zu haben. Am Tag der Tat brachte auch Calens Tante ihre 18 Monate alte Toch­ ter, Jasmine, vorbei, um mit Calen und seinem Bruder zu spielen. Erik Stoddard war der einzige Erwachsene, der die Kinder beaufsichtigte, als Calen starb. Nach dem Besuch beobachtete die Tante wesentliche Veränderungen im Verhalten ih­ rer Tochter, die seitdem an Albträumen und Angstzuständen litt und auch fragte: „Wird Erik mich kriegen?“ („Is Erik going to get me?“). Die Tante sagte vor Gericht nicht nur über die beobachteten Verhaltensänderungen ihrer Tochter, son­ dern auch über den Inhalt der Frage aus.503 Die Anklage bot diese Äußerung, wie sich dem Plädoyer entnehmen lässt, zum Beweis an, dass Jasmine gesehen hat, wie Stoddard den Mord begeht,504 betonte aber zugleich, es handele sich mangels intent nicht um eine assertion i. S. d. Maryland Rule 5 – 801(a) oder alternativ nur um circumstancial evidence505. Das Gericht hat also zu entscheiden, ob eine factual proposition, die unbeab­ sichtigt geäußert wird, also ein Glaube bzw. eine Vorstellung (belief), hearsay darstellen kann.506 Dazu setzt es sich zunächst ausführlich mit der rechtlichen Behandlung von implied assertions im common law und der dazu ergangenen Grundsatzentscheidung Wright v. Tatham auseinander, aus der sich allgemein ergebe, dass, wenn die Worte den Glauben an die Wahrheit von etwas ausdrü­ 502  Stoddard v. State, 850 A.2d 406 (Md. Ct. Spec. App. 2004); aus anderen Gründen overruled Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 389 Md. 681 (Md. 2005). 503  Stoddard v. State, 850 A.2d 406, 409 f. (Md. Ct. Spec. App. 2004). 504  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 565 (Md. 2005): „The State offered this utterance as evidence that the child had witnessed Stoddard commit the murder.“ Im Plädoyer der Anklage heißt es auf S. 567: „(…) Jasmine asked her, ,Is Erik going to get me?‘ Why? She was afraid of Erik. She didn’t ask, ,Is Nick going to get me?‘ She didn’t ask, ,Is Mark going to get me?‘ She wasn’t afraid of them. She was afraid of Erik. Why? Because she saw. She was the eyewitness. She saw what happened to Calen that day and she was scared to death it was going to happen to her, too“. 505  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 567 (Md. 2005). 506  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 567 (Md. 2005). „We must decide whether out-ofcourt words are hearsay when offered to prove the truth of a factual proposition communi­ cated unintentionally by the declarant.“ sowie S. 568: „The question before us is whether these words are hearsay when offered to prove the truth of that belief“.

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cken, diese Worte auch hearsay seien, wenn sie zum Beweis eben dieser Wahrheit angeboten würden.507 Die Doktrin befasse sich aber nicht genau mit dem intent, da „Vorstellungen, die zufällig konkludent geäußert werden, genauso ‚implied assertions‘ darstellen würden wie Vorstellungen, die absichtlich auf indirekte Weise ausgedrückt werden“, und sie „differenziere nicht zwischen Worten und nicht-verbalem Verhalten“.508 Sodann befasst sich das Gericht mit der Einführung der Federal Rules of Evidence im Jahre 1973, die als vermutlich wichtigste Entwicklung für die ju­ ristische Behandlung von implied assertions bezeichnet wird.509 Während nach diesen Regeln für conduct stets ein entsprechender intent erforderlich sei, hänge dies für Worte davon ab, „ob das Wort ‚assertion‘ für sich auf eine beabsichtigte Kommunikation“ hindeute.510 Daher sei der Hinweis des Advisory Commit­ tee der „Ursprung der Streitigkeit“ in Rechtsprechung und Schrifttum.511 Denn während die Maryland Rules teilweise identisch mit dem Gegenstück der Federal Rules of Evidence seien, würden sich die Hinweise der beiden Advisory Com­ mittees wesentlich unterscheiden: Während der Hinweis auf Bundesebene den Begriff assertion einschränke, solle die Definition im Landesrecht den Gerichten überlassen werden.512 Auch schon in der Entscheidung Waters v. Waters513, der ein nahezu ähnlicher Fall zugrunde lag, wurde an die Entscheidung Wright v. Tatham angeknüpft und wurden die implied assertions als hearsay ausgeschlossen. Das Gericht wendet sich gegen den intent basierten Ansatz (intent based approach) des Advisory Committee und betont, dass auch bei unbeabsichtigten Implikationen (unintentional implications) die typischen Gefahren des Hörensa­ 507  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 571 (Md. 2005): „Stated more generally, the doc­ trine holds that where a declarant’s out-of-court words imply a belief in the truth of X, such words are hearsay if offered to prove that X is true“. 508  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 571 (Md. 2005): „In its original Wright v. Tatham form, the doctrine did not inquire into the declarant’s intent – beliefs communicated acci­ dentally by implication are as much ,implied assertions‘ as beliefs expressed purposefully in an indirect manner. As evidenced by the ,sea captain‘ hypothetical, the doctrine also did not distinguish between words and non-verbal conduct“. 509  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 571 (Md. 2005). 510  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 571 (Md. 2005): „The question of whether the Rule incorporates an intent requirement with respect to words depends upon whether ,asser­ tion,‘ standing alone, denotes an intentional communication.“ (Hervorhebung im Origi­ nal). 511 Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 571 (Md. 2005): „(…) source of disagreement (…)“. 512 Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 572 (Md. 2005): „Maryland Rules 5 – 801(a), 5 – 801(c), and 5 – 802 are identical to the federal counterparts (…) The Committee note to Md. Rule 5 – 801 departs substantially from its federal counterpart“. 513  Waters v. Waters, 35 Md. 531 (1872).

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genbeweises (hearsay dangers) bestehen.514 Vor allem im Hinblick auf die vier typischen Schwächen des Zeugenbeweises – Wahrnehmung, Erinnerung, Wie­ dergabe und Aufrichtigkeit515 – erscheine es sachgerecht, unbeabsichtigte Folge­ rungen nicht anders als beabsichtigte Äußerungen zu behandeln.516 Das Gericht stellt im Ergebnis fest: „Die fehlende Absicht des declarant, die implizierte Be­ hauptung mitzuteilen, erhöht die Zuverlässigkeit der Worte des declarant nicht in einem solchen Maße, das hinreichend erscheint, eine Ausnahme von der hearsay rule zu rechtfertigen.“517 Auf den intent komme es nicht an, entscheidend sei vielmehr das Beweisziel: Wenn eine tatsächliche Behauptung – möglicherweise auch unbewusst – geäu­ ßert worden sei, dann stelle sie hearsay dar, wenn die Äußerung zum Beweis der geäußerten Tatsache angeboten werde.518 Nachdem das Gericht einige Entscheidungen anderer Gerichte dargestellt hat,519 die diese Ansicht teilen, befasst es sich damit, ob eine Frage ein „state­ ment“ sein kann. Hierbei geht es auf den bereits erwähnten Hinweis des Adviso­

514  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 573 ff. (Md. 2005), insbesondere S. 577: „The declarant’s intent vel non to communicate the proposition is irrelevant“. 515  Näher dazu oben Kapitel B. II. 516  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 577 (Md. 2005): „We conclude that, with respect to the four testimonial inferences, out-of-court words offered for the truth of unintentional implications are not different substantially from out-of-court words offered for the truth of intentional communications“. 517  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 577 (Md. 2005): „The declarant’s lack of intent to communicate the implied proposition does not increase the reliability of the declarant’s words in a degree sufficient to justify exemption from the hearsay rule.“ oder anders aus­ gedrückt: „(…) we conclude that a declarant’s lack of intent to communicate a belief in the truth of a particular proposition is irrelevant to the determination of whether the words are hearsay when offered to prove the truth of that proposition“. 518  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 577 (Md. 2005): „We hold that where the proba­ tive value of words, as offered, depends on the declarant having communicated a factual proposition, the words constitute an ,assertion‘ of that proposition. The declarant’s intent vel non to communicate the proposition is irrelevant. If the words are uttered out of court, then offered in court to prove the truth of the proposition i.e. of the ,matter asserted‘ they are hearsay under our rules“. 519  Vgl. auch die Entscheidung State v. Dullard, 668 N.W.2d 585, 594 f. (2003), aus dem Bundesstaat Iowa, dessen Rule of Evidence 5.801 im Wesentlichen der Federal Rule of Evidence 801 entsprach, in der das Gericht aber anmerkte: „Implied assertions from speech intended as communication clearly come within the definition of a statement under rule 5.801(a)(1). Unlike the committee, however, we do not believe indirect or uninten­ tional assertions in speech are reliable enough to avoid the hearsay rule. We think the best approach is to evaluate the relevant assertion in the context of the purpose for which the evidence is offered“.

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ry Committee für Maryland ein und stellt fest, dass die grammatikalische Form gerade nicht entscheidend sei.520 Ob das Kind Angst vor dem Täter hatte, sei für das Verfahren nicht von Bedeu­ tung. Die Staatsanwaltschaft wolle vielmehr, dass aus der Angst auf den Grund geschlossen wird, nämlich dass das Kind tatsächlich beobachtet hat, wie der Tä­ ter den Bruder misshandelte.521 Da hierfür zahlreiche Schlussfolgerungen – ernst­ gemeinte Aussage, dass Stoddard ihr schaden wolle; korrekte Erinnerung etc.522 – erforderlich seien, die wiederum einigen Fehlerquellen523 unterlägen, erscheine eine Behandlung als hearsay gerechtfertigt. Jasmines Angst ist also nicht nur circumstancial evidence, denn sie ist nur von Bedeutung, wenn es einen rationalen Grund dafür gibt: Dieser rationale Grund 520  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 581 (Md. 2005): „Having rejected the declarant-in­ tent basis for determining whether an utterance is an ,assertion,‘ and hence a ,statement‘ capable of being hearsay, we turn next to the narrower issue of whether an utterance may qualify as an ,assertion‘ and a ,statement‘ if it occurs in the form of a question. The gram­ matical form of an utterance does not control whether the words are hearsay. (…) the par­ ticular form of an utterance is not determinative of whether an utterance is an ,assertion‘ and hence potential hearsay“. 521  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 569 und 582 (Md. 2005). 522  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 582 (Md. 2005): „In order to accept the words ,is Erik going to get me‘ as evidence that Jasmine witnessed Erik Stoddard assaulting Calen DiRubbo, the jury needed to make numerous inferences. It needed to infer first that Jasmine meant those words to convey a sincere inquiry as to whether Erik Stoddard was going to harm her. It needed to infer next that, by making this inquiry, Jasmine revealed unambiguously a belief that she had witnessed Stoddard assaulting Calen. It needed to infer further that Jasmine remembered accurately her perceptions (…). And it needed to infer finally that Jasmine’s perceptions were correct at the moment she experienced them“. 523  Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 582 (Md. 2005): „In the absence of cross-exami­ nation, and particularly in light of Jasmine’s age, these inferences are largely untested and unsupportable. The jury had no information about the context in which Jasmine spoke ­these words, and hence little basis from which to conclude that she used ,get‘ to mean ,harm,‘ or that these words were spoken seriously and not in play. The jury had no informa­ tion about other, unrelated reasons why Jasmine might have feared Stoddard. It had no in­ formation about Jasmine’s ability to remember accurately past events, nor any information about the amount of time that had elapsed between Calen’s death and Jasmine’s utterance. It had no information about factors that would have affected Jasmine’s perceptions during the alleged assault, such as distance, angle of view, obstructions, or Jasmine’s cognitive ability to distinguish an assault from some other frightening but innocuous event. Jasmine’s out-of-court question, repeated in court by her mother with minimal informa­ tion as to its context, is unreliable as evidence that Jasmine had witnessed Stoddard assault Calen. The question is untested as to narration/ambiguity and sincerity. Its relationship to the factual proposition it supposedly implies is untested as to ambiguity. Jasmine’s belief in the implied proposition, even if genuine, is untested as to memory and perception. The dangers that arose from the State’s use of this question demonstrate the continued utility of the common law approach to hearsay“.

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kann nur darin liegen, dass sie beobachtet hat, wie Stoddard den Jungen misshan­ delt. Es geht also um ihren Glauben an die Behauptung „Ich habe einen Grund, Erik Stoddard zu fürchten und dieser Grund ist, dass ich gesehen habe, wie er Calen schlägt.“524 Die concurring opinion525 wendet sich eindringlich gegen die Begründung der Senatsmehrheit. Die Entscheidungen Wright v. Tatham und Waters v. Waters seien „antiquiert und völlig unlogisch“ sowie „starr und unvernünftig“526. Entscheidend sei nicht nur, ob etwas konkludent mitgeteilt werde, sondern gerade ob dies be­ absichtigt sei. Zwar könnten auch konkludente Äußerungen (implied assertions) unter die hearsay rule fallen, aber nur wenn die Äußerung beabsichtigt (intent) gewesen sei. Gerade der intent sei das entscheidende Kriterium.527 Vor diesem Hintergrund setzt sich die concurring opinion ausführlich mit dem Hinweis des Advisory Committee sowie mit der Rechtsprechung in anderen Bun­ desstaaten auseinander. Die Mehrheit der Bundesstaaten und auch die Mehrheit der Federal Appellate Courts – der Second, Fourth, Fifth, Eighth, Ninth, Tenth, Eleventh und der District of Columbia Circuit – lehne nämlich auch Wright v. Tatham sowie Waters v. Waters und damit die Ansicht der Senatsmehrheit ab.528

524 

Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 569 (Md. 2005). opinion von Wilner,  J., dem Battaglia und Greene, JJ., beipflichten, S. 583 ff. 526 Concurring opinion von Wilner,  J., Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 589 (Md. 2005): „rigid and illogical“. 527 Concurring opinion von Wilner, J., Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 584 (Md. 2005): „This Court proposes to reject that conclusion and, with it, the predominant view of courts and commentators throughout the United States, and join but a small handful of courts that continue to adhere to Wright’s antiquated and wholly illogical view that implied assertions constitute statements for purposes of the hearsay rule even if the declarant ne­ ver intended his or her conduct to constitute such an assertion. In our view, adherence to such a roundly discarded doctrine is both unwarranted and, in this case, and most cases, unnecessary. We agree that the repetition of Jasmine’s question by her mother was inad­ missible – hence our concurrence with the result – but adherence to that aspect of Wright and Waters is not necessary to such a holding.“ sowie S. 599: „Rejection of Wright and Waters does not necessarily exclude implied assertions from the operation of the hearsay rule. It simply means that a court may not treat as a statement, for purposes of the hearsay rule, an alleged assertion that rests solely on an implication from verbal or non-verbal con­ duct unless the actor either intended that such an assertion arise from his or her conduct or that such an intent is necessary to the relevance of the evidence. If the court finds from the circumstances that the actor intended his or her out-of-court conduct to imply the proffered assertion or that the relevance of the evidence hinges on an assumption of that intent, the implied assertion does constitute a statement, and if that statement is offered for its truth, it constitutes hearsay.“ (Hervorhebung im Original). 528  Siehe dazu die zahlreichen Nachweise in der concurring opinion von Wilner, J., Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 594 f. (Md. 2005). 525  Concurring

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Hierfür werden zahlreiche Nachweise gebracht; die Zitierweise der Senatsmehr­ heit, die auf eine gleichwertige Verteilung hindeute, sei irreführend. Obwohl sich die concurring opinion gegen Wright und Waters wendet, wird betont, dass die Frage hier dennoch hearsay darstelle529, da das Mädchen durch die Frage ihrer Mutter mitteilte, dass sie das Geschehen beobachtet hatte: Dies geschieht zwar konkludent, aber entscheidend sei vielmehr, dass davon auszuge­ hen sei, dass die Information mit einem entsprechenden intent übermittelt werde. Diese Frage wurde auch zum Beweis für die Angst des Kindes, die darauf beruh­ te, dass Jasmin das Geschehen beobachtet hatte, angeboten.530 (b) Bernadyn v. State: Arztrechnung als hearsay Gleichzeitig zu Stoddard v. State erging auch die Entscheidung Bernadyn v. State531, in der die zentrale Frage war, ob eine Arztrechnung hearsay darstellt. Bernadyn wurde unter anderem wegen Besitzes und Handels mit Betäubungs­ mitteln angeklagt. Bernadyn verteidigte sich damit, dass er in dem Haus in 2024 Morgan Street in Edgewood, Maryland, in dem die Polizei bei einer Durchsu­ chung die Betäubungsmittel gefunden hatte, gar nicht wohnte. Bei der Durch­ suchung war auch eine Arztrechnung beschlagnahmt worden, die an Michael Bernadyn, Jr., unter der genannten Adresse adressiert war. Hierdurch wollte die Anklage nun beweisen, dass dies auch der Wohnsitz des Angeklagten war. Bezug nehmend auf Stoddard v. State, wo es für eine assertion gerade nicht auf den intent zu kommunizieren ankam, stellt das Gericht fest, dass dieser Grund­ satz auch die vorliegende Entscheidung bestimme und die Rechnung zwei wich­ tige Aspekte beinhalte: Bernadyns Namen und seine Adresse. Wenn es der Staatsanwaltschaft nur darum gegangen wäre, zu zeigen, dass es sich um eine Sache des Täters handelt, die am Tatort gefunden wurde – woraus ein Geschworener üblicherweise ohnehin den Schluss ziehen würde, dass Berna­ 529  Wilner, J., concurring, Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 599 (Md. 2005): „Jas­m ine’s question (…) was inadmissible: it did constitute hearsay“ (Hervorhebung im Original). 530  Wilner, J., concurring, Stoddard v. State, 887 A.2d 564, 599 (Md. 2005): „The true, and only relevant, purpose for admitting the question was to show that there was a basis for the child’s fear, and that the basis was her observation of what Stoddard had done to Calen. (…). In this circumstance, however, given that Jennifer had not discussed the matter with the child, that purpose would necessarily require the jury to assume that Jasmine had not only, in fact, observed that occurrence but that her fearful question was intended, even if implicitly, to convey that fact to her mother. If that intent was not to be assumed, the question had no relevance. Because the assertive nature of the question was most likely intended by the child but, in any event, had to be assumed for the evidence to be relevant, it did constitute a statement that was being offered for its truth and therefore constituted hearsay.“ (Hervorhebung im Original). 531  Bernadyn v. State, 887 A.2d 602 (Md. 2005).

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dyn dort wohnt oder sich dort zumindest aufgehalten hat – wäre dies als circum­ stancial evidence zulässig gewesen.532 Hier geht es aber nicht nur darum, dass dort ein Gegenstand gefunden wurde, der dem Angeklagten gehört, sondern es geht der Anklage gerade darum, mit der Rechnung zu zeigen, dass dies die Adresse des Angeklagten ist. Die Anklage bot die Rechnung selbst als Beweisstück dafür an, dass der Beschuldigte dort wohnte, da die Staatsanwaltschaft vortrug, dass die Ärzte die richtige Adresse hatten, weil sie wie „jede andere Institution sicherstellen, dass sie die richtige Adresse haben, wenn sie bezahlt werden wollen“533. Für die Rechnung als Beweis dafür, dass Bernadyn an der auf der Rechnung angegebenen Adresse wohnte, mussten die Geschworenen aber zwei Schlüsse ziehen, nämlich dass die ausstel­ lenden Ärzte bzw. das Krankenhaus, die Adresse aufschrieb, weil sie glaubten, dass Bernadyn dort wohnt und dass diese Annahme richtig war.534 Es handele sich somit um hearsay, da die Rechnung vorliegend auch gerade zum Beweis der in ihr behaupteten Tatsache angeboten wurde.535 Es gehe nicht nur darum, irgendeine 532  Siehe dazu auch die Entscheidungen United States v. Patrick, 959 F.2d 991, 1000 (D.C. Cir. 1992) und United States v. Watkins, 519 F.2d 294 (D.C. Cir. 1975); näher zu dem Problem „offered to show linkage“ unten Kapitel C. II. 3. a) und b). 533  Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 608 (Md. 2005): „Rather, the State argued that the bill itself was ,a piece of evidence that shows who lives there.‘ In particular, the State sug­ gested that Bayview Physicians had Bernadyn’s correct address because ,any institution is going to make sure they have the right address when they want to get paid‘“. 534  Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 608 (Md. 2005): „In order to accept the words ,Michael Bernadyn, Jr., 2024 Morgan Street, Edgewood, Maryland 21040‘ as proof that Bernadyn lived at that address, the jury needed to reach two conclusions. It needed to conclude, first, that Bayview Physicians wrote those words because it believed Bernadyn to live at that address, and second, that Bayview Physicians was accurate in that belief. As used, the probative value of the words depended on Bayview Physicians having commu­ nicated the proposition that Michael Bernadyn lived at 2024 Morgan Street. The words therefore constituted a ,written assertion‘“. 535  Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 609 f. (Md. 2005): „The State’s suggestion – that it is not hearsay to use a statement as ,circumstantial evidence‘ of the declarant’s belief in the matter asserted and then to use that belief as evidence suggesting the truth of the matter asserted – would swallow the hearsay rule. (…). The use of a statement to prove the truth of the matter asserted almost always involves this two step inference, i.e. that the declarant believes the matter apparently asserted, and that the declarant’s belief is accurate. The hearsay rule prevents using out-of-court statements for their truth because such statements are unreliable bases from which to infer the declarant’s beliefs (the declarant may have been insincere or used ambiguous language), or the accuracy of those beliefs (the decla­ rant’s perception or memory may have been faulty).“ (Hervorhebungen hinzugeügt); dort auch mit Verweis auf Tribe, 87 Harv. L. Rev. 957, 958 (1974), der den Vorgang folgender­ maßen beschreibt: „Das erste Glied in der Kette der Schlussfolgerungen ist eine ‚Reise‘ in den Kopf des declarant (…), um zu sehen, was er wirklich dachte. (…) Das zweite Glied ist eine ‚Reise‘ aus dem Kopf, um die vermuteten Gedanken des declarant mit der äußeren Realität, die bewiesen werden soll, in Übereinstimmung zu bringen“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Verbindung zwischen dem Angeklagten und dem Tatort oder anderen Personen herzustellen, wobei es sich um circumstancial evidence handeln würde, sondern die Rechnung diene zum Beweis der in ihr behaupteten Tatsache, die Adresse auf der Rechnung zeige, dass er dort wohnt; der asserted matter sei mit dem zu beweisenden identisch.536 Die dissenting opinion kritisiert die Mehrheitsmeinung scharf und weist dar­ aufhin, dass implied assertions nach herrschender Meinung nur unter die hear­ say rule fallen, wenn ein entsprechender intent vorliegt.537 Adressen auf Briefen, Rechnungen und anderen Dokumenten würden eigentlich schon nichts ausdrü­ cken.538 Wenn die Rechnung überhaupt etwas zum Ausdruck bringe, dann dass Bernadyn Patient in dem Krankenhaus war; um diese behauptete Tatsache (truth of the matter asserted) gehe es aber nicht. Wenn überhaupt könne gefolgert wer­ den, dass der Buchhalter glaubte – sofern er sich überhaupt irgendwelche Gedan­ ken gemacht hat –, dass Bernadyn die Rechnung an der angegebenen Adresse erhalten werde.539 Es war aber auch nicht beabsichtigt, diese Vermutung mitzu­ teilen, so dass es sich mangels intent nicht um hearsay handele. Die Rechnung sei ein direkter Beweis, aus dem zwei Schlussfolgerungen gezogen werden können: Bernadyn hat irgendeine Verbindung zu dem Haus und auch eine gewisse Kont­ rolle darüber.540

536 

Näher dazu Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 610 (Md. 2005). Wilner, J., dissenting, Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 617 f. (Md. 2005); zustim­ mend Battaglia, J. 538  Wilner, J., dissenting, Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 618 (Md. 2005): „Almost all of the courts that have considered the principal issue now before us have held that letters, bills, and other documents addressed to a defendant at the place where they are found do not constitute assertions that the defendant lives at that place and are therefore not inad­ missible under the hearsay rule. (…) the North Carolina court held that ,[o]n its face, a writ­ ten or printed name and address on an envelope asserts nothing.‘ The court acknowledged that, from the affixing of the name and address and mailing the material so addressed, it may be inferred that the sender believed that the person named lives at that address, but it concluded that such belief is not intended as an assertion, does not constitute an assertion and, because it does not constitute as an assertion, the name and address do not constitute hearsay.“ (Hervorheung im Original). 539  Wilner, J., dissenting, Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 620 (Md. 2005): „(…) there is, at best, a somewhat weak inference that the billing clerk at Hopkins, if he/she thought about the matter at all, believed that, if the bill was sent to Bernadyn at 2024 Morgan Street, he would receive it. Any such possible belief by the clerk does not, how­ ever, constitute an assertion, either explicit or implicit, that Bernadyn, in fact, lived at that address“. 540  Wilner, J., dissenting, Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 622 (Md. 2005), zustim­ mend Battaglia, J. 537 

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Im Widerspruch zu Bernadyn v. State steht im Grunde genommen eine dar­ auffolgende Entscheidung, Fields v. State,541 nach der die Namen, die jemand für seine Mitspieler auf einer Bowlingbahn eingibt, kein hearsay darstellen sollen. (c) Fields v. State: Namen auf der Bowling Bahn sind kein hearsay Saturio Grogrieo Fields war wegen Mordes542 angeklagt, weil er verdächtigt wurde, vor einer Bowlingbahn jemanden erschossen zu haben. Der Angeklagte bestritt aber, der Schütze oder auch zur Tatzeit nur am Tatort gewesen zu sein. Neben zahlreichen Indizien wie einem Pullover mit der DNA des Angeklagten, der am Tatort gefunden wurde, Hülsen einer Waffe, die unter dem Bett des Ange­ klagten gefunden wurden, sowie einem verdächtigen Fahrzeug, das dem des An­ geklagten ähnelte, stützte die Anklage ihren Fall insbesondere auf die Aussage eines Polizeibeamten und dessen handschriftliche Aufzeichnungen vom Tatort: Der Polizeibeamte hatte sich unmittelbar nach der Tat die Namen auf den Bild­ schirmen über den Bowlingbahnen und damit auch die Namen „Sat Dogg/Bleu/ Vino“ notiert; bei „Sat Dogg“ handelte es sich um den Spitznamen des Angeklag­ ten.543 Die Verteidigung machte geltend, es handele sich hierbei um hearsay,544 was das Gericht mit einer Mehrheit von zwei zu eins Stimmen verneinte. Die Kernfrage ist, ob der Spitzname des Angeklagten über der Bowlingbahn eine implied assertion darstellt, dass sich der Angeklagte zur Tatzeit an der Bowlingbahn aufhielt, und ob die Anklage diesen Beweis anbot, um seine An­ wesenheit zu beweisen; oder ob es sich um ein Indiz vom Tatort handelt, aus dem ein Geschworener diesen Schluss üblicherweise zieht.545 Die Mehrheitsmeinung bejaht letzteres und sieht in dem Vorbringen keine Tatsachenbehauptung, dass der Angeklagte am Tatort war.546 Vergleicht man nun Bernadyn v. State und Fields v. State, so fragt man sich, was der entscheidende Unterschied zwischen diesen beiden Entscheidungen sein soll. Zunächst kann es keinen Unterschied machen, dass in Bernadyn v. State 541 Fields v. State, 895 A.2d 339 (Md. Ct. Spec. App. 2006); bei der Überprüfung dieses Urteils führte der Court of Appeals aus, dass selbst wenn sich der Court of Special Appeals mit seinen Ausführung zu hearsay geirrt habe, das Urteil hierauf nicht beruhe, Fields v. State, 912 A.2d 637 (Md. 2006); siehe zum Gang des Verfahrens auch Lanzendorfer, 71 Md. L. Rev. 616, 628 (2012). 542  First-degree-murder; dabei handelt es sich untechnisch gesprochen um den beson­ ders schweren Mord, wohingegen der second-degree-murder geringere Tatbestandvoraus­ setzungen hat. 543  Fields v. State, 895 A.2d 339, 342 ff. (Md. Ct. Spec. App. 2006). 544  Fields v. State, 895 A.2d 339, 343 (Md. Ct. Spec. App. 2006). 545  Fields v. State, 895 A.2d 339, 347 (Md. Ct. Spec. App. 2006). 546  Fields v. State, 895 A.2d 339, 347 (Md. Ct. Spec. App. 2006), majority opinion von Salmon und Eyler, JJ.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

der declarant bekannt war, nämlich das Bayview Hospital, und hier der decla­ rant, nämlich derjenige, der die Namen eingegeben hat, nicht identifiziert werden konnte, denn dies können doch nur die auch auf dem Bildschirm auftauchenden (Spitz-)Namen und damit zwei Freunde von „Sat Dogg“ gewesen sein. In Bernadyn v. State soll der Absender etwas glauben, nämlich dass der Emp­ fänger an der adressierten Anschrift lebt, hingegen soll der die Namen Einge­ bende nach Ansicht des Gerichts nichts glauben. Natürlich glaubt derjenige, der den Namen eingibt, dass derjenige, dessen Namen er eingibt, zugegen ist und sie sogleich gemeinsam bowlen werden. Dies glaubt er auch in einer stärkeren Intensität als der Absender eines Briefes. Zwar erklärt der Absender eines Briefes nicht, dass eine Person an einer bestimmten Adresse wohnt, aber er adressiert den Brief und glaubt bzw. hofft zumindest, dass der Brief ankommt. In Bernadyn v. State glaubt der Buchhalter, der die Rechnung ausstellt und adressiert, dass er die richtige Adresse hat, der Brief ankommen und die Rech­ nung sodann bezahlt werden wird, aber er macht sich keine Gedanken darüber, wer wo wohnt; er hofft einfach nur, dass die Rechnung ankommt. Anders ist es aber bei demjenigen, der die Namen eingibt: Er hat zwar keinen intent – was nach dem Beweisrecht des Staates Maryland auch nicht erforderlich ist – zu erklären: „Schaut her, ich spiele mit X und Y!“, aber er bringt dies zumindest implizit zum Ausdruck. Entscheidend ist aber doch, dass derjenige, der die Namen eingibt, dies für sei­ ne Mitspieler auf der jeweiligen Bahn tut. Der Eingebende denkt: „Ich spiele jetzt mit den Personen X und Y und diese sind hier zugegen.“ und teilt dies zumindest seinen Freunden durch die Eingabe „Wir spielen jetzt zusammen!“ mit.547 Ob der Erklärende einen entsprechenden intent hat, dies mitzuteilen, kann hier nach An­ sicht des Gerichts dahinstehen, da das Gericht ausschließlich das Beweisziel be­ tont. Es geht hierbei aber auch nicht um ein Indiz, sondern die Anklage versucht dadurch zu beweisen, dass der Angeklagte am Tatort war. Was soll denn sonst das Ziel dieses Beweismittels sein? Es geht doch gar nicht darum, welche Na­ 547  Fields v. State, 895 A.2d 339, 348 (Md. Ct. Spec. App. 2006): „The prosecutor did not attempt to use the evidence of the words ,Sat Dogg‘ on the screen at the bowling alley to show that a known declarant believed the appellant was present there, had reason to accurately hold that belief, and therefore was impliedly asserting that factual proposition by entering his nickname on the screen. Unlike the probative value of the medical bill in Bernadyn, (…) the probative value of the evidence that the appellant’s name was on the television screen did not depend upon the belief of the person who typed the name on the screen, or upon the accuracy of that person’s belief. The prosecutor did not argue that the person who entered the name ,Sat Dogg‘ on the screen only would have done so if he or she believed that the appellant was present in the bowling alley. Indeed, there was no evidence about that person’s belief, because the person was not identified. The prosecutor argued only that the crime scene included a bowling lane with the name ,Sat Dogg‘ written above it“.

II.  Die Definition von hearsay evidence

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men der Polizeibeamte auf den Bildschirmen über den diversen Bowlingbahnen wahrgenommen hat. Es geht, wie auch Kenney, J., in seiner dissenting opinion zutreffend ausführt548, ausschließlich um den ungewöhnlichen Spitznamen „Sat Dogg“, der für das Verfahren nur dadurch von Bedeutung ist, dass er auf einem der Bildschirme auftauchte und dadurch implizit zum Ausdruck brachte, dass der Angeklagte zur Tatzeit auf dieser Bahn gespielt hat. Dies ist der eigentliche und auch einzige Beweiszweck. Sodann folgte die Entscheidung Garner v. State, die Stoddard v. State – ebenso wie auch Bernadyn v. State549 – anscheinend restriktiv auslegen will, um einer Ausuferung der hearsay rule entgegenzuwirken. (d) Garner v. State: „Can I get a 40?“ Bei einer Verkehrskontrolle fand der Polizeibeamte zufällig in Garners Hand­ schuhfach 13 Päckchen mit einer weißen Substanz; es stellte sich heraus, dass es sich um Crack mit einem Gesamtgewicht von 6,9 Gramm handelte. Jedes Päck­ chen hatte einen Straßenverkaufswert von 40 USD bis 60 USD. Der Polizeibeam­ te nahm den Beschuldigten fest und verbrachte ihn zur Durchführung weiterer erkennungsdienstlicher Maßnahmen zur Polizeistation. Das dem Beschuldigten abgenommene Mobiltelefon klingelte dabei ununterbrochen. Als der Polizeibe­ amte schließlich den Anruf mit dem Wort „Hallo“ entgegennahm, fragte der An­ rufer: „Can I get a 40?“. Sodann fragte der Polizeibeamte nach dem Namen des Anrufers, woraufhin dieser auflegte. Crack wird in Form kleiner Klumpen, auch Steine („rocks“) genannt, in Mengen ab einem zehntel Gramm verkauft und „40“ ist ein gängiger Begriff für vier Zehntel eines Gramms Crack.550 Der Polizist war sich deshalb sicher, dass die Päckchen nicht für den Eigenbedarf, sondern zum Verkauf bestimmt waren.551 Nach Ansicht der Mehrheit in Garner v. State – die Entscheidung erging mit fünf zu zwei Stimmen – kann die Aussage des Polizisten über den Inhalt des Anrufs verwertet werden und so wurde Garner unter anderem wegen „possession with intent to distribute cocaine“ verurteilt.

548  Kenney, J., dissenting, Fields v. State, 895 A.2d 339, 354 f. (Md. Ct. Spec. App. 2006). 549  Bernadyn v. State, 887 A.2d 602, 390 Md. 1 (Md. 2005). 550  Zur Bedeutung 20/30/40/50 siehe Garner v. State, 995 A.2d 694, 708 (Md. 2010): „Its usually known in money denominations, is the common way it is referred to, such as a 20 rock, a 40 rock, 60, 80 and even as high as an 100 probably for a street. (…) Forty is a quantity of crack cocaine that is commonly referred to. It’s approximately four-tenths of a gram. Just like a 20 is about two-tenths of a gram“. 551  Garner v. State, 960 A.2d 649, 651 (Md. Ct. Spec. App. 2008).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Fragen sollen nämlich, wie auch Angebot und Annahme – insbesondere bei Anrufern, die in einem Wettbüro anrufen, um ihre Wetten zu platzieren, oder bei Anrufern, die Drogen kaufen wollen –, keine assertion, sondern lediglich „ver­ bal parts of acts“552 darstellen.553 Unter Hinweis auf Little v. State wird betont, dass „die Platzierung eines Wetteinsatzes oder der Kauf von Drogen (…) ein Ver­ tragsabschluss sind. Es liegen ein Angebot und eine Annahme vor. Die über das Telefon gesprochenen Worte des potenziellen Wettenden oder Käufers werden deshalb häufig als verbal parts of acts eingestuft. Sie werden nicht als assertions betrachtet und unterfallen nicht der Prüfung durch die Regeln gegen hearsay.“554 Laut der Mehrheit des Gerichts war die einzige implied assertion, dass der Anrufer die finanziellen Mittel hat, die Drogen zu kaufen, und aus der Frage als verbal act ergebe sich lediglich, dass der Angerufene im Besitz eines Telefons ist, auf dem eine Person anruft, die Drogen kaufen möchte (consequential fact).555 Die Senatsmehrheit zitiert auch zahlreiche Entscheidungen, nach denen Fragen grundsätzlich keine assertions sein können („Questions and commands generally are not intended as assertions, and therefore cannot constitute hearsay.“556). Hier wird möglicherweise angedeutet, dass wohl doch ein intent erforderlich ist.557 Diese Ansicht kritisiert Bell, C.J., in seiner dissenting opinion scharf.558 Die Senatsmehrheit verkenne, dass es sich gerade nicht (nur) um einen verbal act, sondern vielmehr um ein statement handele, das in den Anwendungsbereich der hearsay rule falle. Zunächst setzt sich Bell ausführlich mit der Definition eines 552  Dazu

schon oben Kapitel C. II. 1. a) dd); siehe zum verbal act approach bei der Definition von hearsay auch Fenner, Hearsay Rule, S. 25 f. 553  Garner v. State, 960 A.2d 649, 659 (Md. Ct. Spec. App. 2008). 554 So heißt es in Garner v. State, 995 A.2d 694, 700 (Md. 2010) zustimmend mit Verweis auf Garner v. State, 960 A.2d 649, 659 (Md. Ct. Spec. App. 2008): „The making of a wager or the purchase of a drug, legally or illegally, is a form of contract. Little v. State, 204 Md. 518, 522 – 23, 105 A.2d 501 (1954). There is an offer and an acceptance. The telephoned words of the would-be bettor or would-be purchaser are frequently categorized, therefore, as verbal parts of acts. They are not considered to be assertions and do not fall under the scrutiny of the rules against hearsay“. 555  Garner v. State, 995 A.2d 694, 704 (Md. 2010): „(…) the only assertion implied in the anonymous caller’s question was the assertion that the caller had the funds to purchase drugs that he wanted to purchase. Because the caller’s request did not constitute inadmis­ sible hearsay evidence, the rule against hearsay does not operate to exclude evidence of the ,verbal act‘ that established a consequential fact: Petitioner was in possession of a tele­ phone called by a person who requested to purchase cocaine“. 556  Garner v. State, 995 A.2d 694, 703 (Md. 2010); United States v. Thomas, 451 F.3d 543, 548 (8th Cir. 2006) m. w. N. 557  So jedenfalls Lanzendorfer, 71 Md. L. Rev. 619, 637 (2012). 558  Garner v. State, 995 A.2d 694, 705 ff. (Md. 2010), Bell, C.J., dissenting; den Ausfüh­ rungen zu implied assertions zustimmend Harrell, J.; so kritisiert Bell auf Seite 710: „This [holding] turns the concept of verbal act on its head and undermines the hearsay rule“.

II.  Die Definition von hearsay evidence

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verbal acts auseinander:559 „Ein verbal act bezieht sich auf oder beschreibt eine Handlung, die sich fortsetzt oder die zu einer weiteren Handlung führt.“560 An­ hand von zwei Entscheidungen aus dem Bundesstaat Florida, Antunes-Salgado v. State561 und Banks v. State562 legt er überzeugend dar, dass „verbal acts auf solche Äußerungen beschränkt sind, die eine Aktion oder Reaktion des Beschuldigten beschreiben und nicht solche, die in der Absicht in den Prozess eingeführt wer­ den, den Beschuldigten ‚direkt zu belasten‘“.563 (e) Diskussion Die Rechtsprechung des Bundesstaates Maryland erscheint diskussionsbe­ dürftig: Speziell die Entscheidung in Garner v. State ist zu kritisieren (aa), aber auch bei einem Vergleich dieser drei wegweisenden Entscheidungen untereinan­ der erscheint die Rechtsprechung inkohärent (bb). (aa) Kritik an Garner v. State Dass die rechtliche Klassifizierung als verbal act fragwürdig erscheint und dass solche Äußerungen als mixed acts durchaus auch eine wesentliche Kompo­ nente haben, die assertive ist, wurde bereits angesprochen. Sofern also eine assertion bejaht wird, wird diese – entgegen der majority opin­ion – auch zum Beweis der in ihr enthaltenen Tatsache angeboten. Bell, C.J., weist in seiner dissenting opinion zu Recht darauf hin, dass es der Anklage nicht darum ging, zu zeigen, dass der Anruf auf einem Telefon, das dem Angeklagten gehört, erfolgte – denn was sollte das auch bringen –, sondern „in Wahrheit war die einzige Auswirkung, wenn nicht gar Absicht, zu beweisen, dass der Ange­

559  Garner v. State, 995 A.2d 694, 710 (Md. 2010), Bell, C.J., dissenting: „According to our jurisprudence and that of our sister jurisdictions, a verbal act is verbiage that describes an action taking place.“ m. z. N. zur Rspr. 560  Garner v. State, 995 A.2d 694, 711 (Md. 2010), Bell, C.J., dissenting: „A verbal act references or describes an action that is ongoing or gives rise to further action. (…) Cases involving evidence secured during the raid of a betting or gambling house make this point clear. In these cases, the statements are offered to prove the nature of the activity occurring on the premises, and not to prove the defendant’s complicity. Other evidence is needed to make that connection“. 561  Antunes-Salgado v. State, 987 So. 2d 222 (Fla. 2d DCA 2008). 562  Banks v. State, 790 So.2d 1094 (Fla. 2001). 563  Bell, C.J., dissenting, Garner v. State, 995 A.2d 694, 713 (Md. 2010): „Antunes-Salgado and Banks show that verbal acts are restricted to those statements which describe an action or reaction by the defendant and not those that are introduced for the purpose of ,directly incriminating‘ the defendant“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

klagte mit Kokain handelt.“564 Es geht also nicht, wie die majority opinion irrig annimmt, um die aus der Frage folgende Tatsache, dass der Angeklagte ist im Besitz eines Telefons, auf dem eine Person anrief, die Drogen kaufen wollte, son­ dern vielmehr darum, dass daraus gefolgert wird, der Besitzer des Mobiltelefons ist auch der Besitzer von Kokain, das er verkaufen und das der Käufer gerade kaufen will. Nur wenn diese Behauptung wahr ist, dann kann dem Angeklagten ein entsprechender intent to distribute nachgewiesen werden. Ferner ist nicht nur die Aufrichtigkeit, sondern es sind auch weitere Faktoren von Bedeutung: Es handelt sich um einen einzigen Anrufer, dessen Identität nicht geklärt werden konnte und dessen Handlung großen Raum für Spekulationen bietet: Der anonyme Anrufer stellt unmittelbar die Frage „Can I get a 40?“, ohne zuvor nach einer bestimmten Person gefragt zu haben, und legt sodann sofort auf. Es gibt im Gegensatz zu Best v. State gerade kein Gespräch mit einer be­ kannten und auch nicht mit einer unbekannten Person, sondern nur eine einzige Frage eines Unbekannten. Es besteht die Möglichkeit, dass er sich verwählt hat. Dann wäre es zwar unhöflich, aber nicht absolut ausgeschlossen und in gewis­ ser Weise noch sozialadäquat, dass der vollkommen überraschte Anrufer einfach auflegt, als er seinen Irrtum bemerkt.565 Vielleicht hat sich jemand einen Scherz erlaubt, als er gesehen hat, dass die Polizei Haus und Grundstück des Nachbarn durchsucht; vielleicht wollte der Anrufer seinem verhassten Nachbarn oder Kon­ kurrenten „eins auswischen“. Diese Aspekte mögen konstruiert wirken, völlig fernliegend sind sie aber nicht und sie sollten vor allem in einem Rechtssystem, das der Unmittelbarkeit und dem Kreuzverhör eine ganz besondere Bedeutung beimisst, nicht unbeachtet bleiben. All diese Fragen können nicht im Kreuzver­ hör geklärt werden und auch die üblichen hearsay dangers bestehen. Vielleicht war es der Polizist, der den Anrufer falsch bzw. nicht verstanden hatte, und die Lücke mittels eines adaptiven Sinngebungsprozesses füllte: Der das Grundstück nach Drogen durchsuchende Polizeibeamte, der das klingende Telefon abnimmt, erwartet insgeheim, dass jemand anruft, um Drogen zu kaufen, und somit nach einem „forty“ fragt. Der Anrufer, der sodann von der ihm fremden Stimme nach seinem Namen gefragt wird, glaubt, die falsche Nummer gewählt zu haben, und legt überrascht auf. In Garner v. State mögen die 13 aufgefundenen Beutel den Schluss nahe le­ gen, der Beschuldigte habe intent to distribute gehabt; ausgeschlossen, dass sie nur für den Eigenkonsum gedacht waren, ist es jedoch nicht: Soll wirklich ein einziger Anruf von einer anonymen Person den Unterschied machen? Es muss doch – zumindest auf der Ebene des Beweiswertes – auch auf die Anzahl der 564  Bell, C.J., dissenting, Garner v. State, 995 A.2d 694, 714 (Md. 2010): „In truth, its only effect, if not its purpose, was to prove that the petitioner was distributing cocaine“. 565  Siehe auch die Kritik von Fenner, 62 UMKC L. R., 1, 76 (1993).

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Anrufer ankommen, die den Namen des vermeintlichen Drogendealers nennen: Während es in Regina v. Kearley566 immerhin eine Vielzahl von Anrufen gab und sogar mehrere Personen an der Haustür klingelten, gibt es bei Garner bloß einen einzigen Anruf. Bei mehreren Anrufen liegt der Schluss nahe, dass der Inhaber des Telefonan­ schlusses im Vorfeld irgendetwas getan haben muss, um all die Anrufe zu veran­ lassen. Anders ist es hingegen, wenn nur ein einziger Anruf eingeht. (bb) Kritik an der Rechtsprechung des Staates Maryland – Vergleich der drei Urteile Auch wenn man die drei Urteile untereinander vergleicht, erscheint die Recht­ sprechung des Bundesstaates Maryland nicht konsequent. Man kann sich die Fra­ ge stellen, ob das Gericht in Garner v. State möglicherweise unbewusst von den Präzedenzfällen Stoddard v. State und Bernadyn v. State abweicht. Zwar wird in Garner v. State betont, dass die beiden anderen Entscheidungen nicht bestätigt oder aufgehoben werden müssen, da sich diese nicht mit verbal acts bzw. verbal parts of an act befassten,567 entscheidend ist aber, dass der wesentliche Punkt in allen drei Entscheidungen die implied assertions sind und sich das Gericht in Garner recht eindeutig um eine restriktive Auslegung dieses Begriffs bemüht, um einer grenzenlosen Ausuferung der implied assertions und damit der Anwen­ dung der hearsay rule entgegenzutreten. Es darf aber nicht verkannt werden, dass gerade auch in dieser Konstellation die typischen Gefahren, auf die das Verbot des Hörensagenbeweises zurückzuführen ist und die gerade auch in Stoddard v. State noch so sehr betont worden sind, bestehen: die hearsay dangers. Ähnlich wie der Absender an Bernadyn zeigt der Anrufer bei Garner nur dann, dass Garner ein Drogendealer war, wenn der Anrufer auch glaubte, dass Garner Drogen verkaufte und dieser Glaube auch korrekt war. In Garner v. State wird nunmehr anscheinend der herrschenden Meinung, dass implied assertions kein hearsay seien, gefolgt, wie es von der Mehrheit der Einzelstaaten und auch den Bundesgerichten betrachtet wird. In Bernadyn v. State hingegen wurde Bezug nehmend auf Stoddard v. State noch festgestellt, dass der common law approach bewusst aufrecht erhalten werde.568 In Garner v. State wird angedeutet, dass nun­ mehr auch ein intent erforderlich sei, damit eine Äußerung unter die hearsay rule fällt. Würde man nun das Urteil Garner v. State auf Stoddard v. State übertragen, 566 

Näher dazu sogleich unter c). Garner v. State, 995 A.2d 694, 699 f. (Md. 2010). 568  Bernadyn v. State, 390 Md. 1, 10 (2005): „In ruling that this evidence was hearsay, we rejected the intent-of-the-declarant approach suggested in the Advisory Committee note to Federal Rule of Evidence 801(a), and instead retained the common law approach to implied assertions“. 567 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

so käme man vermutlich zu dem Ergebnis, dass auch die Frage „Is Erik going to get me?“ kein hearsay darstellen würde, da das Kind nichts mitteilen wollte und es bei ihrer Aussage auch nicht darauf ankommt, was das Mädchen glaubte. Hin­ gegen kam es bei Bernadyn v. State darauf an, was der Absender glaubte, aber er wollte dies gar nicht mitteilen.569 Es wäre also mehr als wünschenswert gewesen, wenn das Gericht in Garner v. State Farbe bekannt und die beiden anderen Ent­ scheidungen ausdrücklich bestätigt oder aufgehoben hätte. (2) Weitere Bundesstaaten Ein ähnlicher Ansatz wie in Maryland, dass implied assertions als hearsay zu behandeln sind, insbesondere wenn sie zu einem entsprechenden Beweiszweck verwendet werden, wird auch in einigen anderen Bundesstaaten, wie beispiels­ weise Virginia und Texas, verfolgt.570 So wurde in Brown v. Commonwealth entschieden, dass die Frage „Weiß Peg­ gy, dass ich hier bin?“, die ein wegen Einbruchs und Vergewaltigung Verhafteter stellt, hearsay darstellt, wenn durch die Frage bewiesen werden soll, dass sich die beiden Personen kannten, obwohl der declarant sicher keinen intent hatte, dies zu erklären.571 Besonders anschaulich ist die texanische Entscheidung Mosley v. State572: Als die Zeugin Verdacht schöpfte, dass ihre dreijährige Tochter Jane vom neuen Mann ihrer Mutter, Mosley, sexuell missbraucht wird, informierte sie ihre Mutter über ihre Vermutungen, woraufhin die Mutter entgegnete, sie könne die beiden nicht ständig beaufsichtigen. Bei dieser Äußerung „Well, I can’t watch them all the time“573 handele es sich um hearsay, weil man aus den Worten die Schlussfol­ gerung ziehen könne, dass sie wusste, dass Mosley und Jane alleine waren und dass Jane sexuell missbraucht wurde.574 Dies sei gerade nicht nur circumstancial 569 

Lanzendorfer, 71 Md. L. Rev. 616, 644 f. (2012). dazu auch Lanzendorfer, 71 Md. L. Rev. 616, 640 (2012), dort insbesondere Fn. 184. 571  „Does Peggy know I am here?“; näher dazu Brown v. Commonwealth, 25 Va.App. 171, 487 S.E.2d 248, 252 (1997). 572  Mosley v. State, 141 S.W.3d 816 (Tex.Ct.App. 2004). 573  Mosley v. State, 141 S.W.3d 816, 829 (Tex.Ct.App. 2004). 574  Mosley v. State, 141 S.W.3d 816, 830 f. (Tex.Ct.App. 2004): „We hold that McCoy’s testimony concerning her mother’s statement was hearsay. Rule of Evidence 801(c) treats the implication of the out-of-court statement as a ,matter asserted‘ and hearsay if offered for the implication. As illustrated by the State during trial, the statement was offered for the implication that McCoy’s mother knew Mosley and Jane were alone together and that she knew Jane was being sexually assaulted. This is an implied ,matter asserted‘ under the Rules of Evidence and was, therefore, hearsay. The trial court erred in overruling Mosley’s objection“; vgl. Tex. R. Evid. 801(c): „,Matter asserted‘ includes any matter explicitly as­ 570  Siehe

II.  Die Definition von hearsay evidence

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evidence, sondern gerade deshalb als Beweis angeboten worden. Die texanische hearsay rule ist also breiter als die der Federal Rules of Evidence, weil sie auch „implied ‚matter asserted‘“ erfasst.575 Allerdings würde vermutlich auch die herrschende Meinung für diesen Fall hearsay bejahen, da zumindest auch ein entsprechender intent gegeben ist, mitzu­ teilen, dass ihr bewusst ist, was passiert, indem sie quasi sagt, „Ja, ich weiß was passiert, aber ich kann nichts dafür!“. Problematisch ist also nicht nur die Definition von hearsay nach den Federal Rules of Evidence, sondern auch die in anderen Bundesstaaten, in denen ein com­ mon law approach vertreten wird, denn auch dort kommt es zu Unstimmigkeiten über die Frage der Zulässigkeit von implied assertions. c)  Implied assertions im englischen Recht: Regina v. Kearley Auch eine weitere englische Entscheidung aus dem Jahre 1992 hat in der US-amerikanischen Rechtsprechung Beachtung erfahren und sich mit implied assertions befasst: Regina v. Kearly576. Ebenso wie in den US-amerikanischen Entscheidungen Garner v. State, United States v. Long und United States v. Lewis ging es in Regina v. Kearley um den Handel mit Drogen. Während die Polizei das Haus und das Grundstück des Beschuldigten Kearley durchsuchte, nahmen die Polizisten elf Anrufe auf dem Haustelefon entgegen, in denen die Anrufer nach „Chippie“ – der Spitzname des Beschuldigten – fragten und zugleich äußerten, dass sie Drogen kaufen wollten („Ich möchte Drogen bei Chippie kaufen.“/„Can I have the usual?“). Zwei Anrufer fragten nach der „üblichen Menge“.577 Ferner klingelten in dieser Zeit sieben Personen an der Haustür, fragten nach „Chippie“ und deuteten an, dass sie Drogen kaufen wollten; einige hielten schon das Bargeld in der Hand.578 Die Polizisten sagten vor Gericht über die Besuche und Anrufe aus, weil die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten dadurch einen Vorsatz zum Handeltreiben (intent to supply) nachweisen wollte; die bei der Durchsuchung aufgefundene Menge war nicht groß genug, um eindeutig von einem Handel auszugehen, so dass es gerade auf die Aussagen der Polizisten ankam. Das House of Lords ent­ serted, and any matter implied by a statement, if the probative value of the statement as offered flows from declarant’s belief as to the matter“. 575  So ausdrücklich Mosley v. State, 141 S.W.3d 816, 830 f. (Tex.Ct.App. 2004). 576  Regina v. Kearly, 2 App. Cas. 228 = 2 W. L. R. 656 (House of Lords 1992); dazu näher Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75 (1995); siehe auch Choo, Evidence, S. 283 f. m. w. N. zu englischer Literatur und Rspr.; siehe zu implied assertions im australischen Recht, Williams, 32 Monash U. L. Rev. 47 ff. (2006). 577  Regina v. Kearley, 2 W. L. R. 656, 665 (House of Lords 1992). 578  Regina v. Kearley, 2 W. L. R. 656, 658 und 681 (House of Lords 1992).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

schied mit einer Mehrheit von drei zu zwei Stimmen, dass die Polizisten unzuläs­ sigerweise zu einer Äußerung der Interessenten vernommen wurden, da es sich bei deren implied assertions um hearsay handele. Die Anrufer hätten zwar nicht ausdrücklich geäußert, dass Chippie mit Drogen deale, dies aber sehr wohl kon­ kludent zum Ausdruck gebracht. Schon aus der Frage „Wirst du mich mit Drogen versorgen?“ könne gefolgert werden, dass der Fragende davon ausgeht, dass der Gefragte ihn mit den gewünschten Drogen versorgen wird. Dies werde dadurch unterstrichen, dass die Personen an der Haustür bereits das Geld in der Hand hielten. Besonders deutlich werde es bei den Anrufern, die nach der „üblichen Menge“ fragen: Diese bringen durch ihre Frage konkludent zum Ausdruck, dass sie in der Vergangenheit durch Chippie schon mit Drogen versorgt worden sind.579 Über eine solche implied assertion dürfen Dritte nicht vernommen werden. Die Interessenten bringen konkludent zum Ausdruck, dass sie Drogen kaufen wollen und damit konkludent, dass Chippie ein Drogendealer ist. Die Anwesen­ heit potentieller Käufer ist gerade auch ein Indizienbeweis (circumstancial evi­ dence) für die Existenz eines Marktes für Drogen: Ohne Käufer kann es keinen Handel geben.580 In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder die hohe Anzahl potentiel­ ler Käufer binnen kurzer Zeit thematisiert, da nicht nur von Bedeutung sein soll, was die Anrufer sagen, sondern auch die Anzahl der Anrufe. Zwar haben United States v. Long und Garner v. State schon die Frage eines einzigen Anrufers („Hat Keith noch Stoff?“ bzw. „Can I get a forty?“) ausreichen lassen – und es ist schon angesprochen worden, weshalb dies bedenklich ist –, aber wenn man eine Aussa­ ge über den Inhalt des Anrufs schon zulassen will, so ist zumindest zu fordern, dass mehr als nur ein einziger Anruf eingeht.581 Wenn man allerdings Regina v. Kearly und Garner v. State vergleicht, so scheint man zu dem Paradoxon zu ge­ langen, dass bei vielen Anrufern wie in Kearly hearsay bejaht wird, hingegen bei Garner ein einziger Anruf zugelassen wird, was im Ergebnis dazu führt, dass das bessere Beweismittel ausgeschlossen wird. Allerdings ist hier interessant, dass zwischen der Zulässigkeit des Beweises und dessen Beweiswert nicht scharf ge­ trennt, sondern Fragen der Zulässigkeit und des Beweiswertes vielmehr vermengt werden. Die Frage des Beweiswertes darf aber erst, nachdem über die Zulässig­ keit entschieden wurde, im Rahmen einer Beweiswürdigung thematisiert werden. Für die zunächst zu klärende Frage der Zulässigkeit des Beweismittels kann es keinen Unterschied machen, ob ein einziger oder mehrere Anrufe vorliegen. 579  Lord Bridge of Harwich, Regina v. Kearley, 2 W. L. R. 656, 665 (House of Lords 1992). 580  Siehe dazu auch das Beispiel von Lord Browne-Wilkinson, Regina v. Kearley, 2 W. L. R. 656, 699 (House of Lords 1992). 581  So auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 836 (1990) und Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75, 81 (1995), die einen foundation fact approach vertritt.

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Im Ergebnis allerdings zutreffend weist auch Lord Griffiths zu Recht darauf hin, dass gerade eine Vielzahl von Anrufen das besondere Gewicht dieses Be­ weises ausmacht und die Gefahr eines Irrtums oder böswilliger Absicht redu­ ziert.582 Unabhängig von den Gefahren des Zeugenbeweises, die in der Person des vernommenen Polizisten bestehen – Wahrnehmung, Erinnerung, Wiedergabe –, besteht auch gerade die Gefahr, dass die Motive des Anrufers, weshalb er die Frage gestellt hat, nicht geklärt werden können. Da die Gerichtsmehrheit die im­ plied assertions aber als hearsay behandelt, spricht sich Lord Griffiths in seiner dissenting opinion recht forsch für eine Verwertbarkeit der Anrufe aus: Würde man diesen Beweis zurückhalten, dann würde der Laie denken, dass „das Recht dämlich“583 sei. Im Gegensatz zu der herrschenden Meinung im US-amerikanischen Recht fielen also lange Zeit, wie die Entscheidungen in Wright v. Tatham und Regina v. Kearley zeigen, auch implied assertions unter die hearsay rule. Zu diesem Er­ gebnis käme man im US-amerikanischen Recht wohl nur, wenn man dem oben erwähnten foundation fact approach folgen würde, wofür durchaus gute Gründe sprechen: Die Aussage („Ich möchte Drogen bei Chippie kaufen“) des anonymen Anrufers ist in einem Verfahren wegen Drogenhandels nur deshalb von Bedeu­ tung und damit relevant, weil es demjenigen, der sie in das Verfahren einführt, also der Staatsanwaltschaft, darum geht, zu zeigen, dass der Anrufer glaubt, Kear­ley sei ein Drogendealer und habe in der Vergangenheit Drogen verkauft. Zwar behauptet der Anrufer dies nicht direkt, aber genau diesen Schluss sollen die Geschworenen aufgrund ihres Hintergrundwissens aus der Verhandlung, die ja auch wissen, dass es sich um ein Verfahren wegen Drogenhandels handelt, oder aufgrund ihrer Erfahrung ziehen, ohne diese überprüfen zu können. Auch hier bestehen die allgemeinen Gefahren, die dem Zeugenbeweis im­ manent sind: Die Erzählung, Erinnerung, Wiedergabe und die Glaubwürdigkeit des declarant und insbesondere die Verbindung zwischen der Aussage und der 582  Regina v. Kearley, 2 W.L.R. 656, 664 (House of Lords 1992): „(…) the strength of the evidence lies in the fact that there were so many customers. (…) If there had been only one or two calls made to the premises offering to buy drugs they would carry little weight; they might be the result of mistake or malice, but as the number of calls increases so these possibilities recede till the point is reached when any man of sense will be confident that any inference other than that the accused was a dealer can be safely rejected“. 583  Lord Griffiths, dissenting, 2 App. Cas. 228, 236 f. = 2 W.L.R. 656 (House of Lords 1992): „Unless compelled to do so by authority I should be most unwilling to hold that such evidence should be withheld from the jury. In my view the criminal law of evidence should be developed along common sense lines readily comprehensible to the men and women who comprise the jury and bear the responsibility for the major decisions in criminal cases. I believe that most laymen if told that the criminal law of evidence forbade them even to consider such evidence as we are debating in this appeal would reply ,Then the law is an ass‘“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Wahrheit dieser Behauptung können hier nicht überprüft, insbesondere kann der declarant nicht dem Kreuzverhör unterzogen werden.584 Der englische Gesetzgeber hat allerdings die Vorschriften zum Hörensagen­ beweis mit dem Criminal Justice Act 2003, der am 4. April 2005 in Kraft ge­ treten ist, reformiert und damit unter anderem auf die Entscheidung Regina v. Kearly reagiert und section 115(3)585 dahingehend reformiert, dass zwingend ein bestimmter Vorsatz (purpose) für eine Äußerung erforderlich ist, um in den An­ wendungsbereich der hearsay rule zu gelangen. Unintentional implied assertions sollen also nicht mehr Beweis vom Hörensagen darstellen und können neuer­ dings im Strafverfahren verwertet werden, was auch die Entscheidung Regina v. Singh586 bestätigt.587 Nunmehr wären die Anrufe also als direkter Beweis dafür zulässig, „dass es von diesem Gelände ausgehend einen vorhandenen Markt für den Handel mit Drogen gibt, woraus gefolgert werden kann, dass der Wohnungs­ inhaber einen entsprechenden Vorsatz hat“588. d)  Nonverbales Verhalten (nonverbal conduct) Auch nonverbales Verhalten kann eine assertion darstellen, wenn dem Verhal­ ten ein Erklärungswert zukommt und es mit entsprechender Absicht (intention)

584 

Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75, 79 (1995). Siehe section 114 und 115 Criminal Justice Act 2003, insbesondere section 115 (3): „A matter stated is one to which this Chapter applies if (and only if) the purpose, or one of the purposes, of the person making the statement appears to the court to have been – (a) to cause another person to believe the matter, or (b) to cause another person to act or a machine to operate on the basis that the matter is as stated“. 586  Regina v. Singh, 170 JP 222, EWCA Crim 660 (2006), dort heißt es in Rn. 13: „(…) Under Kearley an unintentional implied assertion was excluded as hearsay. The ob­ ject of s.115(3) is to draw a line between intentional implied assertions still caught by the hearsay rule and unintentional implied assertions no longer treated as hearsay. (…)“ sowie in Rn. 14 „(…) When ss. 114 and 118 are read together they, in our judgment, abolish the common law hearsay rules (save those which are expressly preserved) and create instead a new rule against hearsay which does not extend to implied assertions. What was said by the callers in Kearley would now be admissible as direct evidence of the fact that there was a ready market for the supply of drugs from the premises, from which could be inferred an intention by an occupier to supply drugs. The view of the majority in Kearley, in relation to hearsay, has been set aside by the Act“. 587  Siehe dazu auch Choo, Evidence, S. 283 f. m. w. N. zu englischer Literatur und Rspr. 588 Vgl. dazu auch Regina v. Singh, 170 JP 222, EWCA Crim 660 (2006), Rn. 14: „What was said by the callers in Kearley would now be admissible as direct evidence of the fact that there was a ready market for the supply of drugs from the premises, from which could be inferred an intention by an occupier to supply drugs“. 585 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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vorgenommen wird. Der declarant wäre dann also derjenige, dessen Verhalten vom Zeugen beobachtet worden ist.589 aa)  Non-assertive nonverbal conduct Nonverbales Verhalten (conduct) ist meistens non-assertive, da man nicht kommunizieren, also niemandem etwas mitteilen will.590 Um zu verdeutlichen, dass häufig gar kein assertive intent gegeben ist, werden in der US-amerikani­ schen Rechtswissenschaft häufig sehr simple, aber anschauliche Beispiele591 ver­ wendet: Ein Fußgänger benutzt einen Regenschirm, um nicht nass zu werden – und nicht, um jemandem mitzuteilen, dass es regnet.592 Ebenso handelt es sich um non-assertive conduct, wenn der an einer roten Ampel wartende LKW-Fahrer bei Grün weiterfährt, denn er tut dies, um seine Fahrt fortzusetzen, und nicht, um jemandem mitzuteilen, dass die Ampel umgesprungen ist. Ein Autofahrer kann also zum Beweis der Tatsache, dass die Ampel grün war, über den Abbiegevor­ gang des LKW-Fahrers durchaus als Zeuge berichten, was keinen Verstoß gegen die hearsay rule bedeuten würde.593 Auch beim nonverbalen Verhalten (nonverbal conduct) ist entscheidend, ob dies bewusst/absichtlich (intentionally) als Ersatz für Worte genutzt wird, um eine Tatsache oder Meinung auszudrücken, oder ob es unfreiwillig bzw. unbeab­ sichtigt geschieht. Ein Zeuge kann also durchaus darüber aussagen, dass er einen Fußgänger mit einem Regenschirm gesehen hat, um zu beweisen, dass es geregnet hat. Wenn­ gleich auch hier gewisse Risiken des Zeugenbeweises bestehen, sollen diese Ri­ siken minimal sein, da nach herrschender Meinung mangels intent Aufrichtigkeit gegeben sei.594 Anders war die Rechtslage allerdings noch bei dem berühmten Beispiel des Schiffskapitäns von Baron Parke aus dem Urteil Wright v. Tatham: Der Kapitän, der gewissenhaft das Schiff inspiziert hat, geht anschließend mit seiner Familie

589 

Lilly/Capra/Saltzburg, S. 151. Rice, 65 Temple L. Rev. 529, 536 (1992): „(…) one can engage in conduct without ever intending to communicate anything to anyone.“ (Hervorhebung im Original). 591  Beispiele von Falknor, 33 Rocky Mntn. L. Rev. 133 (1961); siehe auch United S ­ tates v. Zenni, 492 F.Supp. 464, 467 (E.D.Ky. 1980). 592  Falknor, 33 Rocky Mntn. L. Rev. 133, 136 (1961). 593  Falknor, 33 Rocky Mntn. L. Rev. 133, 136 (1961); näher dazu auch Fenner, Hearsay Rule, S. 9. 594  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 753. 590 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

an Bord und sticht in See.595 Durch das Einsteigen bringt der Kapitän konkludent zum Ausdruck, dass das Schiff seetüchtig ist. Denn es ist naheliegend, dass aus der Tatsache, dass der Kapitän mit seiner gesamten Familie an Bord geht, auf die Seetüchtigkeit geschlossen werden kann. Wenn es irgendwelche Mängel am Schiff geben würde, dann würde der Kapitän wohl nicht selbst und schon gar nicht mit seiner Familie an Bord gehen. Ein Dritter, der den Kapitän beim Einstei­ gen beobachtet, dürfte nach damaligem Recht später in einem Verfahren, in dem es um die Seetüchtigkeit des Schiffes geht, darüber nicht als Zeuge vernommen werden, denn der Kapitän müsste die Seetüchtigkeit selbst bezeugen. Auch das Besteigen des Schiffes als nonverbal conduct wurde damals, obwohl kein intent to assert vorlag, als hearsay betrachtet, wohingegen nach heutzutage herrschen­ der Meinung ein intent to assert erforderlich ist, um nonverbal conduct als hear­ say betrachten zu können.596 bb)  Körperliche Reaktionen als non-assertive nonverbal conduct Auch nicht willensgesteuerte Handlungen, wie das Zittern vor Angst oder das Ausbrechen in Tränen, sind unfreiwillige physische Reaktionen und fallen als non-assertive nonverbal conduct nicht unter die hearsay rule. So durfte in Cole v. United States597 ein Bankangestellter darüber aussagen, dass der Kassierer bleich war und zitterte, woraus gefolgert werden sollte, dass der Raub unter Einschüchterung598 begangen wurde. Bleichwerden und Zittern sind körperliche Reaktionen, durch die der Betroffene keine Nachricht übermit­ teln will.599 Auch in Missbrauchsfällen ist nonverbal conduct oft von Bedeutung, wenn ein Kind wegläuft, sich versteckt, schreit oder zu weinen beginnt, wenn eine be­ stimmte Person, der vermeintliche Peiniger, den Raum betritt.600 In People v. Davis ging es um ein Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs, in dem der An­ 595 Wright v. Tatham, 112 Eng. Rep. 488, 516 f. (Exchequer Chamber, 1837); siehe dazu auch Kirigs, Wm. & Mary L. Rev. 275, 278 (2001). 596 McCormick on Evidence, S. 201 f. 597  Cole v. United States, 327 F.2d 360 (9th Cir. 1964). 598  Einschüchterung (intimidation) ist Tatbestandsmerkmal des Bankraubs, bank rob­ bery, Section 2113(a) of Title 18, United States Code. 599  Cole v. United States, 327 F.2d 360, 361 (9th Cir. 1964): „Obviously it was not he­ arsay. The teller was not pale and shaking for the purpose of communicating a message“. 600  Näher dazu In re Penelope B., 104 Wn.2d 643, 654 (1985): „For example, if in a child abuse case someone walks into a place where the child is, or that person’s name is mentioned, and the child involuntarily reacts by trembling, running and hiding, screaming, crying, shouting ,I hate you‘ or the like, then such would be nonassertive utterances or nonverbal conduct and not hearsay. Since the utterance or nonverbal conduct is not hearsay then whether the child was competent or not is immaterial“.

II.  Die Definition von hearsay evidence

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geklagte unter anderem aufgrund der Aussage der Mutter des Opfers verurteilt wurde, die ausgesagt hatte, dass ihre Tochter in Tränen ausgebrochen sei, als sie ihre Tochter nach dem Verhalten des Angeklagten gefragt habe.601 Der Ange­ klagte war der Ansicht, die Aussage der Mutter dürfe nicht verwertet werden, da es sich um hearsay handele. Die für die Zulässigkeit entscheidende Frage, ob das Verhalten des Mädchens eine Äußerung (statement) darstellt, muss allerdings verneint werden, da in dem spontanen Verhalten des Mädchens, dem Ausbrechen in Tränen, welches so offenkundig unfreiwillig ist, keine absichtliche Erklärung (intended assertion) gesehen werden kann.602 Gleiches gilt, wenn das Opfer einer Vergewaltigung in Tränen ausbricht, als ihm ein Foto des Verdächtigen gezeigt wird.603 cc)  Assertive nonverbal conduct Nonverbales Verhalten kann aber durchaus assertive sein, wie die folgenden Beispiele und Fälle zeigen: Bei einem Zeugen, der die Fragen des Polizeibeamten durch Kopfnicken be­ antwortet oder bei einer Gegenüberstellung oder Wahllichtbildvorlage auf den Beschuldigten zeigt, ohne sich verbal zu äußern, liegt ein entsprechender Wille zur Äußerung und damit eine assertion vor (assertive conduct).604 Durch den Fin­ gerzeig gibt der Zeuge willentlich die Erklärung ab: „Ja, er war es!“, genauso wie dem Kopfnicken als Reaktion auf eine Frage der Erklärungswert „Ja“ oder dem Kopfschütteln der Erklärungswert „Nein“ zukommt.605 Auch der Zeuge, der auf die Frage, ob es regnet, als Reaktion den Regenschirm aufspannt, beantwortet da­ mit die Frage positiv. Der Zeuge macht eine Tatsachenaussage und dies geschieht auch willentlich. Dass er hierfür keine Worte, sondern ein nonverbales Verhalten wählt, macht für die Anwendung der hearsay rule keinen Unterschied. 601 

People v. Davis, 363 N.W.2d 35 (Mich. Ct. App. 1984). People v. Davis, 363 N.W.2d 35, 36 (Mich. Ct. App. 1984): „The question is whether the conduct, the victim’s crying, can be considered a statement. (…) The record before us is void of any indication that the victim intended to make an assertion by her spontaneous act of crying. This is an instance of behavior so patently involuntary that it cannot by any stretch of the imagination be treated as a verbal assertion by the victim (…)“; siehe auch In re Penelope B., 104 Wn.2d 643, 652, 709 P.2d 1185 (1985): „The test is whether [the utterance] was intended as an assertion or not“. 603  People v. Gwinn, 314 N.W.2d 562 (Mich. Ct. App. 1981). 604  Siehe auch McCormick on Evidence, S. 199 f. mit Hinweisen auf Entscheidungen in Fn. 1. 605 Siehe dazu auch Stoddard v. State, 850 A.2d 406, 411; 157 Md. App. 247, 257 (2004): „The pointing of a finger at Suspect # 4 is just as assertive as are the words, ,The man who robbed me is Suspect # 4.‘ Just as surely assertive, in response to a question, is a vertical shaking of the head (,Yes‘), a horizontal shaking of the head (,No‘), or a shrug of the shoulders (,I don’t know‘).“ Aus anderen Gründen aufgehoben 389 Md. 681 (2005). 602 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

In Stevenson v. Commonwealth of Virginia606 ermittelte der Polizeibeamte in einem Verfahren wegen Totschlags und fragte die Ehefrau des Beschuldigten, ob dieser unmittelbar nach der Tat seine Kleidung gewechselt habe. Im Verlauf des Gesprächs fragte der Beamte, was der Beschuldigte getragen habe, und bat die Ehefrau, ihm diese Gegenstände herauszugeben. Als Antwort darauf händigte sie ihm ein Hemd aus, an dem die Kriminaltechnik Blutspuren fand. In der Aushän­ digung dieses Hemdes kann nicht nur die stillschweigende Erklärung (implicid assertion) gesehen werden, dass dieses Hemd dem Beschuldigten gehört, sondern darüber hinaus die Bekundung, dass er dieses Hemd am Tag der Tat getragen hat.607 In der Hauptverhandlung möchte der Staatsanwalt beweisen, dass der Ange­ klagte das Hemd am Tattag trug, und er beantragt, da sich die Ehefrau auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht (spousal privilege) beruft, die Vernehmung des Po­ lizisten. Die Aussagen des Polizeibeamten in Bezug auf das Hemd stellen aller­ dings hearsay dar und sind somit unzulässig. Deshalb dürften das Hemd sowie die Blutspuren, die am Hemd nachgewiesen worden sind, nicht als Beweismit­ tel in den Prozess eingeführt werden.608 Denn im Gegensatz zu den typischen Beschlagnahmefällen, in denen der Polizist bei der Durchsuchung irgendeinen Gegenstand findet, diesen mitnimmt und später in der Hauptverhandlung zu die­ sem Gegenstand befragt werden kann, ist es bei der Übergabe dieses T-Shirts ausschließlich die Frau, die aufgrund ihres Wissens (firsthand-knowledge) nähere Angaben dazu machen kann und daher in der Hauptverhandlung zu vernehmen ist. Ebenso kann in der Aushändigung von Unterlagen eine nonverbal assertion liegen. In United States v. Aspinall, einem Verfahren wegen Kreditkartenbetrugs, fragte ein FBI-Agent ein Unternehmen nach Unterlagen, aus denen hervorging, welche Anweisungen der Angeklagte dem Unternehmen gegeben hatte, worauf­ hin das Unternehmen ihm zwei Dokumente aushändigte und damit zum Aus­ druck brachte, dass das Unternehmen die Erklärungen in den Akten vom Ange­ klagten erhalten hatte.609 606 Stevenson v. Commonwealth of Virginia, 218 Va. 462, 465 (1977): „Nonverbal conduct of a person intended by him as an assertion and offered in evidence to prove the truth of the matter asserted falls within the ban on hearsay evidence“. 607  Stevenson v. Commonwealth of Virginia, 218 Va. 462, 465 (1977): „(…) the act by Mrs. Stevenson came in response to the question of the officer as to what the defendant was wearing when he returned home (…) as well as the officer’s request to obtain that clothing. Thus, the conduct of Mrs. Stevenson was intended as a nonverbal assertion for the purpose of showing that the shirt not only belonged to Stevenson but was in fact worn by him on the day of the crime“. 608  Siehe dazu auch die Darstellung McCormick on Evidence, S. 200. 609  United States v. Aspinall, 389 F.3d 332, 342 (2d Cir. 2004): „AI’s giving the agent those two documents in response to the agent’s questions constituted a representation by

II.  Die Definition von hearsay evidence

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2.   An out-of-court assertion by a person Eine out-of-court assertion ist eine Aussage, die jemand zu einer Zeit gemacht hat, als er sich selbst nicht im Zeugenstand befand. a)  Natürliche Person als declarant Diese Aussage muss auch von einer Person gemacht werden. Während Fed. R. Evid. 801(a) „statement“ definiert, definiert Fed. R. Evid. 801(b) „declarant“ nämlich als „eine Person, die ein Statement abgibt“. Dies scheint auf den ersten Blick so naheliegend, dass es keiner näheren Erörterung bedarf; die Frage, wann die assertion einer Person vorliegt, hat die US-amerikanischen Gerichte aber im­ mer wieder beschäftigt, nämlich insbesondere dann, wenn eine Person über tech­ nische Daten berichtet. Daten und Ergebnisse, die völlig automatisch von einem Computer oder durch sonstige technische Geräte erzeugt werden, sind keine as­ sertion einer Person. Dies gilt beispielsweise für Einzelverbindungsnachweise in einer Telefonrechnung oder die Sendedaten auf einem Telefax610 und ebenso für das Datum des Poststempels, Messergebnisse einer Radarpistole oder die Uhrzeit – wenngleich auch irgendeine Person die Uhr gestellt haben wird.611

AI that it had received the statements on those documents from Aspinall, and as such, it was hearsay, for ,actions‘ may be ,as much a part of the speaker‘s effort at expression as his words are’“. 610  Lorraine v. Markel American Ins. Co., 241 F.R.D. 534, 564 (D. Md. 2007): „When an electronically generated record is entirely the product of the functioning of a compu­ terized system or process, such as the ,report‘ generated when a fax is sent showing the number to which the fax was sent and the time it was received, there is no ,person‘ involved in the creation of the record, and no ,assertion‘ being made. For that reason, the record is not a statement and cannot be hearsay“. 611  In United States v. Lamons, 532 F.3d 1251, 1263 (11th Cir. 2008) ging es um die von einem Telekommunikationsunternehmen maschinell erstellten Rechnungsdaten: „(…) the evidence challenged in this appeal does not contain the statements of human witnesses. (…) We have no difficulty concluding that the statements in question are the statements of machines, not statements of persons“ sowie dort in Fn. 23: „To be sure, there can be no statements which are wholly machine-generated in the strictest sense; all machines were designed and built by humans. But certain statements involve so little intervention by hu­ mans in their generation as to leave no doubt that they are wholly machine-generated for all practical purposes. See United States v. Khorozian, 333 F.3d 498, 506 (3d Cir. 2003) (finding that a fax header is not a hearsay statement because it is not ,uttered by ,a person,‘ [and] nothing ,said‘ by a machine (…) is hearsay.’“; näher dazu Fenner, Hearsay Rule, S. 12 und ders., 62 UMCK L. Rev. 1, 24 ff.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

b)  Problem: machine statements Auch die Ergebnisse einer Blutuntersuchung sind nach Ansicht der Mehrheit in United States v. Washington612 keine assertion einer Person. In dem Fall war der Angeklagte einem Polizisten durch seine Fahrweise aufgefallen und darauf­ hin angehalten worden. Dabei stellte der Polizeibeamte deutlichen Alkoholge­ ruch fest, woraufhin er die Entnahme einer Blutprobe veranlasste. Im Verfahren berichtete ein Sachverständiger über die Ergebnisse der Blutuntersuchung, was nach Ansicht des Angeklagten einen Verstoß gegen die hearsay rule darstellt und unzulässig ist, da er selbst das medizinische Personal aus dem Untersuchungsla­ bor konfrontieren und ins Kreuzverhör nehmen wollte. Nach der majority opinion stellt das Ergebnis der Blutuntersuchung keine assertion einer Person dar, weil niemand das Blut untersucht hat, sondern die Blutergebnisse automatisch von einer Maschine erzeugt und gedruckt wurden.613 Die dissenting opinion meint hingegen, es seien die medizinisch-technischen Assistenten gewesen, die den Test durchgeführt haben, weil ein korrektes Mes­ sergebnis nur erreicht werden könne, wenn das Fachpersonal einen bestimmten, ordnungsgemäßen Verfahrensablauf einhalte, der nur bei entsprechender medi­ zinischer Vorbildung gewährleistet sei.614 Durch diese Beteiligung von Personen am Testverfahren handele es sich um eine assertion und damit hearsay. Diese Ansicht überzeugt nicht, weil sie anscheinend nicht sauber zwischen dem Ergebnis, das automatisch von einem Gerät erstellt wird, und der Zuverläs­ sigkeit der Maschine als Beweismittel an sich differenziert: Es liegt das statement einer Maschine – und damit gerade kein hearsay – vor, wenn das Ergebnis auto­ matisch, d. h. selbsttätig, von einem Gerät erstellt wird. Davon zu unterscheiden ist, ob das Gerät – bevor es mit der automatisierten Verarbeitung beginnt – kor­ rekt bedient worden ist, denn die Zuverlässigkeit eines (automatisierten) Beweis­ mittels kann durch verschiedene Faktoren geschmälert werden: Wie dem medizi­ nischen Personal Fehler unterlaufen können, wenn sie die Blutprobe in das Gerät einführen, so könnte auch der Postbedienstete den Stempel auf das falsche Datum gestellt oder jemand das Faxgerät falsch programmiert haben. Letztendlich wird jedes Gerät und jeder vollautomatisierete Ablauf durch denjenigen beeinflusst, der ihn programmiert hat. Gleiches gilt, wenn das Radargerät längere Zeit nicht 612 

United States v. Washington, 498 F.3d 225 (4th Cir. 2007). United States v. Washington, 498 F.3d 225, 230 (4th Cir. 2007): „The machine print­ out is the only source of the statement, and no person viewed a blood sample and concluded that it contained PCP and alcohol. (…) The raw data generated by the diagnostic machines are the ,statements‘ of the machines themselves, not their operators. But ,statements‘ made by machines are not out-of-court statements made by declarants“. 614  United States v. Washington 498 F.3d 225, 232 (4th Cir. 2007): „(…) hearsay state­ ments of the technicians who ran the tests. The test results, although computer-generated, were produced with the assistance and input of the technicians“. 613 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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geeicht worden ist und es deshalb zu Messfehlern kommt. In all diesen Fällen steht es dem Angeklagten frei, geltend zu machen, dass das Beweismittel Schwä­ chen oder Fehler hat und die Gegenseite nicht ihrer Darlegungs- und Beweislast nachkommt, die sie aufgrund von Fed. R. Evid. 901 trifft, wenn sie ein Beweis­ mittel in den Prozess einführen will, was insbesondere in Fed. R. Evid. 901(b) (9) für Prozesse und Systeme normiert ist.615 Man würde also die Kompetenz des Zeugen oder die Relevanz seiner Aussage anzweifeln, aber es ist keine Frage des Hörensagens.616 Entscheidend ist also immer der Umfang der menschlichen Beteiligung bei der Verarbeitung der Informationen und Daten, die sorgfältig hinterfragt werden muss.617 Beschränkt sich die Tätigkeit einer Person auf das bloße Ausdrucken von Unterlagen an einem Computer, so stellt aber auch dieser Ausdruck hearsay dar, weil die in den Unterlagen enthaltenen Informationen zuvor von einer Person erstellt und in den Computer eingegeben worden sind. Hier liegt also kein auto­ matischer Verarbeitungsprozess vor. Unterlagen können jedoch unter Umständen eine Ausnahme zur hearsay rule bilden, wenn es sich um Geschäftsunterlagen (business records) oder öffentliche Register (public records) handelt. Diese hear­ say exception greift dann, wenn das Erstellen der entscheidende Anknüpfungs­ punkt ist, auch für die ausgedruckten Unterlagen.618 3.   Offered to prove the truth of the matter asserted Um ein statement und damit hearsay kann es sich gem. Fed. R. Evid. 801(c) (2)619 nur dann handeln, wenn die Äußerung auch zum Beweis der darin enthal­ tenen Tatsache angeboten wird, was allgemein als „offered to prove the truth of the matter asserted“ bezeichnet wird. Seit dem 1. Dezember 2011 wurde die For­ mulierung der Norm um den Begriff „in the statement“ erweitert, was für mehr Klarheit sorgen sollte.620 a)  Inhalt des statements und Beweisziel Diese Voraussetzung ist nur erfüllt, wenn es nicht nur darum geht, dass et­ was gesagt wurde, sondern wenn es darum geht, was gesagt wurde, also um die 615  Vgl. dazu auch Niemeyer und Traxler, JJ., United States v. Washington, 498 F.3d 225, 231 (4th Cir. 2007). 616  Fenner, Hearsay Rule, S. 13. 617  McCormick on Evidence, S. 195 f. 618  Mueller/Kirkpatrick, S. 1117. 619  Fed. R. Evid. 801(c)(2) lautet: „,Hearsay‘ means a statement that a party offers in evidence to prove the truth of the matter asserted in the statement“. 620  Siehe dazu Fenner, Hearsay Rule, S. 14, Fn. 37.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

inhaltliche Richtigkeit, die wahr oder falsch sein kann und somit dem Beweis zugänglich ist. Sofern es nur darum geht, darzulegen, dass jemand eine Aussage gemacht hat, also um das Ob – ohne inhaltlich auf diese Informationen einzuge­ hen bzw. deren Inhalt zu wiederholen –, ist man unmittelbarer Zeuge.621 Daher konnte in United States v. Macias-Farias ein Beamter der Drug Enforcement Administration (DEA) von der Verteidigung ins Kreuzverhör genommen werden und bezeugen, dass er Informationen von einer bestimmten Person erhalten ha­ be.622 Sofern er diese Informationen selbst allerdings wiederholt hätte, hätte dies auf hearsay hinauslaufen können, wenn die Information auch als Beweis dafür angeboten worden wäre, die Wahrheit der Aussage des declarant festzustellen. Entscheidend ist, was bewiesen werden soll bzw. zu welchem Zweck der Be­ weis von einer Partei angeboten wird.623 Wenn es darum geht, zu beweisen, dass jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt noch gelebt hat (= issue), kann dieses Ziel genauso gut erreicht werden, wenn der Äußerungsempfänger vor Gericht aussagt, der Dritte habe gestern gesagt „Ich liebe dich!“ oder „Ich hasse dich!“ (= assertion). Unabhängig davon, was der Dritte wirklich gesagt hat, kann aus der in der Aussage enthaltenen Tatsache, dass der Dritte überhaupt gesprochen hat, gefolgert werden (conclusive evidence), dass er jedenfalls zu einem bestimmten Zeitpunkt noch gelebt hat.624 Auf die materielle Wahrheit der out-of-court asser­ tion kommt es in dieser Konstellation nicht an, sondern nur auf die Tatsache, dass gesprochen wurde.625 Ähnlich ist es in Fällen, in denen die Unzurechnungsfähigkeit, die Testierfä­ higkeit oder der Geisteszustand im Allgemeinen durch Indizien festgestellt wer­ den soll (circumstancial evidence of state of mind). Dabei kommt es häufig auf die materielle Wahrheit der Aussage nicht an, so dass es sich nicht um hearsay handelt, weil die Äußerung nicht zum Beweis der darin enthaltenen Tatsachen dient (assertion not offered to prove the truth of the matter asserted). Wenn bei­ spielsweise, wie in Wright v. Tatham626, die Testierfähigkeit einer Person (= issue) 621  Vgl. dazu auch United States v. Childs, 539 F.3d 552, 559 (6th Cir. 2008): „It is the fact that the declaration was made, and not the truth of the declaration, which is relevant“. 622  United States v. Macias-Farias 706 F.3d 775, 781 (6th Cir. 2013): „The hearsay rule does not apply to statements offered merely to show that they were made or had some effect on the hearer“, mit Verweis auf United States v. Martin, 897 F.2d 1368, 1371 (6th Cir.1990) sowie United States v. Gibson, 675 F.2d 825, 833 f. (6th Cir.1982). 623  United States v. Mancillas, 580 F.2d 1301, 1309 (7th Cir. 1978): „(…) it is by the offer that Rule 801(c) defines hearsay“. 624  Siehe auch das Beispiel bei McCormick on Evidence, S. 209 oder bei Fenner, Hear­ say Rule, S 32. 625  Issue und assertion sind hier nicht identisch, so dass es sich bei der assertion nicht um hearsay handelt. 626  Wright v. Tatham, 112 Eng. Rep. 488 (Exchequer Chamber, 1837).

II.  Die Definition von hearsay evidence

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bewiesen werden soll, kann ein Dritter über ihre out-of-court assertion – wie „Elvis hat mich vergiftet“627 oder auch „Napoleon hat mich vergiftet“628 – ver­ nommen werden, denn dieser Beweis wird angeboten, um zu zeigen, dass die Person diese Worte gesagt hat und die Tatsache, dass sie dies getan hat, ist rele­ vant für ihre Testierfähigkeit, weil sie anscheinend nicht mehr zurechnunsgfähig ist. Diese Testierfähigkeit ist das Beweisziel und nicht die Tatsache, dass Elvis oder Napoleon sie vergiftet haben, weshalb die assertion nicht angeboten wird, um die Wahrheit der behaupteten Tatsache zu beweisen (not offered to prove the truth of the matter asserted). Es handelt sich hierbei vielmehr um circumstancial evidence.629 Hearsay evidence würde hingegen nur dann vorliegen, wenn das Be­ weisziel desjenigen, der den Beweis in das Verfahren einbringt, mit dem intent des Erklärenden übereinstimmt.630 Dies wäre beispielsweise in einem Verfahren wegen Mordes gegen X der Fall, wenn ein Zeuge darüber vernommen werden soll, dass das Opfer ihm vor seinem Tod gesagt habe, dass es von T vergiftet worden sei. Nur wenn es auf den Inhalt der Aussage ankommt und dieser auch bewiesen werden soll, kann es sich überhaupt um hearsay evidence handeln; al­ lerdings könnte in den Beispielen eine Ausnahme zur hearsay rule, eine state of mind exception, vorliegen.631 Die Äußerung „Ich bin Napoleon Bonaparte“ kann, wenn es um die Zurech­ nungsfähigkeit einer Person geht, als circumstancial evidence herangezogen wer­ den, der oft auch in Sorgerechtsverfahren eine besondere Rolle spielt, wie die Entscheidung Betts v. Betts632 zeigt: Nach der Scheidung von ihrem Mann hatte zunächst die Mutter das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder erhal­ ten, die schließlich mit ihrem neuen Lebensgefährten Caporale zusammenzog. Dieser wurde von der Polizei verdächtigt, für den Tod des Sohnes seiner Le­ bensgefährtin verantwortlich zu sein, so dass deren Tochter in eine Pflegefamilie gegeben wurde. Im Sorgerechtsstreit der leiblichen Eltern um die Tochter wurde die Pflegemutter als Zeugin vernommen, die aussagte, dass, als sie dem Mädchen erzählte, sie habe in der Zeitung gelesen, dass ihre Mutter Caporale geheiratet 627 

Beispiel von Fenner, Hearsay Rule, „Shepard Example Three“, S 32 f. v. Betts, 3 Wn. App. 53, 60 (Wash. Ct. App. 1970): „An obvious example of an out-of-court non-hearsay statement which circumstantially indicates a state of mind regardless of the truth of the statement would be ,I am Napoleon Bonaparte.‘ This would be relevant in a sanity hearing“. 629  Betts v. Betts, 3 Wn. App. 53, 60 (Wash. Ct. App. 1970) mit Verweis auf Meisenholder: „Out-of-court statements are often circumstantial evidence of the declarant’s state of mind when his state of mind is relevant in a case. Evidence of such statements is not hear­ say under the classic definition of hearsay.“; siehe auch Fenner, Hearsay Rule, „Shepard Example Four“, S. 33. 630  Siehe dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 760 f. 631  Mueller/Kirkpatrick, S. 778 ff. 632  Betts v. Betts, 3 Wn. App. 53 (Wash. Ct. App. 1970). 628  Betts

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

habe, das Mädchen sie umarmte, ihren Kopf in ihren Schoß legte und zu weinen begann, wobei sie sagte: „Er hat meinen Bruder getötet und er wird auch meine Mutter töten.“633 Dies ist mehr als nur ein spontaner Ausruf und mit Blick auf den Inhalt auch eine willensgetragene Äußerung. Entscheidend ist aber, zu welchem Zweck die jeweilige Partei den Beweis anbietet. Es „grenzt an“634, handelt sich aber nicht um hearsay, wenn diese assertion nicht zum Beweis der darin enthalte­ nen Behauptung – nämlich dass Caporale den Jungen getötet habe635 – angeboten wurde, sondern in dem Sorgerechtsverfahren als Indizienbeweis (circumstantial evidence) für die seelische Verfassung des Mädchens und ihr schlechtes Verhält­ nis zum Stiefvater diente.636 Auf die Frage, ob ihre Behauptung wahr oder falsch ist und Caporale ihren Bruder getötet hat oder eben nicht, kommt es in diesem Fall gerade nicht an. Die Glaubwürdigkeitsprobleme, die nach herrschender Mei­ nung in erster Linie oder sogar ausschließlich durch die hearsay rule vermieden werden sollen,637 stellen sich aber nur dann, wenn es darauf ankommt, ob der Kern der behaupteten Tatsache wahr oder falsch ist.638 Darauf, dass die Gerichte 633  Betts v. Betts, 3 Wn. App. 53, 59 (Wash. Ct. App. 1970): „So I told her that her mama and Mr. Ray Caporale had got married, and she started crying. She said, – she ran and put her arms around me and her head in my lap and started crying real bad and hard and said, ,He killed my brother and he’ll kill my mommie too.‘“ 634  Callen v. Gill, 7 N.J. 312, 318 (N.J. 1951): „The rules of evidence are somewhat rela­ xed in trials having to do with a determination of custody of an infant where it is necessary to learn of the child’s psychology and preferences. Therefore it is sometimes pertinent to bring to the court’s knowledge the temperament, disposition and reactions of the child by testimony that borders upon hearsay in that it embraces a recital of the child’s remarks. Such testimony, however, is not strictly hearsay because the objective and the result are to look into the child’s mind and not to establish the truth or falsity of other matters set up as facts (…)“ (Hervorhebung durch den Verfasser); die Entscheidung des Supreme Court of New Jersey wird auch in Betts v. Betts, 3 Wn. App. 53, 61 f. (Wash. Ct. App. 1970) zitiert; wo es heißt: „We conclude that the rule, that out-of-court non-hearsay statements may be admitted which circumstantially indicate a state of mind regardless of the truth of the state­ment, is especially applicable in child custody proceedings. The mental state of the child is an important element in determining what is best for the child’s welfare“. 635  Auch das könnte relevant und damit hearsay sein: Das Mädchen darf auf keinen Fall zur Mutter, weil ihr Stiefvater ihren Bruder getötet hat. Im Fall ist die Argumentation aber anders: Das Mädchen darf auf keinen Fall zur Mutter, weil es ein schreckliches Verhältnis zu ihrem Stiefvater hat – wie man aus ihren Aussagen folgern kann; siehe auch Fenner, Hearsay Rule, S. 36. 636  Betts v. Betts, 3 Wn. App. 53, 61 (Wash. Ct. App. 1970): „The statements in question in this case are clearly non-hearsay statements which circumstantially indicate a state of mind regardless of their truth. Since they were relevant, they are admissible.“; siehe auch Fenner, Hearsay Rule, S. 36. 637  People v. Sorrels, 389 Ill. App.3d 547, 554 (Ill. App. 2009): „credibility problems“. 638  Vgl. dazu auch Fenner, Hearsay Rule, S. 14 ff. und 24: Falls es einen beweisbaren Tatsachenkern gibt, dann beweist die Behauptung das Ziel nur, wenn die Behauptung wahr ist. Schon die Relevanz der Aussage ist dann gerade durch die Wahrheit bedingt. Wenn es

II.  Die Definition von hearsay evidence

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dabei häufig eine wortwörtliche und damit zu enge Betrachtungsweise zugrunde legen, sei hier schon einmal hingewiesen. Man muss sich also stets die Frage stellen, welche Behauptung (assertion) in der Aussage enthalten ist (A hatte grünes Licht) und sodann zur Aufklärung wel­ ches Sachverhalts diese Behauptung angeboten wird (um zu beweisen, dass er grünes Licht hatte). Das Problem der Wahrheit der behaupteten Tatsache (truth of the matter asserted) stellt sich jedenfalls nicht, wenn es – wie bei der Auffor­ derung „Stop!“ – keinen zu beweisenden Tatsachenkern und damit auch keine Glaubwürdigkeitsprobleme bei Zeugen gibt.639 b)  „Statements offered to show linkage or association“ Weitere Fälle, bei denen näher zu betrachten ist, was eigentlich durch sie be­ wiesen werden soll, sind die Fälle, in denen durch Rechnungen, Adressbücher oder Notizen eine Verbindung zwischen bestimmten Personen oder zwischen Personen und Orten hergestellt werden soll. Oft versucht die Anklage durch bei einer Person gefundene Adressbücher, Rechnungen, Anschriften oder sonstige Dokumente oder Gegenstände eine Ver­ bindung zur Straftat – oft geht es um Drogenhandel oder illegales Glücksspiel – nachzuweisen. Ob diese Dokumente unter die hearsay rule fallen, hängt davon ab, was sie ausdrücken (assert) und ob sie wirklich zum Beweis der behaupteten Tatsache angeboten werden (truth of the matter asserted). Wenn die Polizei bei einem Verdächtigen einen Zettel oder ein Adressbuch mit dem Namen und der Nummer einer anderen Person findet, so dient der Zettel nach einer assertion definition nicht dem Beweis der behaupteten Tatsache (not offered to prove what they were asserting), da die behauptete Tatsache eigentlich nur ist, dass eine be­ stimmte Person eine bestimmte Nummer hat, so dass es sich um circumstan­cial evidence handelt.640 Es können aber durchaus gute Gründe dafür sprechen, Unter­ lagen zu Drogenhandel und Glücksspiel unter die hearsay rule fallen zu lassen.641

allerdings nicht auf den Inhalt des Gesagten ankommt, wenn man beispielsweise nur Wi­ dersprüche in der Aussage des Zeugen im Gericht aufzeigen und dessen Glaubwürdigkeit erschüttern will, dann handelt es sich auch nicht um hearsay. 639  People v. Sorrels, 389 Ill. App.3d 547, 554 (Ill. App. 2009) mit Verweis auf eine Entscheidung des Court of Special Appelas of Maryland, Holland v. State, 713 A.2d 364, 370 (Md. 1998): „’Stop!’ can be, by its very nature, neither true nor untrue and there is, therefore, no such credibility problem“. 640  Park, 74 Minn. L. Rev. 783 (1990). 641  Siehe zum foundation fact approach Swift, 16 Miss. C. L. Rev. 75, 83 (1995); anders wohl Park, 74. Minn. L. Rev. 783, 814 ff., 836 f. (1990).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

aa)  Adressbuch und ähnliche handschriftliche Notizen Der Name auf der ersten Seite eines Adressbuchs könnte hearsay sein, wenn dadurch bewiesen werden soll, wem das Buch gehört. Anders soll es hingegen liegen, wenn es um einen Adressbucheintrag geht und eine Verbindung zwischen diesem eingetragenen Namen und dem Besitzer des Adressbuchs aufgezeigt wer­ den soll.642 Auch die handschriftliche Notiz eines Namens und einer Telefonnummer soll verwertet werden können, wenn es darum geht, die Verbindung zwischen zwei Personen zu zeigen.643 Aber ist die behauptete Tatsache wirklich nur, dass eine bestimtme Person eine bestimmte Nummer hat, oder nicht vielmehr, dass sich der Besitzer des Adressbuchs und die darin notierte Person kennen? Was sagt ein Adressbuch oder ein Zettel mit einem Namen überhaupt aus? Dass jemand eine Person mit diesem Namen kennt? Dass man die Nummer dieser Person hat? Während Ersteres auf den ersten Blick noch naheliegend ist, da man sich übli­ cherweise nur den Namen einer Person aufschreibt, die man auch kennt, sind auch hier natürlich Ausnahmen denkbar: Jemand schreibt sich den Namen einer bekannten Persönlichkeit aus Politik oder Wirtschaft auf, um für Außenstehende dadurch den Anschein zu erwecken, als kenne er diese Person. Ferner sind Situ­ ationen denkbar, in denen man den Namen falsch versteht oder dieser absichtlich falsch genannt wird. Die Telefonnummer bietet noch mehr Fehlerquellen: Diese kann – beispielsweise um den unliebsamen Verehrer im Nachtclub los zu werden – absichtlich oder auch irrtümlich falsch genannt oder vom Empfänger falsch ver­ standen werden, man kann sich beim Nachgucken der Nummer im Telefonbuch um eine Zeile vertun oder die Nummer einfach aufgrund eines Zahlendrehers falsch notieren. Das Einzige, was in diesen Fällen (fast immer) nicht gegeben ist, ist das Wissen des Erklärenden, dass die geäußerte Information als Beweis in einem Strafverfahren dienen soll.644 Es stellt sich daher zumindest kein Glaub­ würdigkeitsproblem bzw. diese Gefahr ist äußerst gering.645 Auch die bei einem Mittäter gefundene Liste, die Aufgaben und die Namen weiterer Mittäter enthält,646 soll nach United States v. Hensel kein hearsay dar­ 642 

Beispiel von Park, 16 Miss. C. L. Rev. 125, 127 (1995), dort Fn. 10. Brown v. United States, 403 F.2d 489, 491 (5th Cir. 1969): „The writing in question here was not hearsay. It was a handwritten note found on appellant containing the name, ,Ramon‘, and a telephone number. The prosecution offered the note to show knowledge by appellant of one Ramon, who may or may not have been Ramon Delano, an associate of the alleged supplier of the heroin. Thus, this note was offered as evidence of an illegal con­ spiracy“; ebenso United States v. Armone, 363 F.2d 385, 404 (2d Cir. 1966); cert. denied, 385 U.S. 959 (1966). 644  Siehe auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 819 (1990). 645  Siehe auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 836 f. (1990). 646  United States v. Hensel, 699 F.2d 18, 33 (1st Cir. 1983). 643 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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stellen, sondern hiermit nur „eng verbunden“ sein, wenn durch die Liste die Täterschaft (conspiracy) weiterer Personen bewiesen werden soll. Das Gericht betont, die Geschworenen dürften zwar nicht aus der schriftlichen Äußerung des Urhebers folgern, dass Personen Mittäter seien, sehr wohl könne ihre Verwick­ lung in die Straftat aber aus der Tatsache gefolgert werden, dass eine Person, die aktiv an der Tat beteiligt war, eine Teilnehmerliste besaß, auf der die Namen gefunden wurden. Für eine assertion spielen auch die Gedanken des Besitzenden, nämlich dessen intent, eine Rolle. Aufgrund des fehlenden intents des Mittäters sei der bloße Besitz durch ihn aber nur non-assertive nonverbal conduct.647 Aus dem Besitz der Liste eines Mittäters dürften die Geschworenen also auf den Plan, den Zweck, die Vorbereitung, das Wissen und die Verbindung schließen. bb)  Anschriften und Rechnungen Häufig soll durch Briefe und Rechnungen, die die Anschrift oder den Namen des Beschuldigten enthalten, eine Verbindung zwischen dem Beschuldigten und bestimmten Orten, insbesondere Wohnungen und Hotelzimmern, in denen Die­ besgut oder Drogen gefunden wurden, hergestellt werden. Es stellt sich die Frage, ob der declarant, indem er den Brief adressiert oder eine Rechnung auf den Namen einer bestimmten Person ausstellt, eine asserti­ on abgibt, so dass es sich um ein statement im Sinne der hearsay rule handelt. 647  United States v. Hensel, 699 F.2d 18, 35 (1st Cir. 1983): „We believe the court’s ruling was proper. The jury was not permitted to infer Standley, Hubbard, and Case’s parti­ cipation from the out-of-court written assertion by the maker of the list that the three were participants in the conspiracy. The jury was permitted to infer their participation from the fact that one actively involved in the conspiracy, namely Duke, possessed a participant’s list on which their names were found. We recognize that inferring participation from the juxtaposition of the fact that Duke possessed lists containing their names with the fact that Duke himself was actively involved in the conspiracy may involve a use of the lists for a purpose closely related to hearsay. After all, the validity of making the inference ,that a defendant participated‘ from the fact ,that Duke possessed a list with defendant’s name‘ depends in part upon Duke’s state of mind in possessing the list. The inference is based, first, on the assumption that Duke believed the three were participants, and second, on the assumption that Duke’s beliefs regarding the membership of the conspiracy were, in the context of the totality of the evidence, likely to be correct. Nevertheless, even if the jury’s inference involved a hearsay-type of problem, the evidence was outside the scope of hearsay as defined by the Federal Rules of Evidence. (…) The court allowed the jury to infer plan, purpose, preparation, knowledge, and association from Duke’s possession of the list. Possession is conduct, and conduct is hearsay under the Federal Rules only if ,in­ tended (…) as an assertion.‘ Fed.R.Evid. 801(a)(2). We do not see how Duke’s possession of the list could have been ,intended (…) as an assertion‘ of the defendants’ role unless Duke had been staging an elaborate charade to implicate the defendants. If defendants believed that to be the case, however, they bore the burden of proving that the conduct was indeed intend­ed as an assertion, and they offered no such proof. Similar evidence has been admit­ ted as circumstantial evidence in other cases“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Um diese Frage zu beantworten, ist zunächst zu klären, was eine Anschrift auf einer Rechnung überhaupt ausdrückt und was durch sie bewiesen werden soll. Die Hotelrechnung zeigt doch in erster Linie, welcher Preis für ein Zimmer zu zahlen ist. Dies soll aber nicht bewiesen werden, sondern es geht gerade darum, dass der Beschuldigte in dem Hotel war. Eine solche Verbindung zu dem Hotel kann in der Regel durch weitere Gegenstände, die das Logo oder den Namen des Hotels enthalten und die der Beschuldigte bei sich trägt, hergestellt werden: Dies kann die Streichholzschachtel, der Bademantel oder das Handtuch des Ho­ tels sein.648 Zwar bestehen in diesen Konstellationen keine Gefahren des Hören­ sagenbeweises – weil diese Gegenstände den gleichen Beweiswert haben, wie wenn der Beschuldigte Fasern des Hotelteppichs an seinen Schuhen hätte – ,649 aber bei Anschriften und Rechnungen erscheint es durchaus möglich, dass der Niederschreibende sich verschreibt oder sich aus anderen Gründen irrt. Im Hotel ist eine Anmeldung unter falschem Namen denkbar, oder dass sich der Rezepti­ onist verhört oder sich der Gast selbst verschreibt.650 Dennoch werden, wie die folgenden Entscheidungen zeigen, Anschriften und Rechnungen überwiegend als Beweismittel zugelassen: In United States v. Mejias wurden die Drogengeschäfte überwiegend in einem Zimmer eines Motels abgewickelt.651 Um zu zeigen, dass auch einer der Ange­ klagten hierin verwickelt war, wurde unter anderem die Quittung dieses Hotels, die dieser bei sich trug, als Beweis eingeführt. Es handele sich nicht um hear­ say, weil es nicht darum gehe, das zu beweisen, was die Dokumente ausdrücken, nämlich dass das Zimmer bezahlt wurde.652 In United States v. Watkins wurden die dort aufgefundenen Quittungen für Mietzahlungen ausnahmsweise als hearsay betrachtet, da die Anklage durch sie beweisen wollte, wer sie zahlt und damit dort wohnt.653 648 So

Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 820 (1990) mit Verweis auf Graham. Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 820 (1990). 650  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 821 f. (1990). 651  United States v. Mejias, 552 F.2d 435, 439 (2d Cir. 1977). 652  United States v. Mejias, 552 F.2d 435, 446 (2d Cir. 1977); nach United States v. Singer, 687 F.2d 1147 (8th Cir. 1982) soll die Angabe des Adressaten auf einem Brief nicht genutzt werden dürfen, um zu beweisen, dass eine bestimmte Person an der angegebenen Adresse, an der Drogengeschäfte abgewickelt werden, wohnt, aber es dürfe aus dem Verhalten des Vermieters – dem Absenden an eine bestimmte Adresse – geschlossen werden, dass der Empfänger dort auch wohne. Etwas restriktiver ist United States v. Liebermann, 637 F.2d 95, 101 (2d Cir. 1980), wonach das Anmeldeformular eines Hotels, das den Namen und die Adresse einer bestimmten Person enthält, nicht zulässig sein soll, um zu beweisen, dass sich auch wirklich diese Person in dem Hotel aufhielt. Das Formular soll aber zulässig sein, wenn es nur darum geht, zu beweisen, dass jemand unter dem Namen dieser Person in das Hotel eingecheckt hat. Um zu beweisen, dass es wirklich der Angeklagte war, der sich in dem Hotel anmeldete, seien weitere Beweismittel erforderlich. 649 So

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Streng genommen handelt es sich bei der Quittung nur dann um hearsay, wenn sie zum Beweis der in ihr behaupteten Tatsachen angeboten wird.654 Natürlich geht es hier nicht um den wahren Inhalt einer Quittung, nämlich dass die Miete gezahlt worden ist, sondern die Anklage will durch die Quittungen lediglich eine Verbindung zwischen dem Angeklagten und der Wohnung bzw. den dort gefun­ denen Drogen herstellen: Die Person, die die Miete zahlt, ist diejenige, die dort wohnt – woraus die Geschworenen die Schlussfolgerung ziehen sollen, dass diese Person auch in die in der Wohnung abgewickelten Drogengeschäfte verwickelt ist. Interessanterweise wird in den anderen Entscheidungen immer betont, dass kein hearsay evidence vorliegt, da es nicht um die Wahrheit der behaupteten Tat­ sachen, sondern um die daraus zu ziehende Schlussfolgerung gehe, für die das Beweismittel zulässig sei und als circumstancial evidence herangezogen werden könne. In dieser Entscheidung werden hingegen überraschenderweise auch gera­ de die Gefahren des Hörensagenbeweises655 betont, obwohl es gar nicht um die Wahrheit der behaupteten Tatsache und ihre inhaltliche Richtigkeit geht, womit sich das Gericht aber nicht näher auseinandersetzt. Diese Entscheidung kann – ähnlich wie United States v. Patrick656 – wohl als absolute Ausnahme bezeichnet 653

653  United States v. Watkins, 519 F.2d 294, 296 f. (D.C. Cir. 1975): „The Government contends for the first time on appeal that these documents were tendered not for the truth of their contents, but rather to show they were found in the bedroom occupied by appellant on the day in question. This contention carries little weight with this Court in light of the comments of the trial judge during a bench conference on the issue, to the effect that what the Government was ,seeking to prove is that this woman paid whatever rent is paid and got a receipt for it.‘ Not only did the prosecution fail to dispel the Court’s conclusion in this regard, but pointedly informed the jury during the opening statement that it would ,put in some personal papers which were seized during the warrant to show who was paying for this apartment and who was living there.‘ To now contend as it does that the purpose was otherwise is so patently contra to the record as to be unworthy of any detailed discussion on the part of the Court. We find from the record that a principal, if not the primary, purpose of the introduction of the contested documents was to establish exactly what the prosecution had assured the jury in its opening statement it was intended for – to show ,who was living there.‘ We recognize, of course, that out-of-court declarations, such as these documents, may be admitted for a material purpose other than the verity of the assertions. We find, however, that in light of the Government’s initial representations to the jury, the prejudice to the defendant was so grave as to preclude the introduction of the rent and utility receipts for any purpose whatsoever, through a witness other than the declarant.“ (Hervorhebungen hinzugefügt). 654  Vgl. dazu auch Sentelle, J., dissenting, United States v. Patrick, 959 F.2d 991, 1003 f. (D.C. Cir. 1992). 655  United States v. Watkins, 519 F.2d 294, 297 (D.C. Cir. 1975): „(…) the lack of the normal safeguards of oath, confrontation and cross-examination of the credibility of the extrajudicial declarant“. 656  In United States v. Patrick, 959 F.2d 991, 999 f. (D.C. Cir. 1992) (dort m. w. N. zur Rspr.) wurde eine Quittung als hearsay betrachtet, wenn sie als Beweis dafür dient, dass der Angeklagte an der in der Quittung genannten Adresse wohnt, was im Ergebnis

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

werden, die wohl auf eine ungeschickte Formulierung der Staatsanwaltschaft zu­ rückzuführen ist.657 cc)  Sonstige Dokumente und Gegenstände In United States v. Ashby wollte die Staatsanwaltschaft beweisen, dass der Angeklagte mit dem Fahrzeug Drogenhandel betrieb, da in dem Fahrzeug Mari­ huana gefunden wurde und mit dem Fahrzeug binnen kurzer Zeit viele Kilometer zurückgelegt worden waren. Die in den Prozess eingeführten Fahrzeugpapiere, die auf den Namen des An­ geklagten ausgestellt waren, sollten kein hearsay darstellen. Schließlich ginge es nicht darum zu beweisen, was die Papiere zum Ausdruck brachten, nämlich dass die darin genannte Person Eigentümer des Fahrzeugs ist, sondern es sollte ledig­ lich eine Verbindung zwischen dem Fahrzeug und dem Angeklagten hergestellt werden – als circumstancial evidence.658 Dementsprechend sollen auch die in einem Wohnwagen gefundenen Doku­ mente, die den Namen des Angeklagten beinhalten, kein hearsay darstellen – weil es nicht darum geht, was die Dokumente ausdrücken –, so dass die Dokumente sehr wohl zum Beweis der Tatsache, dass der Wohnwagen dem Angeklagten ge­ hört, verwertet werden können.659

wohl ebenfalls auf eine ungeschickte Formulierung der Anklage zurückzuführen ist. Das Gericht bejaht hearsay evidence und beschäftigt sich sodann mit Rule 803(6) (business records exception). Kein hearsay evidence läge hingegen vor, wenn die Staatsanwaltschaft mit der Rechnung nur beweisen wollte, dass eine Person, die vorgibt Patrick zu sein, den Fernseher gekauft hat, siehe dazu United States v. Patrick, 959 F.2d 991, 1000, dort Fn. 13 (D.C. Cir. 1992) sowie insbesondere United States v. Lieberman, 637 F.2d 95, 101 (2d Cir. 1980). 657  Als Ausnahme kann darüber hinaus auch United States v. Garcia-Duarte, 718 F.2d 42 (2d Cir. 1983) bezeichnet werden. Zu den zahlreichen anderen Entscheidungen siehe Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 817 f. (1990), dort insbesondere Fn. 183. 658  United States. v. Ashby, 864 F.2d 690, 693 (10th Cir. 1988): „Further the car title was also used circumstantially to tie appellant to the car, not to prove that she was the owner. Since these documents were used to tie appellant to the car, they were not hear­ say“. 659 United States v. Triplett, 855 F.2d 864 (9th Cir. 1987, unpublished disposition): „The documents to which Triplett objects consisted of a check, a motel receipt, and a postal money order, all bearing his name. However, the court did not admit these documents to prove that Triplett purchased something with the check, paid for the motel room, or sent the money order (i.e. for the truth of what the documents assert). Instead, the court admit­ ted them as evidence that Triplett occupied the trailer. The documents are not hearsay by definition“.

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Auch die am Tatort aufgefundene Brille, auf die der Spitzname des Angeklag­ ten graviert660 ist, ist ebenso wenig hearsay wie ein Schlüsselbund661 mit dem Namen einer Person oder eine Aktentasche mit einem Namensaufkleber662. c)  Indirect assertions: Was wollte der Erklärende sagen und was sollen seine Äußerungen beweisen? Es ist nicht nur relevant, was der Erklärende sagen wollte, sondern auch was durch seine Äußerung bewiesen werden soll. Weshalb eine weite Auslegung des Begriffs assertion vorzugswürdig erscheint, wurde oben schon dargelegt. Hier­ mit verbunden ist das Problem, ob diese assertion – sofern es sich denn überhaupt um eine solche im Sinne der hearsay rule handelt – auch wirklich zum Beweis der in ihr behaupteten Tatsache („matter asserted“) angeboten wird. Es stellt sich also die Frage, was unter „truth of the matter asserted“ zu verstehen ist. Mueller/Kirkpatrick weisen zutreffend darauf hin, dass die Formulierung „matter asserted“ in den Hinweisen des Advisory Committee häufig missver­ standen und zu eng ausgelegt wird,663 indem lediglich auf die bloße bzw. wort­ 660  United States v. Hensel, 699 F.2d 18, 31 (1st Cir. 1983); das Gravieren ist keine as­ sertion, denn es geht nicht um denjenigen, der die Gravur angefertigt hat. Würde man auf die Gravur abstellen, so könnte die Aussage „Dieser Gegenstand gehört X!“ sein. Hierauf kommt es aber nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass die Geschworenen den Schluss ziehen sollen, der Angeklagte habe einen solchen Gegenstand besessen, den er oder auch ein Dritter am Tatort vergessen oder abgelegt hat. Das Ablegen durch einen Dritten ist aber „not intended as assertion“, sondern bloßer „nonverbal conduct“. Wenn der den Ge­ genstand Platzierende damit die Aussage machen wollte „X war hier!“, weil jemand X hereinlegen und mit der Tat in Verbindung bringen wollte, dann trägt der defendant für diese „höchst komplexe Argumentation“ die Beweislast; zur Beweislast Fed. R. Evid. 801 Advisory Committee’s Note (a). 661  Siehe dazu Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 820 (1990). 662  In einem Verfahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes hatte die Polizei die Waffe in einer Aktentasche gefunden, auf der ein Aufkleber mit dem Namen des Angeklagten kleb­ te, woraufhin dieser geltend machte, es handele sich bei dem Aufkleber um hearsay, United States v. Snow, 517 F.2d 441, 442 (9th Cir. 1975). Das Gericht ist der Ansicht, dass bei einer solchen „mechanischen Spur“ wie dem Aufkleber bzw. Namensschild noch eine Folgerung gezogen werden müsse, so dass es sich um circumstancial evidence handele, United States v. Snow, 517 F.2d 441, 443 (9th Cir. 1975), dort insbesondere mit Verweis auf Wigmore on Evidence. Das Namensschild war also zulässig um zu beweisen, dass der Angeklagte vorsätzlich eine nicht registrierte Waffe besaß. Man könnte hingegen auch vertreten, dass das Namensschild ausdrückt „Diese Tasche gehört X“, was eine assertion ist, die auch zum Beweis der in ihr behaupteten Tatsache verwendet wird, wenn es, wie in den Fall, gerade darum geht, die Identität des Täters zu beweisen, so jedenfalls Wellborn, 61 Tex. L. Rev. 49, 84 f. (1982); das Namensschild soll dann aber unter die residual exception fallen. 663  Mueller/Kirkpatrick, S. 765: „Courts are sometimes confused by the fact that plain meaning differs from intended meaning and proposed use, and fail to recognize statements as hearsay“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

wörtliche Äußerung (plain meaning) abgestellt wird, wohingegen die intended meaning, also das, was der Äußernde ausdrücken wollte, häufig unberücksichtigt bleibt. Durch diese enge Auslegung der Formulierung „matter asserted“ werde die Anwendung der hearsay rule in zu vielen Fällen ausgeschlossen.664 Es kommt häufig nicht auf die wortwörtliche Bedeutung (literal meaning) an, sondern entscheidend ist, was der Betreffende ausdrücken oder kommunizieren wollte und ob die Äußerung gerade in den Prozess eingeführt wird, um dies zu beweisen. Jemand, der sagt: „Du hättest einen Strafzettel verdient!“, will damit gar nicht oder zumindest nicht nur zum Ausdruck bringen, was diese Aussage wortwörtlich ausdrückt, nämlich dass der Fahrer einen Strafzettel bekommen sollte, sondern darüber hinaus und vor allem primär will er äußern, dass der Fah­ rer zu schnell fährt bzw. sich nicht an die Verkehrsregeln hält. Der Staatsanwalt wird diese Aussage kaum in den Prozess einführen, um zu beweisen, dass der Be­ troffene einen Strafzettel bekommen hat, sondern vielmehr damit die Geschwore­ nen aus dieser Äußerung den Schluss ziehen, der Fahrer sei zu schnell gewesen. Bei einer zu wortwörtlichen Interpretation besteht die Gefahr, dass Aussagen, die eigentlich unter die hearsay rule fallen, von den Gerichten häufig als circumstan­ cial evidence zugelassen werden.665 Noch deutlicher wird dies an dem schon oben angesprochenen Beispiel von Bacigal, das zeigt, dass sarkastische Fragen assertive sind: Wenn ein Interessent die Frage stellt, ob es sich um pures Heroin handele, und der Dealer antwortet: „Tragen alle Polizisten blau?“ („Do all cops wear blue?“), dann gibt der Betrof­ fene zwar eine indirekte Äußerung ab, was er aber damit sagen will – dass ein entsprechender intent und damit eine assertion vorliegt, wurde bereits themati­ siert – ist: „Ja, es ist pures Heroin, was für eine dumme Frage!“. Die Aussage wird im Prozess nicht zum Beweis der in ihr wortwörtlich behaupteten Tatsache, nämlich der Farbe von Polizeiuniformen, angeboten, sondern die Geschworenen sollen hieraus vielmehr Rückschlüsse auf den Reinheitsgrad der Drogen zie­ hen.666 Letzteres und damit die implizierte Aussage ist auch der einzige Grund, weshalb diese Frage für das Verfahren, in dem es natürlich nicht um die Farbe von Polizeiuniformen geht, überhaupt relevant ist. Es wäre also widersprüchlich, die Frage aufgrund ihrer implizierten Aussage relevant sein zu lassen, sie sodann aber als nonhearsay zu behandeln, nur weil es sich um eine implizierte Aussage handelt.667 Bei indirekten Aussagen (assertions) ist also entscheidend, was der Betroffene sagen wollte, und die wortwörtliche Aussage darf nicht überbewertet werden. 664 

Mueller/Kirkpatrick, S. 764. Mueller/Kirkpatrick, S. 764 ff.; Wellborn, 61 Tex. L. Rev. 49, 62 (1982). 666  Bacigal, 11 S. Ill. U. L. J. 1127, 1139 (1987). 667  Bacigal, 11 S. Ill. U. L. J. 1127, 1140 (1987). 665 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Dies gilt in gleicher Weise für das Beweisziel (offered to prove). Entscheidend ist gerade auch der Grund, weshalb und zu welchem Zweck eine Aussage angeboten wird. Bei allen Entscheidungen scheint das entscheidende Kriterium zu sein, mit welcher – oft angeblich sehr begrenzten – Absicht die Staatsanwaltschaft ein Be­ weismittel in das Verfahren einbringt. Sofern die erste Bedingung erfüllt ist und es sich um eine assertion handelt, beschränkt die Staatsanwaltschaft anscheinend in gewissen Fällen das Beweisziel und behauptet, die assertion werde nicht zum Beweis der in ihr behaupteten Tatsache, sondern nur als circumstancial evidence angeboten. Es erscheint absurd, durch eine minimale Änderung des Beweisziels – wie auch oben die Entscheidung in Bernadyn v. State gezeigt hat – aus einem an sich unzulässigen Beweis ein zulässiges Indiz zu machen. Ob eine Quittung als Beweis dafür dient, dass ein Gegenstand in der Nähe der Drogen gefunden worden ist, der dem Angeklagten gehört, – was somit circumstancial evidence wäre – oder dafür, dass der Angeklagte dort wirklich wohnt, weil ein Gegen­ stand, der ihm gehört, dort gefunden worden ist, dürfte in der Praxis faktisch keinen Unterschied machen und erscheint als bloße Förmelei: Selbst wenn die Staatsanwaltschaft das Beweisziel begrenzt, würden die Geschworenen als juris­ tische Laien den Unterschied nicht verstehen: Sie werden fast immer die oft auch naheliegende Schlussfolgerung ziehen, ein Gegenstand, der dem Angeklagten ge­ hört, wurde am Tatort gefunden, also war er auch da und in die Tat verwickelt. Ob ihm die Wohnung, das Auto oder die Aktentasche wirklich gehört oder wer die Rechnung oder die Miete zahlt, ist für das Strafverfahren auch gar nicht relevant. Diese in den Dokumenten enthaltene truth of the matter asserted will die Anklage nicht beweisen, aber sie wird wissen, welche Schlüsse die Geschworenen daraus in der Regel ziehen werden. Natürlich kann das Gericht limitierende Anweisun­ gen geben, dies erfolgt aber in der Regel nur auf Hinweis der Verteidigung, die sich oftmals davor hüten wird, dieses Recht in Anspruch zu nehmen, um ein Be­ weismittel nicht unnötig in den Fokus zu rücken und damit im Bewusstsein der Geschworenen zu verfestigen.668 Die Verteidigung steckt also in einem Dilem­ ma: Sie kann die Verwertung mit Bezug auf hearsay oder aus sonstigen Gründen – beispielsweise Fed. R. Evid. 403 – rügen, rückt dieses Beweismittel dadurch aber in den Fokus, was gerade die juristischen Laien vor besondere Herausfor­ derungen stellen dürfte: Sie werden wohl nicht selten denken: „Da gab es dieses Beweismittel, das wir ja eigentlich nicht berücksichtigen dürfen!“. Weiterhin ist natürlich zu beachten, dass, wenn es sich wirklich um hearsay handeln würde, auch eine Ausnahme für Geschäftsunterlagen (business records exception) gem. Fed. R. Evid. 806(6) vorliegen könnte.669 668  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 142 mit Bezug auf Fed. R. Evid. 403; vgl. auch United States v. Liebermann, 637 F.2d 95, 101 (2d Cir. 1980). 669  Dazu grundlegend Mueller/Kirkpatrick, S. 891 ff.

268

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

d)  Die Fehlentscheidung in United States v. Day Ohne zu übertreiben, kann United States v. Day670 als eine Fehlentscheidung bezeichnet werden, die auch im Schrifttum stark kritisiert worden ist.671 Der ver­ ängstigte Williams, das spätere Mordopfer, erzählte einem Freund, Mason, von einem Streit mit Eric J. Sheffey und Lawrence T. Day, dessen Spitzname „Bean­ ny“ war. Ferner übergab Williams dem Freund einen Zettel, auf dem er „Bean­ ny, Eric, 635 – 3135“, also deren Vornamen und Telefonnummern notiert hatte, und bat den Freund zugleich, die Polizei zu informieren und ihr den Zettel zu übergeben, falls er am nächsten Tag nicht nach Hause komme.672 Als Williams erschossen wurde, händigte Mason den Zettel der Polizei aus und berichtete, was Williams ihm bei der Übergabe des Zettels erzählt hatte. Das Gericht hatte sich mit zwei hearsay Problemen zu befassen; zum einen, ob der Zettel an sich hearsay darstellt; zum anderen, ob Mason darüber berichten darf, was Williams ihm bei der Übergabe gesagt hat. In Bezug auf Letzteres versucht die Anklage noch geltend zu machen, es gehe lediglich darum, dass die Äußerung tatsächlich gemacht worden sei673 und dass es sich nur um eine zeitgleiche und beiläufige Bemerkung, die sich auf den non­ verbal act, also die Übergabe beziehe, 674 handele. Das Gericht erkennt aber zu­ treffend, dass die Worte des verängstigten Williams keineswegs beiläufig waren – wie es beispielsweise die Äußerung „Nimm den Zettel!“ wäre – 675 und dass es der Staatsanwaltschaft auch nicht nur darum geht, zu zeigen, dass diese Äuße­ rung wirklich gemacht worden ist, sondern die Anklage will, dass die Geschwo­ renen aus Williams Worten die Schlussfolgerung ziehen, dass Day ihm feindlich gesinnt war676. 670 

United States v. Day, 591 F.2d 861 (D.C. Cir. 1978). Siehe nur Mueller/Kirkpatrick, S. 794 f. 672  United States v. Day, 591 F.2d 880 (D.C. Cir. 1978), cert. denied, 455 U.S. 922. 673  United States v. Day, 591 F.2d 861, 881 (D.C. Cir. 1978): „(…) the Government states: ,All that is sought to be proven in connection with the statement now under consi­ deration, is that it was in fact made‘“. 674  United States v. Day, 591 F.2d 861, 882 (D.C. Cir. 1978): „The Government also contends that this statement is admissible as an utterance contemporaneous with a non-ver­ bal act which relates to and elucidates that event, i. e., the giving of the piece of paper“. 675  United States v. Day, 591 F.2d 861, 882 (D.C. Cir. 1978): „Had Williams said ,take this slip,‘ that utterance would have been ,wholly subsidiary and appurtenant‘ to the con­ duct. Here, Williams said more, and the inference from those words is not wholly inciden­ tal to the conduct. We conclude that the statement accompanying the delivery of the paper is inadmissible hearsay“. 676  United States v. Day, 591 F.2d 861, 881 f. (D.C. Cir. 1978): „But in actuality, the Government seeks to have something more inferred from the content of the statement. The jury is being asked to infer from Williams’ words that Day bore ill will toward Williams 671 

II.  Die Definition von hearsay evidence

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Anders sieht es die Mehrheitsmeinung hingegen für den Zettel an sich: Die Information auf dem Zettel stelle kein hearsay dar, da sie „neutral“ sei und eigent­ lich nichts ausdrücke, bis auf dass Beanny und/oder Eric eine bestimmte Telefon­ nummer haben könnten.677 Es ist nicht recht nachvollziehbar, weshalb die auf dem Zettel enthaltene Infor­ mation – wie vom Gericht behauptet – neutral sein soll. Allein die Tatsache, dass Beanny und/oder Eric eine bestimmte Telefonnummer haben könnten, ist für das Verfahren nicht von Bedeutung. Laut majority opinion soll der Zettel angeblich zeigen, dass die Angeklagten keinen Fremden töteten,678 so dass es nur darum gehe, eine Verbindung679 zwischen Opfer und Täter aufzuzeigen. Dies hätte man auch anders, nämlich direkt, beweisen können, und außerdem sei – laut dissent­ ing opinion – von der Staatsanwaltschaft selbst auch nie behauptet worden, dass die Anklage mit dem Zettel eine Verbindung zwischen Täter und Opfer, dass sie sich kannten, aufzeigen wollte.680 Der Zeuge darf also aussagen, dass ihm etwas übergeben worden ist und dass ihm etwas bei der Übergabe gesagt worden ist, er darf allerdings nicht darüber aussagen, was ihm bei der Übergabe gesagt worden ist. Es ist zwar grundsätzlich korrekt, dass der Zeuge nicht sagen darf, was gesagt worden ist, es stellt aber gerade in Kombination mit dem Zettel ein Problem dar: Denn was soll es vorlie­ gend sein, das gesagt wurde: Die Geschworenen werden quasi dazu angehalten, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Auch die dissenting opinion weist zutreffend darauf hin, dass nicht aus dem Inhalt von Williams Äußerung, sondern schon allein daraus, dass diese Äußerung überhaupt gemacht wurde, die Geschworenen belastende Schlüsse ziehen werden.681 and had reason to cause him harm. Because this inference attaches to Williams’ statement, the Government is seeking to use the statement for more than the mere fact that it was made“. 677  United States v. Day, 591 F.2d 861, 883 f. (D.C. Cir. 1978). 678  United States v. Day, 591 F.2d 861, 885 (D.C. Cir. 1978): „Together with other evi­ dence it (= the Government) tends to prove that defendants were not killing a stranger“. 679  United States v. Day, 591 F.2d 861, 885 (D.C. Cir. 1978): „The hearsay danger posed is that the jury might conclude from the statement that Day bore ill will toward Williams and had reason to cause him harm. The jury might infer from the slip, apart from the statement, that Williams was associated with defendants. That is a permissible inference since there is nothing in the slip of the paper itself that would lead the jury to conclude that defendants had a reason to kill Williams.“ (Hervorhebung im Original). 680  Spottswood W. Robinson, III, Circuit Judge, dissenting in part, United States v. Day, 591 F.2d 861, 894 (D.C. Cir. 1978). 681  Spottswood W. Robinson, III, Circuit Judge, dissenting in part, United States v. Day, 591 F.2d 861, 894 f. (D.C. Cir. 1978): „Thus, not from the content of Williams’ statement to Mason but simply from its making, and from the turnover of a slip of paper naming both Day and Sheffey coupled with transmittal of that information to the police,,[t]he jury is

270

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Die majority opinion verkennt die Bedeutung, die dem Zettel dadurch zu­ kommt, dass bei der Übergabe etwas gesagt wurde und das Opfer kurz nach der Übergabe stirbt. Das Gericht erkennt selbst an, dass der Zettel nicht mehr neutral wäre, wenn auf ihm „Ich habe Angst von Eric und Beanny getötet zu werden!“682 geschrieben stünde. Aber ergibt sich nicht insgesamt aus dem Kontext, dass es das ist, was Williams sagen wollte, dass er also einen entsprechenden intent hatte zu sagen, „Eric und Beanny wollen mich töten“?683 Die Geschworenen werden durch die Verwertung des Papiers zu Mutmaßun­ gen angehalten, was wohl bei dessen Übergabe gesagt wurde. Sie werden wissen, dass Williams nicht einfach nur sagte: „Nimm diesen Zettel!“, denn über diese beiläufige Bemerkung dürfte der Zeuge berichten. Es geht auch nicht nur um ein Adressbuch, das aufgefunden oder übergeben wurde und das in der Regel eine Vielzahl von Adressen und Kontaktdaten enthält, sondern es geht um einen Zettel, der kurz vor der Ermordung mit einem Hinweis übergeben wurde, es geht also um diese beiden Personen – und nicht darum, dass sie eine Telefonnummer haben. Mit dem Zettel werden quasi Hinweise für die Äußerung des Opfers bei der Übergabe, die eigentlich ausgeschlossen sein soll, durch „die Hintertür“684 in den Prozess eingeführt. In diesem Fall kann es also keinen Unterschied machen, ob das Opfer einen Zettel mit einer Bemerkung übergibt – und kurze Zeit später ermordet wird – oder ob es einen Zettel übergibt, auf dem ausdrücklich geschrie­ ben steht: „Ich habe Angst von Eric und Benny getötet zu werden!“. In beiden Fällen handelt es sich um hearsay. 4.  Zwischenergebnis Schon die Definition, was überhaupt hearsay ist, bereitet extreme Schwierig­ keiten. Nicht nur der Begriff der assertion – für den, wie schon bei den einzelnen Fällen angesprochen, nicht zu notorisch auf den ausdrücklichen intent abgestellt werden sollte685 –, sondern auch der Begriff „asserted“ in truth of the matter as­ serted wird häufig zu eng und zu wortwörtlich ausgelegt. Gerade bei Fragen und verbal acts wird häufig eine assertion verneint, da sie nicht von einem intent gedeckt sei bzw. es sich um implied assertions, die nicht being asked to infer (…) that Day,‘ and Sheffey as well, ,bore ill will toward Williams and had reason to cause him harm‘“. 682  United States v. Day, 591 F.2d 861, 884, dort Fn. 43 (D.C. Cir. 1978). 683 So auch Spottswood W. Robinson, III, Circuit Judge, dissenting in part, United States v. Day, 591 F.2d 861, 895 (D.C. Cir. 1978). 684  Ablehnend auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 822 f. (1990). 685  Mueller/Kirkpatrick, S. 795.

II.  Die Definition von hearsay evidence

271

unter die hearsay rule fallen, handele. Möglicherweise ist schon dieser Begriff irreführend. Ferner ist problematisch, zu welchem Beweiszweck die Äußerung in den Pro­ zess eingeführt wird. Denn bei der zweiten Voraussetzung „zum Beweis der be­ haupteten Tatsache“ ist neben der behaupteten Tatsache äußerst bedenklich, dass die Staatsanwaltschaft durch minimale Änderungen des Beweisziels die Zuläs­ sigkeit des Beweismittels erreichen kann. Es mag zwar aus der deutschen Perspektive gewagt sein686, die Abschaffung der hearsay rule zu empfehlen, man darf aber durchaus die Frage stellen, ob die hearsay rule der richtige Ansatz ist: Schon die Definition ist in vielen Fällen nicht praktikabel, da sie teilweise zu absurden Ergebnissen führt und es zu viele Grauzonen gibt. Manchmal ist hearsay anscheinend das, was das Gericht gerade meint, was hearsay im konkreten Fall sein soll. Dies ist dogmatisch falsch, inkon­ sequent und schafft keine Rechtssicherheit: Entweder sollten auch die Grenzfälle von der hearsay rule erfasst sein oder man sollte die Regel abschaffen. Jedenfalls haben die zahlreichen Fälle, die untersucht wurden, gezeigt, dass das Ziel der Regelung, zweifelhafte Beweismittel aus dem Prozess herauszuhalten, oft nicht erreicht wird. Zwar könnte man – wie es in der Literatur oft getan wird – argumentieren, dass es nicht um dogmatisch korrekte Anwendung, sondern allein auf die Gerech­ tigkeit im Einzelfall ankomme.687 Park ist der Ansicht, die Gerichte würden in den Einzelfällen stets sachgerechte Entscheidungen und Ergebnisse erzielen.688 Wenngleich das US-amerikanische Recht wie kaum ein anderes Rechtssystem vom case law geprägt ist, so muss eine Regel, wenn es sie schon gibt, trotzdem auch (dogmatisch) korrekt angewendet werden, was nicht nur bedeutet, dass gera­ de im Einzelfall als gerecht empfundene Entscheidungen getroffen werden. Da die Definition von hearsay mit Schwierigkeiten verbunden ist, ist auch schon mehrmals in Erwägung gezogen worden, die Definition nicht nur breiter zu fassen, sondern hearsay neu zu definieren bzw. die verschiedenen Begriffe durch andere Termini zu ersetzen.689 686  Siehe auch Weissenberger, 57 Ohio St. L. J. 1525, 1552 f. (1996): „(…) there may well be an unfounded arrogance in recommending a reconstruction of a system where the active participants are not seeking change“. 687  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 836 (1990): „Courts applying the definition seem to have accomplished good results in almost every published case“. 688  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 836 (1990). 689  Siehe insbesondere Graham, 1982 U. Ill. L. Rev. 887, 921: „,Hearsay‘ is a statement offered in evidence, other than one made by the declarant while testifying at the trial or hearing, to the extent relevance depends upon (1) the truth of the matter asserted or (2) the declarant’s belief in the truth or falsity of the matter asserted“ sowie Wellborn, 61 Tex. L. Rev. 49, 92 (1982): „,Hearsay‘ is a statement, other than one made by the declarant while

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Es mag zwar euphemistisch sein, die hearsay rule, wie Park, als eine „vertrau­ te Regelung, die in den meisten Situationen gut funktioniert“ zu bezeichnen,690 aber dennoch steht natürlich zu befürchten, dass eine neue Definition und damit einhergehend neue Termini auch zu neuen, dafür aber anderen Problemen und Diskussionen führen werden.691 Allerdings sollte die Gefahr neuer Unsicherhei­ ten, die natürlich auch aus den sehr vagen Begriffen wie verbal acts und circum­ stancial evidence resultiert,692 – entgegen Park693 – nicht davor zurückschrecken lassen, bestehende Missstände zu beheben, was in erster Linie Aufgabe des Ge­ setzgebers ist, da sich ein Großteil der bestehenden Probleme nicht alleine durch die Rechtsprechung beheben lässt.694 Allerdings kann auch die Rechtsprechung einen Beitrag leisten, da ein weite­ res Problem ist, dass die Gerichte oft dazu tendieren, den Beweis, der eigentlich hearsay darstellt, als circumstancial evidence dann doch zuzulassen.695 Ein Be­ weismittel, das eigentlich nicht zulässig wäre, wird also trotzdem in den Prozess eingeführt, wobei die Gerichte die typischen Gefahren des hearsay evidence dann auf der Ebene der Beweiswürdigung lösen.696 Das erscheint zwar im Ergebnis sachgerecht, ist aber eine fragwürdige Methode, da diese Gefahren gerade der Grund sind, weshalb es die Regel gibt, die zum Ausschluss eines Beweises und damit zu dessen Unzulässigkeit führt. Denn während die entscheidende Frage im deutschen Recht lautet, ob der zulässige Hörensagenbeweis auch wirklich zu­ verlässig ist, ist die entscheidende Frage im US-amerikanischen Recht zunächst, ob der Beweis vom Hörensagen überhaupt zulässig ist. Schon bei der Frage der Zulässigkeit erscheint es zu einseitig, sich immer nur auf intent und die damit verbundene credibility zu konzentrieren, denn auch hier sollten die sonstigen he­ arsay dangers beachtet werden.

testifying at the trial or hearing, offered in evidence to prove the truth of the matter asser­ ted as evidence of declarant’s belief in a matter, to prove the matter believed.“ (Streichun­ gen und Hervorhebungen im Original); siehe auch Mueller/Kirkpatrick, S. 795 f. 690  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 838 (1990). 691  Diese Bedenken teilt auch Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 836 ff. (1990). 692  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 836 (1990). 693  Park, 74 Minn. L. Rev. 783, 836 (1990). 694  Sehr kritisch auch schon Graham, 1982 U. Ill. L. Rev. 887, 921 und Wellborn, 61 Tex. L. Rev. 49, 92 (1982). 695  Siehe beispielsweise Morgan, 59 Harv. L. Rev. 481, 544 f. (1946) sowie insbeson­ dere Wellborn, 61 Tex. L. Rev. 49, 62 Fn. 79 m. w. N.; siehe auch Graham, 1982 U. Ill. L. Rev. 887, 921. 696  Vgl. dazu Wellborn, 61 Tex. L. Rev. 49, 62: „All hearsay evidence could be viewed as a kind of circumstantial evidence, and all hearsay risks could in that view be transmo­ grified into mere questions of weight“.

III.  Statements that are not hearsay, Fed. R. Evid. 801(d)

273

Vor allem der folgende Widerspruch zeigt im Grunde genommen die Absur­ dität der Regel: Einerseits will man implied assertions nicht unter die hearsay rule fassen, andererseits akzeptiert man einen sehr weiten Anwendungsbereich der Regel, nach dem sogar die Verlesung eines Briefes oder das Abspielen einer aufgezeichneten Äußerung, beispielsweise eines Tonbands, hearsay darstellt. Bei letzterem handelt es sich um eher sichere Beweismittel, bei denen die typischen hearsay dangers nicht bestehen. Wenngleich zu kritisieren ist, dass der decla­ rant nicht ins Kreuzverhör genommen werden kann, hat die hearsay rule hier zur Konsequenz, dass das unzuverlässige Beweismittel zugelassen, das zuverlässige hingegen ausgeschlossen wird. Im Falle einer neuen, weiteren Definition von hearsay könnte einer Ausufe­ rung der hearsay rule auch durch neu geschaffene Ausnahmen begegnet werden.

III.  Statements that are not hearsay, Fed. R. Evid. 801(d) In Fed. R. Evid. 801(d) ist ausdrücklich normiert, welche statements kein hear­ say sind. Es handelt sich hierbei also nicht um eine der im US-amerikanischen Recht anzutreffenden zahlreichen Ausnahmen zur hearsay rule, sondern die dort genannten Konstellationen sind schon per definitionem kein hearsay.697 Fed. R. Evid. 801(d) schließt bestimmte Kategorien von der hearsay rule aus, weshalb es auch als „statutory nonhearsay“, „definitional nonhearsay“ oder „ex­ emptions“ bezeichnet wird.698 Gem. Fed. R. Evid. 801(d)(1) sind dies bestimmte frühere Äußerungen eines anwesenden Zeugen. Die Äußerungen können aber ohnehin immer verwendet werden, um die Glaubwürdigkeit des Zeugen anzu­ zweifeln.699 Dies würde die hearsay rule nicht verletzen, da es in diesem Fall nicht um die in der Äußerung enthaltenen Tatsachen geht. Dessen frühere Aussagen können als Ausnahme zur hearsay rule auch zum Beweis der in der früheren Äu­ ßerung enthaltenen Tatsache verwendet werden, wenn die Voraussetzungen des Fed. R. Evid. 801(d)(1) vorliegen. 1.  Prior inconsistent statement, Fed. R. Evid. 801(d)(1)(A) Fed. R. Evid. 801(d)(1)(A) regelt frühere, also außerhalb der Hauptverhandlung abgegebene Aussagen, die in Widerspruch zur Aussage in der Hauptverhand­ lung stehen. Diese frühere Aussage kann, wenn der Zeuge in der Hauptverhand­ lung eine andere Aussage macht, sofern die sonstigen Voraussetzungen dieser 697 

Näher dazu Fenner, Hearsay Rule, S. 40 ff.; Mueller/Kirkpatrick, S. 796 ff. Lilly/Capra/Saltzburg, S. 161. 699  Es ist dann ein entsprechender Hinweis des Richters an die Geschworenen erfor­ derlich; siehe dazu auch Fed. R. Evid. 613 und Fenner, Hearsay Rule, S. 45 sowie grundle­ gend Mueller/Kirkpatrick, S. 483 ff., insbesondere S. 541 ff. 698 

274

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Norm vorliegen, als wesentliches Beweismittel dienen (nonhearsay substantive evidence) und nicht nur genutzt werden, um die Glaubwürdigkeit des Zeugen anzuzweifeln. Die Gründe für die widersprüchlichen Aussagen können vielfältig sein:700 Der Zeuge, der zunächst gelogen hat, möchte möglicherweise nunmehr die Wahrheit offenbaren, oder der ursprünglich ehrliche Zeuge kann aufgrund der Atmosphäre des Gerichts unter Druck stehen und sich daher bei seiner Aussage irren oder nun vor Gericht aus welchen Gründen auch immer bewusst lügen. Problematisch sind insbesondere Fälle, in denen sich der Zeuge nicht mehr er­ innern kann. Stellt die Äußerung, sich nicht mehr erinnern zu können, einen Wi­ derspruch zur früheren Aussage dar?701 Ein „vorgeschobener Gedächtnisverlust“ kann jedenfalls nach dem 5th Circuit als inkonsistent betrachtet werden, zumal sich der „unwillige Zeuge oft ins Vergessen flüchtet“702. Wie bei allen Ausnahmen nach Fed. R. Evid. 801(d)(1) muss der declarant in der Hauptverhandlung aussagen und ins Kreuzverhör genommen werden können („The declarant testifies and is subject to cross-examination about a prior state­ ment“). Der Zeuge muss also Fragen zu seiner Äußerung beantworten, ohne dass er dabei auf die Details, die in seiner Äußerung enthalten sind, eingehen muss.703 Möglicherweise wird sich der Zeuge an seine frühere Aussage nicht mehr genau erinnern können. Für das Konfrontationsrecht ist es allerdings ausreichend, wenn er grundsätzlich bereit ist, Fragen zu beantworten.704 Problematisch sind Zeugen, die sich nicht erinnern wollen und ins Vergessen flüchten, um nicht aussagen zu müssen.705 Gerade bei widersprüchlichen Aussagen dürfte das Kreuzverhör daher eine besondere Brisanz haben. Da der Zeuge keinen Meineid begehen bzw. einen bereits begangenen Meineid nicht zugeben möchte, wird er oft vorgeben, dass er sich nicht erinnern könne. Da das Konfrontationsrecht aber kein „leerer Formalismus“706 ist, greift die Ausnahme nach Fed. R. Evid. 801(d)(1)(A) nicht, wenn sich der Zeuge überhaupt nicht mehr – weder an seine ursprüngliche Aussa­

700  Siehe zum inconsistent statement McCormick on Evidence, S. 214; Mueller/Kirkpatrick, S. 797. 701  Näher dazu McCormick on Evidence, S. 214 sowie insbesondere Mueller/Kirkpatrick, S. 797 f. 702  United States v. Cisneros-Gutierrez, 517 F.3d 751, 757 (5th Cir. 2008) sowie United States v. Bigham, 812 F.2d 943, 947 (5th Cir. 1987), jeweils mit Verweis auf Wigmore: „the unwilling witness often takes refuge in a failure to remember“. 703  Mueller/Kirkpatrick, S. 800. 704  United States v. Owens, 484 U.S. 554, 561 (1988): „(…) a witness is ,subject to cross-examination‘ when (…) he is placed on the stand, under oath, and responds willingly to questions.“. 705  Siehe zur Erinnerung auch oben B. II. 1. b). 706  Mueller/Kirkpatrick, S. 801: „empty formalism“.

III.  Statements that are not hearsay, Fed. R. Evid. 801(d)

275

ge noch an deren Details – erinnern kann, er also an einem „kompletten Gedächt­ nisverlust“ leidet – oder zu leiden vorgibt.707 Die Aussage ist zulässig, wenn sie „unter Hinweis auf die Strafbarkeit von Meineid in einer Hauptverhandlung, einer Anhörung oder in einem anderen Ver­ fahren oder in einer eidlichen Aussage“ gemacht wurde.708 Eine frühere wider­ sprüchliche Aussage gem. Fed. R. Evid. 801(d)(1)(A) ist also – im Gegensatz zu Fed. R. Evid. 801(d)(1)(B) – nur zulässig, wenn sie unter Eid erfolgt ist.709 Die im Gesetz genannten Verfahren erfolgen vor Behörden und Gerichten; sie ha­ ben formalen Charakter und es wird ein Protokoll oder eine Niederschrift ge­ fertigt, wodurch sichergestellt werden soll, dass die Aussage wirklich gemacht und inhaltlich korrekt erfasst wurde.710 Eine Beschränkung auf gerichtliche bzw. richterliche Verfahren lässt sich der Norm nicht entnehmen.711 Das Verfahren kann also vor allen Behörden durchgeführt werden, die Äußerungen unter Eid aufnehmen und diese protokollieren können.712 Zwar wird auch bei affidavits ein Eid abgenommen, sie sind aber aufgrund der geringeren Förmlichkeiten keine Verfahren im Sinne dieser Norm.713 2.  Prior consistent statement, Fed. R. Evid. 801(d)(1)(B) Auch frühere konsistente, also widerspruchsfreie Aussagen sind unter den Vo­ raussetzungen der Fed. R. Evid. 801(d)(1)(B) zulässig, allerdings mit einem we­ sentlich engeren Beweisziel, worauf hier nicht näher eingegangen werden soll.714

707 

United States v. DiCaro, 772 F.2d 1314, 1323 (7th Cir. 1985): „total memory lapse“. „was given under penalty of perjury at a trial, hearing, or other proceeding or in a deposition“. 709  Fenner, Hearsay Rule, S. 47 f. 710  Notes of Committee on the Judiciary, House Report No. 93 – 650: „The rationale for the Committee’s decision is that (1) unlike in most other situations involving unsworn or oral statements, there can be no dispute as to whether the prior statement was made; and (2) the context of a formal proceeding, an oath, and the opportunity for cross-examination provide firm additional assurances of the reliability of the prior statement.“; näher dazu auch Mueller/Kirkpatrick, S. 798 f. 711  So auch Mueller/Kirkpatrick, S. 799. 712  Dies kann auch die Grenzpolizei (US Border Patrol) sein; in United States v. Cas­ tro-Ayon, 537 F.2d 1055, 1056 (9th Cir. 1976) wurde der Beschuldigte auf der Grenzschutz­ behörde über seine Rechte belehrt, vereidigt und sodann verhört, wobei das Verhör auf Tonband aufgezeichnet wurde. Siehe dazu auch Lilly/Capra/Saltzburg, S. 164. 713 United States v. Williams, 272 F.3d 845, 859 (7th Cir. 2001); näher dazu auch Mueller/Kirkpatrick, S. 799. 714  Siehe dazu McCormick on Evidence, S. 215 ff. 708 

276

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

3.  Prior identification, Fed. R. Evid. 801(d)(1)(C) Gem. Fed. R. Evid. 801(d)(1)(C) werden auch frühere Identifizierungen nicht als hearsay betrachtet, wenn durch die Äußerung eine Person als jemand iden­ tifiziert wird, den der declarant zuvor wahrgenommen hat („identifies a person as someone the declarant perceived earlier“). Davon abgesehen hat die frühe­ re Identifizierung keine weiteren Voraussetzungen; die frühere Identifizierung muss also nicht unter Eid erfolgt sein. Wenn der Polizeibeamte P im Gericht be­ zeugt, dass O bei einer Gegenüberstellung auf T gezeigt und gesagt habe: „Das ist der Mann, der mich misshandelt hat!“, dann ist dies hearsay und grundsätzlich unzulässig.715 Frühere Identifizierungen – und damit auch die Äußerung des P716 – stellen aber kein hearsay dar und sind also zulässig, wenn der Erklärende, also im Beispiel O, im Gericht anwesend ist und für ein Kreuzverhör zur Verfügung steht.717 Dies ist auch sinnvoll, da frühere Identifizierungen, insbesondere solche unmittelbar nach der Tat, weniger Fehlerquellen ausgesetzt sind. Hinzu kommt, dass bei einer Identifizierung verfassungsrechtliche Schutzmechanismen einge­ baut sind, da bestimmte Verfahrensweisen einzuhalten sind.718 Die Identifizie­ rung kann beispielsweise im Rahmen einer Gegenüberstellung (lineup) oder einer Wahllichtbildvorlage719 oder auch einfach formlos, während man beispielsweise einen Spaziergang mit der Freundin macht und dabei dem früheren Peiniger über den Weg läuft, erfolgen.720 Bei einer Identifizierung im Gerichtssaal – abgese­ hen davon, dass bis zur Hauptverhandlung viel Zeit vergehen kann – kann man schon aus der Sitzordnung schließen, wer der Angeklagte ist, so dass sich der Zeuge die Wiedererkennung möglicherweise auch nur einbildet.721 Es kann unter Umständen sinnvoll sein, Dritte, wie den Polizeibeamten, über die ursprüngliche Identifizierung zu vernehmen, wenn sich das Opfer nicht mehr erinnern kann 715 

Siehe auch das Beispiel bei McCormick on Evidence, S. 218. Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 808 f. 717  Besonders deutlich wird der Grundsatz in United States v. Lopez, 271 F.3d 472, 485 (3d Cir. 2001): „(…) evidence is generally admitted under 801(d)(1)(C) ,when a witness has identified the defendant in a lineup or photospread, but forgets, or changes, his testimony at trial.‘ (…) this Rule then permits a third person to testify regarding the previous state­ ments of the eyewitness“. 718  Näher dazu McCormick on Evidence, S. 218; Mueller/Kirkpatrick, S. 809 f. 719  Kritisch bei Identifizierung per „mugshots“ Mueller/Kirkpatrick, S. 807. 720  Mueller/Kirkpatrick, S. 807 m. w. N. 721  Zu Recht sehr kritisch Graham, S. 767 f. – zit. nach State v. Salamon, 241 Neb. 878 (Neb. 1992) –: „The theory is that courtroom identification is so unconvincing as practi­ cally to impeach itself“; siehe auch Gilbert v. California, 388 U.S. 263, 273 Fn. 3 (1967): „(…) the earlier identification has greater probative value than an identification made in the courtroom after the suggestions of others and the circumstances of the trial may have intervened to create a fancied recognition in the witness’ mind.“ mit Verweis auf People v. Gould, 54 Cal.2d 621, 626 (Cal. 1960). 716 

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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oder wenn das Opfer in der Hauptverhandlung eine andere Aussage macht, da es vom Täter bedroht oder bestochen worden ist. Wichtig ist nur, dass das Opfer überhaupt als Zeuge vernommen wird und somit die Möglichkeit des Kreuzver­ hörs besteht. Wenn das Opfer gar nicht in den Zeugenstand tritt, dann kann näm­ lich auch der Polizist keine Angaben zur früheren Identifizierung machen, da die Regelung mangels Möglichkeit des Kreuzverhörs des declarant nicht greift. Dass hier an das Kreuzverhör nicht gerade hohe Anforderungen gestellt werden, hat der U.S. Supreme Court in United States v. Owens722 entschieden. Der Zeu­ ge hatte bei der Tat schwere Kopfverletzungen und infolgedessen eine Amnesie erlitten. Im Rahmen einer Vernehmung durch einen FBI-Agenten machte er An­ gaben zur Tat und zum Täter.723 In der Hauptverhandlung sagte er sodann aus, dass er sich nicht mehr erinnern könne. Der U.S. Supreme Court betont, dass es für die hearsay rule und das Konfrontationsrecht724 entscheidend und grundsätz­ lich ausreichend sei, dass der Zeuge im Kreuzverhör „bereitwillig“ auf Fragen antwortet,725 weshalb auch wesentliche Gedächtnislücken das Kreuzverhör nicht beschränken würden.726 Die Möglichkeit des Kreuzverhörs erfordert also kaum mehr als physische Anwesenheit.727

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule Während die hearsay rule ursprünglich recht streng – dafür aber auch ein­ fach – war und rigoros angewandt wurde728, was zu einem Ausschluss unter Umständen durchaus gewinnbringender Beweismittel führte, haben sich mit der Zeit immer mehr Ausnahmen entwickelt, die die Regel inzwischen „durch­ löchert“729 haben.730 Dies geschah vor dem Hintergrund, dass man Beweismittel erhalten wollte; ein (schlechtes) Beweismittel ist unter Umständen besser als gar keines und manchmal soll hearsay genauso verlässlich – oder sogar ver­

722 

United States v. Owens, 484 U.S. 554 (1988). United States v. Owens, 484 U.S. 554, 556 f. (1988). 724  Dazu näher unter V. 725  United States v. Owens, 484 U.S. 554, 561 (1988): „Ordinarily a witness is regarded as ,subject to cross-examination‘ when he is placed on the stand, under oath, and responds willingly to questions“. 726  United States v. Owens, 484 U.S. 554, 561 f. (1988). 727  Kritisch dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 809. 728  Näher dazu Milich, 71 Or. L. Rev. 723, 741 ff. (1992). 729  Ohio v. Roberts, 448 U.S. 56, 62 (1980): „The basic rule against hearsay, of course, is riddled with exceptions developed over three centuries“. 730  Siehe auch Fenner, Hearsay Rule, S. 106 m. w. N. 723 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

lässlicher731 – als eine unmittelbare Zeugenaussage sein. In der Literatur wird in diesem Zusammenhang von Bedarf (need) und Verlässlichkeit (reliabilty)732 gesprochen und auch in der Rechtsprechung werden dieselben Erwägungen an­ gestellt733. Die Ausnahmen sind heutzutage in Fed. R. Evid. 803, Fed. R. Evid. 804 und Fed. R. Evid. 807 geregelt. Die residual exception gem. Fed. R. Evid. 807 ist eine sehr offen formulierte Norm, die es dem Richter ermöglicht, in bestimmten Fäl­ len unter gewissen Bedingungen Ausnahmen von der hearsay rule zuzulassen. Fed. R. Evid. 803 und Fed. R. Evid. 804 enthalten rund 30 „Regelbeispiele“, also kategorisierte Fälle wie excited utterances oder Äußerungen, die in Erwar­ tung des Todes abgegeben werden, und differenzieren danach, ob der declarant noch als Zeuge verfügbar ist: Während die in Fed. R. Evid. 803 normierten Aus­ nahmen unabhängig von der Frage, ob der declarant noch verfügbar ist, greifen, finden die in Fed. R. Evid. 804 genannten Ausnahmen nur unter der Bedingung Anwendung, dass der declarant nicht mehr zur Verfügung steht und somit nicht mehr vernommen werden kann. Es wird zwischen verlässlichen Ausnahmen in Fed. R. Evid. 803 und notwendigen Ausnahmen in Fed. R. Evid. 804 differen­ ziert.734 1.  Ausnahmen nach Fed. R. Evid. 803 a)  Present sense impression nach Fed. R. Evid. 803(1) Die sog. present sense impression nach Fed. R. Evid. 803(1) stellt eine Ausnah­ me dar, wenn der declarant sein out-of-court statement abgibt, während oder unmittelbar nachdem er ein Ereignis oder eine Bedingung wahrnimmt bzw. wahr­ genommen hat, und dieses Statement das Ereignis oder die Bedingung beschreibt oder erklärt. Es ist also eine Gleichzeitigkeit (contemporaneity735) des Wahrneh­ mens und des Beschreibens erforderlich. Gemeinhin werden auch Beschreibun­ 731  White v. Illinois, 502 U.S. 346, 355 (1992): „(…) the evidentiary rationale for per­ mitting hearsay testimony regarding spontaneous declarations and statements made in the course of receiving medical care is that such out-of-court declarations are made in con­ texts that provide substantial guarantees of their trustworthiness. But those same factors that contribute to the statements’ reliability cannot be recaptured even by later in court testimony“. 732  Fenner, Hearsay Rule, S. 106 f. 733  United States v. Orm Hieng, 679 F.3d 1131, 1142 (9th Cir. 2012): „reliability is the touchstone of all the hearsay exceptions“; siehe auch Fenner, Hearsay Rule, S. 106, Fn. 11 m. w. N. 734 So Sevier, 103 Geo. L. J. 879, 887 (2015), ebenso Fenner, Hearsay Rule, S. 116. 735  Näher zu diesem Merkmal Mueller/Kirkpatrick, S. 849; vgl. auch Fed. R. Evid. 803(1) Notes of Advisory Committee on proposed rules.

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gen, die unmittelbar nach der Wahrnehmung erfolgen, als unter die Ausnahme fallend betrachtet, so dass auch Aussagen, die erst mehrere Minuten nach der Wahrnehmung erfolgen, eine present sense impression darstellen.736 Vereinzelt wird zwar dem Namen der Ausnahme entsprechend eine strenge Handhabung der Regel gefordert, dass nur Aussagen, die auch im Präsens erfolgen, unter die Ausnahme fallen,737 aber nach allgemeiner Auffassung werden auch Äußerungen, die im Imperfekt oder Perfekt erfolgen, wie „Dr. Shepard hat mich vergiftet!“, erfasst. Die Ausnahme wird damit begründet, dass von den typischen vier Ge­ fahren des Hörensagenbeweises – falsche Wahrnehmung, falsche Wiedergabe, Erinnerungslücken und Lüge – zumindest die beiden letztgenannten Gefahren ausgeschlossen seien.738 Der Schlüssel sei hier laut Notes of Advisory Committee gerade die Spontaneität739, die die Verlässlichkeit sicherstelle: Aufgrund des kur­ zen Zeitraumes seien Erinnerungslücken oder eine Verfälschung der Erinnerung nahezu ausgeschlossen. Gleiches gelte für die Lüge, denn durch die Unmittel­ barkeit bestehe keine Zeit zum Nachdenken, was die Gefahr der bewussten Täu­ schung ausschließe oder zumindest stark verringere. Hier sei darauf hingewie­ sen, dass psychologische Studien belegen, dass für die Konstruktion einer Lüge weniger als eine Sekunde erforderlich ist.740 Die present sense impressions sind in der Praxis von geringer Bedeutung: Zum einen besteht kein Bedarf, weil oft auch der unmittelbare Zeuge noch vernommen werden kann, zum anderen fallen sie oft auch unter andere Ausnahmen741, wie beispielsweise unter die Ausnahme nach Fed. R. Evid. 803(2), die excited utter­ ances. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass die present sense impressions verlässlicher seien, da die Äußerung ohne Einflüsse von Schock oder Aufregung erfolge, während man bei den excited utterances durch die „emotionalen Umwäl­ zungen abgelenkt“ werden könnte.742

736 

Näher dazu die Darstellung bei McFarland, 28 Fla. St. U. L. Rev. 907, 918 ff. (2001). McFarland, 28 Fla. St. U. L. Rev. 907, 928 f. (2001). 738  Näher dazu McFarland, 28 Fla. St. U. L. Rev. 907, 913 ff. (2001). 739  Siehe dazu Notes of Advisory Committee on Proposed Rules: „Spontaneity is the key factor“. 740  McFarland, 28 Fla. St. U. L. Rev. 907, 916 (2001) m. w. N.: „People can form lies quickly. Old and new studies agree that less than one second is required to fabricate a lie.“; kritisch hierzu auch Moorehead, 29 Loy. L. A. L. Rev. 203, 236 (1995) m. w. N. 741  Exception for statements of then-existing mental, emotional, or physical condition, bei schriftlichen Äußerungen auch unter die recorded recollection exception. 742  Slough, 2 U. Kan. L. Rev. 246, 266 f. (1954): „(…) which produces no nervous shock or excitement. (…) distracted by the pull of an emotional upheaval.“; zustimmend wohl Mueller/Kirkpatrick, S. 848. 737 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

b)  Excited utterance, Fed. R. Evid. 803(2) Bei der Ausnahme der excited utterance gab es ein aufsehenerregendes (start­ ling) Ereignis, das den declarant überraschte und seine Urteilskraft beeinfluss­ te, und unter diesem Einfluss stehend gab er eine Äußerung ab, die sich auch auf dieses Ereignis bezog. Wenngleich schreckliche Ereignisse Verwirrung und Aufregung hervorrufen, so nimmt man zumindest in der Theorie an, dass die gegenwärtige Wahrnehmung (present sense impression) durch das überraschende und aufsehenerregende bzw. schockierende Ereignis derart stark beeinflusst sein soll, dass der Betroffene zumindest nicht in der Lage ist, sich seine Äußerungen zurecht zu legen oder zu lügen. Der declarant soll also „unbewusst bzw. reflexar­ tig“ eine Äußerung zu diesem Ereignis abgeben; gibt er sie in Bezug auf andere Ereignisse ab, so zeigt dies, dass er durchaus in der Lage ist, sich bewusst Ge­ danken zu machen, so dass die Ausnahme nicht greift. Die Verlässlichkeit dieser Ausnahme wird also, wie auch der U.S. Supreme Court ausführt, überwiegend damit begründet, dass „aufgeregte Menschen nicht lügen“743, so dass spontane Äußerungen unter Umständen verlässlicher erscheinen, als eine Aussage im Ge­ richtssaal, für die der declarant ausreichend Zeit hat, sich seine Worte zurecht zu legen744. Dennoch ist zu kritisieren, dass die sonstigen Defizite unberücksichtigt bleiben: Vor allem die Wahrnehmung und Erinnerung könnten durch das aufse­ henerregende Ereignis beeinträchtigt werden.745 Allerdings ist zuzugeben, dass die Verfälschung in der Erinnerung gerade dadurch minimiert wird, dass die Äußerung grundsätzlich zeitnah zu dem Ereignis erfolgt.746

743  Idaho v. Wright, 497 U.S. 805 (1990) „The basis for the ,excited utterance‘ excep­ tion, for example, is that such statements are given under circumstances that eliminate the possibility of fabrication, coaching, or confabulation, and that therefore the circumstances surrounding the making of the statement provide sufficient assurance that the statement is trustworthy and that cross-examination would be superfluous.“ (Hervorhebung vom Verfasser); Haggins v. Warden, Fort Pillow State Farm, 715 F.2d 1050, 1057 (6th Cir. 1983): „The excited utterance exception is based on the belief that the statement is reliable be­ cause it is made while the declarant is under the stress of excitement. It is unlikely that the statement is contrived or the product of reflection.“; kritisch Moorehead, 29 Loy. L. A. L. Rev. 203, 236 f. (1995); siehe auch Mueller, 76 Minn. L. Rev. 367, 375 (1992): „excited men don’t lie“. 744  White v. Illinois, 502 U.S. 346, 355 (1992): „A statement that has been offered in a moment of excitement – without the opportunity to reflect on the consequences of one’s exclamation – may justifiably carry more weight with a trier of fact than a similar statem­ ent offered in the relative calm of the courtroom“. 745  Stewart Jr., 1970 Utah L. Rev., 1, 19: „Excitement, a factor evidence law relies upon as a warrant for trustworthiness, produces a significant degree of error, sometimes of the most bizarre type“. 746  United States v. Jennings, 496 F.3d 344, 349 (4th Cir. 2007): „Additionally, errors in memory will have had less time to accumulate“.

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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Für die excited utterance sind, wie der 6th Circuit in Haggins v. Warden, Fort Pillow State Farm ausführt, drei Merkmale charakteristisch: „Als erstes muss ein Ereignis vorliegen, das bestürzend genug ist, um eine kräftige Aufregung hervor­ zurufen. Zweitens muss die Äußerung erfolgen, bevor man Zeit zum Ausdenken oder Verdrehen hat. Und drittens muss die Äußerung abgegeben werden, wäh­ rend die Person unter dem Einfluss der Aufregung, die durch das Ereignis hervor­ gerufen wurde, steht.“747 Neben diesem Drei-Stufen-Test wird teilweise auch von vier Voraussetzungen gesprochen, wobei selbstverständlich sein dürfte, dass der declarant das Geschehen überhaupt wahrnehmen konnte, weshalb es überflüssig erscheint, dies – wie in United States v. Mitchell unter drittens geschehen748 – als gesonderte Voraussetzung anzuführen. Im Vergleich zu den present sense impressions sind die Voraussetzungen zu­ nächst enger, da ein startling event vorliegen muss. Der Anwendungsbereich ist aber zugleich weiter gefasst: Die Äußerung muss das Geschehen nicht – wie nach Fed. R. Evid 803(1) – beschreiben oder erklären (describe or explain), sondern sich gem. Fed. R. Evid. 803(2) nur (irgendwie) auf das Geschehen beziehen (re­ lating to).749 Auch der zeitliche Geltungsbereich geht über den des Fed. R. Evid. 803(1) hinaus, da die Äußerung nicht während oder unmittelbar nach der Wahr­ nehmung des Ereignisses erfolgen muss, sondern es kann durchaus einige Zeit bis zur Äußerung verstreichen, da vielmehr entscheidend ist, dass man (immer) noch unter dem Einfluss des Geschehens steht – die Auswirkungen des Schocks also noch andauern –, was sogar Tage später noch der Fall sein kann.

747  So seit Haggins v. Warden, Fort Pillow State Farm, 715 F.2d 1050, 1057 (6th Cir. 1983): „Three elements are necessary for the admission of an excited utterance. First, there must be an event startling enough to cause nervous excitement. Second, the statement must be made before there is time to contrive or misrepresent. And, third, the statement must be made while the person is under the stress of the excitement caused by the event.“ Siehe auch United States v. Hadley, 431 F.3d 484, 496 (6th Cir. 2005), cert. denied, 549 U.S. 828: „three-factor test“; United States v. Davis, 577 F.3d 660, 669 (6th Cir. 2009); besonders einprägsam auch Lancaster v. People, 200 Colo. 448, 451 (Colo. 1980): „The res gestae or excited utterance exception (…) applies to statements relating to a startling act or events made spontaneously and without reflection while the declarant was under the stress of excitement“; ebenso People v. Roark, 643 P.2d 756, 760 (Colo. 1982). 748  United States v. Mitchell, 145 F.3d 572, 576 (3d Cir. 1998): „The requirements for a hearsay statement to constitute an excited utterance are: (1) a startling occasion, (2) a state­ ment relating to the circumstances of the startling occasion, (3) a declarant who appears to have had opportunity to observe personally the events, and (4) a statement made before there has been time to reflect and fabricate.“. 749  Binder, S. 272; näher dazu Fenner, Hearsay Rule, S. 122 ff. und McCormick on Evidence, S. 373 ff.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

aa)  Schockierendes Ereignis Als schockierendes Ereignis kommen Geschehen in Betracht, die bei den Be­ troffenen oft auch psychische oder physische Traumata hervorrufen, wie schwere Unfälle oder Verbrechen.750 Bei den Verbrechen geht es häufig um Fälle sexu­ ellen Missbrauchs751, insbesondere sexuellen Missbrauch von Kindern, die un­ mittelbar nach der Tat einem Elternteil oder einer anderen Vertrauensperson von merkwürdigen Geschehnissen – „used his tongue on her in her private parts“752 – berichten und Hinweise auf den Täter geben. Derjenige, der die Äußerung abgibt, muss aber nicht zwangsläufig das Op­ fer der Straftat, sondern kann auch ein unbeteiligter Dritter sein. Entscheidend ist, dass derjenige, der etwas äußert, aufgeregt ist und damit immer noch un­ ter dem Einfluss des Geschehens steht. Hierbei ist auf die individuelle Situation des Äußernden abzustellen. Es sind also beispielsweise für zufällig umstehende Passanten andere Maßstäbe zugrunde zu legen als für berufserfahrene Polizis­ ten.753 Je überraschender und schockierender das Ereignis ist und je stärker man von den Auswirkungen des Geschehens betroffen wird – der Tod eines nahen Angehörigen geht einem näher als der Tod eines unbekannten Dritten –, desto eher ist davon auszugehen, dass der Betroffene aufgeregt ist.754 Auch das Opfer selbst ist durch die Tat aufgeregter als ein unbeteiligter Dritter, dies gilt insbe­ sondere, wenn es um gravierende Gefahren für Leib und Leben geht. Termini, die zur Beschreibung des excitements häufig verwendet werden, finden sich in United States v. Hadley: Der zwei Minuten nach dem Notruf als erster am Tat­ ort eintreffende Polizeibeamte sagte aus, dass ihm die Ehefrau des Angeklagten „hysterisch“, „in einem Zustand von Panik“, „schreiend“, „zitternd“ und „wei­ nend“ entgegengekommen sei und dabei „er hat eine Waffe, er wird mich töten“ geschrien habe.755 bb)  Spontan – ohne nachzudenken Die Äußerung soll eine spontane Reaktion auf das Geschehen sein, sie soll spontan, also ohne nachzudenken, erfolgen. Besteht eine Gelegenheit zum reflek­ tierten Denken, schließt dies die Spontaneität aus.756 Auch die Antwort auf eine 750 

Vgl. dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 852. Näher dazu McCormick on Evidence, S. 375 ff. 752  White v. Illinois, 502 U.S. 346, 350 (1992). 753  Mueller/Kirkpatrick, S. 854. 754  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 854. 755 United States v. Hadley, 431 F.3d 484, 487 (6th Cir. 2005), cert. denied, 549 U.S. 828. 756  McCormick on Evidence, S. 368 ff. 751 

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Frage kann eine excited utterance darstellen, wenn der Antwortende noch unter dem Einfluss des Geschehens steht, wenn jemand beispielsweise die Fragen des Notruf-Dispatchers beantwortet.757 Die Antwort als Reaktion auf eine Frage lässt die Spontaneität der excited utterance nicht automatisch entfallen, sie kann aber durchaus ein Anhaltspunkt für reflektiertes Denken sein und daher gegen die Spontaneität sprechen.758 Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls. An der Spontaneität fehlt es, wie auch United States v. Green zeigt, eindeutig, wenn der declarant ausdrücklich aufgefordert wird, seine Antwort zu überdenken. 759 Zwar bezieht sich diese Entscheidung auf die present sense impression, die – wie dar­ gelegt – einen strengeren Maßstab zugrunde legt, doch dürfte diese Aufforderung auch die Spontaneität im Rahmen der excited utterance entfallen lassen. Mit der Spontaneität der Äußerung – der zweiten Voraussetzung in United States v. Haggins „bevor man Zeit zum Ausdenken hat“ – beschäftigte sich der 6th Circuit auch in United States v. Davis: Eine Passantin, die jemanden mit einer Waffe sieht und ihn für einen Mörder hält und nur einen kurzen Moment, ca. 30 bis 60 Sekunden, später die Polizei ruft, kann unter dem Eindruck dieses Gesche­ hens stehen – gerade weil die Beobachterin den Beschuldigten für einen Mörder gehalten hat und zugleich in Begleitung von Kindern gewesen ist, für die sie sich verantwortlich gefühlt hat (erster Punkt). Bei ihrer Äußerung hat sie immer noch unter dem Einfluss des Geschehens gestanden (dritter Punkt), wobei das Gericht ausdrücklich ausführt, dass es unerheblich sei, ob der Anruf 30 Sekun­ den oder fünf Minuten nach Beobachtung des Ereignisses erfolgte760, wobei diese Zeit auch nicht ausreichen soll, um ihre Aussage zu verfälschen, so dass auch die zweite Voraussetzung gegeben sei. 757 

McCormick on Evidence, S. 371, dort insbesondere Fn. 32. v. B.M.D. Golf Assocs., 148 N.H. 582, 583 (N.H. 2002) „(…) the fact that the declarant was responding to a question did not prevent his statement from being spontaneous.“; siehe auch Binder, § 9.4 m. w. N. 759  United States v. Green, 556 F.3d 151, 157 (3d Cir. 2009): „This is so since Brown’s statement in this case is problematic not only because of the lengthy passage of time, but also because the statement was only made after he had been questioned by DEA agents about the details of the transaction the statement purports to describe. This undisputed sequence of events affirmatively indicates that Brown made his statement after he was expressly asked to reflect upon the events in question, and thereby fatally disqualifies the declaration for admission as a present-sense impression.“ (Hervorhebung im Original). 760  United States v. Davis, 577 F.3d 660, 669 (6th Cir. 2009): „She made the state­ ment soon enough after the event to satisfy the third prong of the Haggins test, where she was still under the stress of the event. Under Haggins and its progeny, it does not mat­ ter whether the call was made thirty seconds or five minutes after witnessing the event. ,[O]ur cases do not demand a precise showing of the lapse of time between the startling event and the out-of-court statement. The exception may be based solely on ,[testimony that the declarant still appeared nervous or distraught and that there was a reasonable basis for continuing [to be] emotionally] upset.‘“. 758  MacDonald

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cc)  Unter dem Einfluss des Geschehens stehend und der Faktor der Zeit Entscheidend für die excited utterance ist insbesondere, ob sich der Stress des Ereignisses weiterhin auswirkt und der Betroffene deshalb unter dem Einfluss des Geschehens steht, wofür verschiedene Faktoren zugrunde gelegt werden können: Die verstrichene Zeit zwischen dem Ereignis und den Äußerungen, die physische und mentale Konstitution des declarant, die Besonderheiten des Ereig­ nisses, aber auch das Alter des Äußernden können von Bedeutung sein.761 Die Zeit, die zwischen dem Schlüsselereignis und der Äußerung des declarant verstreicht, ist wichtig, aber nicht entscheidend und damit ein, aber nicht der In­ dikator, um zu beurteilen, ob der declarant die Möglichkeit hat, seine Aussage zu verfälschen.762 Entscheidend und damit Schlüsselfaktor ist vielmehr die Verfassung des declarant, ob sich also das Ereignis weiterhin auf seinen Gemütszu­ stand auswirkt und er daher immer noch aufgeregt oder hysterisch ist, weint oder schreit.763 Entscheidend ist also eigentlich nicht, dass der declarant keine Zeit hat, seine Aussage zu verfälschen, sondern dass er aufgrund seiner Verfassung keine Möglichkeit hat, seine Aussage zu verfälschen. Dies zeigt, dass die Grenze zwi­ schen den beiden Voraussetzungen – keine Zeit zum Ausdenken zu haben und noch immer unter dem Einfluss des Geschehens zu stehen – fließend sein dürfte: Wenn man immer noch geschockt ist, hat man keine Zeit bzw. genauer gesagt keine Möglichkeit zu lügen; und wenn man keine Möglichkeit zum Nachdenken hat – weil man so geschockt ist –, dann steht man anscheinend wohl immer noch unter dem Einfluss des Geschehens. 761 Morgan v. Foretich, 846 F.2d 941, 947 (4th Cir. 1988): „The question, then, is whether Hilary reacted while under the stress of this condition. To answer this question, several factors must be considered, including: (1) The lapse of time between the event and the declarations; (2) the age of the declarant; (3) the physical and mental state of the declarant; (4) the characteristics of the event; and (5) the subject matter of the statements“. 762  Beausoliel v. United States, 107 F.2d 292, 295 (D.C. Cir. 1939): „(…) while the time element is important, it is not in itself controlling“; ebenso United States v. Iron Shell, 633 F.2d 77, 85 (8th Cir. 1980), cert. denied, 450 U.S. 1001, 101 S.Ct. 1709, 68 L.Ed.2d 203 (1981): „The lapse of time between the startling event and the out-of-court statement although relevant is not dispositive in the application of rule 803(2).“; Gross v. Greer, 773 F.2d 116, 119 (7th Cir. 1985): „(…) the lapse of time between the startling event and the outof-court statement, although relevant, is not dispositive (…)“ und United States v. Wesela, 223 F.3d 656, 663 (7th Cir. 2000); People In Interest of O.E.P., 654 P.2d 312, 318 (Colo. 1982): „The element of trustworthiness underscoring the excited utterance exception, par­ ticularly in the case of young children, finds its source primarily in ,the lack of capacity to fabricate rather than the lack of time to fabricate‘.“, den Hinweis des Advisory Committee zitierend; heutige Advisory Committee’s Note: „With respect to the time element, Excepti­ on [paragraph] (1) recognizes that in many, if not most, instances precise contemporaneity is not possible, and hence a slight lapse is allowable. Under Exception [paragraph] (2) the standard of measurement is the duration of the state of excitement“. 763  Fenner, Hearsay Rule, S. 119 f.

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Vor allem bei sehr jungen Kindern könnten die stressigen Auswirkungen län­ ger andauern und es wird sogar betont, dass gerade Kinder oft nicht in der Lage seien, die Geschehnisse bewusst zu verfälschen.764 Als entscheidende Faktoren sind das Alter des Kindes und die verstrichene Zeit zwischen der Äußerung und dem auslösenden Ereignis, das meistens die Beobachtung eines brutalen Verbre­ chens durch das Kind oder ein sexueller Missbrauch an dem Kind sind, zu be­ trachten. Die Faktoren bedingen sich gegenseitig und bezüglich des Alters765 und in zeitlicher Hinsicht besteht ein großer Spielraum:766 Der Zeitraum kann wenige Minuten bis sogar zwei Wochen nach der Tat umfassen.767 Dass eine excited utterance gegeben ist, ist recht eindeutig, wenn, wie in Unit­ ed States v. Jennings, eine 13-jährige, fünf Minuten nachdem sie während eines Nachtflugs umgesetzt worden ist, aufgelöst und weinend berichtet, dass sie von ihrem Sitznachbarn sexuell belästigt worden wäre.768 Auch in People v. Roark ist die Aussage eines Fünfjährigen, zwölf Stunden nachdem er die Misshandlung seiner Stiefschwester mitansehen musste, eine excited utterance: Der Angeklagte passte, während seine Freundin ausging, auf die Kinder auf. Als das Mädchen nicht zu Bett gehen wollte, misshandelte er es und legte es sodann schlafen, wobei es seinen inneren Verletzungen erlag. Am nächsten Morgen stellte er weinend den Tod des Mädchens fest und gab gegen­ über deren Mutter vor, Jugendliche aus der Gegend wären für die Tat verant­ wortlich.769 Als die Mutter in Begleitung des Jungen beim Verlassen des Hauses von einem Unbekannten gefragt wurde, was vorgefallen wäre, antwortete sie, ein paar Jugendliche hätten ihre Tochter getötet. Darauf entgegnete der Junge: „[D]ie 764 Lancaster v. People, 200 Colo. 448, 453 (Colo. 1980): „Considerable latitude in temporal proximity is particularly evident in cases involving assertions by very young children after a stressful experience. E.g. State v. Boodry, supra (one-half-hour interval); Soto v. Territory, supra (one-and-one-half-hour interval); Territory v. Kinoshita, supra (two-and-one-half-hour interval); Logsdon v. Commonwealth, supra (statement by child upon returning home); State v. Godwin, supra (one-half-hour interval); Watkins v. State, supra (one-half-hour interval). This latitude is a recognition of the fact that children of tender years are generally not adept at reasoned reflection and at concoction of false stories under such circumstances. Contrary to defendant’s assertion, the time interval of onehalf-hour between the alleged assault and the hearsay declaration does not constitute an impediment to the admissibility of the statement.“ (Kursivdruck im Original). 765  Zum Alter von Kindern und dessen Bedetung für die Aussagefähigkeit siehe Lan­ caster v. People, 200 Colo. 448, 451 f. (Colo. 1980) m. z. N. 766 Siehe dazu People v. Roark, 643 P.2d 756, 760 (Colo. 1982) sowie Lancaster v. People, 200 Colo. 448, 451 ff. (Colo. 1980). 767  Siehe dazu auch die Übersicht bei Fenner, Hearsay Rule, S. 129. 768  United States v. Jennings, 496 F.3d 344, 349 f. (4th Cir. 2007), dort auch zu Fak­ toren. 769  People v. Roark, 643 P.2d 756, 759 (Colo. 1982).

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Jugendlichen haben Christie nicht verprügelt, es war mein Vater, aber er hat mir gesagt, ich soll es dir nicht erzählen.“770 Trotz der verstrichenen Zeit handele es sich aufgrund einer „Serie von zwei höchst stressigen Ereignissen“771 für den Jungen immer noch um eine excited ut­ terance: Zunächst sei er zugegen gewesen, als sein Vater zwei Stunden lang seine Stiefschwester misshandelte. Sodann habe er geschlafen oder sich in Gegenwart seines Vaters befunden. Am nächsten Morgen habe er unter dem Eindruck der Einflüsse gestanden, die mit der Entdeckung des Todes, insbesondere mit der emotionalen Reaktion seines Vaters, dem Eintreffen des Krankenwagens und der Polizei zusammenhingen.772 Sogar zwei Tage später kann ein vierjähriges Mädchen nach einer Vergewalti­ gung durch den Freund ihrer Mutter noch unter dem Einfluss dieses Ereignisses stehen, wenn es aufgrund seiner Verletzungen im Genitalbereich ins Kranken­ haus eingeliefert wird und erst dort hysterisch und weinend seiner Großmutter von den Geschehnissen berichtet.773 Nach People v. Lovett kann man sogar eine Woche später immer noch unter dem Einfluss des Geschehens stehen: Ein drei­ jähriges Mädchen, das Augenzeugin eines Mordes geworden war, verbrachte die Zeit unmittelbar nach der Tat seinen Großeltern und berichtete erst eine Woche später bei seiner Rückkehr der neuen Babysitterin von der Tat.774 Mit der Frage, ob ein Kind auch noch nach vier oder fünf Monaten unter dem Einfluss des Ereignisses stehen kann, hatte sich das Gericht in State v. Galvan zu beschäftigen. Diese Entscheidung ist nicht nur mit Blick auf die verstrichene Zeit, sondern auch mit Blick auf das Alter des Kindes und dessen Äußerungen bzw. Verhaltensweisen interessant. Der Angeklagte wurde beschuldigt, an einem Abend, als er in Begleitung seiner zweijährigen Tochter war, einen Mann ge­ fesselt, geschlagen und erstochen zu haben. Seine Ex-Frau sagte aus, dass sie zwei Tage nach der Tat festgestellt habe, dass ihre Tochter sich merkwürdig ver­ halte, einen Gürtel aus dem Kleiderschrank genommen, diesen um ihre Hände gebunden und sodann merkwürdige Gesten gemacht habe, so als ob sie sich auf die Brust schlagen würde. Die Ex-Frau sagte ferner aus, dass ihre Tochter fünf Monate nach der Tat in Tränen ausgebrochen sei, als sie beim Fernsehen in einem Cartoon gesehen habe, wie eine Maus gefesselt worden sei.775 Für das Geschehen zwei Tage nach der Tat greife die Ausnahme, da „ein Zeit­ raum von zwei Tagen, insbesondere für sehr junge Kinder, nah genug an dem 770 

People v. Roark, 643 P.2d 756, 760 (Colo. 1982). People v. Roark, 643 P.2d 756, 760 (Colo. 1982). 772  People v. Roark, 643 P.2d 756, 760 f. (Colo. 1982). 773  State v. Noble, 342 So.2d 170, 173 (La. 1977). 774  People v. Lovett, 85 Mich. App. 534, 544 f. (Mich. Ct. App. 1978). 775  State v. Galvan, 297 N.W.2d 344, 346 (Iowa 1980). 771 

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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Geschehen“ liege, so dass man davon ausgehen könne, dass „Einbildungen und Lügen ausgeschlossen“ seien.776 Ein Verhalten, das allerdings fünf Monate später beobachtet werde, stehe in keinem engen Zusammenhang zu der Tat, so dass nur gemutmaßt werden könne, ob es durch die Tat selbst oder durch irgendetwas an­ deres hervorgerufen worden sei.777 Dieser Entscheidung ist zuzustimmen, denn es ist nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr nahe liegend, dass das Verhalten des Kindes fünf Monate nach der Tat auf andere Geschehnisse oder Erlebnisse zurückzuführen ist oder durch diese zumindest verfälscht wird. Denn je mehr Zeit zwischen dem Erlebnis und der Wiedergabe des Erlebten verstreicht, desto größer ist das Risiko, dass die Aussage verfälscht wird. Als Fehlerquellen kom­ men eine Verfälschung der Wahrnehmung (überdeckende Erlebnisse) oder der Erinnerung in Betracht. Zwar wird auch in Morgan v. Foretich778 betont, dass junges Alter die Gefahr der Lüge reduziere, aber es stellt sich die Frage, ob dies wirklich allgemeingültig ist und vor allem welche Auswirkungen die doch oft lebhafte Fantasie junger Menschen auf die Qualität der Aussage hat. Je schockierender ein Ereignis ist, desto länger wird es vermutlich den decla­ rant beeinflussen.779 Dieser Einfluss muss auch nicht unmittelbar von dem An­ griff ausgehen: Das Opfer, das an den ihm zugefügten Verletzungen fast gestor­ ben wäre, kann auch acht Wochen später durch den bloßen Anblick eines Fotos des Täters in der Tageszeitung so erregt werden, dass die vom Anblick verursach­ te Erregung als „startling event“ gilt.780 c)  Äußerungen für eine medizinische Diagnose oder Behandlung, Fed. R. Evid. 803(4) Äußerungen für eine medizinische Diagnose oder Behandlung stellen eine Ausnahme gem. Fed. R. Evid. 803(4) dar. Sie werden im Allgemeinen als verläss­ lich betrachtet, da man davon ausgeht, dass man einen Arzt, dessen Hilfe man in Anspruch nimmt, nicht anlügt, da man nur bei ehrlichen Angaben, auf die der Arzt sein weiteres Vorgehen stützt, eine angemessene Behandlung erwarten kann und der „declarant weiß, dass eine falsche Äußerung Fehldiagnosen oder Fehl­ 776  State

v. Galvan, 297 N.W.2d 344, 347 (Iowa 1980): „It appears in every way to have been spontaneous and unsolicited. The passage of two days, especially for so young a child, leaves it close enough to the transaction so that the trial court could have believed any presumption of fabrication was excluded“. 777  State v. Galvan, 297 N.W.2d 344, 347 (Iowa 1980): „It was in no way close to the transaction but was most remote to it. Whether it was prompted by the event itself or by something the child saw on television is left entirely to conjecture“. 778  Morgan v. Foretich, 846 F.2d 941, 948 (4th Cir. 1988): „(…) tender years greatly reduce the likelihood that reflection and fabrication were involved“. 779  Fenner, Hearsay Rule, S. 120. 780  United States v. Napier, 518 F.2d 316, 317 f. (9th Cir. 1975).

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behandlungen verursachen kann“781. Somit habe der Patient „ein egoistisches Motiv aufrichtig zu sein“782. Da Ärzte „im Vertrauen auf die Äußerungen Ent­ scheidungen über Leben und Tod“ treffen würden, sollten die Äußerungen – so wird argumentiert – auch eine „ausreichende Glaubhaftigkeit gewähren, um vor Gericht zulässig zu sein“783. Es gibt wesentliche Faktoren, die diese Ausnahme kennzeichnen784: Der decla­ rant muss die Angaben zum Zwecke der medizinischen Behandlung machen bzw. diese Angaben müssen für die medizinische Behandlung sachdienlich sein. Wäh­ rend Ersteres aus der Perspektive des Erklärenden zu bestimmen ist und es da­ her auf seine Gedanken ankommt,785 sind für die Sachdienlichkeit die Gedanken des Arztes entscheidend und es ist zu fragen, ob ein Arzt seine Diagnose oder Behandlung vernünftigerweise auf diese Angaben stützen würde. Die Grenze zwischen diesen beiden Punkten verläuft häufig fließend: Die Angaben, die ein Patient (bewusst) macht, sind oft für die weitere Behandlung von Bedeutung. Ersteres wird häufig auch benutzt, um den Anwendungsbereich dieser Ausnahme zu begrenzen. Gegen die Perspektive des Erklärenden wird jedoch auch einge­ wendet, dass es kein objektiver Standard sei, so dass häufig ausschließlich auf die Sachdienlichkeit der Behandlung abgestellt wird.786 Schließlich müssen die Äußerungen die Anamnese, Empfindungen, bisherige Symptome oder deren ge­ nerelle Ursache beschreiben. Es ist jedenfalls nicht erforderlich, dass die Äußerungen unmittelbar gegen­ über einem Arzt gemacht werden, sondern – wie sich aus den Anmerkungen des Advisory Committee ergibt787 – diese können auch gegenüber dem Kranken­ 781  White v. Illinois, 502 U.S. 346, 356 (1992): „(…) a statement made in the course of procuring medical services, where the declarant knows that a false statement may cause misdiagnosis or mistreatment, carries special guarantees of credibility (…)“. 782  United States v. Pacheco, 154 F.3d 1236, 1240 (10th Cir. 1998): „The rationale be­ hind the Rule 803(4) exception is that because a patient’s medical care depends on the accuracy of the information she provides, the patient has a selfish motive to be truthful; consequently, a patient’s statements to her physician are likely to be particularly reliable.“; siehe auch United States v. Tome, 61 F.3d 1446, 1449 (10th Cir. 1995) und United States v. Joe, 8 F.3d 1488, 1493 f. (10th Cir. 1993). 783  United States v. Iron Shell, 633 F.2d 77, 84 (8th Cir. 1980): „(…) life and death de­ cisions are made by physicians in reliance on such facts and as such should have sufficient trustworthiness to be admissible in a court of law“. 784  Näher dazu Fenner, Hearsay Rule, S. 149 ff. 785  United States v. Cucuzzella , 66 M.J. 57, 59 (C.A.A.F. 2008) „Here the subjective state of mind of the declarant is a key factor“. 786  McCormick on Evidence, S. 408; Mueller/Kirkpatrick , S. 881 f. m. w. N. 787  Notes of Advisory Committee on Proposed Rules: „Under the exception the state­ ment need not have been made to a physician. Statements to hospital attendants, ambu­ lance drivers, or even members of the family might be included“.

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hauspersonal oder sogar Familienmitgliedern erfolgen, die die Informationen dann an den Arzt weiterleiten sollen. Entscheidend ist nämlich nicht, wem ge­ genüber die Äußerung gemacht wird, sondern – wie auch in Territory of Guam v. Ignacio betont wird – zu welchem Zweck, nämlich dass der declarant diese in Erwartung medizinischer Diagnosen oder Behandlungen abgibt bzw. ob die Äu­ ßerungen sachdienlich sind.788 Der declarant muss auch nicht der Patient sein;789 in Kindesmissbrauchsfällen kann also auch ein Elternteil oder ein sonstiger Ver­ wandter als declarant in Betracht kommen. Es ist nicht einmal erforderlich, dass die Identität des declarant überhaupt bekannt ist. aa)  Zum Zweck einer medizinischen Behandlung Ein häufig zugrunde gelegtes wesentliches Merkmal soll sein, dass die Äu­ ßerungen vom declarant (bewusst) zum Zweck einer medizinischen Behandlung gemacht werden. Auch die Eltern verletzter Kinder machen ihre Äußerungen in der Regel mit dem Ziel, ihrem Kind die bestmögliche medizinische Behandlung zukommen zu lassen.790 Problematisch kann dies aber gerade in Fällen von Kin­ desmissbrauch sein, in denen die Kinder Angaben zur Tat oder auch zum Täter – darauf wird unten noch näher eingegangen werden – machen. Vor allem jungen Kindern mag selbst vielfach oft gar nicht bewusst sein, dass ihre Äußerungen erfolgen, um eine medizinische Behandlung zu erhalten, was aber durchaus er­ forderlich ist.791 Auch Elternteile oder nahe Angehörige, die in Fällen von Kin­ desmissbrauch oft als Täter in Betracht kommen, äußern sich – sofern sie denn Täter sind – nicht, um dem Kind eine medizinische Behandlung zukommen zu lassen, sondern in erster Linie, um die Spuren der Tat zu verwischen und von sich als Täter abzulenken.792 Teilweise wird für die Kinder gefordert, die Äußerungen 788  People of Territory of Guam v. Ignacio, 10 F.3d 608, 613 (9th Cir. 1993): „Thus, a child victim’s statements about the identity of the perpetrator are admissible under the medical treatment exception when they are made for the purposes of medical diagnosis and treatment.“ (Hervorhebung im Original). 789  United States v. Yazzie, 59 F.3d 807, 813 (9th Cir. 1995): „The plain language of the Rule does not limit its application to patient-declarants“. 790  United States v. Yazzie, 59 F.3d 807, 813 (9th Cir. 1995): „In most circumstances, we believe that statements to a doctor by a parent of an injured child could easily qualify as a statement for the purpose of obtaining a proper medical diagnosis“. 791  Grundlegend dazu United States v. Chaco, 801 F. Supp. 2d 1200, 1205 ff. (D. N.M. 2011) m. w. N. zur Rspr. 792  United States v. Yazzie, 59 F.3d 807, 813 (9th Cir. 1995): „A parent’s statement to a doctor identifying the assailant in a child molestation case must be treated as suspect. Indeed, one of the most bitter ironies of these cases is that the perpetrators are usually parents or relatives who are supposed to act in the child’s best interest. See Judy Yun, Note, A Comprehensive Approach to Child Hearsay Statements, 83 Col. L. Rev. 1745 (1983) (,Most often, the [sex] offender is a relative or close acquaintance of the child…‘). In the

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müssten mit der intention erfolgen, eine medizinische Behandlung zu bekom­ men, wobei auch zeitliche Faktoren eine Rolle spielen können. Diese intention sei bei einem zehnjährigen Mädchen, das sich einen Tag später an seine Lehrerin wendet und auch den Ärzten in der Notaufnahme berichtet, dass es von seinem Stiefvater misshandelt worden sei, gegeben.793 Bei zwei zur Tatzeit acht- und neunjährigen Mädchen, die knapp ein Jahr später gegenüber einem Kinderarzt Angaben zu einem sexuellen Übergriff des Onkels ihrer Mutter machen, soll eine solche intention hingegen nicht vorliegen.794 bb)  Sachdienlichkeit der Äußerung Entscheidend ist vor allem, dass die Angaben für eine medizinische Behand­ lung sachdienlich sind. Je nach Bundesstaat kann dies, wie eingangs angespro­ chen, auch das einzige Kriterium zur Bestimmung dieser Ausnahme sein, was zunächst – da die Sachdienlichkeit objektiv bestimmt wird – der Rechtfertigung dieser Ausnahme zu widersprechen scheint. Dass die Äußerung bewusst bzw. mit drama that unfolds during the medical examination of a child molestation victim, a parent or guardian’s motive for casting blame may or may not be in the child’s best interest or for the purpose of medical diagnosis. For example, a parent might misidentify the assailant in an effort to protect the other spouse, to avoid reprisal from the other spouse, to avoid hav­ ing suspicion cast upon him or her, or to incriminate falsely the other spouse for personal motives.“; siehe auch Fenner, Hearsay Rule, S. 155. 793  State v. Thompson, 263 Mont. 17, 22 (Mont. 1993). 794  State v. Whipple, 19 P.3d 228, 232 (Mont. 2001); siehe auch Notti v. State, 2008 MT 20 (Mont. 2008): „This Court has ruled that for statements to be admissible under the Rule 803(4) exception, the statements (1) ,must be made with an intention that is consistent with seeking medical treatment,‘ and (2) ,must be statements that would be relied upon by a doctor when making decisions regarding diagnosis or treatment.‘“ Es wird also ein zweiStufen-Test zugrunde gelegt, was auch in vergleichbarer Weise der 4th und 8th Circuit tun, siehe die Darstellung bei United States v. Chaco, 801 F. Supp. 2d 1200, 1205 ff. (D. N.M. 2011); Commonwealth v. Smith 545 Pa. 487, 495 f. (Pa. 1996): „We fail to see how the identity of the perpetrator of the physical abuse was pertinent to the treatment of Priscilla’s scalding burns. What difference would it have made to the treatment of the burns whether a total stranger inflicted the burns or a close family relative? The Commonwealth simply fails to demonstrate that the identity of the abuser is pertinent to medical treatment. See, e.g., U.S. v. Iron Shell, 633 F.2d 77, 81 – 85 (8th Cir. 1980), cert. den., 450 U.S. 1001, 101 S.Ct. 1709, 68 L.Ed.2d 203 (1981) (statements identifying assailant ,would seldom if ever‘ be related to diagnosis or treatment); State v. Veluzat, 578 A.2d 93 (R.I. 1990) (statement to physician, identifying father as sexual abuser does not help physician to diagnose or treat); Cassidy v. State, 74 Md. App. 1, 33 – 34, 536 A.2d 666 (1988), cert. den., 312 Md. 602, 541 A.2d 965 (1988) (,[t]he identity of the person who inflicted the bruises, albeit perhaps of transcendent social importance, is not ordinarily of strictly medical importance‘). Binder, § 6.05 at p. 184 (,[t]he general rule is that the identity of a person who inflicts harm on a patient is not reasonably pertinent to diagnosis or treatment of the patient’s injuries.‘) Con­ tra U.S. v. Renville,779 F.2d 430 (8th Cir. 1985) and Goldade v. State, 674 P.2d 721 (Wyo. 1983), cert. den., 467 U.S. 1253, 104 S.Ct. 3539, 82 L.Ed.2d 844 (1984)“.

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der intention zum Zweck einer medizinischen Behandlung gemacht worden ist, wird dann jedoch wiederum als (subjektives) Kriterium genutzt, um die Voraus­ setzung der Sachdienlichkeit einzugrenzen: Es ist also denkbar, dass die Sach­ dienlichkeit zwar bejaht wird, dass die Äußerung aber nicht bewusst zum Zweck der medizinischen Behandlung erfolgte, so dass die Ausnahme nicht gegeben ist. Schließlich stellt sich die Frage, was überhaupt sachdienlich ist. (1) Reichweite des Begriffs der Sachdienlichkeit Damit einhergehend ist auch die Reichweite des Begriffs der medizinischen Behandlung umstritten: Während auf der einen Seite für eine weite Auslegung plädiert wird und damit auch psychiatrische oder gar psychologische Behand­ lungen umfasst sein sollen,795 wendet die andere Seite ein, dass psychiatrische Gutachten häufig unsicher oder vorläufig seien, so dass – auch um einer Ausufe­ rung der Ausnahme entgegenzuwirken – eine restriktive Auslegung des Begriffs erforderlich sei796. Die Mehrheit der Gerichte erkennt eine weite Auslegung des Begriffs an und lässt auch Äußerungen gegenüber einem Psychologen oder gar Sozialarbeiter zu.797 Nur vereinzelt wird, um die Ausnahme zu begrenzen, gefor­ dert, dass es sich um einen besonders geschulten Sozialarbeiter handeln müsse, da nur dieser zum Zweck der medizinischen Behandlung tätig werde. Nach People of Territory of Guam v. Ignacio fallen Äußerungen, die ein Kind gegenüber einem Sozialarbeiter des Jugendamts798 macht, der prüft, welche Maßnahmen zum weiteren Schutz des Kindes zu treffen sind, nicht unter diese Ausnahme, weil sie nicht zum Zweck einer medizinischen Behandlung gemacht würden.799 Nach United States v. Tome entspricht die Arbeit eines Sozialarbeiters, wenn er nur mit dem Kind spricht, um herauszufinden, welche Maßnahmen zum Schutz des Kindes erforderlich sind, nicht der Arbeit eines Arztes, weil das Gespräch dann gerade nicht zum Zweck einer medizinischen Behandlung erfolge.800 Das Kind müsse nach United States v. White wissen, dass es mit einem Sozialarbeiter zum Zweck der medizinischen Behandlung spricht.801 Dabei erscheint es gerade vorzugswürdig, grundsätzlich nicht das Gespräch mit irgendeinem Sozialarbeiter ausreichen zu lassen, sondern mit Blick auf medizinische Behandlungen und Di­ 795 

Näher dazu Fenner, Hearsay Rule, S. 156 m. w. N. Mueller/Kirkpatrick, S. 885 m. w. N. 797  Jüngst United States v. DeLeon, 678 F.3d 317, 326 ff. (4th Cir. 2012); siehe auch United States v. Kappel, 418 F.3d 550, 556 (6th Cir. 2005) und McCormick on Evidence, S. 407 jeweils m. z. N. 798  Child Protective Service. 799  People of Territory of Guam v. Ignacio, 10 F.3d 608, 613 (9th Cir. 1993). 800  United States v. Tome, 61 F.3d 1446, 1451 (10th Cir. 1995). 801  United States v. White, 11 F.3d 1446, 1449 f. (8th Cir. 1993). 796 Kritisch

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agnosen sollte es sich um einen besonders geschulten Sozialarbeiter handeln.802 Das eingeschüchterte und traumatisierte Kind wird in der Regel auch psycho­ logische Hilfe haben wollen. Dennoch bestehen Bedenken, weil das Kind seine Erlebnisse nicht im Rahmen einer typischen ärztlichen Behandlung, sondern oft erst in einem interaktiven Gespräch mit Psychiatern oder auch Psychologen, das oft auch erst einige Zeit nach der Tat stattfindet, berichten wird. Der Fußgänger, der schwer verletzt auf der Straße liegt und auf die Frage, ob er Hilfe benötigt, antwortet, er sei von einem bei Rot fahrenden Auto angefahren worden, hat je­ denfalls auf den ersten Blick ein größeres Bedürfnis nach ärztlicher Behandlung, so dass diese Aussage verlässlicher erscheint, als die eines Kindes, das erst einige Zeit nach der Tat im Rahmen eines Gesprächs von einem sexuellen Missbrauch berichtet. Jedenfalls eröffnet die letztgenannte Konstellation weitaus mehr Feh­ lerquellen und auch Missbrauchsmöglichkeiten.803 (2) Angaben zur Identität des Täters als sachdienlich? Problematisch sind auch die Fälle, in denen die Opfer im Rahmen der medizi­ nischen Behandlung oder auch im Rahmen einer psychologischen Begutachtung Angaben zum Täter machen: Für die Behandlung von physischen Verletzungen wie Prellungen oder Knochenbrüchen ist es vollkommen irrelevant, wer dem Op­ fer diese Wunden zugefügt hat. Hier ist für die medizinische Behandlung ledig­ lich die Art und Weise, wie das Opfer die Verletzungen erlitten hat, entscheidend; das Opfer wird aber in der Regel, wenn es von der Tat berichtet, auch auf den Täter eingehen, jedenfalls in den Fällen, in denen der Täter kein Unbekannter ist. So wird ein Kind nicht sagen „Ich bin getreten worden“, sondern es wird bei sei­ nen Äußerungen oft auch den Täter nennen, indem es sagt: „Mein Vater hat mich getreten“ oder „Meine Mutter hat mich die Treppe hinuntergestoßen“. Oft wird es 802  United States v. Balfany, 965 F.2d 575, 581 (8th Cir. 1992): „(…) statements about abuse, including the identity of the abuser, made by a child to a trained social worker or psychologist pursuant to diagnosis or treatment for emotional or psychological injuries are admissible under Rule 803(4)“. 803  Vgl. dazu Cassidy v. State, 74 Md. App. 1, 38 (Md. Ct. Spec. App. 1988), cert. de­ nied, 312 Md. 602 (1988): „In stretching outward their list of a physician’s responsibilities and in pushing forward with their definition of ,medical treatment and diagnosis,‘ the ex­ pansionists have left behind, abandoned and forgotten, the state of mind of the declarant. That state of mind, however, is and always has been the sine qua non for every hearsay exception. The state of mind of a declarant vis-a-vis anticipated physical treatment is quite different from the state of mind of a declarant vis-a-vis anticipated social disposition. The situations may be the same to the doctor; they are not the same to the patient. Physical self-survival dictates revealing even embarrassing truth to avoid the risk of the wrong medicine or the needless operation. Presupposing a declarant conscious of the probable consequences of his assertions, the imperative to speak truthfully is not nearly so strong when the anticipated result is a social disposition. The temptation to influence the result may, indeed, run in quite the opposite direction“.

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den Täter aber auch erst auf Nachfrage nennen, so dass die Gefahr besteht, dass der Arzt später berichtet, das Kind habe ihm gesagt, dass es von seinem Vater getreten worden sei, obwohl es ursprünglich einfach nur sagte: „Ich bin getre­ ten worden“. Damit einhergehend stellt sich gerade auch in den Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern – neben der bereits angesprochenen Frage, ob Gesprä­ che mit Psychologen oder gar Sozialarbeitern überhaupt unter diese medizini­ sche Ausnahme fallen – das Problem, ob auch Aussagen zur Identität des Täters verwertbar sind. Äußerungen des Vergewaltigungsopfers oder des missbrauchten Kindes, die zur Identifizierung des Beschuldigten führen, sind problematisch, da diese Identität des Täters für eine medizinische Behandlung grundsätzlich nicht erforderlich ist.804 Etwas anderes soll aber seit United States v. Renville, der in diesem Bereich der leading case ist, gerade dann gelten, wenn der Täter aus dem sozialen Umfeld, insbesondere aus der Familie des Opfers stammt: Ein elfjähriges Mädchen berichtete, es werde von ihrem Stiefvater missbraucht. In dieser Konstellation könne die Identität des Täters die Behandlung beeinflussen, da hier gerade auch mit Blick auf die Person des Täters oft eine bestimmte (psy­ chologische) Therapie erforderlich sei oder auch Schutzvorkehrungen zu Gunsten des Opfers getroffen werden müssten.805 Die Äußerungen zur Identität des Täters 804  United States v. Joe, 8 F.3d 1488, 1494 (10th Cir. 1993), cert. denied, 510 U.S. 1184, 114 S.Ct. 1236, 127 L.Ed.2d 579 (1994): „(…) a declarant’s statement relating the identity of the person allegedly responsible for her injuries is not ordinarily admissible under Rule 803(4) because statements of identity are not normally thought necessary to promote ef­ fective treatment.“ (Hervorhebung im Original) mit Verweis auf United States v. Renville, 779 F.2d 430, 436 (8th Cir. 1985). 805  United States v. Renville, 779 F.2d 430, 436 ff. (8th Cir. 1985): „Statements by a child abuse victim to a physician during an examination that the abuser is a member of the victim’s immediate household are reasonably pertinent to treatment. Statements of this kind (…) are reasonably relied on by a physician in treatment or diagnosis. First, child abuse involves more than physical injury; the physician must be attentive to treating the emotional and psychological injuries which accompany this crime. The exact nature and extent of the psychological problems which ensue from child abuse often depend on the identity of the abuser. (…) Second, physicians have an obligation, imposed by state law, to prevent an abused child from being returned to an environment in which he or she cannot be adequately protected from recurrent abuse. This obligation is most immediate where the abuser is a member of the victim’s household, as in the present case. Information that the abuser is a member of the household is therefore ,reasonably pertinent‘ to a course of treat­ ment which includes removing the child from the home.“ (Hervorhebung im Original); ebenso United States v. Joe, 8 F.3d 1488, 1494 (10th Cir. 1993), cert. denied, 510 U.S. 1184, 114 S.Ct. 1236, 127 L.Ed.2d 579 (1994): „Statements revealing the identity of the child abu­ ser are ,reasonably pertinent‘ to treatment because the physician must be attentive to treat­ ing the child’s emotional and psychological injuries, the exact nature and extent of which often depend on the identity of the abuser. Renville, 779 F.2d at 437. Moreover, physicians often have an obligation under state law to prevent an abused child from being returned to an abusive environment. Id. at 438. As a result, where the abuser is a member of the family or household, the abuser’s identity is especially pertinent to the physician’s recommenda­

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sollen nach herrschender Ansicht in der Rechtsprechung dann sachdienlich sein (reasonably pertinent).806 Dies gelte nicht nur für Kinder, sondern für alle, die Opfer sexuellen Missbrauchs im häuslichen Bereich würden.807 Dies soll nach Hennington v. State sogar dann gelten, wenn der Täter kein naher Angehöriger des Kindes ist und auch nicht im selben Haushalt lebt, aber weiterhin Kontakt zu dem Kind hat.808 Gerade auch bei Angaben zur Identität des Täters wird das Kriterium der bewussten Äußerung zum Zwecke der medizinischen Behandlung häufig genutzt, um die Sachdienlichkeit und damit die Ausnahme zu begrenzen. (3) Diskussion Das Opfer des sexuellen Missbrauchs ist oft auch das einzige Beweismittel, um den Täter zu überführen. Sofern keine DNA-Spuren mehr vorhanden sind, bleibt nur noch die Aussage des vermeintlichen Opfers oder in manchen Fällen die Aussage von Ärzten oder Therapeuten, denen das Opfer von der Tat berichtet hat. Mueller/Kirkpatrick kritisieren, dass Notaufnahmen und Krankenhäuser, in denen Kinder bei Verdacht auf einen Fall sexuellen Missbrauchs befragt werden, teilweise inzwischen als verlängerter Arm der Staatsanwaltschaft gesehen wer­ den können.809 Es ist auch fraglich, ob Opfer sexuellen Missbrauchs, die gerade keine offensichtlichen Wunden haben, stets wahrheitsgemäß antworten, um eine optimale medizinische Versorgung zu erlangen oder manchmal nicht auch von für Außenstehende nicht erkennbaren Belastungstendenzen geleitet werden.

tion regarding an appropriate course of treatment, which may include removing the child from the home.“; United States v. Peneaux, 432 F.3d 882, 894 (8th Cir. 2005). 806  United States v. Renville, 779 F.2d 430, 436 ff. (8th Cir. 1985), dort auch Schutz als Argument, S. 438; United States v. Balfany, 965 F.2d 575, 581 (8th Cir. 1992); Hennington v. State, 702 So.2d 403, 413 (Miss. 1997) mit Verweis auf Doe v. Doe 644 So.2d 1199, 1206 (Miss. 1994); siehe dazu auch Binder, S. 360 ff. 807  United States v. Joe, 8 F.3d 1488, 1494 f. (10th Cir. 1993): „All victims of domes­ tic sexual abuse suffer emotional and psychological injuries, the exact nature and extent of which depend on the identity of the abuser. The physician generally must know who the abuser was in order to render proper treatment because the physician’s treatment will necessarily differ when the abuser is a member of the victim’s family or household. In the domestic sexual abuse case, for example, the treating physician may recommend special therapy or counseling and instruct the victim to remove herself from the dangerous en­ vironment by leaving the home and seeking shelter elsewhere. In short, the domestic sexu­ al abuser’s identity is admissible under Rule 803(4) where the abuser has such an intimate relationship with the victim that the abuser’s identity becomes ,reasonably pertinent‘ to the victim’s proper treatment“. 808  Hennington v. State, 702 So.2d 403, 415 (Miss. 1997); ebenso Valmain v. State, 5 So.3d 1079, 1084 f. (Miss. 2009). 809  Mueller/Kirkpatrick, S. 884.

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Zweifellos sollte der Schutz des Kindes stets im Vordergrund stehen. Es er­ scheint aber befremdlich, dass die Rechtsprechung diesen Schutz des Kindes und die darauf basierende Pflicht des Arztes, das Kind bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch aus der Familie zu nehmen, als Argument anführt, um so­ mit die Äußerungen des Kindes zur Identität des Täters unter die Ausnahme für medizinische Behandlung zu fassen.810 Der Schutz des Kindes hat nämlich mit den Gründen, weshalb es Fed. R. Evid. 803(4) gibt, nichts (unmittelbar) zu tun. Der Schutz des Kindes wird mit der Frage der Zulässigkeit von Beweismitteln im Strafverfahren vermengt. Faktisch dürfte die Ausnahme in der Praxis bei zu weiter Auslegung dazu mutieren, die Behandlung der Opfer, die zweifellos und ausschließlich im Fokus der Norm steht, mit der Suche nach dem Täter zu ver­ knüpfen.811 Auch in Colvard v. Commonwealth wird betont, dass die Identität des Täters für die Behandlung oder Diagnose nicht erforderlich sei.812 Dabei wird ausdrücklich die Entscheidung Edwards v. Commonwealth813 verworfen, in der die Ausnahme noch auf Äußerungen zur Identifizierung des Täters ausgedehnt worden war, sofern es sich um ein Familienmitglied oder ein Mitglied des Haus­ halts des Opfers handelte. Insgesamt bestehen ohnehin erheblich Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser Ausnahme, wenn die Sachdienlichkeit aus der Perspektive des Erklärenden be­ stimmt wird: Denn lügt jemand wirklich weniger, weil er etwas will? Dies würde 810  So jedenfalls United States v. Joe, 8 F.3d 1488, 1494 (10th Cir. 1993); Hennington v. State, 702 So.2d 403, 414 f. (Miss. 1997): „Clearly, the paramount concern in treatment of sexual abuse is to ensure that a child is not returned to the environment that fostered, al­ lowed, or permitted the abuse. (…) The overriding question making the inquiry necessary is, ,Will the perpetrator have access to the child in the future that would allow the sexual abuse to continue?‘ Because the inquiry is necessary for treatment, the answer is admissib­ le under the Rule.“; United States v. Renville, 779 F.2d 430, 438 (8th Cir. 1985). 811 Zustimmend Mueller/Kirkpatrick, S. 884; anders aber United States v. Joe, 8 F.3d 1488, 1494 (10th Cir. 1993): „Moreover, physicians often have an obligation under state law to prevent an abused child from being returned to an abusive environment“, was auch als Argument angeführt wird, weshalb der Arzt wissen müsse, wer der Täter ist. 812  Colvard v. Commonwealth, 309 S.W.3d 239, 244 ff. (Ky. 2010), overruling Edwards v. Commonwealth, 833 S.W.2d 842 (Ky. 1992): „In the Edwards case, we enlarged that exception to include statements of a patient identifying the perpetrator of sexual abuse when that perpetrator is a member of the family or household of the victim, not because the utterance of the statement was motivated by the victim’s desire for effective treatment, but because the medical professional might use that information to protect the victim from further abuse by a member of the victims family or household. Edwards, 833 S.W.2d at 844. In so doing, we failed to recognize that it is the patient’s desire for treatment, not the doctor’s duty to treat, that gives credibility to the patient’s out-of-court statement. There is no inherent trustworthiness to be found in a hearsay statement identifying the perpetrator when that statement did not arise from the patient’s desire for effective medical treatment.“ (Hervorhebungen hinzugefügt). 813  Edwards v. Commonwealth, 833 S.W.2d 842 (Ky. 1992).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

bedeuten, dass man seinen Rechtsanwalt oder Steuerberater üblicherweise nicht anlügt. Gerade in den USA dürfte eine besondere Brisanz bestehen, da Patienten mit Blick auf eine fehlende oder möglicherweise unzulängliche Krankenversi­ cherung unter Umständen nicht wahrheitsgemäße Angaben machen. 2.  Ausnahmen nach Fed. R. Evid. 804 In Fed. R. Evid. 804(b) sind fünf Ausnahmen normiert, nach denen hearsay ausnahmsweise doch zulässig ist. Grundsätzlich werden die in Fed. R. Evid. 803 normierten Ausnahmen zwar als zuverlässiger betrachtet, die Ausnahmen nach Fed. R. Evid. 804(b) beruhen aber auf dem Gedanken, dass ein schlech­ tes Beweismittel unter Umständen besser ist als gar kein Beweismittel.814 Ers­ te und entscheidende Voraussetzung dafür, dass diese Ausnahmen greifen, ist nicht – wie oft angenommen oder verkürzt dargestellt wird –, dass der decla­ rant nicht verfügbar ist, wenngleich dies in den typischen Konstellationen dieser Ausnahme oft der Fall sein mag, sondern entscheidend ist, dass die Aussage des declarant815 nicht verfügbar ist. Bis 2011 hatte Fed. R. Evid. 804 die Überschrift „Hearsay Exception; Declarant Unavailable“. Weil dies nicht ganz korrekt war, da der declarant durchaus im Gerichtssaal oder Zeugenstand anwesend sein könnte, aber keine Aussage machte, da ihm ein Auskunfts- oder Zeugnisverweigerungs­ recht zustand oder er seine Aussage verweigern konnte, wurde die Überschrift in „Exceptions to the Rule Against Hearsay – When the Declarant Is Unavailable as a Witness“ geändert.816 Fed. R. Evid. 804(a) nennt fünf Konstellationen, in denen der declarant nicht als Zeuge zur Verfügung steht, nämlich wenn 1. ihm ein Auskunfts- oder Zeug­ nisverweigerungsrecht zusteht, 2. er sich weigert, auszusagen, 3. er sich nicht erinnert, 4. er tot oder krank ist, 5. er nicht vorgeladen werden kann.817 a)  Auskunfts- oder Zeugnisverweigerungsrecht (privilege), Fed. R. Evid. 804(a)(1) aa)  Berufsgeheimnisträger Als privilege kommen verschiedene Rechte in Betracht: In diesem Kontext sei auch Fed. R. Evid. 501 erwähnt, die für privilege auf das common law verweist. Ferner sind die Zeugnisverweigerungsrechte der Berufsgeheimnisträger, insbe­ 814 

Mueller/Kirkpatrick, S. 951. in-court-testimony of out-of-court-declarant, im Folgenden einfach nur noch Aussage genannt. 816  Näher dazu Fenner, Hearsay Rule, S. 219 Fn. 3, der dort auch darlegt, weshalb auch die neue Überschrift nicht zutreffend ist. 817  Näher dazu McCormick on Evidence, S. 244 ff. 815  Genauer:

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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sondere das der Anwälte, das sog. attorney-client-privilege, zu nennen. Obwohl dieses attorney-client-privilege ursprünglich in Fed. R. Evid. 503 kodifiziert wer­ den sollte, dann aber doch nicht vom Kongress verabschiedet wurde818, wird es in allen Einzelstaaten und auch auf Bundesebene anerkannt.819 Gleiches gilt für das Privileg von Psychotherapeuten (psychotherapist-patient privilege), das eben­ falls – ohne Kodifizierung in Fed. R. Evid. 504 – ausnahmslos anerkannt wird.820 Die dazu ergangene wegweisende Entscheidung Jaffe v. Redmond dehnt diesen Grundsatz auch auf Sozialarbeiter, die therapeutische Arbeiten verrichten, aus.821 Ein Zeugnisverweigerungsrecht für Ärzte (physician-patient privilege) wird zwar nicht auf Bundesebene, wohl aber in den meisten Einzelstaaten anerkannt.822 Die­ ses auf den ersten Blick etwas merkwürdig anmutende Ergebnis, dass man das Schutzbedürfnis für Beziehungen zum Psychotherapeuten höher einstuft als das zu einem Arzt, wird damit begründet, dass man gerade die Kommunikation, also das offene Gespräch, schützen will. Dieses hat für die Behandlung durch den Psy­ chotherapeuten eine besondere Bedeutung, wohingegen manche Diagnosen auch ohne Gespräch offensichtlich sind oder der Arzt ohne Kommunikation durch sei­ ne Untersuchungen auch Informationen erlangen kann, die nicht immer – wohl aber in den meisten Einzelstaaten – geschützt sind.823 bb)  Ehegatten Das US-amerikanische Recht kennt für Ehegatten zwei Formen des Zeugnis­ verweigerungsrechts (spousal privilege), nämlich das spousal testimonial pri­ vilege – auch incapacity privilege oder privilege against adverse testimony ge­ nannt824 – und das marital confidences privilege825. Beide Rechte gehen auf das common law zurück und sind auf Bundesebene und in fast allen Einzelstaaten anerkannt. Das marital confidences privilege ist enger, da es – wie der Begriff schon andeutet – ausschließlich dem Schutz826 der vertraulichen Kommunikation dient, 818 

Siehe zur geplanten Fed. R. Evid. 503 Lilly/Capra/Saltzburg, S. 318. grundlegend Lilly/Capra/Saltzburg, S. 317 ff. sowie Mueller/Kirkpatrick, S. 316 ff. 820  Dazu grundlegend Mueller/Kirkpatrick, S. 427 ff. 821  Jaffe v. Redmond, 518 U.S. 1, 15 ff. (1996). 822  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 344. 823  Näher dazu Lilly/Capra/Saltzburg, S. 344 ff. und Mueller/Kirkpatrick, S. 424 ff. 824  Termini von Lilly/Capra/Saltzburg, S. 340. 825  Begriff von Mueller/Kirkpatrick, S. 416. 826  Näher zu Sinn und Zweck der Regel Mueller/Kirkpatrick, S. 416; siehe auch Wolfle v. United States, 291 U.S. 7, 14 (1934): „The basis of the immunity given to communica­ tions between husband and wife is the protection of marital confidences, regarded as so 819 Dazu

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

die nur zwischen den Ehegatten stattfindet. Bei der Anwesenheit Dritter handelt es sich nicht mehr um eine vertrauliche Kommunikation zwischen Ehegatten, so dass dieses Privileg entfällt.827 Entscheidend für dieses Privileg ist, dass die Ehegatten zum Zeitpunkt ihrer Kommunikation – und nicht wie bei den ande­ ren Zeugnisverweigerungsrechten und wie im deutschen Recht im Zeitpunkt der Aussage – rechtlich wirksam verheiratet sind; dies wirkt auch im Falle einer Scheidung fort, so dass man selbst dann nicht gegen den ehemaligen Ehegatten aussagen muss.828 Allerdings haben die Gerichte zwei Ausnahmen zu diesem Pri­ vileg gebildet: Es findet keine Anwendung mehr, sobald sich der eine Ehegatte an den Straftaten des anderen beteiligt.829 Ferner greift es nicht, wenn sich die Kom­ munikation auf Verbrechen bezieht, die gegen unmittelbare Familienmitglieder begangen werden;830 diese Ausnahme ist jedenfalls für den anderen Ehegatten, für gemeinsame Kinder und, wie United States v. White zeigt, auch für Stiefkin­ der anerkannt. In United States v. White wurde dem Angeklagten vorgeworfen, die Tochter seiner Ehefrau getötet zu haben. Die Ehefrau sagte vor Gericht aus, der Angeklagte, der stets auf die beiden Stiefkinder aufpassen musste, habe ihr aus Frustration darüber ungefähr eine Woche vor der Tat gedroht, er werde sie oder die Stieftochter töten, wenn er weiterhin auf die Kinder aufpassen müsse.831 Die Aussage der Ehefrau sei verwertbar, da das Privileg die Wahrheitsfindung behindere und es bei Kindern keine Anwendung finde.832 Bei Verbrechen gegen Enkelkinder gilt diese Ausnahme allerdings nicht;833 es handelt sich dann also um vertrauliche Kommunikation. Auf die Frage, wer Träger dieses Rechts ist, essential to the preservation of the marriage relationship as to outweigh the disadvantages to the administration of justice which the privilege entails“. 827  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 420. 828  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 338. 829  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 421 f. m. N. zur Rspr. 830  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 339; Muller/Kirkpatrick, S. 421. 831  United States v. White, 974 F.2d 1135, 1137 (9th Cir. 1992). 832  United States v. White, 974 F.2d 1135, 1138 (9th Cir. 1992): „This court has coun­ selled that the marital communications privilege must be narrowly construed ‚because it obstructs the truth seeking process. Use of the privilege in criminal proceedings requires a particularly narrow construction because of society’s strong interest in the administration of justice.‘ (…) privilege does not apply where the spouse or his or her children are the victims of the crime (…)“ (Zitat aus United States v. Marashi, 913 F.2d 724, 730 (9th Cir. 1990)). Siehe dazu auch die Diskussion der geplanten gesetzlichen Änderung in United States v. Allery, 526 F.2d 1362, 1366 f. (8th Cir. 1975): „There is no privilege under this rule (1) in proceedings in which one spouse is charged with a crime against the person or property of the other or of a child of either.“ (Hervorhebung im Original). 833  United States v. Banks, 556 F.3d 967, 976 (9th Cir. 2009): „(…) this situation de­ monstrates a strong grandparent/grandchild relationship. Although such a relationship is important (…), it is not the type that creates the same overriding policy concerns that led us to limit the marital communications privilege to protect children of the marriage“.

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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nämlich nur derjenige, der spricht – wie vereinzelt vertreten wird –, oder auch derjenige, der nur zuhört, soll hier nicht näher eingegangen werden. Nach wohl herrschender Meinung sind beide Ehegatten Träger dieses Rechts.834 Vor allem das spousal testimonial privilege ist ausschließlich in Strafverfahren, nämlich in Hauptverhandlungen, aber auch bei grand jury investigations von Be­ deutung.835 Hierbei verfügt ein Ehegatte über nachteilige Informationen (adverse information) gegen den anderen – angeklagten – Ehegatten, die der Staatsanwalt in das Verfahren einführen möchte, indem er den Ehegatten als Zeugen benennt. Die Ehegatten müssen also zu dem Zeitpunkt, zu dem der Ehegatte als Zeuge be­ nannt wird, verheiratet sein, so dass nach herrschender Meinung auch Ereignisse umfasst sind, die vor der Heirat geschehen sind. Sinn und Zweck der Vorschrift ist – wie im deutschen Recht – die Sicherung des Familienfriedens.836 Im US-ame­ rikanischen Recht sind Scheinehen nicht erfasst;837 dort soll das Privileg auch nur so lange greifen, wie die Ehe besteht838, wohingegen das Recht in der deutschen Jurisdiktion fortbesteht.839 Während das Recht zur vertraulichen Kommunikati­ on nur in Bezug auf die vertraulichen Aspekte greift, kann das spousal testimo­ nial privilege bewirken, dass der Ehegatte überhaupt nicht in den Zeugenstand muss.840 Das Privileg findet aber keine Anwendung, wenn der Ehegatte als Zeuge benannt wird, um zugunsten des Angeklagten auszusagen (favorable testimony). Wer überhaupt Träger dieses Rechts ist, wenn es um adverse testimony geht, be­ schäftigte den U.S. Supreme Court in zwei Entscheidungen: 1958 entschied er in Hawkins v. United States841 noch, dass beide Ehegatten dieses Recht ausüben könnten und somit der angeklagte Ehegatte verhindern könne, dass sein Partner vom Staatsanwalt in den Zeugenstand gerufen wird.842 Gut zwei Jahrzehnte später

834  Näher dazu Lilly/Capra/Saltzburg, S. 339 und Mueller/Kirkpatrick, S. 417 jeweils m. w. N. 835  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 340. 836  Hawkins v. United States, 358 U.S. 74, 77 (1958): „The basic reason the law has refused to pit wife against husband or husband against wife in a trial where life or liberty is at stake was a belief that such a policy was necessary to foster family peace, not only for the benefit of husband, wife and children, but for the benefit of the public as well“ sowie S. 79: „(…) the law should not force or encourage testimony which might alienate husband and wife, or further inflame existing domestic differences.“; siehe auch Mueller/ Kirkpatrick, S. 412. 837  Zu den Scheinehen Mueller/Kirkpatrick, S. 414 m. w. N. 838  Mueller/Kirkpatrick, S. 411. 839  BGHSt 9, 37; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, § 52 Rn. 5. 840  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 340. 841  Hawkins v. United States, 358 U.S. 74, 77 ff. (1958). 842 Siehe auch Mueller/Kirkpatrick, S. 412 mit dem Hinweis auf die geplante, aber abgelehnte Fed. R. Evid. 505(a).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

entschied er jedoch in Trammel v. United States843, dass dieses Recht nur dem Zeugen zustehe: Demnach kann also der Ehegatte, sofern er dazu bereit ist, gegen den angeklagten Ehegatten aussagen, er darf dazu aber nicht gegen seinen Willen gezwungen werden; der Angeklagte kann es jedenfalls nicht mehr verhindern. Für den hearsay evidence ist die Reichweite des marital privilege relevant, weil fraglich ist, ob dieses Privileg auch außergerichtliche Äußerungen gegen­ über Dritten erfasst. In Ivey v. United States hatte der 5th Circuit diese Frage noch bejaht und ent­ schieden, dass das spousal privilege auch für außergerichtliche Äußerungen gel­ te: In dem Fall war ein Ehepaar nach Mexiko gefahren, wo sie Drogen kauften und einen Teil konsumierten. Sodann schmuggelte die Ehefrau den Rest über die Grenze in die USA. Während sie dort auf ihren Mann wartete, wurde sie an der Grenze von Drogenfahndern angesprochen, was sie dort mache, worauf sie antwortete, sie warte auf ihren Mann, der noch in Mexiko sei. Daraufhin schöpften die Ermittler Verdacht und brachten sie ins Krankenhaus, wo sie die Drogen fanden und die Frau schließlich vom gemeinsamen Konsum und dem Drogenschmuggel berichtete.844 In der Hauptverhandlung sagten die Drogen­ fahnder umfassend aus und berichteten, was die Ehefrau ihnen gegenüber ge­ sagt hatte. Sodann rief der Angeklagte seine Ehefrau in den Zeugenstand, um zu seinen Gunsten auszusagen, die sodann bezeugte, sie sei ohne ihren Mann in Mexiko gewesen und habe dort ein Gramm Heroin gekauft.845 Unter Verweis auf die Entscheidung des U.S. Supreme Court in Hawkins nimmt der 5th Circuit an, dass das spousal privilege – zum damaligen Zeitpunkt konnte auch der ange­ klagte Ehegatte geltend machen, dass nicht gegen ihn ausgesagt wird – nicht nur für Aussagen vor Gericht gelte, sondern auch auf außergerichtliche Äußerungen übertragen werden könne.846 843  Trammel v. United States, 445 U.S. 40, 53 (1980): „(…) the existing rule should be modified so that the witness-spouse alone has a privilege to refuse to testify adversely; the witness may be neither compelled to testify nor foreclosed from testifying. This mo­ dification – vesting the privilege in the witness-spouse – furthers the important public interest in marital harmony without unduly burdening legitimate law enforcement needs“; als Grund wird in der Entscheidung, S. 52, angeführt, dass der Familienfrieden in die­ ser Konstellation ohnehin nachhaltig gestört sei: „When one spouse is willing to testify against the other in a criminal proceeding – whatever the motivation – their relationship is almost certainly in disrepair; there is probably little in the way of marital harmony for the privilege to preserve“. 844  Ivey v. United States, 344 F.2d 770, 771 f. (5th Cir. 1965). 845  Ivey v. United States, 344 F.2d 770, 772 (5th Cir. 1965). 846  Ivey v. United States, 344 F.2d 770, 772 (5th Cir. 1965): „Miley’s testimony relating what Mrs. Ivy had told him about the appellant’s participation in the importation not only violates the rule against admitting hearsay testimony but also the rule against admitting tes­ timony of one spouse against the other. (…) The Hawkins case (…) involved the admission

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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Diese Linie des 5th Circuit, die dieser in United States v. Williams noch einmal bestätigte847, lehnte der 9th Circuit in United States v. Tsinnijinnie848 ab. Tsinni­ jinnie war wegen Totschlags seiner Schwiegermutter, die er mit seinem Liefer­ wagen überfahren hatte, und versuchten Totschlags seiner Ehefrau angeklagt. Im Prozess wandte er das „anti marital facts privilege“ ein, um seine Ehefrau davon abzuhalten, dass sie gegen ihn aussagte. Ein Zeuge hatte jedoch kurz nach der Tat die Ehefrau „Er hat meine Mutter überfahren!“ rufen hören. Bei der Aussa­ ge des Zeugen handelte es sich zwar um hearsay evidence, die aber unter eine Ausnahme, die excited utterance exception, fiel. Der Angeklagte machte geltend, dass diese Äußerung dennoch durch das spousal privilege gesperrt sei.849 Der 9th Circuit setzte sich daraufhin intensiv mit den Entscheidungen des 5th Circuit auseinander und führte sogar Argumente an, weshalb auch hearsay statements vom spousal privilege erfasst sein sollten.850 Dennoch sprach er sich gegen eine Ausdehnung des spousal privilege auf außergerichtliche Äußerungen aus.851 Zum einen sei das Privileg vor dem Hintergrund der Bedeutung der Wahrheitssuche eng auszulegen.852 Zum anderen seien die Auswirkungen auf den Familienfrieden bei der Verwertung von hearsay statements gering, da sich quasi ein Dritter als „Puffer“ zwischen den Ehegatten befinde853 und es gerade in den Verantwor­ tungsbereich des sich außerhalb des Gerichts äußernden Zeugen – und damit nicht in den Bereich des den Familienfrieden störenden Prozesses – falle, wenn er nachteilige Äußerungen über seinen Ehegatten machte.854 of a wife’s testimony in open court, but we know of no reason why the rule there reaffirm­ed is not equally applicable to a statement alleged to have been made by her out of court“. 847  United States v. Williams, 447 F.2d 894, 897 f. (5th Cir. 1971). 848  United States v. Tsinnijinnie, 601 F.2d 1035 (9th Cir. 1979), cert. denied, 445 U.S 966. 849  United States v. Tsinnijinnie, 601 F.2d 1035, 1037 (9th Cir. 1979). 850  United States v. Tsinnijinnie, 601 F.2d 1035, 1037 f. (9th Cir. 1979). 851  United States v. Tsinnijinnie, 601 F.2d 1035, 1039 (9th Cir. 1979): „We agree that the marital privilege should not be extended to bar a witness from relating an excited ut­ terance by a spouse“. 852  United States v. Tsinnijinnie, 601 F.2d 1035, 1038 (9th Cir. 1979) mit Verweis auf United States v. Nixon, 418 U.S. 683, 94 S.Ct. 3090, 41 L.Ed.2d 1039 (1974). 853  United States v. Tsinnijinnie, 601 F.2d 1035, 1038 (9th Cir. 1979) mit Verweis auf United States v. Mackiewicz, 401 F.2d 219 (2d Cir. 1968), cert. denied, 393 U.S. 923, 89 S.Ct. 253, 21 L.Ed.2d 258 (1968), wo es auf S. 225 heißt: „This is not a case where the prosecution called the husband to the stand. If he had testified under those circumstances, the common law rule would have been violated. Here, however, we are one step removed from actual testimony. Therefore, there is no chance that we might be repulsed by a spouse actually testifying against his mate (…). Nor is there a chance that marital frictions will be aggravated (…), for there is the convenient buffer of the third person actually making the remarks“. 854  United States v. Tsinnijinnie, 601 F.2d 1035, 1039 (9th Cir. 1979): „(…) Professors Louisell and Mueller (…) explaining: ‚By the better view, the privilege does not apply

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Eine Abkehr von Ivey v. United States dürfte insbesondere durch die Aufhe­ bung von Hawkins v. United States durch Trammel v. United States im Jahre 1980 stattgefunden haben. So wurde die Entscheidung in Ivey nunmehr selbst durch den 5th Circuit in United States v. Archer855 wie auch auch vom 11th Circuit in United States v. Chapman856 abgelehnt. In Chapman machte eine anonyme An­ ruferin bei der Polizei konkrete Angaben zum Täter eines Bankraubes, der, wie sich später herausstellte, der Ehemann der Anruferin war. Der Anruf wurde auf­ gezeichnet und anschließend protokolliert. Als die Polizisten den Verdächtigen an dessen Wohnort befragen wollten, trafen sie die Ehefrau, die sich nunmehr als Anruferin zu erkennen gab und weitere konkrete Angaben zum Tatgeschehen machte. In der Hauptverhandlung gegen den angeklagten Ehemann wurde das Telefongespräch in das Verfahren eingeführt. Ferner sagten die Polizisten über den Inhalt des Gesprächs mit der Ehefrau aus, die zwar von der Staatsanwalt­ schaft in den Zeugenstand gerufen wurde, dort aber ihr spousal privilege geltend machte und nicht gegen ihren Ehemann aussagen wollte.857 Der 11th Circuit ver­ neint, dass die Aussagen der Polizisten zum Inhalt des Gesprächs, die hearsay darstellen, als extrajudicial statements vom spousal privilege erfasst werden. Das spousal privilege beziehe sich – wie sich auch aus der Entscheidung in Trammel ergebe, die ausdrücklich von Aussagen im Gerichtssaal spreche858 – nur auf Äu­ ßerungen vor Gericht und gerade nicht auf außergerichtliche Äußerungen. Das Gericht spricht sich wegen der großen Bedeutung der Wahrheitsfindung auch für eine restriktive Auslegung von Zeugnisverweigerungsrechten aus.859 Auch das spousal testimonial privilege greift nicht, wenn sich die Straftat ge­ gen den Ehegatten oder ein Kind richtet,860 wohl aber wenn ein Enkelkind be­ with respect to out-of-court statements of a spouse. If these be relevant, and if hearsay objections are overcome, such statements should not be excludable by virtue of the instant privilege, at least insofar as they may be put in evidence through the testimony of some third person. A person holds no privilege to prevent his or her spouse from making adverse statements abroad in the world, and if this occurs and is revealed in court, it is the fact of the out-of-court conduct of the spouse, not the advent of the trial, which is the source of any strain upon the marriage.‘“. 855  United States v. Archer, 733 F.2d 354, 358 (5th Cir. 1984). 856  United States v. Chapman, 866 F.2d 1326 (11th Cir. 1989), cert. denied, 493 U.S. 932. 857  United States v. Chapman, 866 F.2d 1326, 1329 (11th Cir. 1989), cert. denied, 493 U.S. 932. 858  United States v. Chapman, 866 F.2d 1326, 1332 f. (11th Cir. 1989) mit Verweis auf Unit­ ed States v. Trammel, 445 U.S. 40, 52 (1980) wo es in Fußnote 12 heißt: „Neither Hawkins, nor any other privilege, prevents the Government from enlisting one spouse to give information concerning the other or to aid in the other’s apprehension. It is only the spouse’s testimony in the courtroom that is prohibited.“ (Hervorheung nicht im Original, aber in Chapman). 859  United States v. Chapman, 866 F.2d 1326, 1333 (11th Cir. 1989). 860  Bei Trammel v. United States, 445 U.S. 40, 46 (1980) heißt es in Fn. 7 mit Verweis auf andere Entscheidungen, dass es Ausnahmen vom spousal privilege gebe, nämlich:

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troffen ist. In United States v. Jarvison861 war der Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs des Enkelkindes angeklagt. Die Ehefrau hatte zuvor gegenüber der Polizei Angaben zu der Tat gemacht und auch berichtet, was ihre Enkeltochter ihr erzählt hatte. Vor Gericht verweigerte sie allerdings die Aussage, so dass auch die Polizisten nicht über die ihnen gegenüber gemachten Angaben aussagen durf­ ten.862 cc)  Privilege against self-incrimination Das wohl wichtigste Privileg, die Aussage zu verweigern, ist im fünften Ver­ fassungszusatz normiert, wo es heißt: „Niemand (…) soll in einem Strafverfahren gezwungen werden, ein Zeuge gegen sich selbst zu sein.“863 Dieser Zusatz ge­ währt dem Angeklagten, wie auch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG im deut­ schen Recht, ein umfassendes Schweigerecht, er kann also nicht von der Staats­ anwaltschaft in den Zeugenstand gerufen werden.864 Während der Angeklagte dem Zeugenstand also ganz fern bleiben kann, muss der Zeuge, der sich durch Aussagen möglicherweise belasten würde, im Zeugenstand erscheinen und kann dort nur die Beantwortung der Fragen unter Hinweis auf das Privileg verweigern, durch deren Beantwortung er sich selbst belasten würde.865 Der Grundsatz be­ zieht sich nur auf kommunikative Verhaltensweisen866 und gilt nicht, wenn man wegen der Tat nicht mehr verfolgt werden kann, weil man beispielsweise schon verurteilt worden ist. Eine Besonderheit im US-amerikanischen Recht ist, dass die Staatsanwaltschaft dem Betroffenen Immunität gewähren kann.867 Der Be­ troffene muss dann aussagen, weil ihm keine Verfolgung bzw. strafrechtlichen Konsequenzen mehr drohen. „one spouse commits a crime against the other. (…) It has been expanded (…) in recent ye­ ars crimes against children of either spouse“; siehe auch Uniform Rules of Evidence 504(d) (3) „There is no privilege under this rule: in any proceeding in which one spouse is charged with a crime (…) against the person or property of the other, a minor child of either, an individual residing in the household of either (…)“. 861  United States v. Jarvison, 409 F.3d 1221 (10th Cir. 2005). 862  United States v. Jarvison, 409 F.3d 1221, 1222 f. (10th Cir. 2005). 863  Fifth Amendment: „No person (…) shall be compelled in any criminal case to be a witness against himself“. 864  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 350. 865  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 351; siehe zu § 55 StPO BVerfG, wistra 2010, 299; BGH NStZ 2007, 278. 866  Lilly/Capra/Saltzburg, S. 348: „communicative activity“ (Hervorhebung im Origi­ nal); vgl. zur Reichweite des nemo tenetur-Grundsatzes im deutschen Recht unter Berück­ sichtigung der Rspr. des U.S. Supreme Court Ransiek/Winsel, GA 2015, 620 ff. 867  Zur Reichweite dieser Immunität – nur in Bezug auf die Aussage („,use and deriva­ tive use‘ immunity“) oder umfangreiche („,transactional‘ immunity“) Immunität – siehe grundlegend Kastigar v. United States, 406 U.S. 441 (1972).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Macht der Angeklagte im Prozess von seinem privilege against self-incrimina­ tion Gebrauch, dann ist er zwar nicht verfügbar, es ist dann für die Staatsanwalt­ schaft aber zulässig, an seiner Stelle Zeugen vom Hörensagen zu vernehmen, um frühere Äußerungen des Angeklagten in den Prozess einzuführen. So konnte bei­ spielsweise in United States v. Matthews, als der Mitangeklagte die Aussage mit Verweis auf den Fifth Amendment verweigerte, seine ehemalige Lebensgefährtin als Zeugin vom Hörensagen darüber aussagen, dass er ihr gegenüber zugegeben hatte, den Bankraub gemeinsam mit einem anderen, Matthews, begangen zu ha­ ben, was somit gegen Matthews verwertet werden konnte.868 Hingegen kann ein Angeklagter, der sich in der Hauptverhandlung auf das pri­ vilege against self-incrimination beruft, seine früheren (entlastenden) Aussagen, die er beispielsweise in der grand jury gemacht hat, nicht über die Ausnahme nach Fed. R. Evid. 804(b)(1) in den Prozess einführen.869 Dies ist beispielsweise in Konstellationen relevant, in denen die Staatsanwaltschaft Teile der früheren Aussage aus der grand jury in die Hauptverhandlung einführen will und dies nach der entsprechenden Ausnahme auch tun darf, wohingegen es dem Ange­ klagten verwehrt ist, weitere Teile seiner früheren Aussage ergänzend einzufüh­ ren.870 Durch die Geltendmachung seines privilege against-self incrimination will der Angeklagte seine Aussage verhindern und sorgt damit selbst dafür, dass er als Zeuge nicht zur Verfügung steht (unavailable as a witness); er selbst ist derjenige, der dafür verantwortlich ist, dass seine Aussage vor Gericht nicht erfolgen kann, weshalb er sich dann aber auch nicht auf Ausnahmen berufen können soll, um frühere Teile einer Äußerung in das Verfahren einzuführen.871 Der Angeklagte kann sich gemäß dem letzten Satz von Fed. R. Evid. 804(a) nicht auf die Nicht­ verfügbarkeit berufen, da er es selbst in der Hand hat, diese jederzeit zu beseiti­ gen und sich in den Zeugenstand zu begeben.872 So hat der 5th Circuit daher in United v. Kimball zu Recht festgestellt: „Der Auftraggeber der früheren Aussage des declarant darf nicht die Bedingung der Nichtverfügbarkeit verursachen und

868 

United States v. Matthews, 20 F.3d 538, 544 f. (2d Cir. 1994). United States v. Bollin, 264 F.3d 391, 413 (4th Cir. 2001), cert. denied, 524 U.S. 935 (2001); United States v. Kimball, 15 F.3d 54, 55 f. (5th Cir. 1994), cert. denied, 513 U.S. 999, 115 S.Ct. 507, 130 L.Ed.2d 415 (1994). 870  United States v. Bollin, 264 F.3d 391, 413 (4th Cir. 2001), cert. denied, 524 U.S. 935 (2001). 871  United States v. Peterson, 100 F.3d 7, 13 (2d Cir. 1996): „When the defendant in­ vokes his Fifth Amendment privilege, he has made himself unavailable to any other party, but he is not unavailable to himself“. 872  Der letzte Satz der Fed. R. Evid. 804(a) lautet: „(…) this subdivision (a) does not ap­ ply if the statement’s proponent procured (…) the declarant’s unavailability as a witness in order to prevent the declarant from (…) testifying.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 869 

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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dann davon profitieren.“873 Bei dem privilege against self-incrimination ist jedoch gerade in Fällen mit mehreren Angeklagten zu beachten, dass es eigentlich die Staatsanwaltschaft in der Hand hat, die Nichtverfügbarkeit eines Angeklagten zu beseitigen, indem sie ihm Immunität gewährt. In diesem Fall kann sich die Staatsanwaltschaft aber trotzdem auf die Nichtverfügbarkeit berufen – der letzte Satz des Fed. R. Evid. 804(a), dass die Partei, die die Nichtverfügbarkeit zu ver­ antworten hat, sich nicht darauf berufen kann, greift hier nicht. Dies gilt selbst dann, wenn die Staatsanwaltschaft anderen Zeugen Immunität gewährt hat.874 Die Darlegungs- und Beweislast für die Nichtverfügbarkeit trägt die Partei, die die Ausnahme nutzen will, weshalb der Betreffende vorzuladen und über seine Nichtverfügbarkeit ein Gerichtsbeschluss herbeizuführen ist.875 Dies gilt aller­ dings nicht in Strafverfahren, in denen ein Angeklagter für die Anklage bzw. ge­ gen Mittäter aussagen soll, weil ihm hier ein Recht durch die Verfassung gewährt wird, nicht in den Zeugenstand gerufen zu werden.876 b)  Verweigerung der Aussage, Fed. R. Evid. 804(a)(2) Es ist möglich, dass sich der Zeuge trotz Aufforderung durch das Gericht wei­ gert („refuses to testify“), auszusagen. Die Gründe hierfür können vielfältig sein, es kommen beispielsweise Loyalität gegenüber dem Partner oder guten Freunden, die man nicht ins Gefängnis bringen möchte, oder auch Angst vor dem Angeklag­ ten in Betracht. Letzteres war in United States v. Carlson der Fall, wo sich der Zeuge weigerte auszusagen, da er Repressalien durch den Angeklagten fürchte­ te.877 Dennoch muss der Zeuge auf jeden Fall erscheinen und die Verweigerung der Aussage kann, wie auch im deutschen Recht, Konsequenzen für den Zeugen haben.878 Sofern die Staatsanwaltschaft nachweisen kann, dass der Angeklagte den Zeugen eingeschüchtert oder unter Druck gesetzt hat, um dessen Aussage zu verhindern, kann sich der Angeklagte nicht darauf berufen, dass der Beweis vom Hörensagen ausgeschlossen sein soll; in dieser Konstellation greift vielmehr eine Ausnahme nach Fed. R. Evid. 804(b)(6). 873 

United States v. Kimball, 15 F.3d 54, 55 f. (5th Cir. 1994), cert. denied, 513 U.S. 999, 115 S.Ct. 507, 130 L.Ed.2d 415 (1994): „The sponsor of a declarant’s former testimony may not create the condition of unavailability and then benefit therefrom.“; ebenso United ­States v. Peterson, 100 F.3d 7, 13 (2d Cir. 1996). 874  United States v. Dolah, 245 F.3d 98, 102 (2d Cir. 2001) : „(…) a witness who invokes the privilege against self-incrimination is ,unavailable‘ within the meaning of Rule 804(b) even though the Government has the power to displace the witness’s privilege with a grant of use immunity“. 875  Fenner, Hearsay Rule, S. 220. 876  Mueller/Kirkpatrick, S. 952 m. w. N. zur Rspr. 877  United States v. Carlson 547 F.2d 1346, 1358 f. (8th Cir. 1976). 878  Siehe dazu auch Mueller/Kirkpatrick, S. 953.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

c)  Fehlende Erinnerung, Fed. R. Evid. 804(a)(3) Ein Zeuge gilt auch bei fehlender Erinnerung als nicht verfügbar. Allerdings muss die Partei, die den Zeugen hören will, bestmögliche Maßnahmen treffen, damit der Zeuge seine Erinnerungen auffrischen kann, wie beispielsweise durch das Vorlegen oder Vorlesen von früheren Protokollen oder indem man ihn münd­ lich an frühere Aussagen erinnert. Eine bruchstückhafte Erinnerung reicht nicht, um nicht verfügbar im Sinne dieser Norm zu sein.879 d)  Tod und Krankheit, Fed. R. Evid. 804(a)(4) Als weitere Gründe für die Nichtverfügbarkeit des declarant kommen Tod, Gebrechlichkeit und physische oder psychische Krankheiten in Betracht. Bei Krankheiten muss zum einen berücksichtigt werden, wie lange sie voraussichtlich andauern werden, zum anderen, welche Bedeutung der Aussage des erkrankten Zeugen für den Prozess zukommt. Auch die Aussage an sich kann bei traumati­ sierten Opferzeugen, vor allem bei (Klein-)Kindern und in den Fällen sexuellen Missbrauchs mit psychischem Stress verbunden sein.880 In diesen Fällen können die Zeugen als nicht verfügbar881 betrachtet werden, so dass deren frühere Verneh­ mungen, die auf Video aufgenommen worden sind, in das Verfahren eingeführt werden können.882 Unter Umständen kommt aber auch eine Vernehmung an einem anderen Ort oder eine frühere eidliche Aussage (deposition)883 in Betracht.884 e)  Vorladung nicht möglich, Fed. R. Evid. 804(a)(5) Eine weitere Ausnahme greift gem. Fed. R. Evid. 804(a)(5), wenn der decla­ rant nicht vor Gericht erscheint und es der ihn in den Zeugenstand rufenden 879 

Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 954. Virgin Islands v. Riley, 754 F. Supp. 61, 64 (D.V.I. 1991): „The fear, nervousness or excitement that renders the child unable to testify in court, though it may be quite normal for someone of his age, may fall within the scope of the term ‚mental (…) infirmity‘ as that term is used in Rule 804(a)(4), F.R.Evid.“; ausführlich dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 962 ff. 881  People v Duncan, 494 Mich. 713, 717 (2013): „(…) when a child attempts to testify but, because of her youth, is unable to do so because she lacks the mental ability to over­ come her distress, the child has a ,then existing (…) mental (…) infirmity‘ within the mea­ ning of Fed. R. Evid. 804(a)(4) and is therefore unavailable as a witness“. 882  Virgin Islands v. Riley, 754 F. Supp. 61, 64 (D.V.I. 1991): „The fear, nervousness or excitement that renders the child unable to testify in court, though it may be quite normal for someone of his age, may fall within the scope of the term ,mental (…) infirmity‘ as that term is used in Rule804(a)(4), Fed. R. Evid.“; eine frühere auf Video aufgenommene Aussage ist daher zulässig. 883  Fenner, Hearsay Rule, S. 222: Die Nichtverfügbarkeit einer eidlichen Aussage ist Voraussetzung für fast alle Ausnahmen nach Fed. R. Evid. 804. 884  Ausführlich dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 973 ff. 880 

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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Partei (proponent) auch nicht möglich ist, seine Anwesenheit durch zumutba­ re Mittel (reasonable means) herbeizuführen oder zumindest eine verwertbare eidliche Aussage (deposition)885 zu erlangen. An zumutbaren Mitteln fehlt es, wenn der Aufenthaltsort des declarant nicht ermittelt werden kann, weil er zum Beispiel auf der Flucht ist oder weil er Ausländer ist und sich nicht im Hoheits­ gebiet der USA befindet und das Gericht ihn daher nicht unter Strafandrohung vorladen kann (subpoena). Verfügt die Staatsanwaltschaft allerdings über eine Anschrift des Zeugen in Mexiko, so ist es zumindest zumutbar, den Zeugen zumindest zu kontaktieren.886 Die Parteien, die üblicherweise die notwendigen Auslagen der von ihnen benannten Zeugen zu tragen haben, können die Nicht­ verfügbarkeit des Zeugen auch nicht einfach damit begründen, dass sie dessen Reisekosten nicht übernehmen wollen.887 Im Strafverfahren kann von der Staats­ anwaltschaft üblicherweise mehr erwartet werden, weil sie im Gegensatz zur Verteidigung auch die besseren Mittel hat, um einen Zeugen zu beschaffen: Sie kann den Aufenthaltsort eines Zeugen ermitteln, diesen unter Strafandrohung vorladen lassen und diese Vorladung auch durchsetzen.888 Ferner gibt es eine verfassungsrechtliche Pflicht, gegen den Angeklagten direktes Zeugnis (live test­imony) vorzubringen. Aus diesem Grund dürfen, wie die Grundsatzent­ scheidung des U.S. Supreme Court in Barber v. Page889 zeigt, Zeugen nicht ein­ fach als nichtverfügbar betrachtet werden, nur weil sie in einem anderen Bezirk inhaftiert sind. Was nach deutschem Recht selbstverständlich zu sein scheint, ist im US-amerikanischen Recht dem bundesstaatlichen Aufbau geschuldet, da State Courts üblicherweise nur innerhalb ihres Staates zwangsweise vorladen können, wohingegen Federal Courts dies bundesweit tun können.890 Die Staats­ anwaltschaft muss sich jedenfalls nach bestem Wissen und Gewissen bemühen, den Zeugen herbeizuschaffen.891 Der Unterabschnitt A gilt nicht, falls der Antragsteller des hearsay state­ments die Nichtverfügbarkeit des Zeugen zu vertreten hat, wenn beispielsweise die 885  Genauer: „(…) by process or other reasonable means“, hier käme die bereits er­ wähnte eidliche Aussage (deposition) in Betracht. 886  Fenner, Hearsay Rule, S. 222, Fn. 15 m. w. N. zur Rspr. 887  Mueller/Kirkpatrick, S. 957, dort insbesondere Fn. 7 m. w. N. zur Rspr. 888  Mueller/Kirkpatrick, S. 958 f. 889  Barber v. Page, 390 U.S. 719, 723 ff. (1968). 890  Mueller/Kirkpatrick, S. 957: „(…) subpoena power of state courts (…) runs through­ out the state. In federal court, the power runs throughout the nation“ mit Verweis auf FRCrimP 17(e)(1). 891  Näher zu den good faith efforts die beiden Entscheidungen des U.S. Supreme Court in Barber v. Page, 390 U.S. 719, 723 ff. (1968) und Ohio v. Roberts, 448 U.S. 56, 74 f. (1980); siehe auch Cross v. Hardy, 632 F.3d 356, 361 f. (7th Cir. 2011); siehe zu reasonable means auch Mancusi v. Stibbs, 408 U.S. 204 (1972) sowie Mueller/Kirkpatrick, S. 959 f. mit weiteren Beispielen und Nachweisen.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Anklage die frühere Aussage eines Mitangeklagten aus einem preliminary he­ aring in den Prozess einführen will, dieser aber wegen Versagens der Strafver­ folgungsbehörden entkommen konnte.892 Wann welche Partei etwas zu vertreten hat (procured or wrongfully caused), wird später bei der Ausnahme nach Fed. R. Evid. 804(b)(6) (Statement Offered Against a Party That Wrongfully Caused the Declarant’s Unavailability) näher betrachtet werden.893 Bei letzterer handelt es sich um eine Ausnahme, die im Falle der Verwirkung durch eine Partei zugunsten der anderen Seite greift,894 wenn beispielsweise der Angeklagte den Zeugen der Anklage einschüchtert, so dass die Anklage anstelle des Zeugen Protokolle über seine früheren Aussagen verlesen kann. f)  Verwendung der früheren Aussage, Fed. R. Evid. 804(b)(1) Auch eine frühere Aussage (former testimony) kann eine Ausnahme zur hear­ say rule darstellen, wenn die Aussage unter bestimmten Voraussetzungen erfolg­ te und – wie bei allen Ausnahmen nach Fed. R. Evid. 804(b)(1) – der declarant nicht mehr verfügbar ist. Da der Zeuge nicht mehr verfügbar ist, besteht zwar ein Bedürfnis nach diesem Beweismittel, es ist und bleibt aber, wie der U.S. Supreme Court in United States v. Inadi ausdrückt, nur „ein schwaches Surrogat für die direkte Aussage“895 und damit nur die zweite Wahl. Die frühere Aussage ist aber wohl das „stärkste Hörensagen“896. Sofern die Voraussetzungen von Fed. R. Evid. 804(b)(1) oder einer weiteren Ausnahme nach Fed. R. Evid. 804(b) nicht erfüllt sind, kommen stets auch noch sonstige Ausnahmen wie beispielsweise die residu­ al exception nach Fed. R. Evid. 807 in Betracht. Zunächst soll aber ein kurzer Blick auf die Konstellationen und den Umfang der Aussage,897 durch die die frühere Aussage in das Verfahren eingeführt wer­ den kann, geworfen werden. Es ist denkbar, dass eine Person, die die Aussage wahrgenommen hat, aufgrund ihrer Erinnerung vollkommen frei berichtet, denn es ist, auch unter best evidence Gesichtspunkten, nicht zwingend erforderlich,

892 

Motes v. United States, 178 U.S. 458, 467 ff. (1900); Mueller/Kirkpatrick, S. 961. Näher dazu unter i). 894  Mueller/Kirkpatrick, S. 961. 895  United States v. Inadi, 475 U.S. 387, 394 (1986): „Unlike some other exceptions to the hearsay rules (…) former testimony often is only a weaker substitute for live testimony. It seldom has independent evidentiary significance of its own, but is intended to replace live testimony. If the declarant is available and the same information can be presented to the trier of fact in the form of live testimony, with full cross-examination and the oppor­ tunity to view the demeanor of the declarant, there is little justification for relying on the weaker version“. 896  Laut Advisory Committee’s Note „strongest hearsay“. 897  Näher dazu McCormick on Evidence, S. 502 ff. 893 

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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stets auf das Protokoll zurückzugreifen.898 Für die Aussage des Zeugen ist aus­ reichend, dass die frühere Aussage im Wesentlichen inhaltlich – und nicht wort­ wörtlich – wiedergegeben wird.899 Sofern Zeugen aus der bloßen Erinnerung frü­ here, insbesondere umfangreiche, Aussagen wortwörtlich wiedergeben, bestehen natürlich, wie der U.S. Supreme Court in Ruch v. Rock Island entschieden hat, starke Zweifel an der Glaubhaftigkeit.900 Ein unmittelbarer Beobachter der früheren Aussage darf seine Erinnerung durchaus auffrischen, indem er auf Protokolle oder sonstige Unterlagen zurück­ greift. So kann beispielsweise ein Staatsanwalt zu einer früheren Aussage eines Zeugen aussagen. Ein Zeuge kann auch auf seine eigenen schriftlichen Notizen, die er zurzeit des früheren Verfahrens oder zu einem Zeitpunkt, als er das Ge­ schehen noch frisch in Erinnerung hatte, gemacht hat, zurückgreifen, sofern er bekundet, dass diese Unterlagen korrekt sind.901 Folglich kann ein Gerichts­ schreiber über frühere Aussagen berichten und dabei auf die von ihm gefertigten Protokolle zurückgreifen. Ferner können die Protokolle selbst als Ausnahme für offizielle schriftliche Dokumente in den Prozess eingeführt werden.902 Die zweite Voraussetzung – neben der Nichtverfügbarkeit des declarant – der Fed. R. Evid. 804(b)(1) ist, dass die Aussage als Zeuge in der Hauptverhandlung (trial), bei einer Anhörung (hearing) oder bei einer eidesstattlichen Aussage (de­ position) – im gegenwärtigen oder auch in einem anderen Verfahren – gemacht wurde. Vor allem die weiteren Voraussetzungen sind mit besonderen Problemen ver­ bunden: Die Partei, gegen die die Aussage nun verwendet wird, muss nicht nur die Möglichkeit (opportunity), sondern auch ein ähnliches Motiv (similar motive) ge­ habt haben, die Aussage durch Befragung oder im Kreuzverhör zu entwickeln.903 Das Kreuzverhör, der Eid sowie die Atmosphäre, die eine offizielle Vernehmung mit sich bringt, sollen die Verlässlichkeit der früheren Aussage sicherstellen. 898  Phillips v. Wyrick, 558 F.2d 489, 495 (8th Cir. 1977); siehe auch Meyers v. United States, 171 F.2d 800, 817 ff. (D.C. Cir. 1948). 899  Näher dazu McCormick on Evidence, S. 502 f. m. w. N. 900  Ruch v. Rock Island, 97 U.S. 693, 694 (1878): „(…) if a witness (…), from mere memory, professes to be able to give the exact language, it is a reason for doubting his good faith and veracity“. 901  Ruch v. Rock Island, 97 U.S. 693, 695 (1878): „The living witness may use his notes taken contemporaneously with the testimony to be proved, in order to refresh his recollec­ tion, and, thus aided, he may testify to what he remembers; or if he can testify positively to the accuracy of his notes, they may be put in evidence.“; Commonwealth v. Mustone, 353 Mass. 490, 494 (Mass. 1968): „Any competent witness may refresh his memory from his notes or other documents or he may produce a reliable record of his past recollection“. 902  McCormick on Evidence, S. 503 f. 903  Mueller/Kirkpatrick, S. 964.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Die bloße Möglichkeit zur Befragung des Zeugen genügt nicht904, vielmehr wird im Allgemeinen vorausgesetzt, dass es sich um eine adäquate Möglich­ keit905, sprich um eine „umfassende, wirkliche und sinnvolle“ Möglichkeit906 handelt. Es ist aber keineswegs erforderlich, dass von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht worden ist; es kann auf die Befragung durchaus verzichtet werden. Besonders umstritten ist, wann ein ähnliches Motiv zu bejahen und welcher Maßstab für die Beurteilung zugrunde zu legen ist. Handelt es sich um eine Frage des Rechts oder vielmehr um eine Frage der Umstände des Einzelfalls? Ist ein eher allgemeiner Maßstab zugrunde zu legen und damit irgendein Motiv ausrei­ chend oder muss es sich um ein wesentlich gleiches oder möglicherweise sogar um ein identisches Motiv handeln? Nach herrschender Meinung muss das Motiv bei der Befragung zwar nicht identisch sein, ein irgendwie ähnliches Motiv soll aber nicht genügen, sondern es muss sich im Wesentlichen ähneln (substantially similar)907. Wann sich die Motive ähneln, ist umstritten und kann aufgrund zahlreicher Aspekte variieren. Fenner nennt verschiedene Beispiele und zwölf Faktoren, die das Motiv beeinflussen können.908 Der 2d Circuit hat in United States v. DiNapoli einen Zwei-StufenTest entwickelt, um zu bestimmen, ob ein „ähnliches Motiv“ vorliegt: Zum einen muss der Fragende „auf derselben Seite in derselben Angelegenheit in beiden Verfahren stehen“, zum anderen kommt es auch darauf an, ob der Fragende „ein wesentlich gleiches Interesse“ bei der Ermittlung dieser Seite des Sachverhalts hatte.909 Zunächst ist erforderlich, dass es sich um dieselbe Partei handelt. Diese wird im Zivilverfahren „predecessor in interest“910 genannt und nicht nur dort ist um­ stritten, wann diese Voraussetzung erfüllt ist, sondern sie kann auch in Strafver­ 904  United States v. Taplin, 954 F.2d 1256, 1258 (6th Cir. 1992): „Opportunity under 804(b)(1) means more than naked opportunity.“; siehe auch United States v. Burge, Case No. 08 CR 846 (N.D. Ill. Apr 23, 2009). 905  Siehe zur adäquaten Möglichkeit State v. Sprague, 144 Vt. 385, 386 und 391 (Vt. 1984), wo dies für eine deposition verneint wird. 906  United States v. Franklin, 235 F.Supp. 338, 341 (D.D.C. 1964): „the opportunity must be full, substantial and meaningful“; zustimmend United States v. Feldman, 761 F.2d 380, 385 (7th Cir. 1985). 907  Siehe dazu McCormick on Evidence, S. 494, dort Fn. 5 m. w. N. 908  Fenner, Hearsay Rule, S. 231 ff. 909  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 912 (2d Cir. 1993) (en banc): „(…) the questi­ oner is on the same side of the same issue at both proceedings, [and] (…) the questioner had a substantially similar interest in asserting that side of the issue.“; siehe auch United States v. Bartelho, 129 F.3d 663, 671 (1st Cir. 1997). 910  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 970 ff.

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fahren zu Problemen führen: Wenn das erste Verfahren vor einem state court stattfindet und das darauffolgende Verfahren vor einem Bundesstrafgericht, so könnte fraglich sein, ob der Angeklagte entlastende Aussagen aus dem ersten Verfahren im zweiten Verfahren nicht mehr einführen darf, da es sich bei der state prosecution und der federal prosecution nicht um dieselbe Partei handeln könnte. Dementsprechend hat der 2d Circuit in United States v. Peterson die Ver­ wertung abgelehnt, da es sich bei einem Einzelstaat und dem Bundesstaat um unterschiedliche Souveräne und somit unterschiedliche Parteien handele.911 In der Literatur wird vertreten, dass die Anklage frühere Befragungen in einem Straf­ verfahren stets gegen sich gelten lassen müsse, wenn der Angeklagte entlastende Aussagen in den Prozess einführen will.912 In Anlehnung an die predecessor in interest clause wird in der Rechtsprechung vertreten, dass die Anklage entspre­ chend einem Rechtsnachfolger frühere Befragungen jedenfalls dann gegen sich gelten lassen müsse, wenn die Anklage – egal ob in Form der Bundesbehörde oder der Behörde eines Einzelstaates – schon bei der früheren Befragung ein ähnliches Motiv hatte.913 Jedenfalls sprechen verfassungsrechtliche Erwägungen, insbeson­ dere die Due Process Clause, dafür, dass der Angeklagte entlastende Beweise in das Verfahren einführen darf. Der U.S. Supreme Court hat nämlich in Chambers v. Mississippi betont, dass die hearsay rule nicht mechanisch angewendet wer­ den dürfe, wenn es um die Feststellung der Schuld geht.914 Im Übrigen steht dem Angeklagten in beiden Strafverfahren der Staat in Form der Strafverfolgungs­ behörden gegenüber, so dass nicht nachvollziehbar ist, warum man in diesem Zusammenhang nicht von derselben Partei sprechen sollte. In der Entscheidung United States v. Sklena wurde die Identität zwischen der Aufsichtsbehörde für den Warenterminhandel915 und dem Justizministerium bejaht.916 Auch in United States v. Geiger kann die Aussage aus einem state suppression hearing jedenfalls auch in einem federal suppression hearing verwertet werden.917 In der Literatur wird angemerkt, dass der Gesetzgeber den Ausschluss entlastender Beweise in dieser Konstellation vermutlich nicht im Sinn gehabt habe.918 911 

United States v. Peterson, 100 F.3d 7, 12 f. (2d Cir. 1996). McCormick on Evidence, S. 490 f. 913  United States v. McDonald, 837 F.2d 1287, 1292 f. (5th Cir. 1988); siehe dort auch die ausführliche Darstellung des Streits m. w. N. zu den verschiedenen Ansichten. 914  Chambers v. Mississppi, 410 U.S. 284, 302 (1973): „(…) where constitutional rights directly affecting the ascertainment of guilt are implicated, the hearsay rule may not be applied mechanistically to defeat the ends of justice“. 915  Commodity Futures Trading Commission = CFTC. 916  United States v. Sklena, 692 F.3d 725, 731 f. (7th Cir. 2012). 917  United States v. Geiger, 263 F.3d 1034, 1038 (9th Cir. 2001), dort auch S. 1039: „the issues were ,substantially similar‘ in both hearings“, weshalb ein ähnliches Motiv des An­ geklagten bei der Befragung bejaht wurde. 918  McCormick on Evidence, S. 491. 912 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Bei der Beurteilung, ob eine Möglichkeit adäquat war und sich das Motiv im Wesentlichen ähnelt, muss insbesondere das Verfahren bzw. das Verfahrens­ stadium betrachtet werden, in dem die Partei den Zeugen befragt hat, denn das Verfahren bestimmt die Möglichkeit der Befragung ebenso wie die Motive der Parteien. Das Gesetz spricht von trial, hearing und deposition. Die deposition, also die eidliche Aussage, spielt zwar im Gegensatz zu zivilrechtlichen Verfahren im Strafverfahren nur eine untergeordnete Rolle, sie ist aber nach Fed. R. Crim. Proc. 15(a)(1) bei „außergewöhnlichen Umständen“919 zulässig.920 Für das Straf­ verfahren sind eher die Begriffe trial und hearing von Bedeutung, wobei eine Anhörung auch in Form eines preliminary hearing, eines voir dire hearing oder im Rahmen einer grand jury inquest stattfinden kann.921 aa)  Die verschiedenen Möglichkeiten und Motive in unterschiedlichen Verfahren bzw. Verfahrensstadien Dass sich sowohl Möglichkeit als auch Motive der Parteien bei der Anhörung zum Entzug der Fahrerlaubnis922 oder bei einer plea allocution erheblich von ei­ nem Strafverfahren bzw. einer Hauptverhandlung unterscheiden, liegt auf der Hand. Hier geht es weder um dieselbe Angelegenheit, noch wird der Fragende auf derselben Seite tätig.923 So wurde in United States v. Jackson924 entschieden, dass der Angeklagte die ihn entlastenden, von einem Mittäter bei dessen plea al­ locution hearing gemachten Angaben nicht in den Prozess einführen durfte, weil die Anklage bei dieser Anhörung keine Möglichkeit gehabt habe, den Zeugen zu befragen. Die Anhörung dient, wie sich aus Fed. R. Crim. Proc. 11 ergibt, dazu, durch einen Richter festzustellen, ob der Angeklagte seine plea versteht925 und diese freiwillig926 und auf einer richtigen Tatsachengrundlage927 eingegangen ist.928 919  Fed. R. Crim. Proc. 15(a)(1) setzt „exceptional circumstances and in the interest of justice“ voraus. 920  Näher dazu Binder, S. 771 ff. (= §33:7), insbesondere S. 775 ff. 921  Nachweise zur Rspr. bei Mueller/Kirkpatrick, S. 965, Fn. 1 sowie McCormick on Evidence, S. 483, Fn. 3. 922  Siehe zum license revocation hearing Complaint of Paducah Towing Co. Inc., 692 F.2d 412, 417 ff. (6th Cir. 1982). 923  Näher dazu McCormick on Evidence, S. 494 ff. m. w. N. 924  United States v. Jackson, 335 F.3d 170, 177 (2d Cir. 2003). 925  Fed. R. Crim. Proc. 11, dort insbesondere unter (b)(1) „(1) Advising and Question­ing the Defendant. (…) the court must inform the defendant of, and determine that the defen­ dant understands (…)“. 926  11(b)(2) Ensuring That a Plea Is Voluntary. 927  11(b)(3) Determining the Factual Basis for a Plea. 928  Siehe auch United States v. Jackson, 335 F.3d 170, 177 (2d Cir. 2003): „Under Fed. Rule Crim. Proc. 11, the purpose of a plea proceeding is to ensure that the defendant’s plea

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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Das Gericht betont, dass die Anklage keine Möglichkeit habe, Fragen zu stellen, da die von der Anklage in dieser Anhörung gestellten Fragen nur „formelhaft und oberflächlich“ seien und die Anklage nur eine untergeordnete Rolle spiele.929 (1) Grand jury testimony Fraglich ist, ob die Aussage eines Zeugen vor der grand jury in der späteren Hauptverhandlung verwendet werden kann. Dass die Staatsanwaltschaft solche Aussagen in der Hauptverhandlung nicht für ihre Sichtweise und damit gegen den Angeklagten verwenden darf, ist unbestritten, weil der Angeklagte (defendant) in der grand jury kein Anwesenheits- und damit auch kein Fragerecht hat.930 Umstritten ist die Verwertbarkeit hingegen für (entlastende) Aussagen, die die Verteidigung in der Hauptverhandlung gegen die Anklage einführen möchte. Zumindest vier Circuits nehmen an, dass die Anklage schon in der grand jury ein ähnliches Motiv hatte, Zeugen der Verteidigung zu befragen, und sind der Ansicht, dass die Voraussetzungen der Fed. R. Evid. 804(b)(1) erfüllt sind, so dass frühere entlastende Aussagen in die Hauptverhandlung eingeführt werden können.931 Beispielsweise hat der District of Columbia Circuit in United States v. Miller932 entschieden, dass die Aussage in der grand jury gegen die Anklage zulässig ist: Dort hatte ein Zeuge der Verteidigung (defense witness) zwar noch vor der grand jury ausgesagt, machte aber, als die Verteidigung ihn in der Haupt­ verhandlung als Zeugen vernehmen wollte, von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch (Fifth Amendment privilege not to testify).933 Er war daher als Zeuge nicht mehr verfügbar, nach Ansicht des Gerichts hätte man aber seine Aussage vor der grand jury in den Prozess einführen können,934 da die Anklage is knowing, voluntary, and grounded on a proper factual basis. (…) Under the Rule, a plea proceeding is conducted solely by the district court judge who is primarily responsible for ensuring that the requirements of Rule 11 are satisfied“. 929  United States v. Jackson, 335 F.3d 170, 177 (2d Cir. 2003): „On the rare occasion where the prosecutor is permitted to address the defendant, the questions posed are usually formulaic and perfunctory. The Government’s role at a plea proceeding is quite limited, and certainly does not include the opportunity to engage in the type of examination con­ templated by Rule 804(b)(1)“. 930  United States v. Marks, 585 F.2d 164, 166 ff. (6th Cir. 1978); Young v. United S ­ tates, 406 F.2d 960, 961, dort insbesondere Fn. 2 (D.C. Cir. 1968); United States v. Darwich, 337 F.3d 645,  658  (6th Cir. 2003); siehe auch Binder, S. 805 ff. (4. Auflage). 931  Binder, S. 808. 932  United States v. Miller, 904 F.2d 65 (D.C. Cir. 1990). 933  United States v. Miller, 904 F.2d 65, 66 (D.C. Cir. 1990). 934  United States v. Miller, 904 F.2d 65, 67 (D.C. Cir. 1990): „(…) even if Matarazzo had not waived, and, therefore, was not available as a witness, then the trial court should have permitted defendants to introduce into evidence the transcript of Matarazzo’s grand

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

vor der grand jury das „gleiche Motiv“ und die gleiche Möglichkeit wie in der Hauptverhandlung gehabt habe, den Zeugen zu befragen.935 Dabei legt das Ge­ richt einen sehr allgemeinen Vergleichsmaßstab zugrunde, es gehe nämlich bei der Aussage des Zeugen stets um das gleiche Thema, nämlich um Schuld oder Unschuld.936 Diesem allgemeinen Maßstab hat sich auch der 9th Circuit – der schon in United States v. Lester festgestellt hatte, dass es falsch gewesen sei, die Aussage aus der grand jury auszuschließen, da die Anklage eine „ausgedehn­ te Möglichkeit“ (ample opportunity) gehabt habe, den Zeugen zu befragen937 – in United States v. McFall ausdrücklich angeschlossen.938 Ähnlich hat der 6th Circuit in United States v. Foster939 entschieden und auch der 4th Circuit hat in ­United States v. Klauber vorgeschlagen, aber nicht entschieden, dass eine Aussa­ ge aus der grand jury zulässig sei, sofern der Staatsanwalt dort eine Möglichkeit gehabt habe, den Zeugen zu befragen.940 In anderen Entscheidungen, wie beispielsweise des 1st Circuit in United States v. Omar941, in der der Zeuge verstarb, nachdem er in der grand jury eine für die Angeklagten entlastende Aussage gemacht hatte, wird jedoch betont, dass in der grand jury und in der Hauptverhandlung kein „vergleichbares Motiv“ vorliege. In der grand jury wolle die Anklage den Zeugen „weder diskreditieren noch für ihn bürgen“942. jury testimony as former testimony of an unavailable witness under Rule804(b)(1) of the Federal Rules of Evidence“. 935  United States v. Miller, 904 F.2d 65, 68 (D.C. Cir. 1990): „(…) the government had the same motive and opportunity to question Matarazzo when it brought him before the grand jury as it does at trial“ m. w. N. 936  United States v. Miller, 904 F.2d 65, 68 (D.C. Cir. 1990). 937  United States v. Lester, 749 F.2d 1288, 1301 (9th Cir. 1984). 938  United States v. McFall, 558 F.3d 951, 963 (9th Cir. 2009). 939  United States v. Foster, 128 F.3d 949, 954 ff. (6th Cir. 1997) – nicht aber gegen den Angeklagten, United States v. Darwich, 337 F.3d 645, 658 (6th Cir. 2003). 940  United States v. Klauber, 611 F.2d 512, 516 f. (4th Cir. 1979), cert. denied, 446 U.S. 908, 100 S.Ct. 1835, 64 L.Ed. 2d 261 (1980). 941  United States v. Omar, 104 F.3d 519 (1st Cir. 1997). 942  United States v. Omar, 104 F.3d 519, 523 (1st Cir. 1997): „In an ordinary trial, the positions of the parties vis-a-vis a witness are likely to be clear-cut: the witness is normally presented by one side to advance its case and cross-examined by the other to discredit the testimony. Each side usually has reason to treat the trial as a last chance with the witness. If a new trial later becomes necessary and the witness proves unavailable, it may be a fair guess that each side has already done at the original trial all that the party would do if the declarant were now present for a new trial. Grand juries present a different face. Often, the government neither aims to discredit the witness nor to vouch for him. The prosecutor may want to secure a small piece of evidence as part of an ongoing investigation or to compel an answer by an unwilling witness or to ,freeze‘ the position of an adverse witness. In par­ ticular, discrediting a grand jury witness is rarely essential, because the government has

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Besonders eingehend hat sich vor allem der 2d Circuit mit der Frage, ob ein ähnliches Motiv der Staatsanwaltschaft bei der Befragung eines Zeugen in der grand jury vorliegt, in United States v. DiNapoli beschäftigt, weil die frühere Aussage gegen die Anklage verwendet werden sollte. Gegen DiNapoli und mehrere Mitbeschuldigte wurde wegen Manipulation von Bieterverfahren und Angebotsabsprachen ermittelt, worin mehrere Unter­ nehmen verwickelt waren, zwischen denen eine Art Kartell bestand.943 Während der Ermittlungen der grand jury wurden zudem die Geschäftsführer zweier Un­ ternehmen, die auch verdächtigt wurden, in das Geschehen verwickelt zu sein, befragt.944 Diese beiden Beschuldigten waren zum Zeitpunkt der Befragung be­ reits selbst angeklagt (indicted). Die Staatsanwaltschaft äußerte schon bei der Be­ fragung dieser Zeugen, die an mehreren Tagen stattfand, Zweifel an ihrer Versi­ on und beschränkte sich auf eine kurze Befragung.945 Der Anwalt eines Zeugen wandte sich sogar vier Tage später an die Staatsanwaltschaft, wobei er zugab, dass die Aussage seines Mandanten inkorrekt gewesen sei, und bat den Staatsan­ walt zugleich, seine Fragen erneut schriftlich vorzulegen, was dieser aber ablehn­ te.946 In der Verhandlung riefen die Angeklagten die Zeugen in den Zeugenstand, die dort aber ihr Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, geltend machten.947 Das Gericht entschied, von Bedeutung sei nicht nur, dass der Fragesteller auf derselben Seite stehe, sondern auch, ob er ein „wesentlich ähnliches Interesse“ (substantially similar interest) bei der Feststellung seines Sachverhalts gehabt habe. Wenn etwas im ersten Verfahren nur rudimentäre Bedeutung habe, im zweiten Verfahren aber entscheidend sei, werde man nicht behaupten können, dass der Fragesteller in beiden Verfahren ein ähnliches Motiv gehabt habe, um die Tatsache zu zeigen.948 Dies gelte insbesondere für Verfahren wie das pre­ a modest burden of proof, selects its own witnesses, and can usually call more of them at its leisure. (…) Thus, it is arguable that the government had no meaningful opportunity to discredit Femino at the time. In any case, it certainly lacked any evident motive to do so“. 943  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 910 (2d Cir. 1993). 944  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 910 f. (2d Cir. 1993). 945  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 911 (2d Cir. 1993). 946  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 911 (2d Cir. 1993). 947  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 911 (2d Cir. 1993). 948  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 910, 912 (2d Cir. 1993): „The test must turn not only on whether the questioner is on the same side of the same issue at both procee­ dings, but also on whether the questioner had a substantially similar interest in asserting that side of the issue. If a fact is critical to a cause of action at a second proceeding but the same fact was only peripherally related to a different cause of action at a first proceeding, no one would claim that the questioner had a similar motive at both proceedings to show that the fact had been established (or disproved). This is the same principle that holds collateral estoppel inapplicable when a small amount is at stake in a first proceeding and a large amount is at stake in a second proceeding, even though a party took the same side

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liminary hearing und die grand jury, die sich hinsichtlich ihres Zwecks und der geltenden Beweislast wesentlich unterscheiden.949 Da die Aussagen im vorliegen­ den Fall gegen die Staatsanwaltschaft verwendet werden sollten, untersucht das Gericht das vorherige Verfahren auch aus deren Perspektive: Es sei unrealistisch, den Staatsanwalt vor der grand jury als „Gegner der Version eines Zeugen“950 zu bezeichnen, wenn der Staatsanwalt die grand jury nutzte, um mögliche Straftaten zu ermitteln oder mögliche Straftäter zu identifizieren.951 Selbst wenn Zeugen in der grand jury die Version des Staatsanwalts entkräf­ teten, habe er nicht notwendiger Weise dasselbe Motiv wie in der Hauptverhand­ lung. Dann könnte er zwar – wie im vorliegenden Fall – als „Gegner“ der entlas­ tenden Aussagen betrachtet werden, er habe aber dennoch kein ähnliches Motiv wie in der Hauptverhandlung, was mit der niedrigeren Beweislast in der grand jury zusammenhänge, in der es dem Staatsanwalt nur darum gehe, probable cause darzulegen.952 Dieses Ziel könne trotz entlastender Aussagen schon lange erreicht sein, so dass die Staatsanwaltschaft keine Notwendigkeit mehr sehe, diese Aussa­ gen zu entkräften. Gerade in diesem frühen Stadium des Verfahrens könne aber auch ein wichtiges öffentliches Interesse dafür sprechen, die Beweiskraft von Entlastungszeugen noch nicht zu entkräften, da die Staatsanwaltschaft dadurch möglicherweise verdeckte Ermittlungsmethoden oder die Identität von kooperie­ renden Zeugen preisgeben müsste.953 Der 2d Circuit betont ausdrücklich, dass er die Ansicht, dass die Anklage in beiden Verfahren generell verschiedene Motive habe, ablehnt und dass dies ein­ of the same issue at both proceedings. This suggests that the questioner must not only be on the same side of the same issue at both proceedings but must also have a substantially similar degree of interest in prevailing on that issue.“ (Hervorhebung nicht im Original). 949  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 913 (2d Cir. 1993). 950  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 913 (2d Cir. 1993): „,opponent‘ of a witness’s version“. 951  Dies gelte auch für das preliminary hearing, denn dort versuche der Staatsanwalt nicht, eine Seite eines Sachverhalts zu beweisen, sondern nur die Tatsachen zu ermitteln, um festzustellen, ob Anklage erhoben wird. 952  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 913 (2d Cir. 1993): „Even in cases like the pending one, where the grand jury proceeding has progressed far beyond the stage of a general inquiry, the motive to develop grand jury testimony that disputes a position alrea­ dy taken by the prosecutor is not necessarily the same as the motive the prosecutor would have if that same testimony was presented at trial. Once the prosecutor has decided to seek an indictment against identified suspects, that prosecutor may fairly be characterized as ,opposed‘ to any testimony that tends to exonerate one of the suspects. But, because of the low burden of proof at the grand jury stage, even the prosecutor’s status as an ,opponent‘ of the testimony does not necessarily create a motive to challenge the testimony that is similar to the motive at trial.“ 953  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 913 (2d Cir. 1993).

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zelfallbezogen entschieden werden müsse.954 Dabei sei die Art der beiden Verfah­ ren – insbesondere der Verfahrensgegenstand und die Beweislast – zu berück­ sichtigen sowie in gewissem Maße auch. in welchem Umfang vom Kreuzverhör im früheren Verfahren Gebrauch gemacht worden ist.955 Im vorliegenden Fall sei es „abstrus zu glauben“956, dass der Staatsanwalt ein wesentliches Interesse gehabt habe, die in seinen Augen falsche Aussage der Zeu­ gen, dass nämlich kein Kartell bestanden habe, zu entkräften, weil die grand jury hiervon schon überzeugt und somit bereit gewesen sei, die Anklage zuzulassen. Schließlich habe auch die grand jury zum Ausdruck gebracht, dass auch sie starke Zweifel an der Richtigkeit der Aussage gehabt habe, weshalb diese beiden Um­ stände die Ähnlichkeit des Motivs beseitigten.957 Die dissenting opinion kritisiert die Senatsmehrheit scharf: Das Gesetz spre­ che von einem ähnlichen Motiv und gerade nicht, wie die Senatsmehrheit hi­ neinlese, vom selben Motiv.958 Ferner wendet sie ein, dass einzelfallbezogene Entscheidungen die Praxis vor Herausforderungen stellen würden. Schließlich habe sie auch Bedenken, dass – wenn es vorliegend so klar gewesen sei, dass Anklage erhoben werden würde – der Staatsanwalt das Verfahren der grand jury möglicherweise missbraucht habe, um an weitere Beweismittel zu gelangen, die er sodann im Hauptverfahren habe präsentieren wollen.959 Wenn diese Bedenken aber nicht durchgriffen, dann wäre es auch nicht abstrus zu glauben, dass die Staatsanwaltschaft durchaus ein wesentliches Interesse gehabt habe, den Sach­ verhalt und weitere mögliche Mittäter zu ermitteln.960 Interessanterweise hat der U.S. Supreme Court in United States v. Salerno festgestellt, dass der Grundsatz der gegnerischen Fairness nicht erfordere, dass 954  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 914 (2d Cir. 1993): „(…) the inquiry as to similar motive must be fact specific, and the grand jury context will sometimes, but not in­ variably, present circumstances that demonstrate the prosecutor’s lack of a similar motive“. 955  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 914 f. (2d Cir. 1993). 956  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 915 (2d Cir. 1993). 957  United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 915 (2d Cir. 1993). 958  Pratt, Circuit Judge, joined by Miner and Altimari, Circuit Judges, dissenting, Unit­ ed States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 916 (2d Cir. 1993): „The in banc majority (…) applies a gloss to the language of the rule that would find a similar motive only when the party against whom the testimony is offered had ,an interest of substantially similar intensity to prove (or disprove) the same side of a substantially similar issue‘. As a practical matter, the gloss effectively rewrites the rule from ,similar motive‘ to ,same motive‘“. 959  Pratt, Circuit Judge, dissenting, United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 916 (2d Cir. 1993): „If all these things were true, then why was the prosecutor using the grand jury at all? Could it have been simply a discovery device to develop more evidence to present at trial on the indictment he already had?“. 960  Miner, Circuit Judge, joined by Pratt and Altimari, Circuit Judges, dissenting, Unit­ ed States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 917 (2d Cir. 1993).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

der Staat das Protokoll aus der grand jury zur Verfügung stellt.961 Hier stellt sich also schon einmal das Problem, dass die Verteidigung naturgemäß etwas nicht in das Verfahren einführen kann, worauf sie keinen Zugriff hat, allerdings hat das Gericht gleichzeitig angemerkt, dass Aussagen aus der grand jury auch unter die Ausnahme nach Rule 804(b)(1) fallen können. Die Rechtsprechung der verschiedenen Circuits ist zwar uneinheitlich, die Mehrheit in Rechtsprechung und Literatur scheint die Verwertung von entlasten­ den Aussagen aus der grand jury allerdings abzulehnen. Dies wird stets mit dem Sinn des Verfahrens und der geringen Beweislast begründet: Mueller/Kirkpat­ rick weisen zu Recht darauf hin, dass in diesem Verfahrensabschnitt ein ande­ rer, nämlich geringerer Beweisstandard als in der Hauptverhandlung gilt, da die Staatsanwaltschaft zunächst nur eine Anklage (indictment) erreichen möchte.962 Denkbar ist auch, dass die Staatsanwaltschaft erst einmal nur testen möchte, wel­ che Aspekte in der Hauptverhandlung kritisch werden könnten. Jedenfalls ist es für sie in der grand jury noch nicht erforderlich, Entlastungszeugen und ihre Aus­ sagen durch intensive Befragung unglaubwürdig bzw. unglaubhaft erscheinen zu lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Ermittlungen noch andauern und die Staatsanwaltschaft zum Zeitpunkt der Vernehmung noch nicht als Gegenseite (opponent) des Zeugen gesehen werden kann – weil dieser beispielsweise selbst noch nicht angeklagt ist – oder wenn die Staatsanwaltschaft durch Fragen, die den Zeugen demontieren oder seine Aussage entwerten sollen, geheime Ermittlun­ gen wie Überwachungsmaßnahmen oder die Identität von V-Leuten offenbaren müsste. Eine Pflicht der Staatsanwaltschaft, den Zeugen intensiv zu vernehmen, könnte vorliegen, wenn zum Zeitpunkt der Vernehmung alle Ermittlungen ab­ geschlossen sind bzw. keine geheimen Ermittlungen durchgeführt werden und sich Zweifel an der Aussage des Zeugen offensichtlich aufdrängen.963 Aus der Perspektive der Staatsanwaltschaft fehlt es an einem entsprechenden Motiv, wenn aus ihrer Sicht das Ziel der grand jury, nämlich die Erhebung der Anklage, als sicher erscheint. Es gibt also durchaus gute Gründe, diese Frage nicht pauschal zu beantwor­ ten, sondern die spezifischen Umstände des Einzelfalls zu betrachten: Nur dann kann angemessen berücksichtigt werden, ob eine Möglichkeit und vor allem ein ähnliches Motiv bestand. Auch Blackmun, J., betont in der concurring opinion in United States v. Salerno: „[E]s kann nicht sein, dass die Anklage entweder immer oder nie ein ähnliches Motiv für die Befragung“ habe, sondern es müsse

961 

United States v. Salerno, 505 U.S. 317, 323 f. (1992). Mueller/Kirkpatrick, S. 966 f. 963  Siehe auch die Darstellung der Vor- und Nachteile bei McCormick on Evidence, S. 497. 962 

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vor allem der zugrunde liegende Sachverhalt Berücksichtigung finden.964 Dass aber auch bei einer Einzelfallentscheidung innerhalb eines Senats kontroverse Ansichten vertreten werden, zeigt die Entscheidung in United States v. DiNapoli. Allerdings könnten rein praktische Erwägungen gegen diese Ansicht spre­ chen; der Staatsanwaltschaft kommt bei Aussagen, durch die sich der Zeuge auch selbst belasten würde, eine überlegene Stellung in dem Verfahren zu, weil sie es unter Umständen in der Hand hat, ob ein Zeuge in der Hauptverhandlung zur Verfügung steht: Wenn nämlich ein Zeuge in der grand jury durch seine Aussage den Angeklagten belastet, er sich aber in der Hauptverhandlung auf sein privile­ ge against self-incrimination beruft, kann sie ihm Immunität gewähren, so dass er in der Hauptverhandlung auch gegen den Angeklagten aussagen kann. Sagt der Zeuge hingegen etwas den Angeklagten Entlastendes, fragt die Staatsanwalt­ schaft unter Umständen nicht näher nach. Wenn der Zeuge sodann später selbst in den Fokus der Ermittlungen gerät, verweigert er in der Hauptverhandlung unter Hinweis auf sein Privileg die Aussage. Somit sind also durchaus Fälle denkbar, in denen die Staatsanwaltschaft faktisch bestimmt, ob ein ähnliches Motiv und damit eine Ausnahme zur hearsay rule bejaht wird. Dennoch erscheint es im Er­ gebnis sachgerecht – wenngleich dies, wie die dissenting opinion in DiNapoli anmerkt, die Praxis vor Herausforderungen stellt und dadurch möglicherweise zulasten der Rechtssicherheit geht –, stets auf die Umstände des Einzelfalls ab­ zustellen. Gerade mit Blick auf den Sinn des Verfahrens in der grand jury und der dort geltenden geringen Beweislast – zumal es zumeist auch ausschließlich die Staatsanwaltschaft ist, die die Zeugen benennt – wird man oft zu dem Ergebnis kommen, ein ähnliches Motiv der Anklage zu verneinen; dies muss aber nicht zwingend der Fall sein: Je nach den Umständen des Einzelfalls kann die frühere Befragung so intensiv und umfangreich gewesen sein, dass es nahezu auf der Hand liegt, ein ähnliches Motiv zu bejahen. Im Übrigen bleibt – selbst wenn man hier aufgrund der immensen Unterschie­ de der beiden Verfahren ein ähnliches Motiv verneint und sich damit gegen eine Verwertung ausspricht965 – zu bedenken, dass die Aussagen aus dem grand jury hearing als eine residual exception nach Fed. R. Evid. 807 in den Prozess einge­ führt werden könnten. 964 United States v. Salerno, 505 U.S. 317, 326 (1992), Blackmun, J., concurring: „Because ,similar motive‘ does not mean ,identical motive,‘ the similar motive inquiry, in my view, is inherently a factual inquiry, depending in part on the similarity of the underlying issues and on the context of the grand jury questioning. It cannot be that the prosecution either always or never has a similar motive for questioning a particular witness with respect to a particular issue before the grand jury as at trial.“ (Hervorhebungen im Original). 965  Mueller/Kirkpatrick, S. 966 f.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

(2) Preliminary hearings Ein ähnliches Problem stellt sich in den preliminary hearings, deren Ziel nicht die abschließende Klärung von Schuld oder Unschuld ist, sondern vielmehr, ob das Hauptverfahren eröffnet werden soll. Es stellt sich die Frage, ob Aussagen in einem preliminary hearing gegen den Angeklagten verwendet werden können, da hier sowohl die Anklage als auch – anders als meistens in der grand jury – die Verteidigung Zeugen laden und Fragen stellen können. In der Literatur wird im­ mer wieder betont, dass es für die Verteidigung in diesem Verfahrensabschnitt zwar theoretisch die Möglichkeit gibt, Fragen zu stellen, hiervon in der Praxis aus prozesstaktischen Erwägungen häufig aber kein Gebrauch gemacht wird.966 Die hierzu vertretenen Ansichten lassen sich im Wesentlichen in drei Gruppen unterteilen: Nach einer Ansicht soll die Verwertung des Protokolls aus dem pre­ liminary hearing immer anhand der Umstände des Einzelfalls entschieden wer­ den, die anderen Ansichten gehen davon aus, dass dieses Protokoll entweder nie oder grundsätzlich immer verwertet werden könne. (a) Einzelfallentscheidung Der Supreme Court of Arkansas967 und der Supreme Court of Wyoming spre­ chen sich gegen eine generelle Regelung und für eine Handhabung nach den Um­ ständen des Einzelfalls aus (case-by-case-approach).968 In Rodriguez v. State wurde ein ähnliches Motiv (similar motive)969 bejaht, da die Zeugin im preliminary hearing umfangreich befragt worden war und das Pro­ tokoll des Kreuzverhörs 20 Seiten umfasste.970 Hier erscheint kaum vorstellbar, was die Verteidigung in der Hauptverhandlung noch hätte fragen wollen, um ihre Befragung aus dem preliminary hearing zu ergänzen.971 966 

Mueller/Kirkpatrick, S. 967; siehe auch McCormick on Evidence, S. 484. Scott Johnson v. State, 272 Ark. 88, 94 f. (Ark. 1981), wo das Protokoll nicht zuge­ lassen wurde; Proctor v. State, 349 Ark. 648, 663 f. (Ark. 2002), wo das Protokoll verläss­ lich (reliable) war und deshalb zugelassen wurde. 968  Vgl. dazu auch die Entwicklung in Idaho, State v. Ricks, 122 Idaho 856, 863 (Idaho Ct. App. 1992): „(…) a case-by-case approach is the better way (…)“; zustimmend State v. Mantz, 148 Idaho 303, 309 (Idaho Ct. App. 2009); siehe auch ID Code § 9 – 336. 969  Rodriguez v. State, 711 P.2d 410, 414 (Wyo. 1985). 970  Rodriguez v. State, 711 P.2d 410, 413 (Wyo. 1985). 971  Nicht ganz so offensichtlich, aber immerhin nachvollziehbar ist King v. State, 780 P.2d 943, 956 f. (Wyo. 1989): Ein Zeuge der Verteidigung wurde im preliminary hearing zunächst von der Verteidigung eingehend befragt und musste dann allerdings im Kreuz­ verhör durch die Anklage seine vorherige Aussage korrigieren. Die Verteidigung wurde durch diese Wendung des Geschehens überrascht und verzichtete auf eine weitere Be­ fragung. Das Gericht weist darauf hin, dass hier der Schaden für die Verteidigung schon eingetreten sei und eine weitere Befragung daher keinen Sinn gemacht habe. Auch in die­ 967 

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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(b) Das Protokoll aus dem preliminary hearing ist niemals zulässig Die Gerichte einiger Bundesstaaten haben entschieden, dass belastende Aus­ sagen in einem preliminary hearing nicht gegen den Angeklagten verwendet wer­ den dürften, da das dortige Kreuzverhör nicht mit dem in einer Hauptverhand­ lung vergleichbar sei.972 Auch der Supreme Court of Colorado hat festgestellt, dass das Protokoll aus dem preliminary hearing in der Hauptverhandlung nie zulässig sei, weil die Ver­ teidigung bei der Befragung im preliminary hearing kein Motiv habe, das der Befragung in der Hauptverhandlung ähnelt. Ersteres habe nur den begrenzten Zweck, festzustellen, ob es als wahrscheinlich erscheine (probable cause), dass der Beschuldigte die Tat begangen habe, wohingegen dies in der Hauptverhand­ lung zweifelsfrei (beyond a reasonable doubt) festgestellt werden müsse.973 In Co­ lorado, wie auch in vielen anderen Bundesstaaten, ist das preliminary hearing keine „kleine Hauptverhandlung“; es gelten vereinfachte Beweisregeln.974 Selbst eine intensive Befragung wird in der Regel kaum verhindern, dass die Anklage ihrer geringen Beweislast im preliminary hearing gerecht wird. Die Verteidigung wird sich deshalb häufig darauf beschränken, um hier nicht schon „ihr Pulver zu verschießen“ und dadurch auch ihre Prozesstaktik offen zu legen, die Glaubwür­ digkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage erst in der Hauptver­ handlung zu entkräften. Diese Entscheidung ist im Jahre 2004 durch den Supreme Court of Colorado en banc975 in People v. Fry976 bestätigt worden. Auch in dieser Entscheidung wird betont, dass die Rechte des Angeklagten beschnitten seien, da es sich nicht um eine „kleine Hauptverhandlung“ handele und die Beweise und Verfahrensregeln gelockerter und die Rechte zur Zeugenbefragung und zum Einführen von Beweismitteln auf die Frage von probable cause beschränkt sei­ en.977 Ein preliminary hearing gewähre nicht die gleichen Schutzvorkehrungen ser Konstellation ähnelt das Motiv der Befragung im preliminary hearing dem Motiv der Befragung in der Hauptverhandlung. 972  State v. Stuart, 279 Wis. 2d 659, 673 (Wis. 2005). 973  People v. Smith, 198 Colo. 120, 125 f. (Colo. 1979), overruled on other grounds by People v. Vance, 933 P.2d 576 (Colo. 1997), overruled by Griego v. People, 19 P.3d 1 (Colo. 2001); bestätigt durch den Supreme Court of Colorado en banc, United States v. Fry, 92 P.3d 970, insbesondere 977 (Colo. 2004). 974  People v. Smith, 198 Colo. 120, 125 f. (Colo. 1979); siehe dazu auch Supreme Court of Colorado en banc, People v. Fry, 92 P.3d 970, 976 f. (Colo. 2004); anders ist dies aber beispielsweise in Kalifornien. 975  Nicht nur eine Kammer, sondern alle Richter des Supreme Court treffen die Ent­ scheidung. Am Supreme Court of Colorado gibt es sieben Richter. 976  People v. Fry, 92 P.3d 970 (Colo. 2004) (en banc). 977  People v. Fry, 92 P.3d 977 (Colo. 2004) (en banc): „A preliminary hearing is lim­ ited to matters necessary to a determination of probable cause. The rights of the defen­

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

wie eine Hauptverhandlung. Insbesondere das Recht der Verteidigung, den Zeu­ gen unglaubwürdig erscheinen zu lassen und diesen ins Kreuzverhör zu nehmen, seien beschränkt und könnten auch vom Richter eingeschränkt werden. Da die Möglichkeit der Befragung in einem preliminary hearing also sehr begrenzt sei, spricht sich die majority opinion generell gegen eine Verwertung von Aussagen aus dem preliminary hearing aus. Diese Ansicht kritisiert Coats, J., in seiner dissenting opinion, der Kourlis, J., zustimmt.978 Das preliminary hearing in Colorado unterscheide sich nicht we­ sentlich von denen in anderen Staaten oder im Bundesverfahren, die das Pro­ tokoll alle zulassen würden.979 Auch Crawford v. Washington stehe dem nicht entgegen.980 Der Angeklagte nehme an einem preliminary hearing teil, er sei anwesend und habe somit, was entscheidend sei, die Möglichkeit, Fragen an den Belastungszeugen zu stellen. Zwar möge die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen nicht zum Kern dieses Verfahrens gehören, es stehe dem Angeklag­ ten aber dennoch frei, Fragen an den Zeugen zu stellen, um dessen Glaubwür­ digkeit und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage zu entkräften.981 Somit bestehe grundsätzlich die Möglichkeit des Kreuzverhörs. dant are therefore curtailed: evidentiary and procedural rules are relaxed, and the rights to cross-examine witnesses and to introduce evidence are limited to the question of probable cause. (…) Hence, a preliminary hearing does not provide the same safeguards as a trial. Additionally, the judge’s findings at a preliminary hearing are restricted to a determina­ tion of probable cause. A judge may not engage in credibility determinations unless the testi­mony is incredible as a matter of law. (…) Aside from the exceptionally rare instance of credibility as an issue of law, defense counsel has no legitimate motive to engage in credibility inquiries and may be prohibited from doing so. Thus, the right to cross-exami­ nation may be curtailed by the judge in all but the most unusual circumstances. Because credibility is not at issue and probable cause is a low standard, once a prima facie case for probable cause is established, there is little defense counsel can do to show that probable cause does not exist. Therefore, as a practical matter, defense counsel may decline to crossexam­ine witnesses at the preliminary hearing, understanding that the cross-examination would have no bearing on the issue of probable cause and that the judge may limit or pro­ hibit the cross-examination. Thus we conclude that the opportunity for cross-examination at a preliminary hearing is very limited“. 978  Coats, J., dissenting, People v. Fry, 92 P.3d 970, 982 ff. (Colo. 2004) (en banc). 979  Coats, J., dissenting, People v. Fry, 92 P.3d 970, 982 (Colo. 2004) (en banc). 980  Coats, J., dissenting, People v. Fry, 92 P.3d 970, 983 (Colo. 2004) (en banc). 981  Coats, J., dissenting, People v. Fry, 92 P.3d 970, 983 (Colo. 2004) (en banc): „In Smith, this court distinguished Colorado on the basis of the limited nature of its prelimi­ nary hearing. Limitations restricting the inquiry to probable cause and excluding questions of witness credibility, however, do not make preliminary hearings in this jurisdiction sig­ nificantly different from those permitted by many other states or the federal government. (…) Whether or not the defendant committed the crime of which he is charged is the precise inquiry at a preliminary hearing, and the Colorado Rules of Criminal Procedure, like their federal counterparts, expressly guarantee a defendant the right (…) to call and cross-ex­

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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(c) Das Protokoll aus dem preliminary hearing ist zulässig Die Mehrheit der Gerichte hat sich dagegen entschieden, das Zeugnis aus dem preliminary hearing kategorisch auszuschließen und lässt dieses Beweismittel somit in der Hauptverhandlung grundsätzlich zu. In State v. Brooks wird betont, dass das Motiv und das Interesse identisch seien, da der Verteidiger in beiden Verfahrensabschnitten „im Interesse seines Mandanten handele und angetrieben sei, dessen Unschuld zu beweisen“.982 Die Möglichkeit und ein ähnliches Motiv für beide Verfahren werden auch in anderen Entscheidungen bejaht.983 Dementsprechend stellt der 10th Circuit fest, dass „die Möglichkeit für ein vollständiges und umfangreiches Kreuzverhör“ entscheidend sei und gerade nicht, ob von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht worden sei, was nämlich von der Verhandlungstaktik, die hier keine Rolle spielen dür­ fe, bestimmt werde. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung des U.S. Supreme Court in Pointer v. Texas weist das Gericht darauf hin, dass das preliminary hear­ ing eine „vollwertige Anhörung“ sei und somit die „vollständige und adäquate Möglichkeit“ der Befragung gewährt worden sei.984 Auch andere Gerichte weisen darauf hin, dass prozesstaktische Erwägungen – weshalb man den Zeugen nicht im probable cause hearing, sondern erst in der amine witnesses. See Crim. P. 5(a)(4)(II) & (7)(h)(2). A preliminary hearing in Colorado is therefore not an ex parte proceeding and, as a matter of law, guarantees the defendant an ,opportunity to cross-examine.‘ Although an assessment of the credibility of witnesses is not within the scope of a probable cause determination, a defendant is not barred from challenging the perceptions, memory, or even veracity of witnesses who testify at a prelim­ inary hearing. Nor is it irrelevant or meaningless to confront a witness with the goal of inducing him to correct, modify, or even retract his earlier statement. Even if the exercise of a court’s discretion to limit examination could, under some circumstances, render the opportunity for cross-examination constitutionally inadequate, the blanket prohibition of Smith is unjustified“. 982  State v. Brooks, 638 P.2d 537, 541 (Utah 1981): „Defense counsel’s motive and inte­ rest are the same in either setting; he acts in both situations in the interest of and motivated by establishing the innocence of his client. Therefore, cross-examination takes place at preliminary hearing and at trial under the same motive and interest“. 983  Relativ apodiktisch State v. Martinez, 102 N.M. 94, 96 f. (N.M. Ct. App. 1984); ähnlich auch der Supreme Court of North Dakota in State v. Erickson, 241 N.W.2d 854, 863 (N.D. 1976). 984  United States v. Allen, 409 F.2d 611, 613 (10th Cir. 1969): „(…) the test is the oppor­ tunity for full and complete cross-examination rather than the use which is made of that opportunity. (…) The extent of cross-examination, whether at a preliminary hearing or at a trial, is a trial tactic. The manner of use of that trial tactic does not create a constitutional right. To paraphrase Pointer the statements of the witnesses were made ,at a full-fledged hearing‘ with accused present and represented by counsel who was given ,a complete and adequate opportunity to cross-examine.‘“ mit Verweis auf Pointer v. Texas, 380 U.S. 400, 407 (1965).

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Hauptverhandlung befragt – keine Rolle spielen dürften. Die Verteidigung „trägt notwendigerweise das Risiko“, wenn sie auf eine Befragung im pre­liminary ­hearing verzichte, dass die Aussage eines Zeugen, der im Zeitpunkt der Haupt­ verhandlung nicht mehr verfügbar ist, dennoch in das Verfahren eingeführt wer­ de.985 Entscheidend sei, dass eine Möglichkeit gewährt wurde, die aber aufgrund der unterschiedlichen Verfahrensziele nicht identisch sein müsse.986 (d) Diskussion Der U.S. Supreme Court hat hingegen gegen eine Verwertung keine verfas­ sungsrechtlichen Bedenken. Die Anforderungen der Confrontation Clause seien nämlich, wie der U.S. Supreme Court in California v. Green ausführt, gewahrt, wenn der Zeuge seine frühere Aussage „unter Umständen macht, die eng an sol­ che heranreichen, die die typische Hauptverhandlung umgeben“987. Als Umstän­ de werden häufig der Beistand eines Verteidigers, die Möglichkeit des Kreuzver­ hörs sowie die Aussage des Zeugen unter Eid, wobei diese vor einem ordentlichen Gericht erfolgen müsse, das darüber ein gerichtliches Protokoll oder Tonband­ mitschnitte fertigt, genannt.988 Auch in Ohio v. Roberts betont der U.S. Supreme Court, dass es auf die Möglichkeit zum Kreuzverhör ankomme – unabhängig von der Frage, ob diese Möglichkeit auch genutzt worden sei.989 Diese Möglichkeit ist allerdings nicht gewahrt, wenn der Angeklagte bei der früheren Aussage des Zeugen ein Recht auf einen Anwalt hatte, ihm dieses Recht aber nicht gewährt wurde; der Angeklagte wird hierdurch um sein Konfrontationsrecht gebracht, so 985 

Commonwealth v. Mustone, 353 Mass. 490, 493 f. (Mass. 1968). States ex rel. Haywood v. Wolff, 658 F.2d 455, 461 f. (7th Cir. 1981), cert. denied, 1981, 454 U.S. 1088, 102 S.Ct. 649, 70 L.Ed.2d 625: „(…) the Supreme Court has never said that the opportunity for cross-examination afforded at the preliminary hearing must be identical with that required at trial. To the contrary, the Court has specifically recognized that ,[a] preliminary hearing is ordinarily a much less searching exploration into the merits of a case than a trial, simply because its function is the more limited one of determining whether probable cause exists for holding the accused for trial.‘ Barber v. Page, 390 U.S. 719, 725 (1968)“. 987  California v. Green, 399 U.S. 149, 165 (1970): „(…) statement at the preliminary hearing had already been given under circumstances closely approximating those that sur­ round the typical trial“. 988  California v. Green, 399 U.S. 149, 165 (1970). 989  Ohio v. Roberts, 448 U.S. 56, 70 (1980) bestätigt California v. Green, 399 U.S. 149 (1970): „This passage and others in the Green opinion suggest that the opportunity to cross-examine at the preliminary hearing – even absent actual cross-examination – satis­ fies the Confrontation Clause.“ (Hervorhebung im Original) und S. 73: „Since there was an adequate opportunity to cross-examine [the witness], and counsel (…) availed himself of that opportunity, the transcript (…) bore sufficient ,indicia of reliability‘ and afforded ,the trier of fact a satisfactory basis for evaluating the truth of the prior statement‘“. 986  United

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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dass die frühere Aussage nicht verwertbar ist.990 Auch Crawford v. Washington hält fest, dass „eine Aussage aus dem preliminary hearing nur zulässig ist, wenn der defendant eine adäquate Möglichkeit zum Kreuzverhör hatte“991. Dies zeigt eindeutig, dass Crawford kein generelles Verbot der Verwertung der früheren Aussage fordert. Wohl aus diesem Grunde lässt auch die Mehrheit der Einzel­ staaten die Verwertung zu.992 So wird auch in United States v. Allen betont, dass es auf die Möglichkeit ankomme und prozesstaktische Erwägungen hier keine Rolle spielen dürften.993 Den bloßen Wortlaut des Gesetzes zugrunde legend er­ scheint diese Rechtsprechung sachgerecht, denn auch eine frühere Möglichkeit kann Crawford v. Washington und damit der Confrontation Clause gerecht wer­ den. Crawford erfordert nur eine Möglichkeit, nicht ein ähnliches Motiv.994 Das ähnliche Motiv ist allerdings auf die Regelung in den Federal Rules of Evidence zurückzuführen, so dass man also nicht nur eine (wahre) Möglichkeit wegen der Confrontation Clause, sondern aufgrund von Fed. R. Evid. 804(b)(1)(B) auch ein ähnliches Motiv benötigt. Zunächst ist zuzugeben, dass der Wortlaut der Fed. R. Evid. 804(b)(1)(A) ein­ fach nur von einem „hearing“ spricht und nicht zwischen der Aussage in einem früheren Verfahren und der Aussage in einem preliminary hearing differenziert. Somit könnte also, wie auch 3d Circuit feststellt, jedes hearing umfasst sein.995 Ferner ist aber auch ein ähnliches Motiv (similar motive) erforderlich. Auch hier stellt sich wieder die Frage, was darunter zu verstehen und welcher Maßstab bei der Beurteilung zugrunde zu legen ist.

990 

Pointer v. Texas, 380 U.S. 400, 407 f. (1965). Crawford v. Washington, 541 U.S. 36, 57 (2004). 992  Näher dazu Mueller/Kirkpatrick, S. 967. 993  United States v. Allen, 409 F.2d 611, 613 (10th Cir. 1969): „(…) the test is the op­ portunity for full and complete cross-examination rather than the use which is made of that opportunity. At the hearing before the United States Commissioner, the defendant and his counsel were confronted by the witnesses who testified under oath and were subjec­ ted, without limitation, to extensive cross-examination. The extent of cross-examination, whether at a preliminary hearing or at a trial, is a trial tactic.“; ebenso Phillips v. Wyrick, 558 F.2d 489, 496 (8th Cir. 1977) „The actual use then made of the opportunity becomes a matter of defense strategy, and deliberate trial tactics do not ordinarily exact constitutional protection“. 994  United States v. Hargrove, 382 Fed.Appx. 765, 778 (10th Cir. 2010): „Crawford re­ quires only that the defendant have an opportunity to cross-examine the adverse witness at the prior proceeding – it does not require that the defendant have a similar motive at the prior proceeding. The prior motive requirement comes from the Federal Rules of Evidence, not the Confrontation Clause“. 995  Virgin Islands v. Aquino, 378 F.2d 540, 549 (3d Cir.1967): „(…) we must accept for present purpose the rule which makes no distinction between testimony given at a prior trial and the testimony given at a preliminary hearing“. 991 

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Das Motiv wird erheblich von der Verteidigungsstrategie beeinflusst, so dass fraglich erscheint, weshalb die herrschende Meinung dieses Motiv bei der Be­ urteilung der Zulässigkeit von Protokollen unberücksichtigt lassen will. Wenn es Ansichten gibt, die ein ähnliches Motiv der Anklage in der grand jury ver­ neinen, dann kann auch hier das similar motive verneint werden, damit Proto­ kolle aus dem preliminary hearing nicht gegen die Verteidigung in den Prozess eingeführt werden können. Denn wenn man für die Staatsanwaltschaft in der grand jury unterschiedliche Motive berücksichtigt, dann müssen auch hier die unterschiedlichen Ziele der beiden Verfahren berücksichtigt werden: Was nützt ein Fragerecht, das in diesem Verfahrensstadium nicht nur wertlos ist – zumal probable cause ohnehin immer bejaht wird –, sondern wegen der Offenbarung der Verteidigungsstrategie sogar schädlich sein kann? Dies gilt insbesondere für ein so formalisiertes Verfahren wie den US-amerikanischen Strafprozess, der ein Parteiverfahren ist und in dem der Verfahrensstrategie eine Schlüsselrolle für den Ausgang des Verfahrens zukommt. Der bloße Wechsel der Verteidigungsstrate­ gie soll aber – ebenso wie die Auswechslung des Verteidigers – nach herrschen­ der Meinung weder die Möglichkeit der Befragung ausschließen noch ein anderes Motiv bewirken;996 es erscheint jedoch fraglich, ob dies wirklich vollkommen unberücksichtigt bleiben kann, zumal auch in der Literatur immer wieder betont wird, dass es für die Verteidigung die „sinnvollere Strategie“ sei, sich im prelim­ inary zurückzuhalten.997 Schließlich wird die Strategie der Staatsanwaltschaft auch als Argument gegen die Verwertung von früheren Aussagen aus grand jury proceedings gegen die Anklage angeführt, dass diese bestimmte Zeugen gerade nicht kritisch habe befragen können, um nicht laufende verdeckte Ermittlungs­ maßnahmen oder die Identität kooperierender Zeugen preisgeben zu müssen.998 Auch taktische Erwägungen scheinen also durchaus Berücksichtigung zu finden. Warum sollte dann aber die Verteidigung ein ähnliches Motiv bei der Befragung im preliminary hearing haben, wenn dort „alle Künste des Kreuzverhörs (…) nutzlos sind“999? Auch Brenan, J., weist in seiner dissenting opinion in California 996  United States v. Avants, 367 F.3d 433, 444 (5th Cir. 2004): „The matters on which Jones [der Belastungszeuge] was to be discredited were a matter of trial strategy, which do not make motive dissimilar.“; so auch United States v. Tannehill, 49 F.3d 1049, 1057 (5th Cir. 1995); United States v. Zurosky, 614 F.2d 779, 793 (1st Cir. 1979): „Defense counsel made a tactical decision not to question Smith; this does not mean that they were denied an opportunity to do so.“; siehe auch Fenner, Hearsay Rule, S. 235 m. w. N. 997 So Mueller/Kirkpatrick, S. 967; siehe auch McCormick on Evidence, S. 484; vgl. ferner Fenner, Hearsay Rule, S. 233 und 235, dort Fn. 69: „It is no surprise that sometimes the distinction between motivation and tactics is not so clear“. 998  Vgl. dazu United States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 913 (2d Cir. 1993): „important public interest“, was als Grund angeführt wird, dass ein Staatsanwalt bei der Befragung eines Zeugen vor der grand jury kein ähnliches Motiv habe wie in der Hauptverhandlung. Die Mehrheit in DiNapoli spricht sich für eine Einzelfallbetrachtung aus.

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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v. Green zu Recht daraufhin, dass die Verteidigung bei einem preliminary hear­ ing in der Regel keinen Grund habe, Zeugen der Anklage zu befragen, da „nur Fernseh-Anwälte üblicherweise die Anklage im magistrate‘s court zunichtema­ chen“1000. Die extensive Befragung des Zeugen der Anklage durch die Verteidi­ gung ist ein taktischer Fehler, da dies „leicht zu einer Gewährung kostenloser Enthüllung für den Staat führen könnte“1001. Dies sollte gerade vor der großen Bedeutung der Confrontation Clause im US-amerikanischen Strafprozess, was durch Crawford v. Washington noch einmal untermauert wurde, nicht unberück­ sichtigt bleiben. Es sollte nicht nur eine bloße, sondern eine faire Möglichkeit gewährt werden. 999

Ferner muss auch gerade das Motiv bei der Befragung berücksichtigt werden, das von der Verteidigungsstrategie maßgeblich bestimmt wird und daher in ver­ schiedenen Verfahrensabschnitten ganz unterschiedlich sein kann, so dass man gerade nicht von einem ähnlichen Motiv sprechen kann. Kritiker wenden hierge­ gen ein, die Norm spreche von einem ähnlichen und gerade nicht von einem iden­ tischen Motiv, so dass de lege lata ein irgendwie ähnliches Interesse ausreichen könne.1002 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass, um an die Worte in California v. Green anzuknüpfen, (ähnliche) „Umstände, die die Hauptverhandlung umge­ ben“ und damit dort von Bedeutung gewesen sind, doch nur solche sein können, die auch in diesem frühen Verfahrensabschnitt von Bedeutung sind – um die Glaubwürdigkeit von Belastungszeugen geht es hier noch nicht bzw. keinesfalls in gleichem Umfang.1003 Das oberste Motiv der Verteidigung dürfte sein, Belas­ tungszeugen im preliminary hearing unglaubwürdig erscheinen zu lassen, indem die Grundlage der Aussage angezweifelt wird oder Widersprüche in der Aussage aufgedeckt werden. Ferner ist es möglich, die Aussagefähigkeit des Zeugen gene­ rell anzuzweifeln. Schließlich kommt für die Befragung der Verteidigung, sofern es sich bei dem Zeugen um eine Verhörsperson oder andere staatliche Ermitt­ lungsorgane handelt, noch in Betracht, bei der Einhaltung der Verfahrensregeln anzusetzen und zu hinterfragen, ob diese wirklich beachtet worden sind, ob der 999  Virgin Islands v. Aquino, 378 F.2d 540, 549 (3d Cir.1967): „Credibility is not the issue at a preliminary hearing as it is in a trial. All the arts of cross-examination which are exerted to impair the credibility of a witness are useless in a preliminary hearing.“. 1000  Brennan, J., dissenting, California v. Green, 399 U.S. 149, 189 ff. (1970), dort S. 196 mit einem Zitat aus People v. Gibbs, 255 Cal.App.2d 743 f. (Cal. Ct. App. 1967): „Only television lawyers customarily demolish the prosecution in the magistrate’s court“. 1001  Brennan, J., dissenting, California v. Green, 399 U.S. 149, 189 ff. (1970), dort S. 197; zustimmend State v. Elisondo, 114 Idaho 412, 414 ff. (Idaho 1988). 1002  Vgl. dazu Blackmun, J., concurring, United States v. Salerno, 505 U.S. 317, 326 (1992): „,similar motive‘ does not mean ,identical motive‘“ sowie Pratt, J., dissenting, Uni­ ted States v. DiNapoli, 8 F.3d 909, 916 (2d Cir. 1993). 1003  Virgin Islands v. Aquino, 378 F.2d 540, 549 (3d Cir.1967): „Credibility is not the issue at a preliminary hearing as it is in a trial“.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

Beschuldigte belehrt worden ist oder seine Rechte möglicherweise verletzt worden sind. Wenn all diese Aspekte schon im preliminary hearing Beachtung gefunden haben – was sich aus den Aufzeichnungen oder den Protokollen ergeben wird –, so hätte die Befragung in der Hauptverhandlung keinen Mehrwert gehabt, so dass die Aussage ausnahmsweise zugelassen werden kann. Der Tatsache, dass die jury sich in dieser Konstellation kein Bild von dem Aussagenden und dessen Verhalten im Zeugenstand machen kann, muss in diesem Zusammenhang wohl eine unter­ geordnete Bedeutung zukommen. Sachgerecht erscheint es daher, Protokolle bzw. die frühere Aussage nicht grundsätzlich zuzulassen oder auszuschließen, sondern sich vielmehr an den Gegebenheiten des Einzelfalls zu orientieren. Nur durch eine Einzelfallentscheidung kann ermittelt werden, ob wirklich eine Möglichkeit und ein ähnliches Motiv bei der Befragung (cross-examination) im Hinblick auf die relevanten Tatsachen vorlagen. Mit Blick auf die Rechte des Angeklagten und unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten scheint es angebracht, ein irgendwie ähn­ liches Motiv nicht genügen zu lassen, sondern ein wesentlich ähnliches Motiv zu fordern. Bei Umständen, die in einem früheren Verfahren egal sind, kann es sich jedenfalls nicht um solche handeln, die „die Hauptverhandlung umgeben“. Man könnte sogar noch weitergehen und in Anlehnung an einen Terminus aus dem common law eine identity of issues1004 fordern: Um ein ähnliches Motiv bei der Befragung bejahen zu können, könnte man sich auch fragen, ob die re­ levanten Fakten und die Tatsachen, um die es in dem betreffenden preliminary hearing gegangen ist, mit denen der Hauptverhandlung übereinstimmen, denn nur bei einer identiy of issues1005 kann man davon ausgehen, dass die Parteien bei der Befragung des Zeugen ein ähnliches Motiv hatten.1006 Nach Einführung der Federal Rules of Evidence ist diese Ansicht aber kaum mehr vertretbar, sie führt auch nicht weiter, da man dann wiederum die Frage stellen muss, ob eine „pre­ cise“ identity of issues erforderlich ist – was wohl zu verneinen wäre – oder ob eine „substantial“ identity of issues ausreichend ist.1007 (3) Möglichkeit und Motiv im Fokus weiterer Fallgruppen Schließlich soll noch ein Blick auf weitere Fälle geworfen werden, um zu er­ mitteln, welche Umstände eine „umfassende und faire Möglichkeit“1008 der Ver­ 1004  Vgl. dazu United States v. Salerno, 505 U.S. 317, 331 (1992), dort Fn. 8; siehe auch McCormick on Evidence, S. 494. 1005  Siehe dazu auch oben das Zitat aus United States v. Salerno, 505 U.S. 317, 326 (1992), Blackmun, J., concurring zur grand jury. 1006  Vgl. dazu State v. Ricks, 122 Idaho 856, 864 (Id. Ct. App. 1992): „(…) the factual elements to be established at the preliminary hearing and at the trial are exactly the same“. 1007  Näher dazu McCormick on Evidence, S. 494 f. 1008  Commonwealth v. Bazemore, 531 Pa. 582, 588 (Pa. 1992): „full and fair opportunity to cross-examine“ (Hervorhebung im Original).

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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teidigung zur Befragung im preliminary hearing begründen oder gerade aus­ schließen. Es fehlt an einer solchen Möglichkeit, wenn der Verteidigung noch nicht alle relevanten Informationen zur Verfügung stehen, auf die man eine vernünftige Befragung hätte stützen können, wenn der Verteidigung also beispielsweise nicht bekannt ist, dass der Zeuge zuvor eine widersprüchliche Aussage bei der Polizei gemacht hat, dass gegen den Zeugen in derselben Angelegenheit Anklage erho­ ben worden ist oder dass er vorbestraft ist.1009 Bei der Beurteilung, ob die Möglichkeit einer früheren Befragung bestand, stellt sich die Frage, welche Rolle der technische Fortschritt spielt und wie es sich auswirkt, wenn man einen Mitangeklagten aus prozesstaktischen Erwägungen zunächst nicht befragt oder wenn der frühere Komplize bzw. Mitangeklagte zum Zeugen wird. Schließlich soll noch ein Blick auf die Verwertung eidlicher Aus­ sagen (deposition) aus dem Zivilverfahren im späteren Strafverfahren geworfen werden. (a) Previous state court trial und technischer Fortschritt Die Möglichkeit und das Motiv der früheren Befragung sollen jedenfalls nicht durch späteren technischen Fortschritt beschränkt worden sein. In dem weltberühmten Verfahren gegen Polizisten des Los Angeles Police Department, die den Afroamerikaner Rodney King bei einer Verkehrskontrolle misshandel­ ten, ging es um die Frage, ob eine Aussage aus dem früheren state court trial als Ausnahme nach Fed. R. Evid. 804(b)(1) in dem anschließenden Bundesstraf­ verfahren zulässig ist. Im ersten Verfahren, das vor einem kalifornischen Ge­ richt (state trial) stattfand, sagte einer der Angeklagten aus, wodurch er seine Mit­angeklagten belastete; dabei wurde er sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch von allen Mitangeklagten umfassend befragt.1010 Als das Verfahren mit ei­ nem Freispruch für die Angeklagten endete und zu schweren Unruhen im gan­ zen Land führte, wurde ein Bundesstrafverfahren eingeleitet, in dem der Ange­ klagte nun aber seine Aussage verweigerte, woraufhin die Staatsanwaltschaft Videoaufnahmen der früheren Vernehmung in den Prozess einführen wollte. Hiergegen wandten die Mitangeklagten ein, dass sie im ersten Verfahren keine geeignete Möglichkeit hatten, den Zeugen zu befragen, da die belastenden Auf­ nahmen eines Amateurfilmers aufgrund nachträglicher Bildverbesserungen erst

1009 

Commonwealth v. Bazemore, 531 Pa. 582, 588 (Pa. 1992). United States v. Koon, 34 F.3d 1416, 1426 (9th Cir. 1994), der Schuldspruch wurde aus anderen Gründen aufgehoben, siehe dazu Koon v. United States, 518 U.S. 81, 116 S. Ct. 2935, 135 L. Ed. 2d 392 (1996). 1010 

330

C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

im Bundesstrafverfahren eingeführt wurden.1011 Das Gericht betonte, dass sich weder die Tatsachen noch die Motive der Parteien geändert, sondern lediglich die Technik verbessert habe. Eine Verbesserung der technischen Möglichkeiten stelle keinen Mangel, weder in Bezug auf die Möglichkeit der Befragung noch in Bezug auf das Motiv, dar.1012 (b) Wesentlicher Wechsel der Position im Verfahren: Vom Mitangeklagten zum Zeugen Während eine adäquate Möglichkeit jedenfalls gewährt worden ist, wenn man den Mittäter1013 im preliminary hearing befragen konnte, hierauf aber aus prozess­taktischen Erwägungen verzichtet, gilt etwas anderes, wenn sich die Posi­ tionen im Strafverfahren wesentlich ändern. In United States v. Franklin war die Frage zu klären, ob die Aussage des ehe­ mals Mitangeklagten – gerade nicht die Aussage eines Zeugen der Anklage – ver­ wertet werden kann: Franklin war einer von vier Männern, die wegen Vergewal­ tigung und Raubes gemeinsam angeklagt wurden. Zwei der Angeklagten traten in den Zeugenstand und gaben eine entlastende Aussage ab, wobei sie von der Anklage ins Kreuzverhör genommen wurden.1014 Im retrial gegen den Angeklag­ ten Franklin wollte die Staatsanwaltschaft die beiden Angeklagten, die bereits eine Aussage gemacht hatten, wieder in den Zeugenstand rufen, die allerdings die Aussage unter Berufung auf das privilige against self-incrimination verwei­ gerten, woraufhin die Staatsanwaltschaft das Protokoll der Vernehmung aus dem Strafverfahren der Mitangeklagten nach Fed. R. Evid. 804(b)(1) einführen wollte. Zwar sind die Zeugen nun nicht mehr verfügbar, es ist aber fraglich, ob die Vertei­ digung von Franklin im Ausgangsverfahren eine Möglichkeit und auch das glei­ che Motiv hatte, die Zeugen zu befragen. Mitangeklagte werden üblicherweise anders befragt als Zeugen der Anklage. Während es der Verteidigung bei einem Zeugen der Anklage darum geht, diesen unglaubwürdig erscheinen zu lassen, wird sich die Verteidigung bei einer Befragung von Mitangeklagten – gerade 1011  United States v. Koon, 34 F.3d 1416, 1426 f. (9th Cir. 1994), der Schuldspruch wur­ de aus anderen Gründen aufgehoben, siehe dazu Koon v. United States, 518 U.S. 81 (1996). 1012  United States v. Koon, 34 F.3d 1416, 1428 (9th Cir. 1994): „Here (…) there is no suggestion that either the factual nature of the case against appellants or appellants’ mo­ tive for cross-examining Briseno changed at all from the first to the second trial. All that changed was the technology that appellants might have used to enhanced the Holliday [= Amateurfilmer] videotape as a basis for questions in the cross-examination. Because this change constitutes a deficiency in neither the opportunity to cross-examine nor the motive for doing so, appellants’ argument under Rule 804(b)(1) must fail“. 1013  Siehe dazu United States v. Hargrove, 382 Fed.Appx. 765, 778 ff. (10th Cir. 2010), cert. denied, 131 S. Ct. 1676, 179 L. Ed. 2d 621 (2011). 1014  United States v. Franklin, 235 F. Supp. 338, 339 (D.D.C. 1964).

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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wenn dieser wie vorliegend seine Mitangeklagten nicht belastet – üblicherweise zurückhalten. Dies kann mit einer oft gemeinsamen Verteidigungsstrategie zu­ sammenhängen sowie damit, dass man einen Mitangeklagten nicht zu stark ins Kreuzverhör nehmen möchte, da dessen Aussage möglicherweise auch auf den eigenen Angeklagten ausstrahlen könnte, zumal er die anderen durch seine Aus­ sagen belasten könnte.1015 Das Gericht weist darauf hin, dass die Befragung im Kreuzverhör zwar nicht eifrig sein müsse, wohl aber eine den Gegebenheiten der Situation entsprechende „umfassende, wirkliche und sinnvolle Möglichkeit“ der Befragung bieten müsse, woran es fehle, wenn ein Mitangeklagter zunächst nur in seinem Namen aussagt, die Staatsanwaltschaft diesen Zeugen allerdings später gegen die anderen Angeklagten verwenden will.1016 Die Entscheidung zeigt zu Recht, dass es an einer umfassenden und fairen Möglichkeit der Befragung fehlt, wenn sich die Position des declarant – wie hier vom Mitangeklagten zum Zeugen – wesentlich ändert. Dadurch wird aber zu­ gleich deutlich, dass die Grenzen zwischen Taktik auf der einen und Möglichkeit bzw. Motiv auf der anderen Seite oft fließend verlaufen.1017

1015  So auch United States v. Franklin, 235 F. Supp. 338, 341 (D.D.C. 1964): „In all of the above cases, the defendant not only had an opportunity to cross-examine, but in addition had compelling reason to utilize that opportunity to demonstrate that the wit­ nesses were not telling the whole truth; but not so in this case where the witnesses were not adverse and where a vigorous cross-examination of an associate might have reflected badly on the defendant. In all of the above cases, it would have been in the defendant’s best interests to capitalize on his opportunity to cross-examine in order to discredit and im­peach the credibility of the witnesses against him; but not so in this case where the witnesses’ testimony did not accuse the defendant, and impeachment of the others may well have undermined his own assertion of innocence. In all of the above cases, the subject matter or issue of the testimony illicited on direct examination was the defendant’s guilt, but not so in this case where it was the innocence of co-defendants. Thus, in this case the ,opportunity‘ to cross-examine Brooks and Carrell was meaningful and real to the gover­ nment, but the ,opportunity‘ to the defendant was ineffective in substance.“ (Hervorhebung nicht im Original). 1016  United States v. Franklin, 235 F. Supp. 338, 341 (D.D.C. 1964): „The Court does not suggest that there must be a zealous cross-examination when the testimony is origi­ nally offered in order for it later to be admissible under the unavailable witness rule. It is assumed, arguendo, that an ,opportunity‘ for cross-examination is sufficient. However, the Court believes that the opportunity must be full, substantial and meaningful in view of the realities of the situation. Accordingly, the Court holds that where a witness for the govern­ ment in a criminal trial is unavailable, his prior testimony in his own behalf as a defendant is not admissible in a later trial against a co-defendant who, at the time the testimony was given, had a naked opportunity, but no real need or incentive to thoroughly cross-examine his then co-defendant.“ (Hervorhebung nicht im Original). 1017  So auch Fenner, Hearsay Rule, S. 235 Fn. 69.

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C.  Hearsay evidence im US-amerikanischen Strafprozess

(c) Aussagen unter Eid im Strafverfahren nach Fed. R. Crim. Proc. 15 Problematisch ist auch, ob Aussagen unter Eid, die vor der eigentlichen Haupt­ verhandlung erfolgen (depositions), als Ausnahme zur hearsay rule zulässig sind, wobei zwischen zivilrechtlichen und strafrechtlichen depositions zu unterschei­ den ist. Letztere sind nach Fed. R. Crim. Proc. 15 zulässig.1018 Dabei wird in einem strafrechtlichen Verfahren in Anwesenheit der Parteien die Aussage des Zeugen vor der eigentlichen Hauptverhandlung in einem Protokoll aufgenom­ men.1019 In manchen Staaten ist erforderlich, dass die deposition auf Video auf­ gezeichnet wird, um sie für die Hauptverhandlung des Strafverfahrens zu kon­ servieren. Der Sinn und Zweck dieser eidlichen Aussage ist den Parteien somit bekannt, weshalb sie grundsätzlich auch entsprechende Fragen an den Zeugen stellen können, wobei gerade die Verteidigung wieder Gefahr läuft, ihre Ver­ teidigungsstrategie preiszugeben.1020 Depositions im Strafverfahren sind wegen der verfassungsrechtlichen Stellung der Confrontation Clause nur unter weitaus engeren Voraussetzungen als im Zivilprozess zulässig, wo auch die „mehr als 100 Meilen-Regel“ gilt. Darüber hinaus darf die deposition aber auch verwendet werden, um Widersprüche in der Aussage des Zeugen in der Hauptverhandlung aufzuzeigen und sie wird dadurch zum Beweis (substantive evidence) der in ihr behaupteten Tatsachen.1021 Selbst wenn die frühere Aussage unter Verstoß gegen die Rechte aus Miranda gemacht worden ist, darf zwar die Aussage selbst nicht verwertet werden, sie darf aber durchaus genutzt werden, um Widersprüche auf­ zuzeigen und so die Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit infrage zu stellen.1022 Eine solche Aussage unter Eid wird gem. Fed. R. Crim. Proc. 15(a) angefertigt, wenn „außergewöhnliche Umstände des Falles“ vorliegen, die es geboten erschei­ nen lassen, die Aussage eines zukünftigen Zeugen für die Hauptverhandlung zu erhalten, wenn also absehbar ist, dass der Zeuge in der Hauptverhandlung nicht mehr zur Verfügung stehen wird – weil er beispielsweise todkrank ist, die USA verlassen möchte1023 oder sich bereits außerhalb der USA aufhält1024.

1018 

Näher dazu Fenner, Hearsay Rule, S. 309 ff. Fed. R. Crim. Proc. 15: „Depositions (a) When Taken. (1) In General. A party may move that a prospective witness be deposed in order to preserve testimony for trial. The court may grant the motion because of exceptional circumstances and in the interest of justice. If the court orders the deposition to be taken, it may also require the deponent to produce at the deposition any designated material that is not privileged, including any book, paper, document, record, recording, or data“. 1020  Fenner, Hearsay Rule, S. 310. 1021  Fenner, Hearsay Rule, S. 314. 1022  Harris v. New York, 401 U.S. 222, 226 (1971). 1023  United States v. Terrazas-Montano, 747 F.2d 467 (8th Cir. 1984): Hungerstreik, um Rückkehr in Heimatland zu erzwingen. 1019 

IV.  Ausnahmen zur hearsay rule

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Grundsätzlich greift die Ausnahme nur für depositions, die auch in dem anhängigen Verfahren angeferti